Recht und Gesetz. Festschrift für Ulrich Seibert 9783504386238

Lupenrein und hochkarätig! Aus Anlass des 65. Geburtstages von Minsterialrat Prof. Dr. Ulrich Seibert - einem Juristen

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Recht und Gesetz. Festschrift für Ulrich Seibert
 9783504386238

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Recht und Gesetz Festschrift für Ulrich Seibert

RECHT UND

GESETZ FESTSCHRIFT FÜR ULRICH SEIBERT ZUM 65. GEBURTSTAG herausgegeben von

Alfred Bergmann Michael Hoffmann-Becking Ulrich Noack

2019

Frontispiz: Ölgemälde von Johannes Grützke

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http:// dnb.d-nb.de abrufbar. Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 02 21/9 37 38-01, Fax 02 21/9 37 38-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-06052-7 ©2019 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeiche­ rung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungs­ beständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung: Lichtenford, Mettmann Satz: WMTP, Birkenau Druck und Verarbeitung: Kösel, Krugzell Printed in Germany

Vorwort Mit dieser Festschrift ehren die Autoren und Herausgeber einen Juristen, der die Gesetzgebung zum Gesellschaftsrecht über Jahrzehnte maßgebend geprägt und sich um die Fortentwicklung dieses Rechtsgebiets außerordentlich verdient gemacht hat. Ulrich Seibert wurde am 8. August 1954 in Karlsruhe geboren. Sein 1977 verstorbener Vater Dr. Claus Seibert war Richter am Bundesgerichtshof, seine Mutter Edith Seibert war freischaffende Künstlerin – somit waren ihm beide Begabungen, die ihn bis heute prägen und auszeichnen, in die Wiege gelegt: die Jurisprudenz und die Kunst. Nach der Reifeprüfung am altsprachlichen Bismarck-Gymnasium in Karlsruhe und dem anschließenden Militärdienst folgte das Jurastudium in Tübingen, Göttingen und Freiburg bis zum Referendarexamen, das er nach sieben Semestern im Sommer 1979 in Freiburg mit einem hervorragenden Listenplatz ablegte. Seine Aktivitäten in den folgenden Jahren beschränkten sich nicht auf den obligatorischen Referendardienst, sondern bewiesen auch seine breit gespannten kulturellen Interessen: Er verbrachte ein halbes Jahr zu einem Studienaufenthalt in Paris und ebenfalls ein halbes Jahr im Rahmen der Wahlstation am Institut für Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie der Universität Florenz, und die Verwaltungsstation absolvierte er in der Hamburgischen Kulturbehörde, die ihn für mehrere Monate zur Hamburgischen Staatsoper abordnete. Im Juni 1982 wurde Ulrich Seibert mit seiner von H. H. Seiler betreuten Dissertation zur „Erfüllung durch finale Leistungsbewirkung“ von der Universität Hamburg mit „magna cum laude“ promoviert. Nach dem Assessorexamen, das er Ende 1982 mit einem ebenfalls besonders guten Ergebnis absolvierte, zog es ihn in den Richterdienst: Zwei Jahre lang war er am Arbeitsgericht Hamburg tätig, und weitere zwei Jahre als Zivilrichter am Amtsgericht Hamburg-Altona. Daneben hielt er im Rahmen eines Lehrauftrags an der Universität Hamburg Übungen im Bürgerlichen Recht ab und war als Prüfer im Referendarexamen tätig. Die erste große Wende in seiner beruflichen Laufbahn folgte 1986 mit seiner Abordnung in das Bundesjustizministerium, wo er zunächst im Referat Schuldrecht tätig war, aber schon bald näher an die Politik heran­ rückte. Seit Februar 1991 war Ulrich Seibert Persönlicher Referent des Parlamentarischen Staatssekretärs beim BMJ Rainer Funke, und von Oktober 1991 bis Mai 1992 war er Leiter des Referats für Kabinetts- und Parlamentsangelegenheiten bei Minister Dr. Klaus Kinkel. Nach diesen Lehrjahren in der Rechtspolitik erreichte Ulrich Seibert 1992 die Position, die er bis heute innehat, nämlich die Leitung des Referats für Gesellschaftsrecht und Unternehmensverfassung im Bundesministerium der Justiz. Hier hat er seine berufliche Bestimmung gefunden, und hier gestaltet er seit mehr als einem Vierteljahrhundert die Gesetzgebung auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts. Er tut dies in völliger Loyalität zu den politischen Vorgaben der jeweiligen Leitung des Ministeriums und mit einem feinen Gespür für das, was politisch durchsetzbar ist, aber zugleich mit einem erstaunlichen Maß an Gestaltungsfreiheit, die ihm aufgrund des Vertrauens und der Autorität, die er sich durch seine Leistung erarbeitet hat, gewährt wird. Die V

Vorwort

lange Reihe der von ihm entworfenen Reformgesetze, deren Titel er jeweils mit nicht unbedingt schönen, aber jedenfalls einprägsamen Kürzeln versehen hat, reicht von NaStraG, TransPuG, UMAG, MoMiG, ARUG I, VorstAG und der Aktienrechtsnovelle 2016 bis hin zu ARUG II in 2019. Er selbst sieht in dem Entwerfen von Gesetzen mit Recht einen kreativen Vorgang, und er macht mit seinen Entwürfen der Berufsbezeichnung, die er sich selbst zuschreibt, nämlich der Bezeichnung als „legal de­ signer“ alle Ehre. Das gilt erst recht für die von ihm verfassten Gesetzesbegründungen, die er elegant formuliert und bewusst als „rechtspolitisches Marketing-Tool“ einsetzt. Geradezu legendär sind schon heute die freimütigen Nachlesen, die er jeweils nach Abschluss eines Gesetzgebungsverfahrens über die Entstehungsgeschichte des Gesetzes publiziert, so zum Beispiel über die Irrungen und Wirrungen der Entstehung des Gesetzes zur Geschlechterquote. Auch der akademischen Welt ist Ulrich Seibert eng verbunden. Seit 1995 ist er Lehrbeauftragter für Unternehmensrecht an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Düsseldorf, die ihn in 2001 zum Honorarprofessor ernannt hat. Noch mehr Zeit als für seinen Lehrauftrag in Düsseldorf verwendet er auf die zahlreichen Vorträge, die er bei wissenschaftlichen Tagungen und Symposien zu Themen seines Arbeitsbereichs hält. Sie werden von ihm ebenso wie seine Diskussionsbeiträge in rechtspolitischen Foren stets kenntnisreich und scharfsinnig formuliert und humorvoll und souverän vorgetragen. Ulrich Seibert ist das genaue Gegenteil eines staubtrockenen Juristen. Er liebt den Disput, liebt ketzerische Meinungen und witzige Sottisen. Das moderne Berlin ist ihm weit mehr als Dienstort und Wohnsitz. Er ist ein begeisterter Freund der bildenden Kunst, insbesondere der zeitgenössischen Kunst; keine interessante Vernissage und keine bedeutende Kunstmesse lässt er sich entgehen. Nicht zuletzt ist er ein Liebhaber schöner Bücher, die er in Berlin und in der schönen Wohnung der Familie in Rom hegt und pflegt – die ihm gewidmete Festschrift mit rotem Ledereinband möge seine Bibliothek zieren. Kein Wunder, dass er sich schon auf die Zeit nach seinem Wechsel in den Ruhestand freut, wenn er sich noch intensiver der Kunst, Literatur und Musik widmen kann. Auch als Autor und Ratgeber für Fragen rund um unsere Wirtschafts- und Unternehmensverfassung wird er gewiss weiter präsent sein. Autoren und Herausgeber dieser Festschrift wünschen Ulrich Seibert von Herzen Glück. Alfred Bergmann

VI

Michael Hoffmann-Becking

Ulrich Noack

Persönliches Wort Ulrich Seibert kenne ich schon sehr lange und war schon früh beeindruckt von seiner Ruhe und Ausgewogenheit ausstrahlenden, Gesprächspartnern zugewandten Offenheit. Intensiver zusammengearbeitet haben wir während meiner Mitgliedschaft in der Kommission Deutscher Corporate Governance Kodex und besonders in der Zeit, in der ich den Vorsitz innehatte. Die Deutsche Corporate Governance Kommission soll von der Bundesregierung unabhängig arbeiten können und der deutschen Wirtschaft mit dem von ihr entwickelten und laufend überprüften Kodex Hinweise geben, wie sich Unternehmensleitungen und Führungskräfte im Schwerpunkt börsennotierter Gesellschaften im Hinblick auf ihre Strukturen, auf Transparenz und bestimmte Entscheidungskriterien verhalten sollten. Sehr bewusst fördert der Kodex die Selbstregulierung der Unternehmen, die er mit Empfehlungen und Anregungen unterstützt. Der Kodex ergänzt den von den Unternehmen zu befolgenden Rechtsrahmen, lässt aber begründete Abweichungen von seinen Empfehlungen zu. Er baut – wie auch in anderen Ländern – auf dem Comply or Explain-Prinzip auf und gibt den Unternehmen damit Flexibilität und Entscheidungsfreiheit. Prof. Seibert hat die Kommission von Anfang an vom Bundesministerium der Justiz aus „betreut“. Er war häufig Gast in den Sitzungen der Kommission und hat – sehr zurückhaltend, niemals fordernd oder vorschreibend – Hinweise und Rat gegeben. Die Empfehlungen der Kommission dürfen selbstverständlich nicht gegen rechtlich bindende Vorschriften verstoßen, können aber sehr wohl über sie hinausgehen. Die Gespräche mit Ulrich Seibert haben die Kommission darauf aufmerksam gemacht, wo Kollisionen im Rechtsbereich auftreten könnten und wo und mit welcher Zielrichtung gesetzgeberische Aktivitäten möglich wären. Auf der Grundlage fundierter Kenntnisse des Gesellschaftsrechts und der ministeriellen und parlamentarischen Abläufe waren seine Hinweise außerordentlich wertvoll. Sie dienten immer auch dazu, die Unabhängigkeit der Kommission zu wahren und abzusichern. Das wurde besonders deutlich, wenn es personelle Wechsel in der Kommission und damit Erneuerungsbedarf gab. Er hat durch seinen Rat dazu beigetragen, dass die Vorschläge zur Bestellung neuer Kommissionsmitglieder ausgewogen unterschiedliche Erfahrungen und Kenntnisse berücksichtigten und so wahrscheinlich auch aus der Sicht der Bundesregierung angemessen waren. Im Ergebnis hat er mit dafür gesorgt, dass Ernennungen, die durch den Bundesminister oder die Bundesministerin der Justiz ausgesprochen wurden, niemals von den Vorschlägen aus der Kommission abwichen. Er hat gerade damit – eher unauffällig – die Unabhängigkeit der Kommission unterstützt.

VII

Persönliches Wort

Zu diesen sachlichen Verdiensten kommt die sehr angenehme, freundliche, gründliche und zugewandte Persönlichkeit von Ulrich Seibert hinzu, mit dem man gern bei einem guten Essen und gutem Wein dann nicht nur „über das Geschäft“, sondern auch über allgemeine politische und gesellschaftliche Entwicklungen, aber auch über Persönliches plaudern kann. Ich bin Ihnen, lieber Herr Seibert, zu viel Dank verpflichtet und wünsche Ihnen alles Gute für noch viele schöne Jahre, die Sie hoffentlich wirklich genießen können. Ihr Manfred Gentz

VIII

Inhalt Seite

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Manfred Gentz Persönliches Wort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XV Holger Altmeppen Die verworrene Rechtslage der verdeckten Sacheinlage und ihre Folgen . . . 1 Gregor Bachmann Die große Aktienrechtsreform 2049 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Theodor Baums Ein neuer Schleichweg? Zur Auslegung des § 38 WpHG . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Walter Bayer Die Bedeutung der Rechtstatsachenforschung für Rechtspraxis und Rechtspolitik am Beispiel des Aktienrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Alfred Bergmann Richterliche Rechtsfortbildung und ihre Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Michael Beurskens Blockchain und Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Tilman Bezzenberger Aktiengattungen, Sonderbeschlüsse und gleichmäßige Behandlung . . . . . . . 93 Christian Bochmann Der wirtschaftlich Berechtigte als neuer Akteur im deutschen ­Unternehmensrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Jens Bormann Die mitbestimmte GmbH aus notarieller Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Christine Bortenlänger und Cordula Heldt Paradigmenwechsel im Gesellschaftsrecht? Vom ‚Aktienamt‘ zum ‚Nachhaltigkeitsamt‘, vom Konzessionssystem zur ‚Social Licence to Operate‘ – Der Aktionsplan Finanzierung nachhaltigen Wachstums der EU-Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Moritz Brinkmann Die Gesellschafterversammlung in der Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 IX

Inhalt

Matthias Casper Vorschläge zur Regulierung des Crowdfunding auf EU-Ebene – brauchen wir ein optionales europäisches Instrument? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Christian E. Decher Das Freigabeverfahren – ungeeignet zur Überwindung der Bewertungsrüge? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Holger Fleischer Benefit Corporations zwischen Gewinn- und Gemeinwohlorientierung: Eine rechtsvergleichende Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Tim Florstedt Die steuerrechtliche Behandlung der Einnahmen sog. räuberischer Aktionäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Barbara Grunewald Rechtssicherheit bei der Verschmelzung einer GmbH mit einer nicht abschließend geklärten Anteilsinhaberschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Mathias Habersack Elf Jahre neues Recht der Gesellschafterdarlehen: Zwischenevaluation und Verprobung am Beispiel der Wandelanleihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Wilhelm Happ und Frauke Möhrle D&O-Versicherung und Aktienrecht – Viele Fragen offen . . . . . . . . . . . . . . . 273 Stephan Harbarth Beschlussmängel im Recht des Aufsichtsrats der ­Aktiengesellschaft Anmerkungen de lege lata und de lege ferenda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Rafael Harnos Die gerichtliche Durchsetzung der Informationsrechte in der Aktiengesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Thomas Heidel und Philip Ridder „Kompensation statt Kassation“ – ein überzeugender Grundsatz de lege lata oder de lege ferenda? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Heribert Hirte Das Gesellschaftsrecht und die Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Michael Hoffmann-Becking Geschäftsführer der GmbH & Co. KG – eine hybride Rechtsstellung ­zwischen GmbH und KG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Peter Hommelhoff Verlässliche und vertrauenswürdige CSR-Berichterstattung . . . . . . . . . . . . . . 371

X

Inhalt

Walter Homolka Der allmächtige Gott und das Böse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Klaus J. Hopt Der neue UK Corporate Governance Code 2018 – mit Denkanstößen für die Reform des Deutschen Corporate Governance Kodex . . . . . . . . . . . . 389 Hans-Christoph Ihrig Zur Vervielfältigung des Rechts des Aktionärs zur Teilnahme an der ­Hauptversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Joachim Jahn Wie der BGH einen Beauty Contest gewann … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 Christian Kersting Haftung für Einlagepflichten und Erwerb des Geschäftsanteils: das Verhältnis von § 16 Abs. 2 und § 22 Abs. 4 GmbHG . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 Roger Kiem 25 Jahre Gesetz zur kleinen AG  – Rückschau und Würdigung . . . . . . . . . . . 449 Peter Kindler Die Gründungstheorie im Schatten der EuInsVO – ein juristischer Scheinriese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 Jens Koch Die Ausdehnung des Freigabeverfahrens auf weitere Beschlussarten . . . . . . 481 Roland Köstler und Lasse Pütz Die europäische Aktiengesellschaft (SE), Fakten und Probleme . . . . . . . . . . . 497 Gerd Krieger Rechtmäßiges Alternativverhalten bei Verletzung eines Zustimmungsvorbehalts des Aufsichtsrats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 Katja Langenbucher Vorüberlegungen zur Reformbedürftigkeit des deutschen Wertpapierbegriffs aus Anlass von „initial coin offerings“ . . . . . . . . . . . . . . . . 525 Dieter Leuering Das Widerspruchsrecht der GmbH-Geschäftsführer untereinander . . . . . . . 543 Detlef Liebs Junior Philosophus zur Justiz im spätrömischen Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557 Marc Löbbe Verhältnis von § 130 OWiG und Organisationspflichten des Vorstands und der Geschäftsführung nach §§ 93 AktG, 43 GmbHG . . . . . . . . . . . . . . . . 561

XI

Inhalt

Georg Maier-Reimer Räuberische Anleihegläubiger – Ein Vorschlag de lege ferenda . . . . . . . . . . . . 579 Ulrich Noack 25 Jahre Aktienrechtsreform – insbesondere die digitale Evolution . . . . . . . 597 Sabine Otte-Gräbener Reform des Personengesellschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613 Walter G. Paefgen Corporate Social Responsibility (CSR) als aktienrechtliche Organverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 629 Andreas Pentz und Silja Maul GmbH-rechtlicher Beteiligtenschutz beim stufenübergreifenden Unternehmensvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653 Hans-Joachim Priester Ermittlungsbefugnisse des besonderen Vertreters (§ 147 AktG) . . . . . . . . . . 671 Ulrich Prinz Steuerliche Organschaft und das Recht der Unternehmensverträge: ­Gelungene oder eher unheilvolle Verbindung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 681 Jochem Reichert Beschlussmängel im Recht der Personengesellschaften de lege ferenda . . . . . 701 Carsten Schäfer Grundsatzfragen bei der anstehenden Reform des Personengesellschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723 Maximilian Schiessl Die Liebe der Hedgefonds zum deutschen Beherrschungsvertrag . . . . . . . . . 733 Jessica Schmidt 10 Jahre UG – ein Geburtstagsgruß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 747 Karsten Schmidt „Verbotene Zahlungen“ aus der insolventen GmbH & Co. KG: Was wird aus § 130a HGB? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 763 Uwe H. Schneider, Sven H. Schneider und Heribert Anzinger Nützliche, nachteilige und neutrale Konzernumlagen im AG- und im ­GmbH-Konzern und deren steuerrechtliche Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 775 Matthias Schüppen Die Vorstandsvergütungs-Empfehlung des Kodex zu Change of ControlKlauseln – Problem erkannt, Gefahr gebannt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 793

XII

Inhalt

Ulrich Segna Entlastung des Vorstands mit Präklusionswirkung auch in der Stiftung? . . . 809 Christoph H. Seibt Neuvermessung der „angemessenen Informationsgrundlage“ (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG) unter VUCA-Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . 825 Stefan Simon Die Beratungsfunktion des Aufsichtsrats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 847 Gerald Spindler Grundlagen und Grenzen der Kommunikation mit Aktionären und Investoren (Investor Relations) – de lege lata und de lege ferenda . . . . . . . . . . 855 Marco Staake Legal Design – Skizze einer Theorie der Rechtsgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . 871 Eberhard Stilz Wie gelingt heute Zusammenleben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 893 Christian Strenger 25 Jahre gelebte Governance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 903 Lutz Strohn Von den Aufgaben des Gesetzgebers und denen des Richters . . . . . . . . . . . . . 919 Christoph Teichmann Das Wahlrecht zwischen monistischer und dualistischer Leitungsstruktur im European Model Company Act (EMCA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 929 Jan Thiessen Kapitalgesellschaftsrecht down under – deutsche Kolonialphantasien und die australische Limited im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 951 Dirk A. Verse Anpassung des Ausgleichs der außenstehenden Aktionäre bei grundlegender Verbesserung der Ertragslage? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 989 Eberhard Vetter Der Bericht des Aufsichtsrats gemäß § 171 Abs. 2 AktG an die ­Hauptversammlung und die CSR-Berichterstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1007 Jochen Vetter Mehr Demokratie wagen? Überlegungen zu einer Erweiterung der Entscheidungskompetenzen der Hauptversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1021 Oliver Vossius It’s procedure, stupid! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1041 XIII

Inhalt

Daniela Weber-Rey Corporate Governance und Ownership – Zwingt uns das Wachstum und der Einfluss institutioneller Aktionäre dazu, unsere Corporate Governance zu überdenken? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1057 Frauke Wedemann Divergenzen bei der Ausgestaltung der ­Handelsregister in Europa Herausforderungen de lege lata, ­Entwicklungsperspektiven de lege ­ferenda . 1073 Johannes Wertenbruch Rechtsfähigkeit und „Teilrechtsfähigkeit“ von juristischer Person und Personengesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1089 Harm Peter Westermann Die Bedeutung von CSR-Compliance bei Gewährleistung und Vertragsgestaltung im M & A-Geschäft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1105 Hans-Ulrich Wilsing und Klaus von der Linden Insiderinformationen in der Hauptversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1119 Christine Windbichler Publifizierung und Corporate Governance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1131 Dirk A. Zetzsche Kommerzialisierung der Mitgliedschaft – ein Beitrag zur Flexibilisierung des Aktienrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1149 Hildegard Ziemons Rechtsfolgen erfolgreicher Feststellungsklagen gegen Verwaltungs­ beschlüsse bei der Ausnutzung des genehmigten Kapitals . . . . . . . . . . . . . . . 1173 Veröffentlichungsverzeichnis Ulrich Seibert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1183

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Autorenverzeichnis Altmeppen, Holger Dr., Universitätsprofessor, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handelsund Wirtschaftsrecht der Universität Passau Anzinger, Heribert M. Dr. iur., Universitätsprofessor, Institut für Rechnungswesen und Wirtschaftsprüfung der Universität Ulm Bachmann, Gregor Dr. iur., LL.M. (Michigan), Universitätsprofessor, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht und Unternehmensrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin Baums, Theodor Dr. iur., Dres. h.c., em. Universitätsprofessor, Goethe-Universität Frankfurt a.M. Bayer, Walter Dr. iur., Universitätsprofessor, RiOLG a.D., Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handels- und Gesellschaftsrecht an der Friedrich Schiller-Universität Jena, Direktor des Instituts für Rechtstatsachenforschung zum Deutschen und Europäischen Unternehmensrecht Bergmann, Alfred Dr., Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof a.D., Honorarprofessor an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Beurskens, Michael Dr. iur., LL.M. (University of Chicago), LL.M. (Gewerblicher Rechtsschutz/Düsseldorf), Attorney at Law (New York), Universitätsprofessor, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Deutsches, Europäisches und Internationales Wirtschaftsrecht der Universität Passau Bezzenberger, Tilman Dr. iur., M.A., Universitätsprofessor, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Gesellschaftsrecht und Europäisches Zivilrecht der Universität Potsdam Bochmann, Christian Dr., LL.M. (Cambridge), Rechtsanwalt und Assoziierter Partner, Flick Gocke Schaumburg, Hamburg, Direktor des Notarrechtlichen Zentrums Familienunternehmen der Bucerius Law School, Lehrbeauftragter an der Universität Leipzig Bormann, Jens Dr., LL.M. (Harvard), Notar, Ratingen, Honorarprofessor an der Leibniz Universität Hannover, Präsident der Bundesnotarkammer, Berlin

XV

Autorenverzeichnis

Bortenlänger, Christine Dr., Geschäftsführender Vorstand des Deutschen Aktieninstituts e.V., Frankfurt am Main Brinkmann, Moritz Dr., LL.M. (McGill), Universitätsprofessor, Geschäftsführender Direktor des Instituts für deutsches und internationales Zivilverfahrensrecht der Universität Bonn, Inhaber des dortigen Lehrstuhls für Bürgerliches Recht und Insolvenzrecht Casper, Matthias Dr. iur., Dipl.-Oec., Universitätsprofessor, Direktor des Instituts für Unternehmens- und Kapitalmarktrecht der Universität Münster Decher, Christian E. Dr., Rechtsanwalt und Of Counsel, Freshfields Bruckhaus Deringer LLP, Frankfurt am Main Fleischer, Holger Dr. iur., Dr. h.c., Dipl.-Kfm., LL.M. (Michigan), Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg, Affiliate Professor an der Bucerius Law School Florstedt, Tim Dr. iur., Universitätsprofessor, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht und Bankrecht der EBS Universität für Wirtschaft und Recht, Wiesbaden Gentz, Manfred u.a. Ehemaliger Vorsitzender der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex Grunewald, Barbara Dr., Universitätsprofessorin (em.) an der Universität zu Köln Habersack, Mathias Dr., Universitätsprofessor, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht und Unternehmensrecht an der Ludwig-Maximilians-Universität München Happ, Wilhelm Dr., Rechtsanwalt und ehem. Partner von MÖHRLE HAPP LUTHER, Hamburg Harbarth, Stephan  Dr., LL.M. (Yale), Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Karlsruhe, Honorarprofessor an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Harnos, Rafael Dr., Habilitand am Institut für Handels- und Wirtschaftsrecht der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

XVI

Autorenverzeichnis

Heidel, Thomas Dr., Rechtsanwalt und Partner, Fachanwalt für Steuerrecht sowie für Handels- und Gesellschaftsrecht, Meilicke Hoffmann & Partner Rechtsanwälte Steuerberater mbB, Bonn Heldt, Cordula Dr., Leiterin Corporate Governance und Gesellschaftsrecht, Deutsches Aktienin­ stitut, Frankfurt am Main Hirte, Heribert Dr., LL.M. (Berkeley), Universitätsprofessor, Geschäftsführender Direktor des Seminars für Handels-, Schifffahrts- und Wirtschaftsrecht der Universität Hamburg, Mitglied des Deutschen Bundestages, stv. Vorsitzender des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz, Vorsitzender des Unterausschusses Europarecht Hoffmann-Becking, Michael Dr., Rechtsanwalt, Düsseldorf, Honorarprofessor an der Universität Bonn Hommelhoff, Peter Dr. Dr. h.c. mult., Universitätsprofessor (em.) an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und ihr Altrektor; Richter am Oberlandesgericht a.D. in Hamm; Of Counsel der KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Homolka, Walter Rabbiner, PhD (King’s College London) PhD (Univ. of Wales Trinity St. David) DHL (HUC-JIR New York), Universitätsprofessor für Jüdische Theologie und Rektor des Abraham Geiger Kollegs an der Universität Potsdam Hopt, Klaus J. Dr. Dr. Dr. h.c. mult., M.C.J. (New York University), Universitätsprofessor (em.) an der Universität Hamburg, Direktor (em.) Max Planck Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, vormals Richter am OLG Stuttgart Ihrig, Hans-Christoph Dr. jur. utr., Rechtsanwalt, Partner bei Ihrig & Anderson Rechtsanwälte, Mannheim, Honorarprofessor an der Universität Mannheim Jahn, Joachim Dr. jur., Mitglied der NJW-Schriftleitung, Honorarprofessor an der Universität Mannheim Kersting, Christian Dr., LL.M. (Yale), Universitätsprofessor, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht sowie deutsches und internationales Unternehmens-, Wirtschafts- und Kartellrecht an der Juristischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Direktor des Instituts für Unternehmensrecht Kiem, Roger Dr., LL.M. (London), Rechtsanwalt und Partner, White & Case LLP, Frankfurt am Main, Honorarprofessor an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz XVII

Autorenverzeichnis

Kindler, Peter Dr. jur. Dr. h.c. (Università del Molise), Universitätsprofessor, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handels- und Gesellschaftsrecht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Leiter der Forschungsstelle für Italienisches Recht  Koch, Jens Dr., Universitätsprofessor, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handelsund Gesellschaftsrecht an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Köstler, Roland Dr., ehemals Rechtsanwalt, von 1978 bis 2013 Referatsleiter Wirtschaftsrecht in der Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf Krieger, Gerd Dr., Rechtsanwalt und Partner, Hengeler Mueller, Düsseldorf, Honorarprofessor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Langenbucher, Katja Dr., Universitätsprofessor, Professur für  Bürgerliches Recht, Wirtschaftsrecht und Bankrecht an der Goethe-Universität Frankfurt (House of Finance), Professeur affiliée | Ecole de droit, SciencesPo, Paris Leuering, Dieter Dr., Rechtsanwalt und Partner, Flick Gocke Schaumburg, Bonn, Honorarprofessor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Liebs, Detlef Dr. jur., FBA, Drr. jur. h.c. (Zürich, Brasilia), o. Professor (em.), Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg i.Br. von der Linden, Klaus Dr. iur., Rechtsanwalt und Counsel, Linklaters LLP, Düsseldorf Löbbe, Marc Dr. iur., Rechtsanwalt und Partner, SZA Schilling, Zutt & Anschütz, Frankfurt am Main Maier-Reimer, Georg Dr., Dr. h.c., LL.M. (Harvard), Rechtsanwalt und Partner, Oppenhoff & Partner mbB Köln Maul, Silja Dr., DEA, DESS, Rechtsanwältin und Partnerin, Dr. Maul Janson-Czermak Eska PartmbB, Mannheim Möhrle, Frauke Dr., Rechtsanwältin, Fachanwältin für Handels- und Gesellschaftsrecht, Partnerin, MÖHRLE HAPP LUTHER, Hamburg

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Noack, Ulrich Dr., Universitätsprofessor, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handelsund Wirtschaftsrecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Otte-Gräbener, Sabine Dr., LL.M. (Bristol), Professorin für Bürgerliches Recht, Handels- und Gesellschaftsrecht an der Hochschule Düsseldorf Paefgen, Walter G. Dr. jur., Außerplanmäßiger Professor, Eberhard Karls Universität, Tübingen Pentz, Andreas Dr., Rechtsanwalt und Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht, Partner, Rowedder Zimmermann Hass, Mannheim, Honorarprofessor an der Universität Mannheim Priester, Hans-Joachim Dr. iur., Notar a.D., Honorarprofessor an der Universität Hamburg Prinz, Ulrich Dr., Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, Partner Of Counsel der WTS Steuerberatungsgesellschaft mbH, Honorarprofessor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Pütz, Lasse Dr., Rechtsanwalt und Referatsleiter Wirtschaftsrecht im Institut für Mitbestimmung und Unternehmensführung (I.M.U.) der Hans-Böckler-Stiftung, Lehrbeauftragter der Rheinischen Fachhochschule Köln Reichert, Jochem Dr., Rechtsanwalt und Partner, SZA Schilling, Zutt & Anschütz, Mannheim, Honorarprofessor an der Friedrich-Schiller-Universität Jena Ridder, Philip Dr. iur., Rechtsreferendar im Bezirk des Oberlandesgerichts Köln (Landgericht Bonn) Schäfer, Carsten Dr., Universitätsprofessor, Direktor des Instituts für Unternehmensrecht und Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handels- und Gesellschaftsrecht an der Universität Mannheim Schiessl, Maximilian Dr., LL.M. (Harvard), Rechtsanwalt und Partner, Hengeler Mueller, Düsseldorf Schmidt, Jessica Dr. iur., LL.M. (Nottingham), Universitätsprofessorin, Inhaberin des Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, deutsches, europäisches und internationales Unternehmensund Kapitalmarktrecht (Zivilrecht I) an der Universität Bayreuth

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Schmidt, Karsten Dr. Dr. h.c. mult., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Unternehmensrecht der Bucerius Law School, Hamburg Schneider, Sven H. Dr., LL.M. (Berkeley), Rechtsanwalt, Attorney-at-Law (New York) und Partner, Hengeler Mueller, Frankfurt am Main Schneider, Uwe H. Dr. Dr. h.c., Universitätsprofessor (em.), Direktor des Instituts für deutsches und internationales Recht des Spar-, Giro- und Kreditwesens an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Of Counsel Schmitz & Partner, Rechtsanwälte, Frankfurt am Main Schüppen, Mathias Dr. iur., Diplom-Ökonom, Rechtsanwalt, Wirtschaftsprüfer und Steuerberater in Stuttgart und München, Honorarprofessor der Universität Hohenheim Segna, Ulrich Dr., Universitätsprofessor, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handelsund Wirtschaftsrecht, Recht der Non-Profit-Organisationen der EBS Universität für Wirtschaft und Recht, Wiesbaden Seibt, Christoph H. Dr., LL.M. (Yale), Rechtsanwalt und Fachanwalt für Steuerrecht, Attorney-at-Law (New York), Partner, Freshfields Bruckhaus Deringer LLP, Honorarprofessor an der Bucerius Law School, Hamburg Simon, Stefan Dr. jur., Rechtsanwalt und Steuerberater, Zürich, Honorarprofessor an der Universität zu Köln Spindler, Gerald Dr., Dipl-Oec, Universitätsprofessor, Direktor des Instituts für Wirtschafts- und Medienrecht an der Universität Göttingen Staake, Marco Dr. iur., Universitätsprofessor, Inhaber der Stiftungsprofessur für das Recht der Familienunternehmen an der Universität Bayreuth Stilz, Eberhard Präsident der Stiftung Weltethos, Präsident des Verfassungsgerichtshofs für das Land Baden-Württemberg a.D., Präsident des Oberlandesgerichts Stuttgart a.D. Strenger, Christian Professor, Direktor des ‘Centers for Corporate Governance‘ der Handelshochschule Leipzig sowie Aufsichtsrat der DWS Investment GmbH und Chairman der an der New Yorker Börse notierten ‘Germany Funds‘; von 2001 – 2016 Gründungsmitglied der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex XX

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Strohn, Lutz Dr., Richter am Bundesgerichtshof a.D., Rechtsanwalt in Solingen, Honorarprofessor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Teichmann, Christoph Dr., Universitätsprofessor, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Deutsches und Europäisches Handels- und Gesellschaftsrecht an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg Thiessen, Jan Dr. iur., Universitätsprofessor, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Juristische Zeitgeschichte und Wirtschaftsrechtsgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin Verse, Dirk A. Dr., M.Jur. (Oxford), Universitätsprofessor, Direktor des Instituts für deutsches und europäisches Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht der Universität Heidelberg Vetter, Eberhard Dr., Rechtsanwalt und Partner, Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Köln Vetter, Jochen Dr. jur., Diplom-Ökonom, Rechtsanwalt und Partner, Hengeler Mueller, München, Honorarprofessor an der Universität zu Köln Vossius, Oliver Dr., Notar in München Weber-Rey, Daniela LL.M. (Columbia), Rechtsanwältin, Aufsichtsrätin HSBC Trinkaus & Burkhardt AG, FNAC Darty, European Corporate Governance Institute, Mitglied der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex Wedemann, Frauke Dr., Universitätsprofessorin, Direktorin des Instituts für Unternehmens- und Kapitalmarktrecht der Universität Münster Wertenbruch, Johannes Dr. iur., Universitätsprofessor, Direktor des Instituts für Handels-, Wirtschaftsund Arbeitsrecht der Philipps-Universität Marburg Westermann, Harm Peter Dr. jur., Dres. jur. h.c., Universitätsprofessor (em.) an der Eberhard Karls Universität Tübingen, Rechtsanwalt und Beiratsmitglied, SZA Schilling, Zutt & Anschütz, Mannheim, Mitglied (auf griechisch: xenos hetäros) der Akademie von Athen Wilsing, Hans-Ulrich Dr. iur., Rechtsanwalt und Partner, Linklaters LLP, Düsseldorf, Honorarprofessor an der EBS Universität für Wirtschaft und Recht, Wiesbaden

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Windbichler, Christine Dr. iur, LL.M. (Berkeley), Universitätsprofessor a.D., Humboldt-Universität zu Berlin Zetzsche, Dirk Dr., LL.M., Universitätsprofessor, Inhaber des ADA Lehrstuhls für Finanzmarktrecht (inclusive finance), Universität Luxemburg, sowie Direktor des Instituts für Unternehmensrecht, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Ziemons, Hildegard Dr., Rechtsanwältin beim Bundesgerichtshof, Karlsruhe

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Die verworrene Rechtslage der verdeckten Sacheinlage und ihre Folgen Inhaltsübersicht I. Entstehungsgeschichte der Regelungen II. Zum Erlöschen der Einlageschuld 1. Leistung an Erfüllungs statt 2. Erfüllung kraft Verrechnung mit dem ­Kondiktionsanspruch des Gesellschafters a) Meinungsstand b) Stellungnahme 3. Auflösend bedingte Erfüllungswirkung 4. Differenzhaftungsmodell 5. Ergebnis zu II

III. Beendigung und „Heilung“ der ­verdeckten Sacheinlage 1. Meinungsstand 2. Stellungnahme 3. Weitere absurde Konsequenzen des ­Gesetzes IV. Ergebnisse

I. Entstehungsgeschichte der Regelungen Der Gesetzgeber des MoMiG hat mit Wirkung zum 1. November 2008 erstmals die von Rechtsprechung und Lehre entwickelte Rechtsfigur der verdeckten Sacheinlage zum Gegenstand einer gesetzlichen Regelung gemacht (§ 27 Abs. 3 AktG, § 19 Abs. 4 GmbHG). Zuvor war die deutsche Rechtsprechung zur verdeckten Sacheinlage im Schrifttum heftig kritisiert worden, weil sie überzogenen Gläubigerschutz auch dann begründe, wenn kein Anlass für eine Haftung des Gesellschafters bestand. Da alle Rechtsgeschäfte im Zuge der Abwicklung der verdeckten Sacheinlage ungültig sein sollten, hatte der Gesellschafter nur eine Insolvenzforderung aus Bereicherungsrecht betreffs der ungültigen Zahlung seiner Bareinlage. Nicht viel besser stand er bei der Rückabwicklung des ungültigen Austauschvertrages, auch dann nicht, wenn dieser wirtschaftlich angemessen war.1 Der Regierungsentwurf hat die Kritik an der überzogenen Rechtsfigur der verdeckten Sach­einlage aufgegriffen. Die so genannte „Erfüllungslösung“, die den Regierungsentwurf unter Federführung des Jubilars prägte, diente dem Ziel, etwaige Gründer­ absprachen nach der Eintragung der Gesellschaft vollständig beiseite zu lassen und es bei Unangemessenheit der Austauschverträge zum Nachteil der Gesellschaft mit einer Differenzhaftung bewenden zu lassen, weil den Gläubigerinteressen damit Genüge getan sei.2 Der Jubilar hatte damit einen gelungenen Gesetzesvorschlag vorbereitet, 1 Eingehend zur Kritik an der Rechtsprechung und herrschenden Meinung zur verdeckten Sacheinlage vor Inkrafttreten des MoMiG etwa Heidenhain, GmbHR 2006, 455; Wilhelm in GS Knobbe-Keuk, 1997, S. 321, 326, 343 ff. m.w.N. 2 Begründung RegE BT-Drucks. 16/6140, S. 34 ff.

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der aber nicht verwirklicht wurde. Denn wenige Wochen vor Inkrafttreten des MoMiG wurde der Regierungsentwurf aufgrund von Einwänden des Rechtsausschusses im entscheidenden Punkt umgestaltet, der darin besteht, dass die verdeckte Sacheinlage auch bei Angemessenheit von Austauschverträgen weiterhin verboten ist. Die Einlageschuld bleibt trotz Leistung der Bareinlage durch den Gesellschafter bis zum Zeitpunkt der Anrechnung seiner Leistung aus dem Austauschvertrag bestehen, die zur Vollziehung des Leistungsaustauschs abgeschlossenen Rechtsgeschäfte sind trotz des Verbots gültig (§ 27 Abs. 3 Satz 1–3 AktG, § 19 Abs. 4 Satz 1–3 GmbHG). In der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses heißt es dazu wörtlich: „Auf diese Weise wird klargestellt, dass einerseits der Geschäftsführer in der Anmeldung nach § 8 (sc. GmbHG) nicht versichern kann und darf, die Geldeinlage sei zumindest durch Anrechnung er­loschen und damit erfüllt, und andererseits der Richter die Eintragung auch in dem Fall, dass der Wert der verdeckten Sacheinlage den Wert der geschuldeten Geldeinlage erreicht, … nach § 9c ablehnen kann.“3

Es bedarf kaum des Hinweises, dass der Richter die Eintragung ablehnen muss (!), nicht „kann“, weil die verdeckte Sacheinlage in der momentan geltenden gesetzlichen Ausprägung rechtswidrig sein soll und ein Gericht sich nicht an einer rechtswidrigen Gründung einer Kapitalgesellschaft beteiligen darf. Nur weil der Registerrichter nichts davon erfährt, dass es eine Vorabsprache der Beteiligten zu einem zumeist erst nach Eintragung der Gesellschaft geplanten und abzuwickelnden Austauschvertrag zwischen Gesellschaft und Gesellschafter gibt, trägt er in den hier interessierenden Fällen ein.4 Der Jubilar hat maßgeblich an der gelungenen Entwurfsregelung mitgewirkt, nicht an den hektischen „Korrekturen“, die in der Endphase ein vollständig anderes Konzept des Gesetzes zur Geltung gebracht haben. Die folgende Studie wird an den Tag bringen, dass das gesetzgeberische Konzept dogmatisch vollständig misslungen ist, die Brüche bei der Gesetzesanwendung sich nur dadurch überwinden lassen, dass man manche der törichten Gesetzesformulierungen und ihnen zugrunde liegenden Erwägungen des Rechtsausschusses einfach übergeht.

II. Zum Erlöschen der Einlageschuld 1. Leistung an Erfüllungs statt Der Wortlaut der Anrechnungsbestimmungen (§ 27 Abs. 3 Satz 3 AktG, § 19 Abs. 4 Satz 3 ­GmbHG) legt es nahe, dass die Leistung des Gesellschafters im Zuge der Erfüllung des Austauschvertrages eine solche auf die Einlageschuld ist. Denn diese soll ungeachtet der Zahlungen des Gesellschafters auf die Bareinlageschuld bestehen bleiben (§ 27 Abs. 3 Satz 1 AktG, § 19 Abs. 4 Satz 1 GmbHG). Die Annahme, das Gesetz ordne in Gestalt der Anrechnungsregelungen (§ 27 Abs. 3 Satz 3 AktG, § 19 Abs. 4 Satz 3 GmbHG) kraft Gesetzes an, dass die Leistung des Gesellschafters auf seine Ver3 BT-Drucks. 16/9737, S. 56. 4 Zutr. Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 19 Rz. 87.

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bindlichkeit aus dem Austauschvertrag eine Leistung an Erfüllungs statt sein müsse,5 ist deshalb auf erste Sicht plausibel. Doch wird dabei verkannt, dass die Leistung des Gesellschafters im Zuge der Erfüllung des Austauschvertrages kraft der Tilgungsbestimmung des Gesellschafters ausschließlich eine solche auf seine gültige Verbindlichkeit aus dem Austauschvertrag sein kann. Diese Tilgungsbestimmung kann das Gesetz nicht einfach übergehen, wie schon der praktisch häufige Fall der gemischten verdeckten Sacheinlage bestätigt: Übersteigt der Kaufpreisanspruch des Gesellschafters die nach dem Gesetz fortbestehende Einlageschuld, kann von Vornherein nur ein Wert der Kaufsache anrechenbar sein, der abzüglich des Kaufpreisbestandteils verbleibt, welcher über den Nennwert der Einlageschuld hinausgeht.6 Daraus folgt zwangsläufig, dass man die von der Gesellschaft zu erbringende Gegenleistung auf der Grundlage des gültigen Austauschvertrages nicht ausblenden kann, indem man allein auf den Wert der vom Gesellschafter geleisteten Sache abstellt. Beispiel: Die Einlageschuld beträgt 1 Million, der Wert der Kauf­sache 1 Million, der Kaufpreis 2 Millionen. Selbstverständlich kann man hier nichts „anrechnen“. Also ist die Kaufsache nach allgemeiner zivilrechtlicher Dogmatik keine „Leistung an Erfüllungs statt“. 2. Erfüllung kraft Verrechnung mit dem Kondiktionsanspruch des Gesellschafters a) Meinungsstand Verbreitet ist die Vorstellung, die Zahlung des Gesellschafters auf seine Bareinlageschuld erfolge kraft Gesetzes sine causa, weil die Einlagepflicht gerade bestehen bleiben soll, obwohl der Gesellschafter die Bareinlage bezahlt hat (§  27 Abs.  3 Satz 1 AktG, §  19 Abs.  4 Satz 1 GmbHG). Die Tilgung der Einlageschuld stellen sich die Vertreter dieser Lehrmeinung so vor, dass im Zeitpunkt der Erfüllung des Austauschvertrages kraft Gesetzes eine Verrechnung der Einlageschuld mit dem Kondiktionsanspruch des Gesellschafters erfolge.7 b) Stellungnahme Die Vorstellung, der Gesellschafter erlange einen Bereicherungsanspruch, wenn er die ihm abgeforderte Bareinlage (§§ 19 Abs. 1, 46 Nr. 2 GmbHG) rechtzeitig leistet, beruht auf der unschlüssigen Prämisse des Gesetzes, nach welcher der Bareinlageanspruch der Gesellschaft u ­ ngeachtet der Zahlung bestehen bleiben soll (§  27 Abs.  3 Satz 1 AktG, § 19 Abs. 4 Satz 1 ­GmbHG). Dieser dogmatische Missgriff gipfelt in der allgemeinen Vorstellung, der Gesellschafter schulde auch noch Verzugszinsen i.S.d. 5 So etwa Maier-Reimer/Wenzel, ZIP 2008, 1449, 1452; dies., ZIP 2009, 1185, 1190 f. 6 So zu Recht BGHZ 184, 44 = NJW 2010, 1948 „ADCOCOM“. 7 Sernetz, ZIP 2010, 2173, 2176 ff.; Schwandtner in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 19 Rz. 276 ff.; i. Erg. ähnlich Veil in Scholz, GmbHG, 12. Aufl. 2017, § 19 Rz. 132; Veil/Werner, GmbHR 2009, 729, 732 f.; Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 6. Aufl. 2017, § 19 Rz. 135 ff. jew. m.w.N.

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§ 20 GmbHG, obwohl er die Bareinlageschuld auf Anforderung jeweils pünktlich getilgt hat.8 Diese Lehrmeinung läuft darauf hinaus, dass der Gesellschafter der Einforderung seiner Bareinlageschuld aufgrund entsprechenden Gesellschafterbeschlusses (§ 46 Nr. 2 GmbHG) und Aufforderung des Geschäftsführers entgegenhalten könnte, es sei eine „Vorabsprache“ zu einem noch abzuwickelnden Austauschvertrag zwischen ihm und anderen Beteiligten oder dem Geschäftsführer getroffen worden. Denkt man in herkömmlichen juristischen Kategorien, müsste der Gesellschafter unter Hinweis darauf eine Einrede gegen seine Bareinlagepflicht haben. Denn kein Schuldner ist zu einer Zahlung verpflichtet, die ihn, weil sine causa erbracht, gar nicht befreit und noch dazu dem Gläubiger ungeachtet der Zahlung Zinsansprüche wegen Verzuges erhalten soll. Die angeblich gläubigerschützende Regelung der verdeckten Sacheinlage wird damit dogmatisch zur Bankrotterklärung, weil die Gesellschaft ihren Bareinlageanspruch nicht realisieren kann, solange der Austauschvertrag noch nicht abgewickelt ist. Dagegen lässt sich nicht einwenden, die Vereinbarung einer verdeckten Sacheinlage sei nach dem gesetzlichen Modell ohnehin ungültig. Mit diesem Argument lässt sich nur die Selbstverständlichkeit begründen, dass die vom Gesetz geforderte „Abrede“ ungültig ist, weil sie gerade verboten (rechtswidrig) sein soll (§  134 BGB).9 Doch wenn die Abrede getroffen wurde, was keineswegs Umgehungsabsichten oder Unrechtsbewusstsein der Gesellschafter verlangt,10 ist das Kind in den Brunnen gefallen: Der Gesellschafter kann ab diesem Moment nicht mehr befreiend auf seine Bareinlageschuld zahlen. Wenn der Gesetzgeber damit gleichzeitig angeordnet hätte, dass der Rechtsgrund dieser Zahlung fehlt, obwohl die Gesellschaft die Bareinlage einfordert, wäre eine solche Regelung absurd, weil der Gesellschafter die angeforderte Zahlung der Bareinlage zu Lasten derer verweigern könnte, die das Gesetz gerade schützen will. Nach allem kann kein Zweifel daran bestehen, dass der Gesellschafter ungeachtet der vollständig misslungenen Regelungen in § 27 Abs. 3 Satz 1 AktG, § 19 Abs. 4 Satz 1 GmbHG dazu verpflichtet ist, die Bareinlage zu zahlen, sobald die Gesellschafterversammlung dies beschlossen (§ 46 Nr. 2 GmbHG) und der Geschäftsführer die Zahlung angefordert hat. Besteht aber diese Verpflichtung, die Zahlung zu leisten, kann sie nicht gleichzeitig ohne Rechtsgrund erfolgen. Eine rechtsgrundlose Zahlung kann selbstverständlich nicht verlangt werden. Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass der Gesetzgeber den Rechtsgrund der Zahlung auf die Bareinlageschuld nicht abgeschafft haben kann, indem er den Fortbestand der Bareinlageschuld angeordnet hat, soweit er eine „verdeckte Sacheinla 8 Schwandtner in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 20 Rz. 4; Müller in Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, 2.  Aufl. 2013, §  20 Rz.  9  ff.; OLG Köln NJW-RR 1995, 552, 553; ­Banerjea, AG 1998, 498 ff. jew. m.w.N. 9 S. dazu Fn. 3. 10 Vgl. BGHZ 132, 133, 139; BGHZ 175, 265 Tz. 13 ff.; Casper in Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, 2. Aufl. 2013, § 19 Rz. 125; Schwandtner in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 19 Rz. 222 ff. jew. m.w.N.

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ge“ sanktionieren wollte. Jedes andere Ergebnis ist indiskutabel, weil es darauf hinausliefe, dass der Gesellschafter die angeforderte Bareinlage unter Hinweis auf die verdeckte Sacheinlage nicht leisten muss. Dann aber ist es ausgeschlossen, dass die Bareinlageschuld durch „Verrechnung“ mit einem gar nicht exis­tierenden Bereicherungsanspruch des Gesellschafters getilgt wird, der durch Zahlung auf die Bareinlageschuld zur Entstehung gelange. Es ist umgekehrt so, dass der Gesellschafter die Bar­ einlage erbringen muss, soweit sie durch Gesellschafterbeschluss fällig gestellt ist, im Gründungsstadium durch Anforderung des Geschäftsführers (§ 7 Abs. 2 GmbHG). Der Gesetzgeber hat in dogmatisch nicht einzuordnender Weise postuliert, dass die Bareinlageschuld trotz Zahlung des Gesellschafters mit entsprechender Tilgungsbestimmung bestehen bleiben soll, der Gesellschafter die angeforderte Zahlung gleichwohl nicht soll verweigern dürfen und trotz pünktlicher Zahlung sogar Verzugszinsen zu zahlen hat (§ 20 GmbHG).11 3. Auflösend bedingte Erfüllungswirkung Die dogmatischen Brüche der „Bereicherungslösung“ vermeidet eine Lehrmeinung, nach welcher die Barzahlung des Gesellschafters auf seine Bareinlageschuld zunächst deren Erfüllung bewirkt, diese Rechtsfolge aber „mit Vollzug des Austauschgeschäfts wieder rückwirkend entfällt“.12 Die Tilgungswirkung setzt, auch wenn sie nur vorläufig eintreten soll, voraus, dass die Zahlung des Gesellschafters auf die Bareinlageschuld jedenfalls zunächst mit Rechtsgrund erfolgt. Nach dieser Lehrmeinung wird die indiskutable Konsequenz des Gesetzestextes vermieden, dass der Gesellschafter die Zahlung auf die eingeforderte Bareinlage unter Hinweis darauf verweigern könnte, er sei zu einer Zahlung ohne Rechtsgrund gar nicht verpflichtet, und am Rechtsgrund fehle es nach dem Gesetz (§ 27 Abs. 3 Satz 1 AktG, § 19 Abs. 4 Satz 1 GmbHG) bis zur Abwicklung des Austauschvertrages. Ein weiterer Vorteil dieser Lehrmeinung ist die dogmatisch zu erklärende Rechtslage, dass es keinerlei Probleme mehr gibt, wenn die Beteiligten später von Abschluss oder Durchführung eines Austauschvertrages Abstand nehmen. Dann bleibt es bei der in der Satzung festgesetzten Bareinlageschuld, die vom Gesellschafter getilgt wurde, während die anderen Meinungen kaum begründen können, was jetzt mit der angeblich trotz Zahlung fortbestehenden Einlageschuld geschehen soll.13 Doch auch diese Lehrmeinung ist dogmatisch nicht konsequent. Sie opfert auf dem Altar einer vollständig misslungenen Regelung allgemeine Grundprinzipien des Privatrechts. Es bleibt vollständig im Dunkeln, weshalb eine mit Rechtsgrund geleistete Zahlung eines Gesellschafters auf seine Bareinlageschuld nur deshalb rechtsgrundlos werden soll, weil die Gesellschaft anschließend mit Rechtsgrund einen gültigen Austauschvertrag mit dem Gesellschafter erfüllt (§  27 Abs.  3 Satz 2 AktG, §  19 Abs.  4 Satz 2 GmbHG). Der Gesetzgeber sagt gerade, dass das Kausalgeschäft und die dazu 11 Nachw. oben Fn. 8. 12 Casper in Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, 2. Aufl. 2013, § 19 Rz. 131; im Ergebnis ebenso wohl Veil/Werner, GmbHR 2009, 729, 731. 13 Dazu näher III.

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erfolgenden Erfüllungshandlungen Gültigkeit haben sollen, was nicht anders als so zu verstehen ist, dass beide Vertragsparteien zur Erfüllung sogar verpflichtet sind.14 Nach allem ist die Lehrmeinung, nach welcher die Tilgung der Bareinlageschuld mit Vollzug des Austauschgeschäfts rückwirkend wieder entfällt, nichts weiter als eine Beschreibung der dogmatisch missglückten gesetzlichen Regelung: Vor dem Vollzug des Austauschgeschäfts muss die Bareinlageschuld bestehen und getilgt werden, weil alles andere gerade für die Gläubiger katastrophal wäre. Nach Durchführung des Austauschgeschäfts muss die Einlageschuld offenbar deshalb wieder aufleben, weil erst in diesem Moment die „Anrechnungslösung“, die dem Gesetzgeber vorschwebte, zum Tragen kommen kann. Mit Zivilrechtsdogmatik hat dies nichts zu tun, weil die Erfüllung eines gültigen Vertrages nicht dazu führen kann, dass eine ganz andere Verbindlichkeit einer Vertragspartei (Bareinlageschuld), die diese Vertragspartei auf Anforderung mit Rechtsgrund befriedigt hat, rückwirkend wieder auflebt. Der Gesetzgeber mag so etwas anordnen können, doch ist es eine Zumutung für jeden, der Zivilrechtsdogmatiker ist. 4. Differenzhaftungsmodell Eine verbreitete Lehrmeinung erkennt in der Anrechnungslösung (§ 27 Abs. 3 Satz 3 AktG, § 19 Abs. 4 Satz 3 GmbHG) einen „Sonderfall einer Differenzhaftung“ nach dem Vorbild des § 9 Abs. 1 GmbHG.15 Diese Lehrmeinung ist auf erste Sicht plausibel, wenn man die vom Gesellschafter zu leistende Sache in den Vordergrund stellt. Doch leidet sie an dem gleichen gedanklichen Fehler wie die These, die Sachleistung sei kraft gesetzlicher Anordnung eine Leistung an Erfüllungs Statt: Die Sachleistung kann gar nicht ohne Einbeziehung der Gegenleistung betrachtet werden, welche die Gesellschaft zu erbringen hat, wie das Beispiel der gemischten verdeckten Sacheinlage zur Genüge bestätigt: Wenn die Sache den Wert der offenen Einlageschuld erreicht, der Kaufpreis aber darüber liegt, geht es gar nicht mehr um den Wert der Sache, wie nicht näher erläutert werden muss. Dann aber hat die Orientierung an der Differenzhaftung des Inferenten einer Sacheinlage nur den Erkenntnisgewinn, dass Austauschverträge zwischen der Kapitalgesellschaft und ihren Gesellschaftern aus Sicht der Gläubiger unbedenklich sind, wenn Leistung und Gegenleistung in einem angemessenen Verhältnis stehen, und umgekehrt eine „Differenzhaftung“ des Gesellschafters entstehen muss, wenn es an der Angemessenheit zulasten der Kapitalgesellschaft fehlt. Diese Wertung ist freilich Kapital­ erhaltung (§§ 57, 62 AktG, §§ 30, 31, 43 Abs. 3 GmbHG) und nicht Kapitalaufbringung. Die Angemessenheit des Austauschvertrages und die Differenzhaftung bei Unangemessenheit soll denn auch nur deshalb eine Frage der Kapitalaufbringung sein, weil der erst nach Entstehung der juristischen Person oder Wirksamkeit der Kapitalerhöhung durch Eintragung im Handelsregister abgeschlossene oder durchgeführte Aus14 Dazu näher III. 15 Vgl. dazu Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19.  Aufl. 2016, §  19 Rz.  83; Ebbing in Michalski/Heidinger/Leible/Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 19 Rz. 152; Kleindiek, ZGR 2011, 334, 350.

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Verworrene Rechtslage der verdeckten Sacheinlage und ihre Folgen

tauschvertrag zwischen der Kapitalgesellschaft und ihrem Gesellschafter schon vorher Gegenstand einer wegen Rechtswidrigkeit ungültigen (§ 134 BGB) „Vorabsprache“ war. Aus dieser ungültigen Vorabsprache kann zu allem Überfluss kein Anspruch der Kapitalgesellschaft oder ihres Gesellschafters auf Abschluss des Austauschvertrages entstehen.16 Eine ungültige, weil rechtswidrige Vorabsprache zum späteren Abschluss eines Austauschvertrages weist überhaupt keine Parallele zu dem Fall auf, dass der Gesellschafter in der Satzung rechtsgültig eine Sacheinlage übernommen und diese den angesetzten Wert nicht hat. 5. Ergebnis zu II Die gesetzliche Anordnung, dass die Bareinlageschuld im Falle der verdeckten Sacheinlage trotz Zahlung des Gesellschafters Bestand haben soll und nur der „Wert“ der „Sache“ darauf anzurechnen sei, während der Austauschvertrag und die Erfüllungshandlungen zu ihm Gültigkeit besitzen, ist mit allgemeinen Prinzipien der zivilrechtlichen Dogmatik in keiner Weise zu erklären. Wenn man keine absurden Ergebnisse herbeireden will, hat der Gesetzgeber angeordnet, dass der Gesellschafter auf die Bar­ einlage zahlen muss, die Zahlung aber zugleich nicht die Bareinlageschuld tilgt, weil die Tilgungswirkung von der „Anrechnungslösung“ abhängen soll (§ 27 Abs. 3 Satz 3 AktG, § 19 Abs. 4 Satz 3 GmbHG). Endgültig unvertretbar ist es, den Gesellschafter, der die Bareinlage pünktlich gezahlt hat, bis zur „Wirkung der Anrechnungslösung“ – die Jahre später eintreten mag – mit Zinsen zu belasten (§ 20 GmbHG), nur weil es dem Gesetzgeber gefällt, die pünktlich geleistete Zahlung als nicht geleistet zu fingieren (§ 27 Abs. 3 Satz 1 AktG, § 19 Abs. 4 Satz 1 GmbHG). Die Aufgabe des Rechtsanwenders besteht in diesen Fällen darin, die missglückte Regelung in dogmatischer Hinsicht als unbrauchbar zu erkennen und dennoch praktisch taugliche Ergebnisse aus ihr abzuleiten.

III. Beendigung und „Heilung“ der verdeckten Sacheinlage 1. Meinungsstand Wenn die Beteiligten ihre Absicht aufgeben, eine „verdeckte Sacheinlage“ zu vollziehen, ist die Rechtslage besonders unklar. Sehr plausibel ist eine Ansicht, nach welcher dann keine verdeckte Sacheinlage mehr anzunehmen sei.17 Die Gegenansicht verweist auf den Wortlaut der § 27 Abs. 3 Satz 1 AktG, § 19 Abs. 4 Satz 1 GmbHG. Danach komme es entscheidend und nur auf die Abrede der verdeckten Sacheinlage an, nicht auf deren Vollzug. Nur dann, wenn die Abrede noch vor der Handelsregisteranmeldung „aufgegeben“ werde, könne der Leistung der Bar­einlage ihre Erfüllungswir16 Statt aller Schwandtner in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 19 Rz. 267. 17 Vgl. Benz, Verdeckte Sacheinlage und Einlagenrückgewähr im reformierten GmbH-Recht (­MoMiG), 2010, S. 99 f.; Veil/Werner, GmbHR 2009, 729.

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kung nicht versagt werden. Erfolge die Aufgabe der Absicht erst nach Eintragung, sei eine Erfüllung der Bareinlageverpflichtung nach dem Wortlaut der § 19 Abs. 4 Satz 1 GmbHG, § 27 Abs. 3 Satz 1 AktG an sich ausgeschlossen. Immerhin wird erkannt, dass dieses Ergebnis „unbillig“ ist, „so dass der Bareinlageleistung nachträglich Erfüllungswirkung zugebilligt werden muss, wenn die Absicht einer verdeckten Sacheinlage nachweislich aufgegeben wird“.18 Zur „Heilung“ einer verdeckten Sacheinlage wird argumentiert, es müsse eine entsprechende Satzungsänderung beschlossen und zum Handelsregister angemeldet und dem Registergericht ein Bericht der Gründungsgesellschafter vorgelegt werden, der den Anforderungen des § 5 Abs. 4 Satz 2 GmbHG genüge.19 Zudem sei von den Geschäftsführern zu versichern, sie hätten eine werthaltige Sache empfangen.20 Mit der Eintragung der Satzungsänderung in das Handelsregister soll die verdeckte Sacheinlage „ex nunc“ geheilt sein, was an der Strafbarkeit des Geschäftsführers wegen der falschen Versicherung (§ 8 Abs. 2 i.V.m. § 82 Abs. 1 Nr. 1 und 3 GmbHG) freilich nichts mehr ändern könne.21 Auch die Zinsforderungen nach §  20 GmbHG sollen bestehen bleiben.22 2. Stellungnahme Die dogmatische Verworrenheit der § 27 Abs. 3 AktG, § 19 Abs. 4 GmbHG zeigt sich in besonderem Maße dann, wenn die Beteiligten nach Eintragung der Gesellschaft oder der Kapitalerhöhung entgegen ihrer „Vorabsprache“ den Austauschvertrag entweder gar nicht abschließen oder den bereits abgeschlossenen Austauschvertrag nicht mehr durchführen, aus welchen Gründen auch immer. Die Annahme, ein solcher Sinneswandel könne rückwirkend Tilgung der Bareinlageschuld bewirken, die der Gesetzgeber gerade ausgeschlossen hat (§ 27 Abs. 3 Satz 1 AktG, § 19 Abs. 4 Satz 1 GmbHG), ist einmal mehr dogmatisch nicht einzuordnen. Schon gar nicht kann diese Wirkung davon abhängen, dass die Beteiligten ihren Sinneswandel irgendjemandem (dem Registerrichter?) „nachweisen“. Wenn der Austauschvertrag nicht abgeschlossen oder nicht durchgeführt wird, gibt es nichts „anzurechnen“, wie nicht näher erläutert werden muss. Doch gerade dann ist die These absurd, die Zahlung der Bar­ einlage, die der Gesellschafter rechtzeitig geleistet hat, müsse wegen § 27 Abs. 3 Satz 1 AktG, § 19 Abs. 4 Satz 1 GmbHG beiseitegelassen werden, weil der Gesetzgeber den Fortbestand der Einlageschuld fingiere. Nimmt man den Gesetzeswortlaut ernst, ist auch keinerlei Vereinbarung der Beteiligten erforderlich. Jeder kann und muss(!) sich 18 Schwandtner in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 19 Rz. 293; Fastrich in Baumbach/ Hueck, GmbHG, 20. Aufl. 2016, § 19 Rz. 63. 19 Schwandtner in MünchKomm. GmbHG, 3.  Aufl. 2017, §  19 Rz.  298; Bayer in Lutter/ Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 19 Rz. 96 f. 20 Bayer in Lutter/Hommelhoff, 19. Aufl. 2016, § 19 Rz. 97. 21 Schwandtner in MünchKomm. GmbHG, 3.  Aufl. 2017, §  19 Rz.  296; Bayer in Lutter/ Hommelhoff, GmbHG, 19.  Aufl. 2016, §  19 Rz.  95; Casper in Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, 2. Aufl. 2013, § 19 Rz. 175. 22 Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 19 Rz. 99; Casper in Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, 2. Aufl. 2013, § 19 Rz. 175.

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darauf berufen, dass die „Vorabsprache“ rechtswidrig und ungültig ist. Jeder kann und muss den Abschluss des Austauschvertrags und seine Erfüllung verweigern. Wurde der Austauschvertrag schon abgeschlossen, soll er wirksam sein (§ 27 Abs. 2 Satz 3 AktG, § 19 Abs. 4 Satz 3 GmbHG). Dann scheint jede Vertragspartei Erfüllung verlangen zu können, obwohl die verdeckte Sacheinlage doch gerade verboten ist! Einmal mehr zeigt sich die gedankliche Entgleisung, die dem Gesetzgeber bei der Regelung der verdeckten Sacheinlage unterlaufen ist. Die Annahme, jemand könne die Durchführung einer Maßnahme erzwingen, die der Gesetzgeber ausdrücklich für rechtswidrig, verboten und strafbar(!)23 erklärt, stellt eine Zumutung dar. Selbstverständlich muss jede Vertragspartei des Austauschvertrages sich auf die vom Gesetzgeber angeordnete Rechtswidrigkeit berufen und deshalb sowohl den Abschluss als auch die Erfüllung eines Austauschvertrages verweigern, die auf eine vom Gesetzgeber geregelte „verdeckte Sacheinlage“ (§ 27 Abs. 3 AktG, § 19 Abs. 4 GmbHG) hinauslaufen würde. Damit bestätigt sich allein diejenige Lehrmeinung als die richtige, die eine verdeckte Sacheinlage schon dann leugnet, wenn die Parteien den Austauschvertrag gar nicht durchführen, der Gegenstand der verdeckten Sacheinlage sein sollte. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass jede Vertragspartei diese Durchführung verweigern muss, weil die verdeckte Sacheinlage rechtswidrig und strafbar ist, wenn man sie dem Registergericht nicht aufdeckt. Bei pflichtgemäßer Offenbarung muss der Registerrichter die Eintragung der GmbH verweigern. Dann aber ist auch die Anordnung, der Austauschvertrag und die zu seiner Erfüllung getätigten Rechtsgeschäfte seien gültig (§ 27 Abs. 3 Satz 2 AktG, § 19 Abs. 4 Satz 2 GmbHG), absurd. Jedenfalls dann, wenn der Austauschvertrag schon abgeschlossen wurde, suggeriert dessen angeordnete Gültigkeit (§  27 Abs.  3 Satz 2 AktG, §  19 Abs.  4 Satz 2 GmbHG), dass sowohl die GmbH als auch der Gesellschafter auf einer Vollziehung der verbotenen und strafbaren Aktion „verdeckte Sacheinlage“ bestehen und diese sogar mit Hilfe der Zivilgerichte erzwingen könnte. Der untragbare Widerspruch der gesetzlichen Regelung liegt damit evident zutage. Vollständig fehl gehen auch die Überlegungen dazu, wie man die verdeckte Sacheinlage nach neuem Recht „heilen“ könne. Ein Interesse der Gläubiger an einer „Heilung“ ist im Falle eines bereits vollzogenen Austauschvertrages nicht zu erkennen, wenn dieser betriebswirtschaftlich angemessen war: Dann ist die Bareinlageschuld restlos erloschen (§ 27 Abs. 3 Satz 3 AktG, § 19 Abs. 4 Satz 3 GmbHG). Warum in solchen Fällen eine aufwändige Prozedur in Gestalt einer Satzungsänderung und eines Berichts gegenüber dem Registerrichter zweckmäßig sein soll, ist nicht ersichtlich, schon gar nicht, wenn diese sinnlosen Maßnahmen an der Strafbarkeit des Geschäftsführers und den entstandenen Zinsforderungen nach § 20 GmbHG angeblich „nichts mehr ändern können“.24 23 § 399 Abs. 1 Nr. 1, 4 AktG; § 82 Abs. 1 Nr. 1, 3 GmbHG, §§ 25–27 StGB. Der Gesellschafter ist Anstifter, jeder „Mitwisser“ Gehilfe dieser Straftat des Geschäftsführers! 24 Schwandtner in MünchKomm. GmbHG, 3.  Aufl. 2017, §  19 Rz.  296; Bayer in Lutter/ Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 19 Rz. 95, 99; Casper in Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, 2. Aufl. 2013, § 19 Rz. 175.

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In der verbleibenden Fallgruppe, dass der Austauschvertrag noch nicht vollzogen wurde, macht die „Heilung“ in Gestalt aufwändiger Aktionen betreffs einer Satzungsänderung und eines Gründungsberichts sowie einer Versicherung des Geschäftsführers erst recht überhaupt keinen Sinn: In diesem Fall haben die Beteiligten zu erkennen, dass sie den Austauschvertrag nicht vollziehen dürfen, weil anderenfalls die verbotene und strafbare (!) verdeckte Sacheinlage im Raum steht, die es auf der Grundlage der gesetzlichen Regelung unbedingt zu verhindern gilt. Die Aufgabe des Plans, einen Austauschvertrag zwischen Kapitalgesellschaft und Gesellschafter abzuschließen, ist in der Tat die „Aufgabe der verdeckten Sacheinlage“, wie hinreichend dargetan wurde: Solange es nicht zum Vollzug eines Austauschvertrages kommt, ist nichts „anzurechnen“ oder „abzuziehen“, es hat sein Bewenden mit der in der Satzung festgelegten Bareinlageschuld des Gesellschafters, die er erfüllen musste und erfüllt hat.25 Ob und wann die Beteiligten es „aufgegeben“ haben, eine ohnehin ungültige „Vorabsprache“ betreffs eines Austauschvertrages in die Tat umzusetzen, ist nach allgemeinen juristischen Regeln belanglos, weil kein offenbarungspflichtiger Umstand. 3. Weitere absurde Konsequenzen des Gesetzes Allerdings hat die Regelung zur verdeckten Sacheinlage unfreiwillig der GmbH die Möglichkeit genommen, Erfüllung des Austauschvertrages zu erzwingen, weil der Gesellschafter das Recht und die Pflicht hat, dies unter Hinweis auf die Rechtswidrigkeit der verdeckten Sacheinlage zu verweigern. Diese aufgrund mangelnder gesetz­ geberischer Einsicht bestehende Rechtslage kann man nur überwinden, indem die Beteiligten sich darüber klar werden, dass ihre Vorabsprache ohnehin wegen Rechtswidrigkeit ungültig ist und dass sie einen etwa schon abgeschlossenen Austauschvertrag nach Eintragung der Gesellschaft oder der Kapitalerhöhung wieder aufheben müssen. Dann gibt es keine verdeckte Sacheinlage mehr. Anschließend können sie aber, wenn man das Gesetz beachtet, den Austauschvertrag „neu“ abschließen, um ihn ohne Sanktionen durchzuführen. Doch wir dürfen sicher damit rechnen, dass dieser Lösungsvorschlag bei den Liebhabern der verdeckten Sacheinlage sofort wegen „Umgehung“ dieser Rechtsfigur verworfen wird. Insofern hat sich an der Gefährlichkeit der verdeckten Sacheinlage seit ihrer Entdeckung zu Beginn des 20. Jahrhunderts nichts geändert. Treffend hat Max Hachenburg den „Erfindern“ der verdeckten Sacheinlage schon 1924 prophezeit: „… Man wurde Schritt für Schritt weiter gerissen,… überall verschleierte Sachgründungen… man kommt in einen kasuistischen Sumpf, aus dem es kein Entrinnen gibt … Es wird kein Halten geben … .“26 Wie Recht er hatte, sehen wir auf der Grundlage der heutigen Gesetzesregelung noch deutlicher als damals.

25 Näher II. 26 Hachenburg, JW 1924, 199.

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Verworrene Rechtslage der verdeckten Sacheinlage und ihre Folgen

IV. Ergebnisse 1. Die Rechtsfigur der verdeckten Sacheinlage ist in Gestalt der Regelungen in § 27 Abs. 3 AktG und § 19 Abs. 4 GmbHG vollständig misslungen, weil Grundprinzipien der Zivilrechtsdogmatik missachtet werden. 2. Dies gilt in erster Linie für den indiskutablen Befund, dass der Gesellschafter auf der Grundlage des Gesetzestextes dazu befugt sein müsste, die Anforderung der Bar­ einlage mit dem Hinweis beiseite zu tun, seine Zahlung werde vor Erfüllung des geplanten Austauschvertrages sine causa erfolgen und noch dazu seine Zinspflicht auf die Bareinlageschuld trotz Zahlung nicht hindern. Beides ist ungeachtet des dies scheinbar gebietenden Gesetzeswortlauts nicht vertretbar. Der Gesellschafter muss die Bareinlage bei Anforderung zahlen und hat keineswegs nach Zahlung noch eine Zinspflicht. Diskutabel ist eine Zinspflicht allenfalls ab dem Zeitpunkt, in welchem das missglückte Gesetz eine Differenzhaftung auf die Einlageschuld anordnet (§ 27 Abs. 3 Satz 3 AktG, § 19 Abs. 4 Satz 3 GmbHG). 3. Indiskutabel ist auch die gleichzeitige Anordnung der Gültigkeit des Austauschvertrages und der dazu erfolgenden Erfüllungshandlungen einerseits und das gesetzliche (strafbare, § 399 Abs. 1 Nr. 1, 4 AktG, § 82 Abs. 1 Nr. 1, 3 GmbHG, §§ 25–27 StGB) Verbot der verdeckten Sacheinlage und der darauf beruhenden Fortgeltung der Bar­ einlageschuld andererseits (§ 27 Abs. 3 Satz 1 und 3 AktG, § 19 Abs. 4 Satz 1 und 3 GmbHG): Während die Kapitalgesellschaft oder ihr Gesellschafter nach dem Gesetzeswortlaut die Durchführung einer gesetzlich verbotenen verdeckten Sacheinlage soll gerichtlich erzwingen können, ist es selbstverständlich, dass jede Vertragspartei den Abschluss und die Erfüllung des Austauschvertrages ablehnen muss, um sich gerade nicht an einer verbotenen (strafbaren!) verdeckten Sacheinlage zu beteiligen. Nur diese Entscheidung ist nach geltendem Recht erlaubt, auch dann, wenn der Austausch­vertrag angemessen und im Interesse der Gesellschaft ist: Er bleibt wegen der (ungültigen!) Vorabsprache gleichwohl verboten und strafbar. Eine „Heilung“ der verdeckten Sacheinlage besteht darin, Abschluss und Durchführung des ohnehin ­ungültig „vorbesprochenen“, gegebenenfalls sehr sinnvollen Austauschvertrages zu unterlassen. Dazu zwingt das törichte Gesetz alle Beteiligten. Doch muss die „Aufhebung“ der (ungültigen!) „Vorabsprache“ und der „Neukonsens“ über den Austausch­ vertrag nach Eintragung erlaubt sein. Man kann über eine derartig verworrene Regelung der verdeckten Sacheinlage nur den Kopf schütteln, auch wenn ihre Väter im Rechtsausschuss in ihrer panischen Angst vor „Umgehungen“ des Sachgründungsrechts es gewiss „gut gemeint“ haben.

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Gregor Bachmann

Die große Aktienrechtsreform 2049 Inhaltsübersicht I. Auf dem Weg zum besten Gesellschaftsrecht

VI. Hürden und Gefahren einer großen Reform

II. Vorbilder großer Reformen 1. Nationale Vorbilder 2. Ausländische Vorbilder

VII. Sachthemen 1. Aktienrecht 2. Weitere Bereiche des Gesellschaftsrechts a) Allgemeiner Teil des Verbandsrechts b) GmbH-Recht c) Personengesellschaftsrecht 3. Redaktionelles und Kapitalmarktrecht

III. Anlässe für Gesellschaftsrechtsreformen IV. Beteiligte V. Verfahren 1. Konsultation 2. Expertenkommissionen 3. Ideensammlung 4. Weitere Bedingungen

VIII. Schluss und Ausblick

I. Auf dem Weg zum besten Gesellschaftsrecht Die Volksrepublik China hat sich für das Jahr 2049 ehrgeizige Ziele gesetzt. Zum hundertsten Jahrestag ihres Bestehens will sie zur führenden Industrienation der Welt aufgestiegen sein. Im Zentrum der Anstrengungen steht der technologische Fortschritt, doch auch der Ausbau der Infrastruktur spielt eine wichtige Rolle und neben physischen Elementen wie Schienen und Straßen geht es dabei auch um rechtliche Institutionen. Folgerichtig entsendet China Kundschafter in die verschiedensten Jurisdiktionen, um herauszufinden, welche Rechtseinrichtungen sich wo und wie bewährt haben, und bei Bedarf die passenden Elemente in das eigene Rechtssystem zu implementieren. Die chinesischen Anstrengungen können den Westen nicht kalt lassen. Sowohl in technologischer Hinsicht als auch mit Blick auf die Infrastruktur muss es sein Anliegen sein, am Wettrennen um die besten Produktionsbedingungen teilzunehmen. Angesprochen sind nicht nur die Pazifik-Anrainer USA und Japan, sondern auch und gerade Deutschland, das als rohstoffarme Industrienation auf die Optimierung seiner sozialen Institutionen angewiesen ist. Neben unserem Bildungssystem muss daher auch unser Rechtssystem darauf durchleuchtet werden, wo und wie es verbessert werden kann. Vor diesem Hintergrund möchte ich einige Überlegungen anstellen, wie ein für das Funktionieren der Wirtschaft elementarer Teilbereich des deutschen Rechts – das Organisationsregime für private Wirkungseinheiten, kurz: „Gesellschaftsrecht“ – so re13

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formiert werden kann, dass es zum „besten“, das heißt, zu einem global konkurrenzfähigen Regelungsregime wird.1 Dabei geht es nicht allein um Inhalte, sondern auch um die Methoden einer grundlegenden Gesellschaftsrechtsreform. Das dafür anvisierte Zieljahr 2049 mag in utopischer Ferne liegen, erscheint jedoch einerseits weit genug weg, um die Strecke zu gehen, die eine große Reform benötigt, und bietet andererseits die dafür erforderliche Symbolkraft. Denn in jenem Jahr feiert neben der Volksrepublik China auch die Bundesrepublik Deutschland ihr hundertjähriges Bestehen. Ulrich Seibert, dem diese Überlegungen gewidmet sind, hat maßgeblichen Anteil daran, dass das deutsche Kapitalgesellschaftsrecht schon ein gutes Stück des Wegs nach vorn gegangen ist. Dabei hat er, wie wenige Andere, Einblicke in das legislatorische Wirken hinter den Kulissen erhalten, woran er den interessierten Beobachter gerne hat teilhaben lassen. Dem Jubilar ist zu wünschen, dass er den Fortgang der Dinge noch über viele Jahrzehnte, nunmehr aus entspannter Distanz, beobachten darf.

II. Vorbilder großer Reformen 1. Nationale Vorbilder Eine große Gesellschaftsrechtsreform mag ein ehrgeiziges Anliegen sein, doch ohne Vorbild ist sie nicht realisierbar. Blickt man in den heimischen Rechtskreis, so darf insbesondere die Verabschiedung des GmbHG (1892) als Exempel dienen: Die auf dem Reißbrett entwickelte neue Rechtsform, die nach gründlichen Vorüberlegungen das Licht der Welt erblickte, erwies sich rasch als Erfolgsmodell und Exportschlager,2 wenngleich sie  – vor allem mit Blick auf den Gläubigerschutz und als Vehikel zur Rechtsumgehung – Fragen aufwarf, von denen bis heute nicht alle zufriedenstellend gelöst sind. Auslöser für die Schaffung der GmbH war die durchaus modern erscheinende Idee, im Wettbewerb mit anderen Gesetzgebern – namentlich mit dem Vereinigten Königreich – nicht hintanzustehen sowie kleinen und mittleren Unternehmen ein maßgeschneidertes Rechtskleid zu liefern.3 Ein weiteres Vorbild findet sich in den beiden großen deutschen Aktienrechtsreformen des 20. Jahrhunderts. Nachdem der Deutsche Juristentag schon in den zwanziger Jahren zentrale Reformthemen des Aktienrechts in bemerkenswerter Aufgeschlossenheit diskutiert hatte,4 erfolgten zunächst punktuelle Reformen, die dann in die 1 Vgl. bereits Seibert, AG 2002, 417, 418: „Das Ziel aller gesetzgeberischen Bemühungen ist, die Rahmenbedingungen für die Leitung und Kontrolle unserer Großunternehmen so einzurichten, dass sie […] im Wettbewerb bestehen“; mit gleicher Stoßrichtung zuletzt Reichert, AG 2016, 677, 678. Wissenschaftliche Vorstöße zum „besten“ Gesellschaftsrecht unternehmend Bachmann/Eidenmüller/Engert/Fleischer/Schön, Regeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012; ferner die Arbeitsgruppe zum European Model Company Act (EMCA), s. dazu Baums/Teichmann, AG 2018, 562, 564: „Suche nach der ‚besten‘ Lösung“. 2 Zur Verbreitung der GmbH in der Welt s. Lutter in FS 100 Jahre GmbH-Gesetz, 1992, S. 49 ff. 3 Vgl. nur Bachmann, ZGR 2001, 351, 355 f. (mit zeitgenössischen Zitaten). 4 Vgl. Spindler in Bayer/Habersack (Hrsg.), Aktienrecht im Wandel, Band 1, 2007, S. 440 ff.

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Die große Aktienrechtsreform 2049

Gestaltung des neuen, für sich stehenden AktG 1937 mündeten. Einen ähnlichen Kraftakt unternahm der Gesetzgeber nochmals in den fünfziger und sechziger Jahren, der dem AktG seine heutige Grundform gab und – wiederum nach langen Reformdebatten – ein völlig neues Konzernrecht schuf.5 Mit dem Inkrafttreten des MitbestG (1976) schien die Zeit der „großen“ Reformen des Gesellschaftsrechts in Deutschland dann einstweilen vorüber. Die in Aussicht genommene Totalreform des GmbHG, die immerhin bis zu einem vollständigen Referentenentwurf gedieh,6 schrumpfte zur „kleinen“ Reform des GmbHG von 1980. Der im gleichen Jahr veröffentlichte Bericht der sog. Unternehmensrechtskommission7 blieb ohne handfeste Folgen und der 1988 von Lutter u.a. publizierte Vorschlag eines „Dreistufenmodells“ für die Aktiengesellschaft wurde vom Gesetzgeber nicht um­ gesetzt.8 Doch mit der Übernahme des Kapitalgesellschaftsrechtsreferats durch den Jubilar kam wieder Bewegung ins Aktienrecht: Die von Lutter u.a. in der genannten Schrift ventilierte Idee einer Deregulierung des Aktienrechts für nicht börsenno­ tierte Gesellschaften wurde im „Gesetz zur kleinen Aktiengesellschaft“ (1994) zumindest partiell aufgegriffen.9 Es schloss sich eine Kette von Teilreformen durch KonTraG (1998), NaStraG (2000), TransPuG (2002), UMAG (2005), ARUG (2009) und ­Vorst­AG (2010) an,10 die dem Gesetzgeber das gern zitierte Testat der „Aktienrechtsreform in Permanenz“ eintrugen.11 Nimmt man die Reformgesetze zusammen, verflüchtigt sich indes das Bild der Dauerbaustelle und zeigt sich ein Werk, welches sich von den „großen“ Reformen hauptsächlich dadurch unterscheidet, dass es nicht in einem, sondern in mehreren Schritten vollzogen wurde.12 In der Liste der Vorbilder dürfen schließlich drei weitere Reformakte nicht fehlen. Zu nennen sind das MoMiG (2009), das nur wenige Paragrafen des GmbHG änderte oder einfügte und daher bei oberflächlicher Betrachtung als Detailreform daherkommt, in der Sache aber Zentralfragen des GmbH-Rechts ganz neu entschied, zweitens die Ausformung einer aufsichtsratslosen AG in Gestalt der monistischen SE (§§ 20 ff. SEAG), sowie, last not least, das nach langjähriger Vorarbeit 1995 in Kraft 5 In diesen Kontext gehört auch das ebenfalls nach langjähriger, z.T. parallel geführter öffentlicher Debatte 1976 verabschiedete MitbestG, das einen tiefen Eingriff in das Recht des Aufsichtsrats und damit in das Herz der deutschen Corporate Governance brachte. 6 Referentenentwurf vom April 1969 zu einem GmbHG (§§ 1–89, 96, 109), abgedruckt in Schubert, Quellen zur GmbH-Reform von 1958 bis zum GmbH-Änderungsgesetz von 1980, 2011, S. 71 ff. 7 BMJ (Hrsg.), Bericht über die Verhandlungen der Unternehmensrechtskommission, 1980. 8 Albach/Corte/Lutter/Friedewald/Richter, Deregulierung des Aktienrechts: Das Dreistufenmodell, 1988. 9 U.a. durch Zulassung der Einmann-Gründung und partiellen Verzicht auf die Pflicht zur notariellen Beurkundung von HV-Beschlüssen. 10 Nachgezeichnet bei Bachmann, AG 2011, 181 ff. 11 Das Zitat geht nicht, wie bisweilen angenommen, auf den Jubilar zurück, sondern entstammt der Überschrift eines Beitrags von Zöllner (AG 1994, 336). Der Jubilar hat es später in einem eigenen Titel aufgegriffen und dort mit einem Fragezeichen versehen (s. Seibert, AG 2002, 417: „Aktienrechtsreform in Permanenz?“). 12 Seibert, AG 2002, 417, 419, dort auch zum hinter den Reformen stehenden „Masterplan“.

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getretene UmwG, welches in seiner systematischen Geschlossenheit den großen Kodifikationen des Kaiserreichs ebenbürtig ist.13 2. Ausländische Vorbilder Vorbilder großer Reformen finden sich auch im Ausland. Gerne verwiesen wird auf asiatische Jurisdiktionen, die ihr Gesellschaftsrecht verschiedentlich nach dem Vorbild ausländischer Rechte (neu) modelliert haben. Neben dem eingangs erwähnten China verdient hier insbesondere Japan Hervorhebung, das sich in z.T. einschneidenden Reformen zuletzt von kontinentalen (deutschen) Vorbildern ab- und stärker dem US-amerikanischen Muster zugewandt hat.14 Keine grundstürzenden Reformen waren in den USA selbst zu vermelden, seitdem man dort schon vor langer Zeit den für das deutsche und europäische Recht prägenden Gedanken eines festen Nominalkapitals verabschiedet hat. Immerhin brachte man in den Vereinigten Staaten die Kraft für ein geschlossenes Modellgesetz (in Gestalt des „Model Business Corporation Act“ – MBCA) auf, das von einigen Staaten umgesetzt und zuletzt zum Vorbild für ein (privates) europäisches Modellgesetz wurde.15 Beschränkt man den Blick auf Europa, ist vor allem die grundlegende Reform des englischen Gesellschaftsrechts zu Beginn des 21.  Jahrhunderts zu erwähnen. Nach einem breit angelegten, durch ein 1998 veröffentlichtes Grundsatzpapier („Modern Company Law for a Competitive Economy“) angestoßenen Konsultationsverfahren wurde nach Jahren intensiver Debatten der Companies Act 1985 durch den Companies Act 2006 ersetzt.16 Ein offen ausgesprochenes Anliegen der vom britischen Handelsministerium angestoßenen Reform war es, das britische Gesellschaftsrecht wettbewerbsfähig(er) zu machen.17 Diese Reform könnte sowohl vom Ziel als auch vom Verfahren her tonangebend für eine mögliche Großreform des deutschen Gesellschaftsrechts sein. Weniger „groß“ ist im Ergebnis die 2007 als „grosse“ Aktienrechtsrevision gestartete Reform des Schweizer Aktienrechts ausgefallen.18 Doch auch sie kann mit ihrem umfassenden Prüfauftrag und der breitflächigen Konsultation für Deutschland als Exempel herhalten.

13 Zieht man den Kreis noch weiter, darf auch die Ersetzung der Konkursordnung durch die InsO (1998) genannt werden, die bei funktionalem Verständnis dem Organisationsrecht mit zuzuordnen ist. 14 Vgl. Takahashi, Die Rezeption und Konvergenz des deutschen Handels- und Gesellschaftsrechts in Japan, 2017, S. 5, 53 f. Den Verlust der Vorbildwirkung des deutschen Rechts im Ausland nachzeichnend Sandrock, ZVglRWiss 100 (2001), 3 ff. 15 Zum European Model Company Act (EMCA) s. Baums/Teichmann, AG 2018, 562 ff. 16 Zur Historie s. Hannigan, Company Law, 4. Aufl. 2016, S. 21 ff.; näher Rickford in De Lacy (Hrsg.), The Reform of United Kingdom Company Law, 2002, S. 3 ff. 17 Vgl. Bachmann, ZGR 2001, 351, 354 ff. 18 Vgl. hierzu Böckli, GesKR 2017, 133 ff.; von der Crone/Angstmann, SZW 2017, 3 ff.; Forstmoser/Küchler, SJZ 2017, 73 u. 153 ff.; Sethe/Egle, SJZ 2016, 492 ff.

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III. Anlässe für Gesellschaftsrechtsreformen Gesellschaftsrechtsreformen, große zumal, werden nicht aus dem Nichts begonnen. Vor dem Blick auf Formen und Inhalte sollen daher die möglichen Anlässe für ein Reformvorhaben gesichtet werden. Ein erster und klarer Fall liegt vor, wenn das Tätigwerden des Gesetzgebers rechtlich geboten ist. Zwänge dieser Art ergeben sich aus höherrangigem Recht, seien es Richtlinien oder Verordnungen der EU, seien es internationale Abkommen. Auch das Verfassungsrecht kann ein Tätigwerden des Gesetzgebers erzwingen, doch spielt dieser Fall im Gesellschaftsrecht eine untergeordnete Rolle.19 Reformen des Gesellschaftsrechts können ferner politisch motiviert sein. Derartiger Reformdruck baut sich insbesondere im Gefolge von Krisen auf. Ein Beispiel lieferte die letzte Finanzkrise, die einen „Regulierungstsunami“ (Mülbert) auslöste. Mangelhafte Corporate Governance wurde als (vermeintlich20) mitursächlich für den Zusammenbruch der Märkte identifiziert, was den Gesetzgeber zu einigen Eingriffen in das Gesellschaftsrecht veranlasste.21 Kriseninduzierte Gesetzgebung bietet sowohl Chancen als auch Risiken.22 Die Chance besteht darin, das politische Momentum zu nutzen, um sinnvolle Veränderungen auf den Weg zu bringen. Das Risiko liegt darin, dass unreflektiert Maßnahmegesetze verabschiedet werden, die an den eigentlichen Krisenursachen nichts ändern und im schlimmsten Fall kontraproduktiv wirken.23 Die US-amerikanische Gesellschaftsrechtlerin Roberta Romano spricht in diesem Zusammenhang von „Quack Corporate Governance“.24 Neben der großen Krise können auch einzelne Skandale, wie spektakuläre Unternehmenszusammenbrüche oder „feindliche“ Übernahmeversuche, den Gesetzgeber auf den Plan rufen. Beispiele hierfür finden sich im internationalen Raum (Enron, Parmalat) ebenso wie im deutschen (Holzmann, Mannesmann). Chancen und Risiken decken sich weitgehend mit denen der kriseninduzierten Gesetzgebung. Selbsterzeugter Reformdruck baut sich auf, wenn eine Kette von Gesetzesänderungen und/ oder höchstrichterlicher Entscheidungen das Recht hat unübersichtlich, widersprüchlich oder schlicht unbefriedigend werden lassen, so dass ein bereinigender Akt 19 Historisch relevant wurde der Fall im 19. Jhdt., als dem Reich die Gesetzgebungskompetenz für das Gesellschaftsrecht zufiel. Heute sind vor allem die Grundrechte (Art. 9, 12, 14 GG) bedeutsam, die dem Gesetzgeber aber einen großen Handlungsspielraum lassen und sich daher eher im Rahmen der verfassungskonformen Auslegung auswirken, exemplarisch BVerfGE 100, 289 ff. (DAT/Altana). 20 Mit berechtigter Skepsis Seibert in FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 1101: „Die Ursachen, die zur Finanzkrise geführt haben, lagen weniger im Kernbereich der deutschen Corporate Governance“. 21 S. Bachmann, AG 2011, 181, 185. 22 Vgl. Fleischer in FS Priester, 2007, S. 75, 87 f. 23 Zu solchen regulatorischen „Nebenwirkungen“ s. G. Calliess in FS Teubner, 2009, S. 465, 471 f. 24 Romano, Regulation 28.4 (2005), S.  36–44, abrufbar unter SSRN:  https://ssrn.com/abs​ tract=875370. 

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des Gesetzgebers erforderlich wird.25 Exogener Reformdruck entsteht, wenn äußere Entwicklungen – beispielsweise der durch das Centros-Urteil des EuGH26 zeitweilig ausgelöste Run auf die britische Limited – den Gesetzgeber zu einer legislativen Reaktion nötigen. Ohne konkreten Anlass angestoßene Gesetzesreformen sind rar.27 Beobachten kann man sie bei Personalwechseln in Regierung, Rechtsausschuss oder Ministerium, wenn neue Amtsträger eine Agenda sowie den zu ihrer Umsetzung erforderlichen Gestaltungswillen mitbringen. Die Kraft des Einzelnen reicht dafür aber nicht aus. In der Praxis erreicht erst das Zusammenkommen mehrerer Akteure – Lobbyisten, Vertreter des politischen Spektrums, Ministerialpersonal, evtl. einflussreiche Individuen – die für eine anlasslose Reform benötigte kritische Masse. Vorrang in der Umsetzung und Aussicht auf eine solche haben dann Punkte, die es in das Regierungsprogramm bzw. den Koalitionsvertrag geschafft haben. Im Übrigen sind reformwillige Einzelakteure darauf angewiesen, innerhalb ihres Hauses (Verband, Partei, Ministerium) Unterstützung zu gewinnen und sodann (oder auch schon vorab) Akteure aus anderen Zirkeln für ihr Vorhaben zu mobilisieren. All das erfordert einen nicht zu unterschätzenden Energieeinsatz.28 Reformaufrufe, die außerhalb des politischen Kraftfelds – etwa auf Konferenzen, vor allem aber in wissenschaftlichen Publikationen (auch und insbesondere in Doktorarbeiten) – erhoben werden, lösen praktisch nie einen Reformprozess aus, wie überzeugend sie auch immer sein mögen.29 Auf sie wird allenfalls zurückgegriffen, wenn der politische Reformentschluss gefasst ist und nach passenden Umsetzungsmustern Ausschau gehalten wird.30 Etwas besser steht es mit den Vorschlägen des Deutschen Juristentags, bei dem Vertreter des BMJV üblicherweise präsent sind und die bisweilen den Weg ins Gesetzblatt finden. Doch löst auch der Juristentagsbeschluss nicht den eigentlichen Reformimpuls aus, sondern setzt begleitend auf diesen auf und wird vom Gesetzgeber als zusätzliche Legitimation für einen anderweitig generierten Reformwillen herangezogen.

IV. Beteiligte Reformaufrufe richten sich in der Regel an „den Gesetzgeber“, also an Bundestag und Bundesrat. In deren Ausschüssen wird z.T. an Entwürfen gefeilt, die eigentliche Sachund Überzeugungsarbeit findet aber vorher und außerhalb des Parlaments statt. Eine 25 Als Beispiel gilt die Korrektur des überkomplex gewordenen (Richter-)Rechts der verdeckten Sacheinlage und der Gesellschafterdarlehen durch das MoMiG, s. dazu Drygala in Lutter/Fleischer/Koch (Hrsg.), 50 Jahre Aktiengesetz 1965, 2005, S. 41, 57: „an ihrer eigenen Komplexität erstickt“. 26 EuGH, Urteil v. 9.3.1999 – C-212/97, NJW 1999, 2027. 27 Zur Erklärung (u.a. mangelnde Ressourcen) s. Seibert in FS Wiedemann, 2002, S. 123, 131. 28 Anschaulich Seibert in FS Wiedemann, 2002, S. 123 ff. 29 Mir ist jedenfalls kein solcher Fall bekannt. 30 Das Zitat wissenschaftlicher Beiträge unterbleibt in Gesetzentwürfen regelmäßig, zu den Gründen s. Seibert in Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“, 2012, S. 111, 119 f.

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zentrale Rolle kommt dabei den ministerialen Fachreferaten zu, in denen die konkreten Textentwürfe erarbeitet werden, doch nehmen auch externe, von den Ministerien bisweilen herangezogene Experten (Rechtswissenschaftler, Rechtsanwälte) Zulieferdienste vor und liefern Interessenverbände dem Ministerium Anregungen und ­Formulierungsvorschläge. Erst wenn der Gesetzentwurf erstellt ist, sieht die „Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien“ (GGO) eine Beteiligung von Interessenverbänden und Fachkreisen vor, wobei deren Zeitpunkt, Umfang und Auswahl dem Ermessen des federführenden Bundesministeriums überlassen sind (§ 47 Abs. 3 Satz 2 GGO). Wer zu den beteiligungsfähigen „Fachkreisen“ gehört und ob und in welcher Form „sonstige Personen“ beteiligt, Entwürfe öffentlich gemacht oder Anhörungen durchgeführt werden, obliegt ebenfalls der freien Entscheidung des zuständigen Ministeriums (vgl. § 48 Abs. 1, 3 und 5 GGO). Für eine „große“ Gesellschaftsrechtsreform ist dieses überkommene, auf punktuelle und relativ späte Einbindung externen Sachverstands zielende Verfahrensmuster ungeeignet.31 Vonnöten ist die umfassende Beteiligung aller Interessierten und das in einem möglichst frühen Stadium. Denn liegt einmal ein fertiger Entwurfstext vor, wird es – so lehrt die Erfahrung – zu wesentlichen Änderungen nicht mehr kommen, nur noch einzelne Verbesserungsvorschläge finden Gehör. Schon im frühesten Stadium das Netz weit auszuwerfen, hilft dagegen, mögliche Reformfelder überhaupt zu identifizieren und die Fülle denkbarer Lösungsansätze in den Blick zu bekommen. Eine breite und frühe Beteiligung im Gesetzgebungsverfahren ist historisch und vergleichend nicht ohne Vorbild. In Aufklärungszeiten wurden z.B. Preisausschreiben veranstaltet, um den Wettbewerb der Ideen zu stimulieren, in der Schweiz kennt man das sog. Vernehmlassungsverfahren und auf Unionsebene gib es das – bei der britischen Company Law Reform ebenfalls breitflächig zum Einsatz gekommene – Konsultationsverfahren. 32 Natürlich finden auch in Deutschland im Vorfeld und begleitend zu einer Reform Sondierungen statt, doch geschieht dies meist in informeller Weise und nicht coram publico.33 Ein gewisses Maß an Vertraulichkeit und Flexibilität, mitunter sogar verdecktes Operieren, mögen dabei unverzichtbar sein.34 Für die große Reform ist ein transparenteres Vorgehen vorzugswürdig.

V. Verfahren Zieht man den Kreis der Beteiligten weit, so ist die Form ihrer Einbindung genauer zu betrachten. Als Vorbild für das Verfahren einer großen Gesellschaftsrechtsreform bie31 Kritisch bereits Bachmann, ZGR 2001, 351, 369. 32 Lehrreich Hugo, Vernehmlassung, Anhörung, Konsultation: Die Beteiligung externer Interessen im vorparlamentarischen Gesetzgebungsprozess, 2017. 33 Beschrieben bei Seibert in FS Wiedemann, 2002, S. 123 ff. 34 Vgl. wiederum Seibert in FS Wiedemann, 2002, S. 123, 125: „Kandidaten müssen […] bearbeitet werden, ohne dass sie merken, woher das kommt. Neue Gedanken müssen mitunter sanft und unmerklich infiltriert werden, bis sie viele Urheber zu haben scheinen“.

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ten sich die Wege an, die das britische Handelsministerium bei der Company Law Reform beschritten hat und die auch für die EU-Kommission bei wichtigen Legislativ­ akten das Mittel der Wahl bilden. Zentrale Elemente sind die Abhaltung von öffentlichen Konsultationsverfahren und die Bildung von Expertenkommissionen. 1. Konsultation Konsultationsverfahren können auf verschiedene ausländische und supranationale Vorbilder zurückblicken.35 Sie sollten in einem möglichst frühen Stadium einsetzen und zunächst der Erkundung des Reformbedarfs dienen. Sie können fortgesetzt und verfeinert werden, um Schritt für Schritt die Reformthemen und mögliche Lösungsansätze herauszudestillieren und gleichzeitig das nicht Reformbedürftige auszufiltern. Besonders wichtig ist, dass die Konsultationsfristen großzügig (d.h. über Monate) bemessen werden. Das Zeitbudget von Experten, die sich nicht hauptamtlich der Gesetzgebung widmen (Anwälte, Richter, Hochschullehrer), ist knapp und Interessenverbände benötigen viel Zeit, um die interne Willensbildung zu koordinieren. Die Erfahrung mit vergangenen Anhörungen zeigt, dass dies nicht immer beherzigt wird: Der Entwurf ist fertig und soll „zeitnah“ durch die Gremien. Für dringende Einzelvorhaben ist das Setzen knapper Fristen nachvollziehbar, für große Reformen zu meiden. 2. Expertenkommissionen Die nur schwach besetzten Gesellschaftsrechtsreferate des BMJV sind – auch bei Hinzunahme externen Sachverstands – mit einer großen Reform überfordert.36 Aus diesem Grund sind Kommissionen zu bilden, die Expertise aus Praxis und Wissenschaft einbinden. Historische Vorbilder finden sich bei der Einführung der paritätischen Mitbestimmung (Mitbestimmungskommission), bei der Reform des Insolvenzrechts (Insolvenzrechtskommission) oder bei der Modernisierung des Schuldrechts (Schuld­ rechtskommission). Einen kleineren Zuschnitt weisen die aktuell agierenden Expertenkommissionen zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie II und zur Reform des Personengesellschaftsrechts auf. Ein schönes Beispiel für das produktive Wirken von Expertengruppen im Bereich der Unternehmensrechtsetzung liefert die Regierungskommission Corporate Governance („Baums-Kommission“), die zu Beginn des Jahrhunderts wertvolle Anstöße für die Modernisierungen des deutschen Aktienrechts gab.37 Geht man historisch weiter zurück, darf an die Akademie für Deutsches Recht erinnert werden, deren Einsetzung 35 Näher Hugo, Vernehmlassung, Anhörung, Konsultation: Die Beteiligung externer Interessen im vorparlamentarischen Gesetzgebungsprozess, 2017. 36 Seibert, AG 2002, 417, 420: „Große Reformen sind mit der personellen Ausstattung im Bereich Gesellschaftsrecht im BMJ nicht zu leisten“. 37 Vgl. Baums (Hrsg.), Bericht der Regierungskommission Corporate Governance, 2001 (Vorwort). Zur Übernahme von Empfehlungen der Baums-Kommission in den Kodex s. Bachmann in Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder, DCGK, 7. Aufl. 2018, Rz. 74 ff.

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und Auftrag zwar auf inakzeptablen Motiven beruhte (Umformung des Rechts im Geiste der NS-Ideologie),38 die aber als solche, d.h. als Einrichtung zur umfassenden rechtspolitischen Durchleuchtung des vorhandenen Rechts, auch im Verfassungsstaat des Grundgesetzes gute Dienste leisten könnte. Bei einer großen Reform ist es mit einer einzelnen Kommission nicht getan. Empfehlenswert ist die Bildung einer Steuerungsgruppe, unterhalb derer verschiedene, themenbezogene Einzelkommissionen arbeiten. Die Arbeit der Kommissionen muss transparent sein (Veröffentlichung von Arbeitsergebnissen und Sitzungsprotokollen), damit sich auch diejenigen, die keinen Sitz in dem Gremium erhalten haben, kon­ struktiv einbringen können und die Legitimation des Prozesses erhöht wird.39 Die von den Einzelgruppen erarbeiteten Vorschläge sollten in erneuten Konsultationen zur Diskussion gestellt werden. Parallel dazu können Fachtagungen abgehalten werden, auf denen die Einzelfortschritte des Projekts diskutiert werden.40 Zu komplexen Fragen empfiehlt es sich, Einzelgutachten in Auftrag zu geben, wie bei der Schuld­ rechtsmodernisierung geschehen und wie es beim Deutschen Juristentag seit jeher Brauch ist. 3. Ideensammlung Die Ideensammlung beginnt am besten mit einem Fragenkatalog, der offen und unbefangen nach Reformwünschen fragt und im Laufe der Zeit verfeinert wird. Als Ideengeber können – neben nationalen und internationalen Modellgesetzen – ferner die vielfältigen Reformvorschläge dienen, die vom Deutschen Juristentag in den vergangenen Jahrzehnten diskutiert wurden und von denen beileibe nicht alle umgesetzt und manche auch nur ungenügend gewürdigt wurden. Zahlreiche Anregungen zur Reform des Unternehmensrechts finden sich zudem im wissenschaftlichen Schrifttum. Insbesondere Dissertationen, aber auch fundierte Aufsätze warten nicht selten mit gut begründeten und ausformulierten Regelungsvorschlägen auf. Die Ursache für die mangelnde Berücksichtigung derartiger Vorschläge liegt darin, dass es den Fachreferenten in den Ministerien auch bei gutem Willen nicht möglich ist, das üppige deutsche Rechtsschrifttum (von ausländischer Literatur ganz zu schweigen) intensiv auf Reformvorschläge zu sichten. Bereits die Aufgabe, sich anhand der wichtigsten Zeitschriften up-to-date zu halten, erfordert mindestens einen Lesetag pro Woche. Eine Lösung könnte darin liegen, eine rechtspolitische Datenbank einzurichten, in die jeder Autor, der rechtspolitische Verbesserungen anregt, seine Reformvorschläge einstellt. Mit entsprechenden Suchfunktionen wäre es dann 38 Vgl. dazu Bayer/Engelke in Bayer/Habersack (Hrsg.), Aktienrecht im Wandel, Band 1, 2007, S. 619, 625 ff. 39 Zur Akzeptanzförderung durch Verfahren s. Bachmann, Private Ordnung, 2006, S. 191 ff. und 373 f. 40 Auch hierfür gibt es historische Exempel, etwa die Sondertagung der Zivilrechtslehrervereinigung zur Schuldrechtsreform (s. dazu die Beiträge in JZ 2001, 473–564) oder die Sondertagung der Gesellschaftsrechtlichen Vereinigung zur GmbH-Reform (VGR Bd. 13 (2008)).

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möglich, stichwort- oder paragrafenbezogene Reformvorschläge rasch zu finden.41 Bis es so weit ist, können Großkommentierungen, die mitunter einen Abschnitt „Rechtspolitisches“ enthalten, als Auffindungshilfe dienen. Unverzichtbar für ein großes Reformvorhaben sind Rechtsvergleich, interdisziplinäre (insbesondere ökonomische und verhaltenswissenschaftliche) Analyse sowie Rechts­ tatsachenforschung. Diese Aussage wird jeder freudig unterschreiben, indes liegt das Problem nicht darin, entsprechende Forschung einzufordern, sondern sie tatsächlich zu leisten. Wer sich je an diesen Aufgaben versucht hat, weiß, mit welchem Arbeitsaufwand das verbunden ist, abgesehen davon, dass es deutschen Juristen in der Regel am nötigen sozialwissenschaftlichen Rüstzeug und den Hochschulen an Personal fehlt. Hinzu kommen die Gefahren rechtsvergleichender und interdisziplinärer Forschung, die – wenn von (heimischen) Juristen betrieben – latent davon bedroht ist, verzerrte, isolierte, überholte oder auch nur falsch verstandene Aussagen der Nachbarrechtsordnungen bzw. -disziplinen zu rezipieren.42 Das alles darf kein Grund sein, auf solches Arbeiten zu verzichten, dient sie doch der heilsamen Selbstvergewisserung.43 Doch müssen dafür mehr Ressourcen als bislang zur Verfügung gestellt werden. Das Hamburger MPI für internationales Privatrecht, dem noch immer die undankbare Aufgabe zugemutet wird, die Justiz mit Rechtsgutachten zu versorgen, bräuchte mehr Kapazitäten, um rechtspolitisch zu forschen, und an seine Seite sollte ein bundesfinanziertes Institut für Rechtstatsachenforschung gestellt werden.44 Wo gehaltvolle vergleichende, empirische oder interdisziplinäre Studien vorliegen, müssen diese bei einer großen Reform herangezogen werden.45 4. Weitere Bedingungen Wie die Beispiele der Insolvenz- und der Schuldrechtsreform zeigen, erfordert eine große Reform langen Atem, kann namentlich nicht innerhalb einer einzelnen Legislaturperiode abgeschlossen werden. Entsprechend großzügig, d.h. eher in Jahrzehnten als in Jahren, ist die Reformspanne zu bemessen.46 Unabdingbar ist die durchgängige Transparenz des gesamten Verfahrens.47 Schließlich muss der Mut zum Scheitern mitgebracht werden. Manches große Reformprojekt ist zunächst im Sande verlaufen, um dann irgendwann doch wieder aufgegriffen und zur Gesetzesreife geführt zu werden. Die Geschichte der Societas Europaea (SE) legt davon beredtes Zeugnis ab.

41 Hier läge ein Einsatzbereich für die oben angesprochene Akademie (s. oben, bei Fn. 38). 42 Vgl. (zur Rechtsvergleichung) Bachmann, Gutachten E zum 70. DJT, 2014, Band I, S. E 25. 43 Windbichler, ZGR 2014, 110, 112. 44 Auch hier läge ein Einsatzbereich für eine Akademie (s. oben, bei Fn. 38). 45 Für die Organhaftung etwa jetzt Ahrendt, Entscheidungen unter Unsicherheit – Die verhaltenspsychologische Ausrichtung der aktienrechtlichen Vorstandshaftung, 2018. 46 Die Insolvenzrechtsreform nahm 20 Jahre (1978–1998), die Schuldrechtsreform gar 24 Jahre (1978–2002) in Anspruch. 47 Zur Kommissionsarbeit bereits oben, bei Fn. 36.

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VI. Hürden und Gefahren einer großen Reform „Warum wagt sich der Gesetzgeber nicht an eine große Reform?“ – so hat der Jubilar vor Jahren selbst gefragt. Als Antwort nannte er damals verschiedene Gründe, nämlich die drängende Zeit („Reformstau“), die schwache personelle Besetzung im BMJV, die Vorzugswürdigkeit einer „geschmeidigen Kursanpassung“ (statt „ruckartigem Pfadwechsel“) und die leichtere Vermittelbarkeit des schrittweisen Vorgehens.48 Alle diese Gründe haben Gewicht, sollten einer großen Reform aber jedenfalls heute nicht mehr im Weg stehen. Der dringendste Reformbedarf ist – nicht zuletzt dank des Einsatzes des Jubilars – bewältigt,49 der Personalnot lässt sich mittels der angesprochenen Vorgehensweise (Expertenkommissionen) abhelfen. Die große Reform muss auch nicht auf den regulatorischen Big Bang angelegt sein, d.h. nicht auf einen Schlag das Vorhandene durch etwas völlig Neues ersetzen. Vielmehr geht es darum, das Vorhandene umfassend und vorbehaltlos darauf zu sichten, wo Änderungs- und Anpassungsbedarf bestehen könnte. Diese Prüfung mag im Ergebnis vieles beim Alten lassen, anderes mag – ohne der Reform dadurch ihre „Größe“ zu nehmen – in Schritten umgesetzt werden.50 Eine Hürde großer Reformen liegt darin, dass es zunächst Individuen mit entsprechender Kraft, Macht und Ausdauer bedarf, um den Prozess in Gang zu setzen. Ohne ministerielle Rückendeckung kann dies nicht gelingen.51 Ist auf Regierungsebene aber einmal der Entschluss zur großen Reform gefallen, sollte es nicht schwerfallen, innerhalb oder außerhalb des Ministeriums engagierte Persönlichkeiten für das Vorhaben zu gewinnen. Ein ernsteres Problem besteht darin, dass es schwierig ist, auf dem Reißbrett Modelle zu entwickeln, die mit der dynamischen Unternehmenswirklichkeit Schritt halten können. Der mit dem AktG 1965 unternommene, nur bedingt geglückte Versuch, das in der Praxis vorgefundene Konzernphänomen in geregelte Bahnen zu lenken, illustriert das.52 Piecemeal-Reformen, die nur hier und da an den Stellschrauben drehen, weisen allerdings ebenfalls Nachteile auf, wenn und weil sie an Einzelsymptomen herumdoktern, ohne dabei die Folgewirkungen im Blick zu haben, was auf lange Sicht zu Verwerfungen oder, wenn dauerhaft praktiziert, zu Regelungsungetümen führt (s. Steuer- und Sozialrecht). Ebenso problematisch ist es, auf die rechtsfortbildende Kraft der Rechtsprechung zu vertrauen, die zwar den Vorteil hat, nicht am Reißbrett, sondern mit 48 Seibert, AG 2002, 417, 420. 49 Selbstbewusst Seibert in FS Hoffmann-Becking, 2013, S.  1101: „Die deutsche Corporate Governance befindet sich heute auf Augenhöhe mit derjenigen in führenden Industriena­ tionen der Welt“. 50 Seibert, AG 2002, 417, 420: „Es kommt nicht darauf an, ob die Reform in einer oder mehreren Ausgaben des Bundesgesetzblatts verkündet wird, sondern darauf, dass den Änderungen insgesamt eine Strategie zugrunde liegt und ein Plan erkennbar ist“. 51 Seibert in FS Wiedemann, 2002, S. 123, 129.  52 Reformbedarf im Konzernrecht ausleuchtend Habersack, AG 2016, 691 ff., der aber lediglich „Randkorrekturen“ für erforderlich hält. Für gründlichere Reform z.B. Zöllner, AG 1994, 336, 338.

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dem konkreten Fall vor Augen zu hantieren, 53 die mit der Entwicklung fallübergreifender Systeme aber überfordert und folglich nicht selten gescheitert ist.54 Hilfreich ist es, regulatorische Ventile einzubauen, etwa durch Experimentierklauseln oder Satzungsspielräume, um hierdurch relativ gefahrlos die Wirkung einzelner Regelungen testen zu können. Generell bieten sich Optionsmodelle als kluge Regulierungstechnik an.55 Scheinbar totes Recht sollte nicht unbedarft gestrichen werden, weil es, wie der Fall der KGaA illustriert, eines Tages unerwartet zum Leben erwachen kann.56 Es könnte auch daran gedacht werden, den Ländern Kompetenzen zu abweichenden Regelungen zu geben. Der „Genius des US-amerikanischen Gesellschaftsrechts“ (Romano) beruht nicht zuletzt darauf, dass er auf eine föderale Schablone verzichtet.

VII. Sachthemen Die Vielfalt möglicher Reformthemen lässt sich hier nicht annähernd erschöpfend darstellen, zumal der Einfluss der größten Variable – des technologischen Fortschritts (Digitalisierung) – noch gar nicht abschätzbar ist.57 Wo Renovierungsbedarf besteht, soll zudem im Rahmen des großen Reformprozesses erst ans Licht gebracht werden. Wären gar keine Reformthemen erkennbar, bliebe dieser Beitrag allerdings auf Sand gebaut. Daher sollen zumindest einige Punkte angerissen werden. 1. Aktienrecht Die Grundfrage des Aktienrechts lautet, inwieweit den Gründern und Gesellschaftern Satzungsfreiheit zugestanden werden sollte. Das deutsche Recht beantwortet sie vergleichsweise restriktiv (vgl. § 23 Abs. 5 AktG). Die Berechtigung dieser sog. Satzungsstrenge ist in der Vergangenheit immer wieder in Frage gestellt worden.58 Rechtsvergleichend zeigt sich, dass andere Jurisdiktionen – namentlich in den USA – mit weniger Strenge zurechtkommen. Die Frage einer Auflockerung der Satzungs-

53 Zu den Unterschieden richterlichen und rechtspolitischen Arbeitens s. Seibert in FS Wiedemann, 2002, S.  123  ff.; aus richterlicher Sicht R. Fischer in Lutter (Hrsg.), Gesammelte Schriften, 1985, S. 23 ff. 54 Vgl. Bachmann in FS Bergmann, 2018, S. 17, 37 f. 55 Vgl. Bachmann, JZ 2008, 11, 13 ff. 56 Österreich hat die Rechtsform der KGaA wegen Bedeutungslosigkeit 1965 gestrichen, in Deutschland wurde sie vom BGH 1997 wiederbelebt (s. BGH v. 24.2.1997 – II ZB 11/96, BGHZ 134, 392: Zulassung der GmbH & Co. KGaA). 57 Zur Bedeutung der Digitalisierung für das Gesellschaftsrecht s. Spindler, ZGR 2018, 17 ff. sowie die Vorträge auf dem ZHR-Symposion 2019, deren Schriftfassungen in ZHR 183 (2019), 105 ff. erschienen sind. 58 Vgl. nur Hirte in Lutter/Wiedemann (Hrsg.), Gestaltungsfreiheit im Gesellschaftsrecht, ZGR-Sonderheft 1998, S. 61 ff.; Spindler, AG 2008, 598 ff.; umfassend Kuntz, Gestaltung von Kapitalgesellschaften zwischen Freiheit und Zwang, 2016, S. 345 ff.

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strenge wenigstens für Teilbereiche des Aktienrechts gehört daher auf die Reform­ agenda.59 Am Aufsichtsrat ist zuletzt viel herumgeschraubt worden, wobei sich die Regulierung zunehmend in den Kodex verschoben hat. Im Zuge einer Reform sollte geprüft werden, ob nicht eine gewisse Deregulierung am Platz ist. So könnte die immer wieder geforderte Möglichkeit einer Verkleinerung des Aufsichtsrats bei großen, mitbestimmten Gesellschaften in Betracht gezogen werden.60 Generell sollte die Mitbestimmung nach dem Vorbild der SE für Verhandlungslösungen geöffnet werden.61 Dem Satzungsgeber könnte eine größere Freiheit bei der Organisation des Aufsichtsrats (z.B. Ausschussbildung) eingeräumt werden.62 Schließlich muss die Frage gestellt werden, ob der Aufsichtsrat überhaupt erforderlich ist.63 Deutschen Unternehmen bietet sich heute die Wahl zwischen vier ortsansässigen Formen der AG: der Aktiengesellschaft (AG), der (mit der AG weitgehend deckungsgleichen) dualistischen SE, der monistischen SE und der KGaA.64 Dieses Spektrum könnte erweitert werden, indem eine AG ohne Aufsichtsrat (= monistische AG) geschaffen wird.65 Der 1994 nur in Ansätzen gegangene Weg, für börsenferne („kleine“) Unternehmen gewisse Erleichterungen zu schaffen, sollte weiter beschritten werden.66 Neben der beteiligungsoffenen AG könnte eine Privat-AG etabliert werden.67 Interessant wäre sie für wachsende Unternehmen, die den Weg in die AG wegen der hohen Regulierungsdichte scheuen. Die flexible GmbH & Co. KGaA wird wegen ihres komplizierten Regelungsgeflechts (leider) nicht genug als Alternative wahrgenommen.68 Ein Dauerbrenner der jüngeren Reformdebatte ist die Organhaftung. Sie führt oft zu ökonomisch unsinnigen Prozessen, von denen weder die Anleger noch die Gläubiger profitieren. Den Forderungen des 70. DJT Rechnung tragend, sollten hier satzungs-

59 Ebenso Reichert, AG 2016, 677, 678; ders. in Liber amicorum Oppenhoff, 2017, S.  281, 286 f. 60 Dafür u.a. 61. DJT (1996), Abt. Wirtschaftsrecht, Beschluss Nr. 15 und 69. DJT (2012), Abt. Wirtschaftsrecht, Beschluss Nr. 18. 61 Mit konkretem Gesetzesvorschlag Arbeitskreis „Unternehmerische Mitbestimmung“, ZIP 2009, 885, 886 ff. (mit Diskussion der Vorschläge in ZIP 2009, 1785); explizit zust. Reichert, AG 2016, 677, 681 f. 62 Dafür 69. DJT (2012), Abt. Wirtschaftsrecht, Beschluss Nr. 17. 63 Zum Optionsmodell sogleich (bei Fn. 65). 64 Vertiefend Malcher, Die Rechtsform(en) der Aktiengesellschaft, 2014. 65 Dafür 69.  DJT (2012), Abt. Wirtschaftsrecht, Beschluss Nr.  19; zuletzt Reichert in Liber amicorum Oppenhoff, 2017, S. 281, 296 ff. m.w.N. 66 Konkrete Vorschläge bei Reichert, AG 2016, 677, 678 ff.; Bayer, Gutachten E zum 67. DJT, 2008, Band I. 67 Dafür Albach/Corte/Lutter/Friedewald/Richter, Deregulierung des Aktienrechts: Das Dreistufenmodell, 1988, S. 27, 36 ff. u.a.: „Dreistufenmodell“ (mit Formulierungsvorschlägen). 68 Vgl. Bachmann in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 278 Rz. 5.; zur schwierigen Anwendung des DCGK auf die KGaA Vollertsen, Corporate Governance der börsennotierten KGaA, 2019.

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mäßige Begrenzungen ermöglicht werden.69 Reformbedarf besteht auch im Beschlussmängelrecht, das Gegenstand des 72. DJT (2018) war.70 Er ist von der Bundesregierung inzwischen erkannt worden.71 Weiter ausgreifend fragt sich, ob die Hauptversammlung selbst reformreif ist. Da die Beschlussergebnisse i.d.R. vorher feststehen und die Versammlung als Informationsforum ausgedient hat, könnte sie ganz oder teilweise zur Disposition des Satzungsgebers gestellt und z.B. durch digitale Foren ersetzt oder ergänzt werden.72 Jedenfalls wäre eine Deregulierung, wenigstens für die Privat-AG, zu erwägen.73 Kein Tabuthema dürfen Minderheitenrechte sein. Ihr Vorhandensein ist wichtig, weil Ausbeutungsschutz die Voraussetzung für die Eingehung von Beteiligungen unterhalb der Kontrollschwelle ist. Allerdings zeigt sich, dass Minderheitenrechte bisweilen zweckwidrig genutzt werden, z.B. durch Berufskläger oder Aktivisten. Das ungeschriebene Verbot des Rechtsmissbrauchs vermag dem nicht hinreichend zu wehren. Daher muss diskutiert werden, wo und wie Neujustierungen möglich sind. So könnte erwogen werden, das Quorum für den Antrag auf Einsetzung eines Sonderprüfers (§ 142 Abs. 2 AktG) heraufzusetzen oder dies jedenfalls dem Satzungsgeber zu gestatten.74 In gleicher Weise ist zu verhindern, dass kleine Minderheiten die Einsetzung eines besonderen Vertreters dazu missbrauchen, die Gesellschaft zu erpressen.75 Der VW-Fall gibt Anlass, den Geheimnisschutz bei der Sonderprüfung zu überdenken.76 Generell könnten Minderheitenbefugnisse statt an starren Quoten an beweglichen Stufenmodellen orientiert werden. Ein wichtiges Reformthema ist das Kapital der AG. Die USA haben sich frühzeitig vom System eines festen Grundkapitals verabschiedet und verschiedene Jurisdiktionen sind dem in den letzten Jahren gefolgt. Das Vereinigte Königreich, das in Brüssel mit seinen Reformvorschlägen zur Kapitalrichtlinie nur partiell durchgedrungen war, hat sich mit dem Brexit den Freiraum verschafft, das Kapitalregime der Public Limited Company (plc) künftig flexibler zu gestalten. In Deutschland, das hier nicht zurückstehen darf, sollte die Diskussion über das Kapital der AG daher wieder aufge-

69 Vgl. 70. DJT (2014), Abt. Wirtschaftsrecht, Beschluss Nr. 2; vorbereitend Bachmann, Gutachten E zum 70. DJT (2014); zur Reform der Organhaftung in der GmbH s. Reichert, ZGR 2017, 671 ff. 70 Umfassend J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, Band I. 71 Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD, 2018, Rz. 6167 ff. 72 Für Satzungsfreiheit Bachmann in FS G.H. Roth, 2011, S.  37, 48; zustimmend Noack in Fleischer/Koch/Kropff/Lutter (Hrsg.), 50 Jahre Aktiengesetz, 2015, S. 163 ff.; mehr Gestaltungsfreiheit für die HV einfordernd auch Mutter, AG-Report 2018, R 4; zu den diesbezüglichen Chancen der Digitalisierung Spindler, ZGR 2018, 17, 25 ff. 73 Dafür Albach/Corte/Lutter/Friedwald/Richter, Deregulierung des Aktienrechts: Das Drei­ stufenmodell, 1998, S. 28 f. 74 Dafür etwa Trölitzsch/Gunßer, AG 2008, 833, 835. 75 Zum Problem Bachmann, Gutachten E zum 70. DJT, 2014, Band I, S. E 105 f.; mit rechtstatsächlicher Untermauerung Bayer/Hoffmann, AG 2018, 337, 352. 76 Vgl. Bachmann, ZIP 2018, 101, 106 f.

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nommen werden.77 Bei Bedarf muss auf eine neuerliche Reform der EU-Kapitalregeln gedrungen oder überlegt werden, welche nationalen Spielräume innerhalb des vorhandenen Rahmens genutzt werden können. Grundsätzliche Neuerungen der Kapitalaufbringung sieht die aktuelle Schweizer Aktienrechtsrevision vor.78 Im Rahmen einer großen Reform sollte der Gläubigerschutz insgesamt überdacht werden.79 Je nach Sachverhalt fällt Dritten in der Insolvenz ein Zufallsgeschenk in den Schoß (z.B. bei nicht offen gelegter „wirtschaftlicher Neugründung“ oder vergessenem Rechtsformzusatz) oder sie stehen im Regen (etwa, wenn der ihnen auferlegte Nachweis eines „existenzvernichtenden Eingriffs“ nicht gelingt). Die Fallgruppen der daneben bestehenden Durchgriffshaftung sind schwer zu durchschauen und noch schwerer zu handhaben, der Versuch des Gesetzgebers, eine Art Solvenztest im deutschen Recht zu etablieren, gilt als fehlgeschlagen.80 Eine Pflichtversicherung oder eine Einlagehaftung für die Insolvenzkosten könnte helfen, wenigstens für eine geordnete Abwicklung zu sorgen und damit dem Übel masseloser Insolvenzen abzuhelfen.81 Bei der Gelegenheit sollte zugleich ein schlüssiges Gesamtkonzept für die Haftung des Geschäftsleiters nach Insolvenzeintritt geschaffen werden, das einerseits Haftungsfallen vermeidet, andererseits die richtigen Anreize zur Sanierung setzt.82 2. Weitere Bereiche des Gesellschaftsrechts Im Rahmen einer großen Reform sollten andere Bereiche des Gesellschaftsrechts gleich mit reformiert werden. a) Allgemeiner Teil des Verbandsrechts Das deutsche Recht verzichtet auf einen allgemeinen Teil des Verbandsrechts. Rechtsformübergreifende Grundsätze finden sich allein in wissenschaftlichen Lehrwerken.83 Das Resultat sind unübersichtliche, z.T. auch unstimmige Spezialregeln, die nicht nur den Studierenden, sondern auch der Praxis das Leben schwer machen.84 Thomas Rai-

77 Dafür auch Drygala in Lutter/Fleischer/Koch (Hrsg.), 50 Jahre Aktiengesetz 1965, 2005, S. 41, 57 ff. 78 Nachweise dazu oben (Fn. 18). 79 Die nachfolgenden Punkte betreffen in der Praxis vor allem die GmbH, doch empfiehlt sich eine übergreifende Regelung auch für die AG. 80 Der mit dem MoMiG eingeführte § 92 Abs. 2 Satz 3 AktG (Parallelnorm: § 64 Satz 3 GmbHG) weist einen praktisch kaum relevanten Anwendungsbereich auf, s. BGH v. 9.10.2012  – II ZR 298/11, BGHZ 195, 42 und dazu Altmeppen, ZIP 2013, 801, 803 ff. 81 Näher Bachmann in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 262 Rz. 46 m.w.N. 82 Zur Reform aufrufend zuletzt Bachmann/Becker, NJW 2018, 2235, 2238. 83 S. insbes. Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, 1980, S. 141 ff. sowie K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 3 III 1 (S. 52 ff.). 84 S. K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 3 III 1 (S. 52 f.): „unübersichtlich, nicht selten auch im Inhalt unstimmig“.

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ser hat dafür plädiert, diesen Zustand durch einen „Allgemeinen Teil“ des Verbandsrechts zu überwinden.85 Dieser Vorschlag sollte aufgegriffen werden. b) GmbH-Recht Im GmbH-Recht wird nach der umfassenden Renovierung vor 10 Jahren (MoMiG) kein grundlegender Revisionsbedarf gesehen.86 Dennoch tun sich auch hier viele reformbedürftige Felder auf. Ein neuralgischer Punkt ist die Ermöglichung der Online-­ Gründung, die, trotz Gegenwind aus Deutschland,87 von europäischer Seite auf den Weg gebracht wurde.88 Jedenfalls sollte der Gründungs- und Eintragungsvorgang beschleunigt und vereinfacht werden.89 Eine präventive Kontrolle mag sinnvoll sein; dass sie in doppelter Form – durch Notar und Registergericht – stattfinden muss, leuchtet nicht ein. Im gleichen Atemzug gehört das Beurkundungserfordernis bei der Verwendung von Standardmustern und bei der Anteilsübertragung auf den Prüfstand.90 Eine Reform des Mindestkapitals wird als entbehrlich angesehen.91 In der Tat bietet die mit der UG eröffnete Option, zwischen einer GmbH mit und ohne Mindeststammkapital zu wählen – vom Verfasser dieser Zeilen einst als Antwort auf „Centros“ vorgeschlagen92  – einigen Freiraum. Dennoch sollte man dabei nicht stehen bleiben und neben dem Recht der Kapitalaufbringung das Stammkapital insgesamt auf den Prüfstand heben.93 Die dritte Option einer gänzlich stammkapitalfreien GmbH, wahlweise mit und ohne transparente Besteuerung, könnte für deutsche Unternehmen eine interessante Alternative sein. 85 Th. Raiser, ZGR 2016, 781, 785: „In einem modernen Zivilgesetzbuch sollten allgemeine Vorschriften über juristische Personen nicht fehlen“ (mit Formulierungsvorschlägen); skeptisch seinerzeit noch K. Schmidt, Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, Band III, 1983, S. 413, 429. 86 Vgl. Harbarth, ZGR 2016, 84, 95 ff. 87 Zurückhaltend der Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD, 2018, Rz. 6190: „Einfache Online-Anmeldungen lehnen wir ab.“ Kritisch (zum EU-Vorschlag) auch DAV-Ausschuss Anwaltsnotariat, NZG 2018, 934. 88 Vgl. dazu den bereits vom EU-Parlament angenommenen Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 im Hinblick auf den Einsatz digitaler Werkzeuge und Verfahren im Gesellschaftsrecht, COM/­ 2018/239 final – 2018/0113 (COD) (notwendig ist noch eine formale Zustimmung durch den Rat) und dazu Noack, BB 2018, 1324 ff. 89 Harbarth, ZGR 2016, 84, 106; Bachmann/Eidenmüller/Engert/Fleischer/Schön, Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 164 ff. (mit weiteren Reformüberlegungen). 90 Harbarth, ZGR 2016, 84, 94; Bachmann/Eidenmüller/Engert/Fleischer/Schön, Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 173 ff.; interessant dazu der Disput zwischen Heidenhain (ZIP 2001, 721 und 2113) und Kanzleiter (ZIP 2001, 2105). 91 Harbarth, ZGR 2016, 84, 104. 92 S. Bachmann, ZGR 2001, 351, 365.  93 Bachmann/Eidenmüller/Engert/Fleischer/Schön, Rechtsregeln für die geschlossene Kapitalgesellschaft, 2012, S. 155 ff.; s. auch Bayer, GmbHR 2010, 1289 ff. (für ein „MoMiG II“); für Überarbeitung (nur) des Rechts der Sacheinlage Harbarth, ZGR 2016, 84, 106 ff.

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Die große Aktienrechtsreform 2049

c) Personengesellschaftsrecht Die Reform des Personengesellschaftsrechts, zu der der vorletzte DJT (2016) Vorschläge unterbreitet hat, hat ihren Platz auf der Agenda des Gesetzgebers gefunden und wird z.Zt. in einer Expertenkommission beraten.94 Im Vordergrund steht die Anpassung des Rechts der BGB-Gesellschaft an die Rechtswirklichkeit, doch ist mit der Neufassung der §§ 705 ff. BGB der Reformbedarf nicht gestillt. Wünschenswert wäre, dass sich die Regeln der Publikumsgesellschaft im Gesetz wiederfinden. Neben oder statt der umständlichen GmbH & Co. KG, in der die Mehrzahl deutscher Mittelständler organisiert ist, sollte eine Einheitsform in Gestalt einer KG ohne persönlich haftenden Gesellschafter (LLC) geschaffen werden.95 3. Redaktionelles und Kapitalmarktrecht Im Laufe der vielen Teilreformen ist es mancherorts, insbesondere im AktG, zu redaktionellen Unstimmigkeiten, mitunter auch zu unübersichtlichen, missverständlichen oder fehlplatzierten Regelungen kommen.96 Dies ist unvermeidlich, wenn die Kraft der Entwurfsverfasser für andere Dinge in Anspruch genommen wird.97 Eine große Reform bietet die Gelegenheit, hier die erforderliche Generalbereinigung vorzunehmen. Schließlich sollte Deutschland nicht versäumen, das fast vollkommen ­europäisierte Kapitalmarktrecht in Brüssel anzugehen. Dessen zunehmende Regulierungsdichte könnte nationale Deregulierungsbemühungen im Verbandsrecht ansons­ ten zerschießen.

VIII. Schluss und Ausblick Man mag sich fragen, ob der Aufwand für eine „große“ Reform lohnt. Aus volkswirtschaftlicher Sicht ist dies zu bejahen, denn regulatorische Hemmnisse für die Aufnahme von Risikokapital, zu denen – neben ungenügenden Steueranreizen und einem rigiden Kapitalmarktregime  – ein verbesserungsfähiges Organisationsrecht gehört, bilden nach Aussagen von Insidern einen wesentlichen Grund, warum Deutschland vom Elan des Silicon Valley weit entfernt bleibt. Aus Sicht des Ministerialbeamten, an dem der wesentliche Teil der Reformlast hängen bleibt, wird man zur Zurückhaltung neigen, denn der Aufwand einer großen Reform ist beträchtlich, der persönliche Lohn überschaubar. Nicht zu vergessen ist aber, dass eine große Reform – ist der Prozess erst einmal in Gang gesetzt – den Rahmen und 94 Konkrete Reformvorschläge bei C. Schäfer, Gutachten E zum 71. DJT, 2016, Band I. 95 Dafür Henssler, Referat zum 71. DJT, 2016, Band II/1, S. O 53, 60; zustimmend Bachmann, Diskussionsbeitrag zum 71. DJT, 2016, Band II/2, S. O 201 f.; s. auch schon Drygala, ZIP 2006, 1797, 1800 ff. (für eine „KmbH“). 96 Für redaktionell verunglückt wird z.B. § 145 AktG gehalten, s. Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 145 Rz. 6.  97 Vgl. Seibert in FS Wiedemann, 2002, S.  123, 124: „Das reine Verfassen von Paragrafen macht nur wenige Prozent der Arbeit [scil. des Ministerialbeamten] aus“.

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die Rechtfertigung liefert, um über mehrere Legislaturperioden gesetzgeberisch aktiv werden zu können, ohne jedes Mal die politische Basis neu mobilisieren zu müssen. Der Einsatz von Expertenkommissionen und die Durchführung von Konsultationen haben zudem auch eine arbeitsentlastende Wirkung. Am Ende liegt es wohl am Naturell der Akteure, ob sie sich gerne – wie der Jubilar – „ins Getümmel begeben“,98 ob sie eher im Stillen am großen Wurf feilen oder ob sie die Arbeitskraft dafür reservieren, die vielfachen Aufgaben des Tagesgeschäfts zu bewältigen. Wissenschaft und Praxis dürfen sich jedenfalls nicht damit begnügen, das ministeriale Wirken aus der bequemen Distanz zu beäugen, sondern sollten ihren Teil dazu beitragen, dass unser Gesellschaftsrecht im globalen Ranking den Anschluss nicht verliert.

98 Seibert in FS Wiedemann, 2002, S. 123, 124.

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Ein neuer Schleichweg? Zur Auslegung des § 38 WpHG Inhaltsübersicht I. Das Szenario II. Zurechnung aufgrund Auftrags; ­abgestimmtes Verhalten? I II. Einseitige Erklärungen als „Instrumente“? 1. Die Auffassung der BaFin

2. Wortlaut des § 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG 3. Entstehungsgeschichte 4. Gesetzessystematik 5. Der Zweck der Meldevorschriften IV. Rechtspolitischer Handlungsbedarf?

I. Das Szenario Im Februar letzten Jahres war der Presse zu entnehmen, dass der chinesische Autobauer Geely 9, 69 % der Aktien an der Daimler AG erworben hat.1 Ein Überschreiten der Meldeschwellen von 3 % und 5 % (§ 33 Abs. 1 WpHG) war nicht gemeldet worden. Die Position hatte Geely durch eine Kombination von Käufen am Markt (rund 1, 9 %), ferner des Einsatzes eines Finanz­instruments, das einen Erwerb von Aktien in Höhe von rund 1, 6 % ermöglichte, und schließlich durch einen am 23.2.2018 unterzeichneten Aktienkaufvertrag über knapp 6, 2 % aufgebaut. Sämtliche Transaktionen wurden über 2 Banken abgewickelt. Den Aktienkaufvertrag mit Geely schloss eine der beteiligten Banken als Verkäuferin ab; die Aktien hatte diese sich durch Wertpapierdarlehensverträge beschafft. Da die Kombination der Käufe am Markt und der Erwerb des Finanzinstruments die hierfür vorgesehene Meldeschwelle von 5 % (vgl. § 38 Abs. 1 Satz 1 WpHG) nicht erreichte, meldete Geely der BaFin und Daimler erst nach Unterzeichnung des Kaufvertrages am 23.2.2018, dass sie insgesamt 9, 69 % der stimmberechtigten Daimler-Aktien erworben habe. Die betreffende Bank hatte bereits am 22.2. damit begonnen, Wertpapierdarlehensverträge abzuschließen, um für den von ihr erwarteten Fall des Zustandekommens des Kaufvertrags zur Erfüllung imstande zu sein. In dieser Erwartung hatte sich die * Der nachfolgende Aufsatz ist Ulrich Seibert mit herzlichem Dank für Rat und jahrelange vertrauensvolle Zusammenarbeit in Freundschaft gewidmet. Er wurde am 31.12.2018 ab­ geschlossen und hat der BaFin bei der Neuformulierung ihrer FAQ und ihres Emittentenleitfadens (vgl. unten Fn. 7) vorgelegen. Der Aufsatz hat wohl dazu beigetragen, ihre hier kritisierte Rechtsauffassung zu ändern, wie die erneut umformulierten FAQ und der neue Emittentenleitfaden ausweisen. Insofern ist die Kritik hieran überholt. Der Beitrag ist deshalb aber nicht nur von historischem Interesse, sondern möge – so die Hoffnung des Ver­ fassers – dem besseren Verständnis der erörterten Normen dienen und von künftigen Fehl­ interpretationen der kritisierten Art abhalten. 1 S.  dazu auch die Antwort des BMF auf eine kleine Anfrage aus der Mitte des BT, in BTDrucks. 19/21126, S. 35 f.

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Bank dadurch bestätigt gesehen, dass der Mehrheitsaktionär der Geely in einer internen Besprechung am 22.2. mit dem Verhandlungsteam der Geely-Gruppe geäußert hatte, der Kaufvertrag könne aus seiner Sicht unterzeichnet werden, wenn man sich über die noch offenen Punkte einige, und bis dahin keine adversen Kursentwicklungen einträten. Diese Äußerung hatte das Verhandlungsteam der Geely-­Gruppe den Vertretern der beiden Banken mitgeteilt. Die BaFin sah nach Prüfung des Falles zwar keinen Anlass für eine Zurechnung des Anteilsbesitzes der Banken nach § 34 WpHG und eine sich daraus ergebende Mitteilungspflicht von Geely bereits vor dem 23.2. (dazu unten II.). Sie vertritt aber die Ansicht, bei einer einseitigen Erklärung, wie sie der Mehrheitsaktionär der Geely-Gruppe am 22.2. abgegeben hatte, handele es sich um ein meldepflichtiges „Instrument“ im Sinne des § 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG. Sie hat infolgedessen Geely veranlasst, eine entsprechende Mitteilung bereits für den 22.2. nachzuholen, und im Hinblick auf die verspätete Meldung ein Bußgeldverfahren eingeleitet. Überdies hat sie ihre „FAQ zu den Transparenzpflichten des WpHG“ im Hinblick auf die im Fall Geely/Daimler gewählte Gestaltung geändert. Beide Schritte überzeugen nicht; darauf ist unter III. einzugehen. Unter IV. soll schließlich die Frage gestellt werden, ob rechtspolitisch Bedarf besteht, das WpHG erneut zu ändern, im Hinblick auf eine weitere Variante des „Anschleichens“ mit Hilfe von Finanzinstituten.2

II. Zurechnung aufgrund Auftrags; abgestimmtes Verhalten? Nach dem mitgeteilten Sachverhalt hatte Geely der betreffenden Bank am 22.2. keinen Auftrag erteilt, bereits ein Aktienpaket zusammenzustellen. Vielmehr standen die Parteien an diesem Tag noch in Verhandlungen über den Abschluss eines Kaufvertrags über den außerbörslichen Erwerb eines Aktienpakets („block trade“). Die Bank handelte daher im eigenen Namen und für eigene Rechnung, als sie bereits am 22.2., also vor dem Abschluss dieses Kaufvertrags am 23.2., damit begann, sich im Wege der Wertpapierleihe Aktien für die Erfüllung des Kaufvertrages zu beschaffen. Eine Zurechnung des so erworbenen Anteilsbesitzes nach §  34 Abs.  1 Satz  1 Nr.  2 WpHG (Zurechnung bei Erwerb von Aktien für fremde Rechnung bereits am 22.2.) schied daher aus. Nach §  34 Abs.  2 Satz  1 WpHG werden dem Meldepflichtigen Stimmrechte eines Dritten aus Aktien in voller Höhe zugerechnet, mit dem jener sein Verhalten in Bezug auf den Emittenten der Aktien auf Grund einer Vereinbarung oder in sonstiger Weise abstimmt. In der sukzessiven Einigung der Parteien über ihr Vorgehen einschließlich der bereits am 22.2. einsetzenden Aktienleihe durch eine der beteiligten Banken 2 Zur Vorgeschichte des § 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG, der von Banken erworbene bar abzuwickelnde Finanzinstrumente erfasst, mit deren Hilfe zuvor Meldepflichten umgangen werden konnten, etwa Baums/Sauter, Anschleichen an Übernahmeziele mit Hilfe von Aktien­ derivaten, ZHR 173 (2009), 454 ff.; Fleischer/Schmolke, Anschleichen an eine börsennotierte Aktiengesellschaft – Überlegungen zur Beteiligungstransparenz de lege lata und de lege ferenda –, NZG 2009, 401 ff.

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ist aber kein solches „abgestimmtes Verhalten“ zu sehen. Denn für die Zurechnung nach § 34 Abs. 2 WpHG genügt kein „abgestimmtes Verhalten“ der Beteiligten, das sich nur auf den Kauf bzw. Verkauf von Anteilen bezieht.3 Das ergibt sich ausdrücklich aus § 34 Abs. 2 Satz 2 WpHG. Danach genügt für die Zwecke der Zurechnung von Stimmrechten ein „abgestimmtes Verhalten“ nur, wenn der Meldepflichtige oder sein Tochterunternehmen und der Dritte sich über die Ausübung von Stimmrechten verständigen oder mit dem Ziel einer dauerhaften und erheblichen Änderung der unternehmerischen Ausrichtung des Emittenten in sonstiger Weise zusammenwirken. Daran fehlte es im vorliegenden Fall. Diese enge Fassung des „abgestimmten Verhaltens“, die eine Zurechnung des Anteilserwerbs durch Banken in einem Fall wie dem vorliegenden ausschließt, beruht auf einer bewussten Entscheidung des deutschen Gesetzgebers. Der Regierungsentwurf des sog. Risikobegrenzungsgesetzes hatte noch vorgeschlagen, als „abgestimmtes Verhalten“ genügen zu lassen, wenn sich das Verhalten auf den Erwerb von Aktien bezieht, vorausgesetzt, dass dieses Zusammenwirken geeignet ist, die unternehmerische Ausrichtung des Emittenten der Aktien dauerhaft und erheblich zu beeinflussen.4 Diese Formulierung hätte möglicherweise Platz dafür geschaffen, auch den Erwerb von Beteiligungen durch ein Kreditinstitut im Vorfeld des letzten Endes geplanten Erwerbs durch den Investor selbst zu erfassen. Der Finanzausschuss des Bundestags hat diese Ausweitung des abgestimmten Verhaltens aber gestrichen, da in solchen Fällen eben nur der Erwerb der Aktien zwischen den Beteiligten abgestimmt werde, nicht die unternehmerische Ausrichtung des Emittenten.5 Der deutsche Gesetzgeber hat damit bewusst einen anderen Weg beschritten als z.B. die Schweiz. Dort werden Meldepflichten auch für die Mitglieder einer „vertraglich oder auf andere Weise organisierten Gruppe“ begründet, die „ihre Verhaltensweise im Hinblick auf den Erwerb oder die Veräußerung von Beteiligungspapieren [Hervorhebung d. Verf.] … durch Vertrag oder andere organisierte Vorkehren … abstimmen.“6

III. Einseitige Erklärungen als „Instrumente“? 1. Die Auffassung der BaFin Nach § 38 Abs. 1 Satz 1 WpHG gilt die Mitteilungspflicht, die für den unmittelbaren oder mittelbaren Inhaber stimmberechtigter Aktien bei Überschreiten bestimmter 3 Einhellige Ansicht; F. A. Schäfer in Marsch-Barner/F. A. Schäfer (Hrsg.), Handbuch börsennotierte AG, 4. Aufl. 2018, § 18 Rz. 18.40 m.w.Nachw. 4 BReg, Entwurf eines Gesetzes zur Begrenzung der mit Finanzinvestitionen verbundenen Risiken (Risikobegrenzungsgesetz), BR-Drucks. 763/07, Art. 1 Nr. 2. 5 Bericht des Finanzauschusses, BT-Drucks. 16/9821, S. 11 (re. Sp.). 6 Art. 121 (schweiz.) FinanzmarktinfrastrukturG i.V.m. Art. 12 FinanzmarktinfrastrukturVO; zur Auslegung der „organisierten Vorkehren“ und dazu, dass dies auch Banken betreffen kann, die für ihre Kunden Aktienpakete zusammenstellen, aus der Lit. Emmenegger, Creeping Takeovers in Deutschland und der Schweiz, in FS Hopt, Band  2, 2010, S.  1763, 1770 f.

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Schwellenwerte besteht, mit Ausnahme der Meldeschwelle von 3 % auch für den Inhaber von Instrumenten, die diesem (a) entweder ein Recht auf Erwerb von Aktien geben oder (b) sich auf Aktien beziehen und eine vergleichbare wirtschaftliche Wirkung haben wie die unter (a) erwähnten Instrumente, unabhängig davon, ob sie einen Anspruch auf physische Lieferung einräumen oder nicht. Wie oben ausgeführt, konnte im zu beurteilenden Fall weder eine vertragliche Vereinbarung zwischen Geely und der Bank über die Beschaffung der Aktien bereits am 22.2. noch ein „abgestimmtes Verhalten“ festgestellt werden. Fest stand nur, dass die Bank infolge der an diesem Tag abgegebenen Erklärung des Mehrheitsaktionärs, aus seiner Sicht könne der Aktienkaufvertrag unterzeichnet werden, wenn man sich über die offenen Punkte einige, geschlossen hatte, dass der Kaufvertrag zustande kommen werde. Die BaFin knüpft daher an diese einseitige Erklärung an. Sie ist der Ansicht, dass hierin ein „Instrument“ im Sinne des § 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG zu sehen sei. Dadurch sei die Bank veranlasst worden, bereits vor dem Abschluss des Kaufvertrags Wertpapierdarlehensverträge abzuschließen und damit zu beginnen, sich die für die Lieferung benötigten Aktien zu beschaffen. Um dies auch für künftige Fälle klarzustellen, hat die BaFin ihre „FAQ zu den Transparenzpflichten des WpHG in den Abschnitten 6 (§§ 33 ff.) und 7 (§§ 48 ff.)“7 ergänzt. Dort heißt es jetzt unter der neu eingefügten Frage 42b. wie folgt: „Frage: Wie beurteilt die Bundesanstalt einen kurzfristigen Aufkauf einer umfangreichen Aktienposition (5 % oder mehr) am Kapitalmarkt? Antwort: Sofern nicht besondere Umstände hinzutreten, ist ein kurzfristiger, marktschonender Aufkauf einer umfangreichen Aktienposition am Kapitalmarkt (= Erwerb von einer Vielzahl von Aktionären) mit steigender Anzahl von Aktien schwierig. Ein Aufkauf findet (daher) in der Regel über Dritte, insbesondere über Banken statt. Die Bundesanstalt sieht in diesem Zusammenhang umfangreiche, vor allem schwellenrelevante Vorerwerbe durch Banken, an deren Ende eine Übertragung der Aktien an den Investor steht, kritisch. Die Bundesanstalt geht hier grundsätzlich davon aus, dass derartige Vorerwerbe nicht auf eigene Rechnung und damit auf eigenes Risiko der Bank erfolgen, sondern dass es bereits zum Zeitpunkt der Vorerwerbe zwischen Bank und Investor – ausdrücklich oder stillschweigend – eine Vereinbarung oder einseitige Erklärung des Investors gibt, die dazu führt, dass die Bank von einer späteren Abnahme der Aktien durch den Investor ausgehen kann. Sofern in diesen Fällen nicht bereits ein Geschäftsbesorgungsvertrag (=  Zurechnung auf den Investor nach §  34 Abs.  1 Satz  1 Nr.  2 WpHG) zwischen Investor und Bank anzunehmen ist, geht die Bundesanstalt vom Vorliegen eines Instruments nach § 38 Abs. 1 Nr. 2 WpHG für den Investor aus. Hierfür kann bereits eine einseitige Erklärung eines der Beteiligten ausreichen, sofern diese einen Erwerb der Aktien durch den Investor faktisch oder wirtschaftlich ermöglicht und der Erwerb aus der wirtschaftlichen Lo7 Abrufbar unter: https://www.bafin.de/SiteGlobals/Forms/Suche/Servicesuche_Formular.html​ ?nn=​8672584&resourceId=7844738&input_=8672584&pageLocale=de&templateQuery​ String=FAQ+​Transparenzpflichten+WpHG&language_=de&submit.x=0&submit.y=0 (Abruf am 29.10.2018); vgl. dazu auch BaFin, Konsultation 12/2018 – Überarbeitung weiterer Teile des Emittentenleitfadens, Abschnitt I.2.8.1 Gliederungspunkt Kurzfristiger Erwerb einer umfangreichen  Aktienposition  am  Kapitalmarkt;  abrufbar  unter https://www.bafin.de/Shared​ Docs/Downloads/DE/Konsultation/2018/dl_kon_1218_ueberarbeitung_emittentenleitfaden.​ html. Inzwischen sind sowohl die FAQ wie der neugefasste Emittentenleitfaden der BaFin in dem hier kritisierten Punkt geändert; vgl. oben Fn. *.

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Ein neuer Schleichweg? Zur Auslegung des § 38 WpHG gik der Erklärung folgt (vgl. Begründung des RegE zu § 25a WpHG a.F., BT Drs. 17/3628, S. 19 f.) [Hervorhebung d. Verf.]. Für eine Beurteilung einer Meldepflicht sind letztlich die Umstände des Einzelfalls maßgeblich. Dabei stellt nicht jede (unverbindliche) Anfrage des Investors bei einer Bank ein nach § 38 WpHG zu berücksichtigendes Finanzinstrument dar – allerdings geht die Bundesanstalt davon aus, dass eine solche Anfrage eine Bank auch nicht bereits zu umfangreichen einseitigen Vorerwerben veranlasst.“

2. Wortlaut des § 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG Bereits der Wortlaut des § 38 Abs. 1 WpHG spricht dagegen, auch einseitige Erklärungen als „Instrumente“ im Sinne dieser Vorschrift anzusehen. Wer einfach eine Erklärung abgibt, ist schon sprachlich kein „Inhaber“ eines Instruments (Wortlaut des § 38 Abs. 1 WpHG) oder – was dem gleichsteht – er „hält“ kein Instrument im Sinne der Transparenzrichtlinie, auf der die Regelung des § 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG fußt.8 Sieht man mit der BaFin in der einseitigen Erklärung des Erwerbswilligen ein „In­ strument“, dann besteht vor der Abgabe der Erklärung kein Instrument, das gemeldet werden könnte, und nach Abgabe und Zugang beim Erklärungsempfänger ist diese Erklärung und damit auch das vorgebliche Instrument bereits verbraucht und erledigt. Ein „Halten“ eines Instruments kann insofern nicht gemeldet werden. Wollte man dagegen wie offenbar die BaFin von einem Fortbestand des Instruments ausgehen, müsste eine Meldung auch dann abgegeben werden, wenn die Gegenpartei auf die Erklärung hin bis zum Abschluss des Kaufvertrags keine Aktien kauft, obwohl die Erklärung des angeblichen Inhabers des Instruments sowohl in diesem Fall als auch dann ins Leere geht, wenn der Vertragsschluss scheitert und deshalb eine Beschaffung der Aktien unterbleibt. Denn nach § 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG kommt es nur auf das Bestehen des Instruments an, nicht darauf, ob die Gegenseite tatsächlich zu einer Maßnahme in Bezug auf die Aktien veranlasst wird. Auch diese Überlegung zeigt, dass für die Annahme eines „Instruments“ nicht mit der BaFin allein auf die Abgabe einer Erklärung abgestellt werden kann. Aus dem Wortlaut des § 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG ergibt sich ferner, dass einem „Instrument“ im Sinne dieser Vorschrift eine mit einem unbedingten Recht auf Erwerb stimmberechtigter Aktien vergleichbare Wirkung zukommen muss, anders formuliert, dass das Instrument es dessen Inhaber faktisch oder wirtschaftlich ermöglichen muss, die in Rede stehenden Ak­ tien zu erwerben, wie wenn dieser ein Erwerbsrecht hätte. Diese Wirkung wird dadurch erreicht, dass ein Dritter, die dem Instrument ausgesetzte Gegenpartei, durch den Einsatz des Instruments zu einer entsprechenden Maßnahme in Bezug auf die Aktien (z.B. Beschaffung der Aktien für eigene Rechnung; Hedgegeschäft in Bezug auf die Aktien) veranlasst werden kann, was dann dem Inhaber des Instruments seinerseits faktisch oder wirtschaftlich ermöglicht, die Aktien zu erwerben. Die Instrumente im Sinne des § 38 Abs. 1 WpHG können gewissermaßen als „Hebel“ eingesetzt werden, um Dritte zu solchen Maßnahmen in Bezug auf die betreffenden Aktien zu bewegen und sich dadurch mittelbar 8 Vgl. Art. 13 Abs. (1) Richtlinie 2004/109/EG vom 15.12.2004, ABl. EU L 390/38 (L 390/49).

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den Zugriff auf die Aktien zu sichern. Einen solchen Hebel kann sich der Erwerbswillige aber nicht, wie dies die BaFin annimmt, dadurch selbst erschaffen, dass er die Erklärung abgibt, der Kaufvertrag könne unterzeichnet werden, wenn man sich über die noch offenen Punkte einige. Ein Blick auf das Beispiel der Call-Option, die nach § 38 Abs. 2 Nr. 2 WpHG unzweifelhaft als „Instrument“ anzusehen ist, zeigt, dass es nicht auf die bloße Abgabe einer Erklärung, sondern darauf ankommt, ob der Erklärende eine Rechtsposition innehat,  die ihm einen entsprechenden Hebel auf eine Gegenpartei verschafft.9 Das ­Instrument, das der Optionsberechtigte innehat, und durch dessen Ausübungserklärung er den Stillhalter verpflichtet, ist nicht erst diese Erklärung, sondern die Rechtsposition, über die er aufgrund des Erwerbs der Option verfügt. Die Erklärung, die er abgibt, ist der bloße Einsatz des Instruments. Meldepflichtig ist aber nach § 38 WpHG bereits das Instrument, die Rechtsposition, aufgrund deren er eine Erklärung abgeben kann, die im Fall einer physisch abzuwickelnden Call-Option den Erklärungsemp­ fänger zu einem positiven Tun, zur Lieferung von Aktien verpflichtet. Ohne die durch Vereinbarung mit der Gegenpartei oder durch Kauf von einem Dritten (z.B. an der Börse) begründete Option, die der Optionserklärung zugrundeliegende Rechtsposition, wäre eine nackte, einseitig abgegebene Optionserklärung kein meldepflichtiges In­strument, eben weil die Erklärung allein, ohne zugrundeliegendes Optionsrecht, den Erklärungsempfänger weder zur Lieferung von Aktien verpflichtet (§ 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 WpHG) noch nach ihrer Ausgestaltung und inneren Logik erwartungsgemäß das Gegenüber rechtlich oder wirtschaftlich zu einer vergleichbaren Maßnahme in Bezug auf die Aktien zu veranlassen vermag (§ 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG). Eine solche Rechtsposition, die dem Meldepflichtigen einen entsprechenden Hebel auf eine Gegenpartei verschafft, kann dieser nicht selbst, durch die Abgabe einer Erklärung, erzeugen, sondern dies setzt entweder eine voraufgehende Vereinbarung mit der Gegenpartei hierüber voraus oder aber den Erwerb der Rechtsposition von einem Dritten (z.B. Kauf einer Option an der Börse).10 Letzten Endes beruhen auch die

9 Ganz überwiegende Ansicht in der Literatur; vgl. Teichmann/Epe, Die neuen Meldepflichten für künftig erwerbbare Stimmrechte (§§ 25, 25a WpHG), WM 2012, 1213, 1215: zwischen dem Inhaber des Instruments und der Gegenpartei sei „jedenfalls eine rechtliche Bindung zu fordern“; wohl auch U. H. Schneider, § 25a WpHG – die dritte Säule im Offenlegungsrecht, AG 2011, 645, 647: „eigenständiges wirtschaftliches und rechtlich abgesichertes Interesse“; Petersen in Spindler/Stilz (Hrsg.), AktG, Band  1, 3.  Aufl. 2015, §  22 Anh. (Wertpapierhandelsgesetz §§  21  – 30) Rz.  76d m.w.Nachw. in Fn.  275: „Der Begriff der sonstigen Instrumente ist gesetzlich nicht näher definiert; gemeint sind jedoch sämtliche Rechtspositionen, die einen Aktienerwerb ermöglichen…“; Opitz in Schäfer/Hamann (Hrsg.), Kapitalmarktgesetze, Loseblattsammlung, 2. Aufl., 7. Lfg. 2013, WpHG § 25a Rz. 6: „…reicht es, wenn auf Grundlage einer irgendwie gearteten Rechtsposition eine Exspektanz für einen Aktienerwerb besteht …“; Mock, AG 2018, 695, 698 m.w.Nachw. in Fn. 21. 10 Eingehend zum Erfordernis einer Vereinbarung in den Fällen des § 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG Mock, AG 2018, 695, 698 f., der dies auch mit Vorgaben der Transparenzrichtlinie begründet.

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von Dritten erworbenen Instrumente auf einer Vereinbarung mit der späteren Gegenpartei. Dagegen kann auch nicht das Beispiel des einseitigen bindenden Verkaufsangebots eingewandt werden: Ein einseitiges bindendes Verkaufsangebot sei für den Angebotsempfänger einer (physischen) Call-Option gleichzusetzen und deshalb wie diese als meldepflichtiges „Instrument“ im Sinne von § 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG (vgl. die ausdrückliche Erwähnung von Optionen im Katalog des § 38 Abs. 2 Nr. 2 WpHG) anzusehen, obwohl dem keine Vereinbarung zwischen Anbieter und Angebotsempfänger zugrunde liege. Denn diese Parallele überzeugt nicht. Richtig ist zwar, dass ein bindendes (§ 145 BGB) Verkaufsangebot zugunsten des Angebotsempfängers eine Rechtsposition begründet, die ihm ermöglicht, durch Abgabe der Annahmeerklärung den Anbieter zur Lieferung von Aktien zu verpflichten.11 Insofern liegt dieses Beispiel anders als die hier in Rede stehende Erklärung, man sei zur Vertragsunterzeichnung bereit, wenn auch über die noch ausstehenden Punkte eine Einigung erzielt werde. Der Fall, dass ein Dritter ohne vorhergehende Vereinbarung ein im Sinne des § 145 BGB ein bindendes Verkaufsangebot über Aktien unterbreitet, dürfte praktisch allerdings kaum vorkommen. Davon abgesehen sieht das WpHG ausdrücklich in § 33 Abs. 3 vor, dass bei Kaufverträgen über Aktien nicht schon das einseitige Verkaufsangebot zu einem meldepflichtigen Erwerb für den Angebotsempfänger führt, sondern erst die Annahme dieses Angebots durch den Käufer. Und schließlich wäre eine abweichende Regelung auch verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt, weil dann ein Dritter durch einseitige Erklärung Meldepflichten des Erklärungsempfängers ohne dessen Zutun auslösen könnte mit den damit für diesen verbundenen Rechtsfolgen wie Stimmrechtsverlust und Bußgeld (§§ 44, 120 WpHG) bei Nichtbefolgung. 3. Entstehungsgeschichte Die derzeitige Fassung des § 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG geht zurück auf § 25 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG i.d.F. des Gesetzes zur Umsetzung der Transparenz-RichtlinieÄnderungsricht­linie.12 Die Vorgängervorschrift dazu war §  25a WpHG in der Fassung des Gesetzes zur ­Stärkung des Anlegerschutzes und Verbesserung der Funk­ tionsfähigkeit des Kapitalmarkts (Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz; „AnsFuG“).13 Die Formulierung dieser Vorschrift stellte noch darauf ab, ob ein Finanzinstrument oder ein sonstiges Instrument den Erwerb von Aktien faktisch oder wirtschaftlich „ermöglichte“. Erfasst werden sollten insbesondere finanzielle Diffe11 Zur Bindungswirkung des Angebots und der damit verbundenen Rechtsposition des Angebotsempfängers etwa Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. II, Das Rechtsgeschäft, 4. Aufl. 1992, S. 640 ff. 12 Gesetz zur Umsetzung der Transparenzrichtlinie-Änderungsrichtlinie vom 20.11.2015, BGBl. I 2015, 2029. 13 Gesetz zur Stärkung des Anlegerschutzes und Verbesserung der Funktionsfähigkeit des ­Kapitalmarkts (Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz) vom 5.4.2011, BGBl. I 2011, 538. 

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renzgeschäfte (Contracts for Difference), Cash Settled Equity Swaps, Call-Optionen mit Cash-Settlement, Put-Optionen „und andere Geschäfte, bei welchen ein Stimmrechtserwerb aufgrund der diesen zugrundeliegenden wirtschaftlichen Logik zumindest möglich ist.“ Auch hier ist nicht davon die Rede, dass einseitige, vom Meldepflichtigen selbst ab­ gegebene Erklärungen diesem bereits ein „Instrument“ verschaffen könnten. Im Gegenteil heißt es in der Begründung zum Regierungsentwurf des AnsFuG sogar ausdrücklich, dass weder die (einseitige, den Erklärenden nicht bindende) invitatio ad offerendum noch die (einseitige, den Erklärenden bindende) Auslobung im Sinne des § 657 BGB ein meldepflichtiges Instrument des Erklärenden darstellten.14 Nicht abgeschlossene Vertragsverhandlungen, einschließlich in diesem Zusammenhang abgegebener Erklärungen einer Seite, dass der Vertragsschluss wahrscheinlich sei, welche die Gegenseite zu nichts verpflichten und sie auch keinem wirtschaft­lichen Zwang z.B. zu vorbeugenden Aktienkäufen oder Hedgegeschäften aussetzen, stellten daher auch nach der Vorgängervorschrift zu § 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG kein „Instrument“ der anderen Partei dar, die dieser den Aktienerwerb rechtlich oder aufgrund ihrer wirtschaftlichen Logik ermöglichen. Aus der Gesetzesbegründung der heute geltenden Fassung der Vorschrift (§ 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG) ergibt sich, dass der Gesetzgeber trotz des geänderten Wortlauts keine inhaltlichen, materiellen Änderungen hinsichtlich der erfassten Instrumente beabsichtigte.15 4. Gesetzessystematik Auch die Gesetzessystematik des WpHG spricht dagegen, bereits Vertragsverhandlungen im Vorfeld eines geplanten Aktienerwerbs oder im Zusammenhang damit abgegebene Erklärungen, die Vertragsverhandlungen könnten weitergeführt und bei Einigung zum Abschluss gebracht werden, als meldepflichtige Instrumente zu betrachten. Der Gesetzgeber hat sich in den §§ 33 ff. WpHG für ein System entschieden, das einerseits auch Sondergestaltungen und Umgehungsfälle erfassen, andererseits aber dem Erfordernis der Rechtssicherheit und der – im Hinblick auf die Sanktionen der §§ 44, 120 WpHG – rechtsstaatlich gebotenen hinreichenden Bestimmtheit der Meldenormen Rechnung tragen soll. Die Meldepflichten der §§ 33 ff. WpHG erfassen zum einen den regulären Fall des börslichen oder außerbörslichen Erwerbs16 stimmberechtigter Aktien und zum anderen Sonderfälle. Zu den Sonderfällen rechnen die Gestaltungen im Sinne des §  34 WpHG sowie das Halten von Instrumenten im Sinne des § 38 WpHG. Was zunächst die Meldepflicht im Regelfall des Kaufs stimmberechtigter Aktien angeht, hat das Gesetz zur Umsetzung der Transparenzrichtlinie-Änderungsrichtlinie17 14 RegE BT-Drucks. 17/3628, S. 20 li. Sp. 15 RegE BT-Drucks. 18/5010, S. 46.  16 Die Veräußerung von Aktien mit der Folge einer Schwellenunterschreitung wird hier ausgeblendet. 17 S. Fn. 12.

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Ein neuer Schleichweg? Zur Auslegung des § 38 WpHG

im Anschluss an internationale Gepflogenheiten eine Umstellung vom dinglichen auf das Kausalgeschäft vollzogen.18 Es kommt nach § 33 Abs. 3 i.V.m. § 33 Abs. 1 Satz 1 WpHG nicht mehr auf den dinglichen Vollzug des Erwerbs/der Veräußerung an, sondern auf den Abschluss des (schuldrechtlichen) Kaufvertrags. In der Praxis sind damit sämtliche – börslichen wie außerbörslichen – Erwerbsgeschäfte erfasst, die innerhalb der üblicherweise im jeweiligen Markt als sofortige Lieferung akzeptierten Fristen zu erfüllen sind. In der amtlichen Begründung zu dieser Neuregelung heißt es dazu wie folgt:19 „ … Schließlich erlaubt die Abkehr vom erfolgten dinglichen Vollzug den Marktteilnehmern künftig eine eindeutige Bestimmung des Fristenbeginns, da im Falle einer Veräußerung von Aktien nicht mehr auf das – dem Veräußerer regelmäßig unbekannte – Einbuchungsdatum der Aktien beim Erwerber abzustellen ist, was bislang in der Praxis zum Teil Probleme bei der korrekten Abfassung der Beteiligungsmitteilungen aufgeworfen hatte.“

Dieser Absicht des Gesetzgebers und der in den §§ 33 ff. WpHG angelegten Systematik widerspricht es, wenn für jeden Fall des (regelmäßig außerbörslichen) Erwerbs eines größeren Anteils stimmberechtigter Aktien bereits vor Abschluss des schuld­ rechtlichen Vertrags hierüber eine Mitteilung nach § 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG abgegeben werden muss, weil mit den typischerweise sich zeitlich hinziehenden Verhandlungen und den im Zusammenhang damit ausdrücklich oder konkludent abgegebenen Erklärungen der einen oder anderen Seite, dass die Verhandlungen weitergeführt werden können, die Wahrscheinlichkeit ansteigt, dass der potentielle Käufer demnächst abschlussbereit sein wird, und es zum Erwerb der Aktien (und zur Veräußerung auf der anderen Seite) kommen wird. Ob der potentielle Verkäufer sich in einem solchen Fall tatsächlich bereits vor dem Vertragsschluss die Aktien beschafft, ist für die Meldepflicht des potentiellen Käufers nicht relevant. Nach Auffassung der BaFin bezieht sich das meldepflichtige Instrument im Sinne des § 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG in einem solchen Fall sogar nicht nur auf solche Ak­ tien, die von der Veräußererseite vorlaufend durch Wertpapierdarlehensgeschäfte oder an der Börse erworben werden, sondern auf sämtliche Aktien, auf die sich der (geplante) Kaufvertrag erstreckt. Denkt man diesen Ansatz konsequent weiter, kann es für die Annahme eines „Instruments“ im Sinne des § 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG gar nicht mehr ausschlaggebend sein, ob und in welchem Umfang die Veräußererseite überhaupt vorlaufend Aktien erwirbt, um ihre erwartete Lieferpflicht erfüllen zu können. Denn auf die Reaktion der Gegenseite auf die Innehabung oder Ausübung eines „Instruments“ kommt es für die Meldepflicht des Inhabers nach §  38 Abs.  1 Satz 1 Nr. 2 WpHG nicht an. Der Gesetzgeber hat demgegenüber für den Fall des börslichen wie des außerbörslichen Kaufs eines meldepflichtigen Pakets stimmberechtigter Aktien im Interesse der 18 Eingehend zu den maßgeblichen Erwägungen BReg, Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Transparenzrichtlinie-Änderungsrichtlinie, Begründung, BT-Drucks. 18/5010, S. 44 f. 19 Entwurf a.a.O. (Fn. 18).

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Rechtssicherheit und um den Marktteilnehmern die eindeutige Bestimmung des Fristbeginns zu ermöglichen, auf den Abschluss des schuldrechtlichen Kaufvertrags abgestellt, nicht auf die (wann genau einsetzende?) Wahrscheinlichkeit des Vertragsschlusses und auch nicht auf Erklärungen der einen oder anderen Seite, die Vertragsverhandlungen könnten fortgeführt und bei Einigung über noch offene Punkte zum Abschluss gebracht werden. Ob die Verkäuferseite ihre erwartete Lieferpflicht bereits erfüllen kann, oder ob sie sich die Aktien vor oder nach dem Abschluss des Kaufvertrags an der Börse oder per Wertpapierdarlehen beschafft, mag zwar für die Meldepflicht des Veräußerers bedeutsam sein, spielt aber für die Meldepflicht des Käufers keine ­Rolle. Was die von der BaFin für ihre abweichende Rechtsauffassung angeführte Vorschrift des § 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG anbetrifft, so ist diese vom Gesetzgeber nicht zu dem Zweck eingeführt worden, die Meldepflicht in Fällen, in denen es nicht um börsliche Käufe, sondern um Pakettransaktionen geht, über §  33 Abs.  3 WpHG hinaus weiter ins Vorfeld vor dem Abschluss eines Paketkaufs zu verlagern. Die Vorschrift ist vielmehr geschaffen worden, um den Erwerb von Cash Settled Instruments, Con­ tracts for Difference, bar zu erfüllender Optionen und dergleichen Instrumenten zu erfassen. Mit einseitigen Erklärungen, die im vorliegenden Zusammenhang zur Debatte stehen, haben diese Instrumente nichts gemein. 5. Der Zweck der Meldevorschriften Die Auslegung von Gesetzen hat insbesondere auch den Normzweck zu beachten. Zur Begründung für die Einführung des § 25a WpHG a.F., der Vorgängervorschrift zu § 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG, wird in den Gesetzesmaterialien ausgeführt, es gelte „zu vermeiden, dass weiterhin in intransparenter Weise große Stimmrechtspositionen aufgebaut werden können, ohne dass weder die BaFin noch der Markt oder Emittenten darüber frühzeitig in Kenntnis gesetzt werden.“20 Zur Verbesserung der Kapitalmarkttransparenz sollten daher neue Mitteilungs- und Veröffentlichungspflichten für bislang nicht erfasste Finanzinstrumente eingefügt werden. In den Erwägungsgründen zur Transparenz-Richtlinie-Änderungsrichtlinie, die unmittelbar Anlass für die gegenüber § 25a WpHG a.F. geänderte Formulierung des § 38 Abs. 1 Nr. 2 WpHG war, heißt es dazu wie folgt: „Die Innovation im Finanzbereich hat zur Schaffung neuer Arten von Finanzinstrumenten geführt, mit denen Anleger eine finanzielle Beteiligung an Unternehmen erwerben, deren Offenlegung in der Richtlinie 2004/109/EG21 nicht vorgesehen ist. Diese Instrumente könnten zum heimlichen Erwerb von Aktienbeständen von Unternehmen genutzt werden, was zu Marktmissbrauch führen und ein falsches und irreführendes Bild der wirtschaftlichen Eigentumsverhältnisse börsennotierter Gesellschaften zeichnen kann. Um zu gewährleisten, dass Emittenten 20 RegE eines Gesetzes zur Stärkung des Anlegerschutzes und Verbesserung der Funktions­ fähigkeit des Kapitalmarkts (Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz), BTDrucks. 17/3628, S. 2. 21 D.h. in der Transparenzrichtlinie (Richtlinie 2004/109/EG vom 15.12.2004, ABl. EU L 390/38 [L 390/49]).

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Ein neuer Schleichweg? Zur Auslegung des § 38 WpHG und Anleger vollständig über die Unternehmensbeteiligungsstruktur unterrichtet sind, sollte die Definition des Begriffs „Finanzinstrumente“ in jener Richtlinie alle Instrumente erfassen, die eine dem Halten von Aktien oder Aktienbezugsrechten vergleichbare wirtschaftliche Wirkung haben.“22

Für die Auslegung einzelner Tatbestandsmerkmale des § 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG lassen sich aus diesen allgemein formulierten Gesetzeszwecken kaum konkrete Anhaltspunkte gewinnen. Jedenfalls geht es aber nicht an, im Interesse einer allumfassenden Transparenz die Meldepflichten möglichst weit auszudehnen und dabei die tatbestandlichen Beschränkungen und den Wortsinn der auf bestimmte Gestaltungen ausgerichteten Normen der §§ 33, 34, 38 WpHG außer Acht zu lassen. Denn der Gesetzgeber hat seine Absicht, weitgehende Trans­parenz herzustellen, nicht durch eine umfassend formulierte Generalklausel verwirklicht. ­Sondern er hat – um dem gleichberechtigt zu berücksichtigenden Gesetzesziel der tatbestandlichen Bestimmtheit und Rechtssicherheit der Normen für die Betroffenen Rechnung zu tragen – durch Formulierung einer Reihe von Einzeltatbeständen mit konkreten Anforderungen und  Voraussetzungen versucht, einen Ausgleich zwischen dem Gesetzeszweck der Transparenz der Stimmrechtsverhältnisse einerseits und dem Erfordernis der tatbestandlichen Bestimmtheit andererseits herzustellen. Diese Balance darf weder vom Rechtsanwender noch von den rechtsunterworfenen Parteien durch einseitige Übergewichtung des einen oder anderen Aspekts in Frage gestellt werden. Abgesehen davon ist, was den Gesetzeszweck der Transparenz angeht, Folgendes zu bedenken. Auch bei einem Paketkauf von einem einzelnen Investor (block trade) in melderelevanter Höhe werden Kapitalmarkt, Emittent und BaFin erst nach dem Wechsel des Pakets in die neuen Hände informiert und „überrascht“. Der Aufbau eines Pakets durch eine Bank im Wege des außerbörslichen Abschlusses von Wertpapierdarlehen im Vorfeld eines Kaufvertrags steht dem gleich und erfordert ebenfalls keine Offenlegung der bloßen Erwerbsabsichten des Käufers vor der endgültigen Unterzeichnung des Kaufvertrags, ebenso wenig wie im Fall einer echten Blocktransaktion.23 Dass die Bank ihrerseits ggfs. Mitteilungspflichten zu erfüllen hat, ist gesetzlich sichergestellt (vgl. allerdings die Handelsbuchausnahme in § 36 Abs. 1 WpHG). Da vor der endgültigen Unterzeichnung des Kaufvertrags durch die Parteien noch gar nicht feststeht, ob es zu dem Erwerb kommt, selbst wenn die Verkäuferseite sich die Aktien bereits beschafft hat, und der potentielle Käufer vorher auch keinerlei Weisungs- oder Zugriffsbefugnisse in Bezug auf die Stimmrechte hat, besteht für die von der BaFin befürwortete erweiternde Auslegung des § 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG auch rechtspolitisch kein Bedürfnis.24 Jedenfalls ist dieses Anliegen de lege lata nicht fundiert. Im Grunde läuft die Interpretation der BaFin darauf hinaus, die Mitteilungspflichten der §§ 33 ff. WpHG in einen Anwendungsbereich hinein auszudehnen und vorzuver22 Erwägungsgrund (9) der Richtlinie 2013/50/EU vom 22.10.2013 zur Änderung der Transparenzrichtlinie, ABl. EU L 294/13). 23 So auch Mock, AG 2018, 695, 700. 24 Dazu noch unten IV.

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lagern, wie er für die Ad  hoc-Publizität vorgesehen ist. Nach Art.  7 i.V.m. Art.  17 MarktmissbrauchsVO („MAR“) sind publikationspflichtig nicht öffentlich bekannte präzise Informationen, die direkt oder indirekt einen oder mehrere Emittenten oder ein oder mehrere Finanzinstrumente betreffen und die, wenn sie öffentlich bekannt würden, geeignet wären, den Kurs dieser Finanz­instrumente oder den Kurs damit verbundener derivativer Finanzinstrumente erheblich zu beeinflussen. Informationen sind nach Art. 7 Abs. 2 MAR bereits „dann als präzise anzusehen, wenn damit eine Reihe von Umständen gemeint ist, die bereits gegeben sind oder bei denen man vernünftigerweise erwarten kann, dass sie in Zukunft gegeben sein werden, oder ein Ereignis, das bereits eingetreten ist oder von den vernünftigerweise erwarten kann, dass es in Zukunft eintreten wird, und diese Informationen darüber hinaus spezifisch genug sind, um einen Schluss auf die mögliche Auswirkung dieser Reihe von Umständen oder dieses Ereignisses auf die Kurse der Finanzinstrumente oder des damit verbundenen derivativen Finanzinstruments … zuzulassen.“

Art. 7 Abs. 3 MAR fügt ausdrücklich hinzu, dass publikationspflichtig auch einzelne Zwischenschritte in „gestreckten Vorgängen“, z.B. in sich über mehrere Etappen ­hinziehenden Vertragsverhandlungen, sein können. Eine entsprechende Regelung fehlt aber in den §§ 33 ff. WpHG. Überdies sieht die MarktmissbrauchsVO (Art. 17 Abs. 4 MAR) für den Bereich der Ad hoc-Publizität zum Schutz der berechtigten Interessen der Beteiligten vor dieser weit vorverlagerten Publizitätspflicht insbesondere bei laufenden, noch nicht abgeschlossenen Verhandlungen die Möglichkeit der Selbstbefreiung vor. Auch dieses Instrument fehlt in den §§  33  ff. WpHG. All dies spricht gegen die von der BaFin befürwortete ausdehnende Interpretation des § 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG.

IV. Rechtspolitischer Handlungsbedarf? Die Neuformulierung der FAQ und des Emittentenleitfadens der BaFin zu dem hier behandelten Themenkreis sind ersichtlich von dem Eindruck geprägt, dass im vor­ liegenden Fall ein innovative Gestaltung entwickelte wurde, die darauf abzielte, der  Aktienkäuferin auch außerhalb einer echten außerbörslichen Blocktransaktion (block trade), die nicht zur Verfügung stand, zu deren Vorteilen zu verhelfen, einschließlich der Vermeidung von Stimmrechtsmitteilungen bei Überschreiten der 3 %- und 5 %-­Schwellen. Die voranstehenden Überlegungen haben gezeigt, dass sich, abweichend von der Ansicht der BaFin, de lege lata die hier gewählte Gestaltung nicht als unzulässige Umgehung oder Missachtung der – hier allein in Betracht kommenden – Meldevorschrift des § 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG darstellt. Es besteht aber auch rechtspolitisch kein Handlungsbedarf nach Ergänzung des kapitalmarktrechtlichen Melde­regimes im Hinblick auf die vorliegende Gestaltung: 1. Haben die Verhandlungsparteien tatsächlich Vereinbarungen im Sinne des §  34 WpHG getroffen, oder verfügt die Erwerberseite tatsächlich über ein Instrument, eine Rechtsposition mit Hebelwirkung im Sinne des § 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG, so besteht keine Normlücke, die zu schließen wäre. Entscheidet dagegen bei der Ver42

Ein neuer Schleichweg? Zur Auslegung des § 38 WpHG

handlung über den Kauf bzw. Verkauf eines Aktienpakets der potentielle Verkäufer bereits im Vorfeld des Vertragsschlusses, sich einen Teil der von ihm nicht gehaltenen Aktien durch den Abschluss von Wertpapierdarlehen auf eigene Rechnung und auf das Risiko hin zu sichern, dass der Kaufvertrag doch nicht zustande kommt, dann kann daraus weder zwingend auf das Bestehen einer entsprechenden Vereinbarung mit dem Erwerbsinteressenten noch auf die Ausübung eines einseitig ausübbaren „Instruments“ des Erwerbsinteressenten zurückgeschlossen werden. 2. Nicht abgeschlossene Vertragsverhandlungen oder im Zusammenhang damit abgegebene Erklärungen der Erwerberseite, die Verhandlungen könnten weitergeführt, und bei Einigung der Kaufvertrag geschlossen werden, nach § 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG als „Instrumente“ melden zu müssen, ist auch schon deshalb nicht überzeugend, weil es nicht nur vom Willen des Erwerbswilligen abhängt, ob er den Vertrag schließt und die Aktien erwirbt, sondern in gleicher Weise von der freien, ungebundenen Entscheidung der Gegenseite. Scheitert der Vertragsschluss, müsste die Mitteilung korrigiert werden, was das Gesetz nicht vorsieht. Da vor der endgültigen Unterzeichnung des Kaufvertrags noch gar nicht feststeht, ob es zu dem Erwerb kommt, selbst wenn die Verkäuferseite sich die Aktien bereits beschafft hat, und der Käufer vorher auch keinerlei Weisungs- oder Zugriffsbefugnisse in Bezug auf die Stimmrechte oder eine rechtlich oder wirtschaftlich bereits kraft eines entsprechenden Instruments gesicherte Aussicht auf deren Erwerb hat, besteht weder für die von der BaFin befürwortete erweiternde Auslegung des § 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG noch für eine entsprechend formulierte neue Gesetzesvorschrift ein rechtspolitisches Bedürfnis. 3. Die Interpretation des § 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG durch die BaFin führt zu einer für die Transaktionspraxis schwer erträglichen Unbestimmtheit und Ungewissheit, ab welchem Zeitpunkt und bei Abgabe welcher Erklärungen bei den Verhandlungen über einen Paketkauf die Erwerberseite eine Stimmrechtsmeldung abzugeben hat. Das wird dadurch verschärft, dass nach Ansicht der BaFin gegebenenfalls nicht nur die vorlaufend erworbenen Aktien zu melden sind, sondern in die Stimmrechtsmitteilung nach § 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AktG sämtliche Aktien einzubeziehen sind, auf die sich der geplante Kaufvertrag bezieht. Da es für die Mitteilungspflicht nach § 38 WpHG aber nicht darauf ankommt, ob das Instrument überhaupt ausgeübt wird oder nicht, ist die Befürchtung nicht unbegründet, dass künftig im Verlauf der Verhandlungen vor einem Paketkauf Stimmrechtsmitteilungen abgegeben werden müssen, weil sich zunehmend abzeichnet, dass der Vertrag zustande kommen wird, und die Parteien im Hinblick darauf wirtschaftliche Vorbereitungen treffen, die den Erwerb des Pakets durch den potentiellen Käufer wahrscheinlicher machen. Diese Entwicklung ist nicht nur mit der eindeutig abgegrenzten Regelung des § 33 Abs. 3 WpHG unvereinbar, sondern sie führt auch zu einer mit dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot kollidierenden Unbestimmtheit des § 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG und entsprechender Verunsicherung der rechtsunterworfenen Marktteilnehmer. 4. Es kommt das Bedenken hinzu, dass die Interpretation der BaFin darauf hinausläuft, die Mitteilungspflichten der §§ 33 ff. WpHG in einen Anwendungsbereich hinein auszudehnen und vorzuverlagern, wie er für die Ad hoc-Publizität vorgesehen ist. Die MarktmissbrauchsVO sieht ausdrücklich vor, dass publikationspflichtig auch ein43

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zelne Zwischenschritte in „gestreckten Vorgängen“, z.B. in sich über mehrere Etappen hinziehenden Vertragsverhandlungen, sein können. Wann in solchen Fällen von einer hinreichend präzise fassbaren, meldepflichtigen Tatsache auszugehen ist, wird dort in einer umfangreichen Definition umschrieben. Eine entsprechende Regelung fehlt aber in den §§ 33 ff. WpHG. Überdies sieht die MarktmissbrauchsVO für den Bereich der Ad hoc-Publizität zum Schutz der berechtigten Interessen der Beteiligten vor dieser weit vorverlagerten Publizitätspflicht insbesondere bei laufenden, noch nicht abgeschlossenen Verhandlungen die Möglichkeit der Selbstbefreiung vor. Auch dieses Instrument fehlt in den §§ 33 ff. WpHG. Für eine vergleichbare weitreichende Regelung in den hier erörterten Fällen im Bereich der Stimmrechtsmeldungen besteht aber kein Bedarf, solange weder der Paketkauf getätigt ist noch ein greifbares Instrument im Sinne des § 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG besteht.

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Die Bedeutung der Rechtstatsachenforschung für Rechtspraxis und Rechtspolitik am Beispiel des Aktienrechts Inhaltsübersicht I. Auswirkungen der ARUG-Reform und ­aktuelle Diskussion zur grundlegenden ­Reform des Beschlussmängelrechts II. Rechtstatsachenforschung als Erkenntnisquelle für Rechtspolitik und Rechtswissenschaft III. Das Institut für Rechtstatsachenforschung zum Deutschen und Europäischen ­Unternehmensrecht an der FriedrichSchiller-­Universität Jena

IV. Dogmatischer Fortschritt infolge Kenntnis der Rechtstatsachen versus dogmatischer Fehlschluss infolge ­Unkenntnis der Rechts­tatsachen dar­ gestellt an den BGH-­Ent­scheidungen „Stollwerck“ und „FROSTA“

V. Faktenstreit muss sein – empirische Grundlagen sind daher offenzulegen

VI. Aktuelle Problematik: Die Einsetzung ­eines Besonderen Vertreters gemäß § 147 AktG – ein neues Geschäfts­ modell VII. Schluss

I. Auswirkungen der ARUG-Reform und aktuelle Diskussion zur grundlegenden Reform des Beschlussmängelrechts Unser Jubilar ist der „Vater“ der Gesetzesreformen, mit denen im Rahmen des ARUG1 das Geschäftsmodell der räuberischen Beschlussmängelkläger massiv eingedämmt werden konnte. Die Wirksamkeit der ARUG-Reformen wurden durch die im Jahre 2011 vom Bundesjustizministerium in Auftrag gegebene und vom Institut für Rechtstatsachenforschung zum Deutschen und Europäischen Unternehmensrecht der Friedrich-Schiller-Universität Jena durchgeführte empirische Studie in aller Deutlichkeit nachgewiesen.2 Relativierende Stellungnahmen haben sich als unzutreffend erwiesen3  – empirische Fakten sind (anders als juristische Wertungen) „hart“ und können bei Offenlegung der Ermittlungsmethode im Zweifel verifiziert oder falsifiziert werden.4 Zu diskutieren sind allein die Schlussfolgerungen, die aus der rechtstatsächlichen Evaluation zu ziehen sind: So hat Ulrich Seibert unter Bezugnahme auf die Ergebnisse der Jenaer Studie die vielfach erhobenen Forderungen aus Wissenschaft und Praxis nach einer weitergehenden, grundlegenden Korrektur des Be-

1 Gesetz zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie v. 30.7.2009 (BGBl. I 2009, 2479). 2 Dazu (im Auftrag des BMJ) Bayer/Hoffmann/Sawada, ZIP 2012, 897 ff. 3 Näher Bayer/Hoffmann, ZIP 2013, 1193 ff. 4 Zur Problematik noch näher unter IV.

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schlussmängelrechts5 lange Zeit als nicht notwendig bezeichnet. Es ist zu vermuten, dass der 72. DJT, der nach der Abgabe des Manuskripts im September 2018 in Leipzig stattfinden wird, in dieser Frage abweichend votieren wird – darauf lassen jedenfalls das profunde Gutachten von Jens Koch6 und auch erste Stellungnahmen aus dem Schrifttum7 schließen. Allerdings ist die Rechtstatsachenforschung darüber hinaus nicht nur eine wertvolle Hilfe für den Gesetzgeber im Rahmen der Evaluierung der (reformierten) Rechtslage,8 sondern in zahlreichen Konstellationen auch unmittelbar im Rahmen der Dogmatik der lex lata unverzichtbar.9 Unser Jubilar hat dies stets erkannt. Daher sollen im vorliegenden Beitrag einige Beispiele rechtstatsächlicher Erkenntnisse dargestellt werden, die in positiver Weise zur Entscheidung konkreter Rechtsfragen auf dem Gebiet des Aktienrechts (iwS) beigetragen haben (unter V.). Darüber hinaus soll das Ergebnis einer aktuellen rechtstatsächlichen Studie vorgestellt werden, die rechtspolitischen Handlungsbedarf – sei es durch die Rechtsprechung, sei es durch den Gesetzgeber – nahelegt (unter VI.). Zunächst jedoch einige grundlegende Bemerkungen:

II. Rechtstatsachenforschung als Erkenntnisquelle für Rechtspolitik und Rechtswissenschaft Wer die Tatsachen besser kennt, entscheidet besser – das wussten in der Vergangenheit bereits Arthur Nußbaum, Heinrich Kronstein und Wolfgang Fikentscher, und so befürworteten sie (in Abgrenzung zur Rechtssoziologie) eine pragmatisch ausgerichtete Rechtstatsachenforschung mit dem vorrangigen Ziel, sowohl dem Gesetzgeber als auch dem Rechtsanwender einen besseren Blick auf „die Lebenssachverhalte“ zu ermöglichen.10 Da auch die kontinentaleuropäische Rechtsanwendung auf rechtswissenschaftlichen Methoden basiert, lässt sich allgemein formulieren, dass die Rechtstatsachenforschung sowohl für die Rechtspolitik als auch für die Rechtswissenschaft ein immenses Erkenntnispotential bereithält. Ihre Sinnhaftigkeit ist daher heute unbestritten,11 lassen sich doch juristische Probleme regelmäßig „ohne ein klares Bild von

5 S. nur Bayer/Fiebelkorn, ZIP 2012, 2181 ff. (mit Vorschlägen für eine grundlegende Reform des Beschlussmängelrechts) m.w.N. 6 Koch in Deutscher Juristentag (Hrsg.), Verhandlungen des 72.  Deutschen Juristentages Leipzig 2018, Bd. I: Gutachten/Teil F: Empfiehlt sich eine Reform des Beschlussmängelrechts im Gesellschaftsrecht?, 2018. 7 S. nur Bayer/Möller, NZG 2018, 801 ff. 8 Zu dieser wichtigen Funktion der empirischen Forschung auch Fleischer, ZGR 2007, 500, 504 („besondere Herausforderung bildet die empirische Erfolgskontrolle von Reformgesetzen“). 9 Näher (und mit Beispielen) Bayer in FS Canaris, 2017, S. 319 ff. 10 S. Nußbaum, Rechtstatsachenforschung 1914; Nußbaum, LZ 14 (1920), 873 ff., 912 ff.; Nußbaum, AcP 154 (1955), 453 ff.; Kronstein, Wirtschaftsrecht, Die Justiz Bd. III 1928 S. 215 ff.; Fikentscher, Methoden des Rechts Bd IV, 1977, S. 192 ff. 11 So jüngst auch Spindler/Gerdemann, AG 2016, 698 ff.

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der sozialen Wirklichkeit nicht lösen, oft nicht einmal erkennen“.12 Dies gilt nicht nur, aber insbesondere auch für das Aktienrecht. Im Anschluss an die treffende Formulierung von Holger Fleischer gehört die Rechtstatsachenforschung zu den „Zukunftsaufgaben“ unternehmensrechtlicher Forschung“.13

III. Das Institut für Rechtstatsachenforschung zum Deutschen und Europäischen Unternehmensrecht an der Friedrich-SchillerUniversität Jena Das im Jahre 2004 errichtete Institut für Rechtstatsachenforschung zum Deutschen und Europäischen Unternehmensrecht an der Friedrich-Schiller-Universität Jena14 ist das einzige seiner Art in Deutschland. Dieses Alleinstellungsmerkmal ist Herausforderung und Anspruch zugleich. Es knüpft an die Tradition des von Justus Wilhelm Hedemann und Heinrich Lehmann im Jahre 1917 gegründeten Jenaer Instituts für Wirtschaftsrecht an, das zu seiner Zeit gleichfalls Vorreiter und Ideengeber für nachfolgende Institutsgründungen war.15 So sind in den letzten 15 Jahren zahlreiche Zeitschriftenbeiträge, vielfältige Kurzstudien, mehrere Langstudien, einige Befragungs- und Ereignisstudien, zahlreiche Dissertationen sowie weitere Monografien und Sammelwerke erschienen, die sich mit Aspekten unternehmensrechtlicher Rechtstatsachen beschäftigen.16 Aktuelle Rechtstatsachen zum Aktienrecht werden regelmäßig in der Zeitschrift „Die Aktiengesellschaft“17 publiziert.18 Größere empirische Zeitschriftenbeiträge beschäftigen sich etwa mit dem Beschlussmängelrecht und Aktivitäten von Berufsklägern,19 mit der Transparenz der Managementvergütung,20 mit Abfindungsleistungen beim Aus12 So zutreffend Fleischer in MünchKomm. GmbHG, 2. Aufl. 2015, Einl. Rz. 198. 13 Fleischer in Engel/Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, S. 50, 68 ff.; ähnlich Merkt, ZGR 2007, 532, 541.  S.  weiterhin Röhricht, ZGR 1999, 445, 468, der aus der Warte des Vorsitzenden des II. Zivilsenats des BGH ausführt, dass „es im deutschen Rechtsraum nach wie vor allzu häufig an einer gründlichen Rechtstatsachenforschung (fehlt)“, die „unentbehrlich (sei), wenn die Aufgabe des Rechts, einen den Bedürfnissen der Praxis gerecht werdenden Ordnungsrahmen für bestimmte gesellschaftliche oder wirtschaftliche Betätigungsfelder zu schaffen, erfüllt werden soll“. 14 S. zur Aufgabe und Organisation des Instituts nur AG-Sonderheft Oktober 2015: Aktienrecht in Zahlen II, S. 83 ff. 15 Hierzu näher Gerhard Lingelbach, Vom Verein „Recht und Wirtschaft“ zum Institut für Wirtschaftsrecht, in Bayer/Lingelbach (Hrsg.), 100 Jahre Wirtschaftsrecht, 2015, S. 11, 21 ff. m.w.N. 16 Ausf. Nachw. und Beispiele in Bayer, Rechtstatsachenforschung zum Unternehmensrecht – Bestandsaufnahme und Perspektiven, in Bayer/Lingelbach (Hrsg.), 100 Jahre Wirtschaftsrecht, 2015, S. 61, 66 ff. 17 In der Rubrik „AG-Report“ wurden bislang (Stand August 2018) mehr als 100 Kurzstudien publiziert. 18 S. die Zusammenstellung einer Auswahl in den beiden AG-Sonderheften Aktienrecht in Zahlen I (September 2010), II (Oktober 2015). 19 Bayer/Hoffmann/Sawada, ZIP 2012, 897 ff.; Bayer/Hoffmann, ZIP 2013, 1193 ff. 20 Bayer, ZG 2008, 313 ff.

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scheiden von Managern,21 mit Kapitalmarktreaktionen bei Ankündigung von Aktien-­ Rückerwerben,22 mit innerstaatlichen und grenzüberschreitenden Verschmelzungen23 oder auch mit dem Verhältnis von Ist- und Soll-Zustand bei der Drittelbeteiligung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat,24 um nur einige Beispiele zu nennen. Über die Ergebnisse einer aktuellen Studie soll noch unter VI. berichtet werden.

IV. Dogmatischer Fortschritt infolge Kenntnis der Rechtstatsachen versus dogmatischer Fehlschluss infolge Unkenntnis der Rechtstatsachen dargestellt an den BGH-Entscheidungen „Stollwerck“ und „FROSTA“ An den gegensätzlichen BGH-Entscheidungen „Stollwerck“25 und „FROSTA“26 kann exemplarisch herausgearbeitet werden, welchen wichtigen Beitrag die Kenntnis der Rechtstatsachen für die Überzeugungskraft des Richterspruches hat:27 Hat etwa BGHZ 147, 108 die umstrittene Frage, ob für die Bestimmung des Bör­ senkurses auf den Tag der Hauptversammlung oder auf eine vorangegangene Re­ ferenzperiode abzustellen sei, vermittelnd noch in der Weise entschieden, dass der Börsenkurs nach dem Durchschnittswert der letzten drei Monate vor dem Tag der Hauptversammlung zu ermitteln sei,28 so hat sich der II. Zivilsenat in seinem Stollwerck-Beschluss vom 19.  Juli 201029 der schlüssig formulierten empirischen Kritik aus dem Schrifttum30 nicht verweigert, sondern hat seinen früheren abweichenden Standpunkt kraft besserer Kenntnis der Rechtstatsachen aufgegeben: Obgleich der Tag der Hauptversammlung grundsätzlich für die Wertermittlung maßgeblich sei, tauge dieser Stichtagswert zur Ermittlung des Börsenwertes auch unter Einbeziehung eines Referenzzeitraums nicht, „weil mit der Ankündigung einer Strukturmaßnahme an die Stelle der Markterwartung hinsichtlich der Entwicklung des Unternehmenswertes und damit des der Aktie innewohnenden Verkehrswertes die Markterwartung an die Abfindungshöhe tritt“.31 Diese führe in der Regel zu einer höheren Nachfrage, 21 Bayer/Meier-Wehrsdorfer, AG 2013, 477 ff. 22 Bayer/Hoffmann/Weinmann, ZGR 2007, 457 ff. 23 Bayer/Schmidt/Hoffmann, Der Konzern 2012, 225 ff. 24 Bayer/Hoffmann, GmbHR 2015, 909 ff. 25 BGHZ 186, 229 – Stollwerck. 26 BGH AG 2013, 877 – FROSTA. 27 Ausführlicher hierzu bereits Bayer in FS Canaris, 2017, S. 319, 324 ff. 28 BGHZ 147, 108, 118 = NJW 2001, 2080. 29 BGHZ 186, 229. 30 S. nur E. Vetter, DB 2001, 1347 ff.; Hüffer, AktG, 7. Aufl. 2006, § 305 Rz. 24d m.w.N.; relativierend auch schon der Vorsitzende des II. Zivilsenats des BGH Röhricht in VGR Bd. 5, 2001, S. 3, 20 ff. Insbesondere aus wirtschaftswissenschaftlichem Blickwinkel hat Martin Weber anhand empirischer Erkenntnisse aus der Praxis den Tag „an dem das die Abfindung auslösende Ereignis dem Markt erstmalig bekannt wird“ als den ökonomisch korrekten Stichtag bezeichnet hat (Weber, ZGR 2004, 280, 284 ff.). 31 BGHZ 186, 229, 234 Rz. 12.

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doch habe der dadurch ausgelöste Kursanstieg „mit dem Verkehrswert der Aktie, mit dem der Aktionär für den Verlust der Aktionärsstellung so entschädigt werden soll, als ob es nicht zur Strukturmaßnahme gekommen wäre […], nichts zu tun“.32 Die Rechtsprechungswende des BGH33 ist hier also auf die empirische Erkenntnis zurückzuführen, dass eine wortlautgetreue Stichtagsbestimmung (Tag der Haupt­ versammlung gemäß §  305 Abs.  3 Satz 2 AktG für Beherrschungsvertrag bzw. gemäß § 327b Abs. 1 Satz 1 AktG für Squeeze-Out) angesichts der zu Tage getretenen Rechtstatsachen für die Ermittlung des maßgeblichen Börsenkurses auch dann „nichts taugt“ (BGH), wenn eine dreimonatige Referenzperiode vorangeschaltet wird. Die kapitalmarkttheoretisch fundierte Beobachtung, dass die Marktteilnehmer bereits ab dem Zeitpunkt der Kenntnis der Strukturmaßnahme diese in ihre Überlegungen „einpreisen“,34 hat in der Dogmatik der Berechnung des maßgeblichen Börsenkurses ihren nachhaltigen Niederschlag gefunden.35 Hat der II. Zivilsenat des BGH in Sachen Stollwerck somit einen positiven Lernprozess durchgemacht, so gilt es im Beispiel FROSTA vom Gegenteil zu berichten, nämlich einer Recht­sprechungskorrektur infolge Unkenntnis der einschlägigen Rechtstatsachen bzw. der naiven „Gutgläubigkeit“ im Hinblick auf eine Studie des Deutschen Ak­ tieninstituts. Da über dieses „Lehrstück für die Suche nach der ‚richtigen‘ Problemlösung“ bereits an anderer Stelle ausführlich berichtet wurde,36 hier die Quintessenz in aller Kürze: Bereits der gesunde Menschenverstand lässt die Vermutung aufkommen, dass ein Rückzug von der Börse (sog. Delisting) sich auf den Kurs der bislang börsennotierten Aktien negativ auswirkt; (subjektives) Expertenwissen bestätigt dieses naheliegende Ergebnis. Daraus hat um die Jahrtausendwende die herrschende Lehre ein Schutzbedürfnis für die betroffenen Aktionäre abgeleitet.37 Der II. Zivilsenat des BGH sah dies kurze Zeit später ebenso und hat im Grundsatzurteil Macrotron38 praeter legem einen „Schutzschirm“ bestehend aus dem Erfordernis eines Hauptversammlungsbeschlusses und eines gerichtlich nachprüfbaren Abfindungsangebots aufgespannt.39 Denn zutreffend wurde erkannt, dass durch das Delisting „dem Aktionär […] der Markt genommen (wird), der ihn in die Lage versetzt, den Wert seiner Aktie jederzeit durch 32 BGHZ 186, 229, 238 Rz. 23. 33 Dazu auch Bücker, NZG 2010, 967  ff.; Decher, ZIP 2010, 1673, 1674  ff.; Wasmann, ZGR 2011, 83, 87 ff. 34 Nochmals Weber, ZGR 2004, 280, 281 ff., 284 ff. 35 Zur Fortführung der Dogmatik des Börsenwertes bis heute und weiteren Problemen nur Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 305 Rz. 29 ff. m.w.N. 36 Bayer, ZfPW 2015, 163 ff. (mit allen Nachw.) [Zitat im Vorspann des Beitrags]. 37 S. etwa Kleindiek in FS Bezzenberger, 2000, S. 653 ff. mit Zitat S. 665: „Wer nach dem Börsenaustritt nicht länger als Aktionär in der Gesellschaft verbleiben will, muß die Möglichkeit haben, sich gegen angemessenen Ausgleich von seinen Anteilen zu trennen. Im Grundsatz dürfte das heute außer Streit stehen“. Weitere Nachw. bei Bayer, ZfPW 2015, 163, 178. 38 BGHZ 153, 47 = JZ 2003, 680 m. zust. Anm. Lutter („Das Urteil ist ebenso mutig wie richtig“). 39 BGHZ 153, 47, 54 ff.

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Veräußerung zu realisieren“.40 Die damals vorhandene börsenrechtliche Regelung sei unzulänglich, da sie schon deshalb „keinen hinreichenden Anlegerschutz“ gewährleiste, „weil unmittelbar nach dem Bekanntwerden des Delisting erfahrungsgemäß ein Kursverfall der Aktie eintritt, der es dem Anleger unmöglich macht, die von ihm investierten Vermögenswerte zu realisieren“.41 Der II. Zivilsenat zog daraus die Konsequenz, dass „ein adäquater Schutz der Minderheitsaktionäre […] nur dadurch erreicht werden (könne), dass ihnen mit dem Beschlussantrag ein Pflichtangebot über den Kauf ihrer Aktien […] vorgelegt“ werde, das „dem Anteilswert entsprechen“ müsse.42 Diese im Ergebnis weithin gebilligte43 und mehrfach bestätigte Rechtsprechung44 hatte allein den „Schönheitsfehler“, dass der BGH seine Rechtsfortbildung nicht – was durchaus möglich gewesen wäre45 - auf eine im Schrifttum mehrheitlich befürwortete (Gesamt-)Analogie zu nahestehenden aktien- und umwandlungsrechtlichen Vorschriften (§§ 29 Abs. 1 Satz 2, 207 UmwG, §§ 305, 327a ff. AktG) gegründet, sondern aus dem Aktieneigentum und somit aus Art. 14 GG hergeleitet hat, was im Schrifttum nachhaltige Kritik auslöste46 und im Jahre 2012 dem BVerfG die Gelegenheit gab, den II. Zivilsenat verfassungsrechtlich „in die Schranken zu weisen“, da der Schutzbereich des Eigentumsgrundrechts eines Aktionärs durch ein Delisting regelmäßig nicht berührt sei.47 Gleichwohl bekräftigte das BVerfG die Befugnis des BGH, im Wege der Rechtsfortbildung ein zivilrechtliches Schutzregime in Ergänzung der vorhandenen – aber nach Auffassung des BGH in Macrotron unzureichenden  – öffentlich-rechtlichen, nämlich im Börsengesetz enthaltenen Delisting-Vorschriften zu begründen.48 Im Schrifttum wurde daher überwiegend gemutmaßt, dass der II. Zivilsenat die erteilte „carte blanche“ nutzen und den Delisting-Schutz zukünftig auf eine Analogie zu § 29 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 Fall 2 UmwG stützen würde:49 Denn in dieser, im Jahre 2007 neu geschaffenen Vorschrift, hatte der Gesetzgeber für den Fall der Verschmelzung einer börsennotierten auf eine nichtbörsennotierte AG explizit eine Abfin-

40 BGHZ 153, 47, 55. 41 BGHZ 153, 47, 56 f. 42 BGHZ 153, 47, 57. 43 S.  nur Hirte, NJW 2003, 1090, 1094 („nach überzeugender Ansicht des BGH“); aus der Kommentarliteratur etwa Hüffer, AktG, 6. Aufl. 2004, § 119 Rz. 23 f.; Spindler in K. Schmidt/ Lutter, AktG, 1. Aufl. 2008, § 119 Rz. 50 ff.; Hopt in Baumbach/Hopt, HGB, 31. Aufl. 2003, § 38 BörsG Rz. 5; weitere Nachw. bei Bayer, ZfPW 2015, 163, 182 ff. 44 BGHZ 177, 131 = AG 2008, 659 – MVS; BGH AG 2010, 453 – Dr. Scheller Cosmetics AG; implizit auch BGH ZIP 2011, 1708 Rz. 8 – Kässbohrer; zur zahlreichen Instanzrechtsprechung näher Bayer, ZfPW 2015, 163, 184 f. m.w.N. 45 So explizit BVerfGE 132, 99 Rz. 72 ff. 46 S. nur Ekkenga, ZGR 2003, 878, 882 ff.; Habersack, AG 2005, 137, 141; zuvor bereits Mülbert, ZHR 165 (2001), 104, 113 ff. Weitere Nachw. bei Bayer, ZfPW 2015, 163, 183. 47 So BVerfGE 132, 99 Rz. 56 ff. 48 So explizit BVerfGE 132, 99 Rz. 72 ff. 49 So explizit Habersack, ZHR 176 (2012), 463, 466 ff.; Klöhn, NZG 2012, 1041, 1045 ff.; weitere Nachw. bei Bayer, ZfPW 2015, 163, 190.

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dungspflicht für alle Aktionäre angeordnet, die sich in Folge des „verschmelzungsbedingten Delistings“ von ihrer Beteiligung trennen wollten.50 Zur allgemeinen Überraschung folgte der II. Zivilsenat dann aber im nachfolgenden FROSTA-­Beschluss51 der massiv von der Praktikerseite propagierten Gegenauffassung52 und distanzierte sich von seiner bisherigen Rechtsprechung. Er lehnte insbesondere auch die naheliegende Lösung ab, den Delisting-Schutz nunmehr auf eine Analogie zu § 29 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 Fall 2 UmwG zu stützen.53 Sein neues Ergebnis lautete vielmehr: Im Falle des Widerrufs der Zulassung einer Aktie zum Handel im regulierten Markt auf Veranlassung des Emittenten haben die Aktionäre keinen Anspruch auf eine Barabfindung.54 Basis der neuen Rechtsprechung war nunmehr allerdings die immanente Vorstellung, dass die vom Delisting betroffenen Aktionäre überhaupt keines Schutzes bedürften.55 Denn eine im verfassungsgerichtlichen Verfahren vorgelegte empirische Studie des Deutschen Aktieninstituts56 habe aufgezeigt, dass sich ein regelmäßiger Kursverlust nach Ankündigung des Börsenrückzugs nicht feststellen lasse. Ein Delisting gehöre daher genauso zum „allgemeinen Lebensrisiko eines Aktionärs“ wie eine negative wirtschaftliche Entwicklung des Unternehmens. Ein Bedürfnis für eine schutzorientierte Rechtsfortbildung sei daher nicht auszumachen.57 Zu dieser Fehleinschätzung konnte der II. Zivilsenat indes nur gelangen, weil er sich offenbar nur sehr rudimentär mit der relevanten Empirik auseinandergesetzt hat. Andernfalls hätte dem gesellschafts- und kapitalmarktrechtlichen Fachsenat sofort auffallen müssen, dass die DAI-Studie einen Auswertungszeitraum umfasste, in dem der umfangreiche Macrotron-Mechanismus vollumfänglich zur Anwendung kam, die Aktionäre somit optimal vor Kursverlusten geschützt waren.58 Die kritische Frage an die Adresse der DAI-Studie hätte lauten müssen: Wieso sollte es denn angesichts eines gerichtlich überprüfbaren Abfindungsangebots zum vollen Wert überhaupt zu Kursverlusten kommen? Das Ergebnis der DAI-Studie war somit als Grundlage für die Rechtsprechungswende durch FROSTA völlig unbrauchbar.59 Am Rande sei noch bemerkt: Die DAI-Studie wäre selbst dann nicht auf relevante Kursverluste gestoßen, wenn es solche im Zuge der Delisting-Ankündigung im 50 Näher zur Schaffung des § 29 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 Fall 2 UmwG durch das 2. UmwÄndG: Bayer, ZfPW 2015, 163, 186 m.w.N. 51 BGH AG 2013, 877 = JZ 2014, 145 m. abl. Anm. Habersack. 52 S.  nur Bungert/Wettich, DB 2012, 2265  ff.; Kiefner/Gillessen, AG 2012, 645  ff.; Goetz, BB 2012, 2767, 2771 ff. 53 BGH AG 2013, 877 Rz 8. 54 BGH AG 2013, 877 Rz 4, 10. 55 Ausf. (und kritisch) Bayer, ZfPW 2015, 163, 191 ff., 199 ff. 56 DAI-Stellungnahme zum Verfassungsbeschwerdeverfahren, zit. in Heldt/Royé, AG 2012, 660. 57 BGH AG 2013, 877 Rz. 4, 13. 58 Darauf kritisch hinweisend bereits Bayer/Hoffmann, AG 2013, R 371. 59 Näher Bayer, ZfPW 2015, 163, 199 ff.

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Macrotron-Zeitalter tatsächlich gegeben hätte. Denn das Studiendesign knüpfte allein an den Zeitpunkt der formalen Bekanntmachung des Widerrufs der Zulassung der Börsenzulassung an – nicht jedoch an den für die Kursrelevanz viel entscheidenderen Zeitpunkt der erstmaligen Bekanntmachung der Widerrufsabsicht.60 Dass dies unzutreffend ist, war indes – wie oben dargelegt – seit „Stollwerck“ Allgemeinwissen, nur drei Jahre später den nunmehrigen Senatsmitgliedern aber offenbar nicht (mehr) geläufig! Nachdem in Folge der verfehlten FROSTA-Entscheidung des BGH61 das Schutzre­ gime aus Macrotron weggefallen war, ein Delisting somit abfindungsfrei erfolgen konnte, machte sich die Praxis diesen „Freibrief “ reichlich zu Nutze, im Allgemeinen zum Vorteil des Großaktionärs und zum Nachteil des Streubesitzes, für den die nunmehr erfolgten zahlreichen Delistings regelmäßig mit Kursverlusten verbunden waren. Diese Kursverluste wurden zwischenzeitlich durch eine ganze Reihe rechtstatsächlicher Erhebungen belegt62 und ließen sich auch von Seiten der Praxis, die zuvor das FROSTA-Ergebnis im Sinne eines heftigen Lobbyings „herbeigeschrieben“ hatte,63 kaum noch leugnen. Obgleich der Gesetzgeber knapp zwei Jahre später der rechtspolitischen Forderung, den Aktionärsschutz beim Delisting wieder herzustellen,64 durch eine Korrektur des Börsengesetzes nachgekommen ist,65 hat die zwischenzeitliche „Lücke im Anlegerschutz“ bei zahlreichen Gesellschaften zu einer abfindungsfreien Verdrängung großer Teile des Streubesitzes geführt, verbunden mit erheblichen wirtschaftlichen Nachteilen und korrespondierenden Gewinnen für den das Delisting betreibenden Großaktionär. Es ist zu mutmaßen, dass der BGH, hätte er die wahren rechtstatsächlichen Folgen eines De­listings vor Augen gehabt, seine Entscheidung wohl anders getroffen hätte. Denn anstelle der nach Verwerfung des Art. 14 GG nunmehr naheliegenden Analogie zu § 29 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 Fall 2 UmwG macht der II. Zivilsenat in FROSTA geradezu akrobatische dogmatische Verrenkungen, um das in Verkennung der Schutzbe-

60 Kritisch zur Studie auch Konstantin Rutz, Delisting und Downgrading, 2015 S. 81 ff. (mit weiterer Fehlerbeschreibung). 61 S. nur Habersack, JZ 2014, 147 („Unglück“); abl. auch Spindler in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3.  Aufl. 2015, §  119 Rz.  54c  ff.; Hoffmann in Spindler/Stilz, AktG, 3.  Aufl. 2015, §  119 Rz. 39 ff.; zweifelnd aus der Praxis auch Schockenhoff, ZIP 2013, 2429 ff.; aus dem Notariat Tröder, notar 2014, 173, 174. Freudig dem „Geschenk“ zustimmend indes die Beratungspraxis; vgl. nur Paschos/Klaaßen, AG 2014, 33 ff.; Kocher/Widder, NJW 2014, 127 ff.; Wasmann/Glock, DB 2014, 105 ff.; Wieneke, NZG 2014, 22 ff.; Rosskopf, ZGR 2014, 487, 497 ff. 62 S. etwa Röder/Wessels, CF 2016, 357 ff.; Morell, ZBB 2016, 67 ff.; Überblick bei Bayer/Hoffmann, AG 2015, R 307 ff. sowie Karami/Schuster, CF 2016, 106 ff. 63 Näher Bayer, ZfPW 2015, 163, 191 m.w.N. 64 S. nur Bayer, ZIP 2015, 853, 857 ff., im Anschluss an Bayer, ZfPW 2015, 163 ff., 225 (rechtspolitischer Handlungsbedarf); ebenso Koch/Harnos, NZG 2015, 729  ff.; Wicke, DNotZ 2015, 488 ff.; vgl. aus der Beratungspraxis nunmehr auch Brellochs, AG 2014, 633, 644 f.; Buckel/Glindemann/Vogel, AG 2015, 373, 375. 65 Zum Gesetzgebungsverfahren und zum neuen § 39 BörsG näher Bayer, NZG 2015, 1169 ff.

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dürftigkeit der Aktionäre angestrebte Ergebnis der Abschaffung der Macrotron-­ Grundsätze irgendwie begründen und rechtfertigen zu können.66 Das Delisting-Beispiel zeigt anschaulich, dass „beim Kampf ums Recht“ (Jhering), der vielfach (und nicht erst heute) auch durch interessegeleitete Publikationen geführt wird, die Kenntnis der relevanten Rechtstatsachen nicht nur für den Gesetzgeber, sondern genauso für den Rechtswissenschaftler und die dogmatisch arbeitende Rechtsprechung von allergrößter Bedeutung ist.

V. Faktenstreit muss sein – empirische Grundlagen sind daher offenzulegen Nochmals zum Beginn dieses Beitrags zurück: Im Jahre 2009 erfolgte mit dem ARUG – wie bereits ausgeführt – ein erneuter Anlauf, das „Unwesen“ missbräuch­ licher Anfechtungsklagen gegen Hauptversammlungsbeschlüsse einzudämmen. Es galt daher herauszufinden, ob diese neue Gesetzesreform Wirkung gegenüber den sog. „Berufsklägern“ entfaltet und zur Einschränkung ihrer Klageaktivitäten geführt hatte. Eine Frankfurter Untersuchung, die parallel zu der vom Verfasser dieses Beitrags im Auftrag des Bundesministeriums der Justiz durchgeführten Studie67 erfolgte,68 kam (zunächst) zu dem Ergebnis, dass die Zahl der Berufskläger trotz des ARUG sogar noch zugenommen habe und ein weiteres Eingreifen des Gesetzgebers daher zwingend geboten sei,69 etwa durch die Begrenzung von Vergleichsmehrwerten.70 Man kann diese Divergenz nun als unterschiedliche „Meinung“ hinnehmen (entsprechend einer abweichenden Rechtsansicht) oder aber eine wissenschaftliche Auseinandersetzung über die Richtigkeit der aus dem empirischen Material gewonnenen Erkenntnisse führen. Grundlage hierfür ist allerdings, dass aus jeder empirischen Studie das detaillierte Studiendesign und auch  – soweit wie möglich  – die „Primärdaten“ erkennbar werden bzw. von Interessenten angefordert werden können. Seriöse wissenschaftliche Zeitschriften, die rechtstatsächliche Studien publizieren, sollten auf die Einhaltung solcher fundamentalen Regeln guter wissenschaftlicher Praxis unbedingt achten!71 Die Autoren der Frankfurter Studie haben im Sinne guter wissenschaftlicher Praxis in vorbildlicher Weise ihre Primärdaten offengelegt, namentlich zu den in der Studie identifizierten Berufsklägern. So konnten im Rahmen einer Überprüfung sehr schnell Unstimmigkeiten festgestellt werden, die ohne die Datenoffenlegung kaum nachvollziehbar gewesen wären. Es hätte allein die Möglichkeit einer vollständig eigenen Erhebung bestanden, die aber nicht die Begründung für mögliche Unterschiede in den 66 Nähere Kritik bei Bayer, ZfPW 2015, 163, 214 ff. m.w.N. 67 Dazu Bayer/Hoffmann/Sawada, ZIP 2012, 897 ff. 68 S. Baums/Drinhausen/Keinath, ZIP 2011, 2329 ff. 69 S. auch FAZ v. 28.10.2011, S. 20: „Weniger Anfechtungsklagen, aber mehr Berufskläger“. 70 Baums/Drinhausen/Keinath, ZIP 2011, 2329, 2349 f. 71 S. hierzu auch schon Bayer in FS Canaris, 2017, S. 319, 331 ff.

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Ergebnissen geliefert hätte. So aber konnte aus den offenbarten Primärdaten herausgefiltert werden, dass in der Nach-ARUG-Zeitspanne auch bloße Gesellschafter von Klagevehikeln in die Gesamtzahl der Berufskläger eingerechnet wurden,72 während eine solche Einbeziehung für die Vor-ARUG-Zeitspanne nicht erfolgte. Das erhöhte allein künstlich die Berufsklägerzahl für die Nach-ARUG-Zeitspanne. Weiterhin war aus der Beschreibung der Studienmethodik und aus weiteren Primärdaten (z.B. Aktenzeichen der einbezogenen Gerichtsverfahren) ersichtlich, dass ohne nähere Begründung zwei unterschiedlich lange Studienzeiträume zur Ermittlung der jeweiligen Berufsklägergruppe gewählt worden waren und zudem stichtagsmäßig nicht trennscharf zwischen der Vor-ARUG- und der Nach-ARUG-Zeit differenziert worden war.73 Alles in allem ließ sich die Behauptung, die Zahl der Berufskläger hätte sich trotz der gesetzgeberischen Anstrengungen im Rahmen des ARUG sogar noch erhöht, bei einer genauen Auswertung der offenbarten Primärdaten nicht mehr halten. Im Gegenteil: Die Zahl der Berufskläger ist seit dem ARUG – ganz unabhängig davon, ob das ARUG dafür allein oder zumindest teilweise kausal war – sogar deutlich gesunken.74 Dies ist heute unbestritten.75 Dass auch regierungsamtlich ermittelte Rechtstatsachen nicht frei von Irrtümern und die zugrunde liegenden Untersuchungen mit handwerklichen Fehlern behaftet sind, offenbart folgendes Beispiel: Im Sommer 2016 legten das Bundesfamilien- und das Bundesjustizministerium Zahlen zur gesetzlich neu implementierten „Frauenquote“ vor.76 Danach sollten zum damaligen Zeitpunkt angeblich rund 150 Unternehmen von der Pflichtquote für Frauen in Aufsichtsräten betroffen sein. Das lag deutlich über den bisherigen Schätzungen77 und wäre – sicher ganz im Sinne der Befürworter der Quotenregelung – ein Beleg für die doch sehr breite Reichweite der Pflichtquote. Die Veröffentlichung der einzelnen angeblichen Quotenunternehmen auf der Webseite des Bundesfamilienministeriums zeigte indes sehr schnell, dass die neue Statistik auf einer nur sehr unzureichenden Auseinandersetzung mit den Tatbestandsvoraussetzungen der Pflichtquote (volle Mitbestimmung und Börsennotierung i.S.v. § 3 Abs. 2 AktG) basierte. So wurden – ganz unabhängig vom tatsächlichen Mitbestimmungs­ regime, das in Folge eines Statusverfahrens nach §§ 97 ff. AktG festgelegt wird – Unternehmen pauschal als „voll mitbestimmt“ (bzw. entsprechend mitbestimmungspflichtig) gewertet, soweit mehr als 2.000 Arbeitnehmer ermittelt wurden. Mit Blick auf den maßgeblichen Arbeitnehmerschwellenwert für die volle Mitbestimmung hätte indes zwischen Inlands- und Auslandsbeschäftigten differenziert werden müssen. Unberücksichtigt blieb auch, dass bei Europäischen Aktiengesellschaften (SE) eine Mitbestimmungsfreiheit „eingefroren“ sein kann, so dass selbst bei deutlich mehr als 2.000 Inlandsbeschäftigten keine volle Mitbestimmung vorliegen muss und damit 72 Vgl. Bayer/Hoffmann, ZIP 2013, 1193, 1997 f. 73 Bayer/Hoffmann, ZIP 2013, 1193, 1996 f. 74 Ausf. Bayer/Hoffmann, ZIP 2013, 1193 ff. 75 Wie hier etwa auch Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 245 Rz. 22, § 246a Rz. 2; vgl. auch noch Bayer/Hoffmann, AG 2014, R 163 ff., R 283 ff. 76 Vgl. z.B. die Pressemitteilungen von Bundesfamilienministerium und Bundesjustizministerium v. 7.7.2016. 77 Z.B. BT-Drucks. 18/3784, S. 43.

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auch der Anwendungsbereich der Pflichtquote nicht eröffnet wäre. Entgegen der Legaldefinition wurden schließlich auch Unternehmen, die lediglich Schuldtitel, nicht jedoch Aktien am regulierten Markt zugelassen hatten, als börsennotiert (i.S.v. §  3 Abs.  2 AktG) gewertet. Kurzum: Die Zahl der (angeblich voll mitbestimmten und zugleich börsennotierten) Quotenunternehmen erwies sich als viel zu hoch gegriffen und im Rahmen einer Fehlerkorrektur erwies sich, dass die alten Schätzungen doch realistisch gewesen waren.78

VI. Aktuelle Problematik: Die Einsetzung eines Besonderen Vertreters gemäß § 147 AktG – ein neues Geschäftsmodell Die bereits weiter oben erwähnte „Jenaer Studie“ zu Beschlussmängelklagen aus dem Jahr 2011,79 aber auch anschließende kleinere Erhebungen in den Folgejahren,80 konnten einen deutlichen Rückgang der Aktivitäten sog. „Berufskläger“ feststellen. Wenn auch ein „harter Kern“ aus vornehmlich altbekannten Namen81 (mit deutlich geringeren Volumen) immer noch am „Markt“ aktiv zu sein scheint, so ist dem Geschäftsmodell „Berufskläger“ insbesondere seit dem ARUG doch ein deutlicher Schlag versetzt worden. Dagegen verdichtete sich zuletzt angesichts mehrerer bekannter Fälle der Eindruck eines neuen „Geschäftsmodells“, dessen Implementierung und Ausnutzung freilich deutlich höhere Anforderungen82 an die entsprechenden „Akteure“ stellt.83 Die Rede ist von der Einsetzung sog. „Besonderer Vertreter“ gemäß §  147 Abs. 2 AktG durch eine Minderheit von Aktionären – und zwar bei lediglich ins Blaue hinein behaupteten Ersatzansprüchen. Ist ein „Besonderer Vertreter“ (unter Ausschluss des Stimmrechts des Mehrheitsaktionärs) erst einmal bei einer Gesellschaft erfolgreich installiert, bahnt sich eine Kostenlawine zu Lasten der Gesellschaft an, die sich bei Weitem nicht in den Honoraransprüchen und Spesen des Besonderen Vertreters und der von ihm auf Kosten der Gesellschaft hinzugezogenen externen Berater erschöpft. Die bloße Erhebung einer Anfechtungsklage gegen den Bestellbeschluss des Besonderen Vertreters ändert daran bis zum rechtskräftigen Entscheid nichts. Mit einem einmal installierten Besonderen Vertreter haben die ihn tragenden Minderheitsaktionäre auch einen wichtigen Hebel (für andere Forderungen) in der Hand, ist 78 Näher Bayer/Hoffmann, AG 2016 R 235 ff. S. auch Handelsblatt v. 20.7.2016, S. 8 („Wirrwarr um die Frauenquote“). 79 Auszugsweise veröffentlicht in Bayer/Hoffmann/Sawada, ZIP 2012, 897 ff. S. auch ergänzend ­Bayer/​Hoffmann, ZIP 2013, 1193 ff. 80 Bayer/Hoffmann, AG 2012, R 107 f.; AG 2014, R 163 ff.; AG 2016, R 155 ff. 81 Noch immer – wenn auch im geringeren Ausmaß als früher – tauchten zuletzt Karl-Walter Freitag (inkl. Beteiligungen), Caterina Steeg und die „JKK Beteiligungs-GmbH“ im Zusammenhang mit Beschlussmängelklagen auf. Vgl. Bayer/Hoffmann, AG 2016, R 155, R 158.  82 Das heißt: Weder reicht hierfür (wie einst beim Berufskläger-Geschäftsmodell) die Beteiligung mit lediglich einer Aktie an der Gesellschaft aus, noch ist mit einem kurzfristigen „Erfolg“ zu rechnen. Statt der Erwartung eines schleunigen „Abkaufs“ der Klage (zur Überwindung der Registersperre) ist beim hier darzustellenden Geschäftsmodell ein längerer Atem gefragt. 83 Vgl. Bayer, AG 2016, 637 ff.

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doch eine schnelle Abberufung (und Beendigung der mit dem Vertreter verbundenen Kostenlast) gegen ihren Willen kaum (oder nur mit weiteren hohen Kostenaufwand oder ggf. durch einen Squeeze-Out) möglich. Eine aktuelle empirische Untersuchung84 des Instituts für Rechtstatsachenforschung zum Deutschen und Europäischen Unternehmensrecht konnte für den Zeitraum 2007 bis 2016 eine große Zahl von Fällen identifizieren, bei denen zumindest der Versuch unternommen worden ist, die Installation eines Besonderen Vertreters zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen auf die Hauptversammlungstagesordnung zu setzen. Nicht immer kam es dann auch tatsächlich zur Abstimmung und wenn, dann war nur ein Teil der durchgeführten Abstimmungen vom Erfolg für die Antragsteller gekrönt.85 Erfolg konnte regelmäßig dann erzielt werden, wenn das Stimmrecht eines Großaktionärs (bei behaupteten konzernrechtlichen Ansprüchen oder An­ sprüchen aus § 117 AktG) ausgeschlossen werden konnte.86 So war es unter Umständen (bei Squeeze-Out-nahen Gesellschaften) schon mit lediglich einem Prozent der auf der Hauptversammlung vertretenen Stimmen möglich, eine Vertreterbestellung „durchzuziehen“.87 Als Promotoren der Vertreterbestellung fungierten nicht selten aus dem Kreis der „aktivistischen Aktionäre“ und Berufskläger oder deren Umfeld bekannte Personen/Firmen, so etwa Veit Pass, Rolf Lägeler oder insbesondere auch die „Deutsche Balaton AG“ mit ihrem Aufsichtsratschef W.K.T. Zours.88 Zwischen diesen Promotoren bestehen zahlreiche Verknüpfungen.89 Besonders häufig wurde der Anwalt Thomas Heidel als Besonderer Vertreter nominiert – wenn nicht Heidel in anderer Rolle als anwaltlicher Vertreter der Initiatoren der Vertreterbestellung vor und/ 84 Bayer/Hoffmann, AG 2018, 337  ff. Grundlage der Untersuchung bildeten in erster Linie Auswertungen des Bundesanzeigers und Auswertungen von Hauptversammlungsprotokollen. Zudem wurden von der Vertreterbestellung betroffene Gesellschaften (mittels Fragebogen) als auch Besondere Vertreter (durch persönliche Gespräche) selbst befragt. 85 Im 10-jährigen Betrachtungszeitraum ließen sich über den Bundesanzeiger 74 Hauptversammlungen identifizieren, bei denen Abstimmungen gemäß § 147 AktG auf die Tagesordnung gebracht worden sind. 65 dieser Fälle konnten weiter ausgewertet werden, da hierfür die notwendigen Hauptversammlungsprotokolle im Elektronischen Handelsregisterportal  verfügbar waren. Nur auf 55 der 65 relevanten Hauptversammlungen wurde dann auch  tatsächlich über die Bestellung eines Besonderen Vertreters abgestimmt, wobei auf 23  Hauptversammlungen ein oder mehrere Abstimmungen gemäß §  147 AktG „erfolgreich“ waren. Vermutlich ließen sich jedoch nicht alle Vertreterbestellungen identifizieren, was am Umstand liegt, dass manche (geschlossene) Aktiengesellschaften nicht über den Bundesanzeiger, sondern per eingeschriebenen Brief zur Hauptversammlung einladen. Der Hinweis auf solche „Beschränkungen“ und die möglichen Auswirkungen auf den Aussagegehalt einer Untersuchung gehört zum Standard einer seriösen empirischen Studie. 86 Bayer/Hoffmann, AG 2018, 337, 344 f. 87 Zum „effektiven“ Stimmanteil der jeweils zur Durchsetzung der Bestellung eines Besonderen Vertreters genügt, s. Bayer/Hoffmann, AG 2018, 337, 343.  88 Nur kurze Zeit nach Studienveröffentlichung hat die „Deutsche Balaton AG“ auch bei der  „Bio­frontera AG“ (vgl. Bundesanzeiger-Bekanntmachung der „Biofrontera AG“ v. 15.6.2018) und der „Hyrican Informationssysteme AG“ (vgl. Bundesanzeiger-Bekanntmachung der „Hyrican Informationssysteme AG“ v. 12.7.2018) die Installation eines Besonderen Vertreters versucht. 89 S. Bayer/Hoffmann, AG 2018, 337, 352 ff.

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Rechtstatsachenforschung am Beispiel des Aktienrechts

oder auf den relevanten Hauptversammlungen agierte.90 Praktisch nie lagen vor der Bestellung des Besonderen Vertreters Ergebnisse einer einschlägigen Sonderprüfung vor.91 Ergebnis der Untersuchung war, dass die installierten Besonderen Vertreter bisher fast ausnahmslos keine Ersatzansprüche zu Gunsten der Gesellschaften einholen konnten, so dass am Ende nur mehr die Feststellung „Außer Spesen nichts gewesen“ bleibt.92 Einwenden kann man freilich, dass die Besonderen Vertreter nicht selten durch einen Squeeze-Out oder infolge einer nachträglichen wesentlichen Änderung der Aktionärsstruktur in der Gesellschaft ihre Organstellung verloren haben und insoweit auch gar keine Ansprüche mehr geltend machen konnten. Dieser Umstand ändert aber nichts daran, dass während der Zeit ihrer Tätigkeit zu Lasten der jeweiligen Gesellschaften hohe Kosten – mitunter Millionenbeträge – entstanden sind, denen jedoch keinerlei Ergebnisse im Sinne eingeholter Schadensersatzforderungen gegenüberstanden.93 Folglich haftet dem Einsatz Besonderer Vertreter aus Sicht der betroffenen Gesellschaften bisher ein katastrophales Kosten-Nutzen-Verhältnis an. Verdient haben letztlich die Besonderen Vertreter (und die von ihnen zu Lasten der Gesellschaft mandatierten weiteren Berater) – und das nach den vorliegenden Daten eindeutig nicht schlecht. So wichtig die in §  147 AktG innewohnende Präventionsfunktion im Hinblick auf mögliche Pflichtverletzungen von Organen/Großaktionären ist, so groß ist allerdings auch die Gefahr eines am Zweck des Rechtsinstituts vorbeigehenden (missbräuchli90 S. Bayer/Hoffmann, AG 2018, 337, 346 f. und 352 ff. Nach Studienveröffentlichung wurde Thomas Heidel erneut, diesmal im Fall „Biofrontera“, von der Minderheitsaktionärin „Deutschen Balaton AG“ als Besonderer Vertreter vorgeschlagen (vgl. Bundesanzeiger-Bekanntmachung der „Biofrontera AG“ v. 15.6.2018). 91 Bayer/Hoffmann, AG 2018, 337, 345 f. 92 Vorgefundene Gründe für die Beendigung der Tätigkeit als Besonderer Vertreter waren: „Abberufung (vor Durchführung oder Beendigung von Schadensersatzprozessen)“, „Abberufung nach Squeeze-Out bzw. verschmelzungsrechtlicher Squeeze-Out (vor Durchführung oder Beendigung von Schadensersatzprozessen)“, „Abschlussbericht ohne Anhaltspunkte“, „Eröffnung Insolvenzverfahren“, „formeller Aufhebungsbeschluss nach Nichtantritt Tätigkeit“, „Mandatsniederlegung nach Abweisung Auskunftsklage“ und „Nichtigkeit Bestellbeschluss“ (vgl. Bayer/Hoffmann, AG 2018, 337, 349, Diagramm 5 mit Angaben zur Verteilung). In all diesen Fällen konnten soweit ersichtlich durch den jeweiligen Besonderen Vertreter keine Ersatzansprüche zugunsten der Gesellschaft eingeholt werden. 93 Vgl. Bayer/Hoffmann, AG 2018, 337, 350 f. Die Kostenangaben wurden für die Studie seitens der hierzu befragten Unternehmen allerdings nur unter dem Vorbehalt der Anonymisierung zur Verfügung gestellt. Zu den typischen (und teilweise in den Befragungen mit genauen Zahlen unterlegten) Kosten gehörten: Honorare und Spesen für den Besonderen Vertreter, Honorare und Spesen für vom Besonderen Vertreter beauftrage Berater (darunter meist die eigene Kanzlei), Kosten für die Einrichtung eines Datenraums, Gerichtskosten (z.B. im Zusammenhang mit Auskunftsklagen), Kosten für die eigenen Rechtsberatung des Unternehmens bei der Auseinandersetzung mit dem Besonderen Vertreter, Kosten für Vorbereitung von durch den Besonderen Vertreter verlangte Unterlagen. Sämtliche Kosten gingen zu Lasten der von der Installation des Besonderen Vertreters betroffenen Gesellschaften.

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chen) Einsatzes. Dieser Gefahr könnte de lege lata allein dadurch begegnet werden, dass vor der Installation eines Besonderen Vertreters durch eine Aktionärsminderheit im Rahmen eines (im Kontext von § 122 Abs. 1, 2 AktG zu erfolgenden) gerichtlichen Prüfverfahrens festgestellt wird, ob aufgrund substantiiert behaupteter Tatsachen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit der Verdacht relevanter Pflichtverletzungen vorliegt, durch die der Gesellschaft ein kausaler Schaden entstanden ist.94 Es ist kein vernünftiger Grund ersichtlich, die Anforderungen an eine von einer Aktionärsminderheit beantragte Einsetzung eines Besonderen Vertreters anders auszugestalten als die Beantragung einer Sonderprüfung (vgl. § 142 Abs. 2 Satz 1 AktG) bzw. Aktionärs­ klage (vgl. §  148 Abs.  1 Satz 2 Nr.  3 und 4 AktG). Sollte sich diese Auffassung in der  Rechtsprechung trotz der nunmehr bekannten empirischen Erkenntnisse nicht durchsetzen, ist der Gesetzgeber aufgerufen, insoweit de lege ferenda für die nötige Klarstellung zu sorgen. Der Forderung, dass es statt der bloßen Behauptung relevanter Pflichtverletzungen richtigerweise eines begründeten Verdachts bedarf, mithin an der Notwendigkeit einer entsprechenden Vorprüfung, sollten sich auch seriöse Initiatoren einer Vertreterbestellung und als Besonderer Vertreter tätige Personen (in bewusster Abgrenzung zu „Schwarzen Schafen“ in diesem Bereich) im ureigenen Interesse selbst anschließen. Wenn die behaupteten Ersatzansprüche wirklich Substanz haben, dürften aus deren Perspektive keinerlei Bedenken gegen eine solche Vorprüfung bestehen, denn deren Ergebnis wäre dann ohnehin positiv. Die Einstellung zur Notwendigkeit eines gerichtlichen Prüfverfahrens in der rechtspolitischen Diskussion wäre insoweit ein „Lackmustest“, der zeigt, worauf es den Beteiligten bei der Vertreterbestellung letztlich wirklich ankommt. Das Prüfverfahren würde zwar auch die spätere vorzeitige Abberufung/Herausdrängung „seriöser“ Besonderer Vertreter vor Vollendung ihrer Aufgabe nicht zwingend verhindern. Zumindest wäre aber der Installation „unseriöser“ Besonderer Vertreter, die kostenintensiven Scheingefechten auf Basis unsubstantiiert behaupteter Ersatzansprüche nachgehen, ein Riegel vorgeschoben.

VII. Schluss Der Verfasser dieses Beitrages und unser Jubilar sind bei zahlreichen Gelegenheiten zusammengetroffen. Sehr positiv stand Ulrich Seibert stets der Rechtstatsachenforschung gegenüber, wie sie insbesondere vom Institut für Rechtstatsachenforschung zum Deutschen und Europäischen Unternehmensrecht der Friedrich-Schiller-Univer­ sität Jena praktiziert wird. Empirische Forschungen zum Unternehmensrecht sollten aus der heutigen Diskussion nicht mehr wegzudenken sein. Die hier angeführten Beispiele aus dem Aktienrecht verdeutlichen, warum dies der Fall ist.

94 So bereits Bayer, AG 2016, 637, 647 ff.

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Richterliche Rechtsfortbildung und ihre Grenzen Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Rechtsprechung zur Gesellschafterliste 1. Neuregelung der Gesellschafterliste durch das MoMiG 2. Umsetzung durch den Bundesgerichtshof a) BGH, Beschluss vom 20. September 2011 – II ZB 17/10 – Gutgläubiger ­Erwerb von Gesellschaftsanteilen b) BGH, Beschluss vom 17. Dezember 2013 – II ZB 6/13 – Beurkundung durch einen ausländischen Notar

c) BGH, Urteil vom 17. Dezember 2013 – II ZR 21/12 – Korrektur einer unrichtigen, vom Notar eingereichten Liste durch den Geschäftsführer 3. Änderung des § 40 GmbHG durch ­Gesetz vom 23. Juni 2017 III. Delisting 1. Sog. Macrotron-Rechtsprechung 2. BGH, Beschluss vom 8. Oktober 2013 – II ZB 26/12 (Frosta) 3. Gesetzliche Neuregelung des Delisting im Börsengesetz IV. Schlussbetrachtung

I. Einleitung Gesetzgebung und Rechtsprechung werden nach dem Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) von unterschiedlichen Organen ausgeübt. Gerichte dürfen daher grundsätzlich keine Befugnisse beanspruchen, die von der Verfassung dem Gesetzgeber übertragen worden sind, indem sie sich aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben und damit ihrer Bindung an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) entziehen. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts allerdings nicht im Sinne einer strikten Trennung der jeweiligen Funktionen und einer Monopolisierung jeder einzelnen bei einem bestimmten Organ ausgestaltet.1 Es ist dem Richter insbesondere nicht von Verfassungs wegen verboten, das Recht fortzuentwickeln. Wegen des immer schnelleren Wandels der gesellschaftlichen Verhältnisse und der notwendig generell-abstrakten Formulierung der Rechtsnormen sowie der begrenzten Reaktionsmöglichkeiten des Gesetzgebers gehört die Anpassung des geltenden Rechts an veränderte Verhältnisse vielmehr zu den Aufgaben der Dritten Gewalt.2 Dem Revisionsrichter ist sie durch Gesetz ausdrücklich aufgegeben, § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 1 ZPO. Der richterlichen Aufgabe und Befugnis zur „schöpferischen Rechtsfindung und Rechtsfortbildung“ sind mit Rücksicht auf den aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit unverzichtbaren Grundsatz der Gesetzesbindung der Rechtsprechung jedoch weitaus engere Grenzen gesetzt als der Gesetzgebung, die – wie folglich auch die in ihrem Aufgaben1 Vgl. insbesondere BVerfG v. 25.1.2011 – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193, 206 f. m.w.N. 2 BVerfG v. 25.1.2011 – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193, 210 m.w.N.

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bereich zur Gestaltung und Umsetzung des gesetzgeberischen Willens berufenen „­legal designer“  – lediglich die Schranken des Verfassungsrechts zu beachten hat (Art.  20 Abs. 3 GG). Aus dem Grundsatz der Gesetzesbindung folgt vor allem, dass der Richter nicht im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung seine eigenen Vorstellungen von materieller Gerechtigkeit oder auch nur von der Effektivität oder dem sonstigen Nutzen eines Gesetzes an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzen darf. Der Richter muss vielmehr die gesetzgeberische Grundentscheidung respektieren und den Willen des Gesetzgebers unter gewandelten Bedingungen möglichst zuverlässig zur Geltung bringen.3 Zu diesem Zweck hat er die Gesetze nach den anerkannten Methoden auszulegen. Neben dem Wortlaut und dem systematischen Zusammenhang der in Rede stehenden Vorschriften geben dabei regelmäßig die Gesetzgebungsmaterialien maßgebliche Anhaltspunkte für die Ermittlung der Grundentscheidung des Gesetzgebers und der mit der auszulegenden Regelung verfolgten Ziele. Die Grenzziehung zwischen der zulässigen Fortbildung des Rechts in Umsetzung der gesetzgeberischen Grundkonzeption und der unzulässigen „Verbesserung“ oder „Ergänzung“ der in ihrem Regelungsumfang bewusst beschränkten Normsetzung des Gesetzgebers nach eigenen Vorstellungen des Gerichts ist im konkreten Einzelfall allerdings nicht leicht zu erkennen. Wie sie in der jüngeren Rechtsprechung des II. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs gehandhabt worden ist, soll im Folgenden anhand von Entscheidungen zur Gesellschafterliste und zum Delisting beispielhaft aufgezeigt werden, in denen die von Stimmen im Schrifttum geforderte „Vervollständigung“ einer als lückenhaft kritisierten gesetzlichen Regelung sowie die Fortführung einer früheren Rechtsprechung unter dem Gesichtspunkt der richterlichen Rechtsfortbildung unter Berufung auf den insbesondere aus den Gesetzgebungsmaterialien erkennbaren Willen des Gesetzgebers abgelehnt worden ist.

II. Rechtsprechung zur Gesellschafterliste 1. Neuregelung der Gesellschafterliste durch das MoMiG4 Mit der Änderung der Bestimmungen zur Gesellschafterliste durch das MoMiG hat der Gesetzgeber ausweislich der Begründung des Gesetzesentwurfs neben dem konkreten Ziel der Missbrauchsbekämpfung auch das allgemeine Anliegen verfolgt, Transparenz über die Anteilseignerstrukturen der GmbH zu schaffen und Geldwäsche zu verhindern.5 Es sollte daher die Richtigkeitsgewähr der Gesellschafterliste gegenüber dem früheren Recht erhöht werden, auch weil mit dem neuen § 16 Abs. 3 GmbHG der gutgläubige Erwerb von Geschäftsanteilen ermöglicht wurde.6 Zu diesem Zweck ist zum einem durch die Neufassung des § 40 Abs. 2 GmbHG der Notar 3 BVerfG v. 25.1.2011 – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193, 210 m.w.N. 4 Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen vom 23.10.2008, BGBl. I 2008, 2026. 5 BT-Drucks. 16/6140, S. 37. 6 BT-Drucks. 16/6140, S. 43.

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verstärkt in die Aktualisierung der Gesellschafterliste einbezogen.7 Zum anderen gilt gemäß § 16 Abs. 1 Satz 1 GmbHG in Anlehnung an die Regelungsstruktur des § 67 Abs.  2 AktG im Verhältnis zur GmbH nunmehr nur der in der Gesellschafterliste Eingetragene als Gesellschafter. Die Gesellschafterliste wird allerdings weiterhin privat geführt und das Handelsregister ist nicht prüfende, sondern nur verwahrende und eine die allgemeine Kenntnisnahme ermöglichende Stelle.8 Dass damit ein vollständiger Gleichlauf zum guten Glauben an den Inhalt des Grundbuchs nicht möglich ist, soll nach den Gesetzgebungsmaterialien hinsichtlich der Möglichkeit des gutgläubigen Erwerbs die Erreichung des gesetzgeberischen Ziels nicht hindern. Dieses wird darin gesehen, den an der Abtretung beteiligten Personen die Mühen, Kosten und Unsicherheiten der mitunter sehr langen Abtretungskette seit Gründung der Gesellschaft zu ersparen. Es gehe vor allem um Rechtssicherheit über längere Zeiträume.9 Trotz der stärkeren Einbeziehung des Notars ist die Pflicht der Geschäftsführer bestehen geblieben, die Liste neu zu formulieren und zu unterzeichnen. Hat ein Notar an einer Veränderung mitgewirkt, entfällt zwar die Verpflichtung der Geschäftsführer zur Erstellung und Einreichung einer Liste, die diese Veränderung umsetzt. Der Geschäftsführer bleibt aber zur nachfolgenden Kontrolle und zur Korrektur einer aus anderen Gründen unrichtigen Liste verpflichtet.10 2. Umsetzung durch den Bundesgerichtshof Infolge der Neufassung der §§ 16, 40 GmbHG durch das MoMiG sah sich der II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs in einer Reihe von Entscheidungen vor die Aufgabe gestellt, den Umfang der vom Gesetzgeber beabsichtigten Aufwertung der Gesellschafterliste gegenüber der früheren Regelung näher zu bestimmen. Im Folgenden sollen drei Entscheidungen, mit denen der Senat die Reichweite der Wirkungen der Gesellschafterliste näher konkretisiert hat, unter dem Gesichtspunkt der Grenzen richterlicher Rechtsfindung näher in den Blick genommen werden. a) BGH, Beschluss vom 20. September 2011 – II ZB 17/10 – Gutgläubiger Erwerb von Gesellschaftsanteilen Mit Beschluss vom 20. September 2011 – II ZB 17/1011 ist entschieden worden, dass ein aufschiebend bedingt abgetretener Geschäftsanteil nicht nach § 161 Abs. 3 BGB in Verbindung mit § 16 Abs. 3 GmbHG vor Bedingungseintritt von einem Zweiterwerber gutgläubig erworben werden kann.12 Zur Begründung hat der Bundesgerichtshof darauf abgestellt, dass nach § 16 Abs. 3 GmbHG die Gesellschafterliste Anknüpfungspunkt für den gutgläubigen Erwerb eines Geschäftsanteils ist. Die Rechtsscheinwirkungen des § 16 Abs. 3 GmbHG könnten nur so weit gehen, wie die Gesellschafter­liste 7 BT-Drucks. 16/6140, S. 44. 8 BT-Drucks. 16/6140, S. 38. 9 BT-Drucks. 16/6140, S. 38. 10 BT-Drucks. 16/6140, S. 44. 11 BGHZ 191, 84.  12 BGHZ 191, 84 Rz. 14.

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als Rechtsscheinträger den für den Rechtsverkehr maßgeblichen Vertrauenstatbestand begründen könne. Die Liste treffe aber nur eine Aussage über die Gesellschafterstellung und nicht über die Belastung des Geschäftsanteils mit einem Anwartschaftsrecht. Demnach erfasse die Reichweite des Gutglaubensschutzes der Gesellschafterliste nur den guten Glauben an die Rechtsinhaberschaft des eingetragenen Gesellschafters. Auch nach der Gesetzesbegründung13 solle durch § 16 Abs. 3 GmbHG der gutgläubige Erwerb von Geschäftsanteilen nur insoweit ermöglicht werden, als der Erwerber darauf solle vertrauen dürfen, dass die in der Gesellschafterliste verzeichnete Person auch wirklich Gesellschafter sei.14 Dass der Gesetzgeber nur einen beschränkten Gutglaubensschutz gewähren wollte, wird in dem Beschluss vom 20. September 2011 weiter daraus hergeleitet, dass nach den Gesetzgebungsmaterialien15 ein vollständiger Gleichlauf zum guten Glauben an den Inhalt des Grundbuchs wegen des Fehlens einer strengen, objektiven und vorgelagerten Richtigkeitsprüfung für nicht möglich erachtet und für die Erreichung des gesetzgeberischen Ziels auch als nicht erforderlich angesehen wird.16 Ergänzend wird in der Entscheidung vom 20. September 2011 angeführt, dass der Gesetzgeber es bewusst in Kauf genommen habe, dass das gesetzgeberische Ziel, die bei der Abtretung gebotenen Prüfungen zu vereinfachen und die damit verbundenen Kosten zu senken, angesichts der aufgezeigten Grenzen der Legitimationswirkung der Gesellschafterliste hinsichtlich dinglicher Belastungen und im Gesellschaftsvertrag angeordneter Verfügungsbeschränkungen ohnehin nur eingeschränkt erreicht werden könne. Trotz intensiver Diskussion im Gesetzgebungsverfahren sei der gutgläubige Erwerb in Bezug auf Pfandrechte oder Nießbrauchrechte an Geschäftsanteilen nicht in den Regelungsbereich des § 16 Abs. 3 GmbHG aufgenommen worden.17 Diese Erwägungen lassen sich unter dem Gesichtspunkt der kompetenzrechtlichen Abgrenzung dahingehend zusammenfassen, dass angesichts des insbesondere aus den Gesetzgebungsmaterialien ersichtlichen gesetzgeberischen Ziels und des zu dessen Umsetzung gewählten Konzepts, nämlich den mit § 16 Abs. 3 GmbHG ermöglichten gutgläubigen Erwerb hinsichtlich des mit der Gesellschafterliste verbundenen Vertrauensschutzes bewusst auf das Vertrauen in den durch die Liste ausgewiesenen aktuellen und lückenlosen Gesellschafterbestand zu beschränken, eine Erweiterung auf Fälle der fehlenden Verfügungsmacht des in der Gesellschafterliste eingetragenen (wahren) Gesellschafters über diese Regelungskonzeption hinausgeht und daher von der richterlichen Befugnis zur Rechtsfortbildung nicht mehr gedeckt ist. b) BGH, Beschluss vom 17. Dezember 2013 – II ZB 6/13 – Beurkundung durch einen ausländischen Notar Die Frage, ob nach Inkrafttreten des MoMiG eine nach dem GmbHG erforderliche Beurkundung durch einen ausländischen Notar vorgenommen werden und dieser 13 Vgl. Regierungsentwurf zum MoMiG, BT-Drucks. 16/6140, S. 38. 14 BGH v. 20.9.2011 – II ZB 17/10, BGHZ 191, 84 Rz. 16 f. 15 Vgl. Regierungsentwurf zum MoMiG, BT-Drucks. 16/6140, S. 38. 16 BGH v. 20.9.2011 – II ZB 17/10, BGHZ 191, 84 Rz. 20. 17 BGH v. 20.9.2011 – II ZB 17/10, BGHZ 191, 84 Rz. 22.

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zur Einreichung der Gesellschafterliste berechtigt sein kann, hat der II. Zivilsenat mit Beschluss vom 17. Dezember 2013 – II ZB 6/1318 gleichfalls unter Rückgriff auf den aus der Gesetzesbegründung ersichtlichen Willen des Gesetzgebers entschieden und für den Fall bejaht, dass die ausländische der deutschen Beurkundung gleichwertig ist. Die dabei erforderliche Bestimmung der Rolle und des Aufgabenbereichs des Notars bei der Beurkundung und der Abwicklung von Anteilsabtretungen hat der Senat auch hier maßgeblich unter Zugrundelegung aus den Gesetzesmaterialien ersichtlicher Erwägungen des Gesetzgebers vorgenommen. So ist entgegen einer im Schrifttum vertretenen Meinung19 angenommen worden, dass aus der Begründung des Regierungsentwurfs zur Neufassung von § 16 Abs. 1 GmbHG, wonach „die Bestimmungen zur Gesellschafterliste bereits durch das Handelsrechtsreformgesetz vom 22. Juni 1998 nachgebessert und verschärft worden“ seien, jedoch weiterhin „Lücken“ bestünden, „z.B. bei der Auslandsbeurkundung, die nunmehr geschlossen“ würden,20 nicht hergeleitet werden könne, dass eine Beurkundung durch einen im Ausland ansässigen Notar im Bereich des GmbHG gänzlich ausgeschlossen werden sollte.21 Die Begründung des Regierungsentwurfs des Handelsrechtsreformgesetzes von 1997 habe den aufgrund fehlender Mitteilungspflicht des ausländischen Notars bestehenden Missstand bereits vorausgesehen, aber hin­ genommen und sei damit explizit von der Wirksamkeit der Auslandsbeurkundung ausgegangen.22 Es liege nahe, dass eine etwaige Abkehr hiervon in der Gesetzesbegründung zum MoMiG eindeutig erläutert worden wäre. In den Gesetzesmaterialien zu §  16 GmbHG23 werde in diesem Zusammenhang aber lediglich ausgeführt, die Aufwertung der Gesellschafterliste werde dazu führen, dass auch im Falle der Auslandsbeurkundung von Seiten der Gesellschafter aus Eigeninteresse ein stärkeres Augenmerk darauf gerichtet werde, Veränderungen jeweils durch Einreichung einer aktuellen Gesellschafterliste publik zu machen, und dass bis dahin in der Praxis häufig anzutreffende Nachlässigkeiten für die Zukunft nicht mehr zu erwarten seien, womit das Ziel der Neuregelung, den Gesellschafterbestand stets aktuell, lückenlos und unproblematisch im Handelsregister nachvollziehbar zu machen, erreicht werde. Der Senat hat daraus geschlossen, dass es dem Gesetzgeber demnach nicht erforderlich erschien, die Auslandsbeurkundungen generell auszuschließen. Die gesteigerte Bedeutung der Gesellschafterliste und das damit einhergehende gewachsene Interesse an ihrer materiellen Richtigkeit rechtfertigen nach Ansicht des Senats keine andere Beurteilung.24 Die verstärkte Einbeziehung des Notars in die Aktualisierung der Gesellschafterliste werde in den Gesetzesmaterialien in erster Linie mit verfahrensökonomischen Erwägungen begründet, wobei allerdings auch die mit der vorangehenden Mitwirkung des Notars an der Veränderung und seiner Beschei18 BGH v. 17.12.2013 – II ZB 6/13, BGHZ 199, 270 Rz. 13. 19 Vgl. Bauer/Anders, BB 2012, 593, 595; Süß, DNotZ 2011, 414, 422 f. 20 BT-Drucks. 16/6140, S. 37. 21 BGH v. 17.12.2013 – II ZB 6/13, BGHZ 199, 270 Rz. 19. 22 Vgl. BR-Drucks. 340/97, S. 80. 23 BT-Drucks. 16/6140, S. 38. 24 BGH v. 17.12.2013 – II ZB 6/13, BGHZ 199, 270 Rz. 22.

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nigung nach § 40 Abs. 2 Satz 2 GmbHG verbundene Erhöhung der Richtigkeitsgewähr der Liste anerkannt wird. Dem Notar komme nach der gesetzgeberischen Konzeption aber nicht die Alleinzuständigkeit für die Einreichung der Gesellschafterliste zu und die Publizitätswirkungen des § 16 GmbHG träten auch in den Fällen einer Veränderung in den Personen der Gesellschafter oder des Umfangs ihrer Beteiligung ein, bei denen die mit der Gesellschafterliste dem Registergericht bekanntzugebende  Veränderung nicht durch einen Notar beurkundet werden müsse, also der Geschäftsführer, der oftmals juristischer Laie sei, die Gesellschafterliste erstelle. Eine Beschränkung auf inländische Notare könne deshalb – unabhängig von der Frage, welche Prüfungspflicht den Notar hinsichtlich der inhaltlichen Richtigkeit der Gesellschafterliste treffe – nicht damit begründet werden, dass deutsche Notare zur Prüfung besser geeignet seien als ausländische und deshalb die gewünschte materielle Richtigkeit der Gesellschafterliste eher gewährleisten könnten.25 Zudem schlössen sich die Zuständigkeiten des Geschäftsführers und des an der Beurkundung beteiligten Notars nach § 40 Abs. 1 und 2 GmbHG nicht gegenseitig aus. In § 40 GmbHG sei lediglich bezüglich der Verpflichtung zur Einreichung der Gesellschafterliste geregelt, dass diese alternativ den Geschäftsführer oder den beteiligten Notar treffe. Dagegen könne eine Berechtigung des Geschäftsführers, die Liste einzureichen, auch in den Fällen bestehen, in denen der Notar gemäß § 40 Abs. 2 GmbHG zur Einreichung verpflichtet sei. Für den umgekehrten Fall, dass ein beteiligter Notar nicht zur Einreichung der Gesellschafterliste verpflichtet sei, gelte nichts anderes. Er könne gleichwohl dazu berechtigt sein.26 Die Intention des Gesetzgebers, die Richtigkeitsgewähr der Gesellschafterliste auch durch eine verstärkte Einbeziehung des beurkundenden Notars zu erhöhen, hat der Senat demnach im Zusammenhang der Neuregelung und der aus den Gesetzgebungsmaterialien erkennbaren Konzeption dahin verstanden, dass die Verstärkung der notariellen Mitwirkung jedoch nicht in Richtung einer Alleinzuständigkeit des deutschen Notars gehen sollte, insbesondere nicht unter Ausschluss ausländischer Notare und einer Beschränkung der Zuständigkeit des Geschäftsführers auf eine Nebenrolle in einigen wenigen verbleibenden Fällen. c) BGH, Urteil vom 17. Dezember 2013 – II ZR 21/12 – Korrektur einer unrichtigen, vom Notar eingereichten Liste durch den Geschäftsführer Dieses Verständnis hat der Senat auch seinem am selben Tage verkündeten Urteil vom 17. Dezember 2013 – II ZR 21/1227 bei der Entscheidung der umstrittenen Frage zugrunde gelegt, ob der Geschäftsführer zur Korrektur einer unrichtigen, vom Notar nach § 40 Abs. 2 Satz 1 GmbHG eingereichten Gesellschafterliste befugt ist. Er hat sie unter Hinweis darauf bejaht, dass die Befugnis des Geschäftsführers zur Korrektur auch dem Willen des Gesetzgebers entspreche, der ausweislich der Begründung des 25 BGH v. 17.12.2013 – II ZB 6/13, BGHZ 199, 270 Rz. 22. 26 BGH v. 17.12.2013 – II ZB 6/13, BGHZ 199, 270 Rz. 12 unter Bezugnahme auf BGH v. 17.12.2013 – II ZR 21/12, ZIP 2014, 216 Rz. 32 ff. 27 ZIP 2014, 216.

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Regierungsentwurfs28 von einer entsprechenden Befugnis ausgegangen sei. In diesem Zusammenhang wird weiter ausgeführt, dass die verstärkte Einbeziehung des Notars in die Aktualisierung der Gesellschafterliste, auch wenn mit ihr eine höhere Richtigkeitsgewähr der Liste einhergehen könne, nicht für eine ausschließliche Korrekturzuständigkeit des Notars spreche. Die Einbeziehung des Notars werde in den Gesetzesmaterialien nicht mit einer höheren Richtigkeitsgewähr, sondern damit begründet, dass durch die Einreichung einer neuen Liste durch den an der Abtretung eines Geschäftsanteils mitwirkenden Notar das Verfahren besonders einfach und unbürokratisch werde. Eine Erhöhung der Richtigkeitsgewähr sähen die Gesetzesmaterialien in der nach §  40 Abs.  2 Satz  2 GmbHG vorgesehenen Bescheinigung des Notars und seiner Mitwirkung an der Veränderung, also nicht in der Mitwirkung an der Listenführung. Dass die Verpflichtung des Notars in § 40 Abs. 2 Satz 1 GmbHG zur Einreichung einer geänderten Gesellschafterliste tatsächlich die Zuverlässigkeit der Gesellschafterliste im Fall von Veränderungen erhöhen könne, spreche danach nicht für eine Verdrängung der Korrekturzuständigkeit des Geschäftsführers. Ein Anlass für den Geschäftsführer, eine korrigierte Gesellschafterliste einzureichen, bestehe nur, wenn er die veränderte Gesellschafterliste für unrichtig halte. Dann bestehe in der Regel Streit um den Gesellschafterbestand. Die Zuverlässigkeit der Listenführung sei davon nicht betroffen, und zur Streitentscheidung habe der Notar nicht berufen werden sollen.29 3. Änderung des § 40 GmbHG durch Gesetz vom 23. Juni 2017 Der Gesetzgeber hat mit Art. 14 des Gesetzes zur Umsetzung der Vierten EU-Geldwäscherichtlinie, zur Ausführung der EU-Geldtransferverordnung und zur Neuorganisation der Zentralstelle für Finanzdienstleistungsleistungen vom 23.  Juni 2017 (BGBl. I 2017, 1822) in § 40 Abs. 1 GmbHG zusätzliche Angaben zu den Gesellschaftern sowie zwingende Angaben zu Gesellschaften als Gesellschafter einer GmbH gesetzlich festgeschrieben und in Absatz 4 die Ermächtigung erteilt, durch Rechtsverordnung nähere Bestimmungen über die Ausgestaltung der Gesellschafterliste zu treffen.30 Er hat dagegen in den Problembereichen der dargestellten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Gesellschafterliste keine Änderungen oder Klarstellungen vorgenommen und ist – jedenfalls bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt – insbesondere der im Schrifttum erhobenen rechtspolitischen Forderung nach einer weiteren Aufwertung der Gesellschafterliste durch Aufnahme ergänzender Informationen sowie einer ausschließlichen Zuständigkeit des deutschen Notars für die Listenänderung und -einreichung31 nicht nachgekommen. Das spricht für die Annahme, dass die dargestellte Rechtsprechung die gesetzgeberische Intention nicht grundsätzlich verfehlt zu haben scheint.

28 BT-Drucks. 16/6140, S. 44. 29 BGH v. 17.12.2013 – II ZR 21/12, ZIP 2014, 216 Rz. 34. 30 Vgl. dazu Seibert/Bochmann/Cziupka, GmbHR 2017, R 241. 31 Vgl. nur Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl., § 40 Rz. 4 m.w.N.

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III. Delisting 1. Sog. Macrotron-Rechtsprechung Mit Beschluss vom 8. Oktober 2013 – II ZB 26/1232 hat der II. Zivilsenat unter Aufgabe der sog. Macrotron-Rechtsprechung33 entschieden, dass die Aktionäre bei einem Widerruf der Zulassung der Aktie zum Handel im regulierten Markt auf Veranlassung der Gesellschaft keinen Anspruch auf eine Barabfindung haben und es weder eines Beschlusses der Hauptversammlung noch eines Pflichtangebotes bedarf. In der Macrotron-Entscheidung vom 25. November 2002 war noch davon ausgegangen worden, dass für die Minderheits- und Kleinaktionäre, deren Engagement bei einer Ak­ tiengesellschaft allein in der Wahrnehmung von Anlageinteressen bestehe, der Wegfall des Handels im regulierten Markt wirtschaftlich gravierende Nachteile mit sich bringe, die auch nicht durch die Einbeziehung der Aktien in den Freihandel ausgeglichen werden könnten, und dass daher der verfassungsrechtliche Schutz des Aktieneigentums der Minderheitsaktionäre gebiete, ihnen mit dem Beschlussantrag an die Hauptversammlung, die über den Widerruf der Börsenzulassung zu entscheiden habe, ein Pflichtangebot über den Kauf ihrer Aktien durch die Gesellschaft oder ihren Großaktionär vorzulegen.34 Dieser Rechtsprechung wurde durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Juli 2012, nach der der Widerruf der Börsenzulassung für den regulierten Markt den Schutzbereich des Eigentumsgrundrechts des Aktionärs nicht berührt,35 die auf den verfassungsrechtlichen Schutz des Aktien­eigentums abstellende Grundlage entzogen. Der Widerruf der Börsenzulassung nimmt nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts dem Aktionär keine Rechtspositionen, die ihm von der Rechtsordnung als privatnützig und für ihn verfügbar zugeordnet sind; er lasse die Substanz des Anteilseigentums in seinem mitgliedschaftsrechtlichen und seinem vermögensrechtlichen Element unbeeinträchtigt. Zu dem von Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Bestand zähle nur die rechtliche Verkehrsfähigkeit, während die tatsächliche Verkehrsfähigkeit eine schlichte Ertrags- und Handelschance sei.36 2. BGH, Beschluss vom 8. Oktober 2013 – II ZB 26/12 (Frosta) Eine Herleitung entsprechender Ansprüche der Minderheitsaktionäre aus dem einfachen Recht war schon in der Macrotron-Entscheidung verneint worden.37 In seinem Beschluss vom 8. Oktober 2013 hat der Senat an dieser Beurteilung festgehalten. Er hat sowohl eine entsprechende Anwendung von § 207 UmwG als auch die Herleitung eines Pflichtangebots aus § 243 Abs. 2 Satz 2 AktG wie auch eine Gesamtanalogie zu gesetzlichen Regelungen anderer gesellschaftsrechtlicher Strukturmaßnahmen ver-

32 ZIP 2013, 2254. 33 BGH v. 25.11.2002 – II ZR 133/01, BGHZ 153, 47 Rz. 24 ff. 34 BGH v. 25.11.2002 – II ZR 133/01, BGHZ 153, 47 Rz. 24 ff. 35 BVerfG v. 11.7.2012 – 1 BvR 3142/07, 1 BvR 1569/08, BVerfGE 132, 99. 36 BVerfG v. 11.7.2012 – 1 BvR 3142/07, 1 BvR 1569/08, BVerfGE 132, 99 Rz. 51 ff. 37 Vgl. BGH v. 25.11.2002 – II ZR 133/01, BGHZ 153, 47 Rz. 23.

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neint.38 Zu der im Schrifttum39 befürworteten entsprechenden Anwendung von § 29 Abs. 1 Satz 1 Fall 2 UmwG hat der Senat ausgeführt, dieser Vorschrift könne nicht entnommen werden, dass der Gesetzgeber damit einen allgemeinen Grundsatz habe anerkennen wollen, dass der Wechsel aus dem regulierten Markt in jedem Fall zu einer Abfindung führe. Dem Anerkenntnis eines solchen allgemeinen Grundsatzes stehe entgegen, dass für andere Fälle des „kalten“ Delistings, in denen Maßnahmen auf indirektem Weg zur Beendigung der Zulassung führen könnten, wie bei der Eingliederung in eine nicht börsennotierte Aktiengesellschaft, keine Barabfindung vorgesehen sei (§ 320b Abs. 1 Satz 2 AktG). Die Gesetzesbegründung verweise auch nicht auf einen allgemeinen Grundsatz, sondern sehe nur in der faktischen Erschwernis der Veräußerbarkeit der Aktien einen Grund zur Gleichbehandlung mit der Verschmelzung auf einen nicht börsenfähigen Rechtsträger.40 Bis zur Einfügung von § 29 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 Fall 2 UmwG seien die Aktionäre vor einer Beeinträchtigung durch das „kalte“ Delisting bei der Verschmelzung einer börsennotierten Aktiengesellschaft auf eine nichtbörsennotierte Aktiengesellschaft nicht geschützt gewesen. Für das reguläre Delisting enthalte dagegen bereits § 39 Abs. 2 Satz 2 BörsenG eine Regelung, wonach der Widerruf nicht dem Schutz der Anleger widersprechen dürfe.41 Dass nur der spezielle Fall des sogenannten „kalten“ Delistings bei der Verschmelzung einer börsennotierten Aktiengesellschaft auf eine nicht börsennotierte Aktiengesellschaft geregelt werden sollte und § 29 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 Fall 2 UmwG nicht Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes ist, nach dem der Rückzug von der Börse mit einem Barabfindungsangebot einhergehen muss, folgt nach Ansicht des Senats auch aus der Gesetzgebungsgeschichte des zweiten Gesetzes zur Änderung des Umwandlungsgesetzes. Der Bundesrat habe unter Berufung auf das Macrotron-Urteil des Senats42 darum gebeten, die Aufzählung der dem Spruchverfahrensgesetz unterliegenden Verfahren in § 1 SpruchG um das Delisting zu erweitern.43 Die Bundesregierung habe dies in ihrer Gegenäußerung44 abgelehnt, weil die Diskussion in Wissenschaft und Praxis über die Voraussetzungen und Rechtsfolgen des Delistings andauere und der Gesetzgeber keine vorschnelle Antwort geben solle.45 Weiter hat der Senat darauf hingewiesen, dass der Schutz der Anleger in § 39 Abs. 2 Satz 2 BörsG (a.F.) geregelt sei. Dass dieser Schutz unzureichend sei, lasse sich nicht feststellen.46 Wenn die Anleger in der Verwaltungspraxis nicht ausreichend geschützt würden, sei einer unzutreffenden Anwendung von § 39 Abs. 2 Satz 2 BörsenG (a.F.) mit den verwaltungsrechtlichen, auch aufsichtsrechtlichen Mitteln zu begegnen. § 39 38 BGH v. 8.10.2013 – II ZB 26/12, ZIP 2013, 2254 Rz. 5 ff. 39 Vgl. Habersack, ZHR 176 (2012), 463, 464 f.; Klöhn, NZG 2012, 1041, 1045. 40 Regierungsentwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Umwandlungsgesetzes, BTDrucks. 16/2919, S. 13. 41 BGH v. 8.10.2013 – II ZB 26/12, ZIP 2013, 2254 Rz. 8. 42 BGH v. 25.11.2002 – II ZR 133/01, BGHZ 153, 47. 43 BR-Drucks. 548/06, S. 10. 44 BT-Drucks. 16/2919, S. 28. 45 BGH v. 8.10.2013 – II ZB 26/12, ZIP 2013, 2254 Rz. 9. 46 BGH v. 8.10.2013 – II ZB 26/12, ZIP 2013, 2254 Rz. 13.

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Abs. 2 Satz 2 BörsenG (a.F.) biete ausreichende Ansatzpunkte für einen angemessenen, mit Widerspruch und Anfechtungsklage gegen den Widerruf der Zulassung durchsetzbaren Schutz der betroffenen Aktionäre. Hierdurch könne ein effektiver Rechtsschutz auch unabhängig von einer Erstreckung der grundrechtlichen Eigentumsgarantie nach Art. 14 GG auf die durch eine Börseneinführung gesteigerte Verkehrsfähigkeit der Aktien gewährleistet werden. Soweit der Gesetzgeber im Kapitalmarktrecht den Anlegerschutz allein öffentlich-rechtlich ausgestaltet habe, sei eine Ergänzung durch einen zivilrechtlichen Anspruch der Anleger nicht schon deshalb veranlasst, weil ein individuell durchsetzbarer Anspruch für sinnvoll oder effektiver gehalten werde.47 Das Bundesverfassungsgericht hat die Änderung der Macrotron-Rechtsprechung durch die Senatsentscheidung vom 8. Oktober 2013 und deren Anwendung in vor der Rechtsprechungsänderung eingeleiteten Spruchverfahren mit Beschluss vom 5. Oktober 2015 als verfassungsrechtlich unbedenklich angesehen; sie sei hinreichend begründet und halte sich im Rahmen einer nicht unvorhergesehenen Entwicklung.48 In diesem Zusammenhang hat es ausgeführt, dass es sich schon nicht um eine in jeder Hinsicht gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung gehandelt habe. Der Macrotron-Entscheidung lasse sich nicht entnehmen, aus welcher materiell-rechtlichen Rechtsgrundlage der Anspruch auf Barabfindung beim regulären Delisting herzuleiten sei. Das gelte auch für die Vorgaben zu wesentlichen verfahrensrechtlichen Fragen wie denen nach Antragsberechtigung, Antragsfrist, Antragsbegründung und Antragsgegner. Die Macrotron-Entscheidung habe weder die zu prüfende materiell-rechtliche Anspruchsgrundlage für die Barabfindung vorgegeben noch die wesentlichen Verfahrensbestimmungen zur Prüfung von deren Angemessenheit. Die Grundsätze hierzu hätten in der Folge erst die Instanzgerichte entwickelt und konkretisiert.49 3. Gesetzliche Neuregelung des Delisting im Börsengesetz Der Gesetzgeber hat eine gesetzliche Verbesserung des Anlegerschutzes beim De­ listing für erforderlich erachtet, da es im Nachgang zur Entscheidung des Senats vom 8. Oktober 2013 zu einem starken Anstieg der Zahl der Emittenten gekommen war, die einen Widerruf der Zulassung ihrer Aktien zum Handel im regulierten Markt beantragt und den Rückzug vollzogen hatten und in der Praxis Kursverluste nach Ankündigung von Delisting festzustellen waren. Er hat mit der Begründung, dass es sich um einen kapitalmarktrechtlichen Vorgang und nicht um eine gesellschaftsrechtliche Strukturmaßnahme handele, eine Regelung im Börsengesetz unter Anlehnung an Bestimmungen des WpÜG als sachgerecht angesehen.50 Entsprechend orientiert sich die Bemessung der Abfindung im Regelfall am Börsenkurs und nicht wie in den 47 BGH v. 8.10.2013 – II ZB 26/12, ZIP 2013, 2254 Rz. 16 unter Bezugnahme auf die Stellungnahme des 8. Revisionssenats des BVerwG in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren 1 BvR 3142/07, juris Rz. 35.  48 BVerfG v. 5.10.2015 – 1 BvR 1667/15, ZIP 2015, 2371 Rz. 13. 49 BVerfG v. 5.10.2015 – 1 BvR 1667/15, ZIP 2015, 2371 Rz. 14 ff. 50 Vgl. BT-Drucks. 18/6220, S. 83 f.

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Fällen der Umwandlung (§ 29 UmwG) oder des Squeeze-outs (§ 327b AktG) an einer Unternehmensbewertung. Erweiterte Mitentscheidungsrechte für die Aktionäre, wie sie die Macrotron-Rechtsprechung durch den von ihr geforderten Hauptversammlungsbeschluss verlangte, sind vor dem Hintergrund der umfassenden kapitalmarktrechtlichen Schutzbestimmungen als nicht geboten angesehen worden.51

IV. Schlussbetrachtung Wegen der kompetenzrechtlichen Abgrenzung zwischen der Gesetzgebung und der Rechtsprechung muss das Fachgericht aufgrund der richterlichen Bindung an das Gesetz einen hinreichend klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers respektieren und darf ihn nicht durch eine eigene, für vorzugswürdig erachtete Regelungskonzeption ersetzen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob ein anderes Modell zweckmäßiger oder sachgerechter als das gesetzliche erscheint.52 Richterliche Rechtsfortbildung ist auch nicht dazu da, bereits im Vorfeld einer Gesetzgebung geäußerten Forderungen oder Regelungswünschen, denen der Gesetzgeber nicht gefolgt ist, im Nachhinein zum Erfolg zu verhelfen oder im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren geschlossene Kompromisse auszuhebeln. Diese Grundsätze hat der II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs mit seiner Rechtsprechung zur Gesellschafterliste beachtet, auch im Hinblick darauf, dass in dem Zeitraum von gerade fünf Jahren seit Inkrafttreten des ­MoMiG keine Anzeichen von gewandelten Verhältnissen oder Bedingungen und somit kein daraus abzuleitender Bedarf für eine Anpassung des Gesetzes im Wege richterlicher Rechtsfortbildung erkennbar waren. Nach Ansicht des Senats ist es dem Gericht ferner verwehrt, Ansprüche zu gewähren, die sich weder aus dem Verfassungs- noch aus dem geltenden einfachen Recht herleiten lassen. Es obliegt der Entscheidung des Gesetzgebers, ob und in welcher Form er sie gewähren und wie er das Verfahren zu ihrer Durchsetzung gestalten will, ob ihm also wie im Fall des Delisting eine kapitalmarktrechtliche oder eine gesellschaftsrechtliche Regelung als sachgerechte Lösung erscheint. Aus der Sicht des Senats ist die im Nachgang zu seinem Frosta-Beschluss getroffene Entscheidung des Gesetzgebers, Aktionären beim Delisting grundsätzlich Abfindungsansprüche zu gewähren, daher auch nicht als eine „Korrektur“ seiner Rechtsprechung zu verstehen.53 Für Grundentscheidungen, wie sie sich bei der Regelung des Delisting als erforderlich erwiesen haben, ist die höchstrichterliche Rechtsprechung nicht zuständig. Selbst wenn man der Ansicht folgen wollte, dass eine Weiterführung der Macrotron-Rechtsprechung im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung auf einfach-rechtlicher Grundlage von Verfassungs wegen möglich gewesen wäre,54 war sie jedenfalls nicht geboten. Denn höchstrichterliche Rechtsprechung kann Regelungsaufgaben von derart grundsätzlicher Natur anhand eines ihr zur Entscheidung vorliegenden konkreten Falles schon 51 BT-Drucks. 18/6220, S. 86. 52 Vgl. BVerfGE 122, 248, 285 (Sondervotum Voßkuhle, Lerke-Osterloh, Di Fabio). 53 So aber Bayer, NZG 2015, 1169. 54 Vgl. BVerfG v. 11.7.2012 – 1 BvR 3142/07, 1 BvR 1569/08, BVerfGE 132, 99, 128 ff.

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wegen der ihr durch das Revisions- und Verfahrensrecht gesetzten Schranken, insbesondere bei der Ermittlung und Verwertung von Tatsachen und der Inanspruchnahme sachverständigen Rates, im Regelfall nicht sachgerecht und umfassend erfüllen und wäre zur gegebenenfalls erforderlichen Nachbesserung auf den Eingang geeigneter Verfahren angewiesen. Der Jubilar versteht das Verhältnis zwischen höchstrichterlicher Rechtsprechung und Gesetzgebung sicher nicht als (den Versuch der) Korrektur der einen Gewalt durch die andere. Der Verfasser hat aus den vielen persönlichen Begegnungen an mannigfachen Orten des gesellschaftsrechtlichen Diskurses vielmehr die Sicht einer vertrauensvollen, von beiden Seiten mit Verständnis für die jeweilige Aufgabe des Anderen getragenen Zusammenarbeit für das deutsche Gesellschaftsrecht in Erinnerung behalten.

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Blockchain und Gesellschaftsrecht Inhaltsübersicht I. Ausgangspunkt: Dokumentation der ­Inhaberschaft 1. Warum ein dezentrales Register? 2. Verifikation der Änderungen 3. Identitätsnachweis und Datenschutz 4. Schlüsselinhaberschaft und Korrekturen von Amts wegen

II. Unternehmensgründung und Blockchain III. Unternehmenspublizität und Blockchain IV. Anlegerkommunikation und Blockchain V. Entscheidungsfindung und Blockchain VI. Fazit

Nach mehreren Jahrzehnten „Aktienreform in Permanenz“1 mit kleinen Exkursen zum GmbH-Recht 20082 und ins Handelsrecht 19983 kann der Jubilar auf eine fast durchgängige Erfolgsgeschichte zurückblicken: Das Handels- und Gesellschaftsrecht wurde dereguliert4 und modernisiert,5 es wurden Missbräuche eingedämmt6 und immer wieder Anpassungen an die aktuellen politischen Wünsche7 vorgenommen. Aber zum Ende der Ära Seibert soll nun einmal die ketzerische Frage gestellt werden, ob dieses Stückwerk auch in den kommenden Jahrzehnten beibehalten werden muss oder stattdessen die technologische Entwicklung das Gesellschaftsrecht in seinen Grundfundamenten (zum Besseren?) verändert. Aus Sicht vieler Unternehmensgründer und vielleicht auch alteingesessener Organmitglieder klingt nämlich der Computer als Alternative zum Juristen gar nicht einmal 1 Zöllner, AG 1994, 336 (freilich ganz zu Beginn der Ära Seibert). 2 Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) vom 23. Oktober 2008 (BGBl. I 2008, 2026). 3 Gesetz zur Neuregelung des Kaufmanns- und Firmenrechts und zur Änderung anderer handels- und gesellschaftsrechtlicher Vorschriften (Handelsrechtsreformgesetz – HRefG) vom 22. Juni 1998 (BGBl. I 1998, 1474); später noch einmal Gesetz über elektronische Handelsregister und Genossenschaftsregister sowie das Unternehmensregister (EHUG) vom 10. November 2006 (BGBl. I 2006, 2553). 4 S. schon Kindler, NJW 1994, 3041; Heckschen, DNotZ 1995, 275; Priester, DNotZ 1998, 691; Wicke, MittBayNot 2011, 23. 5 S.  etwa Kindler, NJW 2001, 1678; Noack, NZG 2006, 801; Teichmann, NJW 2006, 2444; Noack, NZG 2008, 441; Drygala, NZG 2007, 561. 6 Etwa der stetige Kampf gegen die „räuberischen Aktionäre“ (dazu zuletzt Bayer/Möller, NZG 2018, 801) oder das vielschichtige Maßnahmenpaket im GmbH-Recht (dazu etwa Schwab, DStR 2010, 333). 7 Exemplarisch immer wieder die Themen Geschlechterquote (s. Habersack/Kersten, BB 2014, 2819; Hirte, Der Konzern 2011, 519; Langenbucher, JZ 2011, 1038; Sünner, CCZ 2009, 185) und Vorstandsvergütung (zu den diesbezüglichen gesetzgeberischen Maßnahmen etwa Habersack, NZG 2018, 127; Leuering, NZG 2017, 646; Velte, NZG 2016, 294; Verse, NZG 2013, 921; Fleischer, NZG 2009, 801; Hoffmann-Becking, NZG 2006, 127).

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so unattraktiv: Können wir anstatt aufwändiger gerichtlicher Streitigkeiten, dicken Kommentaren und Handbüchern sowie teuren Beratern nicht einfach auf Algorithmen („smart contracts“8) und verteilte Speicherungs- und Kommunikationssysteme setzen? Wäre es nicht besser, das flexible aber oftmals unvorhersehbare Recht durch eindeutige, binäre Entscheidungen („code as law“9) zu verdrängen, welche eine Abweichung vom Standardschema praktisch unmöglich macht? Nun haben sich die deutschen Aktiengesellschaften zu Innovationen traditionell eher vorsichtig verhalten.10 Die Akzeptanz der durch zumindest für börsennotierte Gesellschaften zwingend zu eröffnenden Möglichkeit,11 auch physisch fernbleibende Aktionäre an der Hauptversammlung zu beteiligen, ist verhalten.12 Um im Folgenden nicht in naive Science-Fiction abzugleiten, soll ausgehend von den vorgefundenen rechtlichen Vorgaben und der aktuell bereits vorhandenen oder zumindest in Entwicklung befindlichen technischen Infrastruktur anhand konkreter Szenarien dargestellt werden, was Technik kann bzw. können wird und was nicht. Dabei wird zunächst der Nachweis der Inhaberschaft bzw. dessen Übertragung und  Belastung als traditionelles Einsatzgebiet der Blockchain in den Blick genommen (sub I). Danach wird die (insb. durch den EU-Vorschlag zum Einsatz digitaler Werkzeuge und Verfahren im Gesellschaftsrecht vielleicht nicht mehr ganz so unwahrscheinlich anmutende)13 digitale Gründung von Gesellschaften betrachtet (sub II) – machen „Initial Coin Offerings“ (ICO)14 die traditionelle Gründung und die 8 Dazu allgemein Heckelmann, NJW 2018, 504; Schrey/Thalhofer, NJW 2017, 1431; Keßler, MMR 2017, 589; Müller, ZfIR 2017, 600; Specht/Herold, MMR 2018, 40; Heckmann/­ Kaulartz, CR 2016, 618, Blocher, AnwBl 2016, 612. 9 Geprägt durch Lessig, Code and other Laws of Cyberspace, New York 1999 (dt. Code und andere Gesetze des Cyberspace, Berlin 2001); krit. etwa Schwintowksi, Code is Law – Law is Code, HUMBOLDT-SPEKTRUM 3/2006, S. 52 ff.; zu konkreten Anwendungsideen etwa Busch/Reinhold, EuCML 2015, 50. 10 Exemplarisch nur die Praxis bei der Nutzung neuer Medien in der Hauptversammlung i.S.v. § 118 Abs. 1 Satz 2 AktG; s. dazu etwa Simons, NZG 2017, 567; sehr skeptisch auch Kubis in MünchKomm. AktG, § 118 AktG Rz. 80 ff. (insb. Rz. 91), s. schon aus der Urzeit des Informationszeitalters Noack, ZGR 1998, 592; ders., NZG 2001, 1057; ders., NZG 2003, 241; Zetzsche, BKR 2003, 736. 11 Art. 8 Abs. 1 der Aktionärsrechterichtlinie („jede Form der Teilnahme“); s. im Einzelnen Begr. RegE ARUG BT-Drucks. 16/11642, S. 27. 12 S. die Untersuchung von Gleiß/Weber, Online-Hauptversammlungen in der Praxis, abrufbar unter https://wi.uni-potsdam.de/hp.nsf/0/411F2213DE7FF273C12580880039544E/$​ FILE/Arbeitsbericht-WI-2016-03.pdf (abgerufen am 9. April 2019). 13 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 im Hinblick auf den Einsatz digitaler Werkzeuge und Verfahren im Gesellschaftsrecht vom 25.4.2018, COM (2018) 239 final; dazu Noack , DB 2018, 1324; Bock, DNotZ 2018, 643. 14 Dazu etwa Lampert/Krüger, BB 2018, 1154; Weitnauer, BKR 2018, 231; Zetzsche/Buckley/ Arner/Föhr, Harv. Int. L. J. 63 (2019), abrufbar unter https://ssrn.com/abstract=3072298 (abgerufen am 9. April 2019); BaFin, Initial Coin Offering: Hohe Risiken für Verbraucher, 15.11.2017, abrufbar unter https://www.bafin.de/SharedDocs/Veroeffentlichungen/DE/ Fachartikel/2017/fa_bj_1711_ICO.html (abgerufen am 9. April 2019).

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Börsenzulassung auf einen Schlag überflüssig? Braucht man vielleicht sogar ganz neue Rechtsformen für eine Decentralized Autonomous Organization (DAO)?15 Ist die Gesellschaft erst einmal (wie auch immer) entstanden, kann in einem nächsten Schritt überlegt werden, ob und wie die Blockchain-Technologie die Pflichten gegenüber der Allgemeinheit bzw. insb. dem Kapitalmarkt erleichtern mag (sub III) – braucht man noch aufwändige staatliche Handels- und Unternehmensregister, wenn doch alle Informationen „at your fingertips“16 verfügbar sind? Noch spannender und vielleicht durch die aktualisierte Aktionärsrechterichtlinie konkreter bevorstehend sind die Auswirkungen der Blockchain17 auf die Kommunikation mit den jeweils aktuellen Anlegern (sub IV) – statt mühsam eine vertikale Kette abzuschreiten kann man eine bidirektionale, vertrauliche und datenschutzsichere Kommunikation auch über digitale Netze gewährleisten. Abschließend soll der Blick auf das unverzichtbare Fundament des Gesellschaftsrechts, die Willensbildung der Gesellschafter, gerichtet werden (sub V)  – braucht man aufwändige formelle Vorgaben und gerichtliche Überprüfungsverfahren, wenn man die zulässigen Interaktionsformen durch fixe Steuerungsmechanismen18 derart definieren kann, dass formelle Fehler ausgeschlossen sind?

I. Ausgangspunkt: Dokumentation der Inhaberschaft Zentrale Idee jeglicher Blockchain-Implementierung ist es, einen sicheren, neutralen Anknüpfungspunkt („trusted third party“) für den Nachweis bestimmter Eigenschaften zu schaffen. Wenn eine Information identisch auf dutzenden oder gar tausenden Computern weltweit gespeichert ist, wird es schwer, sie spurlos wieder zu beseitigen.19 In der realen Welt nehmen solche Aufgaben etwa Ausweispapiere (Personalausweis, Reisepass, Führerschein), öffentliche Register (Grundbuch, Handelsregister), Banken (Konten, Depots) oder auch Notare als „trusted third parties“ wahr. Derartige Systeme sind aber im internationalen Verkehr nicht risikofrei – man kann sich durchaus Staaten vorstellen, in denen Register gezielt (durch Korruption, Hackerangriffe o.Ä.) manipuliert werden, gefälschte Ausweispapiere verfügbar sind (ebenfalls aufgrund Korruption, aber auch durch leicht nachzustellende Gestaltung), Banken die Identität 15 Mann, NZG 2017, 1014; näher schon die Überlegungen von Bormann, ZGR 2017, 621 zur „digitalisierten GmbH“. 16 So der Titel der Comdex-Keynote von Bill Gates 1990 (und als Jubiläum erneut 2005), abrufbar unter https://youtu.be/uGA1Chm_8RE (abgerufen am 9. April 2019). 17 Dazu allgemein Schrey/Thalhofer, NJW 2017, 1431; Simmchen, MMR 2017, 162; aus Grundbuchperspektive etwa Wilsch, DNotZ 2017, 761; Andeutungen zur Aktionärserfassung bei Noack, NZG 2017, 561, 566. 18 Zu den Problemen autonomer Systeme allgemein jüngst Borges, NJW 2018, 977; Keßler, MMR 2017, 589; aus juristischer Berufsperspektive Kilian, NJW 2017, 3043; zu den Risiken etwa Ylinen, NZKart 2018, 19 (kartellrechtliche Bedenken); Drexl, ZUM 2017, 529 (Filter als Risiken für die Meinungsvielfalt); Dzida/Groh, NJW 2018, 1917 (Diskriminierung im Arbeitsrecht). 19 Darauf gründen die datenschutzrechtlichen Bedenken („Recht auf Vergessenwerden“), etwa bei Martini/Weinzierl, NVwZ 2017, 1251; Schrey/Thalhofer, NJW 2017, 1431; für lösbar halten diese Bechtolf/Vogt, ZD 2018, 66.

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ihrer Kunden verschleiern oder Konten gleich veruntreuen und Notare nichts Bes­ seres sind als akkreditierte und unterbezahlte Sekretärinnen.20 Hinzu kommt, dass nicht überall die Register so professionell und zügig betreut werden wie in Deutschland21 – bei Eintragungsfristen von Wochen oder gar Monaten muss sich der Verkehr bewusst sein, dass man den amtlichen Angaben nicht trauen kann. Demgegenüber ist das Versprechen der Blockchain also eine fälschungssichere, langfristige und weitgehend vor Eingriffen der Intermediäre und Dritter geschützte Verwahrung von Informationen im Sinne von § 8a Abs. 1 HGB („auf Dauer inhaltlich unverändert in lesbarer Form wiedergegeben“). Sicherlich wäre es technisch möglich, die etablierten Registerinfrastruktur durch eine Blockchain zu ersetzen.22 Praktisch ist dies aber kaum zweckmäßig.23 Selbst wenn man die auch in diesem Fall (wegen fehlender digitaler Verfügbarkeit aller für die Eintragung erforderlichen Informationen) erforderliche manuelle Prüfung der Eintragungen, die notwendige Qualitätssicherung durch Amtslöschungen und den Gutglaubensschutz außer acht lässt, wäre der technische Aufwand eher größer als bei der heutigen Umsetzung. Voraussetzung für eine funktionierende offene Blockchain wäre zunächst, dass zumindest der aktuelle Datenbestand vollständig migriert würde. Dies wiederum würde allerdings erhebliche Kosten verursachen, welche nach der Öffnung nicht wieder durch Gebühren refinanziert werden könnten. Für den laufenden Betrieb drängt sich die Frage auf, wer denn die Infrastruktur betreiben soll (näher sub 1) – schließt man sich einer bestehenden Infrastruktur an und speichert die Daten (zusammen mit vielem anderen) in der Bitcoin- oder Ethereum-Blockchain? Oder baut man alles von Anfang an neu auf? Unumgänglich wären zudem spezielle Clientprogramme, um den Eintragungsformalien (schon die Beschränkung auf eintragungsfähige Tatsachen wäre abzubilden) gerecht zu werden (näher sub 2). Will man nicht den juristisch ungeschulten, eigennützigen und teilweise sogar kriminellen Nutzern die freie Eintragung erlauben, wäre zudem eine Signatur durch einen Notar erforderlich (dazu sub 3) – dann ist aber mit der Blockchain nichts gewonnen. Zen­ trale Portale lassen sich in der Regel sehr viel einfacher als Datenbank verwalten und für eine schnelle Suche indizieren als verteilte Systeme. Aus Platzgründen nicht näher diskutiert werden kann hier die Frage, ob eine nicht-öffentliche Blockchainstruktur zwischen den registerführenden Ländern in Deutschland oder zwischen den EU-Mitgliedstaaten (§  9b HGB; Richtlinie 2012/17/EU)24 zweckmäßig wäre. Jedenfalls die vorübergehende Nichterreichbarkeit der nur in den Systemen einzelner Länder vorhandenen Informationen25 wäre dadurch ausgeschlossen. 20 Etwa in den USA, s. Fischer, ZNotP 1999, 352, 353; s. kritisch zum US-amerikanischen Notary Public etwa Wilsch, DNotZ 2017, 761; andererseits wird der „Notary Public“ teilweise bei der Beglaubigung einem Notar gleichgestellt, vgl. LG Mainz, NJW 1958, 1496. 21 In diesem Sinne auch Paal, ZGR 2017, 590, 609. 22 Martini, DÖV 2017, 443, 454; Martini/Weinzierl, NVwZ 2017, 1251, 1252; Tapscott/­ Tapscott, Blockchain Revolution, 2016, S. 101 ff. 23 Insoweit zutreffend Wilsch, DNotZ 2017, 761 zum Grundbuch. 24 Dazu schon Ries, ZIP 2013, 866; Stiegler, NotBZ 2015, 329. 25 https://www.handelsregister.de/rp_web/state.do: „Der Dokumentabruf für das Bundesland ist offline. Eine Suche nach Firmen in diesem Bundesland ist möglich. Die Dokumente der

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Stattdessen soll hier ein relevanter Teilbereich in den Blick genommen werden – der Nachweis der Beteiligung an einer AG oder GmbH (die schon de lege lata nicht eintragungspflichtig ist). Für den Transfer von Gesellschaftsbeteiligungen gilt prima ­facie nichts anderes als für sonstige nicht verkörperte Vermögenswerte, etwa „Tokens“26 und „virtuelle Währungen“:27 Im Außenverhältnis zwischen Veräußerer und Erwerber muss die Berechtigung der (regelmäßig persönlich nicht bekannten) Be­ teiligten an einer Übertragung irgendwie verifiziert werden. Der Kauf reiner Ver­ sprechen und Behauptungen ist dem Rechtsverkehr kaum dienlich. Daran ändert auch der im GmbH-Recht nur schwach ausgeprägte gutgläubige Erwerb (§ 16 Abs. 3 GmbHG),28 der im Aktienrecht außerhalb der §§ 932 ff. BGB in Bezug auf die durch Sammelverwahrung (§  5 DepotG)29 unüblich gewordenen Papierurkunden sogar ganz fehlt,30 nichts. Spezifisch gesellschaftsrechtlich ist allein das parallele Problem im Innenverhältnis, das es bei sonstigen rein bilateral gehandelten Gütern nicht gibt: Auch gegenüber der Gesellschaft ist die Inhaberschaft nachzuweisen (§§ 67 Abs. 1, 123 AktG; § 40 Abs. 1 Satz 1 GmbHG). Erst im zweiten Schritt wird der einmal geführte Nachweis bei Namensaktien (§ 68 Abs. 1 AktG) sowie im GmbH-Recht (§ 16 Abs. 1 GmbHG) als hinreichend erachtet.31 Da sowohl das Aktienregister (§ 67 Abs. 1 Satz 1 AktG) als auch die GmbH-Gesellschafterliste (§  40 Abs.  1 GmbHG) bereits heute privat geführt werden, kann durch die Nutzung einer Blockchain-Infrastruktur möglicherweise ein Effizienzgewinn erzielt werden. 1. Warum ein dezentrales Register? Auch wenn die Blockchain immer wieder als „distributed ledger“ propagiert wird,32 kann sie ein zentral geführtes Register nur ersetzen, wenn gewährleistet ist, dass mindestens eine Kopie der Registerinhalte erhalten bleibt. Fällt der letzte Nutzer weg, gibt gefundenen Firmen können jedoch zurzeit nicht abgerufen werden. Bitte versuchen Sie es später noch einmal.“ 26 S.  dazu etwa Omlor, ZRP 2018, 85; Weitnauer, BKR 2018, 231; Mann, NZG 2017, 1014; Krüger/Lampert, BB 2018, 1154. 27 Dazu schon Boehm/Pesch, MMR 2014, 75; Spindler/Bille, WM 2014, 1357; Beck, NJW 2015, 580; s. aus neuerer Zeit etwa Shmatenko/Möllenkamp, MMR 2018, 495; Schlund/Pongratz, DStR 2018, 598; Wirth, CCZ 2018, 139. 28 Ausführlich Paefgen/Wallisch, NZG 2016, 801; schon Zessel, GmbHR 2009, 303; Klöckner, NZG 2008, 841; Vossius, DB 2007, 2299; zur Diskussion vor dem MoMiG etwa Grunewald/ Gehling/Rodewig, ZIP 2006, 685. 29 Zur umstrittenen besitzrechtlichen Situation bei der Girosammelverwahrung etwa Noack in Bayer/Habersack, Aktienrecht im Wandel, Bd. II, 2007, S. 510, 537 Rz. 73; Habersack/ Mayer, WM 2000, 1678, 1680 f.; Mentz/Fröhling, NZG 2002, 201, 208 f. 30 Vgl. Vatter in Spindler/Stilz, Aktiengesetz, 4. Aufl. 2019, § 10 AktG Rz. 65; Eder, NZG 2004, 107, 111; Mirow, NZG 2008, 52, 56. 31 Vgl. nur Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbH-Gesetz, 21. Aufl. 2017, § 16 GmbHG Rz. 29, 36; Heidinger in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 16 GmbHG Rz. 59. 32 So beispielsweise Terlau in Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR-HdB, 2.  Abschnitt. Bargeldloser Zahlungsverkehr 9. Kapitel. Überweisungsverkehr § 55a – Elektronisches Geld, virtuelle Währungen (Bitcoins, Ether Coins) Rz.  135; Specht, NJW 2017, 3567, 3568; Schlund/Pongratz, DStR 2018, 598; Schwintowski/Klausmann/Kadgien, NJOZ 2018, 1401.

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es die Blockchain und damit auch die darin gespeicherten Inhalte nicht mehr. Jede neu geschaffene Blockchain-Infrastruktur muss daher eine kritische Nutzerzahl erreichen, um überhaupt die notwendige Zahl an Sicherungskopien und dadurch die faktische Filterwirkung des „Proof of Work“-Ansatzes zu erreichen. Um die Daten nutzen zu können, muss aber auch gewährleistet sein, dass eine hinreichende Zahl an Nutzern diese Daten solange vollständig vorrätig hält, bis diese objektiv nicht mehr benötigt werden. Bei Speziallösungen kann dies durchaus Probleme bereiten – denn die entsprechende Software muss auf neue Hardware und Betriebssysteme angepasst werden; zudem sind etwaige Sicherheitslücken in der verwendeten Clientsoftware zu beheben. Darüber hinaus ist fraglich, welchen Anreiz Nutzer haben sollen, in einem zunehmend antiquierten System zu verbleiben – vor allem, weil die Datenmenge bei einer Blockchain mit deren Alter und der notwendige Rechenaufwand bei einem „Proof of Work“-System mit der Zahl der Nutzer steigt, sodass eine „junge“ Blockchainlösung sehr viel weniger Kapazitäten erfordert.33 Der Markt für Kryptowährungen zeigt, dass die potentiellen Nutzer durchaus wechselwillig sind – neben Bitcoin ist etwa Ethereum rasant gewachsen.34 Angesichts der rasant steigenden Zahl alternativer Angebote und der nur begrenzt verfügbaren Speicher- und Rechenkapazitäten ist die langfristige Existenz einer bestimmten technischen Lösung keineswegs gewährleistet. Nun kann der Staat dieses Problem der Archivierung selbstverständlich lösen – indem er etwa selbst angemessene Verarbeitungsressourcen bereitstellt (die Blockchain also teilweise durch staatliche Server getragen wird) oder aber bestimmten Personen eine entsprechende Pflicht auferlegt. Die zuerst genannte Variante ist freilich wenig attraktiv – ein Mehrwert gegenüber einer zentralen serverbasierten Lösung oder zumindest einer verteilten indizierten Lösung (wie bei den verschiedenen Handelsregistersystemen, die über ein zentrales Portal sowie das Unternehmensregister verknüpft werden) besteht nicht. Im Gegenteil würde hier unnötiger Mehraufwand getrieben, der keinen Zusatznutzen mit sich bringt. Attraktiver wirkt demgegenüber die zweite Variante. So müssen etwa derzeit Gesellschafterlisten nach § 40 GmbHG beim Handelsregister eingereicht werden. Dort werden sie (grds. ohne nähere Prüfung) als schlichte Datei aufbewahrt und können für kleines Geld abgerufen werden. Man kann sich insoweit aber durchaus eine dezentrale Aufbewahrung ganz ohne staatliche Beteiligung vorstellen. Wenn man den Gesellschaften (insbesondere kleinen GmbH und UG (haftungsbeschränkt)) nicht genug traut bzw. diese nicht mit den durch den Betrieb entsprechender Rechner entstehenden Zusatzkosten belasten will, könnte man eine solche Blockchain durch Einbindung der Notare oder der Kreditinstitute absichern. Ein entsprechendes System wäre sogar für Aktienregister vorstellbar, die derzeit gerade nicht öffentlich zugänglich sind – wer hier Datenschutz gewährleisten will, kann dies technisch unproblematisch über Verschlüsselung erreichen.

33 Bormann, ZGR 2017, 621, 638. 34 S.  etwa zur Entwicklung https://smartereum.com/3220/2018-might-see-the-shift-awayfrom-bitcoin-ethereum-might-be-able-to-provide-the-best-return-ethereum-predictions2018-ethereum-vs-bitcoin-news-thu-oct-4/ (abgerufen am 9. April 2019).

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Aber die Kernfrage, ob hierdurch wirklich ein Vorteil erreicht wird, bleibt. Positiv anzumerken ist zunächst, dass über eine uniforme technische Lösung die Einheitlichkeit der Darstellung (die der Gesetzgeber erst spät durch die Verordnung35 nach § 40 Abs. 4 GmbHG in Angriff genommen hat) gewährleistet werden kann. Auch wird die Dokumentation der Änderungen und (je nach Registergericht) auch deren Schnelligkeit erhöht. Konfligierende Eintragungen sind technisch nicht möglich, es gilt ein strenges Prioritätsprinzip. Zudem wäre ein solches Register grds. transparenter – jeder Teilnehmer an der Blockchain (Gesellschaft, Notar, Öffentlichkeit, etwaige Inte­ ressenten) hätte unmittelbar Zugriff auf die derzeit aktuellen Daten, ohne mühsame Registrierungen, Kreditkartenangaben o.Ä. Zudem würde das Registergericht entlastet, da es mit der Aufnahme der Listen nichts mehr zu tun hat. Der größte Vorteil dürfte aber darin liegen, dass die Prüfung der Berechtigung von Änderungsanzeigen jedenfalls teilweise automatisiert erfolgen kann – was derzeit zwar bei den notariell eingereichten Listen (§ 40 Abs. 2 GmbHG), nicht aber bei den vom Geschäftsführer eingereichten Listen und erst recht nicht beim ganz ohne Notar auskommenden Aktienregister gewährleistet ist. Gerade hier würde eine Blockchainstruktur die Unabhängigkeit von den für die Identifikation derzeit unverzichtbaren Depotbanken bedeuten (näher zur Verifikation der Berechtigung sogleich unter 2). Nur anekdotisch sei angemerkt, dass bereits heute dezentral betriebene Register in Deutschland der Regelfall und nicht die Ausnahme sind: Die einzelnen Handelsregister werden grds. von den „Amtsgericht[en], in [deren] Bezirk ein Landgericht seinen Sitz hat, für den Bezirk dieses Landgerichts“ geführt (§ 1 HRV) – nur der Abruf wird in einem zentralen Portal (§  9 Abs.  1 Satz 4 HGB) bzw. im Unternehmensregister (§ 8b Abs. 2 Nr. 1 HGB) konzentriert, was sich staatenübergreifend auch auf der europäischen Ebene fortsetzt (§ 9b HGB). Rechtlich werden private mit Archivierung oder Registerführung betraute Stellen (etwa der Bundesanzeiger, § 9a Abs. 2 und 3 HGB i.V.m. §  10 Unternehmensregisterverordnung, oder die Bundesnotarkammer, § 78 Abs. 2 BNotO) bislang als Beliehene tätig. Dabei handelt es sich zwar technisch gerade nicht um eine Blockchain-Struktur, sondern nur um eine (über Indexdaten verknüpfte) Portalgestaltung – strukturell liegt damit aber eine dezentrale Organisation jedenfalls nicht fern. 2. Verifikation der Änderungen Für die Gesellschafterliste liegt ein dezentrales System vor allem deshalb nahe, weil der Staat als listenverwahrende Stelle (§§ 16, 40 GmbHG) selbst nicht die materielle Richtigkeit der Eintragungen überprüft.36 Involviert ist er allein bei der Zuordnung von Widersprüchen zur Verhinderung eines gutgläubigen Erwerbs (§ 16 Abs. 3 Satz 3

35 Verordnung über die Ausgestaltung der Gesellschafterliste (Gesellschafterlistenverordnung – GesLV) vom 20. Juni 2018 (BGBl. I 2018, 870). 36 Zum verbleibenden formellen Prüfungsrecht (Einreichender, Gestaltung, Einreichungsanlass) BGHZ 191, 84; BGHZ 199, 270 (dort wird das materielle Prüfungsrecht bei offenkundig unzutreffenden Angaben offen gelassen).

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GmbHG).37 Bei echten Eintragungen (etwa für Personenhandelsgesellschaften, §§ 106 Abs. 2 Nr. 1, 107 HGB) ist demgegenüber nicht nur die notarielle Beglaubigung (§ 12 Abs. 1 Satz 1 HGB) als erster Filter, sondern auch eine vollständige registerrichterliche Prüfung vorgesehen.38 Diese Prüfung können die heute üblichen Blockchainlösungen nicht ersetzen, bereits deshalb, da nicht gewährleistet ist, dass die anderen Nutzer überhaupt die nötigen Informationen und Kenntnisse haben. Eine Amtsermittlungspflicht (§ 26 FamFG) der anderen Nutzer besteht nicht; erst recht gibt es keine entsprechenden Eingriffsbefugnisse. Um einer in der Diskussion häufigen Verwirrung vorzubeugen: Das rechenintensive Verfahren zur Hinzufügung neuer Datensätze in einigen populären Blockchainlösungen („Proof of Work“) kontrolliert keineswegs, ob der Veräußerer verfügungsbefugt ist – auch insoweit gewährleistet die Blockchain also nicht automatisch die Richtigkeit der Eintragung. Das wäre schon praktisch unsinnig, da die „Miner“39 im Regelfall gar nicht wissen, welche Datensätze sich in einem Block verbergen – so bündelt ein zu speichernder Block Dutzende, Hunderte oder gar Tausende Transaktionen. Allein der Umstand, dass jemand große Rechenkapazitäten zur Verfügung hat oder zufällig Glück hat und einen Block freigeben kann, impliziert nicht, dass er oder sie Identitäten oder Berechtigungen überprüfen kann; selbst die schlichte Frage, ob eine Transaktion auf einem vorherigen Datensatz aufbaut (also einen derivativen Erwerb repräsentiert) oder aber eine vollständig losgelöste Neueintragung ist (etwa nach einer Kapitalerhöhung), interessiert in den meisten Implementierungen nicht. Das Verfahren dient allein dazu, Eintragungen zu kanalisieren und zu begrenzen. Dürfte nämlich jeder Nutzer beliebig neue Blöcke hinzufügen, würde eine Blockchain in Sekundenschnelle auf Terabytegröße anwachsen. Dann würden aber viele Teilnehmer (mangels Kapazität) ausscheiden und die erhoffte redundante Speicherung würde unmöglich. Zudem bedeutet eine große, linear verkettete Datenspeichermenge auch erheblichen Zusatzaufwand bei Auswertung und Recherche: Da es keinen zentralen Index, keine fixe Datenstruktur und vor allem außerhalb der Eintragungsreihenfolge keine Sortierung gibt, muss bei einer Suchanfrage praktisch die gesamte Kette vom ersten bis zum letzten Eintrag durchforstet werden. „Proof of Work“ reduziert so die Datenmenge und die Aktualisierungsgeschwindigkeit auf ein für die Teilnehmer an der Blockchain akzeptables Ausmaß. Die eigentliche Verifikation erfolgt vielmehr regelmäßig auf der Ebene der einzelnen in den Blöcken gespeicherten Datensätze. Dabei wird üblicherweise auf asynchrone Verschlüsselung gesetzt. Dies bedeutet, dass ausschließlich der Berechtigte einen privaten Schlüssel hat, mit dem er als Einziger die für ihn gespeicherten Daten zugunsten Dritter verschlüsseln kann. Alle anderen Nutzer können aber anhand eines ihnen zugänglichen öffentlichen Schlüssels nachprüfen, dass die Daten mit dem privaten 37 Zur Zuordnung des Widerspruchs vgl. etwa Heidinger in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 16 GmbHG Rz. 282. 38 Koch in Staub, § 8 HGB Rz. 81; Krafka in MünchKomm. HGB, § 8 HGB Rz. 8 ff., 60; Preuß in Oetker, § 8 HGB Rz. 84; Müther, RPfleger 2008, 233; Keilbach, MittRhNotK 2000, 365. 39 So werden an Goldgräber angelehnt die Computer bezeichnet, welche den nächsten einzutragenden Block genehmigen, vgl. Geiling in BaFin Journal Februar 2016, 28, 29.

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Schlüssel gezeichnet wurden. Bildlich muss man sich dies als eine verschlossene ­Glasvitrine vorstellen: Jeder kann den Inhalt sehen; ihn entnehmen und weitergeben kann aber nur derjenige, der den Schlüssel hat.40 Derartige Verfahren sind seit den 1970er-Jahren bekannt.41 Rechtliche Bedeutung haben sie insoweit, als sie die Grundlage für die fortgeschrittenen elektronischen Signaturen nach dem Signaturgesetz von 1997, in der Folge der EU-Signaturrichtlinie 1999/93/EG und heute der eIDAS-VO 910/2014 bilden.42 Ihre Sicherheit hat der Gesetzgeber mit der besonderen Beweiswirkung des § 371a Abs. 1 Satz 2 ZPO honoriert.43 Für die Übertragung von Gesellschaftsbeteiligungen bedeutet dies: Nur der aktuelle Inhaber hat den privaten Schlüssel, mit dem die Folgetransaktionen verschlüsselt werden können – ob diese von ihm bestätigt wurden, ergibt sich aus dem allgemein zugänglichen öffentlichen Schlüssel. Derartige Bedingungen können vor Aufnahme in die Blockchain automatisch verifiziert werden  – indem alle Transaktionen, die nicht mit dem privaten Schlüssel des bisherigen Inhabers gezeichnet sind, schlicht verworfen (und damit auch nicht gespeichert) werden. In vergleichbarer Weise können auch andere digital verfügbare Kriterien als Eintragungsvoraussetzung verlangt werden  – etwa der Umstand, dass die Gesellschaft (mit staatlichem öffentlichen Schlüssel bestätigt) existiert, dass sie nicht in eine Liste gelöschter Gesellschaften eingetragen wurde, dass der Erwerber nicht in einem Register bekannter Terroristen erfasst ist, etc. Auch hier sind automatisierte Filter denkbar – eine Überprüfung erfordert nur sehr geringen Rechenaufwand (ein einzelnes Smartphone genügt), so dass dies nichts mit dem oben erwähnten „Mining“ zu tun hat. 3. Identitätsnachweis und Datenschutz Nachdem die Debatte um das Thema Geldwäsche44 nicht nur die Schaffung der heutigen §§ 16 Abs. 1, Abs. 3, 40 GmbHG zur Folge hatte, sondern auch den weitgehenden Ausschluss echter individueller Inhaberaktienurkunden in § 11 GmbHG, drängt sich die Frage auf, wie man dies mit der oftmals ganz zentral auf Anonymität ausgelegten Blockchain vereinbaren kann. Auch hier geht es allerdings nicht um technische Probleme, sondern vor allem um die gesetzlich an die jeweilige Gestaltung geknüpften Anforderungen. So wäre es dem Gesetzgeber durchaus möglich, für eine „Beteiligungsblockchain“ die Nutzung eines besonders qualifizierten Schlüssels, der nur nach einem besonderen Identifikationsverfahren vergeben wird, zur Bedingung zu erheben. Wem die klassischen Möglichkeiten wie PostIdent oder PhotoIdent hierfür zu 40 Roßnagel, Mobile qualifizierte elektronische Signaturen, 2009, S. 11; Bormann, ZGR 2017, 621, 625; Paal, ZGR 2017, 590, 604; zur Funktionsweise der Verschlüsselung: Geiling in BaFin Journal Februar 2016, 28, 29, Brühl, Wirtschaftsdienst 2017, 135 (speziell für Bitcoin) sowie Schlund/Pongratz, DStR 2018, 598. 41 Grundlegend Merkle/Hellman, Hiding information and signatures in trapdoor knapsacks, in IEEE Transactions on Information Theory 24 (1978), S. 525, abrufbar unter https://iee​ explore.ieee.org/document/1055927 (abgerufen am 9. April 2019). 42 BT-Drucks. 14/4987, S. 15 ff.; zur früheren Rechtslage etwa Roßnagel, NJW 2005, 385. 43 Krit. Schemmann, ZZP 118 (2005), 161. 44 BT-Drucks. 16/6140, S. 37.

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unsicher erscheinen, mag sich etwa einen notariell zu beglaubigenden Zulassungsantrag vorstellen.45 Dies würde auch das Missbrauchsrisiko erheblich eindämmen: Da jede Eintragung auf einen solchen eindeutig identifizierten Schlüsselinhaber zurückzuführen wäre, ist der Verantwortliche schnell gefunden und kann angemessen sanktioniert werden. Zu berücksichtigen ist allerdings auch, dass ein solches Modell nicht unbedingt akzeptanzfördernd ist  – weder die qualifizierte elektronische Signatur noch die DE-Mail haben breite Akzeptanz gefunden und selbst der kostenlosen eID auf dem neuen Personalausweis stehen die Bürger skeptisch gegenüber (zudem fehlt es noch immer an den erforderlichen Lesegeräten). Rein praktisch wirft dies freilich zahlreiche Folgefragen auf – nach geltendem Recht wird die Gesellschafterliste in der GmbH vom Geschäftsführer gepflegt (§ 40 Abs. 1 Satz 1 GmbHG) und ggf. durch den Notar aktualisiert (§ 40 Abs. 2 GmbHG). Damit kann de lege lata eine Blockchainlösung, in welcher sich der oder die einzelne Gesellschafter/-in mit einem privaten Schlüssel identifiziert, nur eine Vorstufe zu derartigen Listen sein, die der Geschäftsführer dann zu konsolidieren und einzureichen hätte. Es ist würde sich dabei nur um den „Nachweis“ eines Wechsels in der Inhaberschaft (§ 40 Abs. 1 Satz 4 GmbHG) handeln. Diesen Schritt von der Blockchain zur Gesellschafterliste könnte man sich in einem hypothetisch blockchainbasierten System de lege ferenda sparen. Allerdings ist die formlose Übertragung von GmbH-Geschäftsanteilen nach § 15 Abs. 3, 4 GmbHG notariell zu beurkunden und sonst nach § 125 Satz 1 BGB nichtig.46 Wenn die Gesellschafter selbst die Herrschaft über ihren Schlüssel haben, könnten sie aber ganz ungehindert und ohne Belehrung Änderungen vornehmen. Technisch ließe sich auch dies lösen – etwa über eine doppelte Signatur (in der körperlichen Welt würde man „qualifizierten Mitbesitz“ dergestalt annehmen, dass Notar und bisheriger Inhaber nur gemeinsam Zugriff auf die Beteiligung haben, sog. „Zwei-Schlüssel-Prinzip“47). Dann schwindet aber auch der Vorteil der Blockchain  – denn wenn der Notar ohnehin beurkundet, ist es nur konsequent, dass er auch die Liste bei einer zentralen Stelle einreicht. Auch in der Aktiengesellschaft führt der Vorstand das Aktienregister (§§ 67 Abs. 1 Satz 1, 76 AktG). Da dort aber weder Notare, noch eine Einreichung beim Handelsregister vorgesehen sind, bestehen viele der soeben dargestellten Probleme nicht. Wo und wie der Vorstand das Aktienregister führt (auf Papier, in einer Excel-Tabelle, in einem Datenbanksystem oder eben in einer Blockchain) regelt das Aktiengesetz nicht. Ungemach droht aber aus zwei Richtungen: Zum einen muss der Vorstand „führen“, die Aktionäre dürfen nur „anzeigen und nachweisen“ (§ 67 Abs. 3 AktG). Da der Vorstand aber nicht persönlich alle Eintragungen von Hand vornehmen muss, muss es genügen, dass er den technischen Rahmen bereitstellt und überwacht.48 Schwieriger 45 In diese Richtung auch Bormann, ZGR 2017, 621, 642. 46 Wilhelmi in BeckOK GmbHG, 35.  Edition Stand 1.11.2017, §  15 GmbHG Rz.  108, 132; Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbH-Gesetz, 21. Aufl. 2017, § 15 GmbHG Rz. 29, 36. 47 Ohne den Begriff ausdrücklich zu nennen, vgl. etwa Götz in BeckOGK, Stand 1.9.2018, § 866 BGB Rz. 26. Zum Begriff selbst dagegen etwa BAG NZA 2008, 1187, 1191. 48 OLG München NZG 2005, 756, 757; Hüffer/Koch, § 67 AktG Rz. 5; Lutter/Drygala in KölnKomm. AktG, § 67 AktG Rz. 9; Noack, DB 1999, 1306, 1307; Leuering, ZIP 1999, 1745, 1746.

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ist hingegen die datenschutzrechtliche Frage.49 Mit dem NaStraG wurde das frühere Einsichtsrecht in das Aktienregister in börsennotierten Aktiengesellschaften derart beschnitten, dass die Kenntnis der Mitaktionäre praktisch untersagt ist (§ 67 Abs. 6 Satz 1 AktG).50 Demgegenüber besteht bei nicht börsennotierten Gesellschaften immerhin die Möglichkeit zur Öffnung durch die Satzung (§ 67 Abs. 6 Satz 2 AktG), deren Grenzen aber noch nicht abschließend geklärt sind.51 Auch hier kann man sich freilich durch Pseudonymisierung behelfen – solange der Vorstand und bei Bedarf (etwa in der Strafverfolgung) der Staat die jeweiligen Schlüssel eindeutig zuordnen kann, kann auch ein verteiltes Speichermedium die Voraussetzungen des AktG erfüllen. In Österreich wurde bereits im September 2018 durch die Conda AG ähnlich wie oben für die GmbH angedeutet ein Token in der Ethereum-Blockchain als besonderes Nachweisinstrument für die Aktieninhaberschaft etabliert.52 Damit wurde zwar nicht die Aktie digitalisiert oder durch einen Token ersetzt – aus Sicht des Anlegerpublikums ist aber der Handel innerhalb der Blockchain möglich; die Gesellschaft muss ihr Register nur periodisch anhand der Blockchain aktualisieren. Auch hier muss freilich irgendwann der Tokeninhaber namentlich identifiziert werden – ansonsten ist die per Blockchain erfolgte Mitteilung rechtlich unbeachtlich. Wenig Bedenken sind im Hinblick auf das in der Literatur immer wieder problematisierte „Recht auf Vergessenwerden“53 angebracht, das nur prima facie mit einer nicht löschbaren, dauerhaft archivierten Blockchain unvereinbar scheint. Denn die Datenschutzgrundverordnung kennt hierfür durchaus Ausnahmen, namentlich Art. 6 Abs. 1 lit. f DSGVO oder die Interessenabwägung nach Art. 17 Abs. 3 DSGVO. Hier überwiegt das öffentliche Interesse an der Dokumentation der Erwerbskette („chain of ­title“) gegenüber dem privaten Interesse am Vergessenwerden. 4. Schlüsselinhaberschaft und Korrekturen von Amts wegen Nicht verschwiegen werden sollen die Schwächen dieses Systems: Der Schutz ist nur so sicher wie die Verwahrung des privaten Schlüssels und des eingesetzten Verschlüsselungsalgorithmus. Haben Dritte Zugriff auf den Schlüssel, ist dies wie die Unterschrift auf einer Blanketturkunde – denn die Signatur belegt nur die Verfügung über den Schlüssel. Technisch kann man dies durch Zweifaktorensysteme (PIN-Nummer und Speicherkarte; Biometrie und Passwort; Smartphone-TAN und Geheimnummer) absichern. Ist der Algorithmus zu leicht zu entschlüsseln, könnten Dritte den

49 Bei Drittdienstleistern müssen die Voraussetzungen des Art. 28 DSGVO erfüllt sein, Spindler, ZGR 2000, 420, 426 m.w.N. (noch zu § 11 BDSG); das wird bei den Aktionären nicht möglich sein. 50 Seibert in v. Rosen/Seifert, S. 22 f. („Die Bundesregierung reagiert damit auf die Sorgen der Menschen um ihre persönlichen Daten“); zur Änderung Diekmann, BB 1999, 1985, 1988; Noack, DB 1999, 1306, 1307. 51 Skeptisch insb. Spindler, ZGR 2000, 420, 425. 52 https://www.derbrutkasten.com/conda-ag-aktien-blockchain. 53 Art. 17 DSGVO, dazu schon oben bei Fn. 20.

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privaten Schlüssel (notfalls durch schlichtes Ausprobieren) nachbilden – dann bricht das gesamte System zusammen. In der Diskussion um die Bedeutung der Blockchain (und auch im vorliegenden Beitrag, s. oben sub I.1) wird vor allem der Verzicht auf Intermediäre, namentlich die Einschaltung von Banken, hervorgehoben. In einer idealen Welt mag dies durchaus stimmen, aber in der Realität benötigt man letztlich immer eine Korrekturmöglichkeit: Was passiert etwa, wenn der Schlüsselinhaber stirbt oder seinen Schlüssel schlicht vergisst bzw. verliert? Gibt es keinen Zweitschlüssel, kann dann niemand mehr über die betreffenden Rechte verfügen – sie verwaisen. Das war eines der zen­ tralen Probleme beim „besonderen elektronischen Anwaltspostfach“ (beA)  – dort wird aus diesem Grunde an zentraler Stelle umgeschlüsselt.54 Damit wird aber der Verwahrer des „Nachschlüssels“ zu genau dem Risiko, das durch die dezentrale Struktur vermieden werden sollte – er kann einseitig (freilich dokumentierte) Löschungen und Änderungen vornehmen und hat damit wieder die Rolle der eigentlich durch die Crowd zu ersetzenden Aufsichtsperson. Das Problem kennen wir aus dem Registerrecht – auch dort wird das in der freiwilligen Gerichtsbarkeit und im Zivilprozessrecht grundsätzlich geltende Antragsprinzip denknotwendig zugunsten der Offizialmaxime aufgegeben. Diese ermöglicht eine Amtslöschung (§§  393-399 FamFG), wenn die Antragsberechtigten kein Interesse an einer Änderung haben oder handlungsunfähig sind. Neue „soziale“ Blockchains wollen dieses Problem demokratisch durch ein „Blockchain Nervous System“ lösen.55 Danach sind Zwangskorrekturen mit (ggf. qualifizierter) Mehrheit möglich. Die dahinterstehende Überlegung ist, dass diejenigen Investoren, welche das größte Vermögen in eine Blockchain investiert haben, auch das größte Interesse haben, potentielle Erwerber für ihre virtuellen Einlagen zu finden (denn nur so lassen diese sich in liquide Währung umwandeln). Missbrauchen sie ihre Macht, wird kaum jemand sich an dieser dubiosen Blockchain beteiligen wollen und sie finden keine Käufer mehr. Daher werden sie sich stets fair verhalten. Dieses mit verhaltenstheoretischen und volkswirtschaftlichen Modellen untermauerte Idealbild ist freilich wirklichkeitsfern: Die Geschichte des (Kapital-)Gesellschaftsrechts ist voller Missbrauchsfälle, auch wenn dies mitunter auch zum Nachteil des Mehrheitsgesellschafters ging. Eine Diktatur des 50,x%-Blockchainteilnehmers scheint vor diesem Hintergrund wenig erstrebenswert – hier könnte die Technologiewelt vielleicht auch etwas aus dem Gesellschaftsrecht mitnehmen.

54 Sehr kritisch Löschhorn, MMR 2018, 204, 206 f.; s. auch Böck, BeA – So geht es mit dem Anwaltspostfach weiter, abrufbar unter https://www.golem.de/news/bea-so-geht-es-mitdem-anwaltspostfach-weiter-1801-132430.html (abgerufen am 9. April 2019). 55 https://medium.com/dfinity/the-dfinity-blockchain-nervous-system-a5dd1783288e (abgerufen am 9. April 2019): „If a proposal has not been decided, then a neuron may vote if it has not already done so (with the weight of the vote depending upon how many dfinities are deposited inside the neuron). When voting manually, the user can choose between three types of vote: “Adopt”, “Reject” and “Pass”. … The relative voting power of a neuron is proportional to the size of the deposit it holds.“

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II. Unternehmensgründung und Blockchain Im Gesellschaftsrecht wird das Tor zur Unternehmensgründung zwar nicht durch die Kreditwirtschaft, aber durch andere Vertrauensträger bewacht – Notar und Registergericht sollen vor einer Täuschung von Anlegern und Gläubigern schützen. Ein Verzicht auf diese Prüfung droht das historisch mühsam erkämpfte System der Normativbedingungen56 zu erschüttern. Denn dann müssen sich die Anleger allein auf das (freilich mindestens durch § 263 StGB oder § 264a StGB mit Strafe bedrohte) Gerede der Gründer verlassen. Die Geschichte zeigt, dass dies zu großen volkswirtschaftlichen Verlusten führt – erst vor wenigen Jahrzehnten war der Zusammenbruch des neuen Marktes ganz wesentlich auf ein zu liberales Publizitätsregime zurückzuführen. Die praktischen Erscheinungsformen der „Digital Autonomous Organization (DAO)“57 und sog. „Initial Coin Offerings (ICO)“58 werfen allerdings die Frage auf, ob ein auf Gründungsformalien bedachtes Gesellschaftsrecht überhaupt noch geeignet ist, die Bedürfnisse der digital aktiven Bevölkerung abzubilden. Hier soll nicht die kapitalmarktrechtliche Erlaubnispflicht im Vordergrund stehen.59 Neben dem oft ganz ausgeblendeten kollisionsrechtlichen Problem (wo hat ein solches Unternehmen seinen nach der Sitztheorie maßgeblichen „Hauptverwaltungssitz“?)60 zeigt die naheliegende Einordnung als (Publikums-)Personengesellschaft61 den dort bestehenden enormen Reformbedarf: Keine der dispositiven Regeln62 will so recht passen; erst recht wird man mit der vom BGH als zentral erachteten unbeschränkten persönlichen Haftung aller Gesellschafter63 nicht weiter kommen. Die Annahme eines konkludenten Haftungsausschlusses allein durch das explizite Auftreten als DAO dürfte in der Praxis kaum zu rechtfertigen sein – schon das für den Rechtsverkehr sehr viel deutlichere „GbR mbH“64 genügte nicht, um einen Haftungsausschluss zu rechtfertigen. Zudem würde ein allgemeiner Ausschluss für jede Rechtsbeziehung AGB erfordern, die letztlich an § 307 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 2 BGB scheitern müssen. Ungelöst bliebe dabei auch die deliktische Haftung der GbR für das Verschulden ihrer Organe analog § 31 56 Dazu Rittner in FS H. Westermann, 1974, S. 497 ff.; H. Westermann in FS Michaelis, 1972, S. 337, 343, 346 f. 57 Dazu Mann, NZG 2017, 1014 sowie Spindler, ZGR 2018, 17, 51 f. 58 Im Einzelnen Krüger/Lampert, BB 2018, 1154; Weitnauer, BKR 2018, 231. 59 Dazu https://www.bafin.de/SharedDocs/Downloads/DE/Merkblatt/WA/dl_hinweisschrei​ ben_einordnung_ICOs.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (abgerufen am 9. April 2019). 60 Zum Fortbestand der Sitztheorie BGH NJW 2009, 289. 61 So etwa Mann, NZG 2017, 1014, 1017 bei Fn. 52; Zetzsche, Blockchain, Distributed Ledger Technologie & Initial Coin Offerings im Privat-, Gesellschafts- und Finanzmarktrecht, abrufbar unter http://iur.duslaw.de/fileadmin/redaktion/Fakultaeten/Juristische_Fakultaet/ IUR/Praesentation_Zetzsche__BC___ICOs_zwischen_Gesellschafts-__Finanzmarkt-_ und_Privatrecht_15.03-2018.pdf (abgerufen am 9. April 2019). 62 Schäfer, Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages, Band I: Gutachten / Teil E: Empfiehlt sich eine grundlegende Reform des Personengesellschaftsrechts?; s. auch Wicke, DNotZ 2017, 261; Westermann, NZG 2017, 921. 63 S. nur BGHZ 154, 370; BGH NJW 2006, 765. 64 BGHZ 142, 315.

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BGB,65 für welche die Gesellschafter ohne vorherige Möglichkeit zum Haftungsausschluss einstehen müssen. Auch die grundsätzlich vorgesehene Gesamtvertretung aller Beteiligten dürfte nicht den Bedürfnissen der Anleger entsprechen und zumindest nicht praktikabel sein. Es zeigt sich also, dass die GbR nach den §§ 705 ff. BGB für entlokalisierte, multina­ tionale, anonyme Investitionsorganisationen denkbar ungeeignet ist. Die Frage muss also lauten, ob der deutsche Gesetzgeber aktiv werden sollte, um einen angemessenen Rechtsrahmen bereitzustellen. Rechtshistorisch ist diese Situation nicht völlig ohne Vorbild – auch die Aktiengesellschaft ist letztlich aus der stillen Anlegergesellschaft entstanden.66 Wenn es ein tatsächliches Bedürfnis gibt, sollte der Gesetzgeber zumindest einen angemessenen Rahmen bereitstellen oder aber Anforderungen an die Gestaltungen stellen, welche tatsächlich von den potentiellen Interessenten zu erfüllen sind. Beides ist bislang nicht der Fall. Alternativ könnte man aber auch auf die positiven Erfahrungen mit der UG (haftungsbeschränkt) aufbauen und gleich eine vollfunktionale Alternative schaffen. Regelungsbedürftig scheint dabei zunächst die kollisionsrechtliche Anknüpfung – für welche sich mangels anderer Anhaltspunkte (etwa nachweisbare Tätigkeitschwerpunkte oder Sitz der Anleger) schlicht die lex fori, also das deutsche Recht, anbietet. Probleme mit der europarechtlichen Niederlassungsfreiheit sind dabei nicht zu befürchten, soweit nicht eine engere Verbindung zu einem anderen Mitgliedstaat besteht. In der Folge geht es um Fragen der Haftung und Vertretung – solange die Gesellschaft Geschäfte allein innerhalb einer Blockchaininfrastruktur abwickelt und in virtueller Währung zahlt, ist eine Haftung der Gesellschafter nicht geboten. Die anderen Nutzer vertrauen nicht auf eine persönliche Haftung; praktisch gibt es ein sofort und sekundengenau zu ermittelndes Vermögen, welches als transparente Haftungsmasse genügen muss. Sobald freilich jemand außerhalb des digitalen Raums tätig wird, scheint nach dem Grundgedanken der § 54 Satz 2 BGB, § 11 Abs. 2 GmbHG, § 41 Abs. 1 Satz 2 AktG eine Handelndenhaftung angemessen – insoweit ähnelt die Lage einem Treuhänder oder einer Innengesellschaft. Letztlich kann der Handelnde im Innenverhältnis beim Vermögen des digitalen Unternehmens Regress suchen; auch hier gibt es kein schutzwürdiges Vertrauen auf eine persönliche Gesellschafterhaftung. Fragen der Willensbildung, Geschäftsführung und Vertretung innerhalb der Blockchain können recht trivial technisch abgebildet und daher völlig freigestellt werden. Außerhalb der Blockchain scheint eine reine Auftragslösung angemessen (wodurch auch die Problematik des § 31 BGB nicht auftreten kann, da § 278 Satz 2 BGB sogar einen Haftungsausschluss für vorsätzliches Handeln erlaubt). In einer derartigen Gestaltung gilt im Prinzip der Grundsatz „What happens in the blockchain stays in the blockchain“, sodass staatliche Gründungs- und Zulassungsanforderungen entbehrlich sind.

65 BGH NJW 2003, 1445, 1446 f.; BGH NJW 2007, 2490, 2491; a.A. BGHZ 45, 311. 66 Rothweiler/Geyer in Habersack/Bayer, Aktienrecht im Wandel, Band 1, München 2007, S. 56 ff.

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Der individuelle Anlegerschutz ist im Kapitalmarktrecht besser lokalisiert. Letztlich geht es dabei vor allem um die Zulassung derartiger Anlagen in Deutschland bzw. in der Europäischen Union. An dieser Stelle sei (dem eng begrenzten Umfang geschuldet) allein die Feststellung erlaubt, dass der geltende Rechtsrahmen die idealiter betrachtete spontane Gründung für alle Interessenten offener digitaler Unternehmen praktisch ausschließt.

III. Unternehmenspublizität und Blockchain Die Anlegergleichbehandlung im Hinblick auf Informationen des Unternehmens ist  nicht nur notwendige Kehrseite des Insiderhandelsverbots,67 sondern wird aus ökonomischer Sicht geradezu als unverzichtbar für einen effizienten Kapitalmarkt ­erachtet. Die traditionellen Ansätze haben sich freilich im Laufe der vergangenen Jahrzehnte erheblich verändert: An die Stelle der „Börsenpflichtblätter“ und des gedruckten Bundesanzeigers ist bei kapitalmarktorientierten Unternehmen inzwischen ein „Medienbündel“ getreten.68 War in den 1990er Jahren die Diskussion, welche ­Informationen man aktiv zu den Aktionären übertragen muss („Push“) und welche sich diese selbst beschaffen können („Pull“) noch von zentraler Bedeutung, hat die ­Omnipräsenz des Internet auf Smartphones etc. zu einem starken Überwiegen des „Pull“-Modells geführt. Die im Bundesanzeiger (§ 121 Abs. 4 Satz 1 AktG) auffindbare Einberufung der Hauptversammlung wird dabei durch die sogar noch umfangreichere Veröffentlichung auf der Internetseite der Gesellschaft inkl. aller Dokumente (§  124a AktG) quasi verdoppelt. Dennoch verlangt das deutsche Recht im Gefolge europarechtlicher Vorgaben für börsennotierte Gesellschaften nicht nur zusätzlich die Publikation per Medienbündel (§ 121 Abs. 4a AktG), sondern auch die ressourcenintensive Mitteilung nach § 125 AktG und deren Weiterleitung nach § 128 AktG. Andererseits wird vom heutigen Anleger selbstverständlich erwartet, sich aktiv auf der Internetseite der Gesellschaft etwa über Gegenanträge oder Wahlvorschläge (§  126 Abs.  1 Satz 3 AktG) und sogar über andere entscheidungsrelevante Hintergrundinformationen (§ 131 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 AktG) zu informieren. Dieser gesamte Workflow bietet sich geradezu für den Einsatz einer Blockchain an: Jeder Aktionär (oder interessierte Dritte, z.B. „die Medien“) könnte die entsprechende „Informationschain“ abonnieren und (durch öffentliche Schlüssel nachgewiesene) authentische, chronologisch geordnete und präzise datierte Mitteilungen erhalten. Nicht erforderlich ist dabei, dass der Aktionär die gesamte Blockchain lokal speichert – er kann die neuen Blöcke wie einen Newsticker lokal filtern und nur die ihn interessierenden Informationen aufbewahren. Anders als bei der Internetseite der Gesellschaft handelt es sich bei der Blockchain schon definitionsgemäß um einen „dauerhaften Datenträger“ im Sinne von § 126b Satz 2 BGB. Etwaige nachträgliche 67 Zimmer/Osterloh in Schwark/Zimmer, Kapitalmarktrechts-Kommentar, §  15a WpHG Rz.  15; Wehowsky in Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 219.  EL April 2018, § 15a WpHG Rz. 1ff. 68 Vgl. Hutter/Kaulamo, NJW 2007, 550, 556.

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Manipulationen, Ergänzungen oder Löschungen sind sofort nachvollziehbar. Der Zeitpunkt der Einstellung ist unwiderleglich dokumentiert  – und die Veröffentlichung ist 24 Stunden/7 Tage (ohne Rücksicht auf Feiertage oder die Arbeitszeiten des Bundesanzeigerverlags) möglich. Auch die redundante Speicherung im Bundesanzeiger und im Unternehmensregister ist bei einer Blockchainlösung entbehrlich. Vor allem ermöglicht die Nutzung eines standardisierten Systems auch eine höhere Formalisierung bestimmter Abläufe und damit auch deren automatisierte Auswertung. Über entsprechende Client-Software kann man Filtermöglichkeiten und Zugriffsbeschränkungen realisieren. Auch der Schreibzugriff kann auf bestimmte Teilnehmer (etwa nur die Gesellschaften) beschränkt werden. Allerdings substituiert eine solche Blockchain de lege lata nicht „die Internetseite“ (§ 124a AktG) und erst Recht nicht „die Gesellschaftsblätter“ (§ 25 AktG). Bei Namensaktien kann man immerhin überlegen, bei entsprechender Satzungsgrundlage eine Information per Blockchain unter § 121 Abs. 4 Satz 2 AktG zu subsumieren. Ob diese Regelung es allerdings erlaubt, den Aktionären einen eigenen exotischen Kommunikationsweg aufzwingen, ist zumindest nicht unzweifelhaft.69 Gerade bei börsennotierten Gesellschaften dürfte zudem die Aktionärsrechterichtlinie etwaigen nationalen Reforminitiativen entgegenstehen. Zudem würde bei reiner Nutzung einer Blockchain das mühsam auf Anregung der Regierungskommission Corporate Governance entwickelte zentrale Unternehmensregister als „One Stop Shop“ für statische und dynamische Unternehmensinformationen praktisch aufgegeben. Besser ist die Lage in der GmbH – dort ist die Regelung zur Einberufung der Gesellschafterversammlung per eingeschriebenem Brief (§  51 Abs.  1 GmbHG) satzungs­ dispositiv.70 Erst recht kann eine sonstige Gesellschafterinformation ohne zwingende gesetzliche Vorgaben erfolgen. In jedem Fall ist aber auch insoweit die grundsätzliche Partizipationsmöglichkeit eines jeden Gesellschafters zu gewährleisten.71 Bei exotischen Systemen mag dies zweifelhaft sein. Andererseits kann (und muss) der Notar bei einem Anteilserwerb ggf. über besondere Ladungsmodalitäten belehren und warnen. Hier wäre durchaus Raum für wünschenswerte Experimente der Praxis  – es bleibt zu hoffen, dass dieser auch genutzt wird. Erst recht naheliegend und wohl alternativlos ist die Information per Blockchain bei rein virtuellen Unternehmen wie den soeben dargestellten Decentralized Autonomous Organizations (DAOs). Solange man keine andere Kontaktmöglichkeit zu den Mitgliedern/Gesellschaftern/Anlegern hat und diese für die Ausübung ihrer Rechte und die Übertragung der Beteiligung ohnehin die entsprechende Blockchain-Infrastruktur nutzen müssen, ist dies nicht nur der beste, sondern der praktisch einzige Weg. Da man sich nach den obigen Ausführungen ohnehin im Personengesellschafts69 Gegen eine Einberufung allein über die Homepage etwa Ziemons in K. Schmidt/Lutter, § 121 AktG Rz. 83; Noack/Zetzsche in KölnKomm. AktG, § 121 AktG Rz. 154. 70 Kunz/Rubel, GmbHR 2011, 849 ff.; Leuernig/Stein, NJW-Spezial 2013, 591; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbH-Gesetz, 21. Aufl. 2017, § 51 GmbHG Rz. 39; differenzierter Liebscher in MünchKomm. GmbHG, 2. Aufl. 2016, § 51 GmbHG Rz. 66. 71 BGH NJW-RR 2006, 831.

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recht bewegt, sind hier schon de lege lata und ohne Sonderregel keine Formalien einzuhalten.

IV. Anlegerkommunikation und Blockchain Während soeben die Möglichkeiten einer unilateralen Publizität der Gesellschaft an die Aktionäre, etwaige Interessenten und der Öffentlichkeit erwähnt wurde, eröffnet die Blockchain theoretisch auch die Möglichkeit zu einer gezielten Information bestimmter Personen, eine horizontale Kommunikation unter den Gesellschaftern und vor allem auch einen gezielten Rückkanal. Hier zeigt sich auch, dass ein einheitliches Blockchainsystem im Bereich der Kommunikation den bisherigen Mechanismen überlegen sein kann. Gerade die 2017 reformierte Aktionärsrechterichtlinie sollte Anlass geben, die Kommunikation der Gesellschafter mit ihren Aktionären noch einmal zu überdenken. Die bisherigen Aktivitäten des Gesetzgebers waren insoweit jedenfalls nicht völlig konsistent: Im GmbH-Recht wird die Richtigkeit der über das Handelsregister der Öffentlichkeit zugänglichen Gesellschafterliste (§  40 Abs.  1 GmbHG) seit dem MoMiG durch die zwingende Anknüpfung der Gesellschafterstellung an diese Liste (§  16 Abs. 1 GmbHG) und die Möglichkeit eines gutgläubigen Erwerbs vom Eingetragenen (§ 16 Abs. 3 GmbHG) abgesichert. Zur Geldwäscheprävention kennen daher nicht nur die Gesellschafter sich untereinander und der Geschäftsführer die Gesellschafter, sondern ihre Identität ist für jedermann einsehbar. Im Aktienrecht wurde demgegenüber zwar für die Neugründung grds. die Namensaktie als Regelfall festgelegt (§ 10 Abs. 1 Satz 2 AktG), das Aktienregister ist aber weiterhin ein rein internes Dokument des Vorstands und gerade nicht im Handelsregister zugänglich. Im Gegenteil: In der börsennotierten AG wird sogar der Zugriff auf die Daten der anderen Aktionäre seit dem NaStraG (2001) ausdrücklich untersagt (§ 67 Abs. 6 Satz 1 AktG). Im Rahmen der Geldwäscheinitiativen der EU hat man rechtsformunabhängig ein weiteres (aber nur eingeschränkt zugängliches) Publizitätsmedium, das Transparenzregister, geschaffen.72 Dieses dient aber anderen Zwecken und bildet keine taugliche Grundlage für einen unmittelbaren Dialog. Da das jetzige System selbst der Gesellschaft eine Identifikation der Aktionäre nur mühsam ermöglicht (Art.  3a der reformierten Aktionärsrechterichtlinie),73 steht es einer effektiven bilateralen Kommunikation ebenso wie einer horizontalen Kommunikation entgegen. Für die horizontale Kommunikation hat Seibert im Rahmen des 72 Nunmehr noch verschärft durch die Richtlinie (EU) 2018/843 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 2018 zur Änderung der Richtlinie (EU) 2015/849 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und der ­Terrorismusfinanzierung und zur Änderung der Richtlinien 2009/138/EG und 2013/36/ EU. 73 Richtlinie (EU) 2017/828 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Mai 2017 zur Änderung der Richtlinie 2007/36/EG im Hinblick auf die Förderung der langfristigen Mitwirkung der Aktionäre (Text von Bedeutung für den EWR).

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NaStraG das „Aktionärsforum“ (§ 127a AktG) geschaffen – eine mit Formalien überladene Totgeburt.74 In einer Blockchain ist die Kommunikation bei entsprechender Gestaltung nicht nur in alle denkbaren Richtungen möglich, sondern sogar individualisiert: Hierzu ist die Nachricht nur auf den jeweiligen öffentlichen Schlüssel des Empfängers zu verschlüsseln. Dabei müssen die Nutzer noch nicht einmal die Identität der Empfänger kennen – es reicht die Kenntnis des Schlüssels. Damit kann sogar datenschutzrechtlichen Bedürfnissen Rechnung getragen werden. Die hierzu erforderliche Blockchain muss keineswegs „offen“ gestaltet sein – denkbar wäre es etwa, dass diese nur zwischen der Gesellschaft (oder im Idealfall einer Vielzahl von Gesellschaften) und den depotführenden Kreditinstituten (oder einer Teilmenge) geschlossen geführt wird. Dann müssten Meldungen von Aktionären an ihre Mitgesellschafter oder die Gesellschaft (z.B. Rechte nach §§ 122, 126 f. AktG) letztlich durch den Filter ihrer Kreditinstitute laufen. Selbst dies wäre aber günstiger und leichter handhabbar als die jetzige Lösung und würde die Aktionäre in jedem Fall zielsicherer erreichen („Push“ statt „Pull“). Wie bereits oben dargestellt, ermöglicht eine solche Blockchain auch die aktuelle Führung des Aktienregisters, da die Banken unmittelbar in das Originalsystem schreiben und nicht nur periodisch aus ihren internen Systemen übermitteln müssen. Soweit ein Kreditinstitut nicht an der Blockchain partizipieren kann oder will, muss es die Aktien durch ein anderes Kreditinstitut verwalten lassen  – das ist nichts anderes als die bereits heute bestehende Intermediärskette, die jedoch für viele Fälle abgekürzt werden kann. Im GmbH-Recht besteht schon wegen des in aller Regel überschaubaren Gesellschafterkreises nicht das geschilderte Kommunikationsbedürfnis. Hier spricht aber auch nichts gegen die Nutzung einer offenen (oder geschlossenen) Blockchain, denn die Identifikation und ggf. Vertraulichkeit einzelner Nachrichten kann hier wiederum durch die Nutzung öffentlicher Schlüssel gewährleistet werden. Vorteile mag dies etwa bei der Dokumentation haben – die Blockchain ist eine deutlich sicherere Nachweismöglichkeit für Inhalt und Abrufbarkeitszeitpunkt als eine bloße Email oder auch ein Einschreiben. Denn die Eintragungen in der Blockchain können weder vom Versender noch vom Empfänger rückwirkend geändert werden und sind auf allen Teilnehmergeräten einheitlich und langfristig dokumentiert. Bei einer Email ist hingegen jedenfalls bei Einsatz eigener Emailserver weder der Empfang noch der Versand rechtsicher zu dokumentieren; selbst bei einem vermeintlich sicheren Einschreibebrief ist der Inhalt des versandten Umschlags in keiner Weise nachweisbar. Die Blockchain ermöglicht hingegen genau diese Dokumentation. Bei den oben erwähnten rein virtuellen Unternehmen, den DAOs, ist die Blockchain der einzige zuverlässige Kommunikationsweg, da andere Kontaktmöglichkeiten den Gesellschaftern und der Gesellschaft nicht bekannt sind. Damit muss der Dialog notwendig auch innerhalb der Infrastruktur erfolgen. Hier werden sich möglicherweise

74 Bayer/Hoffmann, AG 2013, R 61 ff.; krit. auch Noack/Zetzsche in KölnKomm. AktG, § 127a AktG Rz. 2 f. (elektronische Pinnwand, die praktisch durch die Internetseite der Gesellschaft ersetzt werden sollte).

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Erfahrungswerte und best practices entwickeln, die später auf andere Rechtsformen zu übertragen sind.

V. Entscheidungsfindung und Blockchain Die Meinungsbildung in heterogenen Gruppen ist nicht nur ein soziologisch und ökonomisch heiß erörtertes Thema, sondern vor allem in der Praxis des Gesellschaftsrechts ein lang etabliertes zentrales Problemfeld. Neben der Beratung bei den Hauptversammlungen großer Aktiengesellschaften (für welche der Gesetzgeber ausdrücklich die notarielle Beurkundung vorsieht, was erst 1994 für die kleine AG aufgeweicht wurde), geben auch die Konflikte in der GmbH immer wieder Stoff für gerichtliche Auseinandersetzungen. Könnte man die Feststellung und Dokumentation von Beschlüssen und Verfahren digital nicht eindeutig und konfliktfrei abbilden? Sicherlich kann kein noch so ausgefeilter Algorithmus materielle Beschlussmängel erkennen. Allerdings wird man mit entsprechender Textanalyse suspekte Satzungsänderungen als solche identifizieren oder auch bei entsprechender Datenbasis Interessenkonflikte vermuten können. Genau hier zeigen sich typische Anwendungsszenarien für neuronale Netze und selbstlernende Systeme – soweit es erkennbare Muster gibt, werden Algorithmen diese auch anwenden. Auch besonders eklatante Fälle eines Stimmrechtsausschluss (§ 47 Abs. 4 GmbHG; § 136 AktG) mag man automatisiert erkennen. Im Übrigen zeigt aber schon die in Details verästelte Rechtsprechung, dass man mit pauschalen, algorithmischen Betrachtungen nicht weiterkommt. So wird man kaum definieren können, wann ein bestimmtes Verhalten einen Treupflichtverstoß darstellt – für die hierzu erforderliche Abwägung fehlen bis heute quantifizierbare Kriterien. Gerade in Bezug auf für die Entscheidung relevante personenbezogene Daten, die aus sozialen Netzwerken, Registern oder sogar aus der Tagespresse ge­ zogen werden könnten, stellt zudem das Datenschutzrecht eine kaum überwind­ bare Grenze dar – eine umfassende Einwilligung (Art. 6 Abs. 1 lit. a DSGVO) wird man ebensowenig annehmen können, wie vorrangige Interessen (Art. 6 Abs. 1 lit. f DSGVO). Was der Computer aber liefern kann sind zumindest vorläufige Erkenntnisse, deren Wert man insbesondere in einer GmbH nicht unterschätzen sollte. Die Wahrung von Fristen lässt sich rechtssicher und eindeutig nachweisen. Soweit Informationen (etwa Feiertage, die Existenz von Sitzungsorten etc.) in digitaler Form verfügbar sind, können diese automatisiert berücksichtigt werden. Formale Verstöße bei der Einberufung (unzuständiges Organ, unzulässiger Termin) würden so weitgehend ausgeschlossen. Sicherlich gelingt dies nicht uneingeschränkt – mag aber eine vorläufige Entscheidung rechtfertigen. Erst recht wird die Blockchain attraktiv, wenn man eine komplett digitale Entscheidungsfindung schaffen will.75 Der Rahmen hierfür ist freilich eng – in der AG mag man an eine Briefwahl vor der eigentlichen Hauptversammlung im Sinne von § 118 75 So auch Spindler, ZGR 2018, 17, 50.

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Abs.  2 AktG denken, die auch „im Wege elektronischer Kommunikation“ erfolgen kann. Selbst in der Hauptversammlung kann die Ausübung „einzelner Rechte“, mithin auch die Stimmabgabe, nach § 118 Abs. 1 Satz 2 AktG im Wege elektronischer Kommunikation erfolgen. Die Blockchain ermöglicht hier die Dokumentation, dass eine Stimme abgegeben wurde, dass dies rechtzeitig erfolgt ist und welchen Inhalt sie hatte – eine Funktion, welcher der Niederschrift nach § 130 Abs. 1 AktG nahekommt. Selbst in der GmbH wird ein komplett digitales Umlaufverfahren derzeit schwierig, da § 48 Abs. 2 GmbHG insoweit einen engen Rahmen aufstellt: Es bedarf entweder eines einstimmigen Zustimmungsbeschlusses aller Gesellschafter, für den die Textform (und damit auch die Blockchain) genügt76 oder eines „schriftlichen“ Beschlusses. Ob der Gesetzgeber hier wirklich § 126 Abs. 1 BGB meint, ist umstritten.77 Wer der weiteren Auffassung folgt, gewährleistet auch hier die Nutzung der Blockchain – die Schriftform wird hingegen nicht gewahrt. In der Praxis wird man nicht ernsthaft zu einer Blockchainentscheidungsfindung raten können. Bedenkenswert erscheint freilich, eine automatisierte Beschlussfeststellung (an Stelle eines eigens hierzu bestellten Versammlungsleiters)78 zuzulassen, mit der Folge, dass gegen diese nur mit einer Anfechtungsklage vorgegangen werden kann. Denn letztlich liegt in diesen Fällen eine hervorragend dokumentierte und jedenfalls auf offensichtliche Mängel (algorithmisch) geprüfte Willensbildung vor – mehr kann auch der feststellungsbefugte Versammlungsleiter nicht erreichen. Wiederum unverzichtbar ist die Nutzung der Blockchain bei den rein virtuellen Unternehmen, den DAOs. Hier gibt es keine physischen Versammlungen und es soll in der Regel basisdemokratisch sogar die tägliche Geschäftsführung durch die Stimmenmehrheit entschieden werden. Technisch erfordert dies eine hinreichend präzise Ausgestaltung des Beschlussverfahrens, namentlich angemessener Fristen zur Stimm­ abgabe, für Gegenäußerungen etc. Eine gesetzliche Regelung ist aber trotzdem nicht geboten, denn die entsprechende Infrastruktur wird ohnehin technisch zwingend vorgegeben und ist bereits bei der Investmententscheidung offenzulegen.

76 Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbH-Gesetz, 21.  Aufl. 2017, §  48 GmbHG Rz.  32 nennen etwa Kommunikationsgruppen auf Social-Media-Plattformen. Liebscher in MünchKomm. GmbHG, 2. Aufl. 2016, § 48 GmbHG Rz. 165 stellt auf „elektronische Medien“ allgemein ab. 77 Dafür Seibt in Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2014, § 48 GmbHG Rz. 63; Altmeppen in Roth/ Altmeppen, GmbHG, 9. Aufl. 2019, § 48 GmbHG Rz. 39; Römermann in Michalski u.a., GmbH-Gesetz, 3. Aufl. 2017, § 48 GmbHG Rz. 261; Hüffer/Schürnbrand in Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, 2. Aufl. 2014, § 48 GmbHG Rz. 51; für Textform hingegen Zöllner/ Noack in Baumbach/Hueck, GmbH-Gesetz, 21. Aufl. 2017, § 48 GmbHG Rz. 37; Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbH-Gesetz, 19. Aufl. 2016, § 48 GmbHG Rz. 26; Wolff in MHdB GmbH, § 39 Rz. 102; Hoffmann-Becking in FS Priester, 2007, S. 233, 240. 78 Noack, GmbHR 2017, 792; krit. Bunz, NZG 2017, 1366.

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VI. Fazit Der vorliegende Beitrag konnte das Potential der Blockchain für das Gesellschaftsrecht aber auch ihre Grenzen nur grob beleuchten. Insbesondere die allgemeinen technischen Grundlagen mussten ausgeklammert werden, ebenso konnte auf zahlreiche Details nicht eingegangen werden. Dennoch ist das Potential der Blockchain deutlich geworden. Insgesamt fällt das Fazit dabei zwiespältig aus. Die gute Nachricht: Das Gesellschaftsrecht hat noch nicht ausgedient  – die Blockchain kann kollektive Organisationen auch nicht besser verwalten als Gesetzgeber und Rechtsprechung. Die Entwicklung fixer, unabänderlicher Axiome ist weder den alten Römern noch dem modernen Gesetzgeber gelungen. Ohne diese Parameter kann man aber kaum automatisierte Entscheidungen vorsehen. Damit kann es aber auch keine Algorithmen oder „Smart Contracts“ geben, welche ein vollautonomes, missbrauchs- und streitfreies Konstrukt gewährleisten. Die schlechte Nachricht: Der Gesetzgeber wird sich künftig nicht mehr auf die „same procedure as every year“ mit Randkorrekturen zurückziehen können. Ansonsten wird die Realität die gesetzliche Grundlage hinter sich lassen und die Justiz wieder einmal zur unliebsamen79 Rechtsschöpfung zwingen. Es geht aber um mehr als die bloße Reaktion auf derartige (hoffentlich noch ferne) Entwicklungen: Soweit das geltende Recht formale Hürden aufstellt, sollte man über deren Zweck und mögliche Alternativen diskutieren. Die gerade aus Sicht kleiner Unternehmen oft kaum nachvollziehbaren Förmlichkeiten in der kleinen Kapitalgesellschaft können vielfach durch Algorithmen um einiges besser abgebildet werden als durch menschliche Kontroll- und Durchsetzungsinstanzen. In den Publikumsgesellschaften müssen die neuen Wege zur Information, Kommunikation und Entscheidung80 uneingeschränkt und ohne erhöhtes Risiko zur Verfügung stehen. Keinesfalls sollte man die Diskussion auf die aktuellen Implementierungen beschränken, sondern einen offenen Blick auf die dahinterstehenden Konzepte und Möglichkeiten behalten. Im Rahmen seiner Tätigkeit ist dies Seibert stets gelungen – nicht umsonst sind Themen wie „virtuelle Hauptversammlung“ oder „Online-Register“ heute nicht mehr bloß wissenschaftliche Gedankenspiele,81 sondern gesetzgeberischer Standard.

79 In diese Richtung schon BGH NJW 2014, 146 (Frosta); ähnlich BGHZ 173, 246 (Trihotel); wohl auch Bayer/Möller, NZG 2018, 801, 807 hinsichtlich des Beschlussmängelrechts. 80 Noack, NZG 2003, 241; ders., NJW 2018, 1345, 1346. 81 Grundlegend Noack, ZGR 1998, 592; zuletzt Spindler, ZGR 2018, 17; Paal, ZGR 2017, 590; skeptisch Bormann, ZGR 2017, 621.

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Aktiengattungen, Sonderbeschlüsse und gleichmäßige Behandlung Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Geschichte und Grundriss der Sonder­ beschlussregeln 1. Die Aktienrechtsreform von 1884 2. Das Aktienrecht des HGB und die nachfolgenden Gesetze 3. Europäisches Recht III. Systematik, Wertungsgrundlagen und Geltungsbereich der Sonderbeschluss­ regeln

1. Sonderbeschlüsse als Zustimmungs­ beschlüsse zu Ungleichbehandlungen 2. Sonderbeschlüsse zu Kapitalmaßnahmen und Umwandlungen 3. Der Sonderbeschlussgedanke als ­Allheilmittel für kollektive Ungleich­ behandlungen? 4. Die Reichweite der Mehrheitsmacht ­innerhalb der Aktionärsgattung IV. Zusammenfassung

I. Einleitung Die Aktien einer Gesellschaft können verschiedene Rechte gewähren, namentlich bei der Verteilung des Gewinns und des Gesellschaftsvermögens (§ 11 Satz 1 AktG). Aktien mit gleichen Rechten bilden dann eine Gattung (§ 11 Satz 2 AktG). In Ge­ sellschaften mit mehreren Gattungen von Aktien erfordern bestimmte Hauptversammlungsbeschlüsse zustimmende Sonderbeschlüsse von Aktionärsgattungen. Das betrifft vor allem Satzungsänderungen, die das bisherige Verhältnis der Aktiengattungen zum Nachteil einer Gattung verändern (§ 179 Abs. 3 AktG). Es gilt aber auch für eine Vielzahl von Kapital- und Umwandlungsmaßnahmen, und zwar unabhängig davon, ob sie für eine Aktiengattung nachteilig sind (§§ 182 Abs. 2 und 222 Abs. 2 AktG, § 65 Abs. 2 UmwG etc.1). Dies geht manchen zu weit und hat zum Ruf nach einem Rückschnitt der Sonderbeschlussregeln geführt. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Überlegungen, den Sonderbeschlussgedanken im Rahmen des geltenden Rechts auszuweiten, was weitreichende Folgen haben würde. Eine Auseinandersetzung mit diesen Fragen setzt Klarheit darüber voraus, worum es bei den Sonderbeschlüssen der Aktionärsgattungen geht. Der folgende Beitrag untersucht deshalb vor dem Hintergrund der rechtsgeschichtlichen Entwicklung und des 1 Im Einzelnen geht es um Kapitalbeschaffungsmaßnahmen (§ 182 Abs. 2 AktG und hierauf verweisend §§ 193 Abs. 1 Satz 3, 202 Abs. 2 Satz 4, 221 Abs. 1 Satz 4 und Abs. 3 AktG) sowie Kapitalherabsetzungen (§ 222 Abs. 2 AktG und hierauf verweisend §§ 229 Abs. 3 und 237 Abs. 2 Satz 1 AktG), Verschmelzungen (§§ 65 Abs. 2, 73 UmwG), Spaltungen (§§ 125 Satz 1, 135 Abs. 1 UmwG), Vermögensübertragungen (§§ 176–179 UmwG) und für einen Wechsel der Rechtsform (§ 233 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 sowie § 240 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 UmwG).

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EU-Rechts (anschließend zu II.) die Systematik, die Wertungsgrundlagen und den Geltungsbereich der Sonderbeschlussregeln (unten zu III.). Dabei wird sich zeigen, dass der Sonderbeschlussgedanke im Gebot der gleichmäßigen Behandlung verankert ist. Sonderbeschlüsse der Inhaber von Aktien besonderer Gattung sind kollektive Zustimmungen zu möglichen oder wirklichen Ungleichbehandlungen. Dies gilt nicht nur für gattungsrechteverschiebende Satzungsänderungen (§  179 Abs.  3 AktG) als harten Kern der Sonderbeschlusstatbestände (III. 1.), sondern auch für Kapitalveränderungen und Umwandlungen als Peripherie, denn diese Maßnahmen bergen ihrer Art nach die Gefahr in sich, dass eine Aktiengattung besondere Nachteile erleidet (III. 2.). Auf kollektive Ungleichbehandlungen, die nicht eine vorgegebene Verschiedenheit von Aktiengattungen verändern, lässt sich dagegen der Sonderbeschlussgedanke nicht ohne Weiteres erstrecken (III.  3.). Auf der anderen Seite ist aber die Mehrheitsmacht innerhalb der Aktionärsgattungen größer als bislang angenommen (III. 4.).

II. Geschichte und Grundriss der Sonderbeschlussregeln 1. Die Aktienrechtsreform von 1884 Die Normen über Sonderbeschlüsse der Inhaber von Aktien besonderer Gattung stammen im Kern aus der Aktienrechtsreform von 1884. Diese bestimmte im Zusammenhang mit den Regeln über Beschlüsse der Generalversammlung zur Änderung des Gesellschaftsvertrags: „Soll durch die Beschlußfassung das bisherige Rechts­ verhältniß unter den verschiedenen Gattungen [von Aktien] zum Nachtheile einer derselben abgeändert werden, so bedarf es zu dem von der gemeinschaftlichen Generalversammlung gefaßten Beschlusse der Zustimmung einer besonderen Generalversammlung der benachtheiligten Aktionäre“ mit der gleichen Mehrheit wie beim zugrundeliegenden Generalversammlungsbeschluss.2 Die Voraussetzungen und den Grund für einen solchen Sonderbeschluss sah die Gesetzesbegründung darin, „daß der Gegenstand der Beschlußfassung unmittelbar jenes für eine Gattung von Aktien statutarisch zugesicherte Sonderrecht bildet, mit anderen Worten, daß durch die Beschlußfassung der das bisherige Rechtsverhältniß unter den verschiedenen Gattungen bestimmende Inhalt des Gesellschaftsvertrages  zum Nachtheile einer derselben abgeändert werden soll“. Hinsichtlich der Art und Weise der Zustimmung hieß es in der Gesetzesbegründung weiter, dass „keineswegs … die Zustimmung jedes Inhabers einer Aktie der betroffenen Gattung zu fordern ist.“ Denn innerhalb der Gattung seien die Aktionäre gleichgestellt, so dass die Mehrheit mit Wirkung für die Einzelnen entscheiden könne, nicht anders als in der Generalversammlung einer Gesellschaft mit einheitlich ausgestalteten Aktien. „Das gleiche und gemeinschaftliche Sonderrecht innerhalb der Gattung vereinigt diese Theilnahme der Gesellschaft zu einem besonderen Verbande, dessen Willensäuße-

2 Art. 215 Abs. 6 ADHGB i.d.F. von 1884. 

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rung gleich derjenigen der gesammten Gesellschaft durch Mehrheitsbeschluß mit verbindlicher Kraft für den einzelnen abzugeben ist.“3 Ebenso bedurften nach der Aktienrechtsreform von 1884 Beschlüsse der Generalversammlung über eine Erhöhung oder Herabsetzung des Grundkapitals beim Bestehen verschiedener Aktiengattungen eines Zustimmungsbeschlusses der „benachtheiligten Aktionäre“,4 weil nach den Worten der Gesetzesbegründung „die bisherige Höhe des Grundkapitals die Voraussetzung und Grundlage für das zwischen den verschiedenen Gattungen der Antheilsrechte statutarisch festgesetzte Rechtsverhältniß gebildet hat“.5 2. Das Aktienrecht des HGB und die nachfolgenden Gesetze Das Aktienrecht des HGB hat 1897 für den Fall, dass durch Satzungsänderung das bisherige Verhältnis mehrerer Gattungen von Aktien zum Nachteil einer Gattung geändert wird, den Sonderbeschlussvorbehalt zugunsten der benachteiligten Aktionäre tatbestandlich mit nur redaktionellen Veränderungen fortgeschrieben. Auf der Rechtsfolgeseite ließ das Gesetz allerdings statt einer gesonderten Versammlung der benachteiligten Aktionäre eine gesonderte Abstimmung in der allgemeinen Generalversammlung genügen,6 um das Verfahren zu vereinfachen und Kosten zu sparen.7 So ist es mit geringfügigen Umformulierungen bis heute geblieben (§ 179 Abs. 3 AktG und zuvor § 146 Abs. 2 AktG 1937). Für Kapitalerhöhungen und Kapitalherabsetzungen brachte demgegenüber das HGB eine substanzielle Änderung und ordnete Sonderbeschlüsse „der Aktionäre jeder Gattung“ an und nicht mehr, wie zuvor, nur der benachteiligten Aktionäre.8 „An Stelle dieser in ihrer Tragweite nicht ganz klaren“ Regelung des früheren ADHGB sollte 3 Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Kommanditgesellschaften auf Aktien und die Aktiengesellschaften nebst Motiven und Anlagen, vom 7.3.1884, Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, 5. Legislaturperiode, IV. Session 1884, Bd. III: Anlagen zu den Verhandlungen des Reichstags, Nr. 1–59, Berlin 1884, Aktenstück Nr. 21 (S. 215 ff.), Allgemeine Begründung § 4 Abschnitt 4, S. 252 re. Sp.; auch bei Schubert/Hommelhoff (Hrsg.), 100 Jahre modernes Aktienrecht, Eine Sammlung von Texten und Quellen zur Aktienrechtsreform 1884 mit zwei Einführungen, 1985, S. 423 re. Sp. 4 Art. 215a Abs. 2 Satz 4 ADHGB i.d.F. von 1884 (betr. Kapitalerhöhung) mit Verweisung auf Art. 215 Abs. 6 ADHGB i.d.F. von 1884 (betr. Satzungsänderung); Art. 248 Abs. 1 Satz 4 ADHGB i.d.F. von 1884 (betr. Kapitalherabsetzung). 5 Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Kommanditgesellschaften auf Aktien und die Aktiengesellschaften, a.a.O. (Fn. 3), S. 253 li. Sp. bzw. S. 424 li. Sp. 6 § 275 Abs. 3 HGB a.F. 7 Denkschrift zu dem Entwurf eines Handelsgesetzbuchs und eines Einführungsgesetzes, Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, 9.  Legislaturperiode, IV. Session 1895/97, Sechster Anlageband, 1897, Zu Aktenstück Nr. 632 [Entwurf eines Handelsgesetzbuchs], S. 3141, 3215 li. Sp. = Hahn/Mugdan (Hrsg.), Die gesammten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. 6: Materialien zum Handelsgesetzbuch, 1987 (Nachdruck 1983), S. 189, 319 = Schubert/Schmiedel/Krampe (Hrsg.), Quellen zum Handelsgesetzbuch von 1897, Bd. II/2, 1988, S. 949, 1079.  8 §§ 278 Abs. 2 HGB a.F (Kapitalerhöhung) und 288 Abs. 3 HGB a.F (Kapitalherabsetzung).

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nach der Gesetzesbegründung zum HGB der Rechtssatz treten, „daß, wenn mehrere Aktiengattungen vorhanden sind, stets auch in Sonderabstimmungen über eine Kapitalserhöhung Beschluß gefasst werden muß“.9 In gleicher Weise wurden die Regeln zur Kapitalherabsetzung geändert.10 Dabei ist es für stimmberechtigte Aktien auch unter den Aktiengesetzen von 1937 und 1965 geblieben (heute § 182 Abs. 2 AktG für Kapitalerhöhungen und § 222 Abs. 2 AktG für Kapitalherabsetzungen), und demselben Muster folgen die vielen weiteren Sonderbeschlussregeln, die mit diesen Gesetzen und dem Umwandlungsgesetz von 1994 hinzugekommen sind.11 3. Europäisches Recht Sonderbeschlüsse der Inhaber von Aktien verschiedener Gattungen sind auch dem europäischen Recht geläufig und in der EU-Gesellschaftsrechtsrichtlinie von 201712 an vielen Stellen vorgesehen. So ist in Aktiengesellschaften mit mehreren Gattungen von Aktien ein Beschluss der Hauptversammlung über eine Kapitalerhöhung „von einer gesonderten Abstimmung zumindest jeder Gattung derjenigen Aktionäre abhängig, deren Rechte durch die Maßnahme berührt werden“ (Art. 68 Abs. 3 GesR-RiLi).13 Gleiches gilt für Hauptversammlungsbeschlüsse über Kapitalherabsetzungen (Art. 74 und 81 GesR-RiLi).14 Beim Bestehen mehrerer Gattungen von Aktien sind Sonderbeschlüsse des Weiteren für Verschmelzungen geboten (Art.  93 Abs.  2  GesR-RiLi),15 auch für grenzüberschreitende (Art. 121 Abs. 1 lit. b Satz 1 G ­ esR-RiLi),16 sowie für 9 Denkschrift zu dem Entwurf eines Handelsgesetzbuchs (wie Fn. 7), S. 3215 re. Sp. / S. 320 / S. 1080.  10 A.a.O. (wie Fn. 7), S. 3217 re. Sp. / S. 323 / S. 1083 mit Verweisung auf die Kapitalerhöhungsregeln. 11 S. die Auflistung oben in Fn. 1. Diese Bestimmungen gelten nur für Gattungen stimmberechtigter Aktien. Die Inhaber von Vorzugsaktien ohne Stimmrecht müssen dagegen im Wesentlichen nur Sonderbeschlüsse fassen, wenn der Vorzug aufgehoben oder beschränkt wird (§ 141 Abs. 1 AktG). Ob hierunter auch Strukturmaßnahmen wie namentlich Kapitalherabsetzungen und Verschmelzungen fallen können, ist umstritten (s. neben den vielen Kommentierungen zu § 141 AktG namentlich Brause, Stimmrechtslose Vorzugsaktien bei Umwandlungen, 2002; Wang, Vorzugsaktie ohne Stimmrecht, 2016, insbes. S. 128 ff., 276 ff.; T. Bezzenberger, Vorzugsaktien ohne Stimmrecht, 1991, S. 163 ff.). Diese Fragen sollen hier nicht noch einmal erörtert werden, denn es geht in dem vorliegenden Beitrag nicht um die stimmrechtslose Vorzugsaktie, sondern um die Grundstruktur und den Grundgedanken der Sonderbeschlussregeln im Allgemeinen. 12 Richtlinie (EU) 2017/1132 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14.6.2017 über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts (Kodifizierter Text), ABl EG Nr. L 169, S. 46127. Diese Richtlinie fasst die meisten älteren Richtlinien zur Koordinierung des Gesellschaftsrechts inhalts- und wortgleich zusammen. 13 Die Bestimmung stammt aus der vormaligen Kapitalrichtlinie, ursprünglich vom 13. Dezember 1976, ABl EG Nr. L 26, S. 1 ff., dort Art. 25 Abs. 3.  14 Das stammt ebenfalls aus der Kapitalrichtlinie (Fn. 13), dort Art. 31 und 38.  15 Das entstammt der vormaligen Verschmelzungsrichtlinie, ursprünglich vom 9.  Oktober 1978, ABl EG Nr. L 295, S. 36 ff., dort Art. 7 Abs. 2.  16 Ursprünglich Art. 4 Abs. 1 lit. b Satz 1 der Richtlinie 2005/56/EG vom 26.10.2005 über die Verschmelzung von Kapitalgesellschaften aus verschiedenen Mitgliedstaaten, ABl  EU Nr. L 310, S. 1 ff.

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Spaltungen (Art. 139 Abs. 1 Satz 2 GesR-RiLi).17 In diesen historisch jüngeren Normen spricht die Richtlinie allerdings nicht mehr davon, dass Rechte der Aktionärsgattung durch die Maßnahme berührt werden, sondern stellt pointierter darauf ab, dass diese Rechte „beeinträchtigt“ werden, also nachteilig berührt sind. Auch in der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) können Sonderbeschlüsse von Aktionärsgattungen geboten sein. Die EU-Verordnung über das Statut dieser Gesellschaft (SE-VO)18 verlangt für Satzungsänderungen einen Beschluss der Hauptversammlung mit qualifizierter Mehrheit (Art. 59 SE-VO) und bestimmt anschließend: „Sind mehrere Gattungen von Aktien vorhanden, so erfordert jeder Beschluss der Hauptversammlung noch eine gesonderte Abstimmung durch jede Gruppe von Ak­ tionären, deren spezifische Rechte durch den Beschluss berührt werden“ (Art. 60 Abs. 1 SE-VO). Und weiter: „Bedarf der Beschluss der Hauptversammlung der [qualifizierten Satzungsänderungs-]Mehrheit …, so ist diese Mehrheit auch für die gesonderte Abstimmung … erforderlich“ (Art.  60 Abs.  2 SE-VO). Das gibt zu erkennen, dass Sonderbeschlüsse der Inhaber von Aktien besonderer Gattung in der Europäischen Aktiengesellschaft nicht nur zu satzungs- und strukturändernden Beschlüssen der Hauptversammlung geboten sein können, sondern auch zu anderen Hauptversammlungsbeschlüssen.19 Obwohl die europäischen Sonderbeschlusstatbestände unterschiedlich formuliert sind („Rechte berührt“ / „Rechte beeinträchtigt“ / „spezifische Rechte berührt“), muss man sie einheitlich dahingehend auslegen, dass gattungsspezifische Rechte von Ak­tionären nachteilig berührt und in diesem Sinne beeinträchtigt sein müssen, um das jeweilige Sonderbeschlussgebot auszulösen.20 Berührt im weiten Sinne von betroffen sind nämlich bei Kapital- und Strukturmaßnahmen mehr oder weniger alle Mitgliedschaftsrechte sämtlicher Aktionäre. Die Gesellschaftsrechtsrichtlinie und die SE-Verordnung wollen aber ersichtlich nicht darauf hinaus, dass jede Aktionärsgattung unterschiedslos einen Sonderbeschluss zu diesen Maßnahmen fassen muss, so wie nach deutschem Recht, sonst hätten die EU-Rechtsakte das einfach so sagen können. Ein 17 Dies stammt aus der früheren Spaltungsrichtlinie vom 17. Dezember 1982, ABl EG Nr. L 378, S. 47 ff., dort Art. 5 Abs. 1 Satz 2.  18 Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates vom 8.10.2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE), ABl EG Nr. L 294 v. 10.11.2001, S. 1–21. 19 Hiervon ausgehend auch Kiem in KölnKomm. AktG, 3. Aufl., Bd. 8/2, 2010, Art. 60 SE-VO Rz. 1 und 17.  20 Dass die im Zusammenhang mit Kapitalerhöhungen und Kapitalherabsetzungen verwendeten Richtlinien-Worte „berührt werden“ ebenso zu verstehen sind wie das für Verschmelzungen und Spaltungen geltende Tatbestandsmerkmal „beeinträchtigt werden“, betonen auch Brause, Stimmrechtslose Vorzugsaktien bei Umwandlungen, 2002, S. 59 f. sowie Polte, Aktien­gattungen, 2005, S. 402 f. und 407, jeweils unter Berücksichtigung nichtdeutscher Richtlinienfassungen, wo kein Formulierungsunterschied besteht. Auch in Art. 60 Abs. 1 SE-VO ist das „berührt werden“ im Sinne von ‚nachteilig berührt werden‘ zu verstehen; so auch S. ­Fischer, ZGR 2013, 832, 836 ff.; Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl., Bd. 7 Europäisches Aktienrecht, 2017, Art. 60 SE-VO Rz. 4 auch Rz. 1; Kiem in KölnKomm. AktG, 3. Aufl., Bd. 8/2, 2010, Art. 60 SE-VO Rz. 6; ausführlich Vins, Die Ausgabe konkurrierender Vorzugsaktien bei der SE, 2014, S. 63 ff.

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Sonderbeschluss ist vielmehr nur erforderlich, wenn die Aktionäre einer Gattung nachteilig betroffen sind, und zwar in ihrer besonderen Rechtsstellung, das heißt anders als die übrigen Aktionäre. Die europäischen Sonderbeschlusstatbestände sind also enger als die deutschen und decken sich mit deren hartem Kern, den § 179 Abs. 3 AktG in die Worte fasst, dass „das bisherige Verhältnis mehrerer Gattungen von Aktien zum Nachteil einer Gattung geändert“ wird. Damit verharrt das EU-Recht auf dem Stand des deutschen Gesetzes von 1884 bis 1897, als auch zu Kapitalerhöhungen und Kapitalherabsetzungen nur ein Sonderbeschluss „der benachtheiligten Aktionäre“ geboten war und nicht wie heute der Aktionäre jeder Gattung. Das deutsche Gesetz steht aber mit der EU-Richtlinie nicht im Widerspruch,21 denn diese verlangt Sonderbeschlüsse „zumindest“ der nachteilig betroffenen Aktionäre22 und lässt damit weitergehende nationale Regeln zu. Es gibt allerdings auch in Deutschland gesetzespolitische Vorschläge, die Sonderbeschlusserfordernisse auf ihren alten und harten und jetzt auch europäischen Kern zurückzuschneiden und bei Kapitalund Strukturmaßnahmen in Anlehnung an § 179 Abs. 3 AktG einen Sonderbeschluss nur zu verlangen, wenn das Verhältnis der Aktiengattungen zum Nachteil einer Gattung verändert wird.23 Es sei nämlich „kein Grund ersichtlich, weshalb bei Vorhandensein mehrerer Gattungen von Aktien den Aktionären jeder Gattung durch das Sonderbeschlusserfordernis ein Vetorecht eingeräumt werden sollte, wenn sie von der zur Beschlussfassung stehenden Maßnahme nicht (nachteilig) berührt sind.“24 Eine solche Reduktion der deutschen Sonderbeschlusstatbestände wäre ohne Zweifel EU-­ rechtskonform. Ob sie indessen einen Sinn ergeben würde, lässt sich nur beurteilen, wenn man die Systematik und die Wertungsgrundlagen der Sonderbeschlussregeln versteht.

III. Systematik, Wertungsgrundlagen und Geltungsbereich der Sonderbeschlussregeln 1. Sonderbeschlüsse als Zustimmungsbeschlüsse zu Ungleichbehandlungen Sind Aktien einer Gattung mit besseren Rechten als andere Aktien ausgestattet, handelt es sich um Vorzugsaktien, und die gewöhnlichen Aktien sind Stammaktien. Mitgliedschaftliche Vorzugsrechte sind im Kern Sonderrechte, das heißt Rechte, die nicht 21 Ebenso Brause, Stimmrechtslose Vorzugsaktien bei Umwandlungen, 2002, S. 21; Polte, Aktiengattungen, 2005, S. 398 f. 22 Vgl. bei Fn. 13.  23 Baums, Bericht der Regierungskommission Corporate Governance  – Unternehmensführung – Unternehmenskontrolle – Modernisierung des Aktienrechts, BT-Drucks. 14/7515 v. 14. 8. 2001, Rz. 241; Handelsrechtsausschuss des DAV, Stellungnahme zu den Gesetzgebungsvorschlägen der Regierungskommission Corporate Governance, BB 2003, Beilage 4 zu Heft 19, S. 20; Polte, Aktiengattungen, 2005, S. 392 ff., insbes. S. 396 f., 401-409, 418 f. Ablehnend A. Fuchs in FS Immenga, 2004, S. 589, 605 f.; A. Fuchs, ZGR 2003, 167, 190. 24 Baums, Bericht der Regierungskommission Corporate Governance – Unternehmensführung – Unternehmenskontrolle – Modernisierung des Aktienrechts, BT-Drucks. 14/7515 v. 14. 8. 2001, Rz. 241. 

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allen Mitgliedern, sondern nur manchen von ihnen zustehen. Solche Sonderrechte eines Mitglieds können nach §  35 BGB nicht ohne dessen Zustimmung durch Beschluss der Mitgliederversammlung beeinträchtigt werden. Das war im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 noch deutlicher ausgesprochen: „Gesellschaftliche Rechte, welche nicht sämmtlichen Mitgliedern, sondern nur Einem oder dem Anderen, als Mitgliede zukommen, können denselben, wider ihren Willen, durch die bloße Stimmenmehrheit nicht genommen oder eingeschränkt werden.“25 Hinter diesen Regeln und auch hinter den aktienrechtlichen Sonderbeschlussgeboten steht letztlich der Grundsatz der gleichmäßigen Behandlung im Gesellschafts- und Verbandsrecht.26 Mehrheitsentscheidungen, die sich auf alle Mitglieder gleichmäßig auswirken, bergen grundsätzlich eine Gerechtigkeits- und Effizienzgewähr in sich, weil das Abstimmungsverhalten dann typischerweise nicht von Sonderbelangen und Umverteilungsinteressen einzelner Mitglieder geleitet ist, sondern auf das Wohl der Gemeinschaft als Ganzem zielt.27 Das funktioniert aber nicht mehr, wenn die Mitglieder verschiedene Rechte haben und diese Rechte verändert werden. Solche Veränderungen sind eine Ungleichbehandlung. Ein Vorzugsrecht, wie zum Beispiel das Recht auf vorrangige Teilhabe an Gewinnausschüttungen bis zu einem bestimmten Betrag, ist wie eine Sonderparzelle des Vorzugsmitglieds, und die gewöhnlichen Rechte auf Teilhabe am übrigen Gewinn sind eine Art Allmende für alle Mitglieder. Wird die Vorzugsparzelle verkleinert und ein Teil von ihr der Allmende zugeschlagen, haben die anderen Mitglieder hiervon einen Vorteil, und das Vorzugsmitglied hat einen entsprechenden Nachteil. Und wenn umgekehrt die Vorzugsparzelle zu Lasten der Allmende vergrößert wird, werden die gewöhnlichen Mitglieder ungleichmäßig benachteiligt. Solchen umverteilenden privatrechtlichen Mehrheitsentscheidungen wohnt 25 PrALR Zweiter Teil, Sechster Titel § 68. So ist der Begriff des Sonderrechts auch heute zu verstehen, s. statt vieler Zöllner, Die Schranken mitgliedschaftlicher Stimmrechtsmacht bei den privatrechtlichen Personenverbänden, 1963, S. 109 f.; Wiedemann, Gesellschaftsrecht, Bd. I, 1980, S. 357-360; Beuthien, ZGR 2014, 24, 25 ff. 26 Zum Zusammenhang und Ineinandergreifen von Sonderrechten bzw. besonders berechtigenden Aktiengattungen und Gleichbehandlung s. Verse, Der Gleichbehandlungsgrundsatz im Recht der Kapitalgesellschaften, 2006, S. 207 f., 323-327, 501; G. Hueck, Der Grundsatz der gleichmäßigen Behandlung im Privatrecht, 1958, S. 91 f., 262, 311; T. Bezzenberger, Vorzugsaktien ohne Stimmrecht, 1991, S. 119 ff.; Kalss in FS Aicher, 2012, S. 247, 249, 252, 259  f.; Polte, Aktiengattungen, 2005, S.  113  f., 126, 401; Stein in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 179 AktG Rz. 179. Auch OLG Köln v. 20.9.2001 – 18 U 125/01, Ziff. 2 der Entscheidungsgründe, ZIP 2001, 2049, 2051  f., beurteilt die Umwandlung von stimmrechtslosen Vorzugsaktien in Stammaktien unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung (§ 53a AktG) bzw. Ungleichbehandlung von Vorzugsaktionären und (alten) Stammaktionären. Mit gleichem Ansatz LG Krefeld v. 20.12.2006 – 11 O 70/06, ZIP 2007, 730, 733 f („Jagenberg“). Dass Sonderrechte und Gleichbehandlung zusammenhängen, bestreitet dagegen Berg, Schwebend unwirksame Beschlüsse privatrechtlicher Verbände, 1994, S. 132 (abschwächend aber S. 134, 136). 27 Verse, Der Gleichbehandlungsgrundsatz im Recht der Kapitalgesellschaften, 2006, S. 56-58, 79, 326 und passim; Fastrich, Funktionales Rechtsdenken am Beispiel des Gesellschaftsrechts, 2001, S. 20 ff., 49, 51 f. Der Gedanke klingt auch an in BVerfG v. 23.8.2000 – 1 BvR 68/95, zu Ziff. II. 1. a) bb) (1) der Gründe, ZIP 2000, 1670, 1672 re. Sp. („Moto Meter“).

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keine allgemeine Gerechtigkeits- und Effizienzgewähr inne. Vielmehr muss die Ungleichbehandlung im Einzelfall sachlich gerechtfertigt sein, was in privatrechtlichen Vereinigungen schwer ist, oder die benachteiligten Mitglieder müssen zustimmen. Eine rechtfertigende Zustimmung zu Ungleichbehandlungen und namentlich zu einem Eingriff des Verbands in Vorrechte einzelner Mitglieder muss grundsätzlich von jedem einzelnen benachteiligten Mitglied erklärt werden. So will es das Gesetz beim Eingriff in Sonderrechte von Vereinsmitgliedern (§ 35 BGB), ebenso verhält es sich im Recht der GmbH,28 und so sahen es manche im 19. Jahrhundert auch in der Ak­ tiengesellschaft.29 Die Einzelzustimmung passt jedoch für diese Gesellschaftsform schlecht. Die Rechte und meistens auch die Vorzugsrechte der Aktionäre sind nicht auf die Person zugeschnitten, sondern in der Aktie als Kapitalanteil verankert, und die Aktien sind standardisiert, damit man mit ihnen Handel treiben kann. Aktien mit Vorzugsrechten und andere Aktien bilden dann jeweils Aktien besonderer Gattung. Deren Inhaber sind unter sich gleichgestellt, so dass innerhalb der Aktionärsgattung der Interessengleichlauf gewährleistet ist und das Mehrheitsprinzip wieder funk­ tioniert.30 Deshalb ist hier die Einzelzustimmung durch einen mehrheitlichen Sonderbeschluss der benachteiligten Aktionärsgattung ersetzt und damit die Zustimmungsbefugnis vergemeinschaftet. Die Sonderbeschlussregeln erschweren nicht die Veränderung von Rechtsverschiedenheiten der Aktiengattungen, sondern erleichtern sie vielmehr, um die Verbandsordnung beweglich und anpassungsfähig zu halten. Der mehrheitlich zustimmende Sonderbeschluss der benachteiligten Aktionärsgattung rechtfertigt die ungleichmäßige Behandlung. Eine sachliche Rechtfertigung im Gesellschaftsinteresse ist darüber hinaus nicht erforderlich.31 Das entspricht der allgemeinen Regel, dass eine ungleichmäßige Behandlung von Gesellschaftern rechtens ist, wenn entweder eine sachliche Rechtfertigung im Gesellschaftsinteresse vorliegt, oder wenn die Benachteiligten zustimmen. Eines von beiden genügt.32 28 S. statt vieler Ulmer/Casper in Großkomm. GmbHG, 2. Aufl. 2013, § 5 GmbHG Rz. 184 m.w.N. 29 T. Bezzenberger, Vorzugsaktien ohne Stimmrecht, 1991, S. 117 m.w.N. 30 Verse, Der Gleichbehandlungsgrundsatz im Recht der Kapitalgesellschaften, 2006, S. 326 f.; Fastrich, Funktionales Rechtsdenken am Beispiel des Gesellschaftsrechts, 2001, S. 22, 45.  31 Verse, Der Gleichbehandlungsgrundsatz im Recht der Kapitalgesellschaften, 2006, S. 325327. Ebenso speziell für die Umwandlung von stimmrechtslosen Vorzugsaktien in Stamm­ aktien unter Aufhebung des Gewinnvorzugs (§  141 Abs.  1 AktG) Bormann in Spindler/ Stilz, 4. Aufl. 2019, § 141 AktG Rz. 21; ausführlich Wang, Vorzugsaktie ohne Stimmrecht, 2016, S. 230 ff.; des Weiteren Senger/Vogelmann, AG 2002, 193, 210 ff.; Wirth/Arnold, ZGR 2002, 859, 877 (eher offen lassend aber 882); T. Bezzenberger, Vorzugsaktien ohne Stimmrecht, 1991, S. 128. Anders Krieger in FS Lutter, 2000, S. 497, 516; dem zuneigend R. Krause, ZHR 181 (2017), 641, 683 f. Vgl. auch OLG Köln v. 20.9.2001 – 18 U 125/01, Ziff. 2 der Entscheidungsgründe, ZIP 2001, 2049, 2051 f. und LG Köln v. 7.3.2001 – 91 O 131/00, ZIP 2001, 572, 573 f. als Vorinstanz, betreffend die Umwandlung stimmrechtsloser Vorzugsaktien in Stammaktien. Die Gerichte überprüfen den Vorgang (vorsorglich?) unter dem Gesichtspunkt des § 53a AktG und bejahen im konkreten Fall eine sachliche Rechtfertigung der Aktienumwandlung. 32 G. Hueck, Der Grundsatz der gleichmäßigen Behandlung im Privatrecht, 1958, S. 260 ff.; Verse, Der Gleichbehandlungsgrundsatz im Recht der Kapitalgesellschaften, 2006, S. 320-323. 

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2. Sonderbeschlüsse zu Kapitalmaßnahmen und Umwandlungen Auch Kapitalveränderungen und Umwandlungen können sich auf Aktien verschiedener Gattung unterschiedlich auswirken und zum Nachteil der einen oder anderen Aktiengattung ausschlagen. Ob und in welcher Weise dies im einzelnen Fall geschieht, lässt sich jedoch sehr oft nicht sicher vorhersagen, weil viele Faktoren im Spiel sind. Das sieht man besonders deutlich bei der Ausgabe neuer Aktien aus einer Kapitalerhöhung. Hier treten die Rechte aus den neuen Aktien auf Teilhabe an Gewinnausschüttungen und am Wert des Gesellschaftsvermögens mit den Teilhaberechten aus den alten Aktien in Konkurrenz. Zugleich aber fließen auf die neuen Aktien neue Einlagen in die Gesellschaft, die deren Vermögen sowie ihr Gewinnerzielungs- und Ausschüttungspotenzial vergrößern. Es wird nicht nur der Verteilungsschlüssel verändert, sondern auch die Verteilungsmasse erweitert. Der Vorgang kann daher das Verhältnis verschiedener Gattungen von Aktien auf unterschiedliche Weisen verändern. Angenommen, es gibt in einer Gesellschaft Stammaktien und stimmberechtigte Vorzugsaktien mit dem Recht auf eine Vorabdividende, das heißt auf vorrangige Teilhabe an Gewinnausschüttungen bis zu einer bestimmten Höhe. Werden jetzt weitere gleichartige Vorzugsaktien ausgegeben, sind höhere Gewinnausschüttungen erforderlich, um alle Vorzugsrechte abzudecken. Der Gewinnvorzug der alten Vorzugsaktien wird insoweit unsicherer und schwächer. Die Gewinnteilhabe der Stammaktionäre wird wirtschaftlich sogar noch mehr gefährdet. Aber deren allgemeines Gewinnrecht ist qualitativ etwas anderes als das Vorzugsgewinnrecht, so dass man schon insoweit nicht genau weiß, wer rechtlich mehr belastet wird. Auf der anderen Seite steigen wegen der Einlagen auf die neuen Vorzugsaktien die Gewinne der Gesellschaft, wenn diese die Einlagen profitabel verwendet. Das macht für sich genommen die bestehenden Gewinnvorzugsrechte sicherer und fester und kann auch den Stammaktien zugutekommen. Ob der Umverteilungsfaktor oder der Wachstumsfaktor stärker ist, und ob die alten Vorzugsaktien oder die Stammaktien unter der Kapitalerhöhung in besonderem Maße leiden oder nicht, hängt davon ab, ob die künftigen Gewinnausschüttungen mehr oder weniger steigen als dasjenige, was hiervon auf die neuen konkurrierenden Vorzugsrechte entfällt, und wieviel dann noch für die Stammaktionäre übrig bleibt.33 Das wiederum hängt davon ab, wie und mit welchem Erfolg die Gesellschaft das neue Einlagekapital investiert. All dies lässt sich im Zeitpunkt der Kapitalerhöhung schwerlich voraussagen. Sowohl die Vorzugsaktionäre als auch die Stammaktionäre können daher durch die Kapitalerhöhung ungleichmäßig benachteiligt werden. Weil man die Auswirkungen von Kapital- und Strukturmaßnahmen auf das Verhältnis der Teilhaberechte von Aktien verschiedener Gattungen typischerweise nicht vorab beurteilen kann, müssen den meisten dieser Maßnahmen die Aktionäre jeder Gattung durch Sonderbeschluss zustimmen (§§ 182 Abs. 2 und 222 Abs. 2 AktG, § 65 Abs. 2 UmwG etc.34). Es muss nicht feststehen, dass die Maßnahme besondere Nach33 T. Bezzenberger, Vorzugsaktien ohne Stimmrecht, 1991, S. 141 f. 34 S. wieder die Auflistung oben in Fn. 1. 

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teile für diese oder jene Gattung von Aktien mit sich bringt. Vielmehr genügt die bloße Möglichkeit, dass eine der Aktiengattungen besonders benachteiligt wird, oder auch beide in unterschiedlicher Weise. Diese Möglichkeit ist in den Kapital- und Strukturmaßnahmen ihrer Art nach angelegt. Hierin besteht der Unterschied gegenüber dem Sonderbeschlussgebot des § 179 Abs. 3 AktG bei gattungsrechteverschiebenden Satzungsänderungen. Dieses baut auf konkrete und feststehende Sondernachteile für Aktien einer bestimmten Gattung auf, gleichsam auf einen Verletzungstatbestand. Die hier angesprochenen Sonderbeschlussgebote knüpfen dagegen an eine abstrakte Gefährdung an.35 Die Schutzrichtung ist dieselbe,36 aber der Umfang des Schutzes ist weiter. Es handelt sich um zwei konzentrische Regelungskreise, einen engen, der gleichsam den harten Kern der aktienrechtlichen Sonderbeschlussgebote bildet, und einen weiten. Das stimmt skeptisch gegenüber dem oben angesprochenen Vorschlag, die Sonderbeschlusstatbestände des deutschen Gesetzes wie im EU-Recht auf Fälle zu reduzieren, in denen Aktien einer bestimmten Gattung wirklich und nachweislich benachteiligt werden.37 Die Idee hat zwar etwas für sich. Die Sonderbeschlussgebote treiben den Minderheitenschutz schon sehr weit. Solche Beschlüsse bedürfen regelmäßig der gleichen Dreiviertel-Mehrheit wie der zugrundeliegende Hauptversammlungsbeschluss, so dass schon eine ziemlich kleine Minderheit der Minderheit wichtige Kapital- und Strukturmaßnahmen blockieren kann. Auf der anderen Seite würde ein Rückschnitt der Sonderbeschlussgebote auf wirklich nachteilige Maßnahmen sehr große Rechtsunsicherheit auslösen, weil sich bei Kapital- und Strukturmaßnahmen sehr oft und wohl sogar meistens nicht absehen lässt, welche Aktiengattung hierdurch inwieweit besonders benachteiligt wird. Dem deutschen Gesetzgeber standen deshalb gute Gründe zur Seite, als er 1897 für Kapitalveränderungen Sonderbeschlüsse aller Ak­ tionärsgattungen verlangte38 und bei der Umsetzung der europäischen Verschmelzungsrichtlinie noch einmal darauf verzichtet hat, das Sonderbeschlussgebot von ­einer konkreten Rechtsbeeinträchtigung abhängig zu machen, weil dies „als unbestimmter Rechtsbegriff vorausschauend nur sehr schwer zu beurteilen“ ist.39 3. Der Sonderbeschlussgedanke als Allheilmittel für kollektive Ungleichbehandlungen? Die Bestimmung des § 179 Abs. 3 AktG, wonach ein Satzungsänderungsbeschluss der Hauptversammlung, der das bisherige Verhältnis mehrerer Gattungen von Aktien 35 Ausführlich T. Bezzenberger, Vorzugsaktien ohne Stimmrecht, 1991, S. 140 ff.; kurz auch Kalss in FS Aicher, 2012, S. 247, 251 f.; im gleichen Sinne Verse, Der Gleichbehandlungsgrundsatz im Recht der Kapitalgesellschaften, 2006, S.  325  f.; A.  Fuchs in FS Immenga, 2004, S. 589, 592, 596 f.; A. Fuchs, ZGR 2003, 167, 1.  36 Anders A. Fuchs in FS Immenga, 2004, S. 589, 597, 602 f., 606.  37 S. oben bei Fn. 23 f. 38 S. oben bei Fn. 8 ff. 39 RegE Verschmelzungsrichtlinie-Gesetz, BT-Drucks. 9/1065 v.  23.11.1981, Anlage 1, Begründung zu Art. 1 Nr. 4 (betr. § 340c AktG a.F., die Vorgängernorm des heutigen § 65 UmwG), S. 17 re. Sp.

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zum Nachteil einer Gattung verändert, zu seiner Wirksamkeit eines zustimmenden Sonderbeschlusses der benachteiligten Aktionäre bedarf, setzt dem Wortlaut nach voraus, dass schon mehrere Gattungen von Aktien vorhanden sind. Es geht um die ­Umgestaltung bestehender Verschiedenheiten von Aktiengattungen. Wenn dagegen durch einen Eingriff in Teilhaberechte einheitlich ausgestatteter Aktien erstmals eine Gattungsverschiedenheit begründet wird, ist der Tatbestand des § 179 Abs. 3 AktG nicht erfüllt und diese Norm nach fest überlieferter Auffassung auch nicht entsprechend oder dem Rechtsgedanken nach anwendbar. Vielmehr müssen nach vorwaltender Meinung alle nachteilig betroffenen Aktionäre einer solchen Ungleichbehandlung einzeln zustimmen.40 So namentlich, wenn im Wege der Satzungsänderung die gleichmäßige Gewinnteilhabe aller Aktien, die das Gesetz dispositiv vorgibt (§  60 Abs. 1 AktG), durch eine nach Aktiengattungen abgestufte Gewinnverteilung (§ 60 Abs. 3 AktG) ersetzt wird; gerade auch hier ist nach ganz herrschender Meinung eine Einzelzustimmung der zurückgesetzten Aktionäre geboten.41 Dies wird in neuerer Zeit von manchen bestritten. Ähnlich wie bei einer Umgestaltung bestehender Aktiengattungen soll auch bei anderen kollektiven Ungleichbehandlungen ein Mehrheitsentscheid der benachteiligten Aktionäre die Zustimmung der Einzelnen ersetzen können,42 etwa wenn im Wege der Satzungsänderung ein vom gesetzlichen Modell der gleichmäßigen Gewinnteilhabe abweichender Gewinnverteilungsschlüssel (§ 60 Abs. 3 AktG) eingeführt wird.43 Wenn und weil nämlich auch in diesen Fällen die zurückgesetzten Aktionäre untereinander in gleicher Lage seien und durch die Veränderung in gleicher Weise betroffen würden, bestehe unter ihnen kein Interessenkonflikt, so dass die Mehrheit entscheiden könne.44 Man könne zwar nicht aus freier Hand Sonderbeschlusserfordernisse aufstellen, die das Gesetz nicht kennt, aber der Rechtsgedanke der Sonderbeschlussregeln lasse sich fruchtbar machen, indem die begünstigten Aktionäre an der Abstimmung in der Hauptversammlung nicht teilnehmen und damit die Entscheidung allein den zurückgesetzten Aktionären über40 Eindringlich Brodmann, Aktienrecht, 1928, § 275 HGB a.F. Anm. 3. a); des Weiteren Zöllner in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 1989, § 179 AktG Rz. 181 und ihm folgend Zetzsche in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2019, § 179 AktG Rz. 412; Wiedemann in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1994, § 179 AktG Rz. 142; Stein in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 179 AktG Rz. 185 a.E.; Polte, Aktiengattungen, 2005, S. 88 ff.; im selben Sinne Seibt in K. Schmidt/ Lutter, 3. Aufl. 2015, § 179 AktG Rz. 50; Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 179 AktG Rz.  43; Körber in Bürgers/Körber, 4. Aufl. 2017, § 179 AktG Rz. 54; der Sache nach auch schon RG v. 7.5.1898 – I 33/98, RGZ 41, 97, 98 f. 41 Bayer in MünchKomm. AktG, 4.  Aufl. 2016, §  60 AktG Rz.  19; Drygala in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 60 AktG Rz. 28 ff.; Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 60 AktG Rz. 8; Westermann in Bürgers/Körber, 4. Aufl. 2017, § 60 AktG Rz. 6; Griegoleit/Rachlitz in Grigoleit, 2013, § 60 AktG Rz. 9. Ebenso mehr oder weniger explizit die oben in Fn. 40 Genannten. 42 Verse, Der Gleichbehandlungsgrundsatz im Recht der Kapitalgesellschaften, 2006, S. 327329.  43 Cahn in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 60 AktG Rz. 21 ff., insbesondere Rz. 22 und 24; Kalss in FS  Aicher, 2012, S.  247, 259; hiermit sympathisierend Fleischer in K.  Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 60 AktG Rz. 16.  44 Verse, Der Gleichbehandlungsgrundsatz im Recht der Kapitalgesellschaften, 2006, S. 326328. 

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lassen, so dass der Hauptversammlungsbeschluss zugleich wie ein Sonderbeschluss wirkt.45 Doch hier ist Vorsicht angebracht. Die angesprochenen Vorgänge unterscheiden sich nämlich von einer Umgestaltung schon bestehender Verschiedenheiten von Aktien­ gattungen. Im letzteren Fall ist die Gruppe der Abstimmungsberechtigten vorgegeben; ihre Zusammensetzung steht fest. Bei der erstmaligen Bildung von Aktiengattungen und sonstigen Maßnahmen, die bislang gleichberechtigte Aktionäre ungleich behandeln, werden dagegen die Gruppen erst durch die zur Entscheidung stehende Veränderung konstituiert, so dass derjenige, der diese Veränderung betreibt, sich eine genehme Abstimmungsgruppe zusammenstellen kann. Hierzu ein Beispiel: An einer Familien-Aktiengesellschaft sind neben Mutter Großaktionär (40 %) und Vater Großaktionär (40 %), die persönlich und finanziell miteinander im Einklang stehen, noch die geliebten Verwandten (10 %) und die ungeliebten Verwandten (10  %) beteiligt. Die Hauptversammlung stattet nun satzungsändernd die Aktien von Mutter Großaktionär und der geliebten Verwandten mit Vorzugsrechten bei der Verteilung des Gewinns aus, so dass sich die Gewinnteilhaberechte von Vater Großaktionär und der ungeliebten Verwandten entsprechend vermindern. An der Beschlussfassung der Hauptversammlung nehmen Mutter Großaktionär und die geliebten Verwandten nicht teil, und der Beschluss wird von Vater Großaktionär mit Vier-Fünftel-Mehrheit gegen die Stimmen der ungeliebten Verwandten durchgesetzt. So wird man diese bei der Gewinnverteilung los, tut den geliebten Verwandten etwas Gutes, und Vater und Mutter Großaktionär stehen gemeinsam genau wie zuvor. Hier ist die benachteiligte Gruppe nicht interessenhomogen und deshalb der Mehrheitswille kein hinreichender Geltungsgrund für die Ungleichbehandlung. Gleichwohl lässt sich der Gedanke, dass bei Ungleichbehandlungen, die eine Vielzahl von Aktionären betreffen, der Mehrheitswille der Zurückgesetzten eine Bedeutung hat, nicht ganz von der Hand weisen. Wenn etwa beim Rückkauf eigener Aktien durch die Gesellschaft aus den Händen eines einzelnen Aktionärs die anderen Aktionäre, die ihre Aktien nicht an die Gesellschaft zurückverkaufen dürfen, dem Vorstand mehrheitlich eine entsprechende Ermächtigung erteilen und damit den Vorgang gutheißen, wird man das je nach Lage des Falls als Rechtfertigungselement für die Ungleichbehandlung anerkennen können.46 Dabei muss man bedenken, dass Ungleichbehandlungen nicht nur rechtmäßig sind, wenn die Benachteiligten zustimmen, sondern auch durch einen objektiven Sachgrund im Interesse der Gesellschaft gerechtfertigt sein können. Dies sind keine starren Alternativen, sondern Momente, die ineinander übergehen können. Meistens wird es ein Sachmoment als Anknüpfungspunkt geben. 45 Verse, Der Gleichbehandlungsgrundsatz im Recht der Kapitalgesellschaften, 2006, S. 327 f. Für eine Sonderbeschlussfassung in Anlehnung an § 179 Abs. 3 AktG demgegenüber Cahn in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 60 AktG Rz. 24; dem zuneigend Fleischer in K. Schmidt/ Lutter, 3. Aufl. 2015, § 60 AktG Rz. 16.  46 T. Bezzenberger, Erwerb eigener Aktien durch die AG, 2002, Rz. 144 in Anlehnung an das damalige UK company law; Verse, Der Gleichbehandlungsgrundsatz im Recht der Kapitalgesellschaften, 2006, S. 327 f.

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Dann kommt es im zweiten Schritt der Beurteilung darauf an, ob dieses mit dem Gesellschaftsinteresse gleichläuft und die Belange der zurückgesetzten Aktionäre überwiegt. Hierbei muss man auch dem Mehrheitswillen der zurückgesetzten Aktionäre Beachtung schenken, wenn diese untereinander in gleicher Lage und von der Maßnahme in gleicher Weise betroffen sind. Das ist jedoch keineswegs ausgemacht, wie das Beispiel mit der Familien-AG gezeigt hat; man kann hiervon nicht wie bei vorgege­ benen Aktiengattungen im Regelfall ausgehen, sondern die Gleichbetroffenheit muss im Einzelfall feststehen. 4. Die Reichweite der Mehrheitsmacht innerhalb der Aktionärsgattung So kommt man am Ende doch nicht ganz in das klare und in sich abgeschlossene System der Sonderbeschlussregeln hinein, wenn es noch keine verschiedenen Aktiengattungen gibt, sondern bleibt im Bereich der Einzelfallbeurteilung. Um aber diesen Beitrag doch noch mit etwas Subsumtionsfähigem zu beenden, sei der Blick noch einmal auf die Reichweite der Mehrheitsmacht beim Bestehen verschiedener Aktiengattungen geworfen. Einer Mehrheitsbeschlussfassung nach § 179 Abs. 3 AktG unterliegt ohne Zweifel die Veränderung gattungsspezifischer Mitgliedschaftsrechte. Gibt es in einer Gesellschaft neben den gewöhnlichen Aktien (Stammaktien) noch Vorzugsaktien mit bevorrechtigter Gewinnteilhabe, so erfordert eine satzungsändernde Verkürzung des Gewinnvorrechts einen Sonderbeschluss der Vorzugsaktionäre, und für die Erweiterung dieses Rechts ist ein Sonderbeschluss der Stammaktionäre erforderlich. Dagegen soll nach überlieferter Auffassung ein mehrheitlicher Sonderbeschluss nicht mehr genügen, sondern die Einzelzustimmung der Benachteiligten geboten sein, wenn allgemeine Mitgliedschaftsrechte einer Gattung von Aktionären verkürzt werden.47 So etwa, wenn den Vorzugsaktionären für den Fall der Auflösung und Abwicklung der Gesellschaft noch eine bevorrechtigte Teilhabe an einem Abwicklungsüberschuss zugesprochen wird. Das ist jedoch vom Wortlaut des § 179 Abs. 3 AktG („Verhältnis mehrerer Gattungen von Aktien zum Nachteil einer Gattung geändert“) nicht vorgegeben und auch in der Sache nicht richtig. Weshalb sollen die Stammaktionäre per Mehrheitsbeschluss einer Schmälerung ihrer Gewinnteilhabe zustimmen können, aber nicht einer Schmälerung ihrer Teilhabe am Wert des Gesellschaftsvermögens? Der Grundgedanke der Sonderbeschlussregel, nämlich dass innerhalb einer vorgegebenen Gattung die Aktionäre in gleicher Lage und in gleicher Weise betroffen sind, so dass die Mehrheit für den Einzelnen sprechen kann, kommt in beiden Fällen gleichermaßen zum Tragen. Und wenn hiernach die Stammaktionäre mehrheitlich den Vorzugsaktionären eine bessere Vermögensteilhabe zusprechen können, muss Gleiches auch für die Vorzugs47 RG v. 7.5.1898 – I 33/98, RGZ 41, 97, 99; Zetzsche in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2019, § 179 AktG Rz.  416  f.; auch schon Zöllner in KölnKomm. AktG, 2.  Aufl. 1989, §  179 AktG Rz. 185 f.; Wiedemann in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1994, § 179 AktG Rz. 143, 147; Polte, Aktiengattungen, 2005, S. 114; Ehmann in Grigoleit, 2013, § 179 AktG Rz. 39. 

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aktionäre gelten, wenn die bisherigen Stammaktionäre ein solches oder ein anderes Vorrecht erhalten sollen.48

IV. Zusammenfassung Sonderbeschlüsse der Inhaber von Aktien besonderer Gattung sind kollektive Zustimmungserklärungen zu Maßnahmen, die eine Ungleichbehandlung der Aktien­ gattungen oder eine hierhingehende Gefahr in sich bergen. Anders als sonst im Gesellschafts- und Verbandsrecht müssen die Benachteiligten der Maßnahme nicht einzeln zustimmen, sondern es genügt ein Mehrheitsentscheid, weil innerhalb der Gattung die Aktionäre in gleicher Lage und von der Veränderung in gleicher Weise betroffen sind, so dass die Mehrheit für den Einzelnen sprechen kann. Das gilt beim Bestehen verschiedener Gattungen von Aktien nicht nur für die Veränderung gattungsspezifischer Rechte, sondern auch für eine Umgestaltung allgemeiner Mitgliedschaftsrechte. Dass zu Kapitalveränderungen und Umwandlungen in Aktiengesellschaften mit mehreren Gattungen von Aktien Sonderbeschlüsse nicht nur der benachteiligten Aktio­ näre, sondern der Aktionäre jeder stimmberechtigten Gattung geboten sind, ist gesetzespolitisch sinnvoll. Man weiß nämlich bei diesen Maßnahmen typischerweise vorab nicht, wie sie sich auf verschiedene Aktiengattungen auswirken. Es genügt deshalb, dass sie ihrer Art nach geeignet sind, das Verhältnis der Aktiengattungen zu verändern, ohne dass dies im Einzelfall feststehen muss. Die gesetzlichen Sonderbeschlusstatbestände setzen voraus, dass es schon verschiedene Aktiengattungen gibt, deren Verhältnis umgestaltet wird. Man kann den Sonderbeschlussgedanken aber auch für andere kollektive Ungleichbehandlungen fruchtbar machen, die eine Vielzahl von Aktionären betreffen. Voraussetzung ist allerdings, dass die Abstimmungsgruppe nicht manipulativ zusammengestellt ist und ihre Mitglieder wirklich in gleicher Weise betroffen sind. Davon kann man anders als bei der Umgestaltung vorgegebener Aktiengattungen nicht ohne Weiteres ausgehen.

48 Kalss in FS Aicher, 2012, S.  247, 259; eher hierhingehend auch Stein in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 179 AktG Rz. 189; im gleichen Sinne KG v. 22.9.1896 – I J 325/96, KGJ 16, 14, 21, wo in einer Gesellschaft mit Stammaktien und stimmberechtigten Vorzugsaktien nur die Stammaktien zusammengelegt werden sollten und das Gericht hierfür einen Sonderbeschluss der Stammaktionäre für geboten, aber auch für genügend erachtet hat.

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Der wirtschaftlich Berechtigte als neuer Akteur im deutschen Unternehmensrecht Inhaltsübersicht I. Einführung II. Das Transparenzregister als neuartiges Register 1. Erfassung der wirtschaftlich Berechtigten von Vereinigungen 2. Wirtschaftlich Berechtigte 3. Mitteilungs- und Angabepflichten 4. Sanktionen III. Aufwertung des Begriffs des wirtschaftlich Berechtigten 1. Genese des Begriffs des wirtschaftlich Berechtigten 2. Ursprüngliche Funktion: Identifikation potenzieller Vertragspartner durch geldwäscherechtlich Verpflichtete

3. Transparenzregisterbezogene Pflicht zur vorbehaltlosen und flächendeckenden Klärung wirtschaftlicher Berechtigungen IV. Leitlinien zur Konturierung des Begriffs des wirtschaftlich Berechtigten vor dem Hintergrund seines neuen Regelungs­ zusammenhangs 1. Zwei Grundkategorien wirtschaftlicher Berechtigung 2. Doppelfunktion des Kontrollbegriffs in § 3 Abs. 2 GwG a) Kontrolle als Grundlage wirtschaft­ licher Berechtigung b) Kontrolle als Zurechnungskriterium 3. Schuldrechtlich vermittelte wirtschaft­ liche Berechtigung V. Zusammenfassung in Thesen

I. Einführung Mit dem Gesetz zur Umsetzung der 4. EU-Geldwäscherichtlinie1 aus dem Jahr 20172 verbindet sich das gesetzgeberische Ziel der Verhinderung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung.3 Erreicht werden soll dieses zum einen durch Verschärfungen und Ausweitungen des bereits existenten regulatorischen Rahmens für geldwäscherechtlich Verpflichtete – also insbesondere Unternehmen der Finanzbranche –,4 zum 1 Richtlinie (EU) 2015/849 des Europäischen Parlaments und des Rats vom 20.5.2015 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung, zur Änderung der Verordnung (EU) Nr.  648/2012 des Europäischen ­Parlaments und des Rates zur Aufhebung der Richtlinie 2005/60/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und der Richtlinie 2006/70/EG der Kommission („4. Geldwäscherichtlinie“), ABl. L 141 v. 5.6.2015, S. 73. 2 Gesetz zur Umsetzung der Vierten EU-Geldwäscherichtlinie, zur Ausführung der EU-Geld­ transferverordnung und zur Neuorganisation der Zentralstelle für Finanztransaktionsuntersuchungen („4. Geldwäscherichtlinie-Umsetzungsgesetz“) v. 23.6.2017, BGBl. I 2017, 1822. 3 Vgl. nur Begr. RegE 4. Geldwäscherichtlinie-Umsetzungsgesetz, BT-Drucks. 18/11555, S. 1. 4 Vgl. Begr. RegE 4. Geldwäscherichtlinie-Umsetzungsgesetz, BT-Drucks. 18/11555, S. 87 f.; Überblick bei Escher-Weingart/Stief, WM  2018, 693  ff.; Herzog/Achtelik in Herzog, GwG, 3. Aufl. 2018, Einl. Rz. 151 ff.

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anderen durch die Einrichtung eines neuartigen Registers – des sogenannten Transparenzregisters  – zur flächendeckenden Erfassung der wirtschaftlich Berechtigten von Gesellschaften.5 Damit wurde eine Schnittstelle zwischen Geldwäscherecht und Unternehmensrecht geschaffen, die in der gesellschaftsrechtlichen Praxis und wissenschaftlichen Diskussion zahlreiche gänzlich neue Fragen aufgeworfen und zu einer anhaltend lebhaften Debatte6 geführt hat. Diese Schnittstelle besteht darin, dass nahezu sämtliche Gesellschaften deutschen Rechts7 sowie deren direkte und indirekte Gesellschafter, die zuvor lediglich Objekte der Identifizierungspflichten geldwäscherechtlich Verpflichteter waren, nunmehr zum einen selbst zu Adressaten anlassloser geldwäscherechtlicher Pflichten geworden sind und eben diese transparenzregisterbezogenen Pflichten zum anderen unmittelbar durch die jeweiligen gesellschaftsrechtlichen Strukturen der in Rede stehenden Gesellschaft determiniert werden. Der zentrale Anknüpfungspunkt des Transparenzregisters und der damit verbundenen Pflichten ist der Begriff des wirtschaftlich Berechtigten (§ 19 Abs. 2, § 3 GwG). Dessen Bedeutung ist mit dem 4.  Geldwäscherichtlinie-Umsetzungsgesetz immens aufgewertet worden: Während er bislang lediglich im Rahmen der situativen Klärung geldwäscherechtlicher Risiken für Banken, Versicherungen etc. von Interesse war, haben sich nunmehr flächendeckend sämtliche deutschen Gesellschaften bzw. deren (mittelbare) Anteilseigner mit der Frage auseinanderzusetzen, ob und welche wirtschaftlichen Berechtigungen existieren sowie welche transparenzregisterbezogenen Pflichten dies gegebenenfalls nach sich zieht. Gleichzeitig ist die den wirtschaftlich Berechtigten definierende Vorschrift (§ 3 GwG) deutlich ausdifferenzierter und komplexer als ihre Vorgängerregelungen. Die Fülle der damit verbundenen, zugleich ungeklärten und praktisch höchst relevanten Fragen gibt Anlass zu einer grundsätzlichen Betrachtung des (neuen) Begriffs des wirtschaftlich Berechtigten mit Rücksicht auf seinen Bedeutungszuwachs und Bedeutungswandel im Zusammenhang mit dem Transparenzregister. Der nachfolgende Beitrag ist dem Jubilar vor dem Hintergrund gewidmet, dass er im Zuge des sehr kurzfristigen Inkrafttretens der Vorschriften zum Transparenzregister früh literarische Impulse gegeben hat,8 welche die Auslegung der neuen Regelungen entschieden in eine überbordende Bürokratie und Komplexität vermeidende Richtung gelenkt haben. 5 Vgl. nur Begr. RegE 4. Geldwäscherichtlinie-Umsetzungsgesetz, BT-Drucks. 18/11555, S. 1. 6 Vgl. z.B. Assmann/Hütten, AG 2017, 449; Blaurock/Pordzik, NZG 2019, 413 ff.; Bochmann, DB 2017, 1310; Bochmann, FuS 2017, 106; Bochmann, GmbHR 2018, 164; Fisch, NZG 2017, 408; Frese, ZEV 2017, 695; Kocher/Mattig, BB 2018, 1667; Foerster, Die Zuordnung der Mitgliedschaft, 2018, S. 345 ff.; Kotzenberg/Lorenz, NJW 2017, 2433; Longrée/Pesch, NZG 2017, 1081; Mohamed, ZIP 2017, 2133; Pelka/Hettler/Weinhausen, DStR 2018, 1303; Rieg, BB 2017, 2310; Schaub, DStR 2017, 1438; Schaub, DStR 2018, 871; Seibert, GmbHR 2017, R 97; Seibert/Bochmann/Cziupka, GmbHR 2017, 1128; Seibert/Bochmann/Cziupka, GmbHR 2017, R 289; Spoerr/Roberts, WM 2017, 1142; Szalai, GWR 2018, 250; Weiske/Mocker, GWR 2017, 445; Krais, CCZ 2017, 266; Wionzeck/Scheerer, NZG 2018, 217. 7 Zum internationalen und sachlichen Anwendungsbereich der §§ 18 ff. GwG Assmann/Hütten, AG 2017, 449, 464; Bochmann, DB 2017, 1310, 1312. 8 Seibert, GmbHR 2017, R 97; Seibert/Bochmann/Cziupka, GmbHR 2017, 1128; Seibert/Bochmann/Cziupka, GmbHR 2017, R 289.

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II. Das Transparenzregister als neuartiges Register 1. Erfassung der wirtschaftlich Berechtigten von Vereinigungen Das Transparenzregister ist ein im Jahr 2017 neu eingerichtetes, einstweilen nicht-öffentliches (§ 23 Abs. 1 GwG) – künftig jedoch für jedermann einsehbares9 – und vollständig elektronisch geführtes Register zur Erfassung der wirtschaftlich Berechtigten von, wie das Geldwäschegesetz formuliert, „Vereinigungen“ sowie „Rechtsgestaltungen“ (§§ 18 Abs. 1, 20 Abs. 1, 21 Abs. 1 GwG). Vereinigungen sind juristische Personen des Privatrechts sowie eingetragene Personengesellschaften (§ 20 Abs. 1 Satz 1 GwG), Rechtsgestaltungen insbesondere (Common Law) Trusts,10 nichtrechtsfähige Stiftungen sowie diesen vergleichbare Rechtsgestaltungen (§ 21 GwG), wobei im Folgenden allein die sogenannten Vereinigungen im Sinne von § 20 Abs. 1 Satz 1 GwG betrachtet werden sollen. 2. Wirtschaftlich Berechtigte Bei den wirtschaftlich Berechtigten handelt es sich um diejenigen natürlichen Personen, die, mit bestimmten Stimm‑, Kapital‑ oder sonstigen Kontrollmöglichkeiten ausgestattet, ultimativ hinter den genannten Vereinigungen oder Rechtsgestaltungen stehen (§ 19 Abs. 2 i.V.m. § 3 Abs. 2 GwG). Das können die unmittelbaren Gesellschafter einer Vereinigung sein, wenn es sich dabei um natürliche Personen handelt. Es können unter Umständen aber auch tief hinter einer Gesellschaft gestaffelte mittelbare Gesellschafter oder Personen mit vergleichbarem Einfluss sein, worin ein wesentlicher Unterschied insbesondere zum Handelsregister liegt, das lediglich Auskunft über gesellschaftsrechtliche Beteiligungen gibt. Das Transparenzregister hingegen verlangt auch die Erfassung von Personen, die in keiner direkten (gesellschafts‑)rechtlichen Beziehung zu einer Vereinigung stehen. Die wirtschaftlich Berechtigten sind im Transparenzregister unter Angabe ihres Vor- und Nachnamens, Geburtsdatums, Wohnorts sowie der Art und des Umfangs ihres wirtschaftlichen Interesses zu erfassen (§  19 Abs. 1 GwG).

9 Die Umsetzung von Art. 30 Abs. 5 Unterabs. 1 lit. c) der Richtlinie (EU) 2018/843 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30.5.2018 zur Änderung der Richtlinie (EU) 2015/849 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung und zur Änderung der Richtlinien 2009/138/EG und 2013/36/EU („4.  Geldwäscherichtlinie-Änderungsrichtlinie“), ABl. L  156 v. 19.6.2018, S. 43, wird das Transparenzregister zu einem weitgehend öffentlichen Register machen; vgl. Bochmann, GmbHR 2018, R 164; vgl. zum Stand der Umsetzung in deutsches Recht § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 GwG-RefE auf der Grundlage des Referentenentwurfs des Bundesministeriums der Finanzen zur Umsetzung der 4.  Geldwäscherichtlinie-Änderungsrichtlinie vom 20.5.2019 und dazu Bochmann, FAZ vom 29.5.2019, S. 16, sowie Bochmann, GmbHR 2019, 640 ff. 10 Hierzu Bochmann, DB 2017, 1310, 1316.

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3. Mitteilungs- und Angabepflichten Die Vorschriften zum Transparenzregister sind zum einen an die Vereinigungen selbst (sogenannte Mitteilungspflicht) und zum anderen an deren Gesellschafter und/ oder wirtschaftlich Berechtigte (sogenannte Angabepflicht) adressiert.11 Hinsichtlich der Angabepflicht ist zwischen unmittelbar und mittelbar an einer Vereinigung beteiligten natürlichen Personen – nur diese können wirtschaftlich Berechtigte sein – zu unterscheiden: Unmittelbar Beteiligte trifft die Angabepflicht selbst. Das gleiche gilt für mittelbar Beteiligte, wenn zwischen ihnen und der in Rede stehenden Vereinigung mehr als eine Zwischengesellschaft steht (§ 20 Abs. 3 Satz 1 Var. 1, Satz 5 GwG). Die einzige Konstellation, in der die Angabepflicht eine unmittelbar an einer Vereinigung beteiligte Gesellschaft – und somit nicht den wirtschaftlich Berechtigten selbst – trifft, ist diejenige, in der eine natürliche Person diese (Zwischen‑)Gesellschaft unmittelbar kontrolliert (§ 20 Abs. 3 Satz 1 Var. 2 GwG). Die an die Vereinigungen adressierte, verkürzend12 so genannte Mitteilungspflicht umfasst die Einzelpflichten, die Angaben zu den wirtschaftlich Berechtigten einzuholen, aufzubewahren, auf aktuellem Stand zu halten und der registerführenden Stelle unverzüglich zur Eintragung in das Transparenzregister mitzuteilen (§  20 Abs.  1 Satz 1 GwG). 4. Sanktionen Ein vorsätzlicher oder leichtfertiger Verstoß gegen die skizzierten geldwäscherechtlichen Pflichten stellt eine Ordnungswidrigkeit dar (§ 56 Abs. 1 Nr. 53 bis 55 GwG), die im Falle von schwerwiegenden, wiederholten oder systematischen Verstößen mit Bußgeldern von bis zu 1 Million Euro oder dem Zweifachen des aus dem Verstoß gezogenen wirtschaftlichen Vorteils geahndet werden kann (§ 56 Abs. 2 Satz 1 GwG), im Übrigen mit Bußgeldern von bis zu 100.000 Euro (§ 56 Abs. 3 GwG).13 Das Bußgeld kann gemäß § 9 OWiG gegen die Geschäftsführer und gemäß § 30 OWiG gegen die betreffenden Gesellschaften festgesetzt werden.14 Darüber hinaus sind bestandskräftige Maßnahmen und unanfechtbare Bußgeldentscheidungen grundsätzlich  – unter dem Vorbehalt einer gewissen Verhältnismäßigkeitsprüfung (§  57 Abs.  2 GwG) – unter Bezeichnung des Verstoßes sowie der dafür verantwortlichen natürlichen Personen und Gesellschaften im Internet bekannt zu machen („Naming and Shaming“) (§ 57 Abs. 1 GwG).

11 Seibert, GmbHR 2017, R 97; Assmann/Hütten, AG 2017, 449, 450 f.; Schaub, DStR 2017, 1438, 1438 ff. 12 Vgl. Bochmann, DB 2017, 1310, 1311, 1313. 13 Bochmann, FuS 2017, 106, 109; Bochmann, DB 2017, 1310, 1311. 14 Assmann/Hütten, AG 2017, 449, 463 f.; vgl. auch A.II. des „Bußgeldkatalog für Verstöße gegen § 56 Abs. 1 Nr. 52 bis 56 GwG“ des Bundesverwaltungsamts (Stand: 22.10.2018) (abrufbar unter www.bva.bund.de).

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III. Aufwertung des Begriffs des wirtschaftlich Berechtigten 1. Genese des Begriffs des wirtschaftlich Berechtigten Die transparenzregisterbezogenen Pflichten (§ 20 Abs. 1, Abs. 3 GwG) setzen jeweils beim Begriff des wirtschaftlich Berechtigten an, der seinerseits im Zuge der Einführung des Transparenzregisters neu gefasst wurde: § 3 Abs. 3 Satz 1 GwG bestimmt, dass bei juristischen Personen und sonstigen Gesellschaften zu den wirtschaftlich Berechtigten jede natürliche Person zählt, die – unmittelbar oder mittelbar – mehr als 25 Prozent der Kapitalanteile hält (Nr. 1), mehr als 25 Prozent der Stimmrechte kon­ trolliert (Nr. 2) oder auf vergleichbare Weise Kontrolle ausübt (Nr. 3). Das Geldwäschegesetz in seiner Ursprungsfassung aus dem Jahr 1993 verwendete den Begriff des wirtschaftlich Berechtigten zwar noch nicht, verlangte aber von Banken und Versicherungsunternehmen nicht nur, „bei Abschluss eines Vertrages zur Begründung einer auf Dauer angelegten Geschäftsbeziehung den Vertragspartner zu identifizieren“ (§ 2 Abs. 1 Satz 1 GwG a.F. [1993]15), sondern auch eine Erkundigung darüber, ob der Vertragspartner für fremde Rechnung handelt (§ 8 Abs. 1 GwG a.F. [1993]). In der Sache war dies nichts anderes als eine – wenn auch nur rudimentär ausgeprägte – Pflicht zur Überprüfung der wirtschaftlich Berechtigten hinter den Vertragspartnern. Eine Begriffsbestimmung unter Rückgriff auf gesellschafts‑ bzw. handelsrechtliche Kategorien erfolgte erst mit der Neufassung des Geldwäschegesetzes im Jahr 2008 zur Umsetzung der 3. EG-Geldwäscherichtlinie16 (§ 1 Abs. 6 GwG a.F. [2008]17).18 Diese war jedoch ebenfalls noch von überschaubarer Komplexität, da sie schlicht „jede ­natürliche Person, welche unmittelbar oder mittelbar mehr als 25  Prozent der Kapitalanteile hält oder mehr als 25 Prozent der Stimmrechte kontrolliert“ erfasste. Zuletzt hat nunmehr das Geldwäscherichtlinie-Umsetzungsgesetz aus dem Jahr 2017, wiederum europäisches Recht umsetzend,19 die Definition des wirtschaftlich Berechtigten um das Merkmal „auf vergleichbare Weise Kontrolle ausübt“ (§ 3 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 GwG) erweitert und um Konkretisierungen mittelbarer wirtschaftlicher Berechtigungen in § 3 Abs. 3 Satz 2 bis 4 GwG unter Rückgriff auf den Terminus der Kontrolle ergänzt.

15 I.d.F. des Gesetzes über das Aufspüren von Gewinnen aus schweren Straftaten v. 25.10.1993, BGBl. I 1993, 1770. 16 Richtlinie 2005/60/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2005 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung, ABl. L 309 v. 25.11.2005, S. 15. 17 I.d.F. des Gesetzes zur Ergänzung der Bekämpfung der Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung (Geldwäschebekämpfungsergänzungsgesetz – GwBekErgG) v. 13.8.2008, BGBl. I 2008, 1690. 18 Vgl. Begr. RegE GwBekErgG, BT-Drucks. 16/9038, S. 23, 30. 19 In Gestalt der 4. Geldwäscherichtlinie.

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2. Ursprüngliche Funktion: Identifikation potenzieller Vertragspartner durch geldwäscherechtlich Verpflichtete Schon die Begriffshistorie verdeutlicht, dass der Begriff des wirtschaftlich Berechtigten stets ein offener war und es – ungeachtet oder gerade aufgrund der zwischenzeitlichen Ausdifferenzierung  – weiterhin ist. Dies dürfte letztlich unvermeidlich sein, wenn die schier unendliche Vielfalt der möglichen Kombinationen von Vermögensund Stimmrechten in den diversen Gesellschaftsformen auf einen Begriff gebracht werden soll. Obgleich der Begriff des wirtschaftlich Berechtigten seit jeher für mit Bußgeldsanktionen verknüpfte Rechtspflichten bestimmend war, war und ist dessen  Weite in seinem ursprünglichen Regelungszusammenhang und in seiner ursprünglichen Funktion als normatives Tatbestandsmerkmal ohne grundsätzliche Schwierigkeiten tolerabel. Denn im Ausgangspunkt war der wirtschaftlich Berechtigte ausschließlich Anknüpfungspunkt für die Identifizierungspflichten der geldwäscherechtlich Verpflichteten – also namentlich Banken und Versicherungen20 –, die bei der Eingehung von Geschäftsbeziehungen klären müssen, in wessen wirtschaftlichem oder rechtlichem Interesse eine Transaktion erfolgt, um auf diese Weise Strohmanngeschäften und damit Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung21 entgegenzuwirken („Know your Customer“).22 Die geldwäscherechtlich Verpflichteten haben den wirtschaftlich Berechtigten dabei stets ausschließlich aus der Außenperspektive als (potenziellen) Vertragspartner zu identifizieren. Dabei verfügen sie zum einen über einen dem in der konkreten Geschäftsbeziehung oder Geschäftsanbahnungssituation adäquaten Ermessensspielraum („risikobasierter Ansatz“),23 da die Pflicht zur Identifikation des wirtschaftlich Berechtigten eines (potenziellen) Vertragspartners ausdrücklich unter dem Vorbehalt der Angemessenheit der Mittel steht (§ 10 Abs. 1 Nr. 2 Halbs. 2 GwG);24 das schließt insbesondere die Möglichkeit und Notwendigkeit ein, sich auf Dokumente und Nachweise, die von dem (potenziellen) Vertragspartner vorgelegt werden, zu verlassen 20 Ferner Angehörige diverser freier Berufe (v.a. Rechtsanwälte, Notare, Wirtschaftsprüfer und Steuerberater), Immobilienmakler, Glücksspielveranstalter und so genannte Güterhändler; vgl. § 2 Abs. 1 GwG und hierzu Figura in Herzog, 3. Aufl. 2018, § 2 GwG Rz. 3 ff.; Häberle in Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 219. El. 2018, § 2 GwG Rz. 3 ff.; kritisch zur abermaligen Ausweitung des Kreises der geldwäscherechtlich Verpflichteten durch das 4.  Geldwäscherichtlinie-Umsetzungsgesetz Spoerr/Roberts, WM  2017, 1142, 1144. 21 Die Bekämpfung der Terrorismusfinanzierung (neben der Geldwäscheprävention) ist seit dem Geldwäschebekämpfungsgesetz vom 8.8.2002, BGBl. I 2002, 3105, ausdrückliches Ziel des deutschen Geldwäscherechts. 22 Begr. RegE GwBekErgG, BT-Drucks. 16/9038, S. 30. 23 Vgl. Begr. RegE Gesetz zur Optimierung der Geldwäscheprävention, BT-Drucks. 17/6804, S.  27  f.; vgl. ferner Begr. RegE 4.  Geldwäscherichtlinie-Umsetzungsgesetz, BT-Drucks. 18/11555, S. 88 f.; Figura in Herzog, 3. Aufl. 2018, § 10 GwG Rz. 14 f.; vgl. auch Häberle in  Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 218.  El. 2018, §  10 GwG Rz.  8; Spoerr/­ Roberts, WM 2017, 1142, 1143. 24 Vgl. auch Walther in Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, 5. Aufl. 2017, § 43 Rz. 284.

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(vgl. auch § 11 Abs. 5 GwG).25 Zum anderen haben die geldwäscherechtlich Verpflichteten bei nicht auszuräumenden Zweifeln im Hinblick auf wirtschaftliche Berechtigungen die Pflicht  – aber eben auch die Möglichkeit26  –, eine Geschäftsbeziehung schlichtweg nicht zu begründen oder abzubrechen (§ 10 Abs. 9 Satz 1 und 2 GwG). Die bußgeldbewehrten situativen Identifizierungspflichten der Verpflichteten knüpfen damit zwar unmittelbar an den Begriff des wirtschaftlich Berechtigten an, betten ihn aber in einen durch die individuelle, exogene geldwäscherechtliche Risikobeurteilung flexibilisierten Pflichtenmaßstab ein. Nicht erst auf der Ebene der Irrtumslehre (vgl. § 11 OWiG) und des Verschuldens, sondern bereits auf Ebene des objektiven Tatbestands besteht hinsichtlich der Abklärung des wirtschaftlich Berechtigten somit eine substanzielle Flexibilisierung mit Rücksicht auf Praktikabilitäts‑ sowie individuelle Risikogesichtspunkte. 3. Transparenzregisterbezogene Pflicht zur vorbehaltlosen und flächendeckenden Klärung wirtschaftlicher Berechtigungen Auch die Erfassung wirtschaftlich Berechtigter im Transparenzregister dient letztlich dem Anliegen ihrer Identifikation anlässlich konkreter Transaktionen durch die geldwäscherechtlich Verpflichteten27 – wenngleich Letztere sich auf die Eintragungen im Transparenzregister allein gerade nicht verlassen dürfen (§ 11 Abs. 5 Satz 3 Halbs. 2 GwG) und wenngleich zumindest der europäische Gesetzgeber auch eine von Geldwäscherisiken losgelöste Erhöhung der Transparenz im geschäftlichen Verkehr durch das Transparenzregister als erstrebenswert erachtet.28 Deshalb hat der deutsche ­Gesetzgeber sich bewusst und folgerichtig dafür entschieden, den transparenzregisterbezogenen Pflichten  – d.h. der Angabe- und der Mitteilungspflicht  – denselben Begriff des wirtschaftlich Berechtigten zugrunde zu legen wie den Identifizierungspflichten der geldwäscherechtlich Verpflichteten.29 § 19 Abs. 2 Satz 1 GwG ordnet für die Bestimmung des wirtschaftlich Berechtigten von Vereinigungen im Sinne des § 20 Abs. 1 Satz 1 GwG dementsprechend schlicht die entsprechende Anwendung von § 3 Abs. 2 GwG an. Die transparenzregisterbezogenen Pflichten gemäß § 20 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 GwG sind jedoch gänzlich anders strukturiert als die Identifizierungspflichten im Sinne von §§  10  ff. GwG. Bei Angabe- sowie Mitteilungspflicht (§  20 Abs.  1 und Abs.  4 25 Figura in Herzog, 3. Aufl. 2018, § 10 GwG Rz. 19. 26 § 10 Abs. 9 Satz 2 GwG soll ein gesetzliches außerordentliches Kündigungsrecht begründen; vgl. Figura in Herzog, 3.  Aufl. 2018, §  10 GwG Rz.  129; Häberle in Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 218. El. 2018, § 10 GwG Rz. 26. 27 Vgl. § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 GwG sowie Begr. RegE 4. Geldwäscherichtlinie-Umsetzungsgesetz, BT-Drucks. 18/11555, S. 118 f.; vgl. auch Lakenberg, NJW-Spezial 2017, 463; Spoerr/ Roberts, WM 2017, 1142, 1146. 28 Obgleich er dies als bloßen „positive[n] Nebeneffekt“ des Transparenzregisters apostrophiert; vgl. Erwägungsgrund (31) der 4. Geldwäscherichtlinie-Änderungsrichtlinie; deutliche Kritik am Transparenzregister als allgemeines Publizitätskonzept bei Assmann/Hütten, AG 2017, 449, 450. 29 Begr. RegE 4. Geldwäscherichtlinie-Umsetzungsgesetz, BT-Drucks. 18/11555, S. 126.

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GwG) handelt es sich jeweils um eine unbedingte Pflicht, die weder unter dem Vorbehalt einer individuellen Risikoanalyse steht noch Opportunitätsgesichtspunkten Rechnung trägt und überdies keine – allenfalls wirtschaftlich unattraktive – Alternative wie die Nichtaufnahme oder den Abbruch einer geschäftlichen Beziehung kennt. Vielmehr sollen ausweislich der Gesetzesbegründung die wirtschaftlich Berechtigten von Gesellschaften flächendeckend und vorbehaltlos im Transparenzregister erfasst werden.30 Zwar erübrigen sich aufgrund der sogenannten Meldefiktion häufig ge­ sonderte Mitteilungen an das Transparenzregister.31 Auf die Meldefiktion kann der Pflichtenadressat sich jedoch nur dann verlassen, wenn er sich über die tatsächlich bestehenden wirtschaftlichen Berechtigungen zweifelsfrei und ausnahmslos im Klaren ist, d.h. die Pflicht zur Vergewisserung über wirtschaftliche Berechtigungen entfällt dadurch nicht.32 Auch § 3 Abs. 2 Satz 5 GwG ändert an der Pflicht zur flächendeckenden Ermittlung wirtschaftlicher Berechtigungen nichts, wenn er bestimmt, dass der gesetzliche Vertreter, geschäftsführende Gesellschafter oder Partner des Vertragspartners als wirtschaftlich Berechtigter gilt, wenn auch nach Durchführung umfassender Prüfungen keine natürliche Person als wirtschaftlich Berechtigter ermittelt worden ist oder wenn Zweifel daran bestehen, dass die ermittelte Person wirtschaftlich Berechtigter ist. Denn diese Auffanglösung in Gestalt einer gesetzlichen Fiktion knüpft an die objektive Nichtermittelbarkeit eines wirtschaftlich Berechtigten an, erlaubt es aber nicht, sich von vornherein mit der Feststellung jenes fiktiven wirtschaftlich Berechtigten zu begnügen. Schließlich besteht angesichts eindeutiger Hinweise in der Gesetzesbegründung33 zwar Einigkeit, dass die in § 20 Abs. 1 Satz 1 GwG statuierte Pflicht von Vereinigungen, Angaben zu ihren wirtschaftlich Berechtigten „einzuholen“, keine Nachforschungspflicht begründet.34 Hierbei handelt es sich jedoch lediglich um eine Erleichterung bei der Ermittlung des Sachverhalts, nicht aber um eine Reduzierung des „Subsumtionslast“ auf rechtlicher Ebene;35 im Übrigen ist es mit Blick auf den Referentenentwurf des Bundesministeriums der Finanzen zur Umsetzung der 4.  Geldwäscherichtlinie-Änderungsrichtlinie vom 20.5.2019 (vgl. §  20 Abs. 3a GwG-RefE) nicht ausgeschlossen, dass es künftig doch (begrenzte) Nachforschungspflichten der Vereinigungen geben wird.

30 In der anlasslosen Ermittlung der wirtschaftlich Berechtigten für Zwecke des Transparenzregisters sieht auch Begr. RegE 4.  Geldwäscherichtlinie-Umsetzungsgesetz, BT-Drucks. 18/11555, S. 126, die Notwendigkeit für die Verweisung in § 19 Abs. 2 GwG auf die Definition des wirtschaftlich Berechtigten in § 3 GwG. 31 Seibert, GmbHR 2017, R 97, R 98; Seibert/Bochmann/Cziupka, GmbHR 2017, 1128; Rieg, BB 2017, 2310, 2312; vgl. auch Begr. RegE 4. Geldwäscherichtlinie-Umsetzungsgesetz, BTDrucks. 18/11555, S. 91 f., S. 127. 32 Bochmann, DB 2017, 1310, 1317. 33 Begr. RegE 4.  Geldwäscherichtlinie-Umsetzungsgesetz, BT-Drucks. 18/11555, S.  126  f., S. 129. 34 Assmann/Hütten, AG 2017, 449, 458; Bochmann, DB 2017, 1310, 1313; Rieg, BB 2017, 2310, 2311; Schaub, DStR 2017, 1438, 1439 f. 35 Vgl. Bochmann, DB 2017, 1310, 1317.

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IV. Leitlinien zur Konturierung des Begriffs des wirtschaftlich Berechtigten vor dem Hintergrund seines neuen Regelungs­ zusammenhangs 1. Zwei Grundkategorien wirtschaftlicher Berechtigung Schwierigkeiten bereitet bei unbefangener Lektüre in erster Linie das Verhältnis der bereits seit Längerem existenten „Grundtatbestände“ wirtschaftlicher Berechtigung – das unmittelbare oder mittelbare Halten von mehr als 25 Prozent der Kapitalanteile sowie die unmittelbare oder mittelbare Kontrolle von mehr als 25 Prozent der Stimmrechte (§ 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 GwG) – zu dem durch das 4. Geldwäscherichtlinie-Umsetzungsgesetz neu geschaffenen § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GwG, wonach wirtschaftlich Berechtigter auch derjenige ist, der „auf vergleichbare Weise Kontrolle ausübt“. Während die Grundtatbestände des Haltens von Kapitalanteilen und der Kontrolle von Stimmrechten für sich betrachtet durchaus schlüssige Alternativen darstellen, wirft § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GwG Fragen im Hinblick auf seinen Gehalt und seine Funktion im Normgefüge auf. Denn die Wendung „auf vergleichbare Weise“ in Verbindung mit der Reihenfolge der Tatbestandsvarianten deutet dem ersten Anschein nach recht eindeutig auf Nr. 1 und Nr. 2 und damit auf die dort formulierten 25-Prozent-Schwellen, was hieße, dass eine wirtschaftliche Berechtigung aufgrund der Ausübung von Kontrolle „auf vergleichbare Weise“ eine Vergleichbarkeit mit den Tatbeständen in Nr. 1 und Nr. 2 voraussetzte. Erschüttert wird dieser erste Anschein jedoch durch § 3 Abs. 2 Sätze 3 und 4 GwG, denen zufolge Kontrolle – anders als etwa im Kapitalmarktrecht (vgl. § 29 Abs. 2 WpÜG) – insbesondere dann vorliegt, wenn die betreffende Person unmittelbar oder mittelbar einen beherrschenden Einfluss ausüben kann. Letzteres bestimmt sich kraft ausdrücklicher Verweisung in § 3 Abs. 2 Satz 4 GwG nach § 290 Abs. 2 bis 4 HGB. Als Grundtatbestand beherrschenden Einflusses ist in §  290 Abs.  2 HGB jedoch eine Stimmrechtsmehrheit (Nr.  1) genannt. Dass die Vergleichbarkeit sich einerseits auf der Basis („auf vergleichbare Weise“) der Tatbestandsvariante „mehr als 25  Prozent der Stimmrechte kontrolliert“ bestimmen soll, der Referenzpunkt – nämlich der Begriff der Kontrolle – aber im Grundsatz eine Stimmenmehrheit voraussetzt, erscheint alles andere als schlüssig. Eine Perplexität der Regelungen ist dessen ungeachtet nicht anzunehmen. Denn ein Blick auf die zugrundeliegenden europarechtlichen Vorgaben sowie auf den Gesamtregelungszusammenhang zeigt, dass die Tatbestände in § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 GwG einerseits und in § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GwG andererseits durchaus sinnvoll abgrenzbare Grundkategorien wirtschaftlicher Berechtigung darstellen. Die Wendung „auf vergleichbare Weise“ ist nämlich nicht darauf angelegt, den sich anschließenden Begriff der „Kontrolle“ inhaltlich an die vorausgehend benannten 25-Prozent-Schwellen anzulehnen. Im Gegenteil: Sie bringt die gesetzgeberische Grundwertung zum Ausdruck, dass jede Form der unmittelbaren oder mittelbaren Kontrolle – und zwar im Sinne beherrschenden Einflusses – gerade unabhängig von den 25-Prozent-Schwellen zu einer wirtschaftlichen Berechtigung führt.

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Dies wiederum folgt daraus, dass der deutsche Gesetzgeber mit § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GwG beabsichtigte, Art. 3 Nr. 6 lit. a) Ziff. i) der 4. Geldwäscherichtlinie umzusetzen,36 die ihrerseits die Definition der Financial Action Task Force aufgreift. Sowohl der Definition der Richtlinie („in deren Eigentum oder unter deren Kontrolle“) wie auch derjenigen der Financial Action Task Force („ultimately owns or controls“37) liegt nämlich das Verständnis zugrunde, dass die Tatbestände des Eigentums einerseits und der Kontrolle andererseits in einem Alternativverhältnis stehen. Art. 3 Nr. 6 lit. a) Ziff. i) der 4. Geldwäscherichtlinie verwendet das 25-Prozent-Kriterium demgemäß einzig und allein zur Definition von unmittelbarem und mittelbarem „Eigentum“, das nach Wortlaut und Systematik  eindeutig eine eigenständige Kategorie wirtschaftlichen Eigentums – neben „Kontrolle“ – darstellt. Des Kriteriums der Kontrolle bedient der europäische Gesetzgeber sich ausschließlich zur Definition sogenannten indirekten „Eigentums“ (Art. 3 Nr. 6 lit. a) Ziff. i) Satz 3 der 4. Geldwäscherichtlinie) (zur Doppelfunktion des Kontrollbegriffs sogleich noch unter IV.2.). Auch hiermit unterwirft er jedoch den Kontrollbegriff nicht seinerseits dem 25-Prozent-Maßstab – der eben ausschließlich für die Identifikation von „Eigentum“ herangezogen werden soll –, sondern verweist die nationalen Gesetzgeber zur Ausfüllung des Kontrollbegriffs auf Art. 22 Abs. 1 bis 5 der EU-Bilanzrichtlinie.38 Letztgenannten Bestimmungen, die auf nationaler Ebene in § 290 Abs. 2 bis 4 HGB umgesetzt sind, liegt wiederum durchweg der Maßstab von Mehrheitsbeteiligungen/beherrschendem Einfluss und damit – und somit gerade nicht mit einer Beteiligung von 25 Prozent – vergleichbaren Einflussmöglichkeiten zugrunde.39 Es ist keinerlei Anhaltspunkt dafür ersichtlich, dass der deutsche Gesetzgeber von jenem Alternativverhältnis der auf der 25-Prozent-Schwelle basierenden Tatbestandsvarianten und der mit dem 4. Geldwäscherichtlinie-Umsetzungsgesetz neu geschaffenen, an Kontrolle im Sinne beherrschenden Einflusses ausgerichteten Variante ab­ rücken wollte. Vielmehr kann auch §  19 Abs.  3 GwG als Bestätigung des hier dargelegten Verständnisses gelesen werden. Dieser regelt zwar lediglich rechtsfolgenseitig, welche Informationen dem Transparenzregister nach der Identifikation wirtschaftlich Berechtigter auf Basis von § 3 Abs. 2 i.V.m. § 19 Abs. 3 Satz 1 GwG in Bezug auf Art und Umfang der Berechtigung zu übermitteln sind. Da aber unterstellt werden kann, dass der Gesetzgeber eine in Tatbestandsvoraussetzungen und Rechtsfolgen konsistente Regelung zu treffen beabsichtigte, ist der Rückgriff auf eben jene 36 4. Geldwäscherichtlinie-Umsetzungsgesetz v. 23.6.2017, BGBl. I 2017, 1822, Fußn. 1; vgl. ferner Begr. RegE 4. Geldwäscherichtlinie-Umsetzungsgesetz, BT-Drucks. 18/11555, S. 88, S. 108 f. 37 Vgl. „Glossary of the FATF Recommendations“ unter http://www.fatf-gafi.org/glossary/ (zuletzt abgerufen am 31.3.2019). 38 Richtlinie 2013/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 über den Jahresabschluss, den konsolidierten Abschluss und damit verbundene Berichte von Unternehmen bestimmter Rechtsformen und zur Änderung der Richtlinie 2006/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG des Rates, ABl. L 182 v. 29.6.2013, S. 19. 39 Vgl. (in Bezug auf §  290 HGB) etwa Grottel/Kreher in Beck’scher Bilanz-Kommentar, 11. Aufl. 2018, § 290 HGB Rz. 30 ff.; Kindler in Staub, 5. Aufl. 2011, § 290 HGB Rz. 31 ff.

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Rechtsfolgen zur Erhellung des Tatbestands ohne weiteres statthaft.40 Aus der Gegenüberstellung von § 19 Abs. 3 Nr. 1 lit. a) und lit. b) GwG geht sodann hervor, dass auch der deutsche Gesetzgeber von der Alternativität der Tatbestände in § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 GwG einerseits und § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GwG andererseits ausgeht, wenn er erstere unter dem Oberbegriff der „Beteiligung an der Vereinigung selbst“ (lit. a)) und Letzteren unter „Kontrolle auf sonstige Weise“ (lit. b)) zusammenfasst und als Alternativen („oder“) gegenüberstellt. Der deutlichste Fingerzeig ist jedoch das Fehlen des Zusatzes „auf vergleichbare Weise“ in § 19 Abs. 3 Nr. 1 lit. c) GwG. Der Terminus der Kontrolle ist stattdessen mit dem Zusatz „auf sonstige Weise“ verbunden und bringt auch damit ein Alternativverhältnis auf den Begriff. Das Alternativverhältnis ist zudem nicht zuletzt mit Rücksicht auf den dargestellten Funktionswandel des Begriffs des wirtschaftlich Berechtigten im Zusammenhang mit der Einführung des Transparenzregisters naheliegend. Denn Kontrolle im Sinne beherrschenden Einflusses lässt sich auf der Grundlage weitgehend gesicherter Erkenntnisse aus dem Handels- und Gesellschaftsrecht typischerweise ebenso verlässlich ermitteln wie eine unmittelbare oder mittelbare Beteiligung von über 25 Prozent. Eine Neubestimmung des Begriffs beherrschenden Einflusses anhand des 25-Prozent-­ Maßstabs würde deshalb nicht nur die Verweisung in § 3 Abs. 2 Satz 3 und 4 GwG auf §  290 Abs.  2 bis 4 HGB ignorieren, sondern auch zu erheblicher Rechtsunsicherheit führen. Denn ohne eine unmittelbare oder mittelbare Beteiligung von mehr als 25 Prozent und ohne beherrschenden Einfluss dürfte es ganz regelmäßig schon an Möglichkeiten fehlen, die Grundlagen einer etwaigen wirtschaftlichen Berechtigung verlässlich zu ermitteln und den damit verbundenen transparenzregisterbezogenen Pflichten nachzukommen. Im Ergebnis mag man damit die Formulierung „auf vergleichbare Weise“ in § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GwG als verwirrend kritisieren. Es bestehen aber keine durchgreifenden Zweifel daran, dass zur Feststellung einer wirtschaftlichen Berechtigung entweder das (unmittelbare oder mittelbare) Überschreiten der in § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 GwG genannten 25-Prozent-Schwellen oder  – und zwar losgelöst von jenen 25-Prozent-­ Schwellen – unmittelbare oder mittelbare Kontrolle im Sinne beherrschenden Einflusses erforderlich ist. 2. Doppelfunktion des Kontrollbegriffs in § 3 Abs. 2 GwG Unter Beachtung jenes Alternativverhältnisses wird ferner deutlich, dass der Gesetzgeber dem Begriff der Kontrolle im Sinne beherrschenden Einflusses letztlich zwei unterschiedliche Funktionen zugewiesen hat: a) Kontrolle als Grundlage wirtschaftlicher Berechtigung Die eine folgt aus dem dargestellten Alternativverhältnis selbst und besteht schlichtweg darin, dass Kontrolle einer natürlichen Person über eine Vereinigung deren Ei40 So bereits Kocher/Mattig, BB 2018, 1667, 1670.

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genschaft als wirtschaftlich Berechtigter der in Rede stehenden Vereinigung begründet. Das Überschreiten einer der 25-Prozent-Schwellen gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 GwG ist hierfür weder erforderliche noch hinreichende Bedingung. Maßgeblich ist gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Satz 3 und 4 GwG vielmehr beherrschender Einfluss, der ausweislich § 290 Abs. 2 bis 4 HGB insbesondere bei einer mehrheitlichen Stimmrechtsbeteiligung gegeben ist, jedoch auch ohne derartige Mehrheiten, etwa aufgrund statutarischer Sonderrechte zur Bestellung oder Abberufung der Mehrheit des Verwaltungs-, Leitungs- oder Aufsichtsorgans41 oder zur Ausübung beherrschenden Einflusses,42 gegeben sein kann. Überall dort, wo es an einer Beteiligung von über 25 Prozent fehlt – wobei zu beachten ist, dass diese sich unter Umständen auch aus mehreren „Beteiligungssträngen“ zusammensetzen kann (vgl. § 3 Abs. 2 Satz 2 GwG) –, ist deshalb Kontrolle im Sinne beherrschenden Einflusses das maßgebliche Kriterium zur Bestimmung wirtschaftlicher Berechtigungen. Die Formulierung „insbesondere“ in § 3 Abs. 2 Satz 3 GwG ist mit Blick hierauf letztlich insofern redundant, als bereits der Begriff des beherrschenden Einflusses ein offener ist, d.h. die typisierten Tatbestände in § 290 Abs. 2 HGB nicht abschließend sind.43 Keinesfalls darf jenes „insbesondere“ aber Anlass sein, die Auslegung von Kontrolle im Sinne von § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GwG an den 25-Prozent-Schwellen gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 GwG auszurichten. b) Kontrolle als Zurechnungskriterium Die andere Funktion des(‑selben) Begriffs der Kontrolle im Sinne beherrschenden Einflusses besteht in der Zurechnung von Beteiligungen gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 GwG – die also die 25-Prozent-Schwelle übersteigen – gegenüber natürlichen Personen, die weder beherrschenden Einfluss auf die in Rede stehende Vereinigung ausüben noch unmittelbar zu mehr als 25 Prozent an dieser beteiligt sind. § 3 Abs. 2 Satz 2 GwG bestimmt, dass „[m]ittelbare Kontrolle … insbesondere vor[liegt], wenn entsprechende Anteile von einer oder mehreren Vereinigungen nach §  20 Absatz  1 [GwG] gehalten werden, die von einer natürlichen Person kontrolliert werden“. Wenngleich der Bezug bei den Formulierungen „[m]ittelbare Kontrolle“ und „entsprechende Anteile … kontrolliert werden“ ein wenig verschwimmt, so erhellt ein Blick auf Art. 3 Nr. 6 lit. a) Ziff. i) Satz 3 der 4. Geldwäscherichtlinie, den umzusetzen der deutsche Gesetzgeber beabsichtigte, dass mit § 3 Abs. 2 Satz 2 GwG ausschließlich die Konstellation einer mittelbaren Inhaberschaft von Beteiligungen von über 25 Prozent konkretisiert werden soll,44 nicht aber diejenige der Kontrolle („auf vergleichbare Weise“) gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GwG. Die Eingangswendung in § 3 Abs. 2 Satz 2 GwG 41 Vgl. etwa Grottel/Kreher in Beck’scher Bilanz-Kommentar, 11. Aufl. 2018, § 290 HGB Rz. 54. 42 Vgl. etwa Grottel/Kreher in Beck’scher Bilanz-Kommentar, 11.  Aufl. 2018, §  290 HGB Rz. 60. 43 Kindler in Staub, 5. Aufl. 2011, § 290 HGB Rz. 32; von Keitz/Ewelt-Knauer in Baetge/Kirsch/ Thiele, Bilanzrecht, 81.  Erg.-Lfg. 2015, §  290 HGB Rz.  71; Merkt in Baumbach/Hopt, 38. Aufl. 2018, § 290 HGB Rz. 9; Senger/Hoehne in MünchKomm. Bilanzrecht, 1. Aufl. 2013, § 290 HGB Rz. 58. 44 Vgl. bereits unter IV.1.

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(„Mittelbare Kontrolle liegt insbesondere vor“) ist damit richtigerweise wie folgt zu lesen: „Ein mittelbar wirtschaftlich Berechtigter liegt insbesondere vor“. Obschon der Wortlaut von § 3 Abs. 2 Satz 2 GwG sich lediglich auf „entsprechende Anteile“, die „gehalten werden“, und damit auf „Kapitalanteile“ von über 25 Prozent im Sinne von § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 GwG bezieht, kann für den parallelen Grundtatbestand der „Stimmrechte“ von über 25  Prozent gemäß §  3 Abs.  2 Satz  1 Nr.  2 GwG nichts anderes gelten. Dass die „Stimmrechte“ in § 3 Abs. 2 Satz 2 GwG nicht gesondert aufgegriffen werden, lässt sich damit erklären, dass bereits § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 GwG die Wendung „kontrolliert“ als – durch Satz 2 lediglich noch auszufüllendes – Zurechnungskriterium enthält. Im Falle von § 3 Abs. 2 Satz 2 GwG setzt sich die wirtschaftliche Berechtigung folglich im Ergebnis aus zwei Elementen zusammen: (i) einer von einer Vereinigung gehaltenen Beteiligung von über 25 Prozent am Kapital45 oder den Stimmrechten an einer anderen Vereinigung sowie (ii) Kontrolle einer natürlichen Person im Sinne beherrschenden Einflusses (vgl. zur Zurechnung auf schuldrechtlicher Grundlage sogleich unter IV.3.) über sämtliche vermittelnde Ebenen, die zu jener Beteiligung von über 25 Prozent hinführen – damit aber nicht notwendigerweise auch über das letzte Glied in der Beteiligungskette.46 Die ultimative Beteiligung von über 25 Prozent kann sich dabei ausweislich § 3 Abs. 2 Satz 2 GwG auch aus der Kumulation mehrerer – jeweils kontrollierter – Beteiligungsstränge ergeben, und nichts anderes kann dann für teilweise mittelbar  – über kontrollierte Beteiligungsstränge  – gehaltene Beteiligungen neben unmittelbaren Beteiligungen gelten. 3. Schuldrechtlich vermittelte wirtschaftliche Berechtigung Durch die Formulierung „insbesondere“ in § 3 Abs. 2 Satz 2 GwG macht der Gesetzgeber deutlich, dass es neben der Kontrolle im Sinne beherrschenden Einflusses über Zwischengesellschaften andere Grundlagen gibt, um einer natürlichen Person eine über 25 Prozent des Kapitals oder der Stimmrechte ausmachende Beteiligung an einer Vereinigung, welche die natürliche Person nicht unmittelbar hält, zuzurechnen. Die Bestimmung sonstiger Zurechnungskriterien muss sich dabei nach allgemeinen teleologisch-systematischen Grundsätzen an dem in § 3 Abs. 2 Satz 2 GwG genannten Fall über andere (Zwischen‑)Gesellschaften gehaltener mittelbarer Beteiligungen orientieren. Eine Abkehr von dem dargelegten Alternativverhältnis der Grundtatbestände in § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 GwG einerseits und § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GwG andererseits ist damit indes nicht verbunden. Denn der Passus „insbesondere“ in § 3 Abs. 2 Satz 2 GwG betrifft lediglich das Element der Zurechnung einer die wirtschaft45 Zur Konkretisierung dieses Begriffs vgl. etwa Bochmann, DB 2017, 1310, 1313. 46 So bereits Seibert, GmbHR 2017, R 97 f.; Seibert/Bochmann/Cziupka, GmbHR 2017, 1128, 1131; Assmann/Hütten, AG 2017, 449, 455; Schaub, DStR 2017, 1438, 1442; vgl. nunmehr auch Ziffern II.10. und II.11. der so genannten „Transparenzregister-FAQ“ des Bundesverwaltungsamts (Stand: 16.8.2018; abrufbar unter www.bva.bund.de), sowie Abschnitt III.5.2.2.1 der Auslegungs- und Anwendungshinweise zum Geldwäschegesetz der BaFin (Stand: Dezember 2018; abrufbar unter www.bafin.de).

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liche Berechtigung begründenden (mittelbaren) Beteiligung von über 25 Prozent gegenüber einer natürlichen Person. Die Vorschrift unterscheidet sich hierin von der Wendung „insbesondere“ im Rahmen von § 3 Abs. 2 Satz 3 GwG, mit welcher der eine wirtschaftliche Berechtigung begründende Tatbestand der Kontrolle über eine Vereinigung um vergleichbare Einflussmöglichkeiten47 erweitert wird. Der in § 3 Abs. 2 Satz 2 GwG beschriebene Fall mittelbarer wirtschaftlicher Beteiligung ist ungeachtet der Wendung „insbesondere“ insofern – aber auch lediglich insofern  – als abschließend zu betrachten, als eine Zurechnung durch Zwischengesellschaften gehaltener Beteiligungen gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 GwG gerade auf der Basis des gesellschaftsrechtlichen Einflusses auf jene Zwischengesellschaften ausschließlich im Falle von beherrschendem Einfluss in Betracht kommt. Der Passus „insbesondere“ eröffnet jedoch die Möglichkeit der Zurechnung von Beteiligungen auf der Grundlage sonstiger Einflussmöglichkeiten. Gesetzeswortlaut, ‑zweck und ‑begründung lassen keinen Zweifel daran, dass diesbezüglich auch schuldrechtlicher Einfluss relevant ist.48 Dies kommt etwa in § 19 Abs. 3 Nr. 1 lit. b) GwG zum Ausdruck, wonach die Stellung als wirtschaftlich Berechtigter insbesondere aus „Absprachen zwischen einem Dritten und einem Anteilseigner oder zwischen mehreren Anteilseignern untereinander“ resultieren kann. Dass derartige Absprachen mit der Eingangsformulierung zu lit. b) als Fälle der „Ausübung von Kontrolle auf sonstige Weise“ exemplifiziert werden, ist letztlich nur eine Fortsetzung der redaktionellen Ungenauigkeit in § 3 Abs. 2 Satz 2 GwG, bei dem die Zurechnung von wirtschaftliches Eigentum begründenden Beteiligungen gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 GwG (d.h. 25 Prozent übersteigenden) kraft beherrschenden Einflusses auf Zwischenebenen semantisch ebenfalls nicht klar von der Begründung einer wirtschaftlichen Berechtigung gerade durch beherrschenden Einfluss auf eine Vereinigung unterschieden wird. In der Sache ändert dies aber nichts daran, dass auch Beteiligungen von (lediglich) über 25  Prozent aufgrund von „Absprachen“  – d.h. schuldrechtlichen Vereinba­ rungen – einer natürlichen Person zugerechnet werden können. Einen weiteren Anhaltspunkt liefert § 290 Abs. 3 Satz 1 HGB, wonach auch bei der Beurteilung beherrschenden Einflusses durch Dritte für fremde Rechnung gehaltene Rechte  – d.h. treuhänderisch gehaltene Beteiligungen49 – zu berücksichtigen sind; bei der Zurechnung im Rahmen von § 3 Abs. 2 Satz 2 GwG kann nichts anderes gelten. Für die Frage, wann schuldrechtlicher Einfluss sich in einer die Zurechnung begründenden Art und Weise verdichtet, ist es entscheidend, ob ungeachtet der Mittelbarkeit einer Beteiligung im Sinne von § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 GwG und des Fehlens von Kontrolle im Sinne beherrschenden Einflusses auf den unmittelbar beteiligten Rechtsträger ein Zugriff bzw. eine Verfügungsgewalt über jene Beteiligung besteht, die Kontrolle im Sinne beherrschenden Einflusses über sämtliche zu ihr hinführenden Ebenen gleichkommt. Dies ist nach Sinn und Zwecks der Zurechnungsvorschrift zu beantworten, der darin besteht, (Stimmrechts‑)Einfluss auf Vereinigungen sowie 47 Zur Redundanz dieser Erweiterung vgl. bereits unter IV.2.a). 48 Vgl. auch Blaurock/Pordzik, NZG 2019, 413, 414 f. 49 Vgl. Grottel/Kreher in Beck’scher Bilanz-Kommentar, 11.  Aufl. 2018, §  290 HGB Rz.  82; Kindler in Staub, 5. Aufl. 2011, § 290 HGB Rz. 58.

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die wirtschaftlichen Nutznießer von Vereinigungen transparent zu machen, auch wenn kein gesellschaftsrechtliches Bindeglied existiert. Bei Kapitalbeteiligungen (§ 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 GwG) muss deshalb ausschlaggebend sein, ob durch schuldrechtliche Gestaltungen die wirtschaftlichen Vorteile der Beteiligung einer natürlichen Person zumindest in dem Maße zufließen, wie wenn sie die Beteiligung über andere Zwischengesellschaften hielte. In Bezug auf Stimmrechtsbeteiligungen (§  3 Abs.  2 Satz  1 Nr.  2 GwG) kommt es hingegen darauf an, ob eine natürliche Person kraft Schuldvertrags in der Lage ist, auf Dauer über die Ausübung eines Stimmpakets von über 25 Prozent frei zu bestimmen. Da es im Falle der Zurechnung aufgrund beherrschenden Einflusses über Zwischengesellschaften (§ 3 Abs. 2 Satz 2 GwG) auch den Fall der Mehrfachbeherrschung50 – und damit der mehrfachen Zurechnung – gibt, kann für die Zurechnung aufgrund schuldrechtlicher Abreden nichts anderes gelten: Sind mehrere Personen aufgrund interner Abstimmungen gemeinsam in der vorbezeichneten Weise in Bezug auf Beteiligungen gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 oder Nr. 2 GwG berechtigt, sind sie jeweils wirtschaftlich Berechtigter.51 In diese Auslegung fügt sich die gesetzgeberische Intention nahtlos ein, wonach – entgegen teilweise anderslautender Stellungnahmen52 – mittelbar zu über 25 Prozent als Treugeber an einer Vereinigung beteiligte natürliche Personen als deren wirtschaftlich Berechtigte zu qualifizieren sind, auch wenn sie Kontrolle im Sinne beherrschenden Einflusses weder über die in Rede stehende Vereinigung noch über den Treuhänder/ Hauptbeteiligten53 haben;54 gleiches gilt für in entsprechendem Umfang Unterbeteiligte.55 Die nicht ausgeübte (bloße) Call-Option in Bezug auf ein Anteilspaket von über 25 Prozent begründet danach hingegen keine wirtschaftliche Berechtigung.56 Bei Vereinbarungen über die Ausübung von Stimmrechten kommt es darauf an, ob einer na50 Vgl. im konzernbilanzrechtlichen Kontext Grottel/Kreher in Beck’scher Bilanz-Kommentar, 11. Aufl. 2018, § 290 HGB Rz. 30 ff.; vgl. im konzernrechtlichen Kontext BGH v. 4.3.1974 – II ZR 89/72, BGHZ 62, 193; Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 8. Aufl. 2016, § 17 Rz. 28. 51 Vgl. hierzu das – im Zusammenhang mit Stimmbindungsverträgen erörterte (vgl. nur Kocher/Mattig, BB 2018, 1667, 1672; Longrée/Pesch, NZG 2017, 1081, 1087; Schaub, DStR 2018, 871, 875)  – Beispiel in der Begr. RegE 4.  Geldwäscherichtlinie-Umsetzungsgesetz, BT-Drucks. 18/11555, S. 128. 52 Pelka/Hettler/Weinhausen, DStR 2018, 1303, 1304, 1307, erkennen zu Unrecht allein Kon­ trolle im Sinne beherrschenden Einflusses als Zurechnungskriterium an (die bei Treuhandverhältnissen zwischen Treuhänder und Treugeber freilich ganz regelmäßig nicht gegeben sein wird). 53 Fehlende Kontrolle im Sinne beherrschenden Einflusses des Treugebers über den Treuhänder führt ausweislich § 20 Abs. 4 Satz 5 GwG lediglich dazu, dass keine Angabepflicht besteht; vgl. Bochmann, DB 2017, 1310, 1315 f. Künftig aber wohl anders durch umfassende Neujustierung von Angabe- und Mitteilungspflichten im Referentenentwurf des Bundesministeriums der Finanzen zur Umsetzung der 4. Geldwäscherichtlinie-Änderungsrichtlinie vom 20.5.2019 (vgl. dort § 20 Abs. 3, Abs. 3a und Abs. 3b GwG-RefE); vgl. hierzu Bochmann, GmbHR 2019, 640 ff. 54 Vgl. Begr. RegE 4.  Geldwäscherichtlinie-Umsetzungsgesetz, BT-Drucks. 18/11555, S.  92; vgl. auch Seibert, GmbHR 2017, R 97. 55 Vgl. Ziffer II.12. der „Transparenzregister-FAQ“ des Bundesverwaltungsamts. 56 So auch Ziffer II.13. der „Transparenzregister-FAQ“ des Bundesverwaltungsamts.

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türlichen Person die Möglichkeit eröffnet wird, über die Ausübung von über 25 Prozent der Stimmen an einer Vereinigung auf Dauer frei zu entscheiden. Dies ist etwa bei dem Poolführer in einem Stimmrechtspool, der über 25 Prozent der Stimmen an einer Vereinigung umfasst, der Fall,57 nicht aber bei gepoolten Stimmrechten in jenem Umfang, über deren Ausübung mit (potenziell) jeweils wechselnden Mehrheiten entschieden wird.

V. Zusammenfassung in Thesen 1. Die Bedeutung des Begriffs des wirtschaftlich Berechtigten ist mit der Einführung des Transparenzregisters erheblich aufgewertet worden. War er bislang lediglich situativ im Rahmen der Identifizierungspflichten geldwäscherechtlich Verpflichteter – d.h. insbesondere Unternehmen der Finanzbranche – relevant, so ist er nunmehr Anknüpfungspunkt flächendeckender und anlassloser Verpflichtungen, die praktisch sämtliche deutschen Gesellschaften und ihre (mittelbaren) Anteilseigner erfassen. 2. § 3 Abs. 2 Satz 1 GwG enthält zwei Grundtatbestände wirtschaftlicher Berechtigung: Im Falle von Nr. 1 und Nr. 2 begründet eine Kapital- oder Stimmbeteiligung von über 25  Prozent an einer Vereinigung die Eigenschaft als wirtschaftlich Berechtigter, im Falle von Nr.  3 Kontrolle im Sinne beherrschenden Einflusses auf eine Vereinigung. 3. Kontrolle im Sinne beherrschenden Einflusses auf eine Vereinigung kann unmittelbarer oder mittelbarer Natur sein (§ 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Satz 3 GwG). Maßgeblich für die Feststellung sind die Grundsätze des Konzernbilanzrechts (§ 3 Abs. 2 Sätze 3 und 4 GwG i.V.m. § 290 Abs. 2 bis 4 HGB). Obgleich § 3 Abs. 2 Satz 3 GwG die Formulierung „insbesondere“ enthält, kommt anderen Einflussformen neben Kontrolle im Sinne beherrschenden Einflusses aufgrund der Offenheit dieses Begriffs keine eigenständige Bedeutung zu; jedenfalls müssten andere Einflussformen mit beherrschendem Einfluss vergleichbar sein, was im Umkehrschluss bedeutet, dass die 25-Prozent-Schwellen von §  3 Abs.  2 Satz  1 Nr.  1 und 2 GwG insofern nicht maßgeblich sind. 4. Die Regelung in § 3 Abs. 2 Satz 2 GwG bezieht sich ausschließlich auf den Grundtatbestand in § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 GwG und enthält eine Zurechnungsregel: Wird eine Kapital‑ oder Stimmbeteiligung von über 25 Prozent über Zwischengesellschaften gehalten, ist sie einer natürlichen Person zuzurechnen, wenn diese über sämtliche Zwischengesellschaften Kontrolle im Sinne beherrschenden Einflusses hat; Letzteres bestimmt sich wiederum ausschließlich anhand von § 3 Abs. 2 Sätze 3 und 4 GwG i.V.m. § 290 Abs. 2 bis 4 HGB. 5. Die Wendung „insbesondere“ in § 3 Abs. 2 Satz 2 GwG indiziert jedoch auch weitere Möglichkeiten der Zurechnung von Beteiligungen im Sinne von § 3 Abs. 2 Satz 1 57 So im Ergebnis bereits Kocher/Mattig, BB 2018, 1667, 1672; Schaub, DStR 2018, 871, 873 ff.; vgl. auch Rieg, BB 2017, 2310, 2318.

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Nr. 1 und 2 GwG. Nach dem unzweifelhaften Willen des Gesetzgebers sowie nach Sinn und Zweck der Vorschrift kommen namentlich schuldrechtliche Abreden in Betracht, die einen mindestens ebenso starken Zugriff auf Kapital- oder Stimmbeteiligungen von über 25 Prozent wie Kontrolle im Sinne beherrschenden Einflusses über Zwischengesellschaften erlauben, was regelmäßig insbesondere bei Treuhandabreden oder Unterbeteiligungen der Fall ist.

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Die mitbestimmte GmbH aus notarieller Sicht* Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Überschreiten der Schwelle zur ­paritätischen Mitbestimmung 1. Bestellung eines Arbeitsdirektors a) Notwendigkeit der Bestellung b) Auswirkungen einer unterlassenen Bestellung auf Vertretungsbefugnis der bisherigen Geschäftsführer 2. Schicksal einer widersprechenden ­Satzung a) Satzungsanpassung b) Satzungseinreichung I II. Fragen der Satzungsgestaltung 1. Vertretung durch den Arbeitsdirektor: Gleichbehandlungspostulat a) Abstrakte Vertretungsregelung b) Öffnungsklauseln und konkrete ­Vertretungsregelung 2. Innenverhältnis: Geschäftsführung, ­Geschäftsordnung, Anstellungsvertrag

3. Kompetenzverteilung zwischen Aufsichtsrat und Gesellschafterversammlung a) Ernennung eines Vorsitzenden der Geschäftsführung b) Zustimmungskatalog des Aufsichtsrats vs. Weisungsrecht der Gesellschafter 4. „Import“ der aktienrechtlichen Satzungsstrenge? IV. Insbesondere: § 32 MitbestG bei ­verbundenen Unternehmen 1. Grundlagen und Anwendungsbereich 2. Analoge Anwendung bei Umgehung? a) Kompetenzverlagernde Satzungs­ änderungen b) Handeln eines rechtsgeschäftlich ­Bevollmächtigten 3. Verhältnis zu § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG sowie § 46 Nr. 6 GmbHG V. Schlussbetrachtung

I. Einleitung Die Verfasstheit der GmbH, welche der Jubilar seit Jahrzehnten an maßgeblicher Stelle prägt, wird im deutschen Recht durch das Mitbestimmungsrecht beeinflusst und überlagert. Nicht unterschätzt werden darf hierbei die Bedeutung mitbestimmter Unternehmen: Ende 2016 gab es in Deutschland 641 Betriebe, die der unternehmerischen Mitbestimmung unterlagen; davon waren 354 in der Rechtsform der GmbH organisiert und 234 als Aktiengesellschaft.1 Die unternehmerische Mitbestimmung ist im Wirtschaftsleben in Deutschland aufgrund ihrer friedensstiftenden Funktion zwar überwiegend akzeptiert, wird aber gleichwohl stellenweise angezweifelt, insbesondere vor dem Hintergrund des Wan* Der Autor dankt für Vorarbeiten zu diesem Beitrag Herrn Notarassessor Dr. Benedikt Strauß, Mitglied der Geschäftsführung der Bundesnotarkammer. 1 Abteilung für Mitbestimmungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung 2017, abrufbar unter https://www.mitbestimmung.de/html/frage-1-546.html (zuletzt abgerufen am 15.3.2019).

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dels von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft.2 Weiter wird von der liberalen Theorie der industrial relations das Risiko des Aufbaus einer Monopolstellung der Gewerkschaften auf dem Arbeitsmarkt betont.3 Das Mitbestimmungsgesetz4 ist seit seinem Inkrafttreten 1976 inhaltlich weitgehend gleich geblieben. Trotz dieser durchaus langen legislatorischen Kontinuität ergeben sich in der Praxis auch heutzutage weiterhin ungeklärte Rechtsfragen, zumal die höchstgerichtliche Rechtsprechung im Bereich des unternehmerischen Mitbestimmungsrechts einigermaßen rar gesät ist.5 Einige insbesondere aus notarieller Perspektive maßgebliche Einzelfragen sollen in diesem Beitrag herausgegriffen werden. Inmitten stehen Transitionsfragen an der Schwelle zum paritätisch mitbestimmten Betrieb (sub II.), Fragen der Satzungsgestaltung (sub. III.) und die Anwendung des § 32 MitbestG bei verbundenen Unternehmen (sub IV.).

II. Überschreiten der Schwelle zur paritätischen Mitbestimmung Wird der Schwellenwert von 2000 Arbeitnehmern gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 2 MitbestG überschritten, findet auf eine GmbH fortan das MitbestG Anwendung. Dies ist mit maßgeblichen korporativen Umwälzungen verbunden. Unter anderem ist ein Arbeitsdirektor zu berufen und ein mitbestimmter Aufsichtsrat zu bilden. Im Rahmen eines formalisierten Verfahrens wird zunächst jedoch geklärt, ob ein Unternehmen dem MitbestG unterliegt, §§ 6, 37 MitbestG i.V.m. §§ 97 ff. AktG. Dieses sog. Statusverfahren dient der Rechtssicherheit; erst nach dessen Abschluss gilt das Regime des MitbestG Anwendung. Im Regelfall leiten die Geschäftsführer nach Überschreiten der Mitbestimmungsschwelle selbst das (freiwillige) Statusverfahren durch Veröffentlichung in den Gesellschaftsblättern ein;6 wird kein Rechtsmittel eingelegt, ist

2 Vgl. Abelshauser, Kulturkampf – Der deutsche Weg in die Neue Wirtschaft und die amerikanische Herausforderung, 2003, S. 142. 3 So etwa B. Hirsch/Addison/Genosko, Eine ökonomische Analyse der Gewerkschaften, 1990. Vgl. zum Ganzen Bormann/Böttcher, NZG 2011, 411, 415 f. 4 Mitbestimmungsgesetz vom 4. Mai 1976 (BGBl. I 1976, 1153), zuletzt geändert durch Artikel 7 des Gesetzes vom 24. April 2015 (BGBl. I 2015, 642); im Folgenden „MitbestG“. Das MitbestG gilt für Betriebe mit mehr als 2000 Arbeitnehmern, § 1 Abs. 1 Nr. 2 MitbestG; bei Betrieben unterhalb dieser Schwelle, aber mit mindestens 500 Arbeitnehmern ist das Drittelbeteiligungsgesetz für die unternehmerische Mitbestimmung maßgeblich, § 1 Abs. 1 DrittelbG. S. hierzu im Detail Lambrich/Reinhard, NJW 2014, 2229. Dieser Beitrag beschränkt sich auf die Mitbestimmung unter dem Regime des MitbestG. 5 Dies konstatiert etwa auch Henssler, GmbHR 2004, 321, 322. Vgl. allenfalls BGH v. 25.2.1982 – II ZR 145/80; BGH v. 25.2.1982 – II ZR 123/81; BGH v. 14.11.1983 – II ZR 33/83; BGH v. 30.12.2012 – II ZB 20/11; BGH v. 28.4.2015 – II ZR 63/14. 6 Hinzu kommt, dass die Pflicht des Vorstands zur Einleitung eines Statusverfahrens gemäß § 93 Abs. 2 AktG zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet sind, was insbesondere zu einem Schadensersatzanspruch in Höhe der Mehrkosten eines gerichtlichen Sta-

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das Statusverfahren nach einem Monat abgeschlossen. Werden die Geschäftsführer hingegen nicht tätig, kann stattdessen u.a. auch die Arbeitnehmerseite ein – dann gerichtliches – Statusverfahren initiieren, § 98 Abs. 2 Nr. 8 ff. AktG. Die Rechtsfolgen treten stufenartig ein: Nach Abschluss des Statusverfahrens7 ist zunächst ein paritätisch besetzter Aufsichtsrat zu bilden. Nach dessen Konstituierung hat er sodann u.a. den Arbeitsdirektor zu wählen, § 37 Abs. 1 Satz 1 MitbestG. Mit Beendigung der ersten nach dem Statusverfahren durchgeführten Hauptversammlung, spätestens jedoch sechs Monate nach Abschluss des Statusverfahrens, treten ­außerdem all diejenigen Satzungsbestimmungen außer Kraft, die den Vorgaben des MitbestG widersprechen, §§ 97 Abs. 2 Satz 2, 98 Abs. 4 Satz 2 AktG, § 37 Abs. 1 Satz 2 MitbestG. In der Praxis kommt es nicht selten vor, dass bei Überschreiten der Schwelle zum MitbestG zwar ein Statusverfahren durchgeführt und daraufhin auch ein paritätischer Aufsichtsrat konstituiert wird, weitere notwendige Maßnahmen aber zumindest vorübergehend unterbleiben. Hierzu zählen insbesondere die Bestellung eines Arbeitsdirektors (sub 1.) und die Anpassung der Satzung (sub 2.). 1. Bestellung eines Arbeitsdirektors Gemäß § 33 MitbestG ist als gleichberechtigtes Mitglied des zur gesetzlichen Vertretung des Unternehmens befugten Organs ein Arbeitsdirektor zu bestellen. Die Bestellung erfolgt gemäß § 31 Abs. 1 MitbestG i.V.m. § 84 AktG durch den mitbestimmten Aufsichtsrat. Der Arbeitsdirektor ist organschaftliches Vertretungsorgan, nimmt bei der GmbH also den Posten eines Geschäftsführers ein. Im Innenverhältnis müssen ihm dabei die Zuständigkeiten für Personal- und Sozialangelegenheiten zugewiesen sein. Zu klären ist, wann die Bestellung eines Arbeitsdirektors notwendig ist (sub a)) und welche Auswirkungen eine unterlassene Bestellung hat (sub b)). a) Notwendigkeit der Bestellung (1) Nur ein organschaftlicher Vertreter Dem Wortlaut des § 33 MitbestG ist zu entnehmen, dass dem Vertretungsorgan einer mitbestimmten Gesellschaft zwingend zwei Mitglieder angehören müssen. So spricht etwa § 33 Abs. 2 MitbestG von den „übrigen“ Mitgliedern des Vertretungsorgans neben dem Arbeitsdirektor. Sofern die GmbH bisher nur über einen Geschäftsführer verfügte, ist also zwingend ein weiterer Geschäftsführer als Arbeitsdirektor zu bestellen.8 tusverfahrens führen kann, vgl. hierzu Tomasic in Grigoleit, 1.  Aufl. 2013, §  97 AktG Rz. 5. Ordnungswidrigkeits- oder strafrechtlich ist ein Verstoß jedoch nicht bewehrt. 7 D.h. nach Ablauf der Anfechtungsfrist (im nichtgerichtlichen Statusverfahren) oder nach Rechtskraft des gerichtlichen Beschlusses (im gerichtlichen Statusverfahren). 8 Habersack in Habersack/Henssler, 4. Aufl. 2018, § 30 MitbestG Rz. 6; Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 76 AktG Rz. 57; Immenga, ZGR 1977, 249, 254; Meyer-Landrut, DB 1976, 387, 388.

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(2) Bisher keine Zuständigkeit in Personal- und Sozialfragen Wenn bisher keinem Geschäftsführer das Ressort Arbeit und Soziales federführend zugewiesen ist, sondern die maßgeblichen Entscheidungen unterhalb der Geschäftsführungsebene fallen, muss ebenfalls zwingend ein Arbeitsdirektor bestellt werden. Denn in § 33 MitbestG wird hineingelesen, dass Personal- und Sozialfragen im Wesentlichen auf Ebene der Geschäftsführung angesiedelt sein sollen.9 Als Arbeitsdirektor kann auch ein bisheriger Geschäftsführer bestellt werden; dann ist es ausreichend, wenn der Geschäftsführer – freilich unter Beachtung des § 31 MitbestG i.V.m. § 84 AktG – im Innenverhältnis die entsprechende Zuständigkeit zugewiesen bekommt.10 (3) Bisher bereits Zuständigkeit in Personal- und Sozialfragen Anders wird dies teilweise beurteilt, wenn vor der ersten Konstituierung des mitbestimmten Aufsichtsrats bereits mindestens zwei Geschäftsführer vorhanden waren und einem von ihnen die Zuständigkeit für Personal- und Sozialfragen zugewiesen war. Dann sei die Bestellung eines Arbeitsdirektors zunächst nicht erforderlich. Dem ist im Ergebnis zuzustimmen.11 Zwar dürfte das gesetzgeberische Telos des § 33 MitbestG über eine reine interne Zuständigkeitsvorschrift hinausgehen, da das MitbestG dem Aufsichtsrat auch eine Auswahlkompetenz zuerkennt. Auch der Wortlaut des § 33 i.V.m. § 31 MitbestG spricht dafür, nach Konstituierung des mitbestimmten Aufsichtsrats zwingend einen neuen Arbeitsdirektor bestellen zu müssen.12 Diese Schlussfolgerung ist aber mit Blick auf §§ 31 Abs. 1, Abs. 5, 37 Abs. 3 Satz 5 MitbestG nicht haltbar. In der nicht mitbestimmten GmbH kann der Geschäftsführer jederzeit abberufen werden, § 38 GmbHG. Unter dem Regime des MitbestG, welches die Zuständigkeit für die Abberufung des Geschäftsführers gemäß § 31 Abs. 1, Abs. 5 MitbestG auf den Aufsichtsrat verlagert, kann eine Abberufung indes nur noch aus wichtigem Grund erfolgen, § 31 Abs. 1 MitbestG i.V.m. § 84 Abs. 3 AktG. Im Gegenzug kann ein bisheriges Mitglied der Geschäftsführung aber nach Ablauf von fünf Jahren nach Aufsichtsratsbildung auch ohne wichtigen Grund abberufen werden. Dies soll einen Gleichlauf zu §  84 Abs.  1 AktG herstellen, wonach Vorstandsmit­ glieder der Aktiengesellschaft für höchstens fünf Jahre bestellt werden. Im Ergebnis 9 Habersack in Habersack/Henssler, 4. Aufl. 2018, § 37 MitbestG Rz. 20; Annuß in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 37 MitbestG Rz. 6; Säcker, DB 1977, 1993, 1993, 1997. 10 Annuß in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 37 MitbestG Rz. 6. 11 Im Ergebnis ebenso Henssler in Habersack/Henssler, 4. Aufl. 2018, § 33 MitbestG Rz. 24; Ballerstedt, ZGR 1977, 133, 146 ff.; Geitner, AG 1976, 210, 213; Mertens, AG 1979, 334, 337, 339 ff.; Peltzer, DB 1978, 984 f.; Säcker, DB 1977, 1993, 1996; Thüsing, Der Arbeitgeber 1976, 687, 687; Immenga, ZGR 1977, 249, 255. 12 So im Ergebnis LG Bad Kreuznach v. 3.10.1979 – 2 T 78/79, FHZivR 26 Nr. 4418; vgl. auch AG Bremen v. 5.12.1978 – 38 HRB 3079, FHArbSozR 25 Nr. 4337.

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Die mitbestimmte GmbH aus notarieller Sicht

perpetuieren §§  31, 37 MitbestG also die frühere Personalentscheidung der Ge­ sellschafterversammlung für fünf Jahre nach Konstituierung des Aufsichtsrats; in diesen fünf Jahren genießt ein bisheriger Geschäftsführer Bestandsschutz13 insofern, als er nur aus wichtigem Grund abberufen werden kann.14 Dieser Bestandsschutz erstreckt sich nicht nur auf die formelle Stellung als Geschäftsführer, sondern auch auf die Zuständigkeit des Geschäftsführers im Innenverhältnis für Personal- und So­ zialfragen.15 Dieses gut austarierte System würde durchbrochen, wenn der Aufsichtsrat sogleich einen neuen Arbeitsdirektor bestellen dürfte. Wohlgemerkt kann der Aufsichtsrat dies tun, sofern eine andere interne Zuständigkeitsverteilung mit dem bisherigen für Personal und Soziales Verantwortlichen gefunden werden kann.16 Er ist hierzu aber nicht verpflichtet. Das hier vertretene Ergebnis überzeugt auch vor dem Hintergrund, dass bei Meinungsverschiedenheiten im Aufsichtsrat einer mitbestimmten GmbH die Anteilseigner letztlich Übermacht besitzen: Im ständigen Ausschuss des § 27 Abs. 3 MitbestG hat der Ausschussvorsitzende den Stichentscheid. Und der Aufsichtsratsvorsitzende gehört gemäß § 27 Abs. 2 Satz 2 MitbestG im Zweifel dem Lager der Anteilseigner an. Schließlich ist das Bestellungsverfahren des Arbeitsdirektors kein besonderes, von der Bestellung der sonstigen Geschäftsführer abweichendes Verfahren. Vielmehr sind alle Geschäftsführer durch den Aufsichtsrat zu bestellen, aber eben unter Einhaltung des in § 37 MitbestG gewährten Bestandsschutzes.17

13 So auch die Gesetzesbegründung, vgl. BT-Drucks. 7/2172, S. 30. 14 Vgl. auch Henssler in Habersack/Henssler, 4. Aufl. 2018, § 33 MitbestG Rz. 23; Mertens, AG 1979, 334, 337, 339  ff.; Säcker, DB 1977, 1996, die jeweils darauf abstellen, dass sich ein solcher Bestandsschutz zusätzlich – allerdings nur im Binnenverhältnis des Geschäftsführers zur Gesellschaft – aus dem jeweiligen Anstellungsvertrag ergeben kann; insoweit kann der Bestandsschutz auch über fünf Jahre hinaus gehen. In diesem Fall dürfte eine Änderungskündigung statthaft sein, vgl. Schubert in Wißmann/Kleinsorge/Schubert, 5.  Aufl. 2017, § 37 MitbestG Rz. 22, dort allerdings sogar für eine Bestellung eines neuen Arbeitsdirektors schon vor Ablauf der Fünf-Jahres-Frist. 15 Annuß in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 37 MitbestG Rz. 6; Schubert in Wißmann/ Kleinsorge/Schubert, 5. Aufl. 2017, § 37 MitbestG Rz. 19; Habersack in Habersack/Henssler, 4. Aufl. 2018, § 37 MitbestG Rz. 21. 16 Diese praktische Schwierigkeit ist durchaus auch ein Argument für die hier vertretene Auffassung. Dies gibt auch das LG Bad Kreuznach zu, wenn es judiziert, dass die Bestellung eines bereits amtierenden Personalvorstands zum Arbeitsdirektor „als Gebot der Vernunft erscheinen“ kann, vgl. LG Bad Kreuznach v. 3.10.1979 – 2 T 78/79, FHZivR 26 Nr. 4418. Ggf. hat der bisher für Arbeit und Soziales zuständige Geschäftsführer auch auf Grund seines Anstellungsvertrages einen Anspruch auf Wahrnehmung des Ressorts, vgl. Säcker, DB 1977, 1993, 1996. 17 Ähnlich auch BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532, 533/77, 419/78, 1 BvL 21/78, NJW 1979, 699, 711.

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Nach alldem ist also dann zunächst kein Arbeitsdirektor zu bestellen, wenn einem bereits bisher bestehenden Geschäftsführer im Innenverhältnis die Zuständigkeit für Personal- und Sozialfragen federführend zugewiesen ist.18 b) Auswirkungen einer unterlassenen Bestellung auf Vertretungsbefugnis der bisherigen Geschäftsführer Wenn eine notwendige Bestellung des Arbeitsdirektors unterbleibt, erhebt sich die Frage, ob dies Auswirkungen auf die Vertretungsmacht der bisherigen Geschäftsführer hat. (1) Argumente für ein Durchschlagen auf die Vertretungsmacht Ist bisher nur ein Geschäftsführer bestellt, könnte dieser bis zur Bestellung eines Arbeitsdirektors an der Vertretung der Gesellschaft gehindert sein, weil § 33 MitbestG grundsätzlich zwei (gleichberechtigte) Mitglieder des zur gesetzlichen Vertretung des Unternehmens befugten Organs verlangt. Ähnliches gilt bei mehreren Geschäftsführern, denen Gesamtvertretungsbefugnis erteilt wurde: Ohne den zu bestellenden Arbeitsdirektor könnten sie daran gehindert sein, die Gesellschaft gemeinschaftlich zu vertreten; dies erst recht in der problematischen Sonderkonstellation, dass erst nach Abschluss des Statusverfahrens von ursprünglich zwei Geschäftsführern ein Geschäftsführer sein Amt niederlegt. Dieses Ergebnis scheint ein teleologischer Blick auf das MitbestG zu bestätigen. § 33 MitbestG erhält zum einen die Vorgabe, dass mindestens zwei Geschäftsführer zu bestellen sind. Weiter postuliert § 33 MitbestG auch die Gleichberechtigung des Arbeitsdirektors mit den sonstigen Geschäftsführern, was die Vertretungsbefugnis angeht. Dieses gesetzgeberische Desiderat ist am effektivsten so zu realisieren, dass die fehlerhafte Nichtbestellung eines Arbeitsdirektors auch auf die Vertretungsmacht durchschlägt und somit im Außenverhältnis sanktioniert. Weiteres Argument für diese Auffassung ist die Verweisung von § 31 Abs. 1 Satz 1 MitbestG auf § 85 AktG. Demnach ist eine gerichtliche Ersatzbestellung eines Geschäftsführers möglich. Die hierzu notwendige Dringlichkeit wird hierbei bisweilen aus der abstrakten gesetzlichen Wertung des § 33 MitbestG entnommen, dass ein mitbestimmtes Unternehmen über einen Arbeitsdirektor verfügen muss.19

18 Im Ergebnis ebenso Henssler in Habersack/Henssler, 4. Aufl. 2018, § 33 MitbestG Rz. 24; Ballerstedt, ZGR 1977, 133, 146 ff.; Geitner, AG 1976, 210, 213; Mertens, AG 1979, 334, 337, 339 ff.; Peltzer, DB 1978, 984 f.; Säcker, DB 1977, 1993, 1996; Thüsing, Der Arbeitgeber 1976, 687, 687. 19 So etwa Schubert in Wißmann/Kleinsorge/Schubert, 5. Aufl. 2017, § 33 MitbestG Rz. 34 (Wartzeit: drei Monate); a.A. Oetker in ErfKomm. ArbR, 19.  Aufl. 2019, §  33 MitbestG Rz. 4, der zumindest dann keinen dringenden Fall annimmt, wenn ein Organmitglied hinreichend Kenntnis hat, um die Aufgaben aus dem Geschäftsbereich des Arbeitsdirektors vorübergehend zu erfüllen.

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(2) Argumente gegen ein Durchschlagen auf die Vertretungsmacht Sollte die bisherige Geschäftsführung mit Konstituierung des mitbestimmten Aufsichtsrats ihre Vertretungsmacht mangels Bestellung eines Arbeitsdirektors verlieren, hätte dies freilich gravierende Auswirkungen: Mit der GmbH abgeschlossene Rechtsgeschäfte wären für diesen Zeitraum unwirksam.20 Insbesondere Handelsregisteranmeldungen wären davon erfasst. Die gewichtigeren Argumente sprechen ohnehin gegen ein Durchschlagen.21 Dieses wäre nämlich auch dogmatisch verfehlt. Dem Wortlaut und Zweck des § 33 MitbestG ist lediglich zu entnehmen, dass eine Mindestanzahl von zwei Geschäftsführern zu bestellen ist. Ein weiterer Regelungsinhalt ist § 33 MitbestG jedoch nicht beizumessen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass – unter Einhaltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes – auch in der mitbestimmten GmbH einem Geschäftsführer Einzelvertretungsbefugnis erteilt werden kann. Legt man das zugrunde, kann allein aus der gesetzlich vorgegebenen Anzahl der Geschäftsführer noch nicht auf die Vertretungsmacht selbst geschlossen werden. Dies wird überwiegend auch für den vergleichbaren Fall vertreten, dass eine Satzung eine Mindestanzahl von zwei Geschäftsführern vorschreibt. Auch dort wird angenommen, dass, wenn satzungswidrig nur ein einziger Geschäftsführer bestellt ist, dieser im Grundsatz Einzelvertretungsbefugnis hat. Etwas anderes gilt nur, wenn die Satzung diesen Fall ausdrücklich anders regelt.22 Weiter ist auch die Existenz des § 85 AktG kein Argument für das Durchschlagen auf das Außenverhältnis. Im Gegenteil sorgt diese Vorschrift dafür, dass – auch auf Initiative von Arbeitnehmerverbänden – ein Arbeitsdirektor unverzüglich bestellt werden kann. Eine solche Regelung wäre nicht nötig, wenn die Gesellschaft zur Bestellung eines Arbeitsdirektors gezwungen wäre, um ihre Vertretungsmacht überhaupt zu behalten. Die vorstehenden Erwägungen gelten ebenso für den oben angesprochenen Fall der Gesamtvertretungsbefugnis. Schließlich sprechen auch Struktur und Systematik des MitbestG insgesamt gegen eine derart scharfe Sanktion: Im Vorstadium akzeptiert der Gesetzgeber des MitbestG durch Vorschaltung des Statusverfahrens vorübergehend, dass trotz Überschreiten der Arbeitnehmerschwelle noch die bisherigen korporativen Regelungen der nicht mitbestimmten (bzw. der Drittelbeteiligung unterliegenden) GmbH Anwendung fin20 Wohl vorbehaltlich §  15 HGB, dessen Verhältnis zum Mitbestimmungsrecht unten sub II.1.b)(3) noch näher ausgemessen wird. 21 Ebenso im Ergebnis Oetker in ErfKomm. ArbR, 19. Aufl. 2019, § 33 MitbestG Rz. 4: Das Vertretungsorgan sei trotzdem handlungsfähig, selbst wenn der Arbeitsdirektor noch nicht bestellt ist. 22 Stephan/Tieves/Jaeger/Steinbrück in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 35 GmbHG Rz.  144.  Im Ergebnis ebenso Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, 21.  Aufl. 2017, §  35 ­GmbHG Rz. 103; Paefgen in Ulmer/Habersack/Löbbe, 2. Aufl. 2014, § 35 GmbHG Rz. 96.

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den. Damit nimmt der Gesetzgeber aber hin, dass die Bestimmungen des MitbestG zumindest für einen Übergangszeitraum keine Anwendung finden. Dies spricht dafür, auch beim Arbeitsdirektor ggf. die Bestellung mittels eines gerichtlichen Ersatzbestellungsverfahrens abzuwarten. (3) Verhältnis zu § 15 HGB Interessant ist auch das Verhältnis zwischen MitbestG und den Gutglaubensvorschriften des § 15 HGB. Dieses ist bisher, soweit ersichtlich, noch nicht erörtert worden. § 15 HGB wäre erst gar nicht anwendbar, wenn die Vorschrift durch das MitbestG überlagert würde. Dies ist jedoch nicht anzunehmen. Denn selbst der besonders sensible Minderjährigenschutz überlagert nach dem Willen des historischen Gesetzgebers nicht die Gutglaubenswirkung des § 15 HGB.23 Schließt man sich der hier vertretenen Auffassung an, dass die fehlerhafte Nichtbestellung eines Arbeitsdirektors im Grundsatz nicht auf die Vertretungsmacht der sonstigen Geschäftsführer durchschlägt, ist § 15 HGB insoweit ohne Bedeutung. Andernfalls könnte sich, soweit die Voraussetzungen des § 15 Abs. 3 HGB vorliegen, daraus auch eine Vertretungsmacht durch die im Handelsregister eingetragenen Geschäftsführer ergeben. Der vorsichtige Rechtsgestalter sollte also die Vertretungsbefugnis anhand einer aktuellen Handelsregistereinsicht überprüfen. Notare tun dies ohnehin, §§ 17, 12 BeurkG. 2. Schicksal einer widersprechenden Satzung Die innere Ordnung, die Beschlussfassung sowie die Rechte und Pflichten des mitbestimmten Aufsichtsrats bestimmen sich nach den in § 25 Abs. 1 MitbestG genannten Vorschriften. Soweit die bisherigen Satzungsbestimmungen dem widersprechen, treten sie mit der Konstituierung des mitbestimmten Aufsichtsrats automatisch außer Kraft, § 37 Abs. 2 MitbestG. Andere Satzungsbestimmungen, die mit den Vorschriften dieses Gesetzes nicht vereinbar sind, treten mit der ersten Hauptversammlung nach Abschluss des Statusverfahrens, spätestens aber sechs Monate nach Abschluss des Statusverfahrens, außer Kraft, § 37 Abs. 1 Satz 1 MitbestG i.V.m. § 97 Abs. 2 Satz 2 AktG. Das Nichtigkeitsverdikt ergibt sich bei § 25 Abs. 1 MitbestG – auch bei einer GmbH – aus § 241 Abs. 3 AktG analog24 und bei sonstigen Verstößen aus § 37 Abs. 1 Satz 1 MitbestG.25 23 Vgl. Krebs in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2016, § 15 HGB Rz. 20 f. m.w.N. In der Literatur ist dies zwar teilweise umstritten, wird aber so zumindest auch vertreten. 24 BGH v. 25.2.1982 – II ZR 145/80; BGH v. 25.2.1982 – II ZR 123/81. 25 So zumindest Oetker in ErfKomm. ArbR, 19. Aufl. 2019, § 37 MitbestG Rz. 2; Annuß in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 37 MitbestG Rz. 2. Schubert in Wißmann/Kleinsorge/

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Aus notarieller Sicht interessiert insbesondere, welche Maßnahmen  – in registerrechtlicher und in satzungsrechtlicher Sicht – ergriffen werden müssen oder zumindest ergriffen werden sollten. a) Satzungsanpassung Eine Pflicht zur Anpassung der Satzung besteht nicht. Vielmehr tritt die Unwirksamkeit eo ipso ein, ohne dass die Gesellschafterversammlung handeln müsste.26 An die Stelle der jeweiligen unwirksamen Satzungsbestimmung tritt ab dem insoweit einschlägigen Zeitpunkt das davon abweichende zwingende Gesetzesrecht des MitbestG. Freilich bleibt anzuraten, die Satzung an die veränderten Bedingungen des Mitbestimmungsregimes anzupassen, um Unsicherheiten auszuschließen und  – soweit möglich – unerwünschte Folgen des MitbestG zu vermeiden. Man denke etwa an die Gefahr, dass eine Gesellschaft auf den gesetzlichen Regelfall der Gesamtvertretungsbefugnis gemäß § 35 GmbHG zurückfallen könnte. Trotz des zwingenden Charakters des MitbestG ist durchaus ein dispositiver Gestaltungsspielraum gegeben. Dies gilt insbesondere bei der GmbH, welche im Grundsatz nicht der Satzungsstrenge unterliegt.27 Im Übrigen ist es aus Kohärenzgründen auch ratsam, in eine Satzung auch diejenigen Bestimmungen des MitbestG aufzunehmen, von welchen nicht abgewichen werden kann, so etwa über Zusammensetzung28 und Wahl des Aufsichtsrats. Zumindest ist ein Verweis auf die entsprechenden Vorschriften des MitbestG angezeigt.29 Folgerichtig wird die Anpassung der Satzung an das Regime des MitbestG vom Gesetzgeber auch privilegiert. Gemäß § 37 Abs. 1 Satz 2 MitbestG reicht die einfache Mehrheit aus, wenn die Gesellschafterversammlung vor dem Zeitpunkt des Außerkrafttretens der jeweiligen Satzungsbestimmung beschließt. Bei einem Gesellschafterbestand, der sich nicht einig ist, kann ein Rechtsgestalter diese Privilegierung ggf. fruchtbar machen.

Schubert, 5. Aufl. 2017, § 37 MitbestG Rz. 7, hält § 37 MitbestG für rein deklaratorisch; dies überzeugt aber nicht, da § 37 MitbestG gerade auch den Zeitpunkt des Außerkrafttretens speziell regelt. 26 Vgl. etwa Simons in Hölters, 3. Aufl. 2017, § 97 AktG Rz. 34. 27 Ebenso Vollmer, ZGR 1979, 135, 150: „kein schlechthin zwingendes, der Parteidisposition entzogenes Organisationsrecht für Großunternehmen“. 28 Insbesondere dürfen nach neuerer BGH-Rechtsprechung auch keine zusätzlichen „beratenden“ Aufsichtsratsmitglieder installiert werden, vgl. BGH v. 30.1.2012  – II ZB 20/11. Auch weitere Einschränkungen des Geschäftsgangs im Aufsichtsrat dürften unzulässig sein. Das hat der BGH ausdrücklich für Beschränkungen der Beschlussfähigkeit entschieden, vgl. BGH v. 25.2.1982 – II ZR 145/80. 29 So auch der Vorschlag von Wentrup in Hoffmann-Becking/Gebele, 13. Aufl. 2019, Ziff. IX.12 (Anm. 9).

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b) Satzungseinreichung (1) Satzungsändernder Gesellschafterbeschluss Wenn ein satzungsändernder Gesellschafterbeschluss vorangeht, ist eine notarielle Satzungsbescheinigung beim Handelsregister gemäß § 54 Abs. 1 Satz 2 AktG einzureichen. Dies betrifft zum einen Beschlüsse, die neue Satzungsbestimmungen an Stelle von unwirksamen Bestimmungen setzen und ggf. von der Privilegierung des § 37 Abs. 1 Satz 2 MitbestG Gebrauch machen. Weiter dürften auch satzungsändernde Beschlüsse denkbar sein, die Bestimmungen, welche dem MitbestG unterliegen, schlicht aufheben. Dann ist allerdings eine Privilegierung nach § 37 Abs. 1 Satz 2 MitbestG schon nach dem Wortlaut dieser Regelung ausgeschlossen, da hiervon nur positive neue Satzungsbestimmungen umfasst sind. Gegen eine solche Vorgehensweise spricht nicht, dass die entsprechenden Satzungsbestimmungen schon ipso iure unwirksam sind. Aus Gründen der Rechtssicherheit und Klarheit muss es möglich sein, einen Beschluss zu fassen, welcher die Gesetzeslage nachzieht. Und die Beschlussfassung selbst ist keineswegs nichtig.30 Denn sie verhindert für die Zukunft, dass unwirksame Satzungsbestimmungen wieder aufleben, sollte die Arbeitnehmerzahl wieder unter die Schwelle der Anwendbarkeit des MitbestG sinken. Folgerichtig ergeben sich keine Besonderheiten hinsichtlich der Übermittlung ans Handelsregister. Dies ergibt eine Kontrollüberlegung, dass bedingte Satzungsänderungen ebenfalls im Handelsregister eintragungsfähig und eintragungspflichtig sind.31 Aus Perspektive des besonnenen Rechtsgestalters freilich empfiehlt es sich aber gleichwohl, nicht auf rein negative, sondern positiv-ersetzende Satzungsbestimmungen hinzuwirken.32 (2) Kein satzungsändernder Gesellschafterbeschluss Wenn kein satzungsändernder Beschluss gefasst wird, stellt sich die Frage, ob zumindest der Geschäftsführer verpflichtet ist, an einen Notar heranzutreten, der isoliert eine Satzungsbescheinigung an das Handelsregister übermittelt, welche die unwirksam gewordenen Satzungsbestandteile nicht mehr enthält. Zwar ist es dem Notar grundsätzlich möglich, ohne zugrundeliegende Beurkundungs- oder Entwurfstätigkeit eine Satzungsbescheinigung an das Registergericht zu

30 Nichtige Beschlüsse dürften nicht eingetragen werden, vgl. etwa Harbarth in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 54 GmbHG Rz. 91. 31 Vgl. hierzu etwa Harbarth in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 54 GmbHG Rz. 91. 32 So ausdrücklich auch Röll, GmbHR 1982, 251, 254. S. hierzu näher sub II.2.a).

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übermitteln.33 Eine gesetzliche Grundlage für die Einreichung einer Satzung außerhalb eines satzungsändernden Beschlusses existiert gleichwohl nicht. Man könnte daran denken, die Übermittlungspflicht der Geschäftsführer bei der Gesellschafterliste gemäß § 40 Abs. 1 GmbHG entsprechend heranzuziehen. Dagegen spricht aber, dass an die Übermittlung einer Satzungsbescheinigung – anders als an eine hier nicht in Rede stehende Handelsregistereintragung  – keine Gutglaubens­ wirkungen geknüpft sind, auch nicht aufgrund einer Sondervorschrift, wie sie § 16 GmbHG für die Gesellschafterliste darstellt. Weiter hat die bloße Einreichung der Satzung – im Gegensatz zur Eintragung – niemals konstitutive Wirkung. Hinzu kommt, dass das Handelsregister eine isoliert eingereichte Satzung ohnehin nicht in den Registerordner gemäß § 9 HRV aufnehmen wird, da es nur diejenigen Dokumente dort archiviert, deren Vorlage zur Eintragung erforderlich ist.34 Denkbar wäre allenfalls eine Übersendung zur Aufnahme in die Registerakten gemäß § 8 HRV als sonstiger Schriftverkehr.35 Dabei handelte es sich dann jedoch um eine rein informatorische Übersendung an das Registergericht; die Registerakten unterliegen zudem nur dann dem Einsichtsrecht, wenn berechtigtes Interesse gemäß §  13 Abs. 2 FamFG besteht.36 Eine Pflicht zur Übersendung der Satzung kann nach alldem jedenfalls nicht konstruiert werden. Es ist nicht Aufgabe des Notars, eine Änderung des Textes mitzuteilen, die ihren Ursprung nicht in einem Gesellschafterbeschluss hat.37 Diesem Ergebnis entspricht auch eine Kontrollüberlegung zu unechten Satzungsbestandteilen: Diese können ebenfalls außerhalb des Handelsregisters aufgehoben bzw. von sich aus unwirksam werden; eine isolierte Einreichung der neuen Satzung ist insoweit weder möglich noch erforderlich.38 Oftmals bestehen ohnehin andere Mitteilungs- bzw. Anmeldungspflichten an das Handelsregister im Zusammenhang mit einer mitbestimmungsrechtlichen Statusänderung. So ist nach Abschluss eines gerichtlichen Statusverfahrens die Entscheidung gemäß § 6 Abs. 2 Satz 1 MitbestG i.V.m. § 99 Abs. 5 AktG dem Handelsregister zu übermitteln. Auch die erstmalige Konstituierung oder neue Zusammensetzung des Aufsichtsrats ist in Gestalt der Aufsichtsratsmitgliederliste dem Handelsregister einzureichen, § 6 Abs. 2 Satz 1 MitbestG i.V.m. § 106 AktG. 33 Dies wird zumindest kostenrechtlich in Nr. 25104 KV GNotKG vorausgesetzt, vgl. hierzu auch Sikora in Korintenberg, GNotKG, 20. Aufl. 2017, Nr. 25104 KV GNotKG Rz. 15. 34 Krafka/Kühn in Krafka/Kühn, 10. Aufl. 2017, Teil 1 Rz. 44. 35 Krafka/Kühn in Krafka/Kühn, 10.  Aufl. 2017, Teil 1 Rz.  41  f.; Müther in BeckOK HGB, 22. Ed. 2018, § 9 HGB Rz. 3. 36 Vgl. hierzu etwa Krafka in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2016, § 9 HGB Rz. 7; Schaub in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, 3. Aufl. 2014, § 9 HGB Rz. 5 f. 37 So ausdrücklich Röll, GmbHR 1982, 251, 254 zum Fall der Gesetzesänderung, welcher der hier interessierenden Konstellation eines Widerspruchs zum MitbestG nach Erreichen der Mitbestimmungsschwelle nahekommen dürfte. 38 Stein in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 179 AktG Rz. 31.

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Wenn hingegen zu einem späteren Zeitpunkt – etwa im Rahmen einer Satzungsänderung – der Notar eine Satzungsbescheinigung einreicht, werden bei dieser Gelegenheit auch die dem MitbestG widersprechenden Satzungsbestimmungen aus der neuen Satzungsbescheinigung entfernt werden müssen.39 Hier ist es sehr empfehlenswert, auch im Übrigen auf einen Gesellschafterbeschluss hinzuwirken, der die Satzung an die Anforderungen des MitbestG anpasst.

III. Fragen der Satzungsgestaltung Unterliegt eine GmbH der Mitbestimmung, stellen sich im Rahmen der Satzungsgestaltung Sonderfragen nach der Vertretungsbefugnis des Arbeitsdirektors (sub 1.), dem Innenverhältnis (sub 2.), der Konkurrenz zwischen Gesellschaftern und Aufsichtsrat (sub 3.) sowie einem eventuellen Import der aktienrechtlichen Satzungsstrenge (sub 4.). 1. Vertretung durch den Arbeitsdirektor: Gleichbehandlungspostulat Gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 MitbestG ist der Arbeitsdirektor gleichberechtigtes Mitglied des Vertretungsorgans. Daraus folgen Besonderheiten für die Satzungsgestaltung, insbesondere in Hinblick auf Vertretung (sub a.) und Geschäftsführung (sub b.). a) Abstrakte Vertretungsregelung Gesetzliche Ausgangslage ist die aktive Gesamtvertretungsbefugnis aller Geschäftsführer, § 35 Abs. 2 Satz 1 GmbHG. Diese erfüllt jedenfalls die Anforderung an die Gleichberechtigung des Arbeitsdirektors, da die GmbH nur unter Mitwirkung des Arbeitsdirektors vertreten werden kann. Oftmals ist Gesamtvertretungsbefugnis nicht praktikabel. Stattdessen wird die Satzung eine von der gesetzlichen Ausgangslage abweichende abstrakte Vertretungsregelung enthalten. Üblich dürfte die Einräumung der Gesamtvertretungsbefugnis an zwei Geschäftsführer bzw. einen Geschäftsführer gemeinsam mit einem Prokuristen sein.40 Alternativ ist auch die generelle Einräumung von Einzelvertretungsbefugnis an jeden Geschäftsführer denkbar. Unproblematisch unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung ist eine satzungsmäßige Vertretungsregelung jedenfalls dann, wenn die Bestimmungen unterschiedslos für jeden Geschäftsführer gelten. Gegen das Gleichbehandlungspostulat des § 33 Abs. 1 Satz 1 MitbestG verstößt hingegen eine Satzungsregelung, die direkt an den Arbeitsdirektor anknüpft und ihm im Vergleich zu den übrigen Geschäftsführern 39 Ulmer/Casper in Ulmer/Habersack/Löbbe, 2.  Aufl. 2016, §  54 GmbHG Rz.  19, vertreten dies zumindest für den Fall, dass es sich um überholte materielle Satzungsbestimmungen handelt. Dies dürfte der hier in Rede stehenden Konstellation ähnlich sein. 40 So etwa Pfisterer in BeckOF Vertrag, 46. Ed. 2018, Ziff. 7.8.1.1.1, dort § 5 Abs. 1.

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grundsätzlich eine „geringwertigere“ Vertretungsbefugnis zuspricht als den übrigen Geschäftsführern. Dies wäre etwa der Fall, wenn der Arbeitsdirektor nur gemeinschaftlich mit anderen Geschäftsführern vertreten dürfte, die übrigen Geschäftsführer aber Einzelvertretungsbefugnis besitzen. Erst recht darf dem Arbeitsdirektor die Vertretungsbefugnis nicht insgesamt entzogen werden, was bereits unmittelbar aus dem Wortlaut des § 33 Abs. 1 Satz 1 MitbestG hervorgeht. Eine Regelung für den Fall, dass nur ein Geschäftsführer vorhanden ist, erübrigt sich, da §  33 MitbestG mindestens zwei Geschäftsführer voraussetzt. Nicht empfehlenswert ist es, ausdrücklich zu bestimmen, dass ein einzelner verbleibender Geschäftsführer keine Vertretungsmacht hat.41 Indes kann in Übereinstimmung zu § 33 MitbestG die Satzungsbestimmung aufgenommen werden, dass mindestens zwei Geschäftsführer zu bestellen sind,42 oder sogar eine konkrete Anzahl von Geschäftsführern festgelegt werden. Es ist nicht ausgeschlossen, einzelnen Geschäftsführern bereits in der satzungsmäßigen Vertretungsregelung besondere Vertretungsbefugnisse zuzuerkennen. Dies betrifft insbesondere einen Vorsitzenden der Geschäftsführung.43 Hierbei ist jedoch darauf zu achten, dass keine faktische Ungleichbehandlung des Arbeitsdirektors konstruiert wird, insbesondere bei einem nur aus zwei Geschäftsführern bestehenden Vertretungsorgan.44 Wird hier etwa dem Vorsitzenden Einzelvertretungsbefugnis erteilt, kommt es zu einer faktischen Diskriminierung des Arbeitsdirektors. Ähnlich ist der Fall zu beurteilen, dass der Vorsitzende bei nur zwei Geschäftsführern das Recht zum Stichentscheid hat.45 Von derlei Satzungsgestaltungen ist daher im Regelfall abzuraten, zumal dies im Rahmen der konkreten Vertretungsregel flexibler gelöst werden kann. b) Öffnungsklauseln und konkrete Vertretungsregelung Es ist üblich, in der Satzung Öffnungsklauseln hinsichtlich der Vertretung vorzusehen. So kann Geschäftsführern Einzelvertretungsbefugnis oder einer bestimmten Gruppe von Geschäftsführern Gesamtgeschäftsführungsbefugnis eingeräumt werden. Ähnliches gilt für eine Befreiung von den Beschränkungen des § 181 BGB. Die Entscheidung über eine konkrete Vertretungsregelung wird in der Satzung üblicherweise dem Aufsichtsrat zugewiesen; es dürfte aber auch möglich sein, dies der Gesellschafterversammlung vorzubehalten, da diese ja auch im Rahmen der Satzung über die abstrakte Vertretungsregelung bestimmt.46 41 S. zu dieser Frage bereits oben II.1.b)(2). 42 Eine Bestimmung, dass nur ein Geschäftsführer zu bestellen ist, wäre gemäß § 37 Abs. 1 MitbestG unwirksam, vgl. hierzu etwa Oetker in ErfKomm. ArbR, 19. Aufl. 2019, § 33 MitbestG Rz. 3. 43 S. zu dieser Frage unten III.3.a). 44 Vgl. dazu etwa Meyer-Landrut, DB 1976, 387, 388. 45 Bestehen mehr als zwei Geschäftsführer, wird dies vom BGH jedoch als zulässig angesehen, vgl. BGH v. 14.11.1983 – II ZR 33/83, NJW 1984, 733, 736. 46 S. hierzu Wentrup in Hoffmann-Becking/Gebele, 13. Aufl. 2019, Ziff. IX.12 (Anm. 8); vgl. außerdem Overlack, ZHR 141 (1977), 125, 135.

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Auch bei der konkreten Vertretungsregelung ist auf das Gleichbehandlungspostulat zu achten. Zwar ist eine absolut identische Behandlung mit anderen Geschäftsführern nicht notwendig. Eine tatsächliche oder faktische Anknüpfung an die Position des Arbeitsdirektors ist aber nicht statthaft. Dies schließt freilich nicht aus, dass nach abstrakten, für alle Geschäftsführer geltenden Kriterien einzelnen Geschäftsführern eine erweiterte Vertretungsbefugnis erteilt wird, selbst wenn dadurch der Arbeitsdirektor im Einzelfall, aber nicht systematisch schlechter gestellt ist. So kann etwa ­jedem Geschäftsführer erst nach einer gewissen Erfahrungszeit im Unternehmen Einzelvertretungsbefugnis eingeräumt werden.47 Ebenfalls dürfte der Gleichbehandlungsgrundsatz eingehalten sein, wenn dem Vorsitzenden der Geschäftsführung – bei insgesamt mehr als zwei Geschäftsführern – Einzelvertretungsbefugnis verliehen wird.48 Eine konkrete Vertretungsregelung ist, da kein Satzungsbestandteil, nicht bereits gemäß § 37 Abs. 1 MitbestG unwirksam. Man wird stattdessen aus dem Gleichbehandlungspostulat des § 33 Abs. 1 Satz 1 MitbestG einen Anspruch des Arbeitsdirektors gegenüber der Gesellschaft herleiten dürfen, die den anderen Geschäftsführern zukommende Privilegierung bei der konkreten Vertretungsregelung ebenfalls zu erhalten.49 Ähnlich wie die konkrete Vertretungsregelung dürften Ermächtigungen zur Einzelvertretung zu bewerten sein. 2. Innenverhältnis: Geschäftsführung, Geschäftsordnung, Anstellungsvertrag Auch auf das Innenverhältnis der Geschäftsführer zur GmbH wirkt das MitbestG ein. Grundsätzlich haben mehrere Geschäftsführer einer GmbH Gesamtgeschäftsführungsbefugnis;50 allerdings kann auf Satzungsebene, aber auch durch Gesellschafterbeschluss etwas anderes vereinbart werden, etwa im Rahmen einer Geschäftsordnung. Zusätzlich kann auch durch den Anstellungsvertrag die Geschäftsführungsbefugnis im Innenverhältnis zur Gesellschaft beschränkt werden.51 Von diesen allgemeinen Grundsätzen weicht die mitbestimmte GmbH insoweit ab, als der Arbeitsdirektor bereits mit dem allgemeinen Bestellungsakt durch den mitbestimmten Aufsichtsrat nicht nur zum Vertretungsorgan bestellt wird, sondern zugleich im Innenverhältnis den unabdingbaren Mindestzuständigkeitsbereich eines Arbeitsdirektors, nämlich das Ressort Arbeit und Soziales, zuerkannt bekommt. Dies

47 Oetker in ErfKomm. ArbR, 19.  Aufl. 2019, §  33 MitbestG Rz.  7; Henssler in Habersack/ Henssler, 4. Aufl. 2018, § 33 MitbestG Rz. 36. 48 S. zu dieser Frage unten III.3.a). 49 Umgekehrt wäre auch gemäß § 134 BGB i.V.m. § 33 MitbestG die Nichtigkeit des Beschlusses, welcher den Arbeitsdirektor benachteiligt, denkbar. 50 Stephan/Tieves in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 37 GmbHG Rz. 78. 51 Stephan/Tieves/Jaeger/Steinbrück in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 35 GmbHG Rz. 81.

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wird allgemein aus § 33 MitbestG gefolgert.52 Weiter ist der Aufsichtsrat nach Ansicht des BGH kraft Annexkompetenz auch für den Abschluss der – ebenfalls das Innenverhältnis prägenden – Anstellungsverträge der Geschäftsführer zuständig.53 Entgegenlautende Bestimmungen in einer Satzung sind bereits gemäß §  37 Abs.  1 Satz 1 MitbestG unwirksam. Gesellschafterbeschlüsse etwa über eine – von § 33 Abs. 2 Satz 2 MitbestG ausdrücklich in Bezug genommene – Geschäftsordnung54 sind insoweit gemäß § 134 BGB i.V.m. § 33 MitbestG nichtig. Die Geschäftsordnung kann dem Arbeitsdirektor weitere Zuständigkeiten zusprechen.55 Außerdem verlangt § 33 MitbestG auch keine Alleingeschäftsführung des Arbeitsdirektors im Bereich Arbeit und Soziales.56 Gleichwohl wird auch hier das Gleichbehandlungspostulat zu beachten sein. Dieses schließt es etwa – im Gleichlauf zur Vertretungsbefugnis – aus, dem Arbeitsdirektor keine Alleingeschäftsführungsbefugnis zuzuerkennen, wenn diese den übrigen Geschäftsführern eingeräumt ist. Weiter ist es auch nicht statthaft, einem anderen Geschäftsführer, etwa als Vorsitzendem der Geschäftsführung, ein Vetorecht über Entscheidungen des Arbeitsdirektors vorzubehalten.57 3. Kompetenzverteilung zwischen Aufsichtsrat und Gesellschafter­ versammlung Systematik und Regelungstechnik des MitbestG orientieren sich maßgeblich am Recht der Aktiengesellschaft, was bereits durch die zahlreichen Verweisungen des MitbestG auf Vorschriften des AktG zum Ausdruck kommt. In einigen Punkten weicht die rechtliche Struktur der GmbH aber von der AG ab, etwa beim Verhältnis zwischen dem mitbestimmten Aufsichtsrat einerseits und den Gesellschaftern andererseits.58 Insoweit muss ausgemessen werden, inwieweit der Regelungsgehalt des Aktienrechts über das Vehikel des MitbestG auf die mitbestimmte GmbH Einfluss erhält. Besonders interessant ist hierbei die Frage, wer für die Ernennung eines Vorsitzenden der Geschäftsführung zuständig ist (sub a.) und welche Geschäfte von der Zustimmung des Aufsichtsrats abhängig gemacht werden können (sub b.).

52 Oetker in ErfKomm. ArbR, 19. Aufl. 2019, § 33 MitbestG Rz. 11; Säcker, DB 1977, 1993, 1994. 53 BGH v. 14.11.1983 – II ZR 33/83, NJW 1984, 733, 734 ff. 54 Die Geschäftsordnung wird durch die Gesellschafterversammlung beschlossen, vgl. hierzu Säcker, DB 1977, 1993, 1993. 55 Säcker, DB 1977, 1993, 1995. 56 Henssler in Habersack/Henssler, 4. Aufl. 2018, § 33 MitbestG Rz. 44; Oetker in ErfKomm. ArbR, 19. Aufl. 2019, § 33 MitbestG Rz. 13. 57 BGH v. 14.11.1983 – II ZR 33/83, NJW 1984, 733, 736. 58 Ulmer, Der Einfluß des Mitbestimmungsgesetzes auf die Struktur von AG und GmbH, 1. Aufl. 1979, S. 42 ff., spricht dem mitbestimmten Aufsichtsrat eine Orientierung am Unternehmensinteresse, der Gesellschafterversammlung hingegen eine Orientierung am Gesellschaftsinteresse zu.

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a) Ernennung eines Vorsitzenden der Geschäftsführung Die GmbH kennt anders als die AG nicht ausdrücklich einen Vorsitzenden des geschäftsführenden Organs. Gleichwohl ist es im Rahmen der Satzungsautonomie möglich und üblich, einen Vorsitzenden der Geschäftsführung zu installieren und auch mit etwaigen Sonderrechten, etwa dem Recht zum Stichentscheid, auszustatten.59 Zuständig für die Ernennung eines solchen Vorsitzenden ist im allgemeinen GmbH-Recht wegen § 46 Nr. 5 GmbHG bzw. auf Grundlage einer entsprechenden Satzungsbestimmung regelmäßig die Gesellschafterversammlung. Bei der mitbestimmten GmbH wird jedoch vertreten, dass auch die Ernennung des Vorsitzenden der Geschäftsführung zwingend dem Aufsichtsrat zukomme. Argumentiert wird mit § 31 Abs. 1 Satz 1 MitbestG, der u.a. auf § 84 AktG verweist, in dessen Abs. 2 die Ernennung des Vorstandsvorsitzenden dem Aufsichtsrat zugewiesen ist.60 Außerdem wird auf die BGH-Rechtsprechung rekurriert, welche dem mitbestimmten Aufsichtsrat kraft Annexkompetenz auch die Befugnis für den Abschluss von Anstellungsverträgen der GmbH-Gesellschafter zuerkennt.61 Diese Argumentation verfängt im Ergebnis jedoch nicht.62 Denn § 31 MitbestG regelt lediglich die Bestellung der Geschäftsführung und nicht die Ernennung eines Vorsitzenden. Soweit die Verweisung des § 31 MitbestG auch auf die Bestimmung des § 84 Abs.  2 AktG über die Ernennung des Vorsitzenden verweist, geht die Verweisung daher ins Leere. Ein Rückschluss aus der Pauschalverweisung auf § 84 AktG auf den Regelungsinhalt des § 31 MitbestG ist insoweit nicht statthaft. Das folgt auch aus § 30 MitbestG, wonach Fragen zum Vertretungsorgan sich nur dann nicht nach den allgemeinen Grundsätzen richten, wenn in §§ 31 bis 33 MitbestG etwas anderes bestimmt ist. Weiter sind Geschäftsverteilungsfragen – und um nichts anderes handelt es sich – auch bei der mitbestimmten GmbH funktional den Gesellschaftern zugewiesen, weshalb keine Parallele zum Anstellungsvertrag zu bilden ist, welcher im Sachzusammenhang mit der Bestellung der Geschäftsführer steht. Dass die Satzung die Ernennung des Vorsitzenden der Geschäftsführer den Gesellschaftern zuschlägt, dürfte also möglich sein. Allerdings sind auch hier die Besonderheiten des § 33 MitbestG zu beachten, sodass insbesondere das Gleichbehandlungspostulat nicht durch ein Vetorecht des Vorsitzenden ausgehebelt werden darf.63 b) Zustimmungskatalog des Aufsichtsrats vs. Weisungsrecht der Gesellschafter Die Unterschiede zwischen AG und GmbH machen sich auch bei der Ausmessung der Kompetenzen zwischen Aufsichtsrat und Anteilseignern bemerkbar. Die Aktio59 Vgl. etwa Gerber in Beck’sches Formularbuch GmbH-Recht, 1. Aufl. 2010, Teil E, Ziff. VI.; Henssler, GmbHR 2004, 321, 321. 60 Schubert in Wißmann/Kleinsorge/Schubert, 5. Aufl. 2017, § 30 MitbestG Rz. 10. 61 BGH v. 14.11.1983 – II ZR 33/83, NJW 1984, 733, 734 f.; s. auch bereits oben III.2. 62 Die nachfolgende Argumentation orientiert sich an Henssler, GmbHR 2004, 321, 323 ff. 63 BGH v. 14.11.1983  – II ZR 33/83, NJW 1984, 733, 736; Henssler, GmbHR 2004, 321, 327. S. hierzu und zu weiteren Fragen in diesem Zusammenhang bereits oben III.1.

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näre einer AG haben eine tendenziell schwächere Stellung, weil gemäß § 76 Abs. 1 AktG der Vorstand die Gesellschaft unter eigener Verantwortung zu leiten hat. Demgegenüber sind die Geschäftsführer einer GmbH grundsätzlich nicht eigenverantwortlich tätig, sondern unterliegen gemäß § 37 Abs. 1 GmbHG den Weisungen der Gesellschafter. Dabei kann es sich auch um detaillierte Einzelweisungen handeln. Da das MitbestG nicht auf §  76 AktG verweist, gilt dieser grundsätzliche Unterschied auch für die mitbestimmte GmbH. Demgegenüber ist bei der mitbestimmten GmbH gemäß § 25 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 MitbestG i.V.m. § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG ein Katalog an Geschäften festzulegen, welche nur mit Zustimmung des Aufsichtsrats vorgenommen werden dürfen. Diese Festlegung kann entweder in der Satzung selbst oder aber durch Aufsichtsratsbeschluss erfolgen.64 Dieser Zustimmungskatalog vermag freilich die grundsätzliche Weisungsmacht der Gesellschafter in der GmbH nicht zu brechen.65 Aufgrund des zwingenden Charakters des Mitbestimmungsrechts führt die stärkere Stellung der GmbH-Gesellschafter im Vergleich zu Aktionären andererseits aber auch nicht dazu, dass ein Zustimmungsvorbehalt des Aufsichtsrats gänzlich ignoriert werden kann.66 Bei verweigerter Zustimmung muss die Gesellschafterversammlung ihre Weisung mit einer qualifizierten Mehrheit von drei Vierteln gemäß § 111 Abs. 4 Satz 4 AktG erteilen, um diese durchzusetzen.67 § 111 Abs. 4 AktG ist daher weniger ein echter Zustimmungsvorbehalt als ein bloßes Informationsrecht des Aufsichtsrats, welches ihm eine Art „Compliance-Kontrolle“ ermöglicht.68 Es empfiehlt sich, bereits in der Satzung einen entsprechenden Zustimmungskatalog festzulegen und darin auch das vorstehend ausgemessene Verhältnis zwischen Auf64 Zur Konkurrenz dieser beiden Wege vgl. etwa Zöllner, ZGR 1977, 319, 327 m.w.N. 65 Schubert in Wißmann/Kleinsorge/Schubert, 5. Aufl. 2017, § 25 MitbestG Rz. 193 ff.; Rodewald/Wohlfarter, GmbHR 2013, 690, 692; Overlack, ZHR 141 (1977), 125, 140 f.; Geitner, AG 1976, 210, 212; Ulmer, Der Einfluß des Mitbestimmungsgesetzes auf die Struktur von AG und GmbH, 1. Aufl. 1979, S. 46. Teilweise wird es freilich als rechtlich geboten angesehen, die laufenden Tagesgeschäfte von Weisungen zu verschonen, vgl. etwa Habersack in Habersack/Henssler, 4. Aufl. 2018, § 30 MitbestG Rz. 20. Für einen generellen Vorrang des Aufsichtsrats gegenüber Gesellschafterweisungen hingegen Vollmer, ZGR 1979, 135, 142 ff. 66 So aber Uwe H. Schneider in Scholz, 11. Aufl. 2013, § 52 GmbHG Rz. 133; Zöllner, ZGR 1977, 319, 327 f.; Altmeppen in Roth/Altmeppen, 9. Aufl. 2019, § 52 GmbHG Rz. 75, jeweils bezogen auf Gesellschafterweisungen ohne Ermessensspielraum für die Geschäftsführung. Für ein Zurückweisungsrecht der Gesellschafter mit einfacher Mehrheit etwa Wentrup in Hoffmann-Becking/Gebele, 13. Aufl. 2019, Ziff. IX.12 (Anm. 20). 67 So im Ergebnis, jeweils mit ausführlicher Begründung, auch Oetker, ZIP 2015, 1461, 1461 ff.; Wank, GmbHR 1980, 121, 125 ff.; Baumann, ZHR 142 (1978), 557, 576. Die Gegenansicht ignoriert, dass das zwingende MitbestG insoweit eben auch auf §  111 Abs.  4 AktG verweist. Hierbei handelt es sich – anders als bei § 84 Abs. 2 AktG (s. oben III.3.a)) – auch nicht um eine Verweisung, die ins Leere läuft. 68 So ausdrücklich Schubert in Wißmann/Kleinsorge/Schubert, 5. Aufl. 2017, § 25 MitbestG Rz. 214; ähnlich Oetker, ZIP 2015, 1461, 1466 f., der ausdrücklich darlegt, es handle sich aufgrund dieser Funktion bei der Beteiligung des Aufsichtsrats eben nicht bloß um einen „sinnentleerten Formalismus“.

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sichtsrat und Gesellschafterversammlung darzustellen. Bei verbundenen Unternehmen ist außerdem § 32 MitbestG zu berücksichtigen.69 4. „Import“ der aktienrechtlichen Satzungsstrenge? Das MitbestG ist zwingender Natur und nicht dispositiv. Das verdeutlichen etwa §§ 25, 30, 37 MitbestG, wonach sich die Verhältnisse des mitbestimmten Unternehmens erst dann nach allgemeinen Rechtsvorschriften bestimmen, wenn das Mitbestimmungsrecht keine Sonderregelungen trifft. Entgegenstehende Satzungsregelungen sind unwirksam. Teilweise wird vertreten, aufgrund der Verweisungen des MitbestG auf Vorschriften des Aktiengesetzes werde insoweit auch das Gebot der Satzungsstrenge gemäß § 23 Abs. 5 AktG in die mitbestimmte GmbH „importiert“.70 Dem widerspricht aber, dass eine mitbestimmungsrechtliche Verweisung auf §  23 Abs.  5 AktG gerade nicht erfolgt.71 Durch die zwingende Natur des MitbestG und der dort in Bezug genommenen aktienrechtlichen Rechtsnormen besteht gleichwohl eine eingeschränkte Satzungsstrenge der GmbH, die sich jedoch allein aus §§ 25, 30, 37 MitbestG und nicht aus § 23 Abs. 5 AktG ergibt.72 Außerhalb des mitbestimmungsrechtlichen Regelungsgehalts herrscht in der mitbestimmten GmbH also Satzungsautonomie.

IV. Insbesondere: § 32 MitbestG bei verbundenen Unternehmen Der aufmerksame Rechtsgestalter sollte bei verbundenen Unternehmen, die der Mitbestimmung unterliegen, immer an § 32 MitbestG denken. 1. Grundlagen und Anwendungsbereich Bei gewissen Entscheidungen einer mitbestimmten Muttergesellschaft in ihrer Eigenschaft als Gesellschafterin einer ebenfalls mitbestimmten Tochtergesellschaft kann die Geschäftsführung der Muttergesellschaft gemäß § 32 MitbestG nur auf Grundlage eines Aufsichtsratsbeschlusses handeln, allerdings in seiner Besetzung nur mit Aufsichtsratsmitgliedern der Anteilseigner. Konkret geht es um Bestellung, Widerruf der Bestellung oder Entlastung von Verwaltungsträgern, um Auflösung oder Umwandlung der Tochtergesellschaft, um Abschluss, Fortsetzung oder Auflösung von Unternehmensverträgen mit der Tochtergesellschaft oder um Übertragung des Vermögens der Tochtergesellschaft. § 32 MitbestG führt damit zu einer Kompetenzverlagerung auf Seiten der Muttergesellschaft in speziellen Sonderkonstellationen. Damit wollte der Gesetzgeber in gewissen 69 S. hierzu unten III. 70 So etwa Habersack in Habersack/Henssler, 4. Aufl. 2018, § 25 MitbestG Rz. 10. 71 Ebenso Oetker in ErfKomm. ArbR, 19. Aufl. 2019, § 25 MitbestG Rz. 6. 72 So im Ergebnis auch BGH v. 30.1.2012 – II ZB 20/11.

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Fällen eine Kumulation des Einflusses der Arbeitnehmer verhindern bzw. eine Erweiterung des Arbeitnehmereinflusses auf Grundlagenentscheidungen vermeiden, die dadurch zustande kommt, dass auf Seiten der Muttergesellschaft die vom mitbestimmten Aufsichtsrat bestellte Geschäftsführung handelt und auf Seiten der Tochtergesellschaft ggf. auch ein von Arbeitnehmern beeinflusstes Organ oder die Arbeitnehmer selbst (so etwa bei der Bestellung von Aufsichtsratsmitgliedern der Tochtergesellschaft).73 § 32 MitbestG wirkt hierbei als Beschränkung der Vertretungsmacht der Geschäftsführer im Außenverhältnis.74 Die Vorschrift ist nur auf direkte Ober-Untergesellschaftsverhältnisse anzuwenden. Sobald eine Gesellschaft zwischengeschaltet ist, die nicht der Mitbestimmung nach dem MitbestG75 unterliegt, findet § 32 MitbestG keine Anwendung.76 Insgesamt stößt § 32 MitbestG auf verbreitete Kritik, insbesondere da die Norm einerseits grundlegende Strukturprinzipien der Kapitalgesellschaften durchbricht, andererseits aber nur einen Ausschnitt denkbarer Anwendungsfälle erfasst. Natürlich ist die Vorschrift anzuwenden, im Hinblick auf eine analoge oder erweiternde Auslegung ist jedoch Zurückhaltung zu üben.77 Für eine solch enge Auslegung streitet auch bereits der Wortlaut der Vorschrift, welche ersichtlich nur auf ganz bestimmte Konstellationen Anwendung finden will. Auch die Gesetzesbegründung weist in diese Richtung.78 Weiter haben die Anteilseigner bei Meinungsverschiedenheiten im mitbestimmten Aufsichtsrat ohnehin das letzte Wort.79

73 Vgl. hierzu bereits die Begründung des Regierungsentwurfs, BT-Drucks. 7/2172, S. 28 f. S.  außerdem Schubert in Wißmann/Kleinsorge/Schubert, 5.  Aufl. 2017, §  32 MitbestG Rz. 4; Annuß in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 32 MitbestG Rz. 1. 74 Oetker in ErfKomm. ArbR, 19. Aufl. 2019, § 32 MitbestG Rz. 3; Habersack in Habersack/ Henssler, 4. Aufl. 2018, § 32 MitbestG Rz. 15. Ein Verstoß führt zur Anfechtbarkeit der Abstimmung in der Tochtergesellschaft entsprechend §  243 AktG; eine Nachgenehmigung durch den Anteilseigner-Aufsichtsrat bleibt entsprechend § 180 Satz 2 BGB jedoch möglich, soweit der Versammlungsleiter der Tochtergesellschaft die Stimmabgabe nicht beanstandet hat, vgl. Schubert in Wißmann/Kleinsorge/Schubert, 5. Aufl. 2017, § 32 MitbestG Rz. 30; Habersack in Habersack/Henssler, 4. Aufl. 2018, § 32 MitbestG Rz. 16. 75 So etwa eine nach dem DrittelbG mitbestimmte oder auch eine ausländische Gesellschaft. 76 Schubert in Wißmann/Kleinsorge/Schubert, 5. Aufl. 2017, § 32 MitbestG Rz. 8 f. Eine Ausnahme wird für den Fall gemacht, dass die Obergesellschaft eine GmbH & Co. KG i.S.d. § 4 MitbestG ist. In diesem Fall findet §  32 MitbestG analoge Anwendung, weil die mitbestimmte Komplementär-GmbH hier Einfluss auf die KG nimmt, vgl. Oetker in ErfKomm. ArbR, 19. Aufl. 2019, § 32 MitbestG Rz. 2. Dies ist freilich nicht ganz konsequent, da ein solch mittelbarer Einfluss auch bei einer zwischengeschalteten nicht mitbestimmten GmbH bestehen kann. 77 So Habersack in Henssler/Habersack, 4. Aufl. 2018, § 32 MitbestG Rz. 4; ebenso Oetker in Hopt/Wiedemann, 4. Aufl. 2008, § 32 MitbestG Rz. 12. 78 BT-Drucks. 7/2172, S. 39 („die dort im einzelnen aufgeführten Beteiligungsrechte“). 79 S. bereits oben II.1.a)(3). Bei der mitbestimmten GmbH besteht außerdem ein Weisungsrecht der GmbH-Gesellschafter, s. hierzu oben III.3.b).

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2. Analoge Anwendung bei Umgehung? Trotz der Argumente für eine eingeschränkte, strikt am Wortlaut orientierte Anwendungspraxis im Rahmen des § 32 MitbestG sind zumindest konkrete Umgehungsgestaltungen nochmals besonders in den Blick zu nehmen, die sich nahe am Anwendungsbereich des § 32 MitbestG bewegen. a) Kompetenzverlagernde Satzungsänderungen Dies betrifft zum einen kompetenzverlagernde Satzungsänderungen. So könnte etwa die Entlastungskompetenz, die – auch unter Geltung des MitbestG – gemäß § 46 Nr. 5 GmbHG grundsätzlich der Gesellschafterversammlung obliegt80 und auch § 32 MitbestG bereits dem Wortlaut nach unterfällt, in der Satzung auf den mitbestimmten Aufsichtsrat übertragen werden. Eine analoge Anwendung von § 32 MitbestG erscheint vor dem Hintergrund eingängig, dass diese Satzungsänderung die Umgehung einer konkreten, eigentlich unter diese Vorschrift fallenden Maßnahme darstellt. Auch nach Wortlaut und Geist des MitbestG ist eine analoge Anwendung womöglich veranlasst, da andernfalls eine Kumulation von arbeitnehmerdominierten Entscheidungsabläufen eintritt. Im Ergebnis ist eine analoge Anwendung des § 32 MitbestG aber abzulehnen. Zum einen herrscht auch in der mitbestimmten GmbH ausdrücklich Satzungsautonomie.81 Hinzu kommt, dass auch im mitbestimmten Aufsichtsrat die Anteilseignerseite letztlich die Übermacht hat.82 Eine kompetenzverlagernde Satzungsbestimmung widerspricht auch teleologisch dem MitbestG gerade nicht, denn das MitbestG selbst ist seiner Grundausrichtung nach ein arbeitnehmerorientiertes Gesetz, sodass ihm eine derartige Satzungsbestimmung kaum widersprechen dürfte. Schließlich ist es der Muttergesellschaft unbenommen, die Kompetenzverlagerung auf den Aufsichtsrat der Tochtergesellschaft jederzeit rückgängig zu machen; die Kompetenz-Kompetenz bleibt bei der Muttergesellschaft als Gesellschafterin der Tochter. Zudem können die allgemeinen Argumente gegen eine analoge, erweiternde Anwendung des § 32 Mit­ bestG ins Feld geführt werden. b) Handeln eines rechtsgeschäftlich Bevollmächtigten Wenn statt der Geschäftsführer der Muttergesellschaft ein rechtsgeschäftlich Bevollmächtigter, insbesondere ein Prokurist, handelt, stellen sich ähnliche Fragen. Ein Pro-

80 Habersack in Habersack/Henssler, 4.  Aufl. 2018, §  31 MitbestG Rz.  5; Schubert in Wißmann/Kleinsorge/Schubert, 5. Aufl. 2017, § 31 MitbestG Rz. 15; Römermann in Michalski/ Heidinger/Leible/J. Schmidt, 3. Aufl. 2017, § 46 GmbHG Rz. 258. 81 § 23 Abs. 5 AktG wird gerade nicht auf die mitbestimmte GmbH angewandt. S. bereits oben III.4. 82 S. bereits oben II.1.a)(3).

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kurist wird auch in der mitbestimmten GmbH vom Geschäftsführer bestellt.83 § 32 MitbestG stellt das Zustimmungserfordernis nur für das Handeln eines gesetzlichen Vertreters auf. Auch diese Gestaltung ist letztlich eine Umgehung der Anforderungen des § 32 MitbestG. Eine analoge Anwendung des § 32 auf das Handeln eines Prokuristen scheidet dennoch auch hier bereits aus den vorgenannten Gründen aus. Noch fernliegender, weil eine nur mittelbare Konstellation betreffend, erscheint die entsprechende Anwendung des § 32 MitbestG auf den Bestellungsakt des Prokuristen selbst. Auch vor dem Hintergrund des Normzwecks der Vorschrift ist eine analoge Anwendung nicht angezeigt. Denn der Prokurist lässt sich über die Bestellung durch den Geschäftsführer zwar mittelbar auf den Aufsichtsrat zurückführen. Inmitten steht damit aber nicht mehr das Handeln eines unmittelbar vom Aufsichtsrat bestellten Organs.84 Für dieses Ergebnis spricht auch die Gesetzgebungsgeschichte: Bei der Formulierung des MitbestG wurde bewusst davon abgesehen, die Kompetenz zur Bestellung der Prokuristen dem Aufsichtsrat zuzusprechen.85 3. Verhältnis zu § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG sowie § 46 Nr. 6 GmbHG In seinem Anwendungsbereich beeinflusst § 32 MitbestG auch die Kompetenzverteilung zwischen Aufsichtsrat und Gesellschafterversammlung der Muttergesellschaft.86 Ein Zustimmungsvorbehalt des mitbestimmten Aufsichtsrats gemäß §  111 Abs.  4 Satz 2 AktG kann im Widerspruch zum Zustimmungsvorbehalt der von den Anteilseignern bestellten Aufsichtsratsmitglieder gemäß § 32 MitbestG stehen. Dieses Konkurrenzverhältnis ist auszumessen. Beide Vorschriften gehen auf das MitbestG zurück – § 111 AktG über die Verweisung in § 25 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 MitbestG. Gleichwohl dürfte § 32 MitbestG in seinem Anwendungsbereich als speziellere Vorschrift gegenüber § 111 AktG vorrangig sein.87 Bei der Gestaltung einer Satzung im Anwendungsbereich des § 32 MitbestG ist diesem Umstand Rechnung zu tragen. Entsprechende Maßnahmen in der Muttergesellschaft dürfen also nicht vom Zustimmungskatalog des i.S.d. § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG erfasst sein. Angängig dürfte es auch sein, in der Satzung ausdrücklich eine Ausnahme für den Anwendungsbereich des § 32 MitbestG vorzusehen. 83 Habersack in Habersack/Henssler, 4.  Aufl. 2018, §  31 MitbestG Rz.  6; Schubert in Wißmann/Kleinsorge/Schubert, 5. Aufl. 2017, § 31 MitbestG Rz. 14. Im Innenverhältnis ist ein Beschluss nach § 46 Nr. 7 GmbHG erforderlich. 84 Ähnlich wohl Oetker in Hopt/Wiedemann, 4. Aufl. 2008, § 32 MitbestG Rz. 14: Adressat ist das Organ der Obergesellschaft, das zur gesetzlichen Vertretung berechtigt ist; die Vorschrift richtet sich nicht an das einzelne Mitglied eines Vertretungsorgans, wenn dieses nicht als gesetzlicher Vertreter für die Obergesellschaft auftritt. 85 So ausdrücklich Uwe H. Schneider in Scholz, 11. Aufl. 2013, § 52 GmbHG Rz. 170. 86 S. hierzu oben III.3. 87 Folge: Ein widersprechender Zustimmungskatalog i.S.d. § 111 AktG ist unwirksam nach Maßgabe des § 37 Abs. 1 Satz 1 MitbestG; so im Ergebnis auch Habersack in Habersack/ Henssler, 4. Aufl. 2018, § 32 MitbestG Rz. 20, der allerdings nur auf den zwingenden Charakter des § 32 MitbestG und nicht auf den Spezialitätsgrundsatz abstellt.

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§ 32 MitbestG tritt außerdem in Konflikt mit der Weisungsbefugnis der Gesellschafter gemäß § 46 Nr. 6 GmbHG.88 Im Unterschied zu § 111 AktG entstammt eine solche Weisung freilich ebenfalls dem Lager der Anteilseigner. Angesichts des Normzwecks des § 32 MitbestG ist es insoweit denkbar, § 32 MitbestG teleologisch zu reduzieren und alternativ auch Weisungen der Gesellschafter ausreichen zu lassen. Dies dürfte angesichts der allgemeinen Kritik gegenüber § 32 MitbestG anders als eine analoge, erweiternde Anwendung der Vorschrift auch zulässig sein.89 Teilweise wird aber auf den klaren Wortlaut des § 32 MitbestG verwiesen sowie darauf, dass ja auch die Anteilseignervertreter im Aufsichtsrat ausnahmsweise einem Weisungsrecht der Gesellschafter unterstehen.90 Aus Sicherheitsgründen sollte damit auch im Fall einer Gesellschafterweisung an die Geschäftsführer immer zusätzlich die Zustimmung gemäß § 32 MitbestG eingeholt werden.

V. Schlussbetrachtung Insgesamt zeigt sich, dass das Mitbestimmungsrecht in der Praxis des Notars durchaus eine Rolle spielt und nicht zu unterschätzen ist. Insbesondere bei der Satzungsgestaltung ist dem Rechnung zu tragen. Bei verbundenen Unternehmen ist zudem § 32 MitbestG zu berücksichtigen. Freilich sind die Rechtsfolgen von Verstößen gegen Vorgaben des MitbestG oftmals nicht allzu gravierend. So behalten etwa bisherige Geschäftsführer einer in das Regime des MitbestG aufgestiegenen GmbH weiterhin ihre Vertretungsmacht, selbst wenn noch kein Arbeitsdirektor bestellt worden sein sollte.

88 S. hierzu oben III.3. 89 Im Ergebnis ebenso Schubert in Wißmann/Kleinsorge/Schubert, 5. Aufl. 2017, § 32 Mit­ bestG Rz. 19; Habersack in Habersack/Henssler, 4. Aufl. 2018, § 32 MitbestG Rz. 21. 90 Habersack in Habersack/Henssler, 4. Aufl. 2018, § 32 MitbestG Rz. 21.

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Paradigmenwechsel im Gesellschaftsrecht? Vom ‚Aktienamt‘ zum ‚Nachhaltigkeitsamt‘, vom Konzessionssystem zur ‚Social Licence to Operate‘ – Der Aktionsplan Finanzierung nachhaltigen Wachstums der EU-Kommission Inhaltsübersicht I. Einleitung

III. Rückkehr ins Konzessionssystem?

II. Der Aktionsplan Finanzierung ­nachhaltigen Wachstums und sein ­Wirkmechanismus 1. Der Wirkmechanismus des Aktionsplans 2. Die Taxonomie als Grundlage allen ­wirtschaftlichen Handelns? 3. Auswirkungen auf Vorstand und ­Aufsichtsrat

IV. Behördliche Überwachung durch ein „Nachhaltigkeitsamt“? 1. Regulierte Industrien und der Aktionsplan 2. Publizität und der Aktionsplan V. Ergebnis

I. Einleitung Ulrich Seibert konstatiert neben der „Aktienrechtsreform in Permanenz“1 immer wieder, nicht zuletzt bei der Diskussion um die Reform des Beschlussmängelrechts, dass die Alternative zur Kontrolle von Aktiengesellschaften durch die Aktionäre eine behördliche Aufsicht, ein sogenanntes „Aktienamt“, sein könne.2 Die europäischen Rechtsordnungen sind möglicherweise auch schon fest auf dem Weg zu einem europäischen „Aktienamt“, bedingt durch immer weitere Vorgaben des europäischen Gesetzgebers. Höhepunkt der Regulierung könnten in ihrem Zusammenspiel die Maßnahmen aus dem Aktionsplan Finanzierung nachhaltigen Wachstums3 sein, die – so unsere These – quasi zwangsläufig früher oder später zu einer behördlichen Überwachung der Unternehmensberichterstattung, vielleicht sogar hinsichtlich der Nachhaltigkeit der Unternehmensstrategie führen könnten – das „Nachhaltigkeitsamt“.

1 Seibert, Aktienrechtsreform in Permanenz?, AG 2002, 417 ff. 2 Seibert, Gesetzliche Steuerungsinstrumente im Gesellschaftsrecht, ZRP 2011, 166, 168. 3 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, die Europäische Zentralbank, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Aktionsplan: Finanzierung nachhaltigen Wachstums, COM(2018) 97 final v. 8.3.2018 („Aktionsplan“).

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Christine Bortenlänger und Cordula Heldt

II. Der Aktionsplan Finanzierung nachhaltigen Wachstums und sein Wirkmechanismus Mit dem Aktionsplan Finanzierung nachhaltigen Wachstums steht ein erheblicher staatlicher Eingriff in die Privatwirtschaft bevor. Die EU-Kommission kündigt im Aktionsplan eine umfassende Umgestaltung des Finanzsystems an, eine nachhaltigkeitsorientierte Steuerung unter Umlenkung von Kapital. „Dieser Aktionsplan für ein nachhaltiges Finanzwesen ist Teil umfassenderer Bemühungen, Finanzfragen und die  spezifischen Erfordernisse der europäischen und der globalen Wirtschaft zum Nutzen des Planeten und unserer Gesellschaft miteinander zu verknüpfen“,4 so die EU-Kommission. „Damit privates Kapital in nachhaltigere Investitionen umgelenkt werden kann, muss das Finanzsystem umfassend umgestaltet werden. Dies ist er­ forderlich, wenn die EU ein nachhaltigeres Wirtschaftswachstum generieren, die ­Stabilität des Finanzsystems gewährleisten sowie mehr Transparenz und Langfristigkeit in der Wirtschaft fördern will.“5 Den Zielen des Aktionsplans, v.a. der Einhaltung der Klimaschutzziele durch eine emissionsarme Wirtschaft ist selbstverständlich nicht zu widersprechen. Hier sollen jedoch Überlegungen zum Instrument eines staatlich gesteuerten Umlenkungsmechanismus und seinen möglichen Folgen angestellt werden. Der Aktionsplan enthält zehn Maßnahmen, die sich die EU-Kommission vornehmen will: Ein EU-Klassifikationssystem für nachhaltige Tätigkeiten, Standards und Siegel für umweltfreundliche Finanzprodukte, Förderung von Investitionen in nachhaltige  Projekte, Berücksichtigung der Nachhaltigkeit in der Finanzberatung, Entwicklung von Nachhaltigkeitsbenchmarks, bessere Berücksichtigung der Nachhaltigkeit in Ratings sowie Marktanalysen, Klärung der Pflichten institutioneller Anleger und Vermögensverwalter, Berücksichtigung der Nachhaltigkeit in den Aufsichtsvorschriften, Stärkung der Vorschriften zur Offenlegung von Nachhaltigkeitsinformationen und zur Rechnungslegung und Maßnahme 10: Förderung einer nachhaltigen Unternehmensführung und Abbau von kurzfristigem Denken auf den Kapitalmärkten.

4 Aktionsplan, aaO (Fn. 3), S. 1. 5 Aktionsplan, aaO (Fn. 3), S. 1, mit Hinweis auch auf die Ziele der Kapitalmarktunion: Durch die Bereitstellung alternativer Finanzierungsquellen und von mehr Möglichkeiten für Verbraucher und institutionelle Anleger soll das europäische Finanzsystem gestärkt werden. Unternehmen, insbesondere KMU und Start-ups, erhalten durch die Kapitalmarktunion Zugang zu mehr Finanzierungsmöglichkeiten, etwa zu Risikokapital und Crowdfunding. Ein zentrales Thema dieses Neustarts der Kapitalmarktunion ist die nachhaltige und grüne Finanzierung: Da der Finanzsektor auch nachhaltigkeitsbewusste Anleger immer besser bei der Wahl geeigneter Projekte und Unternehmen unterstützt, ist die Kommission fest entschlossen, eine führende Rolle bei der weltweiten Förderung dieser Entwicklungen einzunehmen,“ Pressemitteilung der EU-Kommission, „Vollendung der Kapitalmarktunion: Erste Erfolge als Grundlage für weitere Fortschritte nutzen“, v. 8.6.2017.  Hervorhebung durch Verf.

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Die ersten Umsetzungsvorschläge sind vorgelegt,6 die Diskussion ist noch im Fluss. Ratingagenturen sollen bei ihren Ratings Nachhaltigkeit und langfristige Risiken umfassend berücksichtigen,7 bei den Banken und Versicherungsgesellschaften sollen angemessene Eigenkapitalvorschriften im Hinblick auf Nachhaltigkeit vorgesehen werden,8 die Investoren sollen Nachhaltigkeitsaspekte bei der Aufklärung ihrer Kunden, aber auch bei ihren Investitionsentscheidungen9 und bei der Nutzung ihres Stimmrechts, die Unternehmensleitungen bei ihren strategischen Entscheidungen berücksichtigen.10 Schließlich sollen erforderliche Informationen mit Hilfe der Überarbeitung der Offenlegungsvorschriften für Unternehmen und Investoren sowie zur Rechnungslegung bereitzustellen sein, wobei auch geprüft wird, „wie im Annahmeprozess von IFRS spezifische Anpassungen von Normen vorgenommen werden können, wenn diese nicht dem europäischen Gemeinwohl dienen, z.B. wenn die Normen ein Hindernis für langfristige Anlageziele darstellen könnten.“11 1. Der Wirkmechanismus des Aktionsplans Durch den Aktionsplan soll ein Substitutionsprozess in Gang gesetzt werden. Weniger umweltbelastende Aktivitäten sollen zu Lasten stärker belastender Aktivitäten ausgedehnt werden, ohne letztere durch einen direkten staatlichen Eingriff einzuschränken.12 Die Chancen der Steuerungsmechanismen aus dem Aktionsplan liegen darin, dass sich der der Staat marktgerechter Mechanismen bedienen will, um eine effiziente zukunftsfähige Wirtschafts- und Umweltpolitik zu betreiben. Der beabsichtigte Wirkmechanismus zur Umlenkung des Kapitals lässt sich so umschreiben: Die Offenlegung des Nachhaltigkeitsgrads der für ihre Kunden getätigten Investitionen seitens der Investoren soll dazu führen, dass die Kunden – wie die EU-Kommission hofft  – ihre Entscheidungen für eine Geldanlage künftig von Nachhaltigkeitser­ wägungen abhängig machen. Da die EU-Kommission selbst diesem Mechanismus alleine offenbar nicht traut, soll die gewünschte Umlenkung des Kapitals zusätzlich dadurch unterstützt werden, dass Unternehmensleitungen, institutionelle Investoren und Asset Manager, Banken und Versicherungen wie auch Ratingagenturen in ihren 6 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Einrichtung eines Rahmens zur Erleichterung nachhaltiger Investitionen, COM(2018) 353, v. 24.5.2018, S. 1 („Vorschlag Taxonomie-Verordnung“); Vorschlag für eine Verordnung über die Offenlegung von Informationen über nachhaltige Investitionen und Nachhaltigkeitsrisiken sowie zur Änderung der Richtlinie (EU) 2016/2341, COM (2018) 354, v. 24.5.2018; Vorschlag für eine Verordnung zur Änderung der Verordnung (EU) 2016/1011 in Bezug auf Referenzwerte für CO2-arme Investitionen und Referenzwerte für Investitionen mit günstiger CO2-Bilanz COM(2018) 355 v. 24.5.2018. 7 Aktionsplan, aaO (Fn. 3), 3.1, S. 9. 8 Aktionsplan, aaO (Fn. 3), 3.3, S. 11. 9 Aktionsplan, aaO (Fn. 3), 3.2, S. 10. 10 Aktionsplan, aaO (Fn. 3), 4.2, S. 13. 11 Aktionsplan, aaO (Fn. 3), 4.1, S. 12; Hervorhebung durch Verf. 12 Vgl. zu einem solchen Ansatz, Streissler, Das Problem der Internalisierung, in König (Hrsg.), Umweltverträgliches Wirtschaften als Problem von Wissenschaft und Politik, Schriften des Vereins für Socialpolitik, Band 224, Berlin 1993, S. 89.

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Entscheidungen Nachhaltigkeitsrisiken berücksichtigen müssen. Dabei steht im Raum, dass aufgrund einer Neubewertung und Quantifizierung von Risiken, die von der Aufsicht bislang nicht explizit berücksichtigt wurden, Banken und Versicherer mehr Eigenkapital (Kapitalfestsetzung nach „Säule II“) vorhalten müssen.13 Die Finanzierung der Unternehmen, die nach der Taxonomie als nicht nachhaltig gelten, würde sich absehbar also zumindest verteuern: Bestimmte Tätigkeiten werden vielleicht gar nicht mehr versichert (Anlagen verlieren damit u.U. ihre Betriebserlaubnis)14 und Unternehmensleitungen werden zukünftig für Nichtbeachtung von Nachhaltigkeitsaspekten haftbar gemacht, ohne dass der Staat traditionelle Umweltpolitik, z.B. Grenzwertverschärfungen oder Verbotsnormen, zur Hilfe nehmen muss. 2. Die Taxonomie als Grundlage allen wirtschaftlichen Handelns? Der EU-Gesetzgeber will ein Klassifikationssystem nachhaltiger Tätigkeiten entwickeln (die „Taxonomie“), mit Hilfe dessen festgelegt werden soll, was auf europäischer Ebene unter nachhaltigem Wirtschaftshandeln zu verstehen ist. Damit soll Green Washing in Bezug auf nachhaltige Finanzprodukte verhindert und es Investoren erleichtert werden, nachhaltig zu investieren. Die Taxonomie soll als Grundlage für andere Nachhaltigkeitsprojekte wie beispielsweise den europäischen Green Bond Standard dienen, aber auch der Einbettung der Nachhaltigkeit in das Risikomanagement, in Aufsichtsvorschriften und in Marktanalysen und Ratings. Die Taxonomie soll schließlich auch Bezugspunkt für die künftige Umwelt- und Klimapolitik der EU sein,15 wird also auch Auswirkungen über die Nutzung im Finanzsystem hinaus haben. Daher soll sie hier genauer umrissen werden. Die Taxonomie soll klare Leitlinien über wirtschaftliche Tätigkeiten, die zum Klimaschutz und zur Anpassung an den Klimawandel sowie zu umweltpolitischen und sozialen Zielen beitragen können, mit Evaluierungskriterien, Schwellenwerten, Parametern und detaillierten Informationen über einschlägige Branchen und Tätigkeiten, bereitstellen.16 Aufgrund der Komplexität und technischen Natur eines solchen Klassifikationssystems sieht die EU-Kommission zunächst Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels17 und zur Anpassung an seine Folgen sowie bestimmte umweltbe13 So die Einschätzung der Bundesregierung in ihre Antwort auf die kleine Anfrage der FDP-Fraktion, BT-Drucks. 19/5240, v. 24.10.2018, S. 6. 14 Erste Versicherer haben angekündigt, sich aus dem Geschäft mit „braunen Anlagen“ zurückzuziehen. 15 Vorschlag Taxonomie-Verordnung, aaO (Fn. 6), S. 4. 16 Aktionsplan, aaO (Fn. 3), 2.1, S. 5. 17 Wenn das dringendste Problem der Klimaschutz ist und die sogenannten Kipp-Punkte näher rücken, wenn wir nicht sofort unseren Ausstoß von Treibhausgasen aus fossilen Brennstoffen zügig reduzieren, ist die Priorisierung sicherlich ein sinnvoller Ansatz. Schelln­huber/ Brandes, Banken als Klimaretter, FR v. 10.2.2019, S. 10: „Als Kipp-Element wird ein überregionaler und lebenswichtiger Teil des Klimasystems bezeichnet, der lange Zeit unbeeindruckt vom menschlichen Naturfrevel erscheint, bevor er dann durch eine geringfügige zusätzliche Störung in einen neuen Zustand schwingt oder sogar kollabiert. Und zwar, zumindest nach erdgeschichtlichen Maßstäben, sehr rasch und praktisch unumkehrbar.“

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zogene Tätigkeiten vor. In einem zweiten Schritt soll die Taxonomie dann auf die übrigen umweltbezogenen und sozialen Tätigkeiten ausgeweitet werden, „wobei zu beachten ist, dass ein bestimmter Aspekt der Nachhaltigkeit keine nachteiligen Auswirkungen auf andere damit verbundene Risiken haben darf.“18 Um Investoren darüber hinaus Instrumente für den Vergleich des CO2-Fußabdrucks verschiedener Investitionen an die Hand zu geben, werden mit den genannten Vorschlägen neue Referenzwert-Kategorien eingeführt: Referenzwerte für CO2-arme Investitionen (low carbon benchmarks) und Referenzwerte für Investitionen mit günstiger CO2-Bilanz (positive carbon impact benchmarks).19 Die Taxonomie ist als Grundlage des Umlenkungsmechanismus und damit für die europäische Industrie von größter Bedeutung. Daher ist eine sachgerechte und flexible Ausgestaltung unerlässlich. Ihre Komplexität fällt dabei jedoch als erstes ins Auge. Schließlich wird sie nicht nur projektbezogen verwendet werden, sondern u.U. auch zur Bewertung der Tätigkeit eines gesamten Unternehmens. Die Komplexität könnte dazu führen, dass die Taxonomie nicht handhabbar ist. Wichtig ist auch, dass die Nachhaltigkeitskriterien industrielle Wertschöpfungsketten berücksichtigen. Selbst wenn einzelne Aktivitäten bestimmte Nachhaltigkeitskriterien nicht erfüllen, können diese notwendige Voraussetzung für als nachhaltig zu klassifizierende Wirtschaftstätigkeiten sein. So ist beispielsweise die Herstellung von Grundstoffen wie Metallen oder Chemikalien oft sehr energie- und CO2-intensiv, aber unerlässlich für das nachhaltige Endprodukt, z.B. Windkraftanlagen. Wird dies nicht berücksichtigt, könnte die Taxonomie umweltfreundlichen Innovationen sogar im Wege stehen. Es besteht die Gefahr, dass eine zu starre Klassifizierung zu einer Einschränkung der Angebots- und Informationsvielfalt der Finanzmärkte führt. Eine zu enge und schlecht austarierte Taxonomie birgt die Gefahr einer systematischen Fehlervervielfältigung und von Fehlallokationen.20 Es ist unvermeidbar, dass der eine oder andere positiv nachhaltige Umweltaspekt auf Kosten eines anderen Aspekts geht. Daher fragt sich, wie die Adressaten des Aktionsplans der Anforderung gerecht werden sollen, dass man nur nachhaltig wirtschaftet, wenn man ein Umweltziel substantiell fördert und keines der anderen Umweltziele (später kommen noch soziale Ziele hinzu) sig­ nifikant verletzt. Es ist ein verständliches politisches Anliegen, alle Aspekte des Gemeinwohls gleich zu gewichten, um sich nicht den Vorwurf machen zu lassen, der europäische Gesetzgeber würde es fördern, soziale und Umweltfaktoren gegeneinander auszuspielen. Es wäre jedoch ein großer Fehler, wenn der Eindruck vermittelt würde, Zielkonflikte existierten nicht oder könnten einfach aufgelöst werden. Es ist nicht sachgerecht, die Wirtschaftsakteure mit den Dilemmata alleine zu lassen, der sich jede Umweltpolitik gegenübersieht und die Gegenstand politischer Abwägungsprozesse sein sollten.

18 Aktionsplan, aaO (Fn. 3), 2.1, S. 5. 19 Vorschlag für eine Verordnung zur Änderung der Verordnung (EU) 2016/1011 in Bezug auf Referenzwerte für CO2-arme Investitionen und Referenzwerte für Investitionen mit günstiger CO2-Bilanz COM(2018) 355 v. 24.5.2018. 20 Vgl. auch Antrag der FDP-Fraktion, BT-Drucks. 19/7478, v. 31.1.2019.

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Zudem wird die Taxonomie nicht frei von politischen Zielen, Erwägungen und Einflussnahmen sein und bietet politischen Sprengstoff. Daher fragt sich, ob es sachgerecht ist, genaue Details erst in sogenannten Komitologie-Ausschüssen und Expertengruppen zu erarbeiten, die u.U. außerhalb einer demokratischen Legitimation „Tatsachen schaffen“. Interessant dürfte z.B. die Einordnung der Kernenergie werden. Darüber dürften etwa die Meinungen in Frankreich und Deutschland auseinandergehen.21 3. Auswirkungen auf Vorstand und Aufsichtsrat In Maßnahme 10 des Aktionsplans – Förderung einer nachhaltigen Unternehmensführung und Abbau von kurzfristigem Denken auf den Kapitalmärkten – manifestiert sich das Bestreben der EU-Kommission zu mehr Nachhaltigkeit in den Unternehmen auch im Gesellschaftsrecht. Hier stellt sich das Problem der Handhabbarkeit der Taxonomie besonders dringlich und gibt der später behandelten Frage einer künftigen behördlichen Überwachung der Einhaltung der Maßnahmen aus dem Aktionsplan und den abgeleiteten Rechtsakten eine besondere Brisanz. Maßnahme 10 soll der Förderung einer nachhaltigen Unternehmensführung und dem Abbau von kurzfristigem Denken auf den Kapitalmärkten dienen. Die EU-Kommission will prüfen und bewerten, ob 1. die Leitungsgremien der Unternehmen möglicherweise verpflichtet werden müssen, eine Nachhaltigkeitsstrategie‚ einschließlich angemessener Sorgfaltspflichten in der gesamten Lieferkette, sowie messbare Nachhaltigkeitsziele auszuarbeiten und zu veröffentlichen; und 2. ob die Vorschriften, nach denen die Direktoren im langfristigen Interesse des Unternehmens vorgehen sollten, präzisiert werden müssen.22 Hintergrund von Maßnahme 10 ist die Bekämpfung des kurzfristigen Denkens auf den Kapitalmärkten. Investoren sollen nicht mehr Druck auf die Unternehmensleitungen ausüben, kurzfristig eine hohe Rendite zu erzielen.23 21 Am 28.3.2019 hat das EU-Parlament beschlossen, dass feste fossile Brennstoffe (Kohle), Atomkraft und Gasinfrastruktur nie als nachhaltig bezeichnet werden dürfen, European Parliament legislative resolution of 28 March 2019 on the proposal for a regulation of the European Parliament and of the Council on the establishment of a framework to facilitate sustainable investment, 2018/0178(COD). Das Verfahren und die politische Diskussion sind aber noch im Fluss. 22 Aktionsplan, aaO (Fn. 3), 4.2, S. 14. 23 Neben der Idee des Unternehmensinteresses stellt dies auch die Theorien der guten Unternehmensführung in Frage, vielleicht mehr, als es der EU-Kommission bewusst ist. Auf der Hand liegt nicht nur, dass neu austariert werden muss, wer Hüter der langfristigen und nachhaltigen Entwicklung des Unternehmensinteresses ist: Vorstand und Aufsichtsrat auf der einen oder die Aktionäre auf der anderen Seite. Schließlich plant die Kommission nur die institutionellen Anleger zu mehr Nachhaltigkeit zu drängen, nicht die Privatanleger. Weniger offensichtlich ist, dass doch auch das Übernahmerecht einen möglichen Anreiz bietet, auch kurzfristig gute Ergebnisse vorzulegen, um feindliche Übernahmen unattraktiv zu machen. Auch über den Mechanismus der Übernahmeregeln müsste die EU-Kommission im Grunde nachdenken, wenn sie kurzfristiges Denken in der Unternehmensleitung verhindern bzw. vom Druck von außen entlasten will, was hier nicht weiter bewertet werden soll.

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Hier soll insbesondere die Pflicht zur Ausarbeitung einer Nachhaltigkeitsstrategie interessieren, da sie die Frage des Unternehmensinteresses berührt.24 Deutschland hat keinen Shareholder-Ansatz, der die Unternehmensleitung verpflichtet, sich nur nach den „kurzfristigen“ Interessen der Eigenkapital-Investoren auszurichten. Es fragt sich also, was Maßnahme 10 im Zusammenhang mit dem Unternehmensinteresse bedeuten könnte und ob der deutsche gemäßigte Stakeholder-Ansatz25 den Anforderungen aus Maßnahme 10 gerecht wird. Fleischer hat rechtsvergleichend festgestellt, dass allen Regelungsunterschieden zum Trotz die Einführung gesetzlicher Unternehmenszielbestimmungen in keiner der untersuchten Rechtsordnungen zu großen Veränderungen geführt und kaum Gerichtsentscheidungen hervorgebracht hat.26 Konsens war hierzulande bisher, dass die Organe sich am Gesellschaftsinteresse zu orientieren haben, wobei dieses aus dem – abgesehen von einer abweichenden Regelung in der Satzung – auf Gewinnerzielung gerichteten Gesellschaftszweck abzu­ leiten ist.27 Dabei liegt der Mitbestimmung ein eher prozedurales Verständnis des Unternehmensinteresses zugrunde, bei dem Belange der Arbeitnehmer in die Beschlussfassung des Aufsichtsrats eingebracht werden können. Eine Kontrolle einzelner Maßnahmen auf ihre Vereinbarkeit mit Arbeitnehmerinteressen ist im Mitbestimmungsgesetz nicht angelegt.28 Bislang galt auch, dass eine allgemeine Gemeinwohlorientierung kein taugliches Ziel des Organhandelns ist.29 Der Schutz einer konkreten Tierart ist z.B. dem öffentlichen oder Gemeinwohlinteresse zuzurechnen. Bei einer Entscheidung, eine unternehmerische Maßnahme zu unterlassen, die dem Schutz einer Tierart zu Gute kommt, ist die Tierart nicht Stakeholder und Gegenstand des Unternehmensinteresses. Die Entscheidung dient nur mittelbar, eventuell vermittelt über die Gefahr von Reputationsrisiken, dem Tierschutz.30

24 Zum Zeitpunkt der Erstellung des Beitrags gab es hierzu keine weiteren Informationen, Untersuchungen der ESMA oder Rechtssetzungsvorschläge. 25 Fleischer, Gesetzliche Unternehmenszielbestimmungen im Aktienrecht – Eine vergleichende Bestandsaufnahme, ZGR 2017, 411, 416. 26 Fleischer, aaO (Fn. 25), 423. 27 Habersack/Schürnbrand, Modernisierung des Aktiengesetzes von 1965, in Bayer/Habersack (Hrsg.), Aktienrecht im Wandel, Band I, 2007, S. 939 Rz. 73 m.w.N. 28 Habersack/Schürnbrand, aaO (Fn. 27), S. 939 Rz. 74 m.w.N. Vgl. auch BGHZ 169, 98 „Diese [Aufsichtsratsmitglieder] sind allein dem Unternehmensinteresse verpflichtet (…). Dies gilt für gewählte wie für entsandte Mitglieder, für Anteilseignervertreter und für Arbeitnehmervertreter gleichermaßen.“ 29 Auch die Bundesregierung konstatierte in ihrer Stellungnahme im Rahmen eines Konsultationsverfahrens der EU-Kommission zu dem Grünbuch Europäischer Corporate Governance-Rahmen, BT-Drucks. 17/6506, v. 6.7.2011 (noch): „eine gesetzliche Verpflichtung zur sozialen Verantwortung (Corporate Social Responsibility) widerspricht dem Grundgedanken des freiverantwortlichen gesellschaftlichen Engagements“ und lehnte dies ab. 30 Scholderer, Institutionalisierte Verantwortung und Gemeinwohl – Corporate Governance, Organhaftung und Organuntreue im Aufsichtsrat, in Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Gemeinwohl im Wirtschaftsstrafrecht, 2013, S. 180.

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Die Taxonomie dagegen verlangt, dass ein bestimmter Aspekt der Nachhaltigkeit keine nachteiligen Auswirkungen auf andere damit verbundene Risiken haben darf. Übertragen auf die avisierte unternehmerische Nachhaltigkeitsstrategie könnte das bedeuten, dass künftig alle Nachhaltigkeitsaspekte, die das Unternehmen strategisch betreffen, berücksichtigt und zum Ausgleich gebracht werden müssen. Bisher war der These,31 dass die CSR-Richtlinie den Vorstand künftig nicht verpflichtet, die ihm vorgegebenen nichtfinanziellen Unternehmensziele im Rahmen seines unternehmerischen Ermessens mit dem Gewinnziel der Gesellschaft abwägend zum Ausgleich zu bringen, zuzustimmen. Das könnte sich mit den weiteren gesetzgeberischen Maßnahmen nun ändern. Das Unternehmensinteresse muss als letztlich haftungsbewehrte Handlungsorientierung für Vorstand und Aufsichtsrat handhabbar sein. Die Verpflichtung des Vorstands auf eine Nachhaltigkeitsstrategie könnte jedoch dazu führen, dass die „Unmöglichkeit“, der sich auch eine ideale bzw. effiziente staatliche Umweltpolitik ausgesetzt sieht, in die Unternehmen getragen wird: die der nie erreichbaren Informationsvoraussetzungen, v.a. der Interdependenzen.32 Informationen sind jedoch haftungsrelevant, weil Entscheidungen auf Grundlage angemessener Information getroffen werden müssen. Es wird sich zeigen, ob die Anforderungen aus der Taxonomie in Verbindung mit der Verpflichtung zu einer Nachhaltigkeitsstrategie und -zielen handhabbar sind und sich die Konzeption des Unternehmensinteresses wird ändern müssen. Die Überlegungen zeigen jedoch, dass die Taxonomie hier im Bereich konkreter unternehmerischer, wenn auch strategischer Entscheidungen zur Anwendung kommen könnte. Welche weiteren Konsequenzen kann der Aktionsplan haben? Kurz angerissen werden soll die Rückkehr in ein Konzessionssystem. Auch die Gefahr, dass es zu einer behördlichen Kontrolle durch ein „Aktienamt“ kommt, wird untersucht.

III. Rückkehr ins Konzessionssystem? Die „social licence to operate“ soll eine Akzeptanz der Unternehmen in der Gesellschaft verbildlichen und v.a. den möglichen Verlust der Akzeptanz, jenseits einer formellen Betriebserlaubnis durch den Staat. Durch den Aktionsplan könnte dieser Begriff jedoch eine ganz neue Bedeutung erlangen, da die Akzeptanzbedingungen der Gesellschaft, nämlich die Berücksichtigung von Umwelt- und Sozialfaktoren, nun in ein formelles Verfahren überführt werden. Nicht der Staat achtet dabei auf die Standards und macht sie zum Gegenstand einer Genehmigung, sondern die Finanzmarktakteure einschließlich der Privatanleger. Dies könnte fast eine Rückkehr in ein Konzessionssystem bedeuten, in Form eines vom Staat regulierten privaten Konzessionssystems. Vor der Aktienrechtsnovelle von 1870 konnten juristische Personen nur 31 Fleischer, aaO (Fn. 25), 413. Anders aber Hommelhoff, Nichtfinanzielle Ziele in Unternehmen von öffentlichem Interesse: die Revolution übers Bilanzrecht, in FS Kübler, 2015, S. 291f. 32 Vgl. Streissler, aaO (Fn. 12), S. 88. 

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durch staatliche Genehmigung errichtet werden.33 Beispielsweise lauteten in Preußen 1845 die Genehmigungsvoraussetzungen: „1. Der Antrag auf Genehmigung der Errichtung einer Aktiengesellschaft ist überhaupt nur dann zur Berücksichtigung geeignet, wenn der Zweck des Unternehmens 1) an sich aus allgemeinen Gesichtspunkten nützlich und der Beförderung werth erscheint, und zugleich 2) wegen der Höhe des erforderlichen Kapitals, oder nach der Natur des Unternehmens selbst das Zusammenwirken einer größeren Anzahl von Theilnehmern bedingt, oder doch auf diesem Wege eher und sicherer als durch Unternehmungen Einzelner zu erreichen ist.“34 Teil des Konzessionssystems waren neben dem Genehmigungserfordernis Entsenderechte von Aufsichtsbeamten in die Gesellschaften, Einsichts- Auskunfts- oder gar Vetorechte gegen Organbeschlüsse und die dauerhafte oder anlassbezogene Überwachung der  – heutzutage würde man sagen  – „Compliance“ mit gesetzlichen oder gesellschaftsvertraglichen Vorgaben durch Kommissare.35 Grund für das Konzessionssystem waren vor allem der Schutz der Gläubiger und des Publikums vor „Schwindel und Unsolidität“.36 Der Wandel weg von diesem System war der Erkenntnis der Grenzen eines staatlichen Genehmigungsverfahrens geschuldet – entweder gründlich und zu langsam oder schnell und bloße Farce.37 Für Genehmigung und Überwachung auch der nachhaltigkeitsrelevanten Aspekte ist künftig aber nicht unmittelbar der Staat zuständig, sondern die privaten Akteure des Finanz- und Kapitalmarkts, die durch ihre über die Taxonomie staatlich gelenkten Anlage- oder Finanzierungsentscheidungen über Wohl und Wehe von Unternehmen entscheiden. Wie soll beispielsweise der Prozess einer Kreditvergabe bei Neugründung von Unternehmen ablaufen, wenn die Eigenkapitalunterlegung zusätzlich Nachhaltigkeitsgesichtspunkte berücksichtigen muss, die ja verschiedene gesellschaftspolitische Ziele zum Ausgleich bringen sollen. Dabei wird auch eine Rolle spielen, dass ein börsennotiertes Kreditinstitut über sein Nachhaltigkeitsengagement Rechenschaft ablegen muss. Die neuen Vorgaben dürften die Prozesse nicht beschleunigen, denkt 33 Die Landesgesetzgeber konnten hierauf verzichten, was Lübeck, Oldenburg, Bremen, Hamburg, Baden-Württemberg und Sachsen, nutzten, Lieder, Die 1. Aktienrechtsnovelle vom 11. Juni 1870, in Bayer/Habersack (Hrsg.), Aktienrecht im Wandel, Band I, 2007, S. 322 Rz. 3 ff. 34 „Instruktion, die Grundsätze in Ansehung der Konzessionirung von Aktiengesellschaften betreffend“ v. 22.4.1845, PreußMinBl, S. 120 f., zit. bei Fleckner, Aktienrechtliche Gesetzgebung (1807-2007), in Bayer/Habersack (Hrsg.), Aktienrecht im Wandel, Band I, 2007, S.  1022 Rz.  51, der auf die fast wortgleichen Ausführungen bei Adam Smith hinweist: „First, it ought to appear with the clearest evidence, that the undertaking is o f greater and more general utility than the greater part of common trades; and secondly, that it requires a greater capital than can easily be collected into a private copartnery“, Smith, An Inquiry into the nature and causes of wealth of nations, Band III, London 1784, S. 147 f. 35 Nicht dazu gehörte jedoch das Recht der Kommissare, ein Vorgehen einzufordern, durchzusetzen oder unternehmerische Fehlentscheidungen zu korrigieren, sondern nur das Recht, außerordentliche Generalversammlungen einzuberufen, Lieder, aaO (Fn. 33), S. 327 Rz. 11.  36 Lieder, aaO (Fn. 33), S. 323 Rz. 5 ff. 37 Lieder, aaO (Fn. 33), S. 323 Rz. 5 m.w.N.: in Preußen dauerten die Verfahren mindestens ein Jahr.

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man an die Informationsbeschaffung durch das Start Up auf der einen und an die Auswertung durch die Bank auf der anderen Seite. Das eine oder andere Geschäftsmodell dürfte ganz durchfallen, wenn es wie 1845 letztlich nicht „aus allgemeinen Gesichtspunkten nützlich und der Beförderung werth erscheint“ – diesmal aber unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten. Es fragt sich, ob dann noch das „freie Spiel der Kräfte“ dafür sorgen wird, dass das Publikum sich nicht an „schlechten Unternehmen“ beteiligen und diese bei schlechten Marktbedingungen früher oder später vom Markt gedrängt und ihre Tätigkeit einstellen werden. Ist es dann nicht ein „gelenktes Spiel der Kräfte“? Auch Wachstumsfinanzierung wird künftig stärker der Kontrolle anhand der staatlich vorgegebenen Taxonomie unterliegen, denn alle Finanzmarktakteure werden auf diese verpflichtet. Das Risiko von Fehlallokationen und Schwächung der Innovationskraft der europäischen Industrie im Transformationsprozess bei einer zu eng und unflexibel ausgestalteten Taxonomie liegt auf der Hand.

IV. Behördliche Überwachung durch ein „Nachhaltigkeitsamt“? Die heutigen checks and balances im Gesellschaftsrecht mit dem Aufsichtsrat als Ersatz für Konzession und Staatsaufsicht,38 der Rechte der Aktionäre einschließlich der Anfechtungsklage, aber auch der Rolle des Abschlussprüfers39 sind keine Selbstverständlichkeit. Sie wurden seit der Aktienrechtsnovelle von 1870 mit vielen weiteren Reformen austariert. Der Gedanke der „Selbstbeaufsichtigung“ der Aktiengesellschaft wurde seit der Aufgabe des Konzessionssystems aber nie wieder wirklich verlassen.40 Für die Frage, wer für die Überwachung der Aktiengesellschaft zuständig ist, kamen im Laufe der Zeit dennoch auch immer wieder Behörden ins Spiel. Dies war v.a. der Fall, wenn es um die Schwächen privatautonomer Rechtsdurchsetzung in Aktiengesellschaften ging.41 Die Passivität der Aktionäre und ihr „kurzfristiges Denken“ 38 Fleischer, Kompetenzen der Hauptversammlung – eine rechtsgeschichtliche, rechtsdogmatische und rechtsvergleichende Bestandsaufnahme, in Bayer/Habersack (Hrsg.), Aktienrecht im Wandel, Band II, 2007, S. 434 Rz. 6; Hofer, Das Aktiengesetz von 1884 – ein Lehrstück für prinzipielle Schutzkonzeptionen, in Bayer/Habersack (Hrsg.), Aktienrecht im Wandel, Band I, 2007, S. 388 Rz. 27 und Fn. 135 Rz. 33. Die Ansätze für das grundlegende System der „checks and balances“ in der Aktiengesellschaft wurden v.a. in der Reform von 1884 gelegt, beschäftigten den Gesetzgeber aber noch weitere 50 Jahre, Hommelhoff, Eigenkontrolle statt Staatskontrolle, in Schubert/Hommelhoff (Hrsg.), Hundert Jahre modernes Aktienrecht, 2012, S. 103 f. 39 Mit der Notverordnung vom 19.9.1931 wurde die Pflichtprüfung durch einen von der Hauptversammlung gewählten Bilanzprüfer eingeführt, um offensichtliche Missstände in der Geschäftsführung aufzudecken, Engelke/Maltschew, Weltwirtschaftskrise, Aktienskandale und Reaktionen des Gesetzgebers durch Notverordnungen im Jahre 1931, in Bayer/ Habersack (Hrsg.), Aktienrecht im Wandel, Band I, 2007, S. 591 Rz. 53. Erstmals seit Einführung des Normativsystems wurden damit wesentliche Kontrollaufgaben auf außerhalb des gesellschaftsrechtlichen Verbandes stehende Personen übertragen, Richter, Die Sicherung der aktienrechtlichen Publizität durch ein Aktienamt, 1975, S. 250. 40 Hofer, aaO (Fn. 38), S. 408 Rz. 33. 41 Jahn, Brüssel knöpft sich die Corporate Governance vor, AG 2011, 454, 458.

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sind kein Phänomen, das erst seit der Finanzkrise beklagt wird, sondern wurde in den letzten hundert Jahren immer wieder konstatiert.42 Schon 1873 erfolgten Vorschläge zu Errichtung staatlicher Kontrollämter zur Überprüfung der Einhaltung bilanzieller und Publizitätsvorschriften.43 Forderungen nach Ausdehnung der kurz zuvor eingeführten staatlichen Versicherungsaufsicht auf alle Aktiengesellschaften wurden um die Jahrhundertwende erhoben. Auf dem 31. Deutschen Juristentag 1912 wurde die Einführung einer „leitenden Zentralbehörde“ erwogen, die u.a. das Recht erhalten sollte, Verordnungen zur Bilanzierung und zum Umfang der Tätigkeit des Aufsichtsrats zu erlassen. Staatsaufsicht und Konzessionssystem seien nicht identisch, es könne zweckmäßig sein, in Einzelfällen vom Normativsystem abzuweichen. In der Zeit nach dem 1. Weltkrieg sahen sich traditionelle liberalistische Ansichten mit neuen gemeinwirtschaftlichen Ideen konfrontiert. Eine stärkere staatliche Aufsicht wurde häufig gefordert. Die Zeit um die Aktiengesetzentwürfe von 1930/31 war geprägt in einer Angst vor Überfremdung, da die Inflation der zwanziger Jahre ausländischen Aktienerwerb erleichterte. Nur deutsche Staatsangehörige sollten als Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder zuzulassen sein. Ein „Aufsichtsamt für das Aktienwesen“ sollte eine Umgehung dieser Bestimmung verhindern. 1926 forderte die Frankfurter Zeitung in einer vielbeachteten Artikelserie ein „Reichsaktienamt“ mit folgenden drei Hauptaufgaben: Ausübung des Stimmrechts von Verwaltungsaktien, Kontrolle der Publizität mit dem Recht, Bilanzierungsrichtlinien und Bilanzschemata und Ahndung von Pflichtverletzungen der Verwaltungsmitglieder vorzunehmen. Entsprechende Fragestellungen wurden zumindest in die Fragebögen des Reichsjustizministeriums zur Vorbereitung einer Aktienrechtsreform aufgenommen.44

42 Z.B. bei den Reformüberlegungen von 1884 mit der Einschätzung, dass für die Gründerkrise auch das mangelnde Engagement der Aktionäre verantwortlich gewesen sei, Hofer, aaO (Fn. 38), S. 409 Rz. 35; Hommelhoff, aaO (Fn. 38), S. 56, auch insbesondere Fn. 11 m.w.N.: „Diese Einschätzung zieht sich wie roter Faden durch die Geschichte des deutschen Ak­ tienrechts, und diente etwa 1965 für die Teilautonomie der Verwaltungsorgane bei der Verwendung des Jahresüberschusses und 1937 als Argument zur Entmachtung der Aktionäre, vgl. auch Fleischer, aaO (Fn. 38), S. 435 Rz. 8. Allerdings entschied zu diesem Zeitpunkt die Generalversammlung ohnehin nicht mehr über die Geschicke der Gesellschaft, so Bayer/ Engelke, Die Revision des Aktienrechts durch das Aktiengesetz von 1937, in Bayer/Habersack (Hrsg.), Aktienrecht im Wandel, Band I, 2007, S. 652 Rz. 79 m.w.N. Die in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre aufkommende Lehre vom Unternehmen an sich dagegen zog aus der gleichen Beobachtung etwa durch von Rathenau, Vom Aktienwesen, (1917), GS 5, S. 121, 154 ff., zusammenfassend, Laux, Die Lehre vom Unternehmen an sich, 1998, S. 64, andere Schlüsse. Diese Lehre machte die Aktiengesellschaft als solche zum Gegenstand des Schutzes und normierte somit einen rechtsschutzbedürftigen, wirtschaftlichen Selbstzweck der Gesellschaft, Richter, aaO (Fn. 39), S. 9, der dies aber für ein „Unding“ hält und Mestmäcker, Verwaltung, Konzerngewalt und Rechte der Aktionäre, 1958, S. 16 zitiert: „Eine Ideologie, ein Versuch, die Machtansprüche der herrschenden Verwaltung zu legitimieren.“ 43 Lieder, aaO (Fn. 33), S. 381 Rz. 117 m.w.N. 44 Richter, aaO (Fn. 39), S. 247 ff. m.w.N.

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Mit der Einführung der Sozialen Marktwirtschaft nach dem 2. Weltkrieg bestand ein Leitbild, das allgemeine Zustimmung fand. Man war weitgehend der Ansicht, dass staatliche Einflussnahmen mit dem freien Spiel der Kräfte nicht vereinbar seien.45 Zwar gab es in der Diskussion vor Verabschiedung des Aktiengesetzes von 1965 Überlegungen, dass, wenn man die Kontrolle durch die Organe der Aktiengesellschaft als gescheitert ansehe, als unausweichliche Alternative nur die öffentliche Kontrolle sehen könne,46 aber die Neigung zu einem Aktienamt war gering.47 Konstatiert wurde in diesem Zusammenhang, dass es im Gegensatz zur fachlichen Staatsaufsicht wie der Banken- und Versicherungsaufsicht sowie dem Kartellamt nicht um eine Staatskon­ trolle im Interesse der Staatsbürger, die den Unternehmen als Kunden gegenüberstünden, gehe, sondern es sich eigentlich um eine Aufsicht im Interesse der Eigen­ tümer handeln würde, was ein bedenkliches Novum sei.48 Der Aktiengesetzgeber von 1965 ging dann den bekannten Weg der Verstärkung der Mitverwaltungs- und Kon­ trollrechte der Aktionäre und einer verbesserten Publizität.49 Neben gesetzlich zwingenden Regelungen setzt auch die europäische Gesetzgebung grundsätzlich seit Längerem auf eine Verhaltenssteuerung durch Kapitalmarktpublizität.50 Dabei wird der Ton aber langsam rauer, wenn teilweise von „Erziehung“ der Unternehmen durch öffentliche oder private Stellen gesprochen wird.51 Unter der Überschrift „Bessere Überwachung der Corporate Governance“ erwog die EU-Kommission in ihrem Grünbuch Europäischer Corporate Governance-Rahmen von 2011 die inhaltliche Kontrolle von Corporate Governance-Erklärungen der Unternehmen durch Aufsichtsbehörden: „Der Grundsatz Mittragen oder Begründen (‘comply or explain’) könnte wesentlich besser funktionieren, wenn es den Überwachungsbehörden, wie den Wertpapieraufsichtsbehörden, den Börsen oder anderen Behörden gestattet wäre, nachzuprüfen, ob die verfügbaren Informationen (vor allem aber die Erläuterungen) ausreichend informativ und verständlich sind. Die Behörden sollten jedoch den Inhalt der veröffentlichten Informationen nicht beeinflussen oder ein Urteil zu der vom Unternehmen gewählten Lösung abgeben. Dennoch könnten die Behörden die Kontrollergebnisse veröffentlichen, um bewährte Praktiken zu fördern 45 Richter, aaO (Fn. 39), S. 250. 46 C.E. Fischer, Die Reform des Aktiengesetzes. Grundsätzliche Gesichtspunkte und einige Vorschläge für die Neufassung, AcP 154 (1955), 181, 209.  47 Richter, aaO (Fn. 39), S. 251, der ablehnend z.B. die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz zitiert. 48 C.E. Fischer, aaO (Fn. 46), 209: Die Vorteile seien die Entsendung von „Kommissaren“ in die Aufsichtsräte, um der „Denaturierung“ des Aufsichtsrats entgegenzuwirken, der Nachweis des Erfordernisses von Mehrstimmrechtsvorzugsaktien wegen „Überfremdungsgefahr“ gegenüber dem Amt; amtliche Überwachung der Ausübung des Depotstimmrechts und Sicherstellung der Unabhängigkeit der Abschlussprüfung durch staatliche Aufsicht. 49 Richter, aaO (Fn. 39), S. 251. 50 Leyens/F. Schmidt, Corporate Governance durch Aktien-, Bankaufsichts- und Versicherungsaufsichtsrecht, AG 2013, 533, 534. 51 „Die Unternehmen lernen dazu und bringen bessere Erläuterungen bei, was der ‚Erziehung‘ durch öffentliche oder private Stellen zu verdanken ist (Finanzmarktaufsichtsbehörden, Börsen, Handelskammern usw.)“, Grünbuch Europäischer Corporate Governance-­ Rahmen, KOM(2011) 164 endgültig, vom 5.4.2011, S. 14.

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und Unternehmen zu einer besseren Transparenz anzuhalten. Auch könnten formelle Sanktionen für die schwersten Fälle der Nichteinhaltung ins Auge gefasst werden.“52 Dies wurde jedoch nicht weiterverfolgt. Die Einführung einer behördlichen Kontrolle der Aktiengesellschaft scheiterte immer auch daran, dass man den Anschein der staatlichen Fürsorge vermeiden wollte. Beispielsweise ergibt eine Analyse53 der Verhandlungsprotokolle des Reichstags des Norddeutschen Bundes, dass man befürchtete, das staatliche Genehmigungserfordernis vermittele eine trügerische Sicherheit, die zu weniger Vorsicht und Selbstverantwortlichkeit bei der eigenen Prüfung der Unternehmung in der Bevölkerung führe. Auch die mitlaufenden staatlichen Aufsichtsrechte wiegten Publikum wie Gläubiger in falscher Sicherheit.54 Gerade diese Erkenntnis prägt die Gesetzgebungsprozesse bis heute immer wieder – wie auch die behördliche Praxis.55 Mit der Aufgabe des Konzessionssystems in Folge des Übergangs von der merkantilistisch-absolutistischen Wirtschaftspolitik auf wirtschaftsliberale Vorstellungen wurde zudem die Frage aufgeworfen, warum der Staat berufen sei, „sich als Berater der Staatsangehörigen bei ihren Privatangelegenheiten aufzuwerfen.“56 Dagegen wurde jedoch immer wieder ein öffentliches Interesse ins Feld geführt. Beispielsweise war nach dem ersten Reformentwurf von 1897 vorgesehen, dass der Staatsanwalt des Gerichtsbezirks der Gesellschaft eine Anfechtung oder die Nichtigkeit geltend machen können sollte, wenn durch Beschlüsse der Generalversammlung eine im öffentlichen Interesse liegende gesetzliche Vorschrift verletzt wurde. Dies wurde damit begründet, dass die Prüfung des Registergerichts nicht unbedingt ausreiche und man es ansonsten ins Belieben von Vorstand und Aktionären stelle, ob ein eine gesetzliche Vorschrift verletzender Beschluss Bestand habe. Gegen den dagegen erhobenen Vorwurf einer Art Staatsaufsicht, auf die sich dann wiederum die Aktionäre verlassen würden, wurde eingewandt, der Staatsanwalt habe kein Aufsichtsrecht, sondern sei „Civilkläger“, der in verständiger Weise von seinen Rechten Gebrauch mache.57 Die wiederkehrenden Forderungen nach einem Aktienamt hatten auch darin ihre Ursache, dass der Zweck von Aktiengesellschaften mit ihrem gesamtwirtschaftlichen Nutzen als Kapitalsammelstelle für Großprojekte zwar für einen wirtschaftlichen Auf-

52 Grünbuch, aaO (Fn. 51), S. 23. 53 S. bei Lieder, aaO (Fn. 33), S. 324 Rz. 6 m.w.N. 54 Lieder, aaO (Fn.  33), S.  328 Rz.  12 m.w.N. Zu Überlegungen bei der Reform von 1884, Hommelhoff, aaO (Fn. 38), S. 68. 55 Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) gestattet keine Werbung, die beim Verbraucher falsche Vorstellungen über Art und Umfang der Aufsicht hervorrufen. Sie akzeptiert es nicht, wenn Unternehmen mit blickfangartigen Herausstellungen, etwa einer optischen Aufmachung als Gütesiegel oder einer reißerischen Wortwahl werben, vgl. z.B. https://www.bafin.de/SharedDocs/Veroeffentlichungen/DE/Auslegungsentscheidung/ WA/ae_050914_werbung.html. 56 Hofer zitiert hier exemplarisch Löwenfeld, Das Recht der Actien-Gesellschaften. Kritik und Reformvorschläge, 1879, S. 21 ff., Hofer, aaO (Fn. 38), S. 397 Rz. 14 und 15. 57 Pahlow, Das Aktienrecht im Handelsgesetzbuch von 1897, in Bayer/Habersack (Hrsg.), Aktienrecht im Wandel, Band I, S. 431 Rz. 29 ff. m.w.N.

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schwung gesorgt hatte,58 dies das Misstrauen gegenüber deren wirtschaftlichen Macht jedoch nie ganz beseitigt hatte.59 Immer wieder wurde der Nutzen der Aktiengesellschaft im öffentlichen Interesse diskutiert.60 Dies sind Überlegungen, die heutzutage international unter den Stichworten „purpose of the company“, „intérêt social“ oder „raison d’être“ und „social licence to operate“ angestellt werden. Nun stellt sich die Frage, wie nahe die Durchsetzung der Nachhaltigkeitsstrategie der EU-Kommission dem öffentlichen Interesse steht. Die Ausführungen im Aktionsplan deuten darauf hin, dass es ein Anliegen von besonderer Art ist, das die Argumente gegen eine behördliche Überwachung der Unternehmen beseitigen könnte. 1. Regulierte Industrien und der Aktionsplan Wenn die Taxonomie auch zur Bankenregulierung dient, also in die Vorschriften zur Eigenkapitalunterlegung einwirkt, liegt es auf der Hand, dass die von den Banken getroffenen Entscheidungen auch der Aufsicht unterliegen. Dann wird aber auch das staatliche Bedürfnis nach Überprüfung der Informationskette, von der Generierung bis zur Auswertung, entstehen. Interessant wird es dabei nämlich sein, wenn die verschiedenen Nutzer derselben Taxonomie zu einer unterschiedlichen Bewertung des gleichen Unternehmens kommen: Die Ratingagenturen für die Bewertung von Anleihen, die Investoren bei der Anlageentscheidung und die Banken bei der Kreditvergabe. Wird hier eine Zentralstelle, ein „Nachhaltigkeitsamt“, Widersprüche überwachen, Marktteilnehmer „abmahnen“ und eine öffentliche Einschätzung zur richtigen Bewertung der Nachhaltigkeit abgeben? 2. Publizität und der Aktionsplan Aber auch die besondere Bedeutung der Publizität im Rahmen des Aktionsplans könnte eine staatliche Aufsicht hervorrufen. Je mehr der Fokus weg von Fragen der Binnenorganisation von Unternehmen und kapitalmarktlichen Fragen auf das öffent58 Lieder, aaO (Fn. 33), S. 382 Rz. 118 m.w.N. 59 Zum öffentlichen Meinungsbild, das seit jeher eher negativer gegenüber Handel und diesen betreibenden (Groß-) Unternehmen geprägt zu sein scheint als in anderen Ländern, von Luther über Jhering zu Heuschrecken, Fleckner, aaO (Fn. 34), S. 1018 Rz. 44 ff. 60 Z.B. wurde um 1884 im Zusammenhang mit der Diskussion um die Typenwahlfreiheit eine sektorale Abschaffung der Aktiengesellschaft und Zulassung nur für bestimmte Zwecke, namentlich solche, die das allgemeine Wohl fördern, diskutiert, Hommelhoff, aaO (Fn. 38), S. 60 und Schlussfolgerung sowie zahlreiche gesetzgeberische Beispiele bei Thiessen, Appetitus Socialis Berolinensis. Unternehmensrecht in der Berliner Republik, Rg 25, 2017, S. 46, 56, m.w.N.: „Aktiengesellschaften dienen wie zu Zeiten des preußischen Allgemeinen Landrechts einem ‚fortdauernden gemeinnützigen Zwecke‘. (…) Aktiengesellschaften sind nicht nur als wirtschaftliche, sondern auch als politische Größe zu wichtig, als dass der Staat sie allein ökonomischen Effizienzvorstellungen überlassen würde. (…) Aktiengesellschaften sind in diesem Sinne immer noch ein Zugeständnis (eine ›Konzession‹) des Staates an den Markt. Die Aktiengesellschaft ist deshalb mit ihrer »Indienstnahme […] für gesellschaftspolitische Anliegen« nicht schlechthin »[a]uf dem Weg zur staatlich verwalten AG« – sie ist geradezu auf dem Rückweg zur staatlich verwalteten AG.“

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liche Interesse gelenkt wird, desto eher kommen Überlegungen einer staatlichen Aufsicht zur Sicherstellung der öffentlichen Interessen zum Tragen. Richter begründete 1975 seine Forderung nach einem Aktienamt zur Sicherung der Publizität damit, dass die Voraussetzungen für einen wirksamen Selbstschutz weder erfüllt seien noch dass sie ohne staatliche Gewährleistung geschaffen werden könnten.61 Wichtige wirtschaftspolitische Ziele wie volkswirtschaftliche Kapitallenkung, Insolvenzprophylaxe, Vermögensstreuung, Kontrolle wirtschaftlicher Macht und von Konzentrationstendenzen, Vertrauen in die Rechtsform und in die Wirtschaftsordnung seien ohne weitgehende Publizität nicht oder nur unvollkommen zu erreichen. Publizität werde damit notwendig zu einem ordnungspolitischen Faktor ersten Ranges und erhalte ihre Rechtfertigung aus der Wirtschaftsordnung selbst und nicht mehr allein von dem bloß technischen Aspekt, dass nämlich Informationsvermittlung an einen sehr großen Personenkreis nur mit Publizität bewältigt werden kann.62 Das Dilemma der Kontrollfunktion der Publizität liege darin, dass die zu Kontrollierenden die Kon­ trollnormen selbst liefern, sie also in der Weise filtern können, dass ihre persönlichen Ziele (z.B. Gewinn-, Sicherheits- und Prestigeziele) möglichst wenig gefährdet werden. Jede Beeinflussungsmöglichkeit von Publizitätsinhalt und -umfang gefährde beide Kontrollwirkungen der Publizität: das Urteil über die Effizienz der Unternehmensleitung werde erschwert; die prophylaktische Wirkung auf ihr Verhalten nehme ab. Die Gestaltung der Publizität allein dem Ermessen der Unternehmensleitungen zu überlassen, würde deshalb darauf hinzielen, die Kontrollfunktion der Publizität aufzuheben.63 Aus einer solchen Logik heraus erscheint es nicht unwahrscheinlich, dass die EU-Kommission die von ihr beabsichtigte Umlenkung auch durch eine staatliche Kontrolle wird durchsetzen wollen. So hatte Richter bereits kritisiert, dass die Bestimmung des Abschlussprüfers durch die Hauptversammlung auf Vorschlag des Aufsichtsrats und der faktische Einfluss der Verwaltung auf dessen Auswahl nur auf den Schutz der Aktionäre ausgerichtet sei. Die übrigen Interessentengruppen hätten keinerlei Einfluss auf die Auswahl des Abschlussprüfers. Bereits aus diesem Grunde sei die Lösung des Aktiengesetzes prinzipiell ungeeignet, der Pluralität derjenigen Personenkreise Rechnung zu tragen, die an der Publizität interessiert seien.64 In ihrem Grünbuch von 2010 erwog die EU-Kommission in der Tat, dass der Abschlussprüfer durch eine Regulierungsbehörde bestellt werden solle, da die Tatsache, dass Wirtschaftsprüfer den Aktionären des geprüften Unternehmens und anderen Interessengruppen gegenüber verantwortlich sind, obwohl sie von dem geprüften Unternehmen vergütet werden, eine Verzerrung des Systems schaffe.65 Dies wurde nicht weiter ver61 Richter, aaO (Fn. 39), S. 255. 62 Richter, aaO (Fn. 39), S. 26. 63 Richter, aaO (Fn. 39), S. 28. 64 Richter, aaO (Fn. 39), S. 104. 65 Grünbuch Weiteres Vorgehen im Bereich der Abschlussprüfung: Lehren aus der Krise, KOM(2010) 561 endgültig, vom 13.10.2010, S. 13. Kritisch, Noack, Deutsches und europäisches Gesellschaftsrecht – Rückblick 2010 und Ausblick 2011, 7. Januar 2011 unter https:// notizen.duslaw.de/deutsches-und-europaisches-gesellschaftsrecht-%e2%80%93-ruckblick-­ 2010-und-ausblick-2011/.

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folgt. Nun befinden wir uns aber in einem Bereich, in dem die Publizität der Unternehmen im Bereich der Nachhaltigkeit Grundlage des Wirkungsmechanismus des ambitionierten Aktionsplans der EU-Kommission ist, mit dem öffentliche Interessen des „europäischen Gemeinwohls“ verfolgt werden. So sind die nächsten Schritte auch schon angekündigt: Zu einem möglichen „Nachhaltigkeitsamt“ findet sich im Entwurf der Taxonomie-Verordnung folgender Erwägungsgrund 35: „Die Anwendung dieser Verordnung sollte regelmäßig überprüft werden, damit beurteilt werden kann, (…) ob im Hinblick auf die Einhaltung der Pflichten ein Überprüfungsmechanismus eingerichtet werden muss.“66 Schon in Erwägungsgrund 3 zur CSR-Richtlinie war die Überwachung Thema: „Die Angabe nichtfinanzieller Informationen ist nämlich ein wesentliches Element der Bewältigung des Übergangs zu einer nachhaltigen globalen Wirtschaft, indem langfristige Rentabilität mit sozialer Gerechtigkeit und Umweltschutz verbunden wird. In diesem Zusammenhang hilft die Angabe nichtfinanzieller Informationen dabei, das Geschäftsergebnis von Unternehmen und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft zu messen, zu überwachen und zu handhaben.“67 Hayek hat geradezu prophetisch auf die weitere Entwicklung hingewiesen: „Die derzeitige Tendenz, eine solche Verwendung von Mitteln [im Dienste irgendeines öffentlichen Interesses] nicht nur zu gestatten, sondern sogar zu fördern, erscheint mir in ihren kurzfristigen wie auch in ihren langfristigen Folgen gefährlich. Die unmittelbare Wirkung ist eine erhebliche Ausweitung der Befugnisse des Managements von Aktiengesellschaften in kulturellen, politischen und moralischen Fragen (und dafür verleiht die nachweisliche Fähigkeit zur effizienten Verwendung von Mitteln für Produktionszwecke nicht notwendigerweise besondere Kompetenz); gleichzeitig setzt sie eine vage und undefinierbare ‚soziale Verantwortlichkeit‘ an die Stelle einer spezifischen und überprüfbaren Aufgabe. Aber während die kurzfristige Wirkung in der Vergrößerung einer unverantwortlichen Macht besteht, muss die langfristige Wirkung die verstärkte Kontrolle der Aktiengesellschaften durch die Macht des Staates sein. Je mehr wir uns daran gewöhnen, dass Aktiengesellschaften in den Dienst spezifischer ‚öffentlicher Interessen‘ gestellt werden sollten, umso überzeugender wird die Behauptung, dass der Staat – als bestellter Wahrer des öffentlichen Interesses – auch die Macht haben sollte, den Aktiengesellschaften zu sagen, was sie zu tun haben. Deren Macht nach eigenen Vorstellungen Gutes zu tun, kann mit Sicherheit nur von kurzer Dauer sein.“68

66 Vorschlag Taxonomie-Verordnung, aaO (Fn. 6), S. 26. S. auch Seite 6: „Die Kommission sollte auch bewerten, ob es angebracht ist, einen Überprüfungsmechanismus einzurichten, um die Einhaltung der Kriterien zur Bestimmung der ökologischen Nachhaltigkeit einer Wirtschaftstätigkeit festzustellen.“ 67 Richtlinie 2014/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2014 zur Änderung der Richtlinie 2013/34/EU im Hinblick auf die Angabe nichtfinanzieller und die Diversität betreffender Informationen durch bestimmte große Unternehmen und Gruppen Text von Bedeutung für den EWR, ABl. L 330 v. 15.11.2014, S. 1. 68 Hayek, Die Aktiengesellschaft in einer demokratischen Gesellschaft: In wessen Interesse sollte sie geführt werden? In Gesammelte Schriften in deutscher Sprache: Die reine Theorie des Kapitals von Friedrich A. von Hayek, S. 46, 58.

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Es wird vertreten, ein Aktienamt lasse sich mit dem System der freien Marktwirtschaft vereinbaren, wenn es sich streng auf Kontrollaufgaben beschränke und keine Lenkungsfunktion übernehme.69 Eine behördliche Überwachung im Gebiet der Nachhaltigkeit würde wegen des eingangs herausgearbeiteten engen Bezugs zu Geschäftsmodell, strategischer Ausrichtung und wirtschaftlichen Entscheidungsprozessen der Unternehmen jedoch diese Voraussetzung wohl nicht erfüllen. Es fragt sich mit Ulrich Seibert schon allein, ob eine komplette Geschäftsführungskontrolle faktisch durchführbar wäre. „Eine solche Maßnahme wäre aber auch unverhältnismäßig im Vergleich zu anderen Lenkungsmechanismen: Die staatliche Geschäftsführungsüberwachung ist ein ex-ante wirkender Mechanismus, der die Gesamtheit der Rechtsunterworfenen trifft. Der Eingriff ist sehr viel intensiver, als bei einem ex-post ansetzenden Instrument (Haftung, Strafrecht), das nur bei den wenigen eingreift, die das Recht verletzt haben.“70 Einem solchen „Nachhaltigkeitsamt“ wäre jedenfalls entschieden entgegenzutreten.

V. Ergebnis Der Beitrag sollte einen kurzen Überblick über die geplanten Maßnahmen und den Wirkmechanismus des Aktionsplans nachhaltiges Wachstum der EU-Kommission geben und zeigen, wie sehr es auf die Ausgestaltung der Taxonomie ankommt, damit sie nicht zu Unflexibilität und Fehlallokationen führt. Der Wirkmechanismus des Aktionsplans kann zur Verlangsamung des wirtschaftlichen Wachstums durch längere „Konzessions“-Prozeduren führen. Nicht zuletzt droht die behördliche Überwachung der Einhaltung der Regelungen des Aktionsplans. Damit könnte das gute Ziel – die europaweite und möglichst globale Förderung der Nachhaltigkeit wirtschaftlichen Handelns – durch ungeeignete Maßnahmen und institutionelle Ausgestaltung der Taxonomie und deren Nutzung in verschiedenen Regulierungskontexten nicht nur zu überhöhten gesamtwirtschaftlichen Kosten erkauft werden. Es droht sogar, dass planwirtschaftliche statt marktwirtschaftliche Instrumente verstärkt genutzt werden. Dies bedeutet eine Abkehr vom Konzept der Sozialen Marktwirtschaft, die freies wirtschaftliches Handeln innerhalb eines vorgegebenen Rahmens vorsieht und mit einem sozialen Ausgleich verknüpft.

69 Unter Hinweis auf die SEC, Emmerich, Die Kontrolle der Kontrolleure, in Busse/von Colbe/ Lutter (Hrsg.), Wirtschaftsprüfung heute: Entwicklung oder Reform?, 1977, S. 230. 70 Seibert, Gesetzliche Steuerungsinstrumente, aaO (Fn. 2), S. 168. Eher skeptisch auch Noack, Die moderne Präsenzhauptversammlung mit Internetanbindung, in FS Rüdiger von Rosen, 2008, S. 273, 287.

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Die Gesellschafterversammlung in der Krise Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Der Begriff der Krise I II. Einberufungspflichten in der Krise 1. Pflicht zur Einberufung nach §§ 49 Abs. 2 GmbHG, 111 Abs. 3, 121 Abs. 1 3. Fall AktG bei Eintritt der drohenden Zahlungsunfähigkeit a) GmbH b) Aktiengesellschaft 2. Die Pflicht zur Einberufung bei einem Verlust der Hälfte des Grundkapitals nach §§ 49 Abs. 3 GmbHG, 92 Abs. 1 AktG a) GmbH b) Aktiengesellschaft

IV. Die Einberufung der Gesellschafter­ versammlung vor Stellung eines Antrags auf Eröffnung eines Insolvenz- oder Restrukturierungs­verfahrens 1. Einberufung vor Stellung eines Insolvenz­antrags a) Keine Einberufungspflicht vor ­Stellung eines Insolvenzantrags nach Eintritt von Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung b) Einberufungspflicht vor Stellung eines fakultativen Insolvenzantrags (§ 18 InsO) 2. Einberufungspflicht vor Einleitung eines vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahrens V. Ergebnisse

Ulrich Seibert hat das deutsche Gesellschaftsrecht während seiner Zeit als Leiter des Referats II A 2 im Ministerium der Justiz bzw. Ministerium der Justiz und für Verbraucherschutz wie kein Zweiter geprägt. Auch als Ausbilder von Referendaren setzte der Jubilar Maßstäbe. Den Verfasser dieses Beitrags beeindruckte Ulrich Seibert besonders dadurch, dass er in vielem den Vorstellungen eines Referendars von einem Ministerialbeamten keineswegs entsprach. Nicht zuletzt deswegen ist es eine besondere Ehre und Freude, an dieser Festschrift mitwirken zu dürfen.

I. Einleitung Nach wie vor ist umstritten, welche Beteiligungsbefugnisse die Gesellschafter vor und nach der Einleitung eines Insolvenzverfahrens haben. Hier geht es insbesondere um die Frage, wann sich die Krise eines Unternehmens so weit zugespitzt hat, dass den Gesellschaftern durch Einberufung einer Gesellschafterversammlung Gelegenheit gegeben werden muss, über die weiteren Geschicke der Gesellschaft zu entscheiden und – damit zusammenhängend – ob ein Gesellschafterbeschluss für die Einleitung eines Insolvenz- oder (künftig) präventiven Restrukturierungsverfahrens erforderlich ist. 165

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II. Der Begriff der Krise In der Betriebswirtschaftslehre spricht man von einer „Krise“, wenn die (wirtschaftliche) Lebensfähigkeit eines Unternehmens infrage gestellt ist. Dabei werden etwa im Sanierungsstandard IDW S6 verschiedene Krisenstadien unterschieden, die von der „Stake Holder Krise“ bis zur „Liquiditätskrise“ reichen.1 Nähert man sich dem betriebswirtschaftlichen Phänomen „Krise“ juristisch, so lassen sich eine Reihe von Tatbeständen identifizieren, deren Vorliegen eine mehr oder weniger große Gefahr für den mittelfristigen Bestand des Unternehmens signalisiert. Diese Tatbestände knüpfen allerdings an ganz unterschiedliche Aspekte an. So stellte der Begriff der „rechtlichen Unternehmenskrise“, der im alten Eigenkapital­ ersatzrecht eine Rolle spielte, auf die Kreditwürdigkeit eines Unternehmens ab.2 Den §§ 92 Abs. 1 AktG, 49 Abs. 3 GmbHG liegt dagegen eine bilanzielle Betrachtungsweise zu Grunde. Nach diesen Vorschriften ist die Geschäftsführung einer Aktiengesellschaft bzw. einer GmbH bei einem Verlust in Höhe der Hälfte des Grundkapitals verpflichtet, eine Gesellschafterversammlung einzuberufen. Auf denselben Maßstab stellt das Beihilferecht ab, das den Begriff eines „Unternehmens in Schwierigkeiten“ verwendet. Nach Ziff. 2.2. der Leitlinien der Kommission für staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung nichtfinanzieller Unternehmen3 ist ein „Unternehmen in Schwierigkeiten, wenn es auf kurze oder mittlere Sicht so gut wie sicher zur Einstellung seiner Geschäftstätigkeiten gezwungen sein wird, wenn der Staat nicht eingreift.“ Nach Ziff. 2.2.  a) ist von einer solchen Lage bei einer Aktiengesellschaft und einer GmbH dann auszugehen, wenn infolge aufgelaufener Verluste mehr als die Hälfte des gezeichneten Stammkapitals verlorengegangen ist. Das Insolvenzrecht wiederum kennt die drohende Zahlungsunfähigkeit, deren Eintritt ein Recht, aber keine Pflicht auslöst, Insolvenzantrag zu stellen. Nach § 18 Abs. 2 InsO ist ein Unternehmen drohend zahlungsunfähig, wenn es „voraussichtlich nicht in der Lage sein wird, die bestehenden Zahlungspflichten im Zeitpunkt der Fälligkeit zu erfüllen.“ Drohende Zahlungsunfähigkeit ist mit anderen Worten gleichbedeutend mit einer mittelfristig negativen Liquiditätsprognose, wobei im Einzelnen streitig ist, ob es eine Obergrenze für den Prognosezeitraum gibt und wo diese gegebenenfalls anzusetzen ist. Nach bislang herrschender Meinung überschneidet sich allerdings die drohende Zahlungsunfähigkeit (mehr oder weniger) vollständig mit der Überschuldung im Sinne von § 19 InsO, denn bei drohender Zahlungsunfähigkeit sei regelmäßig auch die im 1 Sinz in Karsten Schmidt/Uhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, 5. Aufl., Rz. 1.1 f. 2 Eine „rechtliche Unternehmenskrise“ mit den entsprechenden Folgen für die Behandlung von Gesellschafterdarlehen liegt hiernach vor, wenn das Unternehmen kreditbedürftig ist, aber von dritter Seite keinen Kredit zu marktüblichen Bedingungen zu erlangen vermag. Vgl. etwa BGHZ 76, 326, 330 = ZIP 1980, 361; BGHZ 81, 311, 318 = ZIP 1981, 1200; BGH ZIP 2018, 576. 3 2014/C 249/01, 2.2.

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Rahmen des zweistufigen Überschuldungsbegriffs4 anzustellende Fortführungsprognose negativ, so dass Überschuldung und drohende Zahlungsunfähigkeit nur dann auseinanderfallen, wenn die Zahlungsunfähigkeit erst für einen Zeitpunkt droht, der außerhalb des für die Fortführungsprognose relevanten Zeitraums5 liegt, oder wenn das Unternehmen auf der Basis von Zerschlagungswerten nicht („rechnerisch“) überschuldet sein sollte. Hier sei nur angedeutet, dass der skizzierte Zusammenhang zwischen drohender Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung jedenfalls bei Existenz eines vorinsolvenzlichen Sanierungsverfahrens, das der deutsche Gesetzgeber in Umsetzung der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz6 wird schaffen müssen, so nicht mehr bestehen wird. Denn solange es wahrscheinlich ist, dass das Restrukturierungsverfahren erfolgreich abgeschlossen wird, solange ist die Fortführungsprognose positiv, so dass eine Überschuldung im Rechtssinne ausgeschlossen ist.7 Die genannten Krisentatbestände – rechtliche Unternehmenskrise, Unternehmen in Schwierigkeiten, Verbrauch der Hälfte des Grundkapitals, drohende Zahlungsunfähigkeit – überschneiden sich ihrerseits stark. Es ist daher auch nicht möglich, diese Tatbestände in ein Stufenverhältnis zu bringen. Ein Unternehmen, das bereits die Hälfte seines Grundkapitals verbraucht hat, wird häufig auch kreditunwürdig und dadurch eben auch drohend zahlungsunfähig sein – es sei denn die Gesellschafter stellen die benötigte Liquidität zur Verfügung. Die genannten Tatbestände sind daher eher unterschiedliche  – bilanz-, bonitäts- und liquiditätsmäßige  – Symptome der wirtschaftlichen Schieflage eines Unternehmens. Welches Symptom zuerst eintritt oder bemerkt wird, wird oft vom Zufall abhängen.

III. Einberufungspflichten in der Krise Das Gesellschaftsrecht knüpft an diese unterschiedlichen Aspekte einer unternehmerischen Krise nur zum Teil ausdrücklich Rechtsfolgen. Die „rechtliche Unternehmenskrise“ spielt seit dem Paradigmenwechsel, den das MoMiG für das Recht der Gesellschafterdarlehen gebracht hat, keine Rolle mehr. Der Verlust der Hälfte des Stammkapitals löst demgegenüber gemäß §§ 92 Abs. 1 AktG, 49 Abs. 3 GmbHG bei Aktiengesellschaften und GmbHs eine Pflicht der Geschäftsführung aus, eine Gesellschafterversammlung einzuberufen.

4 Zur wechselhaften Geschichte des Überschuldungstatbestands s. nur Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, InsO, 19. Aufl., § 19 Rz. 3 ff.; Karsten Schmidt in Karsten Schmidt/Uhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, 5. Aufl., Rz. 5.84 ff. 5 Die h.M. stellt für die Fortführungsprognose auf das laufende und das künftige Geschäftsjahr ab, OLG Hamburg ZInsO 2013, 2447, 2449; Rüntz/Laroche in HK-InsO, §  19 Rz.  10 m.w.N. 6 Richtlinie (EU) 2019/1023 vom 20.6.2019. 7 Im Einzelnen Brinkmann in Zweite FS für Karsten Schmidt, 2019, S. 153, 162.

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Bevor diese Pflicht eingehender beleuchtet wird, soll erörtert werden, ob auch der Eintritt der drohenden Zahlungsunfähigkeit als solcher die Einberufung einer Gesellschafterversammlung erforderlich macht. Davon zu unterscheiden ist die unter IV. zu behandelnde Frage, ob dann eine Einberufungspflicht besteht, wenn die Geschäftsführung beabsichtigt, vor dem Hintergrund der drohenden Zahlungsunfähigkeit, einen fakultativen Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens oder (künftig) eines vorinsolvenzlichen Sanierungsverfahrens zu stellen. 1. Pflicht zur Einberufung nach §§ 49 Abs. 2 GmbHG, 111 Abs. 3, 121 Abs. 1 3. Fall AktG bei Eintritt der drohenden Zahlungsunfähigkeit a) GmbH Anknüpfungspunkt für die Einberufung einer Versammlung der Gesellschafter einer GmbH bei Eintritt der drohenden Zahlungsunfähigkeit kann nur die Generalklausel des § 49 Abs. 2 GmbHG sein. Nach dieser Vorschrift sind die Geschäftsführer immer dann verpflichtet, eine Gesellschafterversammlung einzuberufen, wenn es im Interesse der Gesellschaft erforderlich erscheint. Befindet sich die Gesellschaft in einer Liquiditätskrise, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in die Insolvenz führen wird, so ist zweifellos der Zeitpunkt erreicht, in dem spätestens Gegenmaßnahmen geprüft und ergriffen werden sollten. In dieser Phase hat die Gesellschaft noch eine ganze Reihe von Optionen, wie die Insolvenz verhindert werden kann (Kapitalerhöhung, Gesellschafterdarlehen, Hineinahme eines Investors etc.), so dass es „im Interesse der Gesellschaft“ liegt, diese strategische Entscheidung zu treffen, bevor sich der Entscheidungshorizont durch Zuspitzung der Krise weiter verengt hat. Ganz abgesehen davon, dass die Durchführung jedenfalls einiger der in Betracht kommenden Sanierungsmaßnahmen – wie z.B. eine Kapitalerhöhung – ohnehin einen Gesellschafterbeschluss voraussetzen, obliegt in einer GmbH die Entscheidung, mit welcher Strategie der Eintritt der Insolvenz abgewendet werden soll, nach § 37 GmbHG den Gesellschaftern. Weil die Gesellschafter die Herrschaft über die Geschäftsführung der GmbH innehaben, müssen sie auch über das Ob und Wie einer Sanierung entscheiden.8 Daher sind die Geschäftsführer nach § 49 Abs. 2 GmbHG bei Eintritt der drohenden Zahlungsunfähigkeit grundsätzlich verpflichtet, eine Gesellschafterversammlung einzuberufen.9 Bei einer GmbH wird die Einberufung und Durchführung einer Gesellschafterversammlung auch in aller Regel weder so kostspielig noch so öffentlichkeitswirksam sein, dass hierdurch die Lage der Gesellschaft weiter verschlechtert oder gar der Erfolg der geplanten Sanierungsmaßnahme gefährdet würde.

8 Lutter, ZIP 1999, 641, 642. 9 Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, InsO, 19.  Aufl., §  18 Rz.  31; Brinkmann in Karsten Schmidt/Uhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, 5. Aufl., Rz. 5.53.

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b) Aktiengesellschaft Auf die Aktiengesellschaft kann das eben für die GmbH gefundene Ergebnis aufgrund der Unterschiede hinsichtlich der Organisationsverfassung zwischen Aktiengesellschaft einerseits und GmbH andererseits nicht ohne Weiteres übertragen werden. Während bei der GmbH die Gesellschafter die Geschicke der Gesellschaft bestimmen und sie durch Weisungen auf die Geschäftsführer Einfluss nehmen können, sind die Kompetenzen der Hauptversammlung einer Aktiengesellschaft grundsätzlich abschließend bestimmt. Die §§ 111 Abs. 3, 121 Abs. 1 3. Fall AktG haben daher – jedenfalls soweit es um Hauptversammlungen geht, auf denen Beschlüsse gefasst werden sollen – keine selbständige Bedeutung.10 Über § 121 Abs. 1 AktG kann der Vorstand allenfalls eine sogenannte beschlusslose Hauptversammlung einberufen, die informatorischen Zwecken dient.11 Die Einberufung einer solchen Versammlung schreibt das Gesetz in § 92 Abs. 1 GmbHG bei dem Verlust der Hälfte des Grundkapitals vor. Damit hat der Gesetzgeber eine – de lege ferenda zu überdenkende (s.u. 2.) – Entscheidung hinsichtlich der Frage getroffen, was das maßgebliche Kriterium ist, bei dessen Vorliegen die Aktionäre über die Krise der Gesellschaft zu informieren sind. Es erscheint kaum sinnvoll, neben diesen Einberufungsgrund einen weiteren zu stellen, der ebenfalls nur die Einberufung einer beschlusslosen Hauptversammlung ermöglichen würde. § 121 Abs. 1 3. Fall AktG ermöglicht somit nur dann die Einberufung einer Hauptversammlung, wenn der Vorstand die Krise der Gesellschaft durch Maßnahmen überwinden will, die wie beispielsweise eine Kapitalerhöhung einen Beschluss der Aktionäre erfordern. Inwieweit dies für den Antrag nach §  18 InsO auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens oder auf Einleitung eines Restrukturierungsverfahrens der Fall ist, wird unter IV. zu erörtern sein. 2. Die Pflicht zur Einberufung bei einem Verlust der Hälfte des Grundkapitals nach §§ 49 Abs. 3 GmbHG, 92 Abs. 1 AktG a) GmbH Wie schon angesprochen, ist der Vorstand gemäß § 49 Abs. 3 GmbHG verpflichtet, eine Gesellschafterversammlung einzuberufen, wenn das Gesellschaftsvermögen nur noch die Hälfte des Stammkapitals deckt. Hierdurch soll die rechtzeitige Information der Gesellschafter über die Krise sichergestellt werden. In der Praxis wird diese strafbewehrte (§ 84 Abs. 1 GmbHG) Vorschrift wie man hört nur sehr selten angewendet. Der Hauptgrund dürfte darin liegen, dass im Rahmen von § 49 Abs. 3 GmbHG die Wahl der Bewertungsmethode (going concern oder Liquidationswerte) wie unter dem früheren Überschuldungsbegriff nach herrschender

10 Hüffer/Koch, AktG, 13.  Aufl., §  121 Rz.  5; Kubis in MünchKomm. AktG, 4.  Aufl., §  121 Rz. 9. 11 Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl., § 121 Rz. 5.

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Meinung davon abhängt, ob die Fortführungsprognose positiv ist.12 Solange dies der Fall ist, soll nach Fortführungswerten bilanziert werden, schlägt die Fortführungsprognose aber um, müssen Zerschlagungswerte angesetzt werden. Nach Zerschlagungswerten gerechnet sind aber viele der betroffenen Unternehmen sogar schon überschuldet und haben damit den Punkt des § 49 Abs. 3 GmbHG längst überschritten. Dadurch wird der Zweck der Vorschrift ausgehebelt, denn bei Überschuldung ist kein Raum mehr für das Erörtern von Handlungsoptionen, denn jetzt muss Insolvenz­ antrag gestellt werden. Mit anderen Worten: Weil sich durch das Umschlagen der Fortführungsprognose die Bewertungsmaßstäbe verändern, kann eine Gesellschaft, deren Eigenkapital (auf der Basis von Fortführungswerten) eben noch mehr oder weniger vollständig vorhanden war, plötzlich (auf der Basis von Zerschlagungswerten) überschuldet sein, so dass gemäß § 15a InsO „unverzüglich“ Insolvenzantrag zu stellen ist. Schon weil §  49 Abs.  3 GmbHG in seinem gegenwärtigen Verständnis seitens der herrschenden Meinung wenig geeignet erscheint, seine Funktion zu erfüllen, ein rechtzeitiges Gegensteuern zu ermöglichen, sollte hier über eine Veränderung des Anknüpfungspunkts nachgedacht werden. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund des § 18 InsO und des künftigen präventiven Restrukturierungsverfahrens erscheint es geboten, de lege ferenda auf die drohende Zahlungsunfähigkeit abzustellen. Denn nicht der hälftige Verlust des Nennkapitals, sondern der Eintritt der drohenden Zahlungsunfähigkeit eröffnet den Zugang zu diesen Sanierungsinstrumenten. Dieser Zeitpunkt ist daher auch der richtige, um die Gesellschafter ins Bild über den Zustand ihrer Gesellschaft zu setzen, damit sie die zur Verfügung stehenden Optionen prüfen können. Dadurch würde zugleich das Problem vermieden, wie zu verfahren ist, wenn drohende Zahlungsunfähigkeit und hälftiger Verbrauch des Stammkapitals in mehr oder weniger engem zeitlichen Zusammenhang eintreten. Denn nach § 49 Abs. 3 GmbHG in seiner jetzigen Fassung und der unter 1.a) vertretenen Auffassung zu § 49 Abs. 2 ­GmbHG lösen beide Umstände für sich eine Pflicht zur Einberufung einer Gesellschafterversammlung aus. Da es nur wenig sinnvoll erscheint, zweimal innerhalb relativ kurzer Zeit die Gesellschafter über die Krise zu informieren, stellt sich die Frage, wann die Anberaumung einer weiteren Versammlung verzichtbar ist, inwieweit also § 49 Abs. 2 und 3 GmbHG teleologisch zu reduzieren sind, weil bereits eine Gesellschafterversammlung durchgeführt wurde. Diese Probleme würden vermieden, wenn man in § 49 Abs. 3 GmbHG künftig auf die drohende Zahlungsunfähigkeit abstellen würde.

12 Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl., § 49 Rz. 15 m.w.N.; für die AG Hüffer/ Koch, AktG, 13. Aufl., § 92 Rz. 4. A.A. Seibt in Scholz, GmbHG, 11. Aufl., § 49 Rz. 24, maßgeblich seien die für die Jahresbilanz geltenden Maßstäbe.

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b) Aktiengesellschaft Für § 92 Abs. 1 AktG gilt der oben festgestellte Befund jedenfalls im Ausgangspunkt entsprechend. Auch hier ist es nicht sinnvoll, auf den hälftigen Verbrauch des Stammkapitals abzustellen. Allerdings dürfte es sich auch nicht empfehlen, stattdessen an die drohende Zahlungsunfähigkeit anzuknüpfen. Vielmehr sollte die Vorschrift gestrichen werden. Sie ist ein Relikt des ADHG von 1861 – dort fand sie sich in Art. 240. Sie wurde in das AktG von 1937 übernommen, obwohl sie zu der veränderten Organisationsverfassung der Aktiengesellschaft nicht mehr uneingeschränkt passt. Denn wenn der Vorstand die Aktiengesellschaft „in eigener Verantwortung“ führt, dann hat er auch da­ rüber zu entscheiden, ob und wie auf Krisensymptome zu reagieren ist. Daher geht man heute ganz zu Recht davon aus, dass § 92 Abs. 1 AktG eine „beschlusslose Hauptversammlung“ erforderlich macht.13 Die nach dieser Vorschrift einzuberufende Hauptversammlung hat somit rein informatorische Zwecke, die billiger und zeitnäher durch schlichte Mitteilung an die Aktionäre erreicht werden können. Im Übrigen sollten etwaige Veröffentlichungsvorschriften im Kapitalmarktrecht verortet werden, da nicht nur die gegenwärtigen Aktionäre ein Interesse haben, über die kritische Vermögenslage informiert zu werden, sondern der Kapitalmarkt insgesamt. § 92 Abs. 1 AktG kann daher de lege ferenda entfallen.

IV. Die Einberufung der Gesellschafterversammlung vor Stellung eines Antrags auf Eröffnung eines Insolvenz- oder Restrukturierungs­ verfahrens Bislang wurde untersucht, inwieweit das Erreichen einer bestimmten Krisenschwelle die Einberufung einer Gesellschafterversammlung erforderlich macht – unabhängig davon, wie und ob die Geschäftsführung darauf reagieren zu beabsichtigt. Nunmehr soll es um die Frage gehen, ob die Geschäftsführung eine Gesellschafterversammlung einzuberufen hat, bevor sie eine bestimmte Sanierungsmaßnahme durchführt. Untersucht werden soll dies für die Stellung eines Insolvenzantrags sowie die Einleitung eines Restrukturierungsverfahrens, wobei wiederum zwischen der GmbH und der Aktiengesellschaft zu differenzieren ist. 1. Einberufung vor Stellung eines Insolvenzantrags a) Keine Einberufungspflicht vor Stellung eines Insolvenzantrags nach Eintritt von Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung Zur Stellung eines Insolvenzantrags gibt es dann keine Alternative, wenn die Gesellschaft zahlungsunfähig oder überschuldet ist. Denn dann sind die Geschäftsführer 13 Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl., § 119 Rz. 4.

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bzw. der Vorstand nach § 15a InsO verpflichtet, unverzüglich – jedenfalls aber innerhalb von drei Wochen – Insolvenzantrag zu stellen. Es ist unstreitig, dass die Geschäftsführer einer GmbH vor dem Hintergrund dieser straf- (§ 15a Abs. 4 und 5 InsO) und schadensersatzbewehrten (§ 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 15a InsO) Vorschrift, nicht verpflichtet sind, die Gesellschafter vor einer Antragstellung bei eingetretener Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung zu konsultieren. Nicht nur ist ein Insolvenzantrag wirksam, der ohne die Zustimmung der Gesellschafter gestellt wird,14 wirksam ist sogar ein Antrag, der gegen die ausdrückliche Weisung der Gesellschafterversammlung gestellt wird. Denn eine solche Weisung würde den Geschäftsführer zu einem verbotenen Verhalten zwingen und kann daher keine Geltung beanspruchen.15 Nicht anders sieht es bei der Aktiengesellschaft aus: Selbst wenn man die Stellung eines Insolvenzantrags als Grundlagengeschäft sähe (dazu noch unter b)), kommt es bei Eintritt eines Tatbestands, der zur Antragstellung verpflichtet, nicht in Betracht, durch die Anwendung der Holzmüller/Gelatine-Grundsätze16 der Hauptversammlung eine Entscheidungsbefugnis über die Stellung eines zwingenden Insolvenzantrags zuzuerkennen. b) Einberufungspflicht vor Stellung eines fakultativen Insolvenzantrags (§ 18 InsO) aa) Der fakultative Insolvenzantrag bei der GmbH Nach herrschender Meinung sind die Geschäftsführer einer GmbH verpflichtet, einen Gesellschafterbeschluss herbeizuführen, wenn sie beabsichtigen, einen Insolvenz­ antrag wegen drohender Zahlungsunfähigkeit zu stellen.17

14 Lutter, ZIP 1999, 641, 642; Kebekus/Zenker in FS Maier-Reimer, 2010, S. 319, 334; Leine­ kugel/Skauradszun, GmbHR 2011, 1121, 1123; Brinkmann, ZIP 2014, 197, 204; Tressel/Müller, KSzW 2015, 198, 200. 15 S. nur Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl., § 37 Rz. 22; Uwe H. Schneider/ Sven H. Schneider in Scholz, GmbHG, 11. Aufl., § 37 Rz. 59; Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, 8.  Aufl., §  37 Rz.  6; Stephan/Thieves in MünchKomm. GmbHG, 2.  Aufl., §  37 Rz. 118; Hölzle, ZIP 2013, 1846, 1847. Beispiele aus der Rechtsprechung: BGHZ 31, 258, 278 für die Weisung, entgegen § 64 GmbHG Zahlungen zu leisten; OLG Naumburg ZIP 1999, 1362 für die Weisung, keine Sozialversicherungsbeiträge mehr abzuführen. 16 BGHZ 83, 122 ff.; BGHZ 159, 30 ff. 17 OLG München ZIP 2013, 1121, 1124; Haas in Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl., § 60 Rz. 29, § 64 Rz. 161; Leinekugel/Skauradszun, GmbHR 2011, 1121, 1123  ff.; Tetzlaff, ZInsO 2008, 137, 139; Lang/Muschalle, NZI 2013, 953, 955; Möhlenkamp, BB 2013, 2828, 2830; Thole ZIP 2013, 1937, 1944; Wertenbruch, DB 2013, 1592, 1593; Tressel/Müller, KSzW 2015, 198, 200. A.A. Hölzle, ZIP 2013, 1846,1850; Eidenmüller, ZIP 2014, 1197, 1203; Wellensiek/ Schluck-Amend in Römermann, Anwaltshandbuch GmbH-Recht, § 23 Rz. 176; jetzt auch Gessner, NZI 2018, 185, 188. 

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Zur Begründung wird zum Teil darauf abgestellt, dass die Eröffnung des Insolvenzverfahrens nach § 60 Abs. 1, Abs. 4 GmbHG automatisch zur Auflösung der Gesellschaft führt.18 Eine gewillkürte Auflösung der Gesellschaft setzt aber – vorbehaltlich einer abweichenden Bestimmung im Gesellschaftsvertrag – nach § 60 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG einen mit drei Viertel-Mehrheit gefassten Beschluss der Gesellschafter vo­ raus. Da die Stellung eines fakultativen Insolvenzantrags einer solchen gewillkürten Auflösung jedenfalls im Ergebnis gleichkommt, meinen einige Stimmen, dass ein Gesellschafterbeschluss mit entsprechender Mehrheit erforderlich sei. Dass dieses Argument so nicht überzeugt, wird für die Aktiengesellschaft unter (2) zu zeigen sein. Für die GmbH kommt es hierauf nicht an. Denn zu demselben Ergebnis gelangt man, wenn man die Stellung eines fakultativen Insolvenzantrags als Geschäftsführungsmaßnahme einordnet. Denn allein aus dieser Charakterisierung folgt nicht, dass die Geschäftsführer auch ohne Gesellschafterbeschluss – manche meinen sogar gegen den ausdrücklichen Willen der Gesellschafter19 – einen fakultativen Insolvenzantrag stellen dürften. Die Vertreter dieser Auffassung übersehen, dass der Gang zum Insolvenzgericht eine sogenannte „ungewöhnliche Maßnahme“ darstellt, über die nach allgemeiner Meinung20 in einer GmbH die Gesellschafter zu entscheiden haben, und zwar – jedenfalls soweit es um Maßnahmen geht, die den Unternehmensgegenstand berühren – mit qualifizierter Mehrheit.21 Ungewöhnliche Maßnahmen sind nach h.M. solche, die außerhalb des statutarischen Unternehmensgegenstandes oder im Widerspruch zur festgelegten Unternehmenspolitik stehen, sowie Maßnahmen, die wegen ihrer Bedeutung (für Gesellschaft oder Gesellschafter) oder ihres unternehmerischen Risikos Ausnahmecharakter haben.22 Für die Stellung eines Insolvenzantrags wird man jede einzelne dieser Varianten bejahen können. Selbst Eigenverwaltungsverfahren greifen wegen § 276a InsO tief in die Organisationsverfassung der Gesellschaft ein und können wegen §  225a InsO die Rechtsstellung der Gesellschafter gravierend verändern. Auch die These Hölzles,23 dass ein Weisungsrecht der Gesellschafter nicht mehr bestehe, wenn die Gesellschaft rechnerisch zahlungsunfähig und/oder drohend zahlungsunfähig sei, überzeugt nicht. Zwar trifft es für die Phase der materiellen Insolvenz und erst recht nach Verfahrenseröffnung durchaus zu, dass die Geschäftsführer nunmehr den wahren Eigentümern des Unternehmens – nämlich den Gläubigern – verpflichtet sind, sodass die Gesellschafter gleichsam ausgespielt haben. Dieser „Perspektivwechsel“ der treuhänderischen Pflichten findet aber nicht schon zu irgendeinem Zeitpunkt während der sich zuspitzenden Krise statt, sondern erst wenn die Gesellschaft zah18 Z.B. OLG München ZIP 2013, 1121, 1124; Wertenbruch, DB 2013, 1592, 1593. 19 Gessner, NZI 2018, 185, 188. 20 Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl., § 37 Rz. 10; Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider in Scholz, GmbHG, 11. Aufl., § 37 Rz. 17 jeweils m.w.N.; differenzierend Zöllner/ Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl., § 8 Rz. 8 f., die jedoch in diesem Fall ebenso wie die h.M. eine Beteiligungspflicht bejahen würden. 21 Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider in Scholz, GmbHG, 11. Aufl. § 37 Rz. 17. 22 Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl., § 37 Rz. 10. 23 Hölzle, ZIP 2013, 1846, 1847 f.

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lungsunfähig oder im Rechtssinne überschuldet ist. Die rechnerische Überschuldung, auf die Hölzle insoweit abstellen will,24 kann hierfür schon deshalb nicht genügen, weil dies die Entscheidung des Gesetzgebers für den zweistufigen Überschuldungsbegriff ignorieren würde. Denn hiernach darf die Gesellschaft am Markt bleiben, solange ihre Fortführungsprognose positiv ist. In dieser Situation besteht aus rechtlicher Sicht nicht einmal eine Notwendigkeit überhaupt zu prüfen, ob rechnerische Überschuldung vorliegt.25 Nach Hölzles Auffassung wäre aber eine solche Prüfung geboten, damit die Geschäftsführer sicher sein können, ob – wegen des Eintritts rechnerischer Überschuldung – womöglich „die Perspektive gewechselt hat“ und sie infolgedessen vorrangig an die Gläubigerinteressen gebunden sind. De lege lata muss es dabeibleiben: Solange die Gesellschaft nicht materiell insolvent ist, lässt die Krise der Gesellschaft die Organisationsverfassung der Gesellschaft unberührt, so dass die Geschäftsführer an die Weisungen der Gesellschafter gebunden sind. Ausgenommen sind nur solche Weisungen, die die Existenz der Gesellschaft erheblich gefährden würden26 oder die die Gesellschaft mit überwiegender Wahrscheinlichkeit in die Insolvenz führen würden.27 Das bedeutet aber nicht, dass die Geschäftsführer im Alleingang entscheiden können, welchen Weg aus der Krise sie wählen. In der GmbH ist diese Entscheidung bis zum Eintritt der materiellen Insolvenz den Gesellschaftern zugewiesen. Stellt der Geschäftsführer einen auf § 18 InsO gestützten Insolvenzantrag ohne den nach dem eben Ausgeführten im Innenverhältnis erforderlichen Beschluss eingeholt zu haben, so ist die Antragstellung nach h.M. de lege lata gleichwohl wirksam.28 Der Versuch von Hans-Friedrich Müller, hier unter Rückgriff auf die Lehre vom Missbrauch der Vertretungsmacht die Unwirksamkeit einer Antragstellung ohne Gesellschafterbeschluss zu begründen,29 konnte sich nicht durchsetzen. Das geltende Recht kennt weder eine Pflicht der Geschäftsführung, dem auf § 18 InsO gestützten Antrag den Nachweis eines solchen Beschlusses beizufügen, so dass das Gericht nicht berechtigt und erst recht nicht verpflichtet ist, insoweit selbständig nachzuforschen. Sofern das Gericht keine Kenntnis über das Vorliegen eines solchen Beschlusses hat, kann die Lehre vom Missbrauch der Vertretungsmacht nicht angewendet werden, denn diese setzt voraus, dass der Missbrauch für den Erklärungsempfänger evident ist, er sich ihm mit anderen Worten aufdrängen musste.30 Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn das Insolvenzgericht durch eine Schutzschrift darüber informiert ist, dass der Geschäftsführer ohne einen entsprechenden Gesellschafterbeschluss handelt. In einer solchen Situation kennt das Gericht die interne Pflichtwidrigkeit des Organhandelns, so dass der Antrag der Gesellschaft nicht zugerechnet werden kann. Die hier 24 Hölzle, ZIP 2013, 1846, 1850. 25 Praktisch mag das anders sein, vgl. Karsten Schmidt in Karsten Schmidt/Uhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, 5. Aufl., Rz. 5.104. 26 Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl., § 37 Rz. 18. 27 BGHZ 176, 204 Rz. 39. 28 Kebekus/Zenker in FS Maier-Reimer, 2010, S.  319, 334; Schröder in HamKomm. InsO, 6. Aufl., § 18 Rz. 14; Mock in Uhlenbruck, InsO, 14. Aufl., § 18 Rz. 70. 29 So H.-F. Müller, DB 2014, 41, 44. 30 BGHZ 113, 315, 320; Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl., § 10 II 2. c) bb); Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl., § 35 Rz. 24 m.w.N.

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vorgeschlagene differenzierende Lösung vermindert insbesondere die sonst bestehende Gefahr, dass Insolvenzverfahren ohne wirksamen Antrag eingeleitet werden.31 De lege ferenda sollte diese unbefriedigende Rechtslage allerdings korrigiert werden.32 Bei einer GmbH sollten ausschließlich auf § 18 InsO gestützte Insolvenzanträge nur zulässig sein, wenn ihnen ein entsprechender mit einer Mehrheit von drei Vierteln gefasster Gesellschafterbeschluss beigefügt ist. Hinsichtlich des Beschlusses sollte in Anlehnung an § 53 Abs. 2 GmbHG aus Gründen der Rechtssicherheit die notarielle Beurkundung verlangt werden. bb) Der fakultative Insolvenzantrag bei der Aktiengesellschaft Die für die GmbH gefundenen Ergebnisse können nicht ohne Weiteres auf die Ak­ tiengesellschaft übertragen werden. Dies beruht einerseits auf den dogmatischen Unterschieden zwischen den beiden Gesellschaftsformen sowie andererseits auf den praktischen Problemen, die die Durchführung einer Hauptversammlung vor der Stellung eines fakultativen Insolvenzantrags vor allem bei Aktiengesellschaften mit einer größeren Zahl von Gesellschaftern mit sich bringt. Schon die dreißigtägige Einberufungsfrist aus § 123 Abs. 1 AktG passt für die regelmäßig unter sehr hohem Zeitdruck stattfindenden Sanierungsprozesse kaum. Ferner erzeugen die Einberufung und Durchführung einer Hauptversammlung eine Publi­ zität, die in vielen Fällen die Erfolgschancen des Sanierungsvorhabens torpedieren wird. Schließlich kann gerade bei einer Aktiengesellschaft mit zahlreichen Aktionären die Durchführung einer Hauptversammlung hohe Kosten verursachen, so dass die ohnehin schon angespannte Liquiditätssituation weiter verschärft wird. Auch dogmatische Argumente sprechen dafür, dass die Durchführung einer Hauptversammlung vor einer Antragstellung nach § 18 InsO anders als bei der GmbH in der Aktiengesellschaft nicht geboten ist. Der entscheidende Unterschied ist, dass in der Aktiengesellschaft die Hauptversammlung nur ausnahmsweise – nämlich in den ausdrücklich genannten Fällen, auf Verlangen des Vorstands (§ 119 Abs. 2 AktG) sowie bei Eingreifen der Holzmüller/Gelatine-Grundsätze – über Geschäftsführungsmaßnahmen zu entscheiden hat, während die Gesellschafter einer GmbH ein bis zur Grenze der Rechtswidrigkeit reichendes Weisungsrecht in Geschäftsführungsfragen haben. Insofern sind bei der Aktiengesellschaft die Vorzeichen umgekehrt: Während bei der GmbH begründet werden müsste, warum die Gesellschafter (ausnahmsweise) nicht über eine ungewöhnliche Geschäftsführungsmaßnahme entscheiden sollten, ist bei der Aktiengesellschaft zu begründen, warum sie ausnahmsweise ein Mitspracherecht haben.

31 Zu den Problemen, die Insolvenzverfahren verursachen, die ohne wirksamen Antrag eröffnet wurden, Eidenmüller, ZIP 2014, 1197, 1201. 32 S. auch die Forderung der Teilnehmer des ZIP Kolloquiums „Evaluierung des ESUG“, veröffentlicht in ZIP 2017, 2430, 2431.

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Eine Kompetenz der Hauptversammlung, über die Stellung eines fakultativen Insolvenzantrags zu entscheiden, könnte jenseits von § 119 Abs. 2 AktG entweder aus einer Analogie zu § 119 Abs. 1 Nr. 8 i.V.m. § 262 Abs. 1 Nr. 3 AktG oder aus den Holz­ müller/Gelatine-Grundsätzen abgeleitet werden. Auf § 119 Abs. 1 Nr. 8 i.V.m. § 262 Abs. 1 Nr. 3 AktG abzustellen, liegt im Ausgangspunkt durchaus nahe. Immerhin führt die Eröffnung des Insolvenzverfahrens – und zwar auch eines solchen, das wegen drohender Zahlungsunfähigkeit eröffnet wurde – zur Auflösung der Gesellschaft, so dass die Stellung eines fakultativen Insolvenzantrags einer gewillkürten Auflösung gleichkommt. Allerdings ist sehr fraglich, ob § 262 Abs. 1 Nr. 3 AktG der Funktion eines wegen drohender Zahlungsunfähigkeit eingeleiteten Insolvenzverfahrens gerecht wird. Ein solches ist ja typischerweise nicht auf Liquidation – und zwar weder des Unternehmens noch des Rechtsträgers –, sondern auf Befriedigung der Gläubiger durch Sanierung der Gesellschaft im Rahmen eines Insolvenzplans gerichtet. Zu dieser modernen Ausrichtung eines Insolvenzverfahrens passt der im Kern schon im ADHGB von 1862 enthaltene33 § 262 Abs. 1 Nr. 3 AktG nicht. Heute kann das Insolvenzverfahren zwar immer noch „besonderes Liquidationsverfahren sein“ – und in den meisten Fällen ist es das ja auch –, doch darf auch nicht übersehen werden, dass der (vorläufige) Insolvenzverwalter nach der InsO bis zum Berichtstermin zur Fortführung des Unternehmens grundsätzlich verpflichtet ist. Auch im Insolvenzverfahren stellt die Gesellschaft ihre werbende Tätigkeit also nicht, jedenfalls nicht sofort (und in erfolgreichen Insolvenzplanverfahren häufig nie) ein, so dass nicht länger einleuchtet, dass mit der Eröffnung ein Auflösungsgrund gegeben ist. Der insoweit überholte § 262 Abs. 1 Nr. 3 AktG34 sollte daher nicht als Argument für die Begründung einer Hauptversammlungszuständigkeit verwendet werden. De lege ferenda sollte die Vorschrift modifiziert werden. Sinnvoll dürfte es sein, die Auflösung unter die aufschiebende Bedingung zu stellen, dass kein Insolvenzplan bestätigt wird, der den Erhalt des Rechtsträgers vorsieht. Damit würde die Notwendigkeit entfallen, in Insolvenzplanverfahren einen Fortsetzungsbeschluss zu fassen.35 Es bleibt die Frage, ob sich aus den Holzmüller/Gelatine-Grundsätzen eine ungeschriebene Zuständigkeit der Hauptversammlung ergibt. Es ist nicht zu bestreiten, dass die Einleitung eines Insolvenzverfahrens einen im Sinne der Holzmüller Entscheidung „schwerwiegenden Eingriff in die Rechte und Interessen der Aktionäre“ darstellt. In den Holzmüller- und Gelatine-Entscheidungen ließ der BGH es genügen, wenn durch eine Ausgliederungsmaßnahme der Einfluss der Aktionäre mediatisiert wird. Man könnte meinen, dass dann die Stellung eines Insolvenzantrags erst recht zustimmungspflichtig sein müsste, denn wegen § 276a InsO verlieren die Gesellschafter ihre Einflussmöglichkeiten auf die Gesellschaft im Verfahren vollständig und wegen § 225a InsO müssen sie Eingriffe in ihre Beteiligung bis hin zu deren Totalverlust fürchten. Dass für die Aktionäre im Insolvenzplanverfahren nach § 222 Abs. 1 Nr. 4 33 Art. 242 Nr. 4 ADHGB. 34 Gleiches gilt für § 60 Abs. 1 Nr. 4 GmbHG. 35 Zur Zulässigkeit bedingter Auflösungsbeschlüsse, J. Koch in MünchKomm. AktG, 4. Aufl., § 262 Rz. 41.

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InsO eine eigene Gruppe zu bilden ist, sie also an der Abstimmung über den Insolvenzplan teilnehmen können, ist nur ein schwacher Trost, denn selbst wenn die Ak­ tionäre mehrheitlich gegen den Plan stimmen, kann dieser wegen des Obstruktionsverbots nach § 245 InsO bestätigt werden.36 Allerdings darf man nicht verkennen, dass die ungeschriebene Zuständigkeit der Hauptversammlung nach den Holzmüller/Gelatine-Grundsätzen eine Ausnahme von § 76 AktG ist. Für die Anerkennung einer solchen Ausnahme spielt die hier nicht zu bestreitende Schwere des Eingriffs auf der einen Seite ohne Frage eine Rolle. An­ dererseits darf man aber auch nicht übersehen, dass sich aus dem Konzept der Organ­ adäquanz37 gewichtige Argumente gegen die Anerkennung einer Ausnahme ergeben. Die Besonderheit der Stellung eines Insolvenzantrags wegen drohender Zahlungsunfähigkeit liegt darin, dass hier die Alternative einer Antragstellung mit oder ohne vorherige Durchführung einer Hauptversammlung in Wahrheit gar nicht besteht. Denn wird vor der Antragstellung eine Hauptversammlung einberufen, so wird bei den allermeisten Unternehmen noch während der Einberufungsfrist aus der drohenden eine eingetretene Zahlungsunfähigkeit werden, weil die Gläubiger Kredite fällig stellen sowie Kreditlinien kündigen und Lieferanten auf Vorkasse umstellen werden.38 Es geht also in Wahrheit gar nicht um die Frage, ob der Vorstand die Aktionäre vor einer Antragstellung fragen muss, sondern darum, ob einer Aktiengesellschaft überhaupt der Weg des § 18 InsO eröffnet sein soll. Gegen eine Ausnahme von der gesetzlichen Zuweisung der Leitungsbefugnisse an den Vorstand spricht beim Insolvenzantrag mit anderen Worten, dass sonst dem Vorstand de facto die Möglichkeit genommen würde, eine Sanierung mit Mitteln des Insolvenzverfahrens zu unternehmen. Den verbleibenden Bedenken gegen die Nicht-Anwendung der Holzmüller/Gelatine-Grundsätze sind schließlich folgende drei Argumente entgegen zu halten: Zunächst ist nicht zu befürchten, dass der Vorstand das Antragsrecht leichtfertig ausübt. Denn durch eine Antragstellung nach § 18 InsO, die nicht im Interesse der Gesellschaft liegt, macht er sich nach § 93 Abs. 2 AktG schadensersatzpflichtig. Eine missbräuchliche Ausübung des Antragsrechts wird durch § 18 Abs. 3 InsO i.V.m. §  78 Abs.  2 AktG jedenfalls erschwert. Nach diesen Vorschriften müssen alle Vorstandsmitglieder – vorbehaltlich einer abweichenden Regelung in der Satzung – gemeinsam den Antrag stellen. Entscheidend ist schließlich, dass auch bei einer Nichtanwendung von Holzmüller/ Gelatine jedenfalls der Aufsichtsrat an der Antragstellung zu beteiligen ist. Denn bevor der Vorstand den Antrag stellt, muss er den Aufsichtsrat gemäß § 90 Abs. 1 Nr. 1 36 S. nur H.-F. Müller, DB 2014, 41 ff.; Brinkmann, ZIP 2014, 197 ff. 37 S. zu diesem Konzept nur Fleischer, Aktionärsdemokratie vs. Verwaltungsmacht, in Konvergenzen und Divergenzen im deutschen, österreichischen und schweizerischen Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht, 2011, S.  81  ff.; Fleischer, BB 2014, 2699  ff.; Renner, AG 2015, 513 ff. 38 Kebekus/Zenker in FS Maier-Reimer, 2010, S. 319, 334.

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AktG über diesen Schritt unverzüglich (§ 90 Abs. 2 3. Var. AktG) informieren.39 Der Aufsichtsrat hat dann die Möglichkeit von § 111 Abs. 4 Satz 2 2. Var. AktG Gebrauch zu machen und ad hoc einen Zustimmungsvorbehalt zu begründen, wenn sich ein solcher nicht ohnehin schon aus der Satzung ergibt.40 Angesichts der gravierenden faktischen Probleme, die die Durchführung einer Hauptversammlung vor der Stellung eines Insolvenzantrags nach § 18 InsO einerseits bereitet und der skizzierten Mechanismen, die einer leichtfertigen oder missbräuchlichen Ausübung dieses Antragsrechts entgegenwirken andererseits, ist die Ansicht vorzugswürdig, die eine Beteiligung des Aufsichtsrats gemäß § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG für ausreichend hält.41 2. Einberufungspflicht vor Einleitung eines vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahrens Den eben angestellten Überlegungen könnte entgegengehalten werden, dass fakultative Insolvenzanträge nach wie vor sehr selten sind. Im Jahr 2017 gab es nur 116 Insolvenzanträge, die ausschließlich auf § 18 InsO gestützt wurden.42 Insofern hat die Frage, ob die Gesellschafter vor der Stellung eines solchen Antrags beteiligt werden müssen, aus praktischer Sicht nach wie vor nur geringe Relevanz. Allerdings lassen sich die obigen Ausführungen übertragen auf die Einleitung eines präventiven Restrukturierungsverfahrens, das der deutsche Gesetzgeber in Umsetzung der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz43 wird schaffen müssen. Auch bei der Einleitung eines solchen Verfahrens stellt sich die Frage, ob die Gesellschafter hierüber mitzuentscheiden haben, und auch hier ist die oben für Anträge nach § 18 InsO entwickelte Differenzierung zwischen GmbH und Aktiengesellschaft geboten, denn auch die Einleitung eines präventiven Restrukturierungsverfahrens ist eine außergewöhnliche Geschäftsleitungsmaßnahme. Bei der GmbH müssen die Geschäftsführer daher vor einem solchen Schritt eine Gesellschafterversammlung einberufen, die darüber zu befinden hat, ob dieser Weg gewählt werden soll. Bei der Aktiengesellschaft lässt sich vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen sogar im Wege eines a maiore ad minus-Schlusses begründen, dass ein Hauptversammlungsbeschluss auch im Innenverhältnis nicht erforderlich ist. Denn zum einen lässt das präventive Restrukturierungsverfahren die Organi­ sationsverfassung der Gesellschaft weitgehend unberührt, weil die Richtliniene keine 39 Lutter, ZIP 1999, 641, 642. 40 So schon Kebekus/Zenker in FS Maier-Reimer, 2010, S. 319, 335. Allgemein für bestandsgefährdende Maßnahmen Redeke, ZIP 2010, 150, 166. A.A. Haas/Mock in Gottwald, Insolvenzrechts-Handbuch, 5. Aufl., § 93 Rz. 7. 41 Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, InsO, 19. Aufl., § 18 Rz. 31. 42 In 105 weiteren Anträgen wurden Überschuldung und drohende Zahlungsunfähigkeit genannt. Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie 2 Reihe 4.1, Dezember und Jahr 2017, S. 20. 43 Richtlinie (EU) 2019/1023 vom 20.6.2019.

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Die Gesellschafterversammlung in der Krise

dem § 276a InsO entsprechende Vorschrift kennt. Ebenso wäre eine Umsetzung richtlinienkonform, bei der Eingriffe in die Gesellschafterstellung rechtlich nur mit deren Zustimmung möglich sind. Allerdings sollten nicht die Augen davor verschlossen werden, dass die Gläubiger de facto sehr oft von den Gesellschaftern Opfer im Rahmen der Sanierung verlangen werden, schon weil die Gläubiger wenig Verständnis dafür haben werden, dass sie es sein sollen, die auf ihre Kosten die Gesellschaft zum Nutzen der Gesellschafter sanieren. Dass vor diesem Hintergrund die Gesellschafter vermutlich nicht selten auch in präventiven Restrukturierungsverfahrens faktisch gezwungen sein werden, entweder zur Sanierung beizutragen oder aus der Gesellschaft auszuscheiden, kann aber kein Grund sein, schon die Einleitung eines präventiven Restrukturierungsverfahrens von einem Hauptversammlungsbeschluss abhängig zu machen. Denn nicht selten werden entsprechende Sanierungsmaßnahmen, wie z.B. Kapitalerhöhungen, ihrerseits einen Hauptversammlungsbeschluss erfordern,44 so dass sichergestellt ist, dass die Aktionäre hinreichend beteiligt sind.

V. Ergebnisse Für die GmbH: –– In der GmbH ist bei drohender Zahlungsunfähigkeit eine Gesellschafterversammlung einzuberufen, § 49 Abs. 3 GmbHG sollte gestrichen werden. –– Die Stellung eines Insolvenzantrags nach § 18 InsO sowie (künftig) die Einleitung eines präventiven Restrukturierungsverfahrens setzen in der GmbH im Innenverhältnis einen mit drei Viertel-Mehrheit gefassten Gesellschafterbeschluss voraus. De lege lata sind grundsätzlich auch solche Insolvenzanträge wirksam, die ohne einen entsprechenden Beschluss gestellt werden. De lege ferenda sollte die Zulässigkeit von Anträgen nach § 18 InsO von der Beifügung eines notariell beurkundeten Beschlusses abhängig gemacht werden. Für die Aktiengesellschaft: –– In der Aktiengesellschaft besteht bei Eintritt der drohenden Zahlungsunfähigkeit keine Pflicht, eine Hauptversammlung einzuberufen; der in der Auslegung durch die h.M. funktionslose § 92 Abs. 1 AktG sollte gestrichen werden. –– Die Stellung eines Insolvenzantrags nach § 18 InsO sowie (künftig) die Einleitung eines präventiven Restrukturierungsverfahrens setzen in der Aktiengesellschaft im Innenverhältnis keinen Beschluss der Hauptversammlung voraus. Allerdings ist der Vorstand nach § 90 Abs. 1 Nr. 1 AktG verpflichtet, dem Aufsichtsrat über seine Absicht, Insolvenzantrag zu stellen oder ein Restrukturierungsverfahren einzuleiten, zu berichten. Der Aufsichtsrat kann dann ggf. ad hoc eine Zustimmungspflicht nach § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG begründen. 44 Hierauf weisen für die außergerichtliche Sanierung Kebekus/Zenker in FS Maier-Reimer, 2010, 319, 334 zutreffend hin.

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Vorschläge zur Regulierung des Crowdfunding auf EU-Ebene – brauchen wir ein optionales europäisches Instrument?* Inhaltsübersicht I. Fragestellung II. Equity-based Crowdfunding und ­Crowdlending – Schwarmintelligenz und FinTech I II. Der Ansatz der EU im Überblick 1. Level playing field für optionswillige Plattformen 2. Optionales Instrument, Anwendungs­ bereich 3. Der weitere Inhalt des Verordnungs­ vorschlages im Überblick IV. Ausgewählte Einzelfragen

1. Organisatorische Anforderungen an die „Gatekeeper“ 2. Wohlverhaltenspflichten 3. Vermeidung von Interessenkonflikten 4. Keine Compliance-Pflicht? V. Überzeugt das Konzept eines optionalen europäischen Instruments? 1. Level Playing Field 2. Harmonisierung 3. Negative Regelungsarbitrage 4. Überregulierung VI. Zusammenfassung

I. Fragestellung Ulrich Seibert hat über mehrere Dekaden die rechtspolitische Entwicklung des Kapi­ talgesellschaftsrechts maßgeblich und zudem mit viel Geschick und ruhiger Hand mitgestaltet. Zahlreiche wichtige Novellen des Aktienrechts fallen in seine Zeit, angefangen von der Einführung der Kleinen-AG,1 über das KonTraG,2 und das NaStraG3 bis hin zum ARUG,4 um nur einige Meilensteine zu nennen. Seine Zeit im BMJ (später dann auch -V) war durch eine zunehmende Harmonisierung des Gesellschaftsrechts durch die EU (vormals EG, weiland EWG) und durch eine fortschreitende ­Digitalisierung des Rechts geprägt. An der Schnittstelle von Europäisierung und Digitalisierung des Gesellschaftsrechts ist der nachfolgende, ihm gewidmete Beitrag angesiedelt. Die börsennotierte „Kapitalpumpe Aktiengesellschaft“, um das geflügelte Wort des Nestors der deutschen Betriebswirtschaftslehre Eugen Schmalenbach5 auf* Der Beitrag geht auf einen Vortrag zurück, den der Verfasser am 18. Oktober 2018 im Arbeitskreis Finanzmarktgesetzgebung des BMF gehalten hat. Stand der Bearbeitung ist Mitte Oktober 2018. 1 Vgl. dazu nur Seibert/Kiem/Schüppen, Handbuch der kleinen AG, 5. Aufl. 2008. 2 Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich, BGBl. I 1998, 786. 3 Gesetz zur Namensaktie und zur Erleichterung der Stimmrechtsausübung (Namensaktiengesetz NaStraG), BGBl. I 2001, 123. 4 Gesetz zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie (ARUG), BGBl. I 2009, 2479. 5 Aktiengesellschaft außer Dienst, in ZthF, 1 (1949), S. 4 sowie ders., Die Aktiengesellschaft, 1950, S. 12.

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zugreifen, hat zwar bei weitem nicht ausgedient, aber sie hat doch im digitalen Zeitalter Konkurrenz bekommen. Junge Unternehmen (zunächst (1994) als Kleine-AGs, heute (2019) freilich als Start-Ups bezeichnet) finanzieren sich zunehmend nicht über die Börse, sondern über Plattformen im Internet und nutzen dabei die viel zitierte Schwarmintelligenz.6 Das Zauberwort lautet Equity-based Crowdfunding (im Deutschen analog zum Handy auch als Crowdinvesting verbrämt). Plattformen, selbst zunächst meist Start-Ups, sammeln oft in wenigen Tagen hohe Beträge zur Finanzierung von Existenzgründern ein, samt allen damit verbundenen, seit jeher bekannten Risiken.7 Der deutsche Gesetzgeber ist diesem Phänomen 2015 mit einer halbherzigen Kodifikation im Kleinanlegerschutzgesetz begegnet,8 für die der Jubilar freilich keine Verantwortung trägt, da das BMF federführend war. Seither können Gesellschaften bis zu 2,5 Millionen Euro prospektfrei einsammeln, wenn die Vorgaben des VermAnlG beachtet werden, die Plattform u.a. die Unterschrift unter einen Warnhinweis stellt und die Einhaltung gewisser Zeichnungsgrenzen garantiert. Allerdings ist es den Unternehmen aus unerfindlichen Gründen verwehrt, Aktien oder andere Beteiligungen an einer Gesellschaft über Crowdfunding-Plattformen prospektfrei zu emittieren. Vielmehr müssen sie Geld als partiarische Darlehen, Nachrangdarlehen oder als sonstige Vermögensanlage i.S.d. § 1 Abs. 2 Nr. 7 einsammeln.9 Dies könnte sich nun ändern, sollte der Vorschlag der Kommission vom 8.3.2018 für eine Verordnung über Europäische Crowdfunding-Dienstleister für Unternehmen (im folgenden VO)10 Wirklichkeit werden. Damit will die EU ein optionales Regelungsmodell für die Plattformen zur Verfügung stellen. Zwar bleiben die verschiedenen na­ tionalen Regelungen erhalten; wer aber in das Europäische Modell hineinoptiert und eine Zulassung durch die ESMA erhält, darf europaweit Crowdfunding-Dienstleistungen anbieten, ohne einem nationalen Genehmigungserfordernis oder einer Aufsicht durch nationale Behörden zu unterliegen. Die Aufsicht übernimmt ebenfalls die ­ESMA.11 Der Verordnungsvorschlag setzt im Bereich des Equity-based Crowdfunding auf die Emission von Wertpapieren. 6 Frei nach dem Motto eines der Väter des Genossenschaftswesens, Friedrich Wilhelm Raiff­ eisen: „was einer nicht kann, das vermögen viele“. 7 Vgl. zum Crowdfunding und seinen Gefahren statt Vieler: Casper, ZBB 2015, 265, 275 ff.; Armour/Enriques, The Modern Law Review, Vol. 81 (2018), 51-84; Pekmezovic/Walker, Willam & Mary Bus. L. Rev. 7 (2016), 347, 363 ff. jew. m. weit. Nachw. 8 Dazu statt Vieler: Casper, ZBB 2015, 265, 275 ff.; Danwerth, ZBB 2016, 20, 25 ff.; Klöhn/ Hornuf, DB 2015, 47 ff. 9 Kritisch hierzu etwa Klöhn/Hornuf, DB 2015, 47, 50: „geradezu grotesk“; Casper, ZBB 2015, 265, 277: „Völlig verfehlt … und kontraproduktiv“; ähnlich Nietsch/Eberle, DB 2014, 2575, 2579 f.; Bader, WM 2014, 2249, 2254; Bujotzek/Mocker, BKR 2015, 358, 359. 10 COM (2018) 113 final – 2018/0048 (CDO). Die Stellungnahme des EP v. 27.3.2019 wurde erst nach Abschluss dieses Manuskripts veröffentlicht, verfügbar war der Entwurf des Berichterstatters Fox im Ausschuss für Wirtschaft und Währung v. 10.8.2018, dessen finale Fassung am 9.11.2018 veröffentlicht wurde. Auf beides konnte nur noch gelegentlich in den Fußnoten hingewiesen werden. 11 Demgegenüber plädiert der Bericht des EP-Ausschuss für Wirtschaft und Währung (Fn. 10) für eine Zulassung und Beaufsichtigung durch die nationalen Aufsichtsbehörden des jeweiligen Sitzstaates; ebenso jetzt Art. 10, 13 des Vorschlags des EU-Parlaments. Für die ESMA-­

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Regulierung des Crowdfunding auf EU-Ebene

Im Folgenden soll der Inhalt dieses Vorschlags kurz vorgestellt werden, der Ansatz des optionalen Modells bewertet werden, um sodann einige ausgewählte Fragen mit Blick auf den Anwendungsbereich und die organisatorischen Anforderungen an die Crowdfunding-Plattform zu evaluieren, wobei der Anlegerschutz12 aus Raumgründen ausgespart wird, da er für die Beurteilung der Überzeugungskraft eines europäischen optionalen Modells eher von untergeordneter Bedeutung ist. Zu Beginn sind jedoch die Modelle des Crowdfundings nochmals kurz zu skizzieren.

II. Equity-based Crowdfunding und Crowdlending – Schwarmintelligenz und FinTech Beim Crowdfunding wird – vereinfacht ausgedrückt – Geld für einen gemeinsamen Zweck oder ein zu unterstützendes Projekt über das Internet eingesammelt. Außer Betracht bleiben können hier die Fälle, in denen der Geldgeber rein altruistisch handelt und keine Gegenleistung erhält (sog. Crowdsponsoring). Anders als in Frankreich will der Verordnungsvorschlag auch nicht solche Fälle erfassen, in denen dem Anleger – wie etwa bei der Filmförderung – Belohnungen versprochen (sog. crowdfunding with reward model) werden oder ein Vorzugspreis bzw. die erstmögliche Verfüg­ barkeit beim Kauf des mitfinanzierten Produkts gewährt (sog. pre-purchase model) wird.13 Um Unternehmensfinanzierung geht es allein beim equity-based crowdfunding (Crowdinvesting). Insoweit ist eine Dreiecksbeziehung charakteristisch. Der Anleger muss sich zunächst bei der Plattform registrieren und schließt mit dieser einen Nutzungsvertrag, der der Plattform aber gerade nicht die Stellung eines Vermittlers oder gar Anlageberaters zuspricht.14 Entschließt sich der Anleger, ein über die Plattform angebotenes Projekt zu finanzieren, so kommt der entsprechende Vertrag (Zeichnungsvertrag, stille Beteiligung, Genussrecht, partiarisches Nachrangdarlehen etc.) unmittelbar zwischen dem Anleger und dem sich finanzierenden Unternehmen (sog. Projektträger) zustande, es geht also um Primärmarktgeschäfte. Neben diesen eigenkapitalbasierten Schwarmfinanzierungen hat sich in den letzten Jahren auch zunehmend eine Kreditvergabe über das Internet durchgesetzt, wofür sich die Bezeichnung Crowdlending etabliert hat. Bei dem in Deutschland bisher aus regulatorischen Gründen nicht verbreiteten echten Peer-to-Peer-Lending fungiert der Anleger als Darlehensgeber und das sich finanzierende Unternehmen oder die entsprechende Privatperson als Darlehensnehmer.15 Die Plattform hat wiederum nur die Funktion, Lösung spricht prima vista indes der Gedanke eines ausschließlich europäischen Rechtsrahmens. 12 Zum Anlegerschutz demnächst ausführlich Casper in FS K. Schmidt zum 80. Geb., Bd. I 2019, S. 197 ff. 13 Näher zur Terminologie Klöhn/Hornuf, ZBB 2012, 237, 239 sowie zu den Erscheinungsformen am Markt auch Herr/Bantleon, DStR 2015, 532, 533 ff. 14 Vgl. näher, auch zur Rechtsnatur Jansen/Pfeifle, ZIP 2012, 1842, 1843; zu deren Inhalt Klöhn/Hornuf, ZBB 2016, 142  ff.; zum AGB-rechtlichen Wildwuchs in diesem Bereich jüngst Kocher, JZ 2018, 862 ff. mit Blick auf Crowdsourcing. 15 Renner, ZBB 2014, 261 ff.; Polke, Crowdlending oder Disintermediation in der Fremdkapitalvergabe, 2017, S. 31 ff.; sowie demnächst Hertneck, Crowdlending – Aufsichts- und vertragsrechtliche Anforderungen, Diss. Münster, im Erscheinen 2019.

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Angebot und Nachfrage zusammenzuführen, ist aber nicht Vertragspartner der Darlehensverträge. Beim unechten Crowdlending ändert sich die Rolle der Plattform nicht, allerdings kommt der Darlehensvertrag zwischen einem Kreditinstitut und dem Kreditnehmer zustande. Die Bank schließt den Darlehensvertrag jedoch nur in dem Umfang, in dem die Anleger zunächst über die Plattform gezeichnet haben. Anschließend tritt die Bank Teilforderungen aus dem Darlehensvertrag an die Anleger ab, übernimmt aber weiter die Abwicklung des Kreditengagements. Der Verordnungsentwurf will das Crowdlendig ebenfalls erfassen.16 Gleichwohl wird es in diesem Beitrag aus Raumgründen weitgehend ausgeblendet.

III. Der Ansatz der EU im Überblick 1. Level playing field für optionswillige Plattformen Zentraler Gedanke des Verordnungsentwurfs ist die Schaffung eines level playing field für diejenigen Crowdfunding-Plattformen innerhalb Europas, die in die europäischen Vorgaben hineinoptieren. Aufgrund des bisherigen regulatorischen Flickenteppichs fällt es den Plattformen noch schwer, ihre Dienstleistungen europaweit anzubieten. Während in Deutschland die Beaufsichtigung durch die Gewerbeämter stattfindet und eine Zulassung durch die Finanzaufsicht nicht notwendig ist, ist in Frankreich eine Kontrolle durch die Finanzaufsicht vorgesehen; außerdem müssen deutlich höhere regulatorische Anforderungen eingehalten werden, zumindest wenn die Plattform als Schwarm­finanzierungsvermittler und nicht nur als Schwarminvestmentberater zu qualifizieren ist.17 Große Unterschiede bestehen auch bei der Frage, bis zu welcher Höhe die Plattformen prospektfrei Gelder einsammeln können. In Frankreich ist die Grenze bei einer Million Euro festgesetzt, in Deutschland und den ­Niederlanden sind es hingegen 2,5 Millionen Euro, während im Vereinigten Königreich und in Italien sogar bis zu 5 Millionen Euro ohne Erstellung eines Wertpapierprospekts eingesammelt werden können.18 Erhebliche Abweichungen gibt es zudem im Bereich des Anlegerschutzes. Deutschland setzt auf eine zwingende Risikodiversifizierung, indem der Anleger grundsätzlich nur 1000 Euro pro Finanzierungsvorha16 Differenziert aber zu wenig zwischen Crowdinvesting und Crowdlending, zu Recht krit. deshalb European Crowdfunding Network, Support for – and Proposed Improvements to – the European Commission Proposal for a Regulation on European Crowdfunding Service Providers (ECSP) for business v. 3.7.2018, S. 2, 4 (verfügbar unter https://eurocrowd.org/ >facts >Positions and White Papers); ebenso EP Ausschuss für Wirtschaft und Währung (Fn. 10), S. 52, der insoweit technische Regulierungsstandards der ESMA anmahnt. 17 Vgl. zum Unterschied sowie ausführlich zum Crowdfunding in Frankreich Clasen, RIW 2015, 334 ff., insbes. 348 ff. 18 Sec. 85(5) (as) i.V.m. Schedule 11A Part 2 para. 9; zur Rechtslage in UK vgl. etwa Pekmezovic/Walker, Willam & Mary Bus. L. Rev. 7 (2016), 347, 431  ff.; dort auch zu Italien aaO S. 441 f.; weit. Nachw. zu Italien bei Casper, ZBB 2015, 265, 276 m. Fn. 114. Zu der teilweise als Vorbild herangezogenen Regelung in den USA vgl. überblicksartig Casper aaO S. 276 sowie monographisch jetzt Schuster, Die Regulierung von Investment Crowdfunding in den USA, 2018, S. 121 ff.

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ben zeichnen darf. Dieses Limit kann er aber auf 10000 Euro hochsetzen, wenn der Anleger im Wege der Selbstauskunft darlegt, dass sein freiverfügbares Vermögen über 100000 Euro liegt. Anderenfalls darf er maximal den zweifachen Betrag seines durchschnittlichen monatlichen Nettoeinkommens, höchstens jedoch 10000 Euro investieren, wobei es wiederum auf eine Selbstauskunft ankommt. Frankreich kennt Zeichnungsgrenzen nur im Bereich des Crowdlendings, diese liegen dort bei 1000 Euro für verzinsliche und 4000 Euro für unverzinsliche Darlehen.19 Andere Rechtsordnungen wie z.B. die Niederlande verzichten ganz auf Zeichnungsgrenzen.20 Neben Ländern mit maßgeschneiderten Regulierungsansätzen gibt es aber auch solche, die Crowdfunding dem strikten Regime der MiFID unterstellen, während es auf der anderen Seite der Bandbreite wiederum Rechtsordnungen gibt, die gänzlich auf eine Regulierung von Crowdfunding verzichten.21 2. Optionales Instrument, Anwendungsbereich Der Vorteil des Hineinoptierens in die geplante VO soll darin liegen, dass nach Art. 10 Nr. 8 VO die Zulassung durch die ESMA „im gesamten Gebiet der Union wirksam und gültig“ ist. Dies geht noch über das traditionelle EU-Passporting22 hinaus, bei dem die Zulassung durch eine nationale Aufsichtsbehörde neben dem Zugang zum nationalen Markt auch den Zugang zu anderen Mitgliedstaaten ermöglicht, ohne dort eine neue Zulassung nach dem nationalen Recht beantragen zu müssen. Denn hier wird die Zulassung auf europäischer Ebene erteilt und wirkt somit auch EU-weit – man kann deshalb von einem originären EU-Pass sprechen.23 Etwas versteckt begrenzt der Verordnungsvorschlag den Anwendungsbereich auf ­Gesellschaften, die in das europäische System hineinoptiert haben, indem er formuliert: „Diese Verordnung gilt nicht für … Crowdfunding-Dienstleistungen, die von natürlichen oder juristischen Personen nach nationalem Recht“ erbracht werden (Art. 2 Abs. 2 lit. c VO).24 Zugleich wird in Buchstabe d) das Verhältnis zur bisherigen EU-Prospektrichtlinie (RL 2003/71/EG) klargestellt, indem der Anwendungsbereich auf Crowdfunding-Projekte begrenzt wird, die einen “Gesamtgegenwert“ von 1000000 Euro oder weniger haben, „wobei dieser über einen Zeitraum von 12 Monaten in Bezug auf ein bestimmtes Crowdfunding-Projekt berechnet wird“. Damit liegt der Verordnungsentwurf an der unteren Bandbreite für die Prospektfreiheit und greift 19 Zu den Details vgl. Clasen, RIW 2015, 334, 336. 20 Zur Rechtslage in den Niederlanden und in anderen EU-Staaten vgl. den Überblick unter https://eurocrowd.org/ >facts >Crowdfundig by country. 21 COM (2018) 113 final, S. 3. 22 Dazu vgl. nur Art.  6 Abs.  3, 34 RL 2015/65/EU sowie etwa Nemeczek/Pituz, WM 2017, 120 f.; Moloney, EU Securities and Financial Markets Regulation, 3.ed. 2014, S. 396 ff. 23 Wohl nur in terminologischer Sicht abweichend Will/Quarch, WM 2018, 1481, 1485, die sich gegen die Bezeichnung „europäischer Pass“ sperren und diese Bezeichnung wohl für die bisher bekannten Fälle reservieren wollen. Wie hier auch COM (2018) 109 final S. 5, 9 und 10: „EU-Pass“. 24 Deutlicher bringt diese Intention Erwägungsgrund 25 zum Ausdruck: „ohne dabei unterschiedlichen Vorschriften zu unterliegen“.

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insbesondere nicht die Flexibilität der neuen Prospekt-VO (VO EU 2017/1129) auf.25 Dies ist allerdings konsequent, da auch nach Art. 1 Abs. 3 VO EU 2017/1129 die Pros­ pektfreiheit grundsätzlich auf eine Mio. Euro eingesammeltes Kapital begrenzt bleibt und es allein den Mitgliedstaaten gestattet wird, diese Grenze auf bis zu 8 Mio. Euro hochzusetzen, wobei sie dies an zusätzliche Offenlegungspflichten knüpfen können, die „keine unverhältnismäßige oder unnötige Belastung darstellen“ (Art.  1 Abs.  3 ­Unterabs. 2 Satz 2 VO EU 2017/1129).26 Ferner stellt Art. 2 Abs. 2 lit. b VO klar, dass die MiFID vorrangig ist. Verfügt eine Crowdfunding-Plattform bereits über eine Zulassung als Wertpapierfirma i.S.v. Art. 7 RL 2014/65/EU, so kann sie nicht in das op­ tionale Instrument hineinoptieren.27 Dies wird Plattformen in solchen EU-Staaten, in denen Crowdfunding nur nach den Vorgaben der MiFID reguliert ist, Probleme bereiten. Sie müssten dann eine neue (Tochter-)Gesellschaft gründen, die in den europäischen Rechtsrahmen optiert oder ihre bisherige (nationale) MiFID-Zulassung zurückgibt. Beiden Ausnahmeregelungen lässt sich zudem entnehmen, dass das geplante europäische Instrument eine gewisse Exklusivität anstrebt. Doppelregistrierungen nach dem nationalen Recht und nach der geplanten VO sind nicht gewollt.28 Damit ist die Hoffnung verbunden, dass sich eine Vielzahl von Plattformen dem neuen Recht unterwirft, sodann erfolgreich in ganz Europa Projekte anbietet und infolgedessen andere Plattformen nachziehen. Ob sich dies bestätigen wird, ist zweifelhaft, da die regulatorischen Anforderungen nach der VO erheblich sind. Eine endgültige Bewertung des Ansatzes ist noch zu vertagen (vgl. dazu sub V.), da hierzu zunächst ein vollständiger Überblick über den Regulierungsansatz notwendig ist. Zur Frage des Anwendungsbereichs gehört auch die Definition des Begriffs „Crowdfunding-Dienstleistung“ in Art. 3 Abs. 1 lit. a VO. Danach zählt nur das Zusammenführen von Investoren und Projektträgern durch die Vermittlung von Krediten und bei der Platzierung von übertragbaren Wertpapieren als eine Crowdfunding-Dienstleistung. Letztere werden durch den Verweis auf Art.  1 Nr.  44 RL 2014/65/EU (­MiFID)29 definiert, der auf die Handelbarkeit am Kapitalmarkt abstellt. Damit werden nicht nur Aktien und alle klassischen Schuldverschreibungen erfasst, sondern auch 25 A.A. European Crowdfunding Network (Fn.  16), S.  2, 4; EP Ausschuss Wirtschaft und Währung Stand August 2018 (Fn. 10), S. 8, 23. Auch das EU-Parlament (Fn. 10) plädiert jetzt für eine Grenze von 8 Mio. Euro. 26 Deutschland hat von der Option mit dem Gesetz zur Ausübung von Optionen der EUPros­pektverordnung Gebrauch gemacht und die Obergrenze von 8 Mio. Euro ausgereizt und dafür aber eine Kurzinformation und Zeichnungsgrenzen eingeführt, vgl. §§ 3a-3c n.F. WpPG sowie näher dazu Klöhn, ZIP 2018, 1713, 1716 ff.; Voß, ZBB 2018, 305, 306 ff.; Poelzig, BKR 2018, 357, 358 ff. 27 Dies soll auch für die MiFID klargestellt werden, vgl. COM (2018) 99 final 2018/0047 (COD), S 5 f.; dagegen aber der Bundesrat in seiner Stellungnahme, BR-Drucks. 69/18 (B), Nr. 5, S. 2 f. 28 Ebenso Erwägungsgründe 2 und 25 sowie Will/Quarch, WM 2018, 1481, 1485, die zudem wohl davon ausgehen, dass auch eine national registrierte Plattform den Antrag auf Registrierung bei der ESMA stellen kann und damit ihre nationale Zulassung verliert. 29 In Deutschland durch § 2 Abs. 1 WpHG umgesetzt.

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sämtliche Anteile an anderen Gesellschaftsformen, sofern diese übertragbar sind. Auf eine Verbriefung kommt es nicht an, da dieses Merkmal nur im Zusammenhang mit Schuldverschreibungen vorkommt. Genussrechte deutscher Prägung werden ebenfalls erfasst (vgl. Art. 4 Nr. 44 lit. a Alt. 2 RL 2014/65/EU). Nicht erfasst werden hingegen stille Beteiligungen, da diese nicht übertragbar sind (VO Erwägungsgrund 11). Ob auch übertragbar gestellte Beteiligungen an einer Kommanditgesellschaft erfasst sind, ist nicht gänzlich geklärt,30 braucht hier aber nicht abschließend entschieden zu werden. Auffällig ist jedoch, dass die in Deutschland vorherrschenden partiarischen Nachrangdarlehen nicht erfasst sind. Nun könnte man freilich auf die Idee kommen, diese unter den Begriff Kredit in Art.  3 Abs.  1 lit. a VO zu subsumieren. Dagegen spricht jedoch, dass ausweislich der Erwägungsgründe (vgl. insbesondere Nr. 1) hiermit nur Crowdlending-Plattformen erfasst werden sollen, die die Finanzierung mit Fremdkapital sicherstellen. Diese vergeben aber stets nur reguläre Kredite (also ver­ zinsliche Darlehen) und nicht Sonderformen des Darlehens, die zumindest in regulatorischer Hinsicht als Eigenkapital zu qualifizieren sind. Ob man dabei stehenbleiben kann, wird sich weisen müssen. Jedenfalls sollte man im Laufe der weiteren rechts­ politischen Diskussion über eine Erweiterung diskutieren. Denn aus Sicht des sich finanzierenden Unternehmens ist es oft einerlei, ob man ein Genussrecht oder ein partiarisches Nachrangdarlehen verwendet. Dies gilt erst recht aus der Sicht des Anlegers, der unabhängig von der gewählten Vertragsform in aller Regel einem doppelten Risiko ausgesetzt ist, nämlich dem Ausfall seiner gewinnabhängigen Vergütung/ Verzinsung und dem Totalausfallrisiko im Fall einer Insolvenz der Projektgesellschaft. Mit Blick auf die bisherige Beschränkung der europäischen Regulierung auf Finanzprodukte könnte es freilich politisch opportun sein, den Bereich der Vermögensanlagen weiterhin ganz in der Regelungshoheit der Mitgliedstaaten zu belassen. Wenig sinnvoll scheint demgegenüber der Vorschlag, in den Anwendungsbereich auch noch das Initial Coin Offering (ICO) einzubeziehen,31 auch wenn einige der h ­ ierüber offerierten Tokens eine gewisse Ähnlichkeit zum Crowdfunding aufweisen, da die zu regulierenden Rechtsfragen noch näherer Analyse bedürfen und den derzeitigen politischen Prozess überfrachten würden. Entgegen dem missverständlichen Titel der VO „Crowdfunding-Dienstleister für Unternehmen“ und einer entsprechenden Formulierung auf S. 2 des Verordnungsvorschlages vor den Erwägungsgründen, ist der Anwendungsbereich nicht auf Crowdfunding-Dienstleistungen beschränkt, die Unternehmen angeboten werden. Dass auch Angebote an Verbraucher erfasst sind, ergibt sich deutlich aus dem Wortlaut des Art. 2 VO, der allein in Abs. 2 lit. a Projektträger ausnimmt, die als Verbraucher i.S.d. 30 Nach h.M. sind Kommanditbeteiligungen nicht von § 2 Abs. 1 Nr. 2 WpHG erfasst, da es an der Fungibilität fehlt. Richtigerweise hat die Erwähnung von Anteilen an Personengesellschaften nur klarstellende Funktion und es kommt bei Kommanditbeteiligungen entscheidend auf deren Standardisierung an, d.h. darauf, dass alle Anteile die gleiche Ausstattung aufweisen, vgl. näher zum Ganzen Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 7.  Aufl. 2019, §  2 WpHG Rz.  17  ff.; Schäfer/Hamann, Kapitalmarktgesetze, 2. Aufl. Band I (Loseblattsammlung, Stand April 2012), § 2 Rz. 9; Fuchs in Fuchs, WpHG, 2. Aufl. 2016, § 2 Rz. 23 f. 31 So EP Ausschuss Wirtschaft und Währung (Fn. 10), S. 8, 30.

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RL 2008/48/EG anzusehen sind. Damit soll Verbrauchern beim Crowdlending allein die Rolle als Kreditnehmer verwehrt werden, um einen Vorrang der Verbraucherkreditrichtlinie sicherzustellen. 3. Der weitere Inhalt des Verordnungsvorschlages im Überblick Der Inhalt der VO ist in acht Kapital gegliedert. Nach dem ersten Kapitel mit den Begriffsbestimmungen und der Festlegung des Anwendungsbereichs werden im zweiten Kapitel zunächst die Anforderungen an eine Plattform in den Blick genommen. Dies ist ein deutlicher Vorteil gegenüber dem bisherigen Regulierungsansatz in Deutschland, der die Plattformen nur hinsichtlich der Kontrolle der Zeichnungsgrenzen und der Warnhinweise adressiert. Der weitergehende europäische Ansatz ist daher insofern sinnvoll, als dadurch den Plattformen eine zentrale Funktion als „Gatekeeper“ zukommt,32 da sie nicht nur die Plattform betreiben und damit Angebot und Nachfrage zusammenbringen, sondern oft auch eine Vorauswahl treffen. Denn eine Plattform kann langfristig selber nur überleben, wenn sie Projekte, die scheitern und bei denen die Anleger somit ausfallen, auf ein gewisses Niveau begrenzt. Zentrale Vorschrift ist dabei Art. 4 VO, der bestimmte Wohlverhaltenspflichten statuiert, die sogleich unter IV.2. näher zu beleuchten sein werden. Art. 5 statuiert die Pflicht der Geschäftsleitung, interne Regelungen „zur Sicherstellung einer wirksamen und umsichtigen Leitung“ aufzustellen. Neben weiteren Vorgaben zum Beschwerdemanagement (Art.  6 VO) und zur Begrenzung der Auslagerung betrieblicher Aufgaben (Art. 8 VO) ist wieder Art. 7 VO zentral, der Interessenkonflikte regelt, auf die sogleich noch näher zurückzukommen sein wird. Ebenfalls der Regulierung der Plattform ist das dritte Kapitel gewidmet, das Anforderungen an die Zulassung, die Voraussetzungen für einen möglichen Widerruf sowie die Grundlage für die Beaufsichtigung durch die ESMA regelt. Die Vorgaben in Art. 10 VO wirken auf den ersten Blick sehr kleinteilig und für kleinere Plattformen abschreckend. Erkennt man jedoch, dass es sich hierbei neben den Anforderungen an die Geschäftsleitung (Art. 10 Abs. 1 lit. i i.V.m. Art. 10 Abs. 3 VO) vor allem um Pläne zur Geschäftstätigkeit sowie Dokumentation handelt, dürften die Zugangshürden nicht allzu abschreckend und unerfüllbar sein.33 Nimmt man hinzu, dass es keine Mindestkapitalanforderungen an die Crowdfunding-Plattform gibt, wie dies im Vorfeld als eine Regulierungsoption angedacht war,34 und zudem keine regulatorische Pflicht zum Aufbau einer Compliance-Abteilung gefordert wird, lässt sich zumindest im Vergleich zur MiFID sagen, dass die regulatorischen Anforderungen an Crowdfunding-Plattformen deutlich geringer sind, wenngleich nicht zu verkennen ist, dass sie um einiges höher sind als die bisherigen nationalen Anforderungen in den meisten EU-Staaten. Letzteres gilt insbesondere für Deutschland. 32 Vgl. zu dieser Filter- und Garantenfunktion nur Kraakman, Yale Law Journal 93 (1983/84), 857, 888 ff.; Klöhn/Hornuf, ZBB 2012, 237, 269 f.; Danwerth, ZBB 2016, 20, 36; Casper, ZBB 2015, 265, 280. 33 In der Praxis dürfte vor allem die Beschreibung von Regeln zur Geschäftsfortführung im Krisenfall (Art. 19 Abs. 1 lit. g VO) eine hohe Hürde aufbauen. 34 Vgl. den Bericht in der VO auf S. 8.

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Das vierte Kapitel ist dem Anlegerschutz gewidmet. Die anlegerschützenden Vorschriften setzen vor allem auf Information. Dies beginnt mit Art. 14 VO, der fordert, dass Informationen, die die Plattform (in der Regel freiwillig) erteilt, „klar, verständlich, vollständig und genau“ sein müssen, ohne dabei ein Mindestmaß an Informa­ tionen zu statuieren. Ein Mindestmaß an Informationen wird jedoch in Art. 16 VO vorgesehen, der zur Erstellung eines Basisinformationsblatts (BIB) zwingt. Die Erstellung dieses BIB obliegt jedoch nicht dem Emittenten, sondern dem Projektträger. Allerdings darf die Plattform ein Angebot nur dann machen, wenn sie potentiellen Investoren ein BIB zur Verfügung stellen kann. Dieses muss den schon aus dem deutschen Recht (§ 13 Abs. 4 VermAnlG) bekannten Warnhinweis erhalten, dass die Investition mit dem „Risiko eines teilweisen oder vollständigen Verlusts des investierten Geldes“ verbunden ist (Art.  16 Abs.  2 lit. c VO). Eine Unterzeichnung dieses Warnhinweises zur Dokumentation der Kenntnisnahme wird von der VO nicht gefordert. Zum Anlegerschutz durch Information zählt zudem Art.  19 VO, wonach Werbung der Crowdfunding-Plattform (sog. Marketingmitteilungen) nur die Plattform im Allgemeinen bewerben dürfen, nicht aber auch konkrete Projekte. Auf Zeichnungsgrenzen wie in §  2a Abs.  3 VermAnlG verzichtet der Verordnungsvorschlag und setzt dafür auf das Konzept des Investorentests, den dieser absolvieren muss, bevor er ein Crowdfunding-Projekt zeichnen darf. Allerdings ist der Anleger nicht gehindert, das Investment auch dann zu zeichnen, wenn der Test ergibt, dass seine Erfahrungen dafür nicht ausreichend sind. Die Idee, die sich hinter diesem Test verbringt, ist eine Nutzung des Priming-Effekts und somit das Setzen eines Signals an den Anleger, die Finger von dem über die Crowdfunding-Plattform angebotenen Investment zu lassen. Anders als bei der Zeichnungsgrenze, die als hart paternalistische Regelung qualifiziert werden kann,35 bleibt der Anleger hier also in seiner Investi­ tionsentscheidung frei, wird aber zuvor darüber informiert, dass seine finanziellen Mittel bzw. seine Erfahrungen für eine Investition über die Plattform ungeeignet sind. Das sechste Kapitel des Vorordnungsentwurfs regelt ausführlich die Beaufsichtigung der Crowdfunding-Plattform durch die ESMA, die Kooperation mit nationalen Behörden sowie die Verwaltungssanktionen bei Verstößen gegen die VO, die nicht nur Geldbußen und Zwangsgelder, sondern auch das im europäischen Recht inzwischen übliche Naming and Shaming umfassen (vgl. Art. 30 VO).

IV. Ausgewählte Einzelfragen 1. Organisatorische Anforderungen an die „Gatekeeper“ Verglichen mit der bisherigen Rechtslage in Deutschland bestehen gesteigerte Anforderungen an die Zulassung, da Crowdfunding-Plattformen nach bisherigem Recht allein der Aufsicht der Gewerbeämter unterliegen und somit nur die Einhaltung der Zeichnungsgrenzen und die Rücksendung des unterschriebenen Warnhinweises auf dem Vermögensanlageblatt sicherstellen müssen. Ob die europäischen Anforderungen prohibitiv wirken, kann man derzeit noch nicht absehen, aber es streiten einige 35 Casper, ZBB 2015, 265, 278 f.

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Argumente für eine derartige Vermutung, da dem Zulassungsantrag zahlreiche Unterlagen beizufügen sind. Keine Schwierigkeiten bereiten die Angabe der Rechtsform oder der Adresse. Aber die Vorlage eines Geschäftsplans, aus dem die Arten der geplanten Dienstleistungen der potentiellen Plattform hervorgehen, kann je nach Verwaltungspraxis der ESMA für ein neu zu gründendes Unternehmen anspruchsvoller, letztlich aber wohl zu bewältigen sein. Mehr Aufwand bzw. Beratung wird aber schon die Erstellung einer Beschreibung der Regelungen zur Unternehmensführung und der internen Kontrollmechanismen erfordern, mit denen die Einhaltung der Vor­ gaben der VO einschließlich der Risikomanagement- und Rechnungslegungsverfahren dargelegt werden müssen. Dies setzt zumindest de facto die Einrichtung einer Compliance-Abteilung innerhalb des Unternehmens voraus. Auch wenn die VO auf die Vorgabe eines Mindestkapitals – abweichend von der Rechtslage in einigen Mitgliedstaaten – verzichtet, wird der Aufsicht doch eine Kontrolle der Kapitalausstattung der Crowdfunding-Plattform gestattet, da die Plattform im Rahmen der Zulassung darlegen muss, welche Regelungen zur Geschäftsfortführung im Krisenfall existieren. Wer über kein ausreichendes Kapital verfügt, wird dies kaum darlegen können, wenn er nicht eine Versicherung präsentiert, die in der Krise laufende Transaktionen abwickelt. Ob die ESMA gestützt auf Art. 10 Abs. 2 lit. g VO für jede Crowdfunding-Plattform eine derartige Versicherung fordern wird, bleibt abzuwarten, scheint in der Norm aber nicht angelegt. Schließlich muss nach Art. 10 Abs. 2 lit. i sowie Abs. 3 VO nachgewiesen werden, dass die Geschäftsleitung über ausreichend Kenntnisse und Berufserfahrung für die Leitung einer Crowdfunding-Plattform verfügt und „gut beleumundet“ ist.36 Außerdem muss dargelegt werden, dass die Mitglieder der Geschäftsleitung über ausreichend Zeit für die Erfüllung ihres Amts verfügen, was gegen die Leitung einer Crowdfunding-Plattform im Nebenamt streitet. Diese Anforderungen gehen zwar nicht so weit wie die Vorgaben in § 25c KWG,37 kommen ihnen aber doch schon recht nahe. Es liegt nicht fern, dass sich die ESMA an den hierzu entwickelten Details orientieren wird.38 Auch die Beschreibung von Auslagerungsvereinbarungen kann Sprengstoff im Detail bilden. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Zulassungsanforderungen aus Sicht deutscher Plattformen erheblich höher sind, deutlich mehr Beratungsaufwand generieren und auch Folgekosten durch einen faktischen Compliance-Zwang beinhalten. Es steht deshalb zu vermuten, dass diese Anforderungen auf viele Plattformen eher

36 Letzteres wird im Deutschen meist als Zuverlässigkeit verstanden (ebenso Will/Quarch, WM 2018, 1481, 1487) und dürfte über den nach Art. 10 Abs. 3 lit. a VO geforderten Nachweis hinausgehen, dass keine Vorstrafen in den Bereichen des Handels-, Insolvenz- und Kapitalmarktrechts vorliegen. 37 Insbesondere fehlt der Zusatz wie in § 25c Abs. 1 Satz 3 KWG, dass die Leitungserfahrung regelmäßig anzunehmen ist, wenn bereits seit drei Jahren in einem anderen Institut eine leitende Tätigkeit ausgeübt wurde. 38 Aus deutscher Perspektive vgl. etwa BaFin, Merkblatt zu den Geschäftsleitern gemäß KWG, ZAG und KAGB v. 4.1.2016 (geändert am 6.3.2019), https://www.bafin.de/SharedDocs/ Veroeffentlichungen/DE/Merkblatt/mb_geschaeftsleiter_KWG_ZAG_KAGB.html (zuletzt besucht am 13.4.2019).

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abschreckend wirken werden, denn die zusätzlichen Kosten müssen durch einen gestiegenen Gewinn aus einer EU-weiten Tätigkeit ausgeglichen werden. 2. Wohlverhaltenspflichten Ebenfalls eine höhere Hürde als im bisherigen deutschen Recht statuiert Art. 4 VO, der der Erbringung von Crowdfunding-Dienstleitungen gewidmet ist und in Abs. 2 weitgehende Wohlverhaltenspflichten aufstellt, wonach die Crowdfunding-Dienstleister ehrlich, fair und professionell sein müssen und im besten Interesse ihrer potentiellen Kunden zu handeln haben. Der Wortlaut von Art. 4 Abs. 2 VO deckt sich somit fast wörtlich mit demjenigen von §  63 WpHG, der die entsprechende Vorgabe in Art. 24 Abs. 1 MiFID II umsetzt. Damit wird man sich an der Auslegung zu Art. 24 Abs. 1 MiFID II orientieren können. Ohne hier in die Einzelheiten zu gehen: Plattformen, die mit einer Option in das europäische Modell liebäugeln, werden hier erhebliche regulatorische Gefahren wittern und vor allem einen nicht unbeträchtlichen Compliance-Aufwand betreiben müssen. Gleichwohl ist die Stoßrichtung der Regelung nachhaltig zu begrüßen. Der Plattform kommt eine wichtige Funktion als Gatekeeper zu (oben III.3.), wodurch sie das Vertrauen der Anleger in Anspruch nimmt. Insbesondere hat sie eine wichtige Filterfunktion bei der Auswahl von Projekten, die überhaupt zur Finanzierung zugelassen werden. Insoweit wird man der Plattform in der Tat abverlangen müssen, dass sie ehrlich, fair und professionell dieser Aufgabe nachkommt. Die Regelung stellt bei näherer Betrachtung vermutlich auch im Vergleich zu Ländern wie Deutschland, die die Crowdfunding-Plattform bisher eher gering oder gar nicht reguliert haben,39 keine drastische Verschärfung der Rechtslage dar. Denn auch bereits heute wird man im Wege der Vertragsauslegung dem Plattformnutzungsvertrag gewisse individualvertragliche Wohlverhaltenspflichten entnehmen können.40 Eine – zumindest aus deutscher Sicht – neue Anforderung ist das Offenlegungserfordernis von Parametern bei der Ermessensausübung von Kundenaufträgen (Art.  4 Abs. 4 VO). Mit Kundenaufträgen sind nicht nur die der Anleger, sondern auch diejenigen der Projektgesellschaften gemeint (Art. 3 Abs. 1 lit. e VO),41 wenngleich die Norm in erster Linie auf die Anleger abzuzielen scheint. Im traditionellen Crowd­ investing leitet die Plattform den Auftrag des Anlegers nur durch und vermittelt den Vertrag zwischen Anleger und Projektgesellschaft. Gerade im Bereich des Crowd­ lendings ist aber oft zu beobachten, dass der Anleger der Plattform die Auswahl einzelner Kredite oder Anlagen überlässt; diese greift hierbei teilweise auf Algorithmen zurück.42 In diesem Zusammenhang muss die Crowdfunding-Plattform nun darlegen, inwieweit ihre Ermessensausübung dazu dient, das bestmögliche Ergebnis für den Kunden zu erzielen. Diese Verpflichtung zielt in Richtung von Best Execution, 39 Kritisch dazu etwa Casper, ZBB 2015, 265, 280 f.; Danwerth, ZBB 2016, 20, 36 ff. 40 In diese Richtung etwa Jansen/Pfeifle, ZIP 2012, 1842, 1850: Primärpflicht über die für die Anlageentscheidung relevanten Informationen ist richtig und vollständig zu erteilen. 41 Krit. dazu Will/Quarch, WM 2018, 1481, 1487 im Anschluss an European Crowdfunding Network (Fn. 16), S. 6 f. 42 Vgl. den Überblick bei Will/Quarch, WM 2018, 1481, 1482, 1487.

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wie man sie aus § 82 WpHG kennt.43 Allerdings bleibt sie doch deutlich dahinter zurück. Für die Frage, ob diese Vorgabe auf potentielle Kandidaten abschreckend wirkt, sollte man sich vor Augen halten, dass die Plattform den damit verbundenen Aufwand vermeiden kann, indem sie kein Ermessen bei der Ausführung von Kundenaufträgen ausübt. Für mit Algorithmen arbeitende Crowdlending-Plattformen dürfte diese Offenlegung aber mit einer nicht unerheblichen Rechtsunsicherheit verbunden sein, auch wenn kaum gemeint sein kann, dass die Plattformen die Details der Al­ gorithmen oder sogar die dazugehörigen Quellcodes offenlegen müssen.44 Insoweit muss es mit einer abstrakten Beschreibung sein Bewenden haben. Schließlich statuiert Art. 4 Abs. 3 VO, dass der Crowdfunding-Dienstleister keinerlei Entgelt oder sonstigen monetären Vorteil dafür erhalten darf, dass er Aufträge von Anlegern zu einem bestimmten Crowdfunding-Angebot leitet. Damit werden sowohl offene als auch versteckte Vergütungen verboten, was im Zusammenhang mit der Vermeidung von Interessenkonflikten (Art. 7 VO) steht und in jeder Hinsicht zu begrüßen ist. Bei versteckten Rückvergütungen könnte man schon auf die Rechtsprechung zu den sog. Kick-Backs zurückgreifen, die im Bereich des Wertpapierrechts vor der Einführung des § 70 WpHG entwickelt wurde.45 Art. 4 Abs. 3 VO verbietet allerdings nicht, dass die Plattform von den Projektgesellschaften Gebühren erhebt. Vermieden werden soll nur eine Bevorzugung einzelner Angebote.46 Ob damit auch gestaffelte bzw. differenzierende Gebühren verboten werden, ist eine offene Frage. Allerdings scheint das nach dem Telos der Vorschrift nicht veranlasst. Höhere Gebühren für kleinere Finanzierungsvolumen oder Ermäßigungen für solche Gesellschaften, die zum wiederholten Male über die Plattform finanzieren, sollten ebenfalls weiterhin möglich sein, solange eine derartige Gebührenpolitik nicht zu einer Bevorzugung einzelner Projekte bei der Zusammenführung von Angebot und Nachfrage führt.47 3. Vermeidung von Interessenkonflikten Ein wesentlicher Eckstein der Verhaltenspflichten bildet die Regelung zur Vermeidung von Interessenkonflikten in Art. 7 VO. Die Regelung fußt auf zwei Säulen, zum einen der im Kapitalmarktrecht bekannten Trias von Vermeiden, Erkennen und Abstellen sowie Offenlegung, zum anderen auf Geschäftsbeschränkungen. Hinsichtlich der ersten Säule besteht eine klare Ähnlichkeit zu Art. 23 Abs. 1 MiFID II. Auch diese 43 Vgl. dazu weiterhin grundlegend Bracht, Die Pflicht von Wertpapierdienstleistungsunternehmen zur bestmöglichen Ausführung von Kundenaufträgen (Best Execution), 2009, ­passim. 44 Zutreffend Will/Quarch, WM 2018, 1481, 1487. 45 BGH NJW 2009, 1416; BGH NJW 2009, 2298; BGHZ 170, 226; weit. Nachw. bei Casper, ZIP 2009, 2409, 2411 f. m. weit. Nachw. Einen derartigen Rückgriff erwägend Jansen/Pfeifle, ZIP 2012, 1842, 1850. 46 Ähnlich Will/Quarch, WM 2018, 1481, 1487. 47 Ähnlich European Crowdfunding Network (Fn. 16), S. 5 unter Hinweis auf das problematische Verbot einer “carry fee”, bei der die Plattform an späteren Erträgen des Anlegers aus dem Investment partizipiert.

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Vorschrift dürfte einen nicht unerheblichen Compliance-Aufwand verursachen. Dies gilt umso mehr als Abs. 3 wirksame interne Vorschriften zur Verhinderung von Interessenkonflikten verlangt, wobei diese Anforderung durch eine Durchführungsverordnung (vgl. Art. 7 Abs. 7 lit. a VO) im Detail präzisiert werden kann. Dies schafft abermals einen zumindest mittelbaren Zwang, eine Compliance-Abteilung einzurichten. Daneben wird untersagt, dass sich der Crowdfunding-Dienstleister selbst oder eine ihm nahestehende Person an Crowdfunding-Angeboten kapitalmäßig beteiligt (Art. 7 Abs. 1 und 2 VO). Zu diesen nahestehenden Personen zählen maßgeblich beteiligte Gesellschafter der Crowdfunding-Plattform (definiert als mindestens 20 % der Kapitalanteile oder Stimmrechte), die Mitglieder der Geschäftsleitung sowie solche Personen, die mit den Geschäftsleitern oder den Ankeraktionären verbunden sind, sodass sie Kontrolle ausüben können. Zur Bestimmung der engen Verbindung wird auf Art. 4 Abs. 1 Nr. 35 MiFID II verwiesen, der vor allem konzernrechtliche Beziehungen in den Blick nimmt. Nahestehende Personen (Ehegatten, Kinder etc.) sind somit – anders als in Art. 19 Abs. 1 MAR – nicht erfasst, dies leuchtet nicht unmittelbar ein. Kritisiert wird zudem, dass mit Art. 7 Abs. 1 VO ein in der Crowdfunding-Industrie nicht ganz seltenes Modell verhindert wird, bei dem sich der Inhaber der Crowdfunding-Plattform ebenfalls an der Projektgesellschaft beteiligt und somit im Wege des Signaling zum Ausdruck bringt, dass er von diesem Projekt überzeugt ist (sog. skin in the game).48 Diese Kritik ist berechtigt. Ein Kompromiss könnte darin liegen, dass sich die Plattform oder die nahestehende Person bereits vor dem öffentlichen Angebot an der Projektgesellschaft beteiligt und dies entsprechend offenlegt.49 Denn Interessenkonflikte drohen vor allem dann, wenn Mitglieder der Geschäftsleitung mit den regulären Kunden konkurrieren und z.B. bei einer Überzeichnung bevorzugt würden. 4. Keine Compliance-Pflicht? Anders als die MiFiD sieht der Verordnungsentwurf keine Pflicht vor, eine Compliance-­ Abteilung aufzubauen. Abgesehen davon, dass sich im Einzelfall eine Compliance-­ Pflicht aus allgemeinen, aktienrechtlichen Grundsätzen ergeben kann,50 wird man sich de facto schwer vorstellen können, dass eine nach der VO regulierte Crowd­ funding-Plattform ohne eine Complinace-Funktion auskommt. Wie bereits zuvor gezeigt, muss nicht nur bei der Zulassung auf die Einhaltung zahlreicher Pflichten geachtet werden, sondern auch im fortlaufenden Betrieb. Damit wird sich der Aufbau einer Compliance-Abteilung oder zumindest die Einsetzung eines Compliance-Be48 Will/Quarch, WM 2018, 1481, 1488 unter Verweis auf die Plattform Lendix; European Crowdfunding Network (Fn. 16), S. 5. In diese Richtung tendiert jetzt auch der Vorschlag des EU-Parlaments (Fn. 10). 49 Ähnlich European Crowdfunding Network (Fn. 16), S. 5: “so long as they are made on the same terms … and based on the same information”, aber ohne zeitliche Begrenzung. 50 Vgl. nur Casper in du Plessis/Großfeld/Luttermann/Saenger/Sandrock/Casper, German Corporate Governance in International and European Context, Springer, 3nd ed. 2017, S. 477, 488 ff. m. weit. Nachw.

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auftragten in der Regel nicht vermeiden lassen. Auch dieser Umstand dürfte auf viele Plattformen eher abschreckend wirken und sie folglich von einer Option ins Europäische Recht abhalten, da sie die hierfür erforderlichen Kosten scheuen. Es bleibt aber positiv zu vermerken, dass auf eine der MiFID vergleichbare Compliance-Pflicht verzichtet worden ist. Denn sonst hätte es nahegelegen, die hierzu entwickelten Grundsätze zu übertragen, was zu einer noch deutlich höheren Belastung der Plattformen geführt hätte.

V. Überzeugt das Konzept eines optionalen europäischen Instruments? 1. Level Playing Field Positiv ist in die Waagschale zu werfen, dass Crowdfunding-Plattformen mit der Zulassung bei der ESMA die Möglichkeit eröffnet wird, ihre Dienstleistungen europaweit nach einem einheitlichen Rechtsrahmen anzubieten. Damit wird dem im Kapitalmarktrecht so vielfach beschworenen Gedanken eines level playing field51 Rechnung getragen. Bisher müssen die Plattformen die sehr unterschiedlichen Vorgaben der noch 28 Mitgliedstaaten beachten. Damit wird ein europaweiter Vertrieb von Crowdfunding-Dienstleistungen zumindest praktisch unmöglich gemacht. Ob es wirklich einen ausreichend tiefen Markt für grenzüberschreitende Crowdfunding-Dienstleistungen gibt, ist damit allerdings noch nicht ausgemacht. Aber zumindest hat die Konsultation der Kommission ergeben, dass ein Wunsch der meist rein nationalen Crowdfunding-Industrie besteht, es auch jenseits der eigenen Grenzen zu versuchen.52 Ebenso ist nicht gesichert, dass eine Vielzahl von Plattformen von der Möglichkeit Gebrauch machen wird, in das europäische Modell hineinzuoptieren. Auf die Gründe hierfür wird noch zurückzukommen sein. Würdigt man den Ansatz alleine unter dem Gesichtspunkt des level playing field, so dominiert Zustimmung.53 2. Harmonisierung Unter dem Stichpunkt der weiteren Harmonisierung des europäischen Kapitalmarktrechts kann man zunächst positiv ins Feld führen, dass mit dem optionalen europäischen Modell eine Blaupause für eine künftige Harmonisierung zur Verfügung steht und es zum vielfach verklärten Wettbewerb der Rechtsordnungen kommen könnte. Das europäische Modell könnte mithin als Vorbild dienen. Auf der anderen Seite ist nicht zu verkennen, dass die Kapitalmarktunion zumindest einstweilen nicht vertieft, sondern weiter ausdifferenziert wird. Es tritt zu den derzeit noch 28 nationalen Rechtsordnungen eine weitere Regelungsebene hinzu. Dies mag man aus der Sicht des nationalen Rechts hinnehmen. Aber zumindest für die Mit51 Vgl. statt Vieler Langenbucher, Aktien- und Kapitalmarktrecht, 4. Aufl. 2018, § 15 Rz. 9, § 18 Rz. 12. 52 COM (2018) 113 final – 2018/0048 (CDO), S. 2. 53 Abl. aber der Bundesrat in seiner Stellungnahme mit Blick auf kompetenzrechtliche Bedenken, vgl. BR-Drucks. 69/18, Nr. 14, S. 4.

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gliedstaaten, die ihre eigene, oft schlanke Regulierung des Crowdfunding bewahren wollen, droht eine „schleichende“ Harmonisierung. Sollten sich nicht genügend Plattformen finden, die in das europäische Modell hineinoptieren, liegt es nahe, dass die Kommission bei einer Evaluation der VO zu dem Ergebnis kommt, dass das Optionsmodell versagt habe und deshalb nun eine verpflichtende Harmonisierung nach dem Vorbild der bisherigen VO mittels einer Richtlinie oder gar einer Verordnung für alle in Europa tätigen Crowdfunding-Plattformen notwendig sei, um auch in diesem Bereich die Kapitalmarktunion herbeizuführen. 3. Negative Regelungsarbitrage Der gewichtigste Einwand gegen den Ansatz eines optionalen Modells, das zwar das nationale Recht im Kern unberührt lässt, aber eine abschließende europäische Regelungsschicht darüber baut, liegt in der Gefahr negativer Regelungsarbitrage begründet. Auch wenn es zu begrüßen ist, dass eine komplizierte Regelungspyramide wie bei der Societas Europaea (SE) mit Art. 9 SE-VO vermieden wird,54 bei der das nationale Recht zur Lückenfüllung herangezogen wird, kann nicht geleugnet werden, dass das europäische optionale Instrument auch zu einer Flucht aus einem strengeren nationalen Recht genutzt werden kann. Dies verdeutlicht zunächst das Beispiel Crowdlending. Wie bereits erwähnt, will die VO auch Crowdlending-Plattformen abschließend regulieren. Zwar nimmt sie die Kreditvergabe an Verbraucher aus, um nicht in einen Konflikt mit dem nach der Verbraucherkreditrichtlinie harmonisierten Recht zu gelangen.55 Im Übrigen will sie das Crowdlending aber erfassen und differenziert nicht zwischen echtem und unechtem Crowdlending.56 Folglich fällt auch das sog. Peer-to-Peer-Lending in den Anwendungsbereich der VO, bei dem der Anleger unmittelbar mit dem Kreditnehmer einen Darlehensvertrag schließt. Dieses wird in Deutschland bisher aus zwei Gründen nicht angeboten. An erster Stelle läuft die Plattform, wenn sie Gelder der Anleger entgegennimmt und dann an die Kreditnehmer weiterleitet, Gefahr, nach §  1 Abs.  1 Satz 2 Nr.  1 KWG den Tatbestand des Einlagengeschäfts zu erfüllen und damit der Aufsichtspflicht nach dem KWG zu unterfallen.57 Damit könnte eine Plattform in Deutschland geneigt sein, eine Lizenz der ESMA zu erwerben, um dieser aufsichtsrechtlichen Gefahr zu entgehen. Einer derartigen negativen Aufsichtsarbitrage wird allerdings durch Art. 9 Abs. 2 VO ein gewisser Riegel vorgeschoben, wonach Crowdfunding-Plattformen Einlagen nur dann annehmen und Zahlungsdienste nur dann erbringen dürfen, wenn dies im Zusammenhang mit der Crowdfunding-Dienstleistung steht und die Plattform über eine nationale Lizenz nach der Zahlungsdienste-RL (EU 2015/2366) verfügt, in Deutschland also nach dem ZAG. Indes scheint auch damit eine negative Regelungsarbitrage nicht völlig ausgeschlossen, da eine Lizenz nach 54 Vgl. dazu statt Vieler Casper in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2018, Art. 9 SE-VO Rz. 5 ff. 55 Kritisch hierzu Will/Quarch, WM 2018, 1481, 1484 f. 56 Vgl. dazu bereits oben II. mit Nachw. in Fn. 13. 57 Renner, ZBB 2014, 261, 264 f. unter Hinweis auf BaFin-Merkblatt v. 14.5.2007 zur Erlaubnispflicht der Betreiber und Nutzer einer internetbasierten Kreditvermittlungsplattform (sub. 2).

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dem ZAG gerade nur zum Erbringen von Zahlungsdiensten und nicht auch zum Betreiben des Einlagengeschäfts berechtigt. Die Anknüpfung an das ZAG zur Legitimierung des Einlagegeschäfts ist freilich mehr als fragwürdig und widerspricht auch Erwägungsgrund 13, der insoweit auf die Banken-RL 2013/36/EU Bezug nimmt, was für eine Lizenz als CCR-Einlageninstitut streiten würde. Art. 9 VO erfährt aber Schützenhilfe in Erwägungsgrund 21, der wiederum allein auf die Zahlungsdienste-RL verweist. Insoweit besteht im weiteren Gesetzgebungsverfahren Klarstellungsbedarf. Daneben scheitert ein Peer-to-Peer-Lending in Deutschland bisher auch deshalb, weil die Darlehensgeber (also die Anleger) Gefahr laufen, ein Kreditgeschäft nach §  1 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 KWG zu betrieben und – sofern die Kreditvergabe einen gewerbsmäßigen Umfang annimmt – einer Erlaubnispflicht nach § 32 KWG zu unterliegen.58 Wäre die VO insoweit abschließend, könnte man die These vertreten, dass die nationale Bankenaufsicht die Kreditgeber auf einer Crowdlending-Plattform nicht mehr der nationalen Aufsicht unterwerfen darf. Dagegen könnte freilich streiten, dass die VO allein für die Plattform und nicht auch für die Kunden einen abschließenden Regulierungsrahmen schafft. Andererseits liegt die Vorstellung nicht fern, dass der EuGH eines Tages die VO insgesamt für abschließend erachtet und so zu einem vollständigen Regulierungsvorrang der VO gelangt. Auf einem anderen Blatt steht die Frage, ob der deutsche Gesetzgeber nicht gut beraten wäre, das echte Crowdlending in Deutschland zuzulassen, indem er Schwellenwerte schafft, bis zu denen man ohne Lizenz nach dem KWG Einlagen einsammeln kann. Hierüber wird man in Zukunft noch vertiefter nachzudenken haben. In jedem Fall wird die Gefahr einer Regelungsarbitrage zulasten von Anlegern in solchen Mitgliedstaaten deutlich, die die Crowdfunding-Plattformen bisher dem MiFID-­ Regime unterstellen. Da die Vorgaben der VO wie gezeigt deutlich hinter den Vorgaben der MiFID zurückbleiben, ist insoweit ein Opt-Out aus dem strengeren nationalen Recht in das weniger rigide europäische Recht möglich, mit der Folge, dass z.B. der Anlegerschutz verringert wird. Es ist deshalb anzuregen, einer derartigen negativen Regelungsarbitrage in der VO einen Riegel vorzuschieben. Dies würde jedoch dem Gedanken des level playing field widersprechen und Plattformen aus MiFID-Staaten praktisch ausschließen. Letzteres würde dann freilich den Gedanken eines optionalen europäischen Instruments konterkarieren. 4. Überregulierung Vergleicht man die VO mit der Regulierung des Crowdfunding in Deutschland bzw. in vielen anderen Ländern, fällt auf, dass die Anforderungen eher strenger sind und die VO aus Sicht dieser liberaleren Rechtsordnungen eine gewisse Tendenz zur Überregulierung entfaltet. Dies gilt namentlich für den Bereich des Basisinformationsblatts, das zu einem Mini-Prospekt aufgewertet wird. Diese Form der Überregulie58 Details bei Renner, ZBB 2014, 261, 265 f. m. weit. Nachw. zu den niedrigen Schwellen, die an die Gewerbsmäßigkeit im Rahmen des § 32 KWG gestellt werden.

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rung führt zwar nicht zwangsläufig zu einer negativen Bewertung des optionalen europäischen Modells, wird seine Attraktivität jedoch kaum beflügeln.

VI. Zusammenfassung Zusammenfassend ist sowohl dem Gedanken des optionalen Modells wie vielen Detailpunkten des Verordnungsvorschlags mit Skepsis zu begegnen. Ob sich der hier zur Diskussion gestellte Verordnungsvorschlag in absehbarer Zeit politisch durchsetzen lässt, ist ungewiss.59 Dies lässt sich mit Sicherheit kaum prognostizieren, da politische Prozesse in Brüssel noch weniger als in Berlin kalkulierbar, geschweige denn beherrschbar sind, wie es auch der Jubilar immer wieder erfahren musste. Auch auf die Gefahr hin, dass der Verordnungsvorschlag vielleicht beim Erscheinen dieser Festschrift schon wieder in der Schublade verschwunden ist, lohnt es doch, über die Sinnhaftigkeit eines optionalen europäischen Instruments, wie es auch im allgemeinen Zivilrecht erwogen wird,60 weiter näher nachzudenken und sein Für und Wider und sein Verhältnis zum nationalen Recht zu diskutieren. Möge der Jubilar in dieser Diskussion noch viele Jahre seine Stimme erheben.

59 Skeptisch auch Will/Quarch, WM 2018, 1481, 1491. 60 Zum Common European Sales Law (CESL), vgl. statt Vieler nur Schulte-Nölke/Zoll/Jansen/ Schulze, Der Entwurf für ein optionales europäisches Kaufrecht, 2012, passim; Eidenmüller/Jansen/Kieninger/Wagner/Zimmermann, JZ 2012, 269 ff.

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Das Freigabeverfahren – ungeeignet zur Überwindung der Bewertungsrüge? Inhaltsübersicht I. Themenstellung II. Neuere Rechtsprechung 1. OLG München „Curanum“ 2. OLG Köln „Solarworld“ III. Beurteilung 1. Offensichtliche Unbegründetheit der Klage a) Grundsätze b) Regelmäßig keine offensichtliche ­Unbegründetheit von Bewertungs­ rügen 2. Interessenabwägung a) Grundsätze

b) Interessenabwägung im Fall „­Curanum“ c) Interessenabwägung im Fall „­Solarworld“ 3. Besondere Schwere des geltend ­gemachten Rechtsverstoßes a) Grundsätze b) Unangemessene Bewertung als ­besonders schwerer Rechtsverstoß? c) Verstöße gegen Treuepflicht und Gleichbehandlung IV. Ergebnis, Reformüberlegungen 1. Die Bewertungsrüge im Freigabe­ verfahren nach geltendem Recht 2. Reformüberlegungen

I. Themenstellung Bei Grundlagen- und Strukturmaßnahmen stehen das angemessene Umtauschverhältnis und/oder die angemessene Barabfindung im Zentrum des Interesses der (außenstehenden) Aktionäre. Für deren Ermittlung bedarf es einer Bewertung der Zielgesellschaft oder – im Falle einer Verschmelzung und einer Sachkapitalerhöhung – aller an der Transaktion beteiligten Unternehmen. Angesichts der mit einer Unternehmensbewertung verbundenen vielfältigen Unsicherheiten und Zweifelsfragen wird die Angemessenheit von Umtauschverhältnis und Barabfindung von den (außenstehenden) Aktionären häufig angegriffen. Soweit es um die Unternehmensbewertung bei Unternehmensvertrag, Squeeze-out und Verschmelzung auf der Ebene der übertragenden Gesellschaft geht, sind Bewertungsrügen ins Spruchverfahren verwiesen, § 14 Abs. 2 UmwG, § 243 Abs. 4 Satz 2 AktG. Für die Überprüfung der Angemessenheit des Umtauschverhältnisses bzw. des Ausgabebetrags ist bei der Verschmelzung auf der Ebene der übernehmenden Gesellschaft und bei der Sachkapitalerhöhung dagegen kein Spruchverfahren eröffnet; Aktionäre können Bewertungsrügen nur im Wege der Anfechtungsklage geltend machen. Die mit der Anfechtungsklage bei der Verschmelzung bestehende gesetzliche Registersperre und die damit verbundene Blockade der Wirksamkeit der Maßnahme und ihrer Vollziehung kann gemäß § 16 Abs. 3 UmwG im Freigabeverfahren überwunden 199

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werden. Für die (Sach-) Kapitalerhöhung besteht zwar keine gesetzliche, oft aber eine faktische Registersperre, die gemäß §  246a AktG ebenfalls im Freigabeverfahren überwunden werden kann. Allerdings konnten Bewertungsrügen im Freigabeverfahren trotz dessen Erleichterungen durch das UMAG im Jahr 2005 regelmäßig nicht überwunden werden.1 Dementsprechend waren die Parteien auf umständliche Ausweichkonstruktionen, wie eine Verschmelzung auf eine neue Drittgesellschaft (NewCo-Merger) oder das Angebot eines freiwilligen Spruchverfahrens auf der Ebene des übernehmenden Rechtsträgers, angewiesen; die Sachkapitalerhöhung durch Einbringung von Unternehmen wurde bei einer börsennotierten AG in der Praxis wegen des mit Bewertungsrügen gemäß §  255 Abs.  2 AktG verbundenen Transaktionsrisikos nur selten genutzt. 2 Durch das unter der Federführung von Ulrich Seibert entstandene ARUG3 wurde das Freigabeverfahren im Jahr 2009 wesentlich zu Gunsten der antragstellenden Gesellschaft erleichtert. Als dessen Ergebnis ist heute die Freigabe der Eintragung der Strukturmaßnahme die Regel und deren Versagung die Ausnahme.4 Seit der gesetzlichen Neuregelung wurden zunehmend auch Bewertungsrügen im Freigabeverfahren für grundsätzlich überwindbar gehalten.5 Zweifel an dieser Einschätzung lässt eine Entscheidung des OLG München aufkommen, in der ein Freigabeantrag bei einer Sachkapitalerhöhung zurückgewiesen wurde. Im Zusammenhang mit den dort geltend gemachten Bewertungsrügen findet sich die Aussage, das Freigabeverfahren sei in aller Regel ein fragwürdiges und wenig taugliches Instrument zur Klärung von Bewertungsfragen.6 Die Entscheidung des OLG München hat in der Praxis Sorgen laut werden lassen, dass das Freigabeverfahren selbst nach der Reform durch das ARUG keine ausreichende Transaktionssicherheit bei Bewertungsrügen ermögliche.7 Im Fall einer sanierenden Kapitalerhöhung wurde allerdings in einer wenig später erfolgenden Entscheidung des OLG Köln die

1 Hoffmann-Becking, WPg-Sonderheft 2001, S.  121, 125; K.P. Martens, AG 2000, 301, 306; Noack, ZHR 164 (2000), 274, 285; M. Winter in Liber amicorum Happ, 2006, S. 363, 373. 2 Decher in FS Lutter, 2000, S. 1209, 1215. 3 BGBl. I 2009, 2479; dazu Seibert/Böttcher, ZIP 2012, 12; Seibert/Hartmann in FS Stilz, 2014, S. 585. 4 Begr. RegE zu § 246a AktG BT-Drucks. 16/11642, S. 41; Rechtsausschuss zu § 246a AktG, BT-Drucks. 16/13098, S. 42; Seibert/Hartmann in FS Stilz, 2014, S. 585, 588. 5 Decher in Lutter, UmwG, 5. Aufl. 2014, § 16 Rz. 74; Fronhöfer in Widmann/Mayer, UmwG, Stand Januar 2010, § 16 Rz. 182; Marsch-Barner in Kallmeyer, UmwG, 6. Aufl. 2017, § 16 Rz. 46b; Scholz in MünchHdb AG, 4. Aufl. 2015, § 57 Rz. 49: J. Vetter in FS Maier-Reimer, 2010, S.  819, 828, 831; nach wie vor zurückhaltend aber Heckschen in Widmann/Mayer, UmwG, Stand August 2016, § 14 Rz. 61; Humrich in MünchHdb UmwR, 5. Aufl. 2016, § 14 Rz. 233; Simon in KölnKomm. UmwG, 1. Aufl. 2009, 16 Rz. 99, 103; vgl. auch (obiter dictum) OLG Frankfurt/M v. 20.3.2012 – 5 AktG 4/11, AG 2012, 414, 417. 6 OLG München v. 18.12.2013 – 7 AktG 2/13, Rz. 12 (juris): „Curanum“; dazu Seibert/Hartmann in FS Stilz, 2014, S. 585, 589. 7 Rieckers/Cloppenburg in Habersack/Wicke, UmwG, 1. Aufl. 2019, § 16 Rz. 11 (in der Sache abweichend, Rz. 65).

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Das Freigabeverfahren – Überwindung der Bewertungsrüge?

Freigabe trotz Bewertungsrügen erteilt.8 Die beiden auf den ersten Blick gegensätzlichen Entscheidungen werden nachfolgend näher dargestellt (unter II.) und einer kritischen Beurteilung unterzogen (nachfolgend III.). Abschließend werden die Ergebnisse der Untersuchung zusammengefasst und ein Blick auf die Reformdiskussion geworfen (nachfolgend IV.).

II. Neuere Rechtsprechung 1. OLG München „Curanum“ In der Entscheidung des OLG München ging es um die Einbringung einer 100 %-Beteiligung einer nicht börsennotierten Beteiligungsgesellschaft durch den Mehrheitsaktionär (Beteiligung 78,45  %) in die Curanum AG im Wege der Sachkapitalerhöhung. Als Ergebnis der Sachkapitalerhöhung unter Ausschluss des Bezugsrechts der Minderheitsaktionäre sank deren Beteiligung auf unter 10 %. Die Anfechtungsklage stützte sich unter anderem darauf, dass die Einlage des Mehrheitsaktionärs überbewertet worden sei und daher der Ausgabebetrag für die neuen Aktien unangemessen niedrig sei (§ 255 Abs. 2 AktG).9 Der Antrag der beklagten Curanum AG auf Freigabe der Eintragung der Kapitalerhöhung im Verfahren nach § 246a AktG blieb erfolglos. Zur Unternehmensbewertung lagen drei Privatgutachten der Curanum AG als Antragstellerin vor, die die Angemessenheit der Wertrelation stützten, sowie ein Privatgutachten der Antragsgegnerseite, das zum gegenteiligen Ergebnis gelangte. Das Einholen eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens kam nach Auffassung des OLG München schon deshalb nicht in Betracht, weil es den vom Gesetzgeber vorgegebenen knappen Zeitrahmen von drei Monaten für ein Eilverfahren sprengen würde. Deshalb könne schon aus prozessualen Gründen nicht von einer offensichtlichen Unbegründetheit der Klagen der Antragsgegner ausgegangen werden.10 Auch in der Sache hielt der Senat die Bewertungsrügen nicht für offensichtlich unbegründet. Die Antragstellerin sei das gegenüber der eingebrachten Unternehmensbeteiligung größere Unternehmen mit größerer Anzahl an Einrichtungen und höheren Umsätzen, sie sei aber dennoch niedriger bewertet worden als die eingebrachte Unternehmensbeteiligung. Die höhere Bewertung der eingebrachten Beteiligung werde auf einen ungewöhnlich langen Prognosezeitraum von sieben Jahren gestützt. Der Betafaktor für die eingebrachte Beteiligung werde aus einer Peer Group von Vergleichsunternehmen abgeleitet, bei denen auch börsennotierte Gesellschaften berücksichtigt worden seien, was für die nicht börsennotierte Beteiligungsgesellschaft nicht einleuchte. In diesem Zusammenhang bemerkt der Senat, dass ein Freigabeverfahren nach § 246a AktG bei einer Sachkapitalerhöhung durch Einbringung eines anderen Unternehmens unter Ausschluss des Bezugsrechts der Aktionäre sich in aller Regel 8 OLG Köln v. 13.1.2014 – 18 U 175/13, ZIP 2014, 263, 266 f.: „Solarworld“; dazu Florstedt, ZIP 2014, 1513. 9 OLG München v. 18.12.2013 – 7 AktG 2/13, Rz. 2-5 (juris). 10 OLG München v. 18.12.2013 – 7 AktG 2/13, Rz. 9 (juris).

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als fragwürdiges und wenig taugliches Instrument erweisen dürfte. Es stünden meist Bewertungsfragen zur Beurteilung, welche sich ohne ein binnen der Dreimonatsfrist nicht zu erlangendes Sachverständigengutachten häufig nicht beantworten ließen.11 Die Interessenabwägung fiel ebenfalls nicht zu Gunsten der antragstellenden Gesellschaft aus. Zu Gunsten der Antragstellerin wurde zwar vom Senat das Unterbleiben von Synergieeffekten bei Nichtvollzug des Beschlusses in die Abwägung einbezogen. Das einstweilige Unterbleiben von Synergieeffekten begründe aber für sich genommen noch nicht einen erheblichen Nachteil für die Antragstellerin, da Synergieeffekte nachholbar seien, etwa im Falle des Obsiegens der Antragstellerin im Hauptsacheverfahren oder durch Zusammenschluss mit einem anderen Unternehmen.12 Zu Gunsten der Antragsgegner sei der Verwässerungsschaden zu berücksichtigen, den sie bei einer Überbewertung der eingebrachten Beteiligung erleiden würden. Die bisherige Beteiligung der Minderheitsaktionäre von 21,55 % sinke im Falle des Vollzugs der Sachkapitalerhöhung auf unter 10 %, wodurch deren Einfluss massiv reduziert wäre. Dieser Verwässerungsschaden sei im Falle der Vollziehung auch endgültig, da kein Spruchverfahren zur Korrektur einer unangemessenen Wertrelation zur Verfügung stehe. Auch der Schadenersatzanspruch nach §  246a Abs.  4 AktG vermöge diesen Nachteil nicht vollständig zu kompensieren.13 Angesicht der bereits zu Ungunsten der Antragstellerin ausgegangenen Interessenabwägung bedurfte es keiner Stellungnahme des OLG München mehr zu der Frage, ob die Unangemessenheit der Bewertung einen besonders schweren Rechtsverstoß darstellt, der einer Freigabe (ebenfalls) entgegensteht. 2. OLG Köln „Solarworld“ Durch Beschluss des OLG Köln in Sachen Solarworld wurde einer Sachkapitalerhöhung trotz erhobener Bewertungsrüge die Freigabe erteilt. Im konkreten Fall war die Solarworld AG, deren Vorstandsvorsitzender Asbeck gleichzeitig größter Aktionär mit einer Beteiligung von 28 % war, in eine finanzielle Schieflage geraten. Im Rahmen einer sanierenden Kapitalerhöhung wurde zunächst das Kapital der Solarworld herabgesetzt und anschließend im Wege der Sachkapitalerhöhung durch Einbringung der Forderungen und Schuldverschreibungen von Kreditgläubigern und Anlagegläubigern erhöht. Diese Gläubiger sollten sodann als neue Anteilseigner Teile der erworbenen Aktien an einen Neuinvestor und in einem geringeren Anteil an den bisherigen Großaktionär Asbeck veräußern. Im Ergebnis sollten der Neuinvestor 29 %, Asbeck 19,5 %, die Gläubiger rund 47 % der Aktien und die übrigen Altaktionäre nur noch 5 % der Aktien halten. Mit ihren Klagen machten Aktionäre unter anderem geltend, dass die Sacheinlagen unter Verstoß gegen § 255 Abs. 2 AktG zu hoch bewertet worden seien und dass der 11 OLG München v. 18.12.2013 – 7 AktG 2/13, Rz. 10, 12 (juris). 12 OLG München v. 18.12.2013 – 7 AktG 2/13, Rz. 15 (juris). 13 OLG München v. 18.12.2013 – 7 AktG 2/13, Rz. 17 f. (juris).

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Das Freigabeverfahren – Überwindung der Bewertungsrüge?

bisherige Großaktionär Asbeck durch den nachfolgenden Erwerb von Aktien von den Gläubigern einen Sondervorteil erlangt habe, während die Altaktionäre keine Chance erhalten hätten, junge Aktien zu erwerben. Das OLG Köln bejahte im Rahmen der Interessenabwägung einen Vorrang des Vollzugsinteresses der Solarworld vor dem Aufschubinteresse der Antragsgegner. Die Antragstellerin habe glaubhaft gemacht, dass die Sachkapitalerhöhung ausweislich eines mit den Gläubigern ausgehandelten und in einem Term Sheet niedergelegten Strukturierungskonzeptes dringend erforderlich sei, um die Solarworld finanziell zu sanieren und ihre andernfalls drohende Insolvenz abzuwenden.14 Der Bezugsrechtsausschluss für die Altaktionäre führe zwar zu einer Verwässerung ihrer Beteiligung. Dieser Nachteil wiege aber angesichts der vergleichsweise geringen Beteiligungen der Anteilsgegner nicht schwer. Ein etwaiger Verwässerungsschaden könne gemäß § 246a Abs. 4 Satz 1 AktG kompensiert werden. Ein besonders schwerer Rechtsverstoß stehe der Eintragung nicht entgegen. Die Kapitalerhöhung durch Sacheinlagen unter Ausschluss des Bezugsrechts der Aktionäre sei nicht zu beanstanden, wenn die Gesellschaft nach vernünftigen kaufmännischen Überlegungen ein dringendes Interesse an der teilweisen Umwandlung von Fremdin Eigenkapital habe und zu erwarten sei, dass der damit angestrebte Nutzen den verhältnismäßigen Beteiligungs- und Stimmrechtsverlust der vom Bezugsrecht ausgeschlossenen Aktionäre aufwiege. Es sei ausreichend, dass diese Entscheidung nach sorgfältiger, von gesellschaftsfremden Erwägungen freier Abwägung gefällt werde; allein richtig sein müsse die Einschätzung nicht. Zudem sei die Darstellung der Antragstellerin nicht widerlegt worden, wonach das Engagement der Gläubiger nicht ohne Einräumung einer Mehrheitsbeteiligung von 95 % zu erwarten war. Hinsichtlich der Bewertungsrüge gemäß § 255 Abs. 2 AktG hätten die Antragsgegnerinnen nicht aufzuzeigen vermocht, dass die Sacheinlagen zu hoch bewertet worden seien. Durch ein von der Antragstellerin beauftragtes Wirtschaftsprüfungsgutachten waren der Wert des Unternehmens auf der Grundlage der Discounted Cash Flow Methode sowie der Wert der einzubringenden Forderungen nach dem Expected Loss–Model ermittelt worden. Daraus ergab sich, dass der Wert der einzubringenden Forderungen deutlich oberhalb des Kapitalerhöhungsbetrages lag. Ein Verwässerungsschaden könne im Übrigen durch einen Differenzhaftungsanspruch ausgeglichen werden.15 Zwar liege aufgrund der Vorabsprachen zwischen den Gläubigern und Herrn Asbeck eine Verletzung seiner Treuepflicht gegenüber den Minderheitsaktionären nicht gänzlich fern, da diesen die Chance genommen worden sei, sich ihrerseits bei der neuen Anteilseignern um den Erwerb von jungen Aktien zu bemühen. Es liege aber jedenfalls kein besonders schwerer Rechtsverstoß vor.16 14 OLG Köln v. 13.1.2014 – 18 U 175/13, ZIP 2014, 263, 265. 15 OLG Köln v. 13.1.2014 – 18 U 175/13, ZIP 2014, 263, 266 f. 16 OLG Köln v. 13.1.2014 – 18 U 175/13, ZIP 2014, 263, 267; kritisch Florstedt, ZIP 2014, 1513, 1516, 1518.

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III. Beurteilung 1. Offensichtliche Unbegründetheit der Klage a) Grundsätze Einem Freigabeantrag ist gemäß § 16 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 Alt. 2 UmwG, § 246a Abs. 2 Nr. 1 AktG stattzugeben, wenn die Klage offensichtlich unbegründet ist. Spätestens seit der Klarstellung in den Gesetzesmaterialien zum UMAG ist gesichert, dass insoweit eine kursorische Prüfung nicht genügt. Es hat eine umfassende rechtliche Prüfung zu erfolgen, weil der für die Prognose der offensichtlichen Unbegründetheit ­erforderliche Prüfungsaufwand nicht entscheidend ist, sondern die hinreichende Sicherheit des Ergebnisses der Prüfung.17 Die antragstellende Gesellschaft trägt insoweit die Darlegungslast; ist der Sachverhalt in tatsächlicher Hinsicht streitig, muss die Antragstellerin das Vorliegen der Tatsachen durch präsente Beweismittel glaubhaft machen, § 16 Abs. 3 Satz 6 UmwG, § 246a Abs. 3 Satz 3 AktG, § 294 Abs. 2 ZPO. Gelingt die Glaubhaftmachung durch präsente Beweismittel nicht und ist eine umfangreiche Beweisaufnahme erforderlich, fehlt es an einer offensichtlichen Unbegründetheit.18 b) Regelmäßig keine offensichtliche Unbegründetheit von Bewertungsrügen Die Rügen der Kläger im Fall Curanum betrafen die Bewertung einer nicht-börsennotierten Unternehmensbeteiligung als Einlage in eine börsennotierte AG. Bei derartigen Transaktionen bzw. Einbringungen ist nach gesicherter Rechtsprechung eine Unternehmensbewertung nach der in der Praxis dominierenden Ertragswertmethode für die Beurteilung der Angemessenheit des Ausgabebetrages bzw. – im Falle einer Verschmelzung – des Umtauschverhältnisses sachgerecht.19 Bei einer Unternehmensbewertung anhand der Ertragswertmethode können angesichts der mit der Prognose zukünftiger Ertragsströme verbundenen Unsicherheiten und der vielfältigen Zweifelsfragen etwa im Zusammenhang mit dem angewendeten Diskontierungszinssatz eine Vielzahl tatsächlicher und rechtlicher Streitfragen bestehen. Da den Aktionären bei einer Verschmelzung kraft Gesetzes (§§ 8, 12 UmwG) und bei der Sachkapitalerhöhung nach verbreiteter Praxis umfangreiche Berichte 17 Begr. RegE zu §  246a AktG, BT-Drucks. 15/5092, S.  29; ebenso etwa OLG Nürnberg v. 14.2.2018 – 12 AktG 1970/17, Rz. 44 (juris); OLG Düsseldorf v. 22.6.2017 – I-6 AktG 1/17, AG 2017, 900, 902; OLG Stuttgart v. 2.12.2014 – 20 AktG 1/14, AG 2015, 163, 164; OLG München v. 16.1.2014 – 23 AktG 3/13, ZIP 2014, 472, 473; OLG München v. 18.12.2013 – 7 AktG 2/13, Rz. 7 (juris). 18 OLG Köln v. 6.10.2003 – 18W 35/03, AG 2004, 39; Decher in Lutter, UmwG, 6. Aufl. 2019, §16 Rz.  52; Gundlach in Maulbetsch/Klumpp/Rose, UmwG, 2.  Aufl. 2017, §  16 Rz.  52; Humrich in MünchHdb UmwR, 5. Aufl. 2016, § 14 Rz. 187; Rieckers/Cloppenburg in Habersack/Wicke, UmwG, 1. Aufl. 2019, § 16 Rz. 48. 19 Vgl. statt aller BVerfG v. 26.4.2011 – 1 BvR 2658/10, Rz. 23 (juris): DTAG/T-Online; ­BVerfG v. 20.12.2010 – 1 BvR 2323/07, Rz. 12 (juris): Kuka; BGH v. 12.1.2016 – II ZB 25/14, Rz. 21 (juris).

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Das Freigabeverfahren – Überwindung der Bewertungsrüge?

über die Unternehmensbewertung im Vorfeld der Hauptversammlung zur Beurteilung deren Plausibilität zugänglich gemacht werden, haben erfahrene Aktionäre in der Regel keine Schwierigkeiten, anhand dieser detaillierten Unterlagen substantiierte Bewertungsrügen zu erheben. Dementsprechend wird es der antragstellenden Gesellschaft oft schwer fallen die offensichtliche Unbegründetheit der Bewertungsrügen darzutun. Zudem wird der Sachverhalt regelmäßig in tatsächlicher Hinsicht streitig sein und einer Beweisaufnahme bedürfen. Eine Glaubhaftmachung durch präsente Beweismittel wie eidesstattliche Versicherungen oder präsente Zeugen wird insoweit häufig nicht in Betracht kommen. Vielmehr wird es in solchen Fällen einer Beweisaufnahme durch Sachverständigengutachten bedürfen, das kein statthaftes Beweismittel im Freigabeverfahren darstellt. Ein Sachverständigengutachten verträgt sich auch nicht mit dem Eilcharakter des Verfahrens, weil es regelmäßig aufwendig ist und viele Monate in Anspruch nehmen wird. Deshalb hat das OLG München die offensichtliche Unbegründetheit der Bewertungsrügen schon aus diesem Grunde zu Recht verneint.20 Auch in der Sache ist die Ablehnung einer offensichtlichen Unbegründetheit der Bewertungsrügen im Fall Curanum nachvollziehbar. Das OLG München verweist auf eine Reihe von Bewertungsrügen, die Anhaltspunkte für eine fehlende Angemessenheit der Unternehmensbewertung nahelegten und deren Klärung angesichts der vorgelegten widerstreitenden Parteigutachten einer eingehenden Beweisaufnahme bedurft hätte (oben II. 1.). Das OLG Köln hat – in Übereinstimmung mit seiner ständigen Rechtsprechung21 – die Frage einer offensichtlichen Unbegründetheit der Klage offen gelassen und die Bewertungsrügen nur unter dem Aspekt eines der Eintragung entgegenstehenden besonders schweren Rechtsverstoßes gewürdigt. Auch wenn die meisten Gerichte im Freigabeverfahren dennoch eingehend die offensichtliche Unbegründetheit der Klage prüfen,22 ist die Rechtsprechung des OLG Köln konsequent: Seit der Erleichterung des Freigabeverfahren durch das ARUG entscheidet die Interessenabwägung regelmäßig über Erfolg oder Misserfolg des Antrags. 23 Deshalb musste sich das OLG Köln 20 Ebenso schon OLG Jena v. 12.10.2006 – 6 W 452/06, Rz. 41 (juris); Carl Zeiss Meditec; zustimmend Nietsch, NZG 2018, 1334, 1338. 21 OLG Köln v. 18.12.2015  – 18 U 158/15: Postbank (nicht veröffentlicht); OLG Köln v. 5.5.2014 – 18 U 28/14, AG 2015, 39: Generali; OLG Köln v. 13.1.2014 – 18 U 175/13, ZIP 2014, 563, 564: Solarworld; ebenso OLG Saarbrücken v. 7.12.2010 – 4 AktG 476/10, ZIP 2011, 469. 22 Vgl. etwa KG v. 10.12.2009  – 23 AktG 1/09, AG 2010, 166, 168  f.; OLG Düsseldorf v. 22.6.2017 – I-6 AktG 1/17, AG 2017, 900, 903: Metro; OLG Frankfurt/M. v. 11.4.2011 – 5 Sch 4/10, BeckRS 2011, 24255 (unter 2.); OLG München v. 22.9.2010 – I-8 AktG1/10, AG 2011, 136; OLG München v. 10.4.2013 – 7 AktG1/13, Rz. 6-12 (juris); OLG Nürnberg v. 14.2.2018 – 12 AktG 1970/17, Rz. 43 ff. (juris); OLG Stuttgart v. 2.12.2014 – 20 AktG1/14, AG 2015, 163, 164: Celesio. 23 Decher in Lutter, UmwG, 6. Aufl. 2019, § 16 Rz. 53, 74; Englisch in Hölters, AktG, 3. Aufl. 2018, § 246a Rz. 35; Noack/Zetzsche in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2018, § 246a Rz. 51; abweichend Nietsch, Freigabeverfahren, 2013, S. 399, 453.

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nicht näher mit der Frage auseinandersetzten, ob die dort in Rede stehende Bewertung von Forderungen vergleichsweise leichter zu ermitteln ist als eine Ertragswertermittlung eines Unternehmens und ob deshalb Rügen zur Werthaltigkeit der Forderungen im Vergleich zum ohnehin aufgrund des Börsenkurses feststellbaren Marktwerts der Aktie der Solarworld offensichtlich unbegründet waren. Soweit es um Bewertungsrügen von Klägern gegen das zur Ermittlung des Umtauschverhältnisses oder der Ausgaberelation durchgeführte Ertragswertverfahren geht, ist damit dem OLG München insoweit zuzustimmen, als diese regelmäßig nicht offensichtlich unbegründet sind und insoweit das Freigabeverfahren nicht zu deren Klärung geeignet ist. 2. Interessenabwägung a) Grundsätze Damit ist allerdings noch nicht gesagt, dass eine Bewertungsrüge im Freigabever­ fahren nicht überwunden werden kann. Denn trotz fehlender offensichtlicher Unbegründetheit der Klage(n) kommt eine Freigabe der Eintragung in Betracht, wenn das alsbaldige Wirksamwerden der Verschmelzung oder der Sachkapitalerhöhung vorrangig erscheint, weil wesentliche Nachteile für die an der Transaktion beteiligten Rechtsträger und ihre Anteilsinhaber nach freier Überzeugung des Gerichts die Nachteile für den oder die Antragsgegner überwiegen, § 16 Abs. 3 Satz 3 Nr. 3 1. Halbsatz UmwG, § 246a Abs. 2 Nr. 3 1. Halbsatz AktG. Es sind die wirtschaftlichen Inte­ ressen der an der Verschmelzung oder einer Sachkapitalerhöhung beteiligten Unternehmen und ihrer Anteilsinhaber mit den Nachteilen abzuwägen, die für den oder die Antragsgegner als Kläger mit dem Vollzug der Maßnahme verbunden sind. Anders als für die Interessenabwägungsklausel vor dem ARUG ist durch den Gesetzgeber geklärt, dass auch die Interessen der nicht klagenden, übrigen Anteilsinhaber für das Vollzugsinteresse und nur das Interesse der Kläger für das Aufschubinteresse zu berücksichtigen ist. Diese Abwägung wird in aller Regel zugunsten der antragstellenden Gesellschaft und ihrer (nicht klagenden) Anteilsinhaber ausfallen.24 Bei einer Verschmelzung und einer Sachkapitalerhöhung durch Einbringung eines Unternehmens werden sich für das Vollzugsinteresse die mit der Unternehmenszusammenführung häufig verbundenen Einsparungspotentiale (Synergieeffekte) anführen lassen.25 Eine Bezifferung der Nachteile oder wenigstens die Angabe von ungefähren Größenordnungen ist für das Überwiegen des Vollzugsinteresses nicht zwingend 24 Begr. RegE zu § 246a AktG, BT-Drucks. 16/11642, S. 41; Rechtsausschuss zu § 246a AktG, BT-Drucks. 16/13098, S. 42. 25 OLG Düsseldorf v. 15.3.1999 – 17 W 18/99, ZIP 1999, 793, 798: ThyssenKrupp; OLG Frankfurt/M v. 8.2.2006 – 12 W 185/05, AG 2006, 249, 257; OLG Hamm v. 16.5.2011 – 1-8 AktG 1/11, AG 2011, 624, 625; OLG Saarbrücken v. 7.12.2010 – 4 AktG 476/10, NZG 2011, 358, 360; OLG Stuttgart v. 2.12.2014  – 20 AktG/14, Rz.  168 (juris): Celesio; Decher in Lutter, UmwG, 6. Aufl. 2019, § 16 Rz. 79; Drescher in Henssler/Strohn, GesR, 4. Aufl. 2019, § 246a AktG Rz. 8a; Marsch-Barner in Kallmeyer, UmwG, 6. Aufl. 2018, § 16 Rz. 45; Noack/Zetzsche

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erforderlich.26 Allerdings ist eine konkrete, substantiierte Darlegung erforderlich.27 Die antragstellende Gesellschaft trägt die Darlegungs- und Glaubhaftmachungslast für das vorrangige Eintragungsinteresse. Die Darlegung und Glaubhaftmachung des Aufschubinteresses obliegt der Antragsgegnerseite.28 Als Nachteil ist insbesondere ein Einflussverlust durch Herabsinken ihrer Beteiligung unter eine maßgebliche Schwelle zur Geltendmachung von Min­ derheitsrechten zu berücksichtigen.29 Ein derartiger Nachteil wird allerdings nur Anteilsinhabern mit einer substanziellen Beteiligung drohen können, die über das zur Teilnahme am Freigabeverfahren erforderliche Quorum von 1000 Euro deutlich hi­ nausgeht. Ausweislich der Gesetzesmaterialien kann bei Antragsinhabern mit geringer Beteiligung die Abwägung der beiderseitigen Nachteilen schwerlich zu ihren Gunsten ausgehen.30 b) Interessenabwägung im Fall „Curanum“ Das OLG München hat im Fall „Curanum“ die Berufung der antragstellenden Ge­ sellschaft auf das Unterbleiben von Synergieeffekten bei Nichtvollzug der Kapitalmaßnahme als einen nicht erheblichen Nachteil angesehen, weil Synergieeffekte nachholbar seien, etwa im Falle des Obsiegens im Hauptsacheverfahren oder durch Zusammenschluss mit einem anderen Unternehmen.31 Mit dieser Begründung kann die Wesentlichkeit von Nachteilen für die Antragstellerin aus dem (vorübergehenden) Unterbleiben der Maßnahme allerdings nicht verneint werden. Anderenfalls müssten generell Nachteile aus der Verzögerung der Eintragung entgegen der klaren Vorstellung des Gesetzgebers32 bei der Interessenabwägung ausgeblendet werden. Damit wäre der Sinn eines Freigabeverfahrens, das gerade dazu dient, die mit einer Blockade der Strukturmaßnahme während des Anfechtungsprozesses drohenden Nachteile zu vermeiden, infrage gestellt. Das OLG München hätte sich daher mit dem Vortrag der Curanum näher auseinander setzen müssen. Es hätte die Berufung auf Synergien zurückweisen können, wenn in KölnKomm. AktG, 3.  Aufl. 2018, §  246a Rz.  57; Rieckers/Cloppenburg in Habersack/­ Wicke, UmwG, 1. Aufl. 2019, § 16 Rz. 57. 26 Decher in Lutter, UmwG, 6. Aufl. 2019, § 16 Rz. 80; Rieckers/Cloppenburg in Habersack/ Wicke, UmwG, 1. Aufl. 2019, § 16 Rz. 58; zurückhaltend Schatz in Heidel, AktG, 4. Aufl. 2016, § 246a Rz. 59. 27 OLG Stuttgart v. 2.12.2014 – 20 AktG 1/14, Rz. 168 (juris); Decher in Lutter, UmwG, 6. Aufl. 2019, § 16 Rz. 80; Fronhöfer in Widmann/Mayer, UmwG, Stand Januar 2010, § 16 Rz. 169; Schwanna in Semler/Stengel, UmwG, 4. Aufl. 2017, § 16 Rz. 34. 28 Beispielhaft OLG Stuttgart v. 2.12.2014 – 20 AktG 1/14, Rz. 165 (juris): Celesio. 29 OLG München v. 18.12.2013 – 7 AktG 2/13, Rz. 17 (juris); Austmann in MünchHdb AG, 4. Aufl. 2015, § 42 Rz. 156; Marsch-Barner in Kallmeyer, UmwG, 6. Aufl. 2017, § 16 Rz. 44; Rieckers/Cloppenburg in Habersack/Wicke, UmwG, 1. Aufl. 2019, § 16 Rz. 59. 30 Rechtsausschuss zu § 246a AktG, BT-Drucks. 16/13098, S. 42. 31 OLG München v. 18.12.2013 – 7 AktG 2/13, Rz. 15 (juris). 32 Begr. RegE zu § 246a AktG, BT-Drucks. 15/5092, S. 29; Decher in Lutter, UmwG, 6. Aufl. 2019, § 16 Rz. 77.

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diese lediglich abstrakt oder für das Gericht in keiner Weise nachvollziehbar dargelegt oder wenn sie nicht glaubhaft gemacht worden wären. Insoweit vertritt das OLG München in anderen Fällen eine strenge Linie.33 Die Anforderungen an die Darlegungs- und Glaubhaftmachungslast für das vorrangige Eintragungsinteresse dürfen aber bei oft nicht leicht bezifferbaren drohenden Nachteilen wie der verzögerten Realisierung von Synergien nicht überspannt werden. Die Erwartung künftiger Synergien erfordert eine unternehmerische Einschätzung der antragstellenden Gesellschaft, die von den Gerichten nur eingeschränkt auf ihre Vertretbarkeit überprüft werden darf.34 Dementsprechend berücksichtigen Rechtsprechung und Literatur ganz überwiegend eine substantiierte Berufung auf die Unmöglichkeit der Realisierung von Synergieeffekten bei entsprechender Glaubhaftmachung als wesentlichen Nachteil, der im Rahmen der Interessenabwägung für die Vollziehung der Maßnahme spricht.35 Für den Fall, dass die Curanum insoweit hinreichend substantiiert vorgetragen und glaubhaft gemacht hat, hätte der Senat zwischen einem wesentlichen Interesse der Curanum und ihrer Aktionärin und dem Aufschubinteresse der Antragsgegner abwägen müssen. Bei der Interessenabwägung ist eine wertende Betrachtung möglich. Dies folgt daraus, dass der Gesetzgeber die Entscheidung in die freie Überzeugung des Gerichts stellt und dem Prozessgericht insoweit im Interesse größtmöglicher Entscheidungsfreiheit einen weiten Beurteilungsspielraum einräumt.36 Ein gewichtiges Aufschubinteresse sah das OLG München darin, dass die Beteiligung der außenstehenden Aktionäre durch die Kapitalmaßnahme von insgesamt 21,55 % auf unter 10 % verwässert worden wäre (vgl. oben II. 1.). Bei einer wertenden Betrachtung kann auch die Beteiligungshöhe der Kläger und deren Beeinträchtigung durch die angegriffene Maßnahme berücksichtigt werden. Insbesondere eine unternehmerische Beteiligung eines Antragsgegners kann dazu führen, dass höhere Anforderungen an die Wesentlichkeit der für die Antragstellerseite drohenden Nachteile zu stellen sind.37 Dementsprechend hat es das OLG München in einem anderen Fall bei der Interessenabwägung als maßgeblich angesehen, dass der Antragsgegner über eine Sperrminori33 OLG München v. 14.12.2011 – 7 AktG 3/11, AG 2012, 290, 291: Betriebswirtschaftlich nicht nachvollziehbare Darlegung von Synergieeffekten; OLG München v. 14.11.2012 – 7 AktG 2/12, NZG 2013, 459, 461; zurückhaltend dazu Seibert/Hartmann in FS Stilz, 2014, S. 585, 589 Fn. 23. 34 Decher in Lutter, UmwG, 6. Aufl. 2019, § 16 Rz. 80; vgl. auch Seibert/Hartmann in FS Stilz, 2014, S.  585, 589; J. Vetter in FS Maier-Reimer, 2010, S.  819, 826; strenger Drescher in Henssler/Strohn, GesR, 4. Aufl. 2019, § 246a AktG Rz. 8. 35 OLG Stuttgart v. 2.12.2014  – 20 AktG 1/14, Rz.  168 (juris): keine externe betriebswirtschaftliche Berechnung erforderlich; vgl. ferner die Nachweise Fn. 25. 36 Begr. RegE, BT-Drucks. 12/6699, S. 89. 37 OLG Düsseldorf v. 22.6.2017  – I-6 AktG 1/17, AG 2017, 900, 910; Bayer in FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 91, 114; Noack/Zetzsche in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2018, § 246a Rz. 55; Schatz in Heidel, AktG, 4. Aufl. 2016, § 246a Rz. 56, 69.

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tät verfügte und dass durch die unter Berufung auf ein angebliches Stimmverbot der Antragsgegner mit den Stimmen des Mehrheitsaktionärs beschlossene Strukturmaßnahme wegen der damit verbundenen Verwässerung der Mehrheits-Minderheitskonflikt einseitig zu Gunsten der Mehrheit gelöst werden sollte.38 In einem solchen Fall kann die Interessenabwägung zugunsten der Antragsgegner ausgehen (vgl. auch unten 3. c.). Im Einzelfall ist weitergehend ein Aufschubinteresse der Antragsgegner denkbar, wenn diese eine wesentliche Beteiligung unterhalb einer Sperrminorität, aber deutlich oberhalb von 10 % halten und durch die Kapitalerhöhung oder die Verschmelzung auf eine Schwelle unterhalb von 10 % verwässert werden. Hierauf hat das OLG München im Fall Curanum abgestellt. Aus dem Sachverhalt ist nur ersichtlich, dass „die Antragsgegner“ selbst „überwiegend“ die Beteiligung von 21,55 % hielten. Hinweise auf konkrete Nachteile für die Antragsgegnerseite durch deren Verwässerung auf eine Beteiligung unterhalb von 10 % ergeben sich aus dem Sachverhalt nicht; insbesondere ist nicht ersichtlich, ob die Antragsgegner Anhaltspunkte für eine Absicht des Mehrheitsaktionärs darlegen konnten, nach ihrer Verwässerung auf unter 10 % in einem zweiten Schritt etwa einen verschmelzungsrechtlichen Squeeze out durchzuführen. Ohne eine derartige konkrete Darlegung und Glaubhaftmachung steht einem überwiegenden Aufschubinteresse der Antragsgegnerseite entgegen, dass die Kapitalmaßnahme mit der erforderlichen qualifizierten Mehrheit beschlossen wurde. c) Interessenabwägung im Fall „Solarworld“ In Fällen einer sanierenden Kapitalerhöhung wie in der Solarworld-Konstellation des OLG Köln wird die Interessenabwägung regelmäßig zu Gunsten der antragstellenden Gesellschaft ausgehen. Eine drohenden Insolvenz wird in den Gesetzesmaterialien, in der Spruchpraxis und in der Literatur als besonders gewichtiger Grund für den Vollzug der zu deren Vermeidung beschlossenen Strukturmaßnahme angesehen.39 Im konkreten Fall hatte die Solarworld den Aktionären ein Sanierungskonzept durch ein auf der Internetseite veröffentlichtes „Informationsmemorandum“ bekannt gegeben, mit den Gläubigern ein Restrukturierungskonzept ausgehandelt und in einem Term Sheet niedergelegt. Eine WP-Gesellschaft hatte im Freigabeverfahren durch schriftliche Erklärung belegt, dass die positive Fortführungsprognose abhängig war von der Umsetzung des Restrukturierungskonzepts und dass die Gesellschaft ohne die sanierende Kapitalerhöhung nicht in der Lage wäre, zwei kurzfristig fällige Darlehen zurückzuzahlen, ohne die zur Aufrechterhaltung des operativen Geschäfts notwendige Liquidität zu gefährden.

38 OLG München v. 16.1.2014 – 23 AktG 3/13, ZIP 2014, 472, 474, 475. 39 Begr. RegE zu § 246a AktG, BT-Drucks. 16/11642; OLG Düsseldorf v. 15.3.1999 – 17 W 18/99, ZIP 1999, 793, 798: ThyssenKrupp; OLG Saarbrücken v. 7.12.2010 – 4 AktG 476/10, AG 2011, 343, 346; Decher in Lutter, UmwG, 6. Aufl. 2019, § 16 Rz. 79; Noack/Zetzsche in KölnKomm. AktG, 3.  Aufl. 2018, §  246a Rz.  57; Schulte in Böttcher/Habighorst/Schulte, UmwG, 2. Aufl. 2019, § 16 Rz. 39; Humrich in MünchHdb UmwR, 5. Aufl. 2016, § 14 Rz. 214.

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Hinsichtlich der Einschätzung der wirtschaftlichen Notwendigkeit einer Sanierung und der Plausibilität des Sanierungskonzepts wird man der Geschäftsleitung der Gesellschaft einen unternehmerischen Ermessensspielraum (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG) einräumen müssen. Das Gericht darf daher im Freigabeverfahren ein gewichtiges Vollzugsinteresse nur dann verneinen, wenn das Sanierungskonzept eindeutig unplausibel ist. Im Solarworld-Fall war die Antragstellerin ihrer Darlegungslast nachgekommen und hatte die Notwendigkeit einer Sanierung glaubhaft gemacht. Die Antragsgegner hatten hiergegen keine substantiierten Einwendungen erheben können und hielten zudem nur unbedeutende Beteiligungen. Dementsprechend hat das OLG Köln im Rahmen der Interessenabwägung zu Recht der antragstellenden Solarworld ein vorrangiges Vollzugsinteresse bescheinigt. Zu restriktiv ist in diesem Zusammenhang eine Entscheidung des OLG München, die die Notwendigkeit der Sanierung durch eine Kapitalmaßnahme schon deshalb in Zweifel zog, weil wenige Jahre zuvor eine Sanierung misslungen war.40 3. Besondere Schwere des geltend gemachten Rechtsverstoßes a) Grundsätze Mit der Bejahung einer Vollzugsinteresses zugunsten der antragstellenden Gesellschaft ist der Erfolg des Freigabeverfahren im Regelfall gesichert. Ausnahmsweise kommt dennoch eine Versagung der Eintragung der Verschmelzung oder Sachkapitalerhöhung in Betracht, wenn dieser eine besondere Schwere des Rechtsverstoßes entgegensteht, § 16 Abs. 3 Nr. 3 Abs. 2 UmwG, § 246a Abs. 3 Nr. 3 2. Halbsatz AktG. Die Anforderungen an das Vorliegen eines besonders schweren Rechtsverstoßes sind ausweislich der Gesetzesmaterialien hoch: Erforderlich ist, dass der Rechtsverstoß derart krass rechtswidrig ist, dass eine Eintragung und damit die Durchführung des Beschlusses ohne vertiefte Prüfung im Hauptsacheverfahren für die Rechtsordnung unerträglich wäre.41 Danach ist eine besondere Schwere des Rechtsverstoßes zu bejahen bei einer Verletzung elementarer Rechte der Anteilsinhaber, die durch Schadenersatz nicht angemessen zu kompensieren wäre. Als Beispiel nennen die Gesetzesmaterialien die Beschlussfassung in einer „Geheimversammlung“, die bewusst zu diesem Zweck nicht ordnungsgemäß einberufen wurde, absichtliche Verstöße gegen das Gleichbehandlungsgebot und die Treuepflicht mit schweren Folgen oder Verstöße gegen grundlegende Strukturprinzipien des Aktienrechts.42 Bei der Beurteilung der besonderen Schwere des Rechtsverstoßes ist abzustellen auf die Bedeutung der verletzten Norm und das Ausmaß der Rechtsverletzung.43 Materielle Inhaltsfehler des Beschlusses werden eher eine besonders schwere Rechtsverletzung rechtfertigen als Verfahrensfehler, selbst wenn letztere Nichtigkeitsgründe dar40 OLG München v. 16.1.2014 – 23 AktG 3/13, ZIP 2014, 472, 474. 41 Begr. RegE zu § 246a AktG, BT-Drucks. 16/11642, S. 41; Rechtsausschuss zu § 246a AktG, BT-Drucks. 16/13098, S. 42. 42 Rechtsausschuss zu § 246a AktG, BT-Drucks. 16/13098, S. 42. 43 Begr. RegE zu § 246a AktG, BT-Drucks. 16/11642, S. 41; Rechtsausschuss zu § 246a AktG, BT-Drucks. 16/13098, S. 42.

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stellen.44 Zudem ist zu berücksichtigen, ob eine Verletzung materieller Rechte der Anteilsinhaber nicht angemessen kompensiert werden kann,45 etwa im Wege eines Spruchverfahrens oder durch einen unschwer bezifferbaren und ohne unzumutbaren Aufwand durchsetzbaren Schadenersatzanspruch. Für das Vorliegen eines besonders schweren Rechtsverstoßes trägt der Antragsgegner die Last der Darlegung und Glaubhaftmachung.46 b) Unangemessene Bewertung als besonders schwerer Rechtsverstoß? Bewertungsrügen auf der Ebene der aufnehmenden Gesellschaft bei einer Verschmelzung und im Rahmen einer Sachkapitalerhöhung wird man nicht von vorneherein stets entgegenhalten können, dass die damit verbundene Benachteiligung der Antragsgegner kompensiert werden kann. Zur Überprüfung eines unangemessenen Umtauschverhältnisses bzw. eines unangemessenen Ausgabebetrages im Sinne von § 255 Abs. 2 AktG steht den Antragsgegnern kein Spruchverfahren zur Verfügung. Hierauf hat das OLG München im Fall Curanum im Rahmen der Interessenabwägung abgestellt.47 Das OLG Köln hat dagegen in Sachen Solarworld einen besonders schweren Rechtsverstoß im Zusammenhang mit einer Bewertungsrüge unter Hinweis auf die Möglichkeit individueller Rechtsschutzmöglichkeiten der Antragsgegner gemäß § 246a Abs. 4 AktG sowie mit Blick auf die Möglichkeit der Geltendmachung eines Verwässerungsschadens abgelehnt48 (vgl. oben II. 2.). Die Auffassung des OLG Köln überzeugt insoweit nicht. Ein Schadenersatzanspruch der Antragsgegner bei Obsiegen in der Hauptsache gemäß § 246a Abs. 4 AktG, § 16 Abs. 3 Satz 10 1. Halbsatz UmwG wird oft nicht zur Kompensation der Bewertungsrüge in Betracht kommen, wenn und weil dessen Durchsetzung mit großen Schwierigkeiten verbunden ist. So wird der Durchsetzung eines Schadenersatzanspruchs im Hauptsacheverfahren häufig entgegenstehen, dass es bei Bewertungsrügen regelmä44 Decher in Lutter, UmwG, 6. Aufl. 2019, § 16 Rz. 91; Noack/Zetzsche in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2018, § 246a Rz. 68; Schatz in Heidel, AktG, 4. Aufl. 2016, § 246a Rz. 73; vgl. auch Koch, Gutachten 72. DJT, 2018, F 9, 52. 45 Begr. RegE zu § 246a AktG, BT-Drucks. 16/11642, S. 41; Rechtsausschuss zu § 246a AktG, BT-Drucks. 16/13098, S. 42; OLG Köln v. 14.12.2017 – 18 AktG 1/17, Rz. 47 (juris): Strabag; OLG Köln v. 18.12.2015  – 18 U 158/15: Postbank (nicht veröffentlicht); OLG Köln v. 5.5.2014 – 18 U 28/14, Rz. 29 (juris); OLG Köln v. 13.1.2014 – 18 U 157/13, ZIP 2014, 263, 265; Drescher in Henssler/Strohn, GesR, 3.  Aufl. 2016, §  246a Rz.  9; Englisch in Hölters, AktG, 3. Aufl. 2018, § 246a Rz. 44, 45; Schatz in Heidel, AktG, 4. Aufl. 2016, § 246a Rz. 76; Florstedt, ZIP 2018, 1661, 1668; abweichend Noack/Zetzsche in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2018, § 246a Rz. 73; Schwab in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 246a Rz. 26. 46 Begr. RegE zu § 246a AktG, BT-Drucks. 16/11642, S. 41; Rechtsausschuss zu § 246a AktG, BT-Drucks. 16/13098, S. 42; OLG Köln v. 14.12.2017 – 18 AktG 1/17, Rz. 54 (juris); OLG Nürnberg v. 14.2.2018 – 12 AktG 1970/17, Rz. 92 (juris); Bayer in FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 91, 102; Drescher in Henssler/Strohn, GesR, 4. Aufl. 2019, § 246a AktG Rz. 9; Simon in KölnKomm. UmwG, 1. Aufl. 2009, § 16 Rz. 92. 47 OLG München v. 18.12.2013 – 7 AktG 2/13, Rz. 18 (juris). 48 OLG Köln v. 13.1.2014 – 18 U 175/13, ZIP 2014, 263, 267.

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ßig einer Beweisaufnahme bedarf und die Kläger die oft ein Vielfaches des Wertes ihrer Beteiligung betragenden Kosten für ein notwendig werdendes Sachverständigengutachten nicht werden aufbringen können. Auch die klageweise Durchsetzung eines Differenzhaftungsanspruches sieht sich diesen Schwierigkeiten ausgesetzt. Eine Benachteiligung der Antragsgegner durch eine unangemessene Unternehmensbewertung stellt eine Verletzung materieller Rechte der Antragsgegner dar und berührt deren durch Art. 14 GG geschützten eigentumsrechtlichen Schutz.49 Deshalb kann im Einzelfall eine unangemessene Unternehmensbewertung einen besonders schweren Rechtsverstoß darstellen, der einer Freigabe entgegen steht. Dafür reicht nicht schon eine Unterbewertung ab mindestens fünf Prozent aus, die nach verbrei­ teter Rechtsprechung eine Korrektur der Unternehmensbewertung im Spruchverfahren rechtfertigt.50 Eine Vergleichbarkeit mit den in den Gesetzesmaterialien angeführten Fällen eines besonders schweren Rechtsverstoßes lässt sich nur bei einer grob unangemessenen Unternehmensbewertung rechtfertigen, die mit schweren Folgen für die Antragsgegner verbunden ist. Eine nähere Betrachtung der zu beurteilenden Konstellationen zeigt, dass den Antragsgegnern auch bei der Geldmachung von Bewertungsrügen in der Regel die Darlegung und Glaubhaftmachung eines besonders schweren Rechtsverstoßes schwerfallen wird. aa) Transaktionen zwischen unabhängigen Partnern Erfolgt eine Verschmelzung oder die Einbringung von Unternehmensbeteiligungen im Wege der Sacheinlage zwischen unabhängigen Partnern, so werden Bewertungsrügen in der Regel keinen besonders schwerer Rechtsverstoß nahe legen. In einem solchen Fall wird sich der Unangemessenheit des Umtauschverhältnisses bzw. der Unangemessenheit des Ausgabebetrages im Sinn von § 255 Abs. 2 AktG zwar nicht schon entgegenhalten lassen, dass die Bewertung im Wege einer Verhandlungssituation unter unabhängigen Partnern ausgehandelt worden sei und bereits deshalb eine Vermutung für deren Richtigkeit bestehe. Das Bundesverfassungsgericht hat eine derartige Kontrolle nur auf einen formal ordnungsgemäßen Verhandlungsprozess nicht als ausreichend angesehen, sondern auch eine materielle Überprüfung gefordert.51 Zutreffend wird man bei derartigen Verhandlungen „auf Augenhöhe“ aber eine nur eingeschränkte materielle Überprüfung dahingehend ausreichen lassen können, ob anerkannte Bewertungsparameter angewendet wurden und diese im Einzelfall entsprechend verbreiteter Bewertungspraxis das Umtauschverhältnis bzw. den Ausga­ 49 BVerfG v. 24.5.2012 – 1 BvR 3221/10, Rz. 21 (juris): Daimler/Chrysler; BVerfG v. 26.4.2011 – 1 BvR 2658/10, Rz. 21 (juris): DTAG/T-Online; BVerfG v. 20.12.2010 – 1 BvR 2323/07, Rz. 8 (juris): Kuka; BVerfG v. 27.4.1999 – 1 BvR 1613/94, BVerfGE 100, 289, 301: DAT/Altana. 50 Vgl. etwa OLG Frankfurt/M. v. 29.1.2016 – 21 W 70/15, Rz. 87 (juris); OLG Stuttgart v. 19.1.2011 – 20 W 3/09, Rz. 252, 260 (juris); OLG Celle v. 19.4.2007 – 9 W 53/06, Rz. 35 (juris). 51 BVerfG v. 24.5.2012 – 1 BvR 3221/10, NJW 2012, 3020, 3022: DaimlerChrysler.

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bebetrag rechtfertigen.52 Bei der Zusammenführung von zwei börsennotierten Gesellschaften wird bei einem echten Merger of Equals53 ein an der Börsenkursrelation beider Unternehmen orientiertes Umtauschverhältnis ein ausreichendes Indiz für dessen Angemessenheit darstellen.54 Handelt es sich in der Sache um die Übernahme eines Unternehmens durch den künftigen Mehrheitspartner, so wird ein in diesem Zusammenhang gezahltes marktübliches Premium auf den Börsenkurs des Juniorpartners ebenfalls für ein angemessenes Umtauschverhältnis bzw. einen angemessenen Ausgabebetrag sprechen. Rügen der Aktionäre der aufnehmenden Gesellschaft bzw. des zukünftigen Mehrheitspartners betreffend eine zusätzlich vorgenommene oder eine angeblich notwendige Ertragswertbewertung werden angesichts einer Orientierung des Umtauschverhältnisses an einem Marktpreis kaum eine krasse Fehlbewertung zulasten der Antragsgegner nahelegen können. Fehlt es an der Börsennotierung eines der beiden Unternehmen, muss sich das Gericht zwar auf eine entsprechende Überprüfung der Ertragswertrelation beschränken. Dennoch werden wegen des bei der Zusammenführung unabhängiger Partner nur aufgelockerten materiellen Überprüfungsmaßstabes nur selten Anhaltspunkte für eine grob unangemessene Unternehmensbewertung bestehen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Ertragswertbewertung der beiden Unternehmen nach anerkannten Standards (etwa des IDW) und unter Beachtung von Fachempfehlungen (etwa des FAUB) erfolgt und wenn auch im Übrigen die maßgeblichen Bewertungsparameter in Übereinstimmung mit verbreiteter Unternehmenspraxis ermittelt werden. Dementsprechend hat auch das OLG München im Fall Curanum darauf hingewiesen, dass die Konstellation einer Unternehmenszusammenführung zwischen zwei unabhängigen Partnern, die Anhaltspunkte für die Angemessenheit des Ausgabeverhältnisses begründe, gerade nicht vorliege.55 Im Fall Solarworld des OLG Köln bestand in der Ausgangssituation dagegen ein Gleichlauf der Interessen der Solarworld AG und ihrer Aktionäre an einer Sanierung. Deren Konditionen waren mit den von ihr unabhängigen wesentlichen Gläubigern und einem neuen Investor zu verhandeln. Das OLG Köln hat die Darlegung der Solarworld zur Bewertung des Unternehmens und der einzubringenden Forderungen nach anerkannten Methoden als plausibel angesehen und aufgrund des Vortrags der Antragsgegnerseite keine ausreichenden Anhaltspunkte hinsichtlich einer unangemessenen Bewertung gesehen. Es hat daher keine besondere Schwere der Bewertungsrügen erkennen können.56 Jedenfalls bei einer nach plausibler Darlegung der antragstellenden Gesellschaft sonst nicht abzuwendenden Insolvenz ist die Verneinung des besonders schweren Rechtsverstoßes durch das OLG Köln sachgerecht. Der

52 Klöhn/Verse, AG 2013, 2, 5; vgl. auch OLG Düsseldorf v. 18.8.2016 – I-26 W 12/15, Rz. 62 (juris). 53 Näher Decher in FS Lutter, 2000, S. 1209. 54 Bungert/Wettich in FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 157, 187. 55 OLG München v. 18.12.2013 – 7 AktG 2/13, Rz. 8 (juris). 56 OLG Köln v. 13.1.2014 – 18 U 175/13, ZIP 2014, 263, 266.

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zusätzlichen Überlegung des OLG Köln, dass ein etwaiger Verwässerungsschaden der Antragsgegnerseite kompensierbar sei, ist dagegen nicht zu folgen (oben III. 3. b). bb) Konzernsachverhalte Auch in Konzernsachverhalten wird ein behauptetes unangemessenes Umtauschverhältnis bzw. ein unangemessener Ausgabebetrag von den Antragsgegnern nur schwer dargelegt und glaubhaft gemacht werden können, wenn zwei börsennotierte Gesellschaften betroffen sind und sich die Umtauschrelation an der Börsenkursrelation orientiert. Dies gilt jedenfalls bei der Zusammenführung von Unternehmen, deren Aktien über eine hohe Liquidität verfügen und die in bedeutenden Marktsegmenten gehandelt werden. Selbst wenn man in solchen Fällen entgegen Ansätzen in Rechtsprechung und Literatur57 nicht allein die Relation der Börsenkurse für die Annahme eines angemessenen Umtauschverhältnisses ausreichen lässt, so liegt bei Berücksichtigung der Marktwerte jedenfalls kein besonders schwerer Rechtsverstoß nahe. Kritischer bleiben damit Transaktionen in Konzernsachverhalten, wenn die Aktien nur eines der zusammengeführten Unternehmen hoch liquide sind und in einem bedeutenden Marktsegment gehandelt werden; insbesondere in Fällen, in denen ein Verschmelzungspartner oder das im Wege der Sacheinlage einzubringende Unternehmen nicht börsennotiert ist, kommt wegen des Grundsatzes der Methodengleichheit bei der Unternehmensbewertung keine Ermittlung der Verschmelzungsrelation bzw. des Ausgabebetrages anhand des Börsenwertes in Betracht. Um eine solche Konstellation handelte es sich im vom OLG München entschiedenen Curanum-Fall. Auch in solchen Fällen wird aber ein besonders schwerer Rechtsverstoß wegen unangemessenen Umtauschverhältnisses oder Ausgabebetrages nur dann in Betracht kommen, wenn eine einseitige Unternehmensbewertung zu Lasten der Minderheit vorliegt, weil etwa Bewertungsparameter wie der Kapitalisierungszinssatz (Basiszins, Marktrisikoprämie, Beta-Faktor) trotz Vergleichbarkeit beider Unternehmen für ein Unternehmen anders angesetzt werden und sich daraus erhebliche Nachteile für die Antragsgegner ergeben. Das OLG München weist in Sachen Curanum auf Anhaltspunkte für eine unangemessene Unternehmensbewertung hin. Aus dem Sachverhalt wird aber nicht hin­ reichend deutlich, ob diese einen besonders schweren Rechtsverstoßes wegen wesentlicher Wertabweichungen zu Lasten der Antragsgegner zur Folge haben konnten. Zudem hatte die Antragstellerin drei Bewertungsgutachten vorgelegt, die die Angemessenheit der Unternehmensbewertung unterstützten. Die Aussage des OLG München, dass das Freigabeverfahren zur Klärung solcher Bewertungsrügen schlecht ­geeignet sei, wendet sich bei der Beurteilung der besonderen Schwere des Rechtsver57 So OLG Frankfurt/M. v. 13.3.2009 – 3-5 O 57/06, NZG 2009, 553, 556 f.: DTAG/T-Online; Verfassungsmäßigkeit bestätigt durch BVerfG v. 26.4.2011  – 1 BvR 2658/10, NZG 2011, 869, 870; Bungert/Wettich in FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 157, 173; Decher in FS Maier-­ Reimer, 2010, S. 57, 69; abweichend etwa Adolff, Unternehmensbewertung im Recht der börsennotierten Aktiengesellschaft, 2007, S. 129 f.; Paulsen in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2015, § 305 Rz. 83.

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stoßes gegen die Antragsgegner, die insoweit die Last der Darlegung und Glaubhaftmachung tragen. Dementsprechend hat das OLG München auch im Fall Curanum die besondere Schwere des Rechtsverstoßes nicht näher untersucht. Es hat die Freigabe vielmehr bereits an der Interessenabwägung zugunsten der Antragsgegnerseite scheitern lassen. c) Verstöße gegen Treuepflicht und Gleichbehandlung Neben Bewertungsrügen, die sich gegen eine Wertverwässerung im Zusammenhang mit einer Verschmelzung oder einer (Sach-)Kapitalerhöhung wenden, kommen im Einzelfall auch Rügen einer Verletzung der Treuepflicht oder der Gleichbehandlung in Betracht. Diese richten sich gegen eine ungerechtfertigte Verwässerung des Stimmrechtseinflusses der Aktionäre. Dementsprechend hatte sich das OLG Köln mit der Rüge der Antragsgegner auseinanderzusetzen, der Großaktionär Asbeck habe unter Verletzung seiner Treuepflicht gegenüber den Antragsgegnern als Minderheitsaktionären mit der Ausübung seines Stimmrechts Sondervorteile zum Nachteil der Minderheitsaktionäre zu erlangen gesucht; den Minderheitsaktionären sei durch die Konditionen der sanierenden Kapitalerhöhung und die Weiterreichung der von den Neuinvestoren erworbenen Aktien an Asbeck die Change genommen worden, ihrerseits ein Bezugsrecht zu erhalten und so am Erfolg einer sanierten Gesellschaft zu partizipieren. Sollen durch die angegriffene Strukturmaßnahme einseitig die Machtverhältnisse im Unternehmen verschoben werden, so wird bei fehlender Kompensationsfähigkeit nicht nur die Interessenabwägung zugunsten der Antragsgegner ausgehen (oben III. 2. b), sondern es kann gleichzeitig ein besonders schwerer Rechtsverstoß naheliegen. Denn ein Bezugsrechtsausschluss bei einer (Sach-)Kapitalerhöhung, der ohne Deckung durch ein vitales Unternehmensinteresse nur einzelne (ggfs. sogar maßgebliche) Aktionäre trifft, nicht aber andere Aktionäre, kann einen (besonders schweren) Verstoß gegen die Gleichbehandlung oder gegen die Treuepflicht des bevorzugten Aktionärs darstellen.58 Allerdings kann in Sanierungsfällen ein besonders dringendes Gesellschaftsinteresse an einer sanierenden Kapitalerhöhung unter Ausschluss des Bezugsrechts der Aktionäre bestehen. Die Vermeidung einer drohenden Insolvenz kann im Einzelfall auch eine Ungleichbehandlung der Aktionäre bzw. eine Bevorzugung eines einzelnen Aktionärs rechtfertigen.59 So hatte im Fall Solarworld die Antragstellerin vorgetragen, dass die beteiligten Gläubiger nur auf der Grundlage der konkreten Konditionen bereit waren, an der Sanierung der Gesellschaft mitzuwirken. Unter Hinweis darauf ließ 58 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 120/16, Rz. 44 (juris): pflichtwidrige Ausnutzung eines genehmigten Kapitals; zur parallel pflichtwidrigen Sachkapitalerhöhung s. die Vorinstanz, Thüringer OLG v. 20.4.2016 – 2 U 586/14, Rz. 134 (juris); Bayer in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 203 Rz. 133 f.; Decher, ZGR 2019, im Erscheinen; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 186 Rz. 34 f.; Schürnbrand in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 186 Rz. 124. 59 Decher, ZGR 2019, im Erscheinen; Kocher/v. Falkenhausen, ZIP 2018, 1949, 1954; Scholz in MünchHdb AG, 4. Aufl. 2015, § 57 Rz. 121; strenger aber Hüffer/Koch, AktG, 14. Aufl. 2018, § 186 Rz. 35; Schürnbrand in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 186 Rz. 125.

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das OLG Köln das Vorliegen eines besonderen Rechtsverstoßes daran scheitern, dass die Antragsgegnerin, die die Darlegungs- und Glaubhaftmachungslast tragen, den Vortrag der Antragsgegnerin nicht erschüttern konnten.60 Auch insoweit wird der Erfolg im Freigabeverfahren durch die Verteilung der Darlegungs- und Glaubhaftmachungslast entschieden: Bei einem von der Antragstellerin dargelegten und glaubhaft gemachten plausiblen Sanierungskonzept wird den Antragsgegnern die Darlegung eines besonders schweren Rechtsverstoßes schwerfallen. Jedoch zeigt ein anderer, vom OLG München entschiedener Fall, dass auch eine dringend notwendige Sanierung nicht stets der Annahme eines besonders schweren Rechtsverstoßes entgegensteht. Im entschiedenen Fall war eine sanierende Kapitalmaßnahme nur mit einer Mehrheit von 58,4%, also unterhalb der erforderlich Dreiviertelmehrheit, beschlossen worden; die Antragstellerin hatte vorgetragen, dass die Gegenstimmen wegen der Verhinderung der Sanierung treuwidrig abgegeben und daher nicht zu berücksichtigen seien.61 Davon kann man aber nur dann ausgehen, wenn die Antragstellerin die Alternativlosigkeit der Kapitalmaßnahme darlegen und glaubhaft machen kann, so dass deren Blockade durch die Minderheit treuwidrig wäre.62 Dafür bestanden offenbar im entschiedenen Fall keine ausreichenden Anhaltspunkte.

IV. Ergebnis, Reformüberlegungen 1. Die Bewertungsrüge im Freigabeverfahren nach geltendem Recht Die vorstehenden Überlegungen haben gezeigt, dass das Freigabeverfahren nicht ungeeignet ist zur Überwindung von Bewertungsrügen. Die Aussage des OLG München im Curanum-Fall, das Freigabeverfahren sei zur Behandlung von Bewertungsrügen ungeeignet, darf nicht in diesem Sinne missverstanden werden. Das OLG München hat sich im konkreten Fall auch nur im Zusammenhang mit der offensichtlichen Unbegründetheit der Bewertungsrügen geäußert. Insoweit trifft es zu, dass die antragstellende Gesellschaft regelmäßig schon deshalb ihrer Darlegungsund Glaubhaftmachungslast nicht wird nicht nachkommen können, weil Bewertungsfragen häufig nur aufgrund von Sachverständigen-Gutachten geklärt werden können. Diese sind aber im Freigabeverfahren nicht als Mittel zur Glaubhaftmachung zugelassen, § 16 Abs. 3 Satz 6 UmwG, § 246a Abs. 3 Satz 3 AktG, § 294 Abs. 2 ZPO. Ausschlaggebend für den Erfolg des Freigabeverfahrens ist die Interessenabwägung, die regelmäßig zugunsten der antragstellenden Gesellschaft ausgehen wird. Dies ist im Fall von Bewertungsrügen nicht anders. Nur bei Vorliegen einer unternehme­ rischen Beteiligung des Klägers und Antragsgegners wird die Interessenabwägung 60 OLG Köln v. 13.1.2014 – 18 U 175/13, ZIP 2014, 263, 267; kritisch Florstedt, ZIP 2014, 1513, 1516, 1519. 61 OLG München v. 16.1.2014 – 23 AktG 3/13, ZIP 2014, 472, 474. 62 BGH v. 20.3.1995 – II ZR 205/94, BGHZ 129, 136, 143: Girmes.

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zu  seinen Gunsten ausgehen können, wenn die Strukturmaßnahme einseitig einen Mehrheits-/Minderheitskonflikt lösen soll oder wenn die Strukturmaßnahme eine wesentliche Schwächung des Einflusses der Minderheitsaktionäre zur Folge hat, für die keine plausiblen Gründe sprechen. Das OLG München hat im Ergebnis unter diesem Gesichtspunkt dem Aufschubinteresse der Antragsgegner den Vorrang vor dem Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin eingeräumt. Die Verneinung eines erheblichen Vollzugsinteresses unter Berufung auf Synergieeffekte durfte entgegen der Auffassung des OLG München allerdings nicht allein unter Hinweis auf deren Nach­ holbarkeit abgelehnt werden. Ob gleichwohl ein überwiegendes Aufschubinteresse wegen einseitiger Verschiebung der Beteiligungsverhältnisse zu Lasten der Antragsgegnerseite in Betracht kam, ist aus dem Sachverhalt nicht ausreichend ersichtlich. Bei Strukturmaßnahmen zur Vermeidung einer Insolvenz wird allerdings auch in Fällen einer wesentlichen Schwächung des Einflusses der Minderheitsaktionäre die Interessenabwägung regelmäßig zu Gunsten der Gesellschaft ausfallen. Dies macht die Solarworld-Konstellation des OLG Köln deutlich. Fällt die Interessenabwägung zugunsten der antragstellenden Gesellschaft aus, so werden die von den Antragsgegnern erhobenen Bewertungsrügen regelmäßig nicht einen besonders schweren Rechtsverstoßes nahelegen, der einer Eintragung entgegensteht. Insoweit kann angesichts der hohen Anforderungen an das Vorliegen eines besonders schweren Rechtsverstoßes nicht jede unangemessene Unternehmensbewertung genügen, sondern es bedarf einer grob einseitigen Unternehmensbewertung zu Lasten der Antragsgegner. Dafür tragen die Antragsgegner die Darlegungs- und Glaubhaftmachungslast. Bei der Beurteilung der besonderen Schwere des geltend gemachten Rechtsverstoßes wendet sich die Aussage des OLG München, das Freigabeverfahren sei zur Auseinandersetzung mit Bewertungsrügen nicht geeignet, gegen die Antragsgegner. 2. Reformüberlegungen Die vorstehende Analyse hat deutlich gemacht, dass das Freigabeverfahren nach geltendem Recht trotz der grundsätzlichen Möglichkeit einer Überwindung der Bewertungsrüge der antragstellenden Gesellschaft keinen Blankoscheck zur rücksichtslosen Durchsetzung von Strukturmaßnahmen mit unangemessener Bewertung gibt. Die vom Gesetzgeber eröffnete wertende Entscheidung der Gerichte im Rahmen der Interessenabwägung versetzt diese in die Lage, insbesondere die Position starker Minderheiten ausreichend zu würdigen. Die Sorge, unternehmerische Minderheitsaktionäre könnten nahezu sanktionslos benachteiligt werden,63 wird durch die Rechtsprechung in Freigabeverfahren nicht bestätigt. Es sind gerade solche Fälle, die in der Spruchpraxis zur Zurückweisung von Freigabeanträgen führen.64 Im Einzelfall sieht sich die In63 Koch, Gutachen 72. DJT, 2018, F 9, 28; C. Schäfer, Der Konzern 2018, 413, 415. 64 OLG München v. 16.1.2014 – 23 AktG 3/13, ZIP 2014, 472, 474, 475; OLG München v. 18.12.2013 – 7 AktG 2/13, Rz. 17 (juris); OLG München v. 14.12.2011 – 7 AktG 3/11, AG 2012, 260; OLG Köln v. 14.12.2017 – 18 AktG 1/17, Rz. 14, 15, 30 ff. (juris): Strabag; vgl.

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teressenabwägung zugunsten der Antragsgegner, wie im Fall Curanum des OLG München, allerdings Bedenken ausgesetzt. Dieser Befund vermag nichts daran ändern, dass das Freigabeverfahren nach geltendem Recht mit dem Beschlussmängelrecht der §§ 241 ff. AktG kein stimmiges Gesamtsystem bildet. Diese Überzeugung prägte auch die Diskussion beim 72.  Deutschen Juristentag 2018 in Leipzig, der sich mit großer Mehrheit für eine Generalreform aussprach.65 Sollte es zu einer Reform kommen, darf diese nicht dazu führen, dass Bewertungsrügen im Freigabeverfahren wegen einer wesentlichen Stärkung der Position der Antragsgegner in Zukunft wieder kaum überwunden werden können; andernfalls wäre die Transaktionssicherheit bei bedeutenden Strukturmaßnahmen auf der Ebene der Verschmelzung der übernehmenden Gesellschaft und der Sachkapital­ erhöhung nicht mehr gewährleistet. Eine etwaige Generalreform, die den Minderheitenschutz stärkt, müsste daher gleichzeitig ausnahmslos Bewertungsrügen ins Spruchverfahren verweisen und insoweit Beschlussmängelklagen versagen. Dementsprechend hat sich der 72. Deutsche Juristentag mit großer Mehrheit für eine generelle Verweisung von Bewertungsrügen ins Spruchverfahren ausgesprochen.66 Allerdings dürfte eine grundlegende Reform des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts noch in der Ferne liegen.67

auch Seibert/Hartmann in FS Stilz, 2014, S. 585, 589; weitergehend Bayer in FS Hoffmann-­ Becking, 2013, S. 91, 113, 119; Schatz in Heidel, AktG, 4. Aufl. 2014, § 246a Rz. 70. 65 Beschlüsse 72.  DJT, Wirtschaftsrecht, I. 1., abrufbar unter www.djt.de; Koch, Gutachten 72. DJT, F9, 30 ff.; ebenso schon Arbeitskreis Beschlussmängelrecht, AG 2008, 617, 621; Bayer/Fiebelkorn, ZIP 2012, 2181, 2183; Bayer/Möller, NZG 2018, 801, 803; Grigoleit, AG 2018, 645, 655; Harbarth, AG 2018, 637, 642; Mülbert, NJW 2018, 2771, 2773; zurückhaltend Löbbe, Verhandlungen 72. DJT, Sitzungsberichte, Bd II/1 2019, O11, 21; gegen eine Generalreform bei wesentlicher Stärkung des Minderheitenschutzes Heidel, ebendort, O37, 39. 66 Beschlüsse 72. DJT, Wirtschaftsrecht, II. 10.; Koch, Gutachten 72. DJT, 2018, F9, 65; Löbbe, Verhandlungen 72. DJT, Sitzungsberichte, Bd II/1 2019, O21, 35; ebenso schon DAV-Handelsrechtsausschuss, NZG 2007, 497, 503; Bayer, ZHR 172 (2008), 24, 28; Hüffer, ZHR 172 (2008), 8, 10; abweichend Heidel, Verhandlungen 72. DJT, Sitzungsberichte, Bd II/1 2019, O37, 84. 67 Vgl. BT-Drucks. 19/5282, S. 59. 

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Benefit Corporations zwischen Gewinn- und Gemeinwohlorientierung: Eine rechtsvergleichende Skizze Inhaltsübersicht I. Einführung II. Das US-amerikanische Grundmodell 1. Orientierender Überblick 2. Gesetzgeberische Motive 3. Wesentliche Regelungselemente 4. Wissenschaftliche Aufnahme 5. Praktische Bedeutung

I II. Rezeptionsprozesse in anderen Ländern 1. Kanada 2. Italien 3. Frankreich IV. Und Deutschland?

Das Entwerfen von Gesetzen sei ein sehr kreativer Vorgang, hat Ulrich Seibert einmal erläutert.1 Deshalb gebe er sich in seiner Funktion des Formulierens und Vorschlagens von Gesetzentwürfen für Regierung und Parlament auch gerne und vollkommen zutreffend die Berufsbezeichnung „legal designer“.2 In der Tat wird man ihm Kreativität und Erfindergeist während seines langjährigen Wirkens im Bundesministerium der Justiz kaum absprechen können. Nichts zeigt dies deutlicher als die von ihm aus der Taufe gehobene Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt),3 die sich längst als Erfolgsmodell etabliert hat.4 Daher hoffe ich auf sein Interesse, wenn hier zu Ehren seines 65. Geburtstages der Frage nachgegangen wird, ob die Zeit reif ist für eine weitere Rechtsformneuschöpfung: eine deutsche benefit corporation nach US-amerikanischem Vorbild.

I. Einführung Corporate Social Responsibility und Sustainable Finance – wer sich einen wachen Sinn für den wirtschaftlichen Zeitgeist bewahrt hat, kommt an diesen Begriffen heute nicht mehr vorbei. Unternehmen wissen um ihre gesellschaftliche Verantwortung und wollen ihr gerecht werden, Investoren streben nach einer sozialverträglichen und nachhaltigen Vermögensanlage. Aber bietet unser Gesellschaftsrecht hierfür die passenden Organisationsformen? Eignen sich GmbH und AG für eine duale Zweckverfolgung, die Gewinn- und Gemeinwohlorientierung miteinander verbindet? Oder empfiehlt sich die Einführung einer maßgeschneiderten neuen Organisationsform, um soziales 1 So Seibert in Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“, 2013, S. 111, 115.  2 Seibert (Fn. 1), S. 111, 116. 3 Dazu Fleischer, DB 2017, 291 mit rechtsvergleichenden Hinweisen zur Rezeption der Unternehmergesellschaft in Dänemark, Belgien, Italien und Luxemburg. 4 Zahlenmaterial bei Fleischer in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, Einl. Rz. 201a.

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Unternehmertum zu fördern? Wertvolle Anregungen verspricht insoweit ein rechtsvergleichender Seitenblick auf das Rechtsformentableau in anderen Ländern. Blendet man genossenschaftliche Alternativen aus, die inzwischen in den romanischen Rechtsordnungen eine beträchtliche Rolle spielen,5 so fällt der Blick vor allem auf die benefit corporation US-amerikanischer Provenienz,6 die zunächst eingehend vorgestellt und gewürdigt wird (II.). Sodann geht es um erste Erfahrungen mit der Rezeption dieser Organisationsform in anderen Ländern, die teils erfolgreich verlaufen (Italien7), teils auf Widerstand gestoßen ist (Kanada8) oder zumindest vorläufig zurückgestellt wurde (Frankreich9) (III). Schließlich sind die rechtspolitischen Perspektiven für eine deutsche Variante der benefit corporation auszuloten. Eine breitere Debatte über Notwendigkeit oder Nutzen einer solchen hybriden Gesellschaftsform ist hierzulande noch kaum in Gang gekommen.10 Stattdessen kreist die Reformdiskussion fast ausschließlich um systemimmanente Veränderungen für Non-Profit-Organisationen (IV.).11

II. Das US-amerikanische Grundmodell 1. Orientierender Überblick „Pursuing Profit with Purpose“12 – unter diesem griffigen Slogan haben social enterprises in den Vereinigten Staaten vor einem knappen Jahrzehnt Einzug in das dortige 5 Eingehend zur économie sociale et solidaire in Frankreich Cozian/Viandier/Deboissy, Droit des sociétés, 30. Aufl. 2017, Rz. 68 ff.; rechtsvergleichend Fici, A European Study for Social and Solidarity-Based Enterprise – Study for the Juri Committee, 2017, S. 15 ff.; weiterführend auch Sorensen/Neville, EBOR 15 (2014), 267. 6 Monographisch zuletzt Alexander, Benefit Corporation Law & Governance. Pursuing Profit with Purpose, 2018. 7 Vgl. etwa die Einzelbeiträge zur società benefit in Italien von Angelici, Denozza/Stabilini, Marasà, Rossi, Stella Richter jr und Zoppini, alle in Orizzonti del diritto commerciale 2017, n° 2. 8 Vgl. zur Einführung einer community contribution company in zwei kanadischen Provinzen, aber auch zur Zurückhaltung des föderalen Gesetzgebers Tchotourian, Rev. soc. 2018, 211; ferner Liao, 40 Seattle U. L. Rev. 683 (2017). 9 Für einen rechtspolitischen Vorschlag zur Einführung einer entreprise à mission zuletzt Rapport Notat/Senard, L‘entreprise, objet d’intérêt collectif, Rapport aux Ministres de la Transition écologique et solidaire, de la Justice, de l’Économie et des Finances du Travail, 9 mars 2018, Recommendation n° 12; ablehnend Projet de Loi relatif à la croissance et la transformation des entreprises (Loi PACTE), AN n° 1088, enregistré à la Présidence de l’Assemblée nationale le 19 juin 2018, S. 543. 10 Treffend Möslein, ZRP 2017, 175: „Soziales Unternehmertum bedingt gesellschaftsrechtlichen Reformbedarf, der weltweit in vielen europäischen Mitgliedstaaten und auf Ebene der EU unterschiedlichste Regelsetzer intensiv beschäftigt. Einzig in Deutschland sind keinerlei vergleichbare Aktivitäten des Gesetzgebers zu verzeichnen; vorerst fehlt selbst jede Reformdiskussion.“; weiterführend aber Möslein/Mittwoch, RabelsZ 80 (2016), 399; Momberger, Social Entrepreneurship, 2015, S. 301 ff. und passim. 11 Vgl. zuletzt Hüttemann, Empfiehlt es sich, die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Gründung und Tätigkeit von Non-Profit-Organisationen übergreifend zu regeln?, Gutachten G zum 72. Deutschen Juristentag 2018. 12 Begriffsprägend: Westaway, Profit & Purpose: How Social Innovation is Transforming ­Business for Good, 2014.

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Gesellschaftsrecht gehalten. Das erste Gesetz über benefit corporations ist im Oktober 2010 in Maryland in Kraft getreten.13 Zahlreiche andere Bundesstaaten zogen in rascher Folge nach. Heute verfügen insgesamt 33 von ihnen und der District of Columbia über ein entsprechendes Statut.14 Die meisten lehnen sich mit lokalen Variationen an die Model Benefit Corporation Legislation an – ein auf privater Initiative beruhendes, mit erläuternden Kommentaren versehenes Mustergesetz, das aus vier Abschnitten mit insgesamt 13 Vorschriften besteht.15 In Delaware, der mit Abstand wichtigsten Jurisdiktion für große börsennotierte Gesellschaften in den Vereinigten Staaten, gibt es seit 2013 die sog. public benefit corporation.16 Über ihre Rechtsnatur heißt es im Gesetz, sie sei „a for-profit corporation […] intended to produce a public benefit or public benefits and to operate in a responsible and sustainable manner“.17 Kürzlich hat ihr der Delaware-Gesetzgeber mit der benefit LLC eine kleine Schwester an die Seite gestellt.18 Die treibende Kraft hinter dieser Gesetzgebungswelle war und ist die B Lab Company (B Lab), eine gemeinnützige Organisation mit Sitz in Pennsylvania, die von zwei erfolgreichen Bekleidungsunternehmern und einem Private-Equity-Investor gegründet wurde.19 In ihrem Auftrag hat William H. Clark, Partner einer großen Anwaltssozietät aus Philadelphia, das schon erwähnte Mustergesetz entworfen.20 B Lab hat es dann durch geschicktes Lobbying verstanden, den Gliedstaaten-Gesetzgebern diese neue Organisationsform schmackhaft zu machen. Dabei kam ihr wohl zugute, dass soziales Unternehmertum auf beiden Seiten des politischen Spektrums große Popularität genießt.21 B Lab ist aber nicht nur der spiritus rector hinter der benefit corporation, sondern auch eine private Zertifizierungsstelle, die das Gütesiegel einer „Certified B Corporation“ an Unternehmen beliebiger Rechtsform verleiht, sofern diese bestimmte soziale und ökologische Standards erfüllen.22 Anders als bei herkömmlichen Zertifi-

13 2010 Md. Laws Ch. 17, § 1 (S.B. 690). 14 State by State Legislative Status, Benefit Corp. Info. Ctr., http://benefitcorp.net/policymakers/­ state-by-state-status. 15 Vgl. https://benefitcorp.org/attorneys/model-legislation. 16 Näher dazu Dorff, 42 Del. J. Corp. L. 77 (2017); Murray, 4 Harv. Bus. L. Rev. 345 (2014). 17 Del. Code Ann. Tit. 8, § 362(a). 18 Eingehend dazu Manesh, Introducing the Totally Unnecessary Benefit LLC, 97 N.C. L. Rev. 603 (2019). 19 Aufschlussreich Hamermesh/Houlahan/Alexander/Osusky, A Conversation with B Lab, 40 Seattle U. L. Rev. 321 (2017); ferner das Selbstzeugnis von Houlahan/Kassoy/Gilbert, 40 Seattle U. L. Rev. 299 (2017). 20 Vgl. die Selbstzuschreibung bei Clark/Babson, 38 Wm. Mitchell L. Rev. 817 mit Fn. * (2012): „Mr. Clark drafted all of the benefit corporation legislation that has been enacted or introduced as of the publication of this article.“ 21 Vgl. Westaway, Something Republicans and Democrats Can Agree On: Social Entre­ preneurship, Stan. Soc. Innovation Rev., April 17, 2012; ferner Murray, 75 Md. L. Rev. 541, 580 (2016): „The statutes appear to appeal to both the social justice advocates on the left and to the free market proponents on the right.“ 22 Näher https://bcorporation.net.

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zierungsregimen werden nicht einzelne Produkte oder Dienstleistungen ausgezeichnet, sondern vorbildliche Gesellschaften.23 Neben der benefit corporation kennt das wachsende Universum des social enterprise law in den Vereinigten Staaten noch zwei weitere Rechtsforminnovationen, die aber bisher keine größere Bedeutung erlangt haben und deshalb hier nur stichwortartig erwähnt werden: die low-profit limited liability company (L3C) und die social purpose corporation (SPC).24 2. Gesetzgeberische Motive Über die Motive zur Schaffung der benefit corporation als einer neuen Organisationsform unterrichtet zuvörderst ein Weißbuch der Initiatoren.25 Diese betonen eingangs, dass Social Entrepreneurship, Impact Investing und die gesamte Nachhaltigkeitsbewegung inzwischen eine kritische Masse erreicht hätten und nun an einem Wendepunkt stünden. Sowohl bei Verbrauchern als auch bei Investoren und Unternehmern bestehe eine hohe Nachfrage nach Organisationsformen, die sich zugleich gewinnund gemeinwohlorientiert betätigten.26 Der hergebrachte rechtliche Regelungsrahmen vermöge diese Nachfrage nicht zu befriedigen, weil er eine strenge Zweiteilung in For-Profit- und Non-Profit-Organisationen vorsehe.27 Nach eingeschliffener Spruchpraxis seien die Organmitglieder einer business corporation nämlich einem Shareholder-Value-Ansatz verpflichtet, der die Gewinnmaximierung zum vorrangigen oder sogar ausschließlichen Unternehmensziel erhebe.28 Dies zeigten Grundsatzentscheidungen wie Dodge v. Ford Motor Co. aus dem Jahre 191929 und eBay Domestic Holdings, Inc. v. Newmark von 201030 sowie im übernahmerechtlichen Kontext Revlon, 23 Treffend Möslein/Mittwoch, RabelsZ 80 (2016), 399, 407: „Anstelle von ‚good products‘ werden hier ‚good companies‘ zertifiziert.“ 24 Zu ihnen näher Brakman Reiser/Dean, Social Enterprise Law: Trust, Public Benefit and Capital Markets, 2017, S. 52, 61 ff.; Murray, 75 Md. L. Rev. 541, 543 ff. (2016). 25 Vgl. Clark/Vranka, White Paper: The Need and Rationale for the Benefit Corporation: Why It Is the Legal Form That Best Adresses the Needs of Social Entrepreneurs, Investors, and Ultimately, the Public, January 18, 2013; wiederholend und vertiefend Clark/Babson, 38 Wm. Mitchell L. Rev. 817 (2012). 26 So Clark/Vranka (Fn. 25), S. 2 ff.; eingehend Clark/Babson, 38 Wm. Mitchell L. Rev. 817, 819 ff. (2012) unter der Zwischenüberschrift „Market Demand by Consumers, Investors, and Social Entrepreneurs“. 27 Eingehend Clark/Babson, 38 Wm. Mitchell L. Rev. 817, 825 ff. (2012) unter der Zwischenüberschrift „Existing Corporation Law Does Not Accomodate For-Profit Mission-Driven Companies“. 28 Näher Clark/Vranka (Fn. 25), S. 7 ff. 29 204 Mich. 459, 507 (1919): „A business corporation is organized and carried on primarily for the profit of the stockholders. The powers of the directors are to be employed for that end. The discretion of directors is to be exercised in the choice of means to attain that end, and does not extend to a change in the end itself, to the reduction of profits, or to the non-distribution of profits among stockholders in order to devote them to other purposes.“ 30 16 A.3d 1, 35 (Del. Ch. 2010): „Directors of a for-profit Delaware corporation cannot ­deploy  a [policy] to defend a business strategy that openly eschews stockholder wealth

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Inc. v. MacAndrews & Forbes Holding, Inc. aus dem Jahre 1986.31 An diesem Grundbefund könnten weder die verbreiteten corporate constituency statutes in den Gliedstaaten noch die richterrechtliche Business Judgment Rule etwas ändern, weil beide den Direktoren lediglich ermöglichten, Stakeholder-Belange bei ihrer Entscheidungsfindung zu berücksichtigen, ohne sie indes hierzu zu verpflichten.32 Angesichts dieser beträchtlichen Rechtsunsicherheit seien neue rechtliche Lösungen unumgänglich, die den einzigartigen Bedürfnissen der for-profit mission driven businesses besser Rechnung trügen.33 3. Wesentliche Regelungselemente Vor diesem richterrechtlichen Hintergrund erklären sich die wesentlichen Regelungselemente der benefit corporation,34 die hier stellvertretend anhand ihrer Modellgesetzgebung (MBCL) erläutert werden. Sie betreffen den Gesellschaftszweck (corporate purpose), die Verantwortlichkeit der Direktoren (accountability), die Berichtspflichten (transparency) und die Durchsetzung der gemeinwohlorientierten Satzungsziele (benefit enforcement proceeding).35 Ergänzend gelten die Bestimmungen des corporation law in den einzelnen Gliedstaaten. Den Grundton gibt § 201(a) MBCL vor, wonach eine solche Gesellschaft den Zweck verfolgen muss, einen allgemeinen öffentlichen Nutzen (general public benefit) zu stiften.36 Ausweislich der Legaldefinition in § 102 MBCL versteht man darunter eine wesentliche positive Auswirkung auf Gesellschaft und Umwelt durch die Geschäftstätigkeit der benefit corporation, gemessen an einem Drittparteien-Standard. Zudem kann die Gesellschaftssatzung nach § 201(b) MBCL weitere spezifische öffentliche Nutzen (specific public benefits) vorsehen, die in einer nicht abschließenden Liste in §  102 MBCL aufgezählt werden. Zu ihnen gehören etwa die Bereitstellung nützlicher Erzeugnisse oder Dienstleistungen für geringverdienende oder unterversorgte Einzelpersonen und Gemeinden, der Schutz oder die Wiederherstellung der Umwelt, die Verbesserung der Volksgesundheit, die Förderung von Kunst und Wissenschaft sowie die Finanzierung gemeinwohlorientierter Einrichtungen. maximi­zation – at least not consistently with the directors‘ fiduciary duties under Delaware law.“ 31 506 A.2d 173, 182 (Del. 1986): „[C]oncern for non-stockholder interest is inappropriate when an auction among active bidders is in progress.“ 32 Vgl. Clark/Vranka (Fn. 25), S. 9 ff. 33 So ausdrücklich Clark/Vranka (Fn. 25), S. 14. 34 In diesem Sinne auch die Binnensicht von Clark/Babson, 38 Wm. Mitchell L. Rev. 817, 838 (2012): „It is against the paradigm of shareholder primacy that benefit corporation statutes have been drafted.“ 35 Im Kern ebenso, aber unter Verzicht auf den vierten Punkt Clark/Babson, 38 Wm. Mitchell L. Rev. 817, 838 (2012): „There are three major provisions in benefit corporation legislation that are consistent from state to state. These provisions address corporate purpose, accountability, and transparency.“ 36 Dazu auch der Comment zu §  201 MBCL: „Every benefit corporation has the corporate purpose of creating general public benefit.“

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Als Herzstück des Modellgesetzes37 gilt § 301(a)(1) MBCL, der die Verhaltenspflichten des board of directors und sämtlicher Direktoren ausbuchstabiert. Danach sind diese bei der Erfüllung ihrer Aufgaben verpflichtet, die Auswirkungen ihres Tuns und Unterlassens auf Anteilseigner, Arbeitnehmer, Tochtergesellschaften und Zulieferer zu berücksichtigen, sowie die Auswirkungen auf die Begünstigten des allgemeinen oder spezifischen Gesellschaftszwecks, die ortsansässigen Gemeinden, die lokale wie globale Umwelt und die kurz- und langfristigen Interessen der benefit corporation. Nach § 301(a)(3) MBCL brauchen die Direktoren keinem dieser Einzelbelange den Vorrang einzuräumen, sofern die Satzung das nicht ausdrücklich anordnet. Wie der offiziöse Kommentar erläutert, werden mit diesen Regelungen die Vorgaben der z­ itierten Leitentscheidungen zur Gewinnmaximierung im Aktionärsinteresse38 zurückgewiesen.39 Zur Überprüfung ihrer gemeinwohlorientierten Tätigkeit muss die Gesellschaft gemäß § 401 MBCL jährlich einen sog. benefit report erstellen, der nach § 402 MBCL allen Aktionären zu übermitteln und auf ihrer Internetseite zu veröffentlichen ist. Eine obligatorische Prüfung dieses Berichts findet nicht statt. Mit der Berichterstattung sowie der Überwachung des gemeinwohlorientierten Gesellschaftszwecks und dessen Einhaltung können gesellschaftsintern ein benefit director (§ 302 MBCL) und/ oder ein benefit officer (§ 303 MBCL) betraut werden, deren Bestellung der Gesellschaft allerdings freisteht. Neben den Offenlegungspflichten gibt es noch einen besonderen Mechanismus zur Durchsetzung der statutarisch zu verfolgenden Gemeinwohlbelange, das sog. benefit enforcement proceeding. Klagebefugt sind nach § 305(c) MBCL die Gesellschaft selbst und im Wege des derivative suit eine Gesellschafterminderheit von wenigstens 2 %.40 Dagegen können die statutarisch Begünstigten der Gesellschaft selbst nicht klagen;41 ihnen gegenüber obliegen den Direktoren gemäß §  301(d) MBCL keine eigenen Pflichten.42 Außerdem werden die Direktoren nach §  301(c) MBCL vor allfälligen Schadensersatzansprüchen im Zusammenhang mit ihrer gemeinwohlorientierten Amtsausübung abgeschirmt. 4. Wissenschaftliche Aufnahme Im US-amerikanischen Schrifttum ist die benefit corporation auf ein gemischtes Echo gestoßen. Man findet glühende Befürworter und entschiedene Gegner. 37 So auch der Comment zu § 301 MBCL: „This section is at the heart of what it means to be a benefit corporation. These provisions address corporate purpose, accountability, and transparency.“ 38 Einzelnachweise in Fn. 29–31.  39 Vgl. Comment zu § 301 MBCL. 40 Hierzu auch der Comment zu § 305(c) MBCL: „To reduce the possibility of nuisance suits, a shareholder or group of shareholders bringing a derivative suit must at least own 2% of the outstanding shares of the benefit corporation.“ 41 Dazu auch § 305(a) MBCL: „Except in a benefit enforcement proceeding, no person may bring an action or assert a claim […].“ 42 Erläuternd der Comment zu § 301(d) MBCA: „Subsection (d) negates any enforceable duty of directors to non-shareholder constituents.“

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Letztere stellen aus verschiedenen Gründen ein Regelungsbedürfnis für die neue Rechtsform in Abrede:43 Das geltende Recht sei hinreichend geschmeidig, um den Bedürfnissen von Unternehmern und Anlegern Rechnung zu tragen.44 Dies gelte insbesondere für die LLC, die den (Gründer-)Gesellschaftern große Gestaltungsfreiheit einräume.45 Außerdem liege der Auffassung, dass die US-amerikanische Spruchpraxis den Geschäftsleitern im Aktionärsinteresse eine Gewinnmaximierungspflicht auf­ erlege, eine zu enge Lesart der einschlägigen Entscheidungen zugrunde.46 Obendrein sei die Unternehmenszielbestimmung in Delaware und anderwärts dispositiv.47 Demgegenüber verweisen die benefit-corporation-Befürworter neben den schon zitierten Urteilen auf extrajudizielle Stellungnahmen von Leo Strine, dem vormaligen Chancellor und heutigen Chief Justice des Delaware Supreme Court, zur Shareholder-Value-Orientierung seines Gerichts.48 Strine erblickt in der benefit corporation im Übrigen eine erfrischende Evolution des US-amerikanischen Gesellschaftsrechts.49 Andere betonen, dass die benefit corporation ein leicht erkennbares Signal für gemeinwohlorientierte Anleger, Verbraucher und Arbeitnehmer aussende;50 ihre Regeln könnten der Diskussion um profit & purpose businesses als fokaler Punkt dienen.51 43 Vg. etwa Tu, 84 Geo. Wash. L. Rev. 121, 167 (2016): „[T]he addition of Benefit Corporations creates an overlap with traditional for-profit corporations where both are capable of ­pursuing dual objectives of profit and public benefit.“ 44 Vgl. Heminway, 86 UMKC L. Rev. 779, 800 f. (2018); Molk, in Means/Yockey (Hrsg.), The Cambridge Handbook for Social Enterprise Law, 2018, S. 241: „[M]any of the firms that have now converted to one of the new social enterprise forms first operated for many years as corporations. And they were able to do so because corporate law has long allowed cor­ porations the flexibility to consider other constituents beyond investors.“ 45 Vgl. Manesh, 97 N.C. L. Rev. 603, 607 (2019): „[T]he unanimous consensus is that con­ ventional LLC law already permits a business ample flexibility to commit itself to balancing or even subordinating profits against a social mission.“ 46 Vgl. etwa Stout, 3 Va. L. & Bus. Rev. 163, 166 (2008): „Dodge v. Ford is indeed bad law, at least when cited for the proposition that the corporate purpose is, or should be maximizing shareholder wealth. Dodge v. Ford is a mistake, a judicial ‚sport‘, a doctrinal oddity largely irrelevant to corporate law and corporate practice.“ 47 Vgl. Bainbridge, 97 Nw. U. L. Rev. 547, 577 ff. (2003); Macey, 3 Va. L. & Bus. Rev. 177, 179 (2008). 48 Vgl. Strine, 50 Wake Forest L. Rev. 761, 768 (2015): „Despite attempts to muddy the doctrinal waters, a clear-eyed look at the law of corporations in Delaware reveals that, within the limits of their discretion, directors must make shareholder welfare their sole end, and other interests may be taken into consideration only as a means of promising stockholder wel­ fare.“ 49 Vgl. Strine, 4 Harv. Bus. L. Rev. 235, 242 (2014): „In the liberal tradition of incremental, achievable reform rather than radical renovation, the benefit corporation is a modest evolution that builds on the American tradition of corporate law.“ 50 Vgl. Alexander (Fn. 6), S. 155; Murray, 85 U. Cinn. L. Rev. 437, 446 (2017); Manesh, 97 N.C. L. Rev. 603, 647 (2019) mit dem Zusatz: „Benefit entity statutes facilitate this signaling ­function by providing socially-minded businesses the statutory ‚benefit‘ moniker to dis­ tinguish themselves from businesses organized as conventional corporations and LLCs, which are presuambly less virtuous or altruistic.“ 51 Näher Yockey, 66 Ala. L. Rev. 767, 807 ff. (2015).

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Modellimmanente Kritik richtet sich gegen die Durchsetzungsmechanismen zur Sicherstellung der gemeinwohlorientierten Geschäftstätigkeit.52 Bemängelt wird namentlich, dass den satzungsmäßig Begünstigten der benefit corporation keine Klagerechte zustünden,53 zumal die Anteilseigner selbst nur geringe Klageanreize hätten.54 Reformvorschläge reichen von Klagemöglichkeiten für stakeholders55 über eine intensivere staatliche Aufsicht56 bis hin zur obligatorischen Einführung eines stakeholder advisory board ab einer gewissen Unternehmensgröße.57 Als zweite Schwachstelle gilt vielen das Berichterstattungsregime der benefit corporation.58 Häufig würden gar keine Berichte erstellt;59 die veröffentlichten benefit reports erschöpften sich nicht selten in reinem Selbstlob ohne nennenswerten Informationswert;60 eine ausdrückliche Sanktion gegen unterbliebene oder irreführende benefit reports fehle.61 Die Folge sei eine gefährliche Tendenz zum greenwashing,62 die freilich auch der Modellgesetzgeber schon antizipierte und mit dem benefit report zu bekämpfen suchte.63 5. Praktische Bedeutung Über den Erfolg der benefit corporation in der Unternehmenspraxis gibt es bisher keine ganz zuverlässigen Zahlen, weil viele Bundesstaaten sie in ihrer Statistik nicht 52 Vgl. Callison, 2 Am. U. Bus. L. Rev. 85, 110 (2012): „There is no enforcement mechanism to ensure that corporations which fail to seek general public benefit do not latch on to the benefit corporation moniker and the developing marketplace for social enterprises.“; Reiser, 46 Wake Forest L. Rev. 591, 611 (2011). 53 Vgl. Loewenstein, 85 Cin. L. Rev. 381, 388 (2017): „[…] the persons with the greatest incentives to sue the benefit corporation – the beneficiaries of its specific public benefit – are expressly denied standing unless the articles or bylaws otherwise provide, and even then these persons would not be able to obtain monetary relief.“ 54 Resümierend Loewenstein, 85 Cin. L. Rev. 381, 388 (2017): „Unsurprisingly, there are no reported instances of derivative litigation involving a benefit corporation.“ 55 Vgl. Padfield, 6 Wm. & Mary Bus. L. Rev. 1, 17 f. (2015). 56 In diesem Sinne Hacker, 57 B.C. L. Rev. 1747, 1772 ff. (2016): „State Attorney General Oversight and Enforcement“; ferner Cho, 37 Nw. J. Int’l L. & Bus. 149, 169 f. (2017) in Anlehnung an das „U.K. Office of the Regulator of Community Interest Companies (‚CIC Regulator‘)“. 57 Vgl. Murray, 54 Am. Bus. L.J. 61 (2017). 58 Dazu, auch mit empirischen Belegen Murray, 118 W. Va. L. Rev. 25 (2015); Verheyden, 14 Hastings Bus. L.J. 37 (2018). 59 Vgl. Verheyden, 14 Hastings Bus. L.J. 37, 62 ff. (2018). 60 Vgl. Murray, 4 Harv. Bus. L. Rev. 345, 359 (2014): „significant puffery“; Manesh, 97 N.C. L. Rev. 603, 657 (2019): „self-congratulatory propagandizing“. 61 Vgl. Ball, 18 U. Pa. J. Bus. L. 919, 963 (2016). 62 Vgl. Hacker, 57 B.C. L. Rev. 1747, 1757 ff. (2016); aus einer law & economics-Perspektive Cherry, 14 U.C. Davis Bus. L.J. 281 (2014). 63 Vgl. Comment zu § 102 MBCL: „The annual benefit report is also intended to reduce ‚greenwashing‘ (the phenomenon of businesses seeking to portray themselves as being more ­environmentally and socially responsbible than they actually are) by giving consumers and the general public a means of judging whether a business is living up to its claimed status as a benefit corporation.“

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gesondert erfassen.64 Nach Aussagen von Frederick Alexander, dem Chefjuristen von B Lab, gab es Ende 2017 mehr als 5.000 benefit corporations, unter ihnen allein in Delaware über 1.000.65 Das ist in absoluten Zahlen wenig,66 doch sind die Wachstumsraten beträchtlich.67 Bei den meisten Gesellschaften handelt es sich um kleine, wenig bekannte Unternehmen, oft mit familiärem Einschlag.68 Als prominente Vorzeigeunternehmen gelten der Outdoor-Bekleider Patagonia, der Bio-Babynahrungshersteller Plum Organics, der Hersteller von Brandbekämpfungs-Equipment Solberg Manufacturing und die Finanzierungsplattform für kreative Produkte Kickstarter. Im Jahre 2017 ist mit Laureate Education die erste benefit corporation an die Börse gegangen, wo sie insgesamt 490 Mio. USD erlöste.69 Weitere Unternehmen werden inzwischen von bekannten Venture-Capital-Gebern unterstützt.70 Ob sich die benefit corporation breitflächig durchsetzen wird, lässt sich derzeit noch nicht absehen. Hoffnung macht ihren Initiatoren, dass auch die LLC, heute noch vor der corporation Amerikas beliebteste Organisationsform, nach ihrer Einführung 1977 in Wyoming ebenfalls einen verhaltenen Start erlebte.71

III. Rezeptionsprozesse in anderen Ländern Das Modell der benefit corporation hat nicht nur in den Vereinigten Staaten eine enorme Literaturfülle zu social enterprises hervorgebracht, sondern auch Aktivisten, Forscher und Gesetzgeber in anderen Ländern inspiriert.72 An den Beispielen Kanadas, Italiens und Frankreichs lässt sich gut veranschaulichen, welche Argumente für und gegen eine Rezeption dieser neuen Organisationsform ins Feld geführt werden.

64 Dazu den Hinweis auf der Website von B Lab, http://benefitcorp.ne/businesses/find-abenefit-­corp: „The list below is B Lab‘s best effort to create an accurate accounting of benefit corps and is inclusive of all data collected by B lab from state agency reports. Many states do not currently track the names or number of benefit corporations.“ 65 Vgl. Alexander, Westlaw Journal of Corporate Officers and Directors Liability, December 11, 2017, 2. 66 Vgl. Murray, 75 Md. L. Rev. 541, 568 f. (2016): „This number is insignificant in the face of almost six million corporations and over three million partnerships currently in existence.“ 67 So Dorff, 42 Del. J. Corp. L. 77, 85 (2017): „While the absolute number of benefit cor­ porations is still rather small, the growth rate is impressive.“ 68 Vgl. Murray, 75 Md. L. Rev. 551, 567 f. (2016). 69 Dazu McDonnell, 40 Seattle U. L. Rev. 717, 724 ff. (2017). 70 Vgl. Alexander, Westlaw Journal of Corporate Officers and Directors Liability, December 11, 2017, 2: „I have been able to track 35 benefit corporations in the U.S. that have raised outside capital totaling almost $1.4 billion. Many of these companies have raised capital from well-known venture capitalists, including Benchmark Capital, Founders Fund, Andreesen Horowitz, Shasta Ventures, Sequoia and Union Square Ventures.“ 71 Dazu Dorff, 42 Del. J. Corp. L. 77, 85 (2017); rechtsvergleichend Fleischer, NZG 2014, 1081, 1088. 72 Für einen guten Überblick neuerdings der Sammelband von Means/Yockey (Hrsg.), The Cambridge Handbook for Social Enterprise Law, 2018; monographisch Brakman Reiser/ Dean (Fn. 24).

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1. Kanada Nördlich der US-amerikanischen Grenze hat die benefit corporation rasch wortmächtige Fürsprecher gefunden.73 Schon 2011 forderte MaRS Discovery District, ein Forschungszentrum in Toronto, in einem Weißbuch die Einführung einer entsprechenden Rechtsform in Kanada.74 Im Jahre 2014 folgte die Canadian Bar Association, die drei Vorschläge zur Reform des Canada Business Corporations Act (CBCA) im Hinblick auf Corporate Social Responsibility vorlegte. Ein Vorschlag lautete: „Amend the CBCA to permit the incorporation of, or conversion of, existing CBCA corporations to a new kind of specialized business corporation, the ‚benefit corporation‘. For those corporations with a specific mission and/or just social values, provide a corporate structure that utilizes the existing corporate legislation and adds provisions for ‚purpose, accountability and transparency‘. This will promote CSR (Corporate Social Responsibility) objectives and provide protection to shareholders, investors, and Directors.“75 Für eine solche Reform trommelt auch B Lab, die bei der Zertifizierung von „Certified B Corporations“ gerade in Kanada recht erfolgreich ist.76 Gleichwohl zeigen sich der föderale Gesetzgeber und manche Forscher77 bisher zögerlich. Dies liegt vor allem daran, dass dem kanadischen Korporationsrecht – anders als dem US-amerikanischen – kein Shareholder-Value-Konzept zugrunde liegt. Nach der Schlüsselvorschrift in s. 122 CBCA obliegt es den Direktoren, die Unternehmensleitung wahrzunehmen „in the best interests of the corporation“. Eine vielbeachtete Entscheidung des Supreme Court of Canada aus dem Jahre 2004 hat diese Bestimmung dahin interpretiert, dass die Direktoren dabei die Interessen der Anteilseigner, Arbeitnehmer, Zulieferer, Kreditgeber, Verbraucher, der Regierungen und der Umwelt berücksichtigen dürfen.78 Vier Jahre später hat das Gericht diesen Richterspruch bestätigt.79 73 Näher dazu Liao, 40 Seattle U. L. Rev. 683, 685 ff. (2017): „In past years, canadian legislators have felt pressure to implement the American benefit corporation model into existing provincial and federal corporate laws.“; außerdem Tchotourian, Rev. soc. 2018, 211. 74 Vgl. Corriveau et al., Benefit Corporations in Canada: A Tool to Support Blended Enter­ prise in Canada, MaRS Centre for Impact Investing, 2011. 75 Wiedergegeben bei Tobin, Canadian Bar Association Urges Parliament to Change the Law to Encourage the Creation of Benefit Corporations, Blaneys on Business, August 28, 2014. 76 Vgl. Tchotourian, Rev. soc. 2018, 211, 217: „Au Canada, l’exemple de la certification B Corp est marquant. En effet, la certification B Corp connaît un succès grandissant auprès des entreprises canadiennes. 184 entreprises ont fait le choix de la certification B corp.“ 77 Vgl. namentlich Liao, 40 Seattle U. L. Rev. 683, 714 (2017): „There are good reasons for Canada to wait and see how the benefit corporation fares in the longer term. […] This ­author suggests patience, further research, and a willingness from Canadian social leaders backing the benefit corporation to better understand the state of Canadian corporate governance and its trajectory given recent court decisions and emerging business megatrends.“ 78 Peoples Department Stores Inc. (Trustee of) v. Wise, [2004] 3 S.C.R. 461 Rz. 42 (Can.): „[I]n determining whether they are acting with a view to the best interests of the corporation, it may be legitimate, given all the circumstances of a given case, for the board of directors to consider, inter alia, the interests of shareholders, employees, suppliers, creditors, consumers, governments and the environment.“ 79 BCE Inc. v. 1976 Debentureholders, [2008] 3 S.C.R. 560 Rz. 83 (Can.): „In each case, the question is whether, in all the circumstances, the directors acted in the best interests of the

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Immerhin haben zwei kanadische Provinzen in jüngerer Zeit hybride Organisationsformen zur Förderung von Gemeinwohlbelangen eingeführt. Den Anfang machte British Columbia im Juli 2013 mit der community contribution company (C3 oder CCC), gefolgt von Nova Scotia im Juni 2016 mit der community interest company. Über erstere heißt es in Art. 51.92 des Business Corporations Act: „One or more of the primary purposes of a community contribution company must be community purposes and these purposes must be set out in its articles.“ Der Provinzgesetzgeber von Nova Scotia hat zusätzlich noch die Direktorenpflichten festgeschrieben80 und mit dem registrar of community interest companies eine behördliche Überwachungsstelle eingerichtet. Beide kanadischen Hybridformen sind allerdings nicht der US-amerikanischen benefit corporation nachgebildet, sondern der englischen community interest company (CIC).81 Wie bei dieser unterliegt die Gewinnausschüttung auch bei jenen gesetzlichen Schranken. Jüngst hat ein Abgeordneter allerdings einen Gesetzesvorschlag zur Einführung einer benefit corporation in das Regionalparlament von British Columbia eingebracht.82 2. Italien In Europa hat die benefit corporation zuerst in Italien Fuß gefasst. Nicht zuletzt auf Betreiben von Nativa, dem italienischen Kooperationspartner von B Lab, hat der Gesetzgeber durch die Legge di Stabilità vom Dezember 2015 die sog. società benefit eingeführt.83 Seit dem 1. Januar 2016 kann man in Italien Gesellschaften mit einer doppelten Zielsetzung – Gewinnausschüttung (scopo di dividerne gli utili) und Gemeinwohlorientierung (finalità di beneficio comune) – gründen. Konzeptionell bildet die società benefit keine eigenständige Rechtsform, sondern steht allen bereits vorhandenen Gesellschaftsformen als Ausgestaltungsvariante offen, auch der Genossenschaft. Im Geschäftsverkehr kann die Gesellschaft ihrer Firma den Zusatz società ­benefit (oder SB) hinzufügen. Die insgesamt neun Vorschriften (Art.  1 Legge di Stabilità, comma 376–384) lehnen sich in verschiedener Hinsicht an das US-amerikanische Vorbild an, z.B. hinsichtlich der jährlichen Berichterstattungspflicht (comma 382) und der Ernennung eines Verantwortlichen für die Verfolgung des statutarischen ­Gesellschaftszwecks (comma 380). In mancher Beziehung gehen sie aber auch ei­ gene  Wege. So muss der angestrebte Gemeinwohlzweck genau spezifiziert werden corporation, having regard to all relevant considerations, including – but not confined to – the need to treat affected stakeholders in a fair manner, commensurate with the corporation‘s duties as a responsible corporate citizen.“ 80 Wörtlich heißt es in Art. 12 des Community Interest Companies Act: „A director or officer of a community interest company shall, when exercising the powers and performing the functions of a director or officer of the community interest company, act in accordance with the community purpose of the community interest company set out in its memorandum of association and its designation documents.“ 81 Näher dazu Gower/Davies/Worthington, Principles of Modern Company Law, 10.  Aufl. 2016, Rz. 1–12. 82 Bill M216: Business Corporations Amendment Act 2018, eingebracht im Mai 2018 durch den Grünen-Abgeordneten Andrew Weaver. 83 Legge 28.12.2015, n. 208, Gaz. Uff. vom 30.12.2015, n. 302.

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(comma 379), um greenwashing zu erschweren. Bei Nichtverfolgung des angegebenen Zwecks greifen die Vorschriften der Verbraucherschutzgesetzgebung über irreführende Werbung ein, die von der Wettbewerbsbehörde überwacht werden (comma 384). Überdies sind bei einem Verstoß gegen die gemeinwohlbezogenen Direktorenpflichten die gesellschaftsrechtlichen Haftungsvorschriften anwendbar (comma 381). Schließlich werden die Anforderungen an den Drittparteien-Standard zur Prüfung des beneficio comune in einem Anhang genauer ausbuchstabiert. Die Wissenschaft beschäftigt sich zunehmend mit der società benefit;84 die Internetzeitschrift „Orizzonti Del Diritto Commerciale“ hat ihr 2017 sogar ein eigenes Forum mit sechs Beiträgen führender Professoren gewidmet.85 Auch in der Unternehmens­ praxis findet die società benefit wachsende Aufmerksamkeit. Waren es Ende 2016 noch 64, so hat sich ihre Zahl bis Mitte 2017 auf 110 erhöht, unter ihnen 96 GmbHs, acht Aktiengesellschaften und drei Genossenschaften.86 Inzwischen zählt man etwa 250 società benefit,87 seit März 2018 mit AFAM, den kommunalen Apotheken aus Florenz, auch ein Unternehmen, dessen Anteile teils in öffentlicher, teils in privater Hand liegen. 3. Frankreich In Frankreich steht mit der économie sociale et solidaire (ESS), verstanden als dritter Weg zwischen Staat und Markt, bereits ein Regelungsregime zur Verfügung, mit dem Unternehmen unter bestimmten Voraussetzungen88 ein sozial nützliches Ziel verfolgen können.89 Dies gilt nicht nur für Genossenschaften, Stiftungen und Vereine, sondern unter der weiteren Voraussetzung eingeschränkter Gewinnausschüttung auch für Handelsgesellschaften. Dessen ungeachtet hat eine hochrangige Reform­ kom­mission kürzlich in ihrem Abschlussbericht die Einführung einer sog. entreprise à mission vorgeschlagen, die sich an der US-amerikanischen benefit corporation orientieren soll.90 Dadurch will man den Gesellschaften die Verbindung von intérêt ­social und but lucratif erleichtern und dem sozialen Unternehmertum zusätzlichen Schwung verleihen.91 Im Einzelnen werden hierfür vier Voraussetzungen genannt: (a) die Aufnahme einer raison d’être in die Statuten, die positive Auswirkungen auf Gesellschaft 84 Vgl. etwa Corso, NLCC 2016, 995; Siclari, RTDE 2016, 36; Ventura, Contratto e impresa 2016, 1134. 85 Fn. 7. 86 Vgl. officina delle idee benefiche, Fotografia odieb delle sb al 30 Giugno 2017; dazu auch D’Angerio, Società benefit, vince Milano, Il Sole 24 Ore, 4 settembre 2017. 87 https://www.societabenefit.net/registro-ufficiale-società-benefit/. 88 Näher dazu Grandvuillemin, JCP E 2015, 1542 n° 9 ff. 89 Vgl. Cozian/Viandier/Deboissy (Fn. 5), Rz. 68 ff.; Germain/Magnier, Les sociétés commerciales, 22. Aufl. 2017, Rz. 1522. 90 Vgl. Rapport Notat/Senard (Fn. 9), Recommendation n° 12: ‚,reconnaître dans la loi l’entreprise à mission, accessible à toutes les formes juridiques de société, à la condition de remplir quatre critères.“; monographisch aus betriebswirtschaftlicher Sicht auch Levillain, Les entreprises à mission. Un modèle de gouvernance pour l‘innovation, 2017. 91 Vgl. Rapport Notat/Senard (Fn. 9), S. 69.

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und Umwelt verspricht, (b) die Einrichtung eines unabhängigen Ausschusses, der sich auch aus Stakeholdern zusammensetzen kann, (c) die Prüfung durch einen unabhängigen Dritten, ob die statutarische raison d’être tatsächlich verwirklicht wird, und (d) die Veröffentlichung einer Erklärung über die nichtfinanzielle Leistung in Gesellschaften von mehr als 500 Arbeitnehmern.92 Konzeptionell soll die entreprise à mission keine neue Rechtsform sein, sondern allen bereits vorhandenen Gesellschaftsformen als Ausgestaltungsvariante offen stehen.93 Sie soll keine Steuerver­ günstigungen erhalten, dafür aber auch keinen Beschränkungen in ihrer Ausschüttungspolitik unterliegen.94 Gedacht ist sie nicht als Ersatz für die ESS, sondern als Ergänzung. Der jüngst in das Parlament eingebrachte Reformentwurf einer Loi PACTE95 hat diesen Vorschlag für eine entreprise à mission indes nicht aufgegriffen. Zur Begründung führt er vier Argumente an: (1) Die Unternehmen könnten schon nach geltendem Recht soziale oder umweltbezogene Ziele verfolgen, wenn sie dies wollten. (2) Es gebe bereits eine beträchtliche Anzahl an Gesellschaftsformen in Frankreich. (3) Angesichts der Konkurrenz mit dem ESS-Regelungsrahmen bestehe die Gefahr einer redundanten oder unübersichtlichen Rechtslandschaft. (4) Vorzugswürdig sei, dass sich die Wirtschaft selbst der Sache annehme und eigene Regelungsvorschläge oder Zertifizierungen entwickle.96 Hinzu komme, dass die Loi PACTE den Gesellschaftern in Art. 1835 Code civil künftig die Möglichkeit eröffnen will, die raison d’être der Gesellschaft in den Statuten festzuschreiben.97

IV. Und Deutschland? Hierzulande ist die rechtspolitische Diskussion noch wenig entwickelt. Wenn überhaupt, führt man sie einseitig unter Non-Profit-Gesichtspunkten.98 Dies wird der Zielrichtung der benefit corporation indes nicht gerecht: Wie dargelegt, handelt es sich bei ihr um eine for-profit-Gesellschaft ohne gesetzliche Gewinnausschüttungsschran-

92 Rapport Notat/Senard (Fn. 9), S. 71. 93 So Rapport Notat/Senard (Fn. 9), S. 70. 94 Rapport Notat/Senard (Fn. 9), S. 69. 95 Vgl. Loi PACTE (Fn. 9); dazu Paillusseau, D. 2018, 1395. 96 Loi PACTE (Fn. 9), S. 543 f. 97 Wörtlich soll es dort heißen: „Les statuts peuvent préciser la raison d’être dont la société entend se doter dans la réalisation de son activité.“; dazu auch Fleischer, ZGR 2018, 703, 728 ff. 98 Kritisch zu Recht Möslein, ZRP 2017, 175, 179: „Die Diskussion sozialen Unternehmertums auf den Non-Profit-Sektor zu beschränken […] greift deshalb schon begrifflich zu kurz. Die eigentliche Zukunftsmusik betrifft vielmehr das gesamte Gesellschaftsrecht: Sie liegt darin, ebenjene grundlegende Unterscheidung zwischen Gemeinwohl- und Gewinn­ orientierung zu überdenken – mit all den vielschichtigen rechtlichen Konsequenzen, die sich daraus ergeben.“

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ken. Gerade deshalb wird sie von sozialen Unternehmern gewählt, die das enge Korsett des Gemeinnützigkeitsrechts scheuen.99 Mit dieser Klarstellung, dass es um einen neuen Gesellschaftstyp mit dualer Zwecksetzung – Gewinn- und Gemeinwohlorientierung – geht, ist das Regelungsbedürfnis für eine solche Rechtsform in Deutschland freilich noch nicht schlüssig dargetan. Immerhin spielt einer der Hauptgründe für die Einführung einer benefit corporation in den Vereinigten Staaten, die Gewinnmaximierungspflicht im Aktionärsinteresse, hierzulande keine Rolle. Nach hergebrachter Auffassung ist der Vorstand im Rahmen des §  76 Abs.  1 AktG dem Unternehmensinteresse verpflichtet und darf bei seiner Entscheidungsfindung Belange der Arbeitnehmer und der sonstigen dem Unter­ nehmen verbundenen Gruppen berücksichtigen,100 wie es Ziff. 4.1.1 des deutschen Corporate Governance Kodex ausdrücklich festhält. Aus dieser Stakeholder-Orientierung folgt aber mitnichten, dass eine deutsche benefit corporation von vornherein entbehrlich wäre. Auch das italienische Gesellschaftsrecht kennt ein weites Verständnis des interesse sociale101 und hat die società benefit dennoch eingeführt. In beiden Jurisdiktionen ist der Vorstand zur Verfolgung von Stakeholder-Belangen eben nur berechtigt und nicht verpflichtet. Ein zweites denkbares Argument gegen eine Rechtsformneuschöpfung lautet, dass man deren duale Zweckverfolgung hierzulande auf satzungsmäßiger Grundlage nachbilden könne. Dies trifft für die GmbH mit ihrer großen Gestaltungsfreiheit gewiss zu. Das GmbH-Gesetz weiß mit tatkräftiger Unterstützung der Kautelarpraxis schon die gemeinnützige GmbH (gGmbH) zu akkommodieren102 und könnte Ähnliches für Gesellschaften mit dualer Zwecksetzung leisten. Für die AG scheint dies wegen des Grundsatzes der Satzungsstrenge zwar schwieriger zu sein, doch dürfte § 23 Abs. 5 AktG letztlich kein unüberwindliches Hindernis darstellen.103 In beiden Fällen ergäbe sich die Verpflichtung auf einen dualen Gesellschaftszweck jedoch nur aus einer Satzungsbestimmung, nicht schon aus der Rechtsform selbst. Die besondere Anziehungskraft einer „sprechenden“ Rechtsformbezeichnung besteht jedoch gerade in ihrer Signalfunktion für den Geschäftsverkehr, ihrem branding  – vergleichbar der gGmbH oder der Europäischen Aktiengesellschaft mit ihrer Internationalität ausstrahlenden Marke.

99 Aus US-amerikanischer Sicht Verheyden, 14 Hastings Bus. L.J. 37, 43 f. (2018): „Creating a nonprofit is not the most suitable option for many of these entrepreneurs. First, the nondistribution constraint implies the impossibility of raising equity capital and difficulties securing debt financing and might deter entrepreneurs from starting a social enterprise with the double purpose of public-benefit creation and profit generation. Further, it is a typical feature of social enterprises to have income-generating activities at the core of their business and to directly or indirectly harness theses activities to achieve public benefit.“ 100 Näher Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 76 Rz. 28. 101 Vgl. Angelici, Banca, borsa, 2014, I, 255. 102 Dazu Fleischer (Fn. 4), § 1 GmbHG Rz. 28 f. m.w.N.; ferner Momberger (Fn. 10), S. 87 ff. 103 Vgl. Fleischer, AG 2017, 509, 514 (zu CSR-Satzungsklauseln); ferner Momberger (Fn. 10), S. 95 ff.

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Besteht denn aber bei Unternehmern und Verbrauchern ein Bedürfnis für eine eigene Organisationsform mit rechtlicher Unterscheidungskraft? Das lässt sich naturgemäß kaum zuverlässig vorhersagen. Einen ersten Anhalt bieten die Zahlen aus den Vereinigten Staaten und Italien, die immerhin auf ein gewisses Grundinteresse hindeuten. Hierzulande gibt es überdies verschiedene Beispiele für Unternehmen, die sich bewusst als „Certified B Corporation“ auszeichnen lassen, etwa die Crowdfunding-Plattform Startnext.104 Eine staatlich anerkannte Rechtsform für soziale Unternehmen könnte für einen zusätzlichen Distinktions- und Legitimationsgewinn bei Verbrauchern und Arbeitnehmern sorgen105 sowie durch gesetzliche Schutzvorkehrungen zu einem „decreased greenwashing“106 beitragen. Was die gelegentlich heraufbeschworene Gefahr einer Verwirrung des Rechtsverkehrs anbelangt,107 so sollte man sie nicht überschätzen. Nach einer ersten Einführungs­ phase dürfte sich der Geschäftsverkehr rasch an die Spezifika einer deutschen benefit corporation gewöhnen, so wie er längst auch mit den Besonderheiten einer gGmbH vertraut ist. Schwieriger fällt die Auswahl einer schlagkräftigen deutschen Bezeichnung: „benefit GmbH“ in Anlehnung an die italienische società benefit klingt ebenso wenig überzeugend wie „soziale oder sozialnützige Gesellschaft“.108 Es bleibt der durchaus ernst zu nehmende Einwand knapper Regelgeberressourcen; auch für den Gesetzgeber gilt ein Opportunitätskostenkalkül. Wie das US-amerikanische und das italienische Modell veranschaulichen, wäre der Regelungsaufwand für eine deutsche benefit corporation jedoch vergleichsweise überschaubar. Man könnte auf dem Normalstatut für die GmbH oder AG „aufsatteln“ und etwa bei den Vorschriften über den Unternehmensgegenstand (§ 3 GmbHG, § 23 AktG) oder die Geschäftsleiterpflichten (§ 43 GmbHG, § 93 AktG) einzelne Sonderregeln einführen – ein Konstruktionsmodell, das uns von der Unternehmergesellschaft in § 5a GmbHG durchaus vertraut ist.109 Wenn man all dem nähertreten möchte, ist es nach den US-amerikanischen Erfahrungen allerdings unabdingbar, für einen wirkungsvollen Durchsetzungsmechanismus zu sorgen, um das Vertrauen in die neue Rechtsform zu stärken. Es liegt nahe, zunächst auf entsprechende Publizitätspflichten zu bauen, die leichter umzusetzen

104 Dazu Theil, Startnext wird als B Corp Unternehmen ausgezeichnet, 12.1.2016, mit der zusätzlichen Erläuterung: „Was die FairTrade-Zertifizierung für Kaffee oder das Bio-Siegel für Lebensmittel sind, ist B Corp für nachhaltig wirtschaftende Unternehmen.“; abrufbar unter https://www.startnext-wir-als-b-corp-unternehmen-ausgezeichnet. 105 Zum Legitimationsgewinn durch rechtliche Anerkennung Ebrahim et al., 34 Res. in Organizational Behav. 81, 86 (2014); ferner Verheyden, 14 Hastings Bus. L.J. 37, 50 (2018). 106 Westaway/Sampselle, 62 Emory L.J. 999, 1085 (2013). 107 In diese Richtung etwa Manesh (Fn.  18) unter der Zwischenüberschrift „Needless ­Complexity“. 108 Den Begriff „soziale Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ verwendet Momberger (Fn. 10), S. 312 in seinem Reformvorschlag. 109 Für die Einfügung eines neuen § 5b GmbHG über die Sozialgesellschaft daher Momberger (Fn. 10), S. 312. 

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Holger Fleischer

sind als Änderungen in der internen Unternehmensverfassung, und sie von vornhe­ rein einer effektiven Überwachung zu unterwerfen, um greenwashing zu bekämpfen. Summa: Dieser Beitrag versteht sich nicht als flammendes Plädoyer für eine deutsche benefit corporation. Er will lediglich aufzeigen, dass es für eine solche Rechtsformneuschöpfung plausible Gründe gibt, über die näher nachzudenken sich lohnt. Interna­ tional kann die benefit-corporation-Familie derweil weiteren Zuwachs verzeichnen: Mitte 2018 hat Kolumbien die sociedad de Beneficio e Interés Colectivo (BIS) eingeführt.110

110 Ley No. 1901, 18 Jun 2018 por medio de la cual se crean y desarrollan las sociedades ­comerciales de beneficio e interés colectivo (BIC). In Art. 1 des Gesetzes heißt es hierzu: „Cualquier sociedad comercial existente o futura de cualquier tipo establecido por la ley, podrá adoptar voluntariamente la condición de sociedad de ‚Beneficio e Interés Colectivo‘ (BIC).“

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Tim Florstedt

Die steuerrechtliche Behandlung der Einnahmen sog. räuberischer Aktionäre Inhaltsübersicht I. Einführung II. Empirische Grundlegung 1. Was ist ein „räuberischer Berufskläger“? 2. Arten der Bezahlung I II. Die einkommensteuerrechtliche Sicht 1. Der „Berufskläger“ als Gewerbe­ treibender a) Grundlegung: der „Gewerbetreibende“ als Typusbegriff b) Orientierungspunkte in der Judikatur des BFH c) Typus des gewerblich tätigen ­„räuberischen Aktionärs“

2. Zwischenfazit 3. Folgefragen bei nicht gewerblichem ­Handeln: verdeckte Gewinnausschüttung oder Betriebsausgabe? 4. Besonderheiten bei Zwischenschaltung von Prozessvehikeln IV. Die Einnahmen aus umsatzsteuer­ rechtlicher Sicht 1. Unternehmerisches Handeln 2. Sonstige Leistung gegen Entgelt V. Ausblick

I. Einführung Der Missbrauch mit der Anfechtungsklage ist eines der meist diskutierten Probleme in der wirtschaftsrechtlichen Fachdiskussion seit Jahrzehnten.1 Die Eindämmungsversuche sind zahlreich und umfassen gesetzliche Maßnahmen wie die anleihe- und aktienrechtlichen Eilprozesse (sog. Freigabeverfahren) ebenso wie richterrechtliche Behelfslösungen (Ansprüche wegen sittenwidriger Schädigung; Rechtsmissbrauchsvorwurf).2 Der Deutsche Juristentag hat sich bereits sechsmal mit möglichen Problemlösungen auseinandergesetzt,3 die beiden letzten größeren Aktienrechtsreformen, das UMAG (2005)4 und das ARUG (2009),5 sind wesentlich auch Gesetze gegen die 1 Überblick bei Homeier, Berufskläger im Aktienrecht, 2016, S. 27 ff. 2 Überblick bei Noack/Zetzsche, Kölner Kommentar AktG, 3. Aufl. 2017, § 245 Rz. 163 ff. sowie Homeier, Berufskläger im Aktienrecht, 2016, S. 105 ff. (Rechtsprechung), S. 135 ff. (gesetzgeberische Maßnahmen). 3 Verhandlungen des 31. DJT, 1912, Bd. III, S. 444 f.; Verhandlungen des 34. DJT 1926, Bd. I, S. 258 ff., Bd. II, S. 611 ff.; Verhandlungen des 42. DJT 1957, Bd. I, Teil 3, Bd. II, S. F 1 ff.; Verhandlungen des 63. DJT 2000, Bd. I, S. F 1 ff., Bd. II/1, S. O 11 ff.; Verhandlungen des 67. DJT 2008/9, Bd. I, S. E 1 ff., Bd. II/1; Verhandlungen des 72. DJT 2018, Bd. I, S. F 1 ff. 4 Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG) v. 22.9.2005, BGBl. I 2005, 2802.  5 Gesetz zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie (ARUG) v. 30.7.2009, BGBl. I 2009, 2479.

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systematische Erpressung von Unternehmen. In den letzten Jahren gab es in der Rechtswissenschaft erneut Aufrufe zu einer Grundsatzreform,6 die sich die Politik zu Eigen gemacht hat,7 und die Beschlüsse des 72. Juristentags in Leipzig weisen ebenfalls in diese Richtung. Es ist kein Widerspruch, wenn dem ARUG als einem Zwischenschritt heute dennoch ein insgesamt positives Zeugnis ausgestellt wird.8 Darin zeigt sich auch der besondere Verdienst des Jubilars. „Sein“ Freigaberecht enthält in Wahrheit schon die wichtigsten Fortentwicklungen – Konturierung der Kassationsgründe, Differenzierung der Rechtsfolgen – und wird wohl der Grundstein bleiben, auf dem weitere Reformen aufbauen werden.9 Aber ein Grundproblem bleibt es, dass die konzeptionell aufrechterhaltene „Wächterfunktion“ des Anfechtungsklägers eine lückenlose Missbrauchsabwehr kaum zulässt: „Berufskläger“ wird es weiter geben.10 Unabhängig davon, wie das Aktienrecht auf den abuse de droit durch einen ganzen Berufszweig reagieren sollte, hat zwischenzeitlich die Strafrechtswissenschaft das Vorgehen solcher Aktionäre als „Erpressung“ benannt, thematisiert und auf eine Ebene mit der Produkterpressung oder der Weitergabe von Betriebsgeheimnissen an

6 S. statt vieler Koch, NJW-Beilage 2/2018, 50, 51 sowie den „Arbeitskreis Beschlussmängelrecht“, AG 2008, 617, 619 f.; Habersack/Stilz, ZGR 2010, 710, 723 ff.; Bayer/Fiebelkorn, ZIP 2012, 2181, 2183 f.; Vetter, AG 2008, 177, 181 ff.; monographisch Nietsch, Freigabeverfahren, 2013, passim; s. ferner Jocksch, Das Freigabeverfahren gem. § 246a AktG im System des einstweiligen Rechtsschutzes, 2012, S. 71 ff. mit konkretem Vorschlag auf S. 221 f.; Schatz, Der Missbrauch der Anfechtungsbefugnis durch den Aktionär und die Reform des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts, 2012, S. 233 ff., 339; Überblick zum Meinungsstand bei Noack/Zetzsche, Kölner Kommentar AktG, 3. Aufl. 2017, Vor. § 241 Rz. 73 ff. 7 Koalitionsvertrag der 19.  Legislaturperiode zwischen CDU, CSU und SPD v. 14.3.2018, S.  131; vgl. zuvor bereits die Aufhaltung weiterer Teilreformen aus diesem Grund BTDrucks. 18/6681, S. 12 (zur sog. Aktienrechtsnovelle 2014); BT-Drucks. 18/7902, S. 54 (Abschlussprüfungsreformgesetz); BT-Drucks. 17/14214, S.  18 (keine relative Befristung der Nichtigkeitsklage unter Hinweis auf Grundsatzreform). 8 S. bereits den Gutachter Koch, Gutachten zum 72. DJT 2018, Bd. I, der das deutsche Beschlussmängelrecht insgesamt zwar in „keinem guten Zustand“ sieht (S. F 9), das aktienrechtliche Beschlussmängelrecht indes nicht grundsätzlich, sondern eher dessen Details für reformbedürftig hält („Tatsächlich wäre es aber auch in der Sache nicht klug, das geltende System in seiner Gesamtheit voreilig für untauglich zu erklären und die Konzeption bei Null neu zu beginnen, weil man dabei aus dem Blick zu verlieren droht, welche wichtigen Schritte das Beschlussmängelrecht schon vollzogen hat, die – bei allem Streit um die Detailgestaltung  – heute doch weitgehend konsentiert sind“ (F12)  und dens., NJW-Beilage 2/2018, 50, 51; vgl. auch Bayer/Möller, NZG 2018, 801, 803 („[…] die deutlichen Nachbesserungen durch das ARUG im Jahre 2009 brachten einen signifikanten Durchbruch“). 9 Der 72. DJT ist in seinen Beschlüssen der Sache nach im Wesentlichen den Vorschlägen des Arbeitskreises Beschlussmängelrecht (AG 2008, 617) gefolgt; die Vorschläge werden aber durch das ARUG zu einem gewichtigen Teil bereits erreicht, vgl. zu der zutreffenden Selbsteinschätzung des Jubilars Seibert/Hartmann in FS Stilz, 2014, S.  585, 599  f.; vgl. auch Florstedt, AG 2009, 465.  Ob es zu der Grundsatzreform kommt, kann zudem bezweifelt werden, vgl. skeptisch auch Noack/Zetzsche, Kölner Kommentar AktG, 3. Aufl. 2017, Vor. § 241 Rz. 71, die eine Grundsatzreform für unwahrscheinlich halten. 10 Das Mindestquorum ist seit geraumer Zeit seltsam stigmatisiert, vgl. dazu zuletzt auch Bayer/Möller, NZG 2018, 801, 804 f.

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Steuerrechtliche Behandlung der Einnahmen räuberischer Aktionäre

Konkurrenten gehoben.11 Im Vergleich dazu ist die – in diesem Beitrag unternommene – steuerrechtliche Behandlung der Zahlungen an „Berufskläger“ auffallend unterdeterminiert.12 Ohne auf den naheliegenden Hinweis einzugehen, dass selbst epochemachende Verbrecher „nur“, aber immerhin wegen ihrer Steuerdelikte zur Rechenschaft gezogen wurden,13 soll hier auf eine neue Begrenzungsart des Missbrauchs mit der Anfechtungsklage hingewiesen werden. Diese Perspektivveränderung wird den Jubilar, der schon zu Zeiten des ARUG gemeinsam mit dem Verfasser in dem Labyrinth der aktienrechtlichen Lösungsvorschläge nach einem Ausweg suchte, hoffentlich interessieren.14

II. Empirische Grundlegung 1. Was ist ein „räuberischer Berufskläger“? Das Problem des Missbrauchs subjektiver Aktionärsrechte ist so alt wie die mit der Anfechtungsklage einhergehende Macht, wichtige Kapitalmaßnahmen der AG zu blockieren. Bei dem Versuch, sich von dem heutigen Phänomen des „räuberischen Aktionärs“ eine Vorstellung zu machen, kann auf umfangreiche empirische Vorarbeiten verwiesen werden.15 Im Lauf der Zeit hat sich das Vorgehen verändert. Seit den Reformen des Unbedenklichkeitsverfahrens im Jahr 2009 gehen die Berufskläger seltener gegen (freigabefähige) Strukturmaßnahmen (Kapitalerhöhung, Umwandlungsmaßnahmen, Squeeze-out) vor.16 Kann man das Problem mit den Positivwirkungen der letzten Reformen für erledigt halten? Offenbar nicht, denn die „Berufskläger“ haben das Vorgehen in drei Hauptvarianten fortentwickelt. (1) Ein besonderes Freiga11 Engelhardt, Die Strafbarkeit des räuberischen Kleinaktionärs, 2014, S.  122, 225; Trinks, NStZ 2016, 263, 264. 12 Bislang liegen dazu nur drei untergerichtliche Entscheidungen (FG Berlin-Brandenburg v. 24.11.2010 – 7 K 2182/06 B, ZIP 2011, 1149; FG Köln v. 11.6.2015 – 13 K 3023/13, AG 2015, 834; FG Köln v. 23.6.2016 – 13 V 436/16, BeckRS 2016, 95207) und einige Anmerkungen aus der Praxis vor (Olgemöller, AG 2011, 547; Eppers, EFG 2015, 1545; Olgemöller/Selle, AG 2017, 309). 13 S. zu einem besonders berühmten Steuerprozess etwa Schoenberg, Al Capone. Die Biographie, 2001, S. 364 ff. 14 Vgl. Seibert/Florstedt, ZIP 2008, 1245, 1251 ff. 15 Vgl. Baums/Vogel/Tacheva, ZIP 2000, 1649; Baums/Gajek/Keinath, ZIP 2007, 1629 (mit Bezug zum UMAG) sowie mit Bezug zum ARUG: Bayer/Hoffmann/Sawada, ZIP 2012, 897 ff.; Bayer/Hoffmann, AG 2017, R155; Baums/Drinhausen/Keinath, ZIP 2011, 2329, 2338; Grigoleit, AG 2018, 645, 650 f. sowie monographisch Homeier, Berufskläger im Aktienrecht, 2016, S. 35 ff. 16 Studien weisen auf einen deutlichen Rückgang der Klagen hin, vgl. mit Unterschieden Baums/Drinhausen/Keinath, ZIP 2011, 2329, 2338 (welche die Reformfolgen für ungenügend erachten); Bayer/Hoffmann/Sawada, ZIP 2012, 897 ff. (die einen größeren Rückgang der Klagen ermitteln); Bayer/Hoffmann, AG 2017, R155.  Vgl. dazu auch die zutreffende Einschätzung des Jubilars in AG 2015, 593, 595.

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beverfahren gibt es nur für besondere Maßnahmen (Kapitalerhöhung, Squeeze-Out, Eingliederung, Umwandlung17). In anderen Bereichen können Berufskläger weiter ein gewisses Drohpotential nutzen, z.B. die Anfechtung der Wahl von Aufsichtsräten oder – und gravierender – von Abschlussprüfern.18 (2) Das 2009 reformierte Rechtsschutzsystem für Kleinaktionäre hat die Grenze der Blockademacht durch Anfechtungsklagen weit hinaus zugunsten der Gesellschaften verschoben. Ausgeklammert wurden die besonderen Probleme in Sanierungssachverhalten.19 Hier besteht ein erheblicher Zeitdruck, den die Berufskläger weiter ausnutzen können. Die Sanierungskapitalmaßnahmen einer AG werden heute deswegen regelmäßig per verzögernder Anfechtungsklage angegriffen.20 Weil im neuen Anleiherecht des SchVG 2009 das aktienrechtliche Anfechtungssystem übernommen wurde (§ 20 SchVG), können die Berufskläger insofern auch gegen Beschlüsse zur Restrukturierung von Anleihen leicht vorgehen. (3) Eine zeitlich noch jüngere, hier nur kurz zu erwähnende Variante besteht in einer weiteren Art der Ausnutzung subjektiver (Klage-)Rechte. Notleidende Unternehmen sahen sich in einer Restrukturierungsphase zuletzt nicht nur Anfechtungs-, sondern vermehrt auch Leistungsklagen ausgesetzt, mit denen sogen. „Kündigungsgläubiger“ ihre kurz zuvor mit großen Abschlägen eingesammelten Anleiheforderungen nach Kündigungserklärung einklagten.21 Die Parallele liegt darin, dass zum Schaden der übrigen Gläubiger, die nach Maßgabe eines mehrheitsgetragenen Sanierungsplans Opfer erbringen müssen, Einzelne sich der gesetzlich angeordneten Zwangssolidarisierung (nach SchVG oder der InsO) entziehen und einseitig einen Vorteil verschaffen. Der „Kündigungsgläubiger“ übt ebenfalls Druck auf den Emittenten aus, der die Forderung (zum Nennwert) bedient, um der Gefahr einer Kündigungslawine durch eine Vielzahl anderer Gläubiger zu entgehen.22 2. Arten der Bezahlung Um welche „Leistungen“ an die Kläger geht es? Seit den Reformen des ARUG sind die Klagen weniger geworden und dass Anfechtungskläger auf ihre Klagerechte nur gegen Barzahlung verzichten, kommt seltener vor.23 Auch durch Austauschverträge oder Kreditvergabe zu günstigen Konditionen, durch die Vermittlung einer Position im Aufsichtsrat oder auch durch einen Rückkauf der 17 Dazu nunmehr Seibert/Bulgrin in FS Marsch-Barner, 2018, S. 525, 529 ff. 18 Zu diesen Problemen vgl. Bayer/Hoffmann/Sawada, ZIP 2012, 897, 910, nach denen infolge des ARUG zwar auch „sonstige Hauptversammlungsbeschlüsse“ – wie die Wahl von Aufsichtsräten – weniger angegriffen werden, der empirische Klagerückgang insbesondere aber Klagen gegen Strukturbeschlüsse betreffe; sowie Seibert/Bulgrin in FS Marsch-Barner, 2018, S. 525, 534 ff. zum Drohpotential von Anfechtungen sowohl der Wahlen von Aufsichtsratsmitgliedern als auch von Abschlussprüfern; vgl. dazu auch Florstedt, NZG 2014, 681 ff. 19 S. zu dieser besonderen Problematik Florstedt, ZIP 2014, 1513 ff. 20 Vgl. dazu auch im Kontext FG Köln v. 11.6.2015 – 13 K 3023/13, juris Rz. 17.  21 Aus der Rspr. vgl. die Nachw. bei Florstedt/von Randow, ZBB 2014, 345 in Fn. 1; vgl. auch Seibt/Schwarz, ZIP 2015, 401. 22 Näher Florstedt/v. Randow, ZBB 2014, 345, 346; vgl. auch Florstedt, ZBB 2017, 145, 155.  23 Der Sachverhalt des FG Köln für das Streitjahr 2009 hat insoweit Ausnahmecharakter, FG Köln v. 11.6.2015 – 13 K 3023/13, juris Rz. 11 f.

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Steuerrechtliche Behandlung der Einnahmen räuberischer Aktionäre

Aktien des Opponenten zu überhöhten Kursen sind verdeckte Zahlungen erfolgt.24 Die Kläger gingen dazu über, „Beraterverträge“ anzubieten. Zur zusätzlichen „Verschleierung“ des Abkaufens der Klage wurden sowohl auf Seiten des Unternehmens als auch auf Seiten des Klägers mitunter weitere, sowohl natürliche als auch juristische (Stroh-)Personen in den Bezahlungsprozess einbezogen.25 Beispielsweise traten im Ausland ansässige Personen auf, die versprachen, die Klagerücknahme bewirken zu können. Bisweilen übernahmen auch die Prozessvertreter der Kläger diese besondere Art der Dienstleistung.26 Die Methode der „Bezahlung“ ist ständig verfeinert worden, nicht zuletzt weil einige Gerichte Berufskläger zum Schadensersatz nach § 826 BGB verurteilt hatten.27 In der Regel drängen die Kläger auf einen unverdächtigen Vergleich, welcher allen Aktionären zugutekommt, beispielsweise indem die Gesellschaft sich zur Erteilung bislang einbehaltener Informationen verpflichtet. Die Verdienstmöglichkeit für die Anfechtungskläger liegt in der Kostenübernahme durch die Gesellschaft oder auch den Hauptaktionär.28 Die Umwegkonstruktion besteht dann darin, den Streitwert vereinbarungsweise künstlich zu erhöhen.29 Die Kläger verdienen durch eine schwer nachzuweisende Weiterleitung von Teilen der Anwaltsgebühren.30

III. Die einkommensteuerrechtliche Sicht Angesichts des erheblichen und empirisch belegten Aktivitätsniveaus der „Berufskläger“ und ihrer Nachahmer ist mit einer folgerichtigen Frage zu beginnen: Handelt es 24 Vgl. dazu mit Unterschieden Kiethe, NZG 2004, 489, 490 f.; Ehmann/Walden, NZG 2013, 806, 807; Homeier, Berufskläger im Aktienrecht, 2016, S. 90 ff.; Lehmann, Missbrauch der aktienrechtlichen Anfechtungsklage, 2000, S. 72. 25 Vgl. zu entsprechenden Verschleierungsmethoden etwa die Schilderungen bei Ehmann/ Walden, NZG 2013, 806, 808 Fn. 19; Kiethe, NZG 2004, 489, 491; Homeier, Berufskläger im Aktienrecht, 2016, S. 94 ff.; Noack/Zetzsche, Kölner Kommentar AktG, 3. Aufl. 2017, § 245 Rz. 166. 26 So in BGH v. 14.5.1992 – II ZR 299/90, ZIP 1992, 1081 – „AMB/BfG“. 27 So etwa LG Frankfurt v. 2.10.2007 – 3-5 O 177/07, AG 2007, 824; Überblicke zu den Bezahlungsmethoden bei Jocksch, Das Freigabeverfahren gem. § 246a AktG im System des einstweiligen Rechtsschutzes, 2012, S. 51 f. 28 Vgl. für die Bezahlung durch Blockaktionäre exemplarisch die Bekanntmachung der Dürkopp Adler AG  zur Verfahrensbeendigung durch Vergleich gemäß §§  248a, 149 Abs.  2 AktG v. 21.6.2018 im Bundesanzeiger. Vgl. zur Erhöhung der zu übernehmenden Kosten Kiethe, NZG 2004, 489, 491 und sogleich im Text. 29 Die in §  247  Abs.  1  Satz  2  AktG vorgesehene Streitwertgrenze gilt nicht für vereinbarte Vergleichswerte, vgl. dazu Homeier, Berufskläger im Aktienrecht, 2016, S. 92.  30 Anschauung gibt das Urteil des FG Köln v. 11.6.2015 – 13 K 3023/13, juris Rz. 16: Dort hatten die Prozessvertreter des Anfechtungsklägers in zwei Verfahren die vermittelst vereinbarter Vergleichsmehrwerte gesteigerten Anwaltsgebühren zu 80% weitergegeben. Auf das Beweisproblem hat schon Baums, Gutachten zum 63. DJT 2000, Bd. I, S. F 154 hingewiesen. Vgl. insofern auch zu berufsrechtlichen Schranken Noack/Zetzsche, Kölner Kommentar AktG, 3. Aufl. 2017, § 245 Rz. 166.

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sich bei den Leistungen an die Akteure tatsächlich um bloße Einkünfte aus Kapitalvermögen an Kleinanleger, wie von den Betroffenen oft behauptet wird, oder um ein systematisches Vorgehen, das bereits in die Kategorie der Gewerblichkeit gehört? 1. Der „Berufskläger“ als Gewerbetreibender a) Grundlegung: der „Gewerbetreibende“ als Typusbegriff Im Ausgangspunkt für eine Antwort steht die begriffliche Vorgabe in §  15 Abs.  2 EStG: Das gewerbliche Handeln ist selbständig, nachhaltig, von Gewinnabsicht getragen und im allgemeinen Verkehr vorgenommen; es gehört weder dem Bereich der Land- und Forstwirtschaft (§ 13 EStG) oder selbständigen Arbeit (§ 18 EStG) noch dem privaten Bereich zu. Da es kein Leitbild des Berufsklägers gibt, welches die Annahme eines „ähnlichen“ Freiberufs im Sinne von § 18 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG rechtfertigen könnte, bleibt die Frage nach dem Vorliegen eines Gewerbes nach den allgemeinen Kriterien.31 Diese Kriterien sind vage. Die Kasuistik hat sich zu jedem der zahllosen Lebensbereiche neue Haltepunkte suchen müssen. Als Einfallstür für den Import von vor- und außerrechtlichen Wertungen dient bisweilen die Methodenfigur des „Typusbegriffs“.32 Die Rechtsprechung scheint bisweilen auch von einem Klassenbegriff auszugehen,33 bietet aber den Verfechtern der Typuskonzeption hinreichend Anlass, sie anders zu deuten.34 Auch der BFH „subsumiert“ in einer vergleichenden Gesamtbetrachtung, ob die „Fruchtziehung aus zu erhaltenden Substanzwerten“ im 31 Es handelt sich mangels Beratungskomponente weder um einen Rechtsanwalt noch um beratende Volks- oder Betriebswirte noch eine diesen ähnliche Berufsgruppe i.S.d. §  18 Abs. 1 Satz 2 EStG; es handelt sich bei einem in eigenem Interesse vorgenommenen Erwerb von Kapitalgesellschaftsanteilen vielmehr um berufsfremde Einnahmen, vgl. Hutter in Blümich, EStG, 142. EL Juni 2018, § 18 Rz. 126; Brandt in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/ KStG, 286. Lieferung 06.2018, § 18 EStG Rz. 192. Auch eine freiberufliche Vermögensverwaltung setzt die Verwaltung eines fremden Vermögens voraus, Hutter in Blümich, EStG, 142. EL Juni 2018, § 18 Rz. 177.  32 Von einem Typusbegriff ausgehend BFH v. 2.12.1998 – X R 83/96, BStBl. II 1999, 534, 538; BFH v. 10.12.2001 – GrS 1/98, BStBl. II 2002, 291, 292. Die Ansicht in der Lit. ist verschieden, gegen Typusdeutung bspw. Jung, Grundstückshandel, 1998, S. 2; Reiß in Kirchhof, Einkommensteuergesetz, 17. Aufl. 2018, § 15 EStG Rz. 13; kritisch auch Weber-Grellet in FS Beisse, 1997, S. 551; der Typologie zustimmend Drüen, StuW 1997, 261; P. Fischer, DStZ 2000, 885; P. Fischer, DStR 2009, 398; Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 8 Rz. 415; Streck, FR 1973, 297, 301 ff.; Zugmaier, FR 1999, 997; ausf. Strahl, Die typologische Betrachtungsweise im Steuerrecht, 1996, S. 25 ff. 33 Vgl. etwa BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751, 762; BFH v. 19.11.1985 – VIII R 104/85, BStBl. II 1986, 424, 426 f.; BFH v. 28.9.1987 – VIII R 46/84, BStBl. II 1988, 65, 66.  34 In BFH v. 2.12.1998 – X R 83/96, BStBl. II 1999, 534, 538 ist sogar zu lesen: „die Merkmale des § 15 Abs. 2 EStG“ seien „typusbezogen auszulegen“, sodass „unter den weiteren Voraussetzungen des § 15 Abs. 2 EStG alle nachhaltigen und selbständigen Tätigkeiten von Dienstleistenden steuerlich erfasst werden“; in der neueren Rspr. BFH v. 27.6.2017 – IX R 3/17, BFH/NV 2018, 20, 21 heißt es etwa: „Es entspricht langjähriger und gefestigter Rechtsprechungstradition, das ,Bild des Gewerbebetriebs‘ durch Orientierung an unmittelbar der Lebenswirklichkeit entlehnten Berufsbildern zu konturieren.“

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Steuerrechtliche Behandlung der Einnahmen räuberischer Aktionäre

Vordergrund stehe;35 also nicht streng-begrifflich. Vergleichspunkt und Maßstab sind allerdings schwankend. Bald wird auf das historische „Urbild“, bald auf ein real-soziologisches Erscheinungsbild eines Berufs und bald einfach auf „die Verkehrsanschauung“ verwiesen. Die – berechtigte – Kritik am methodischen Sonderweg des typologischen Denkens ist an dieser Stelle nicht zu wiederholen.36 Klar ist, dass ein solches Verfahren kaum einen Orientierungspunkt für die Beurteilung neuer, atypischer Wirtschaftsaktivität wie der eines „räuberischen Aktionärs“ anbieten kann. Auch die teleologische Rechtsanwendung stößt auf das Problem, dass die Gründe für die heutige Dichotomie der Einkunftsarten eher pragmatischer Art waren und kaum für konkrete Aussagen zu einem Telos angeführt werden können, der dann zu Aussagen für oder gegen die Gewerblichkeit von Berufsklägerhandeln konkretisiert werden könnte.37 Letztlich ist auch das negative Merkmal der privaten Vermögensverwaltung nur in der Kasuistik verständlich. b) Orientierungspunkte in der Judikatur des BFH Es ist deswegen sinnvoll, einige markante Schnittstellen zwischen gewerblichem und privatem Handeln anhand der Kasuistik zu betrachten, um einen Bewertungs- und Vergleichsrahmen für die Behandlung des „räuberischen Aktionärs“ als Gewerbetreibenden zu erhalten. aa) Wertpapierhandel Der BFH fordert für einen gewerblichen Handel mit Wertpapieren ein „bankähnliches“38 bzw. „bankentypisches“39 Verhalten „wie ein Händler“ ,40 das mit dem Bild eines „Wertpapierhandelsunternehmers“41 vergleichbar sei. Dieses „Bild“ wird heute weithin anhand der „typologischen Einzelzüge“, eines händlertypischen Umschlags sowie eines Handelns für fremde Rechnung gezeichnet.42 Die allgemeine Formel, nach der eine „Fruchtziehung“  – gemeint sind Zins- oder Dividendenzahlungen, aber auch

35 Vgl. BFH v. 2.11.1971 – VII R 1/71, BStBl. II 1972, 360, LS 2, 361; BFH v. 6.3.1991 – X R 39/88, BStBl. II 1991, 631, 632; BFH v. 3.7.1995 – GrS 1/93, BStBl. II 1995, 617, 619; BFH v. 10.12.2001 – GrS 1/98, BStBl. 2002, 291, 292; BFH v. 28.10.2015 – X R 22/13, BFHE 251, 369, 373; BFH v. 28.9.2017 – IV R 50/15, BFHE 259, 341, 347.  36 S. die Nachw. in Fn. 32, zudem Florstedt, StuW 2007, 314, 320 f.; ders., Stand und Entwicklung der steuerrechtlichen Mitunternehmerdoktrin, 2015, S. 68 ff. 37 Ausf. in anderem Kontext Florstedt, Stand und Entwicklung der steuerrechtlichen Mitunternehmerdoktrin, 2015, S. 56 ff. 38 BFH v. 13.12.1961 – VI 133/60 U, BFHE 74, 331, 333. 39 S. etwa BFH v. 28.11.2007 – X R 24/06, BFH/NV 2008, 774, 776. 40 St. Rspr. s. exemplarisch BFH v. 2.9.2008 – X R 14/07, BFH/NV 2008, 2012, 2014. 41 I.S.v. § 1 Abs. 3d Satz 2 KWG, vgl. BFH v. 2.9.2008 – X R 14/07, BFH/NV 2008, 2012, 2014 f. 42 BFH v. 30.7.2003 – X R 7/99, BStBl. II 2004, 408, 410 und 412. Insofern bekennt sich der BFH in der Sache zur Typuskonzeption („Orientierung an unmittelbar der Lebenswirklichkeit entlehnten Berufsbildern“), orientiert sich dann aber doch an den Vorgaben des KWG, vgl. BFH v. 30.7.2003 – X R 7/99, BStBl. II 2004, 408, 410 f.

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Kurssteigerungen43  – für Vermögensverwaltung aus zu erhaltenen Substanzwerten, die Ausnutzung der Substanz hingegen für gewerbliches Handeln spreche, bedarf hier der Ergänzung. Mit Aktien und Wertpapieren sollen typischerweise Kursgewinne realisiert werden.44 Der gewerbliche Wertpapierhandel zeichnet sich deswegen nicht schon durch häufiges An- und Verkaufen aus.45 Als „Beweisanzeichen“ für eine Zuordnung zum „Bild des Wertpapierhandelsunternehmers“ nennt die Rechtsprechung „den Umfang der Geschäfte, das Unterhalten eines Büros oder einer Organisation zur Durchführung von Geschäften, das Ausnutzen eines Marktes unter Einsatz beruflicher Erfahrungen, das Anbieten von Wertpapiergeschäften gegenüber einer breiteren Öffentlichkeit und andere für eine private Vermögensverwaltung ungewöhnliche Verhaltensweisen“.46 bb) Beteiligungshandel Die Schwelle für gewerbliches Handeln mit GmbH-Anteilen wird dagegen niedriger angesetzt.47 Es genügt etwa, elf Kapitalgesellschaften zu gründen oder zu erwerben, um sie „möglichst kurzfristig – ,händlertypisch‘“ zu veräußern. Dieses „produzenten­ ähnliche“ Handeln48 erinnerte den X. Senat an das (Ur-)„Bild des Gewerbebetriebs“. Anstelle einer teleologisch fundierten Begründung treten Hinweise u.a. auf eine nicht benannte „Verkehrsanschauung“.49 Der für den BFH beim Handel mit GmbH-Be­ teiligungen deshalb maßgebliche „Handel“ werde „seit jeher“ durch „Vermittlung des Güterumlaufs zugewendeter Erwerbstätigkeit“ umschrieben. cc) Private-Equity-Fonds Ob Einkünfte aus Finanzierung junger Unternehmen durch spezialisierte Kapitalanleger noch als private Vermögensverwaltung angesehen werden können, will die Verwaltung danach entscheiden, ob überwiegend Früchte gezogen oder Vermögenswerte durch Umschichtung genutzt werden sollen.50 Entscheidend sei eine Gesamtschau folgender typisierender Merkmale des gewerblichen Handelns: Es werden Bankkredi43 BFH v. 20.12.2000 – X R 1/97, BStBl. II 2001, 706, 707 f.; Bode in Blümich, EStG, 142. EL Juni 2018, § 15 Rz. 153. 44 BFH v. 30.7.2003 – X R 7/99, BFHE 204, 419, 424. 45 BFH v. 24.8.2011 – I R 46/10, BFHE 234, 339, 345. 46 Exemplarisch BFH v. 24.8.2011 – I R 46/10, BFHE 234, 339, 345 (Zitat); vgl. auch BFH v. 20.12.2000 – X R 1/97, BFHE 194, 198, 201 ff. Für Gewerblichkeit spreche ferner ein professionelles Verhalten (BFH v. 10.4.2006 – X B 209/05, BFH/NV 2006, 1461), der Zukauf von Informationen und Empfehlungen (BFH v. 19.1.2017 – IV R 50/14, BFHE 257, 35, 45) und ein Wertpapierhandel, der die Haupttätigkeit des Steuerpflichtigen ist (BFH v. 2.9.2008 – X R 14/07, BFH/NV 2008, 2012, 2015). 47 BFH v. 25.7.2001 – X R 55/97, BFHE 195, 402 ff.; Groh, DB 2001, 2569, 2570; Schnorr, NJW 2004, 3214, 3217. 48 BFH v. 25.7.2001 – X R 55/97, BFHE 195, 402, 407.  49 Berechtigte Kritik bei Tiedtke/Wälzholz, ZEV 2000, 428, 430; diesen zustimmend Schnorr, NJW 2004, 3214, 3217. 50 BMF Schreiben v. 16.12.2003 – IV A 6 - S 2240 - 153/03, DStR 2004, 181.

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te statt Eigenkapital verwendet; die Geschäfte werden im Büro mit entsprechender Organisation geführt; das Angebot ist an das Publikum gerichtet; es wird auf fremde Rechnung gehandelt.51 dd) Fazit zu den Haltepunkten in der Kasuistik Innerhalb dieser Kasuistik mit ihren bildlichen Fixierungen von bestimmten Unternehmertypen lässt sich der „Berufskläger“ nicht eindeutig verorten. Die Suche nach Orientierung in der Kasuistik stößt auf das Problem, dass die Einnahmen nicht durch einen Handel mit Beteiligungen, sondern durch einen atypischen Umgang mit den verbrieften Mitgliedsrechten erzielt werden. Oftmals sind die Bagatellbeteiligungen kein Handelsgegenstand, sondern nur der Ansatz einer lukrativen Tätigkeit, die in den Kategorien von Handel, Fruchtziehung oder Substanzumschichtung kaum fassbar zu sein scheint. Es gilt deswegen, den Typus des gewerblich handelnden Anfechtungsklägers im Einklang mit den in der bisherigen Kasuistik enthaltenen Wertungsentscheidungen zu beschreiben. c) Typus des gewerblich tätigen „räuberischen Aktionärs“ Lassen sich aus dieser Kasuistik gewisse Haltepunkte für die Beurteilung von „räuberischen Aktionären“ entnehmen? Sicherlich hinsichtlich einer Reihe von Einzelaspekten, beispielsweise wenn nach dem BFH „andere für eine private Vermögensverwaltung ungewöhnliche Verhaltensweisen“ auf ein gewerbliches Handeln hinweisen.52 Unter diesem Gesichtspunkt hat auch das FG Köln im Kontext betont: „Erst die planmäßige Instrumentalisierung des Rechtsschutzes zu sachfremden Zwecken rückt das steuerliche Gewerblichkeitsmoment in den Vordergrund“.53 Will man darüber hinausgehen, bietet sich die Schilderung des OLG Karlsruhe als eine erste „Typusbeschreibung“ für ein rechtsmissbräuchliches Handeln „beruflicher“ Anfechtungskläger an: „Eine solche Herangehensweise: Erwerb eines minimalen Anteils in Kenntnis der geplanten Restrukturierung zu einem für Anlagen im privaten Bereich untypisch niedrigen Betrag unter Eingehung völlig unverhältnismäßiger Kosten genügt angesichts der bereits in der Vergangenheit gezeigten Bereitschaft zu rechtlicher Auseinandersetzung mit vereinnahmten immensen Kostenerstattungsansprüchen, um den Senat davon zu überzeugen, dass die Anteile erworben wurden, um eine Anfechtungsklage mit ihren Chancen auf Kostenerstattungsansprüche insbesondere durch Vergleichsschlüsse zu schaffen“. 54 Was sich zu dem „konkreten“ Anschau51 Vgl. allerdings auch BFH v. 24.8.2011 – I R 46/10, BFHE 234, 339, 345 ff. (mit abw. Unterscheidung) und dazu Buge in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, 286.  Lieferung 06.2018, § 15 EStG Rz. 1172; Schnittker/Steinbiß, FR 2016, 1069, 1075.  52 BFH v. 24.8.2011 – I R 46/10, BFHE 234, 339, 345 (Zitat); vgl. auch BFH v. 20.12.2000 – X R 1/97, BFHE 194, 198, 200 ff.; BFH v. 4.3.1980 – VIII R 150/76, BFHE 130, 157, 161 ff.; BFH v. 6.12.1983 – VIII R 172/83, BFHE 140, 82, 86 f. und BFH v. 31.7.1990 – I R 173/83, BFHE 162, 236, 238 ff. 53 FG Köln v. 11.6.2015 – 13 K 3023/13, AG 2015, 834, 837. 54 OLG Karlsruhe v. 30.9.2015 – 7 AktG 1/15, AG 2015, 873, 878. 

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ungsphänomen des gewerblich tätigen Anfechtungsklägers für eine (typologische) Begriffsbildung festhalten lässt, kann wie folgt zusammengefasst werden. Ein solcher Anfechtungskläger zeichnet sich aus durch: den Erwerb von Kleinstanteilen, entweder systematisch durch Aufbau eines spezifischen „Portfolios“ (d.h. einer Sammlung von Beteiligungen über dem sog. Bagatellquorum)55 oder einer Erwerbszeit kurz vor einer Haupt- oder Gläubigerversammlung;56 die gewollte Verdienstmultiplikation durch Zwischenschaltung zusätzlicher (!) Zweckgesellschaften oder von Strohleuten;57 die Verwendung von Standardargumenten, v.a. solchen, die aus früheren oder fremden Schriftsätzen kopiert wurden, sowie die Geltendmachung von Anfechtungsgründen „rein formaler Natur“58 oder gar einen bloßen Verweis auf die Argumente anderer Kläger;59 den Gebrauch (standardisierter) Verzögerungstaktiken, etwa künstlicher Befangenheitsanträge; die geäußerte Bereitschaft zur vorzeitigen Verfahrensbeendigung gegen eine von der AG nicht geschuldete Leistung;60 eine Häufung von Beschlussmängelklagen nach gleichem Muster.61 Es ist auch für Kritiker der typologischen Methode andererseits klar, dass sich der empirische Anschauungsfall nicht zu einer Regel verdichten lässt, die in neuen Zweifelsfällen eine begriffliche (oder typologische) Zuordnung sicher ermöglichte. Wo es die Erfahrungen erlauben, hat der Bundesfinanzhof die Zuordnung zum Bild des Gewerbetreibenden durch Angabe pauschaler Richtwerte überwunden. Die Rechtsprechung zum gewerblichen Grundstückshandel hat die typologische Zuordnungsart zugunsten einer begrifflichen Regel ersetzt: Wer drei Objekte innerhalb eines bestimmten Zeitraums (in der Regel fünf Jahre) verkauft, handelt gewerblich.62 Das ist allerdings eine Position, die ihrerseits so viele Ausnahmen zulassen und Folgeprobleme hinnehmen muss, dass der Gewinn an Abgrenzungsklarheit oft auch mit guten 55 Vgl. dazu Seibert/Florstedt, ZIP 2008, 2145, 2153; Florstedt, AG 2009, 465, 472.  56 OLG Frankfurt v. 13.1.2009 – 5 U 183/07, AG 2009, 200, 203; Schatz, Der Missbrauch der Anfechtungsbefugnis durch den Aktionär und die Reform des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts, 2012, S. 59 f.; Lehmann, Missbrauch der aktienrechtlichen Anfechtungsklage, 2000, S. 160 f. 57 Diese Verhaltensweise war der Hintergrund, ein Bagatellquorum einzuführen, vgl. die Nachw. in Fn. 55.  58 Zur formalen Argumentationsweise vgl. auch OLG Frankfurt v. 13.1.2009 – 5 U 183/07, WM 2009, 309, 313; Schatz, Der Missbrauch der Anfechtungsbefugnis durch den Aktionär und die Reform des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts, 2012, S. 59 f.; Schilling, Die Bekämpfung räuberischer Aktionärsklagen durch den Gesetzgeber, 2012, S. 33 ff. 59 Beispiel bei Florstedt, WiVerf 2014, 155 ff. 60 Schatz, Der Missbrauch der Anfechtungsbefugnis durch den Aktionär und die Reform des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts, 2012, S. 57 f.; Lehmann, Missbrauch der aktienrechtlichen Anfechtungsklage, 2000, S. 157. 61 Vgl. dazu OLG Frankfurt v. 13.1.2009 – 5 U 183/07, WM 2009, 309, 313; ausführlich Schatz, Der Missbrauch der Anfechtungsbefugnis durch den Aktionär und die Reform des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts, 2012, S. 58 ff.; Lehmann, Missbrauch der aktienrechtlichen Anfechtungsklage, 2000, S. 158 ff.; sowie Schilling, Die Bekämpfung räuberischer Aktionärsklagen durch den Gesetzgeber, 2012, S. 33 ff. 62 S. nur grundlegend BFH v. 9.12.1986 – VIII R 317/82, BStBl. II 1988, 244, 245; seither z.B. BFH v. 20.4.2006 – III R 1/05, BFHE 214, 31, LS 1. 

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Gründen bezweifelt wurde.63 Ein solches Schema scheint bei den Anfechtungsklagen aber auch entbehrlich. Denn die abstrahierende Verarbeitung realtypischer Anschauungsfälle zu Leitlinien – also nicht zu ungewichteten Typusmerkmalen, sondern zu Regelfällen – wird eine sachgerechte und genügende Bestimmung gewerblichen Handelns bereits ermöglichen: Dazu lassen sich die angeführten Indizien ihrem Gewicht nach abstufen, so wie es der BFH auch in anderen Bereichen der Kasuistik, etwa beim gewerblichen Goldhandel unternimmt.64 Von hoher Indizwirkung – so lautet der Vorschlag – ist dann: eine kurzfristig erworbene oder systematisch schon zu Anfechtungszwecken gehaltene Beteiligung, deren Höhe das Bagatellquorum nur geringfügig übersteigt;65 ein wiederholtes Vorgehen bei Beschlüssen von verschiedenen Gesellschaften, bei denen die Klage eine Hebelwirkung hat;66 die Verwendung von zusätzlichen Prozessgesellschaften, um den Verdienst zu steigern; schließlich werden ein rechtsmissbräuchliches Verhalten in einem Parallelverfahren67 oder sachfremde Forderungen des Klägers68 von hoher Aussagekraft sein. Die weiteren, oben herausgearbeiteten Merkmale – standardisierter Klagevortrag, professionelle Herangehensweise, prozesstaktisches Vorgehen – werden als einfache Indizien im Rahmen einer Gesamtschau zu würdigen sein. 2. Zwischenfazit Folgt man dem hier vertretenen Ansatz, werden die Einkünfte der „Berufskläger“, deren Tätigkeiten gut nachgezeichnet und belegt sind,69 in aller Regel der Kategorie der gewerblichen Einkünfte zugehören. Die Rechtsfolgenrelevanz der Einordnung ist erheblich. Die günstigen Steuerfolgen der Einstufung als Einkünfte aus Kapitalvermö63 Kritisch zur Abgrenzungsklarheit der 3-Objekte-Regel Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 8 Rz. 519; rechtspraktische Kritik bei Anzinger, Anscheinsbeweis und tatsächliche Vermutung im Ertragsteuerrecht, 2006, S. 332 f.; Vogelgesang, Stbg 2008, 52, 56; Buge in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, 286. Lieferung 06.2018, § 15 EStG Rz. 1127. 64 Der BFH unterscheidet zwischen Kriterien mit hoher Indizwirkung (z.B. erhebliche Fremdmittel und Hebelwirkung, s. auch Fn. 65) und weniger wichtigen „weiteren Kriterien“ (z.B. „eine professionelle Ausgestaltung unter Zukauf von Informationen und Empfehlungen“; Einsatz spezieller Informationstechnik), BFH v. 19.1.2017 – IV R 50/14, BFHE 257, 35, 45.  65 Vgl. BFH v. 19.1.2017 – IV R 50/14, BFHE 257, 35, 45, der beim Goldhandel den häufigen und kurzfristigen Handel als gewichtiges Indiz wertet, da es nicht darum gehe, „Vermögen in Gold anzulegen, sondern allein darum, Gewinne zu erzielen“. S. auch zu dem Indiz eines Missverhältnisses zwischen privater Fruchtziehung und Intensität der Verwaltungsarbeit Buge in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, 286. Lieferung 06.2018, § 15 EStG Rz. 1108. 66 Vgl. die Nachw. in Fn. 18.  67 Vgl. Schatz, Der Missbrauch der Anfechtungsbefugnis durch den Aktionär und die Reform des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts, 2012, S. 58. Der Nachweis rechtsmissbräuchlichen Vorgehens in vergangenen, abgeschlossenen Verfahren genügt nicht, vgl. auch Nietsch, Freigabeverfahren, 2013, S. 473 mit Nachw. zur Rspr. 68 Vgl. Lehmann, Missbrauch der aktienrechtlichen Anfechtungsklage, 2000, S. 157. 69 Vgl. insoweit etwa Grigoleit, AG 2018, 645, 650 f.; Bayer/Hoffmann, AG 2017, R155; Baums/ Drinhausen/Keinath, ZIP 2011, 2329; Bayer/Hoffmann/Sawada, ZIP 2012, 897; Homeier, Berufskläger im Aktienrecht, 2016, S. 35 ff.

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gen (verminderter Steuersatz von 25 % zzgl. SolZ und abgeltender Wirkung, §§ 32d Abs. 1, 43 ff. EStG; die partielle Steuerfreistellung von 40 % der Bezüge, § 3 Satz 1 Nr. 40 EStG) kommen gemäß § 20 Abs. 8 EStG nicht zur Anwendung. Es besteht zudem nach § 140 AO Buchführungspflicht und nicht zuletzt fällt Gewerbesteuer an.70 3. Folgefragen bei nicht gewerblichem Handeln: verdeckte Gewinnausschüttung oder Betriebsausgabe? Handelt der Anfechtungskläger nach den hier entwickelten Kriterien noch nicht gewerblich, erzielt er entweder Einkünfte aus verdeckter Gewinnausschüttung nach § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG oder sonstige Einkünfte nach § 22 Nr. 3 EStG. Die Frage erlangt vor dem Hintergrund Bedeutung, dass die Kläger bisweilen versuchen, den gesonderten Steuertarif für Einkünfte aus Kapitalvermögen der §§ 3 Satz 1 Nr. 40, 32d Abs. 1 EStG in Anspruch zu nehmen.71 Das setzt nach §§ 3 Satz 1 Nr. 40 Buchst. d Satz 2, 32d Abs. 2 Nr. 4 EStG indes voraus, dass das an den Aktionär geleistete „Entgelt“ eine verdeckte Gewinnausschüttung und keine betriebliche Zahlung darstellt.72 Letzteres ist aber der Fall. Eine verdeckte Gewinnausschüttung i.S.d. § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG liegt nur vor, wenn die AG dem Kläger einen Vermögensvorteil73 abseits von der beschlossenen Gewinnverwendung zuwendet und dies durch das Gesellschafterverhältnis veranlasst ist.74 Kausalität ist nicht genügend, geboten ist eine wertende Betrachtung aus der Perspektive der Gesellschaft. Entscheidend ist, ob ein gewissenhafter Geschäftsleiter den Vermögensvorteil auch einem Nichtgesellschafter gewährt hätte. 75 Die Wertung erfolgt primär anhand eines Fremdvergleichsmaßstabs, der bei der subtilen Erpressungshandlung von Berufsklägern aber nicht weit führt.76 In solchen Fällen entscheiden Gerichte danach, welcher Sphäre das „auslösende Moment“ der Leistung zugehörig ist: der gesellschaftsrechtlichen oder der Privat- oder 70 Zur Reichweite der Kompensation durch die Steuerermäßigung gemäß § 35 EStG vgl. etwa Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 8 Rz. 842.  71 Vgl. FG Köln v. 11.6.2015 – 13 K 3023/13, AG 2015, 834, 835. 72 Vgl. FG Köln v. 11.6.2015 – 13 K 3023/13, AG 2015, 834, 837 und hierzu Olgemöller/Selle, AG 2017, 309, 310. Dies entspricht dem materiellen Korrespondenzprinzip, nach dem der verminderte Abgeltungssteuertarif beim Steuerpflichtigen nur bei einer Vorbelastung auf Ebene der Gesellschaft mit der Körperschaftssteuer zu gewähren ist, vgl. Pfirrmann in Kirchhof, Einkommensteuergesetz, 17.  Aufl. 2018, §  32d EStG Rz.  16a; Kühner in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, 286. Lieferung 06.2018, § 32d EStG Rz. 63. 73 Der Vermögensvorteil des Aktionärs muss auf Seiten der Gesellschaft spiegelbildlich zu einer Vermögensminderung führen, st. Rspr., vgl. etwa BFH v. 4.3.2009 – I R 45/08, BFH/ NV 2010, 244, 245. 74 St. Rspr. etwa BFH v. 19.6.2007  – VIII R 54/05, BStBl.  II 2007, 830, 832; v. Beckerath in Kirchhof, Einkommensteuergesetz, 17.  Aufl. 2018, §  20 EStG Rz.  50; Intemann in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, 286. Lieferung 06.2018, § 20 EStG Rz. 80. 75 BT-Drucks. 16/2712, S. 40; BFH v. 18.12.1996 – I R 26/95, BFHE 182, 190, 192; vgl. BFH v. 16.3.1967 – I 261/63, BFHE 89, 208, 210; Intemann in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/ KStG, 286. Lieferung 06.2018, § 8 KStG Rz. 80.  76 Das Gesellschaftsverhältnis muss die Vermögensmehrung final veranlassen und nicht nur verursachen, Gosch in Gosch, KStG, 3. Aufl. 2015, § 8 Rz. 285.

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Erwerbssphäre.77 Bei der gebotenen ökonomischen Betrachtung78 leistet die Ge­ sellschaft aber nicht mit Blick auf die Mitgliedschaft, sondern ausschließlich mit Blick auf die drohenden Folgen, die mit der Beschlusskassation verbunden sind, etwa die drohende Insolvenz bei der Sanierungskapitalerhöhung, das Scheitern des Unter­ nehmenszusammenschlusses oder die Nichtigkeit der Wahl eines Aufsichtsratsmitglieds.79 Das bedeutet: Beschriebene Zahlungen an den Aktionär sind stets Betriebsausgaben i.S.d. §§ 3 Satz 1 Nr. 40 Buchst. d Satz 2, 32d Abs. 2 Nr. 4 EStG, weshalb der günstige Steuertarif für Kapitaleinkünfte auch bei nicht gewerblichem Handeln nicht gilt. 4. Besonderheiten bei Zwischenschaltung von Prozessvehikeln Die Qualifizierung der Zahlungen als Betriebsausgaben hat weitere Folgen, wenn die Anfechtungskläger eine Prozessgesellschaft mbH einbeziehen. Hier haben sich einige Kläger auf die Beteiligungsertragsbefreiung des § 8b Abs. 1 Satz 1 KStG berufen. Diese erfasst aber nur bestimmte Kapitaleinkünfte80 und dies auch nur, soweit die Bezüge das Einkommen der leistenden Körperschaft nicht gemindert haben.81 Genau das ist indes der Fall, da es sich, wie gesagt, gerade nicht um Kapitaleinkünfte in Form einer verdeckten Gewinnausschüttung handelt. 77 Grdlg.  BFH v. 4.7.1990 – GrS 2/88, GrS 3/88, BFHE 161, 290, 302 ff. 78 Wilk in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, 286. Lieferung 06.2018, § 8 KStG Rz. 115; Gosch in Gosch, KStG, 3. Aufl. 2015, § 8 Rz. 260. 79 Auch das FG Köln rechnet Zahlungen an Anfechtungskläger zutr. der betrieblich veranlassten Sphäre zu, FG Köln v. 11.6.2015 – 13 K 3023/13, AG 2015, 834, 837. Es heißt: „Bei der Beurteilung kommt der Senat zu der Überzeugung, dass zwar eine gewisse Verknüpfung mit der gesellschaftlichen Sphäre gegeben ist, da – wie der Kläger zutreffend vorgetragen hat – nur Gesellschafter die hier zugrunde liegenden Klagen nach dem Aktiengesetz erheben können. Andererseits ist der Senat davon überzeugt, dass die hier konkret erhobenen Klagen rechtsmissbräuchlich im Sinne der zivilrechtlichen Rechtsprechung waren. Der BGH hat derartige rechtsmissbräuchliche Klagen angenommen, wenn ein Kläger Anfechtungsklage mit dem Ziel erhebt, die verklagte Gesellschaft in grob eigennütziger Weise zu einer Leistung zu veranlassen, auf die er keinen Anspruch hat und billigerweise auch nicht erheben kann. Der Anfechtungskläger werde sich dabei im Allgemeinen von der Vorstellung leiten lassen, die verklagte Gesellschaft werde die Leistung erbringen, weil sie hoffe, dass der Eintritt anfechtungsbedingter Nachteile und Schäden dadurch vermieden oder zumindest gering gehalten werden könne. Die Vermeidung wesentlicher Nachteile durch die schnelle Beendigung von Prozessen, bei denen der Kläger unter missbräuchlicher Ausnutzung einer formalen Stellung (hier als Gesellschafter) wesentliche Unternehmensinte­ ressen bedroht, ist dabei nach Überzeugung des Senats der betrieblichen Sphäre des leistenden Unternehmens zuzuordnen. Der gedachte sorgfältige und ordentliche Geschäftsleiter hätte auch bei anderen Klägern, die fundamentalen, nur durch schnelle Entscheidungen zu wahrenden Unternehmensinteressen durch zwar sachlich unberechtigte, aber voraussichtlich lang andauernde Prozessverfahren bedrohten, den Weg der Zahlung zur Abwendung gravierender betrieblicher Nachteile gewählt.“ 80 Solche nach § 20 Abs. 1 Nr. 1, 2, 9 und 10a EStG. 81 Vgl. § 8b Abs. 1 Satz 2 KStG.

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IV. Die Einnahmen aus umsatzsteuerrechtlicher Sicht Die Diskrepanz der Inanspruchnahme subjektiver Klägerrechte mit „Wächterfunktion“ und einer absichtsvoll-systematischen Kommerzialisierung solcher Befugnisse führt noch zu einer weiteren Fragestellung: Die Prozessbeendigung setzt in allen Varianten eine Handlung des Aktionärs voraus, die für ihn mit einem beträchtlichen Vermögenszuwachs einhergeht. Ist dies ein mehrwertsteuerpflichtiger Vorgang? Es scheint so, als wäre das von den „Berufsklägern“ oft ausgeblendet oder übergangen worden – die umsatzsteuerrechtliche Relevanz des „Entgelts“ wurde geleugnet. Aber ist diese Beurteilung zutreffend? 1. Unternehmerisches Handeln Der Umsatzsteuer unterliegen nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG Lieferungen und sonstige Leistungen, die ein Unternehmer gegen Entgelt im Rahmen seines Unternehmens ausführt. Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 UStG ist Unternehmer, wer eine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit – d.h. eine nachhaltige Tätigkeit zur Erzielung von Einnahmen, § 2 Abs. 1 Satz 3 UStG – selbstständig ausübt. Prägendes Merkmal ist eine geschäftliche, planmäßige Betätigung, die sich gleichartige Gelegenheiten zunutze macht und auf Wiederholung angelegt ist.82 Soweit nach den oben entwickelten Kriterien von einer Gewerblichkeit im Sinne des Einkommensteuerrechts auszugehen ist, wird man unternehmerisches Handeln bejahen.83 Theoretisch ist auch eine umsatzsteuerpflichtige, aber (noch) nicht gewerbliche Tätigkeit eines Anfechtungsklägers denkbar. Denn eine auf Wiederholung angelegte Tätigkeit ist hier nicht erforderlich.84 Die Zahl der Umsätze – der Klagen und Verfahrensbeendigungen – ist nicht entscheidend, auch ein Einzelumsatz kann genügen, wenn er mit einer gewerblichen oder sonst beruflichen Tätigkeit vergleichbar ist.85 Das wird bei dem realtypisch gestreuten Vorgehen der „Berufskläger“ zwar selten der Fall sein, kann aber durchaus in Betracht kommen bei einem für das Unternehmen besonders bedeutsamen Beschluss und einer Klage, die mit einem erheblichen Aufwand betrieben wird.86 82 Stadie in Stadie, Umsatzsteuergesetz, §  2 Rz.  88; Reiß in Reiß/Kraeusel/Langer, UStG, 1. Aufl. 1995, 145. Lieferung, § 2 UStG Rz. 35. 83 Die gewerbliche Tätigkeit i.S.d. § 15 Abs. 2 EStG durch wiederholte Rücknahmen von Klagen durch Aktionäre ist auch unternehmerisch i.S.d. UStG, vgl. FG Berlin-Brandenburg v. 24.11.2010 – 7 K 2182/06 B, AG 2011, 387, 388; FG Köln v. 11.6.2015 – 13 K 3023/13, AG 2015, 834, 838; s. auch Stadie in Stadie, Umsatzsteuergesetz, § 2 Rz. 124; dens. in Rau/Dürrwächter, UStG, 177. Lieferung 05.2018, § 2 Rz. 441; Wagner, MwStR 2016, 41; Olgemöller/ Selle, AG 2017, 309, 311. 84 Vgl. BFH v. 16.3.1995 – V R 72/93, BFH/NV 1996, 187, 189; BFH v. 16.12.1971 – V R 41/68, BFHE 104, 262, 264 ff.; Stadie in Stadie, Umsatzsteuergesetz, § 2 Rz. 126; Treiber in Sölch/ Ringleb, UStG, 74. Ergänzungslieferung 2015, § 2 Rz. 52. 85 Stadie in Stadie, Umsatzsteuergesetz, § 2 Rz. 94. 86 Langfristige Vorbereitungen und erheblicher Arbeits- und Zeitaufwand sprechen für unternehmerische Tätigkeit, vgl. Stadie in Stadie, Umsatzsteuergesetz, § 2 Rz. 126; st. Rspr. etwa zuletzt BFH v. 18.11.1999 – V R 22/99, BStBl. II 2000, 241, 243; gleiches gilt bei Wiederholungsabsicht, BFH v. 13.2.1969 – V R 92/68, BStBl. II 1969, 282, 283. 

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Steuerrechtliche Behandlung der Einnahmen räuberischer Aktionäre

2. Sonstige Leistung gegen Entgelt Schwerer zu beurteilen ist die Frage, ob das Verhalten des Anfechtungsklägers gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 1, § 3 Abs. 9 UStG eine sonstige Leistung gegen Entgelt ist. Nach der Rechtsprechung des EuGH sowie des BFH ist das der Fall, wenn gegenseitige Leistungen ausgetauscht werden und „die vom Leistenden empfangene Vergütung den tatsächlichen Gegenwert für die dem Leistungsempfänger erbrachte Dienstleistung bildet“.87 Gewinne aus der Mitgliedschaft88 oder Schadensersatz für beeinträchtigte Mitgliedsrechte zählen nicht dazu und sind nicht umsatzsteuerbar.89 Anfechtungskläger sind von einer solchen Charakterisierung der Zahlungsleistungen ausgegangen und finden für diese Bewertung bisweilen Zuspruch in der Literatur, nach der die Aufgabe eines subjektiven Mitgliedsrechts keine „sonstige Leistung“ sei und die Gesellschaft auch keinen „verbrauchbaren Vorteil“ erlange.90 Dem ist nach dem Gesagten zu widersprechen: Die Vergütung steht in einem faktischen Austauschverhältnis zur Verfahrensbeendigung, das Mitgliedsverhältnis steht im Hintergrund. Der Leistungsbegriff ist weit zu verstehen, jede Verschaffung eines wirtschaftlichen Nutzens im Rahmen einer Sonderverbindung reicht aus.91 Insofern genügt der Verzicht auf seine rechtsförmige Blockade- oder Kassationsmacht gegen Entgelt durchaus.92 Der Abkauf der Kassationsmacht des Klägers kann deswegen auch nicht sinnvoll als (steuerfreier) „Schadensersatz“ für die Verletzung mitgliedschaftlicher Rechte, z.B. einer 87 EuGH v. 27.3.2014  – C-151/13,  ECLI:EU:C:2014:185, Rz.  29 m.N. zur st. Rspr.; BFH v. 24.4.2013 – XI R 7/11, BStBl. II 2013, 648, 651 m.N. Ein solcher umsatzsteuerbarer Leistungsaustausch liegt nach der Rspr. des BFH etwa vor, wenn ein Vergleich zur Bereinigung bestehender Unsicherheit führt, BFH v. 10.12.1998 – V R 58/97, BFH/NV 1999, 987, 989; vgl. De Feo, DStR 2016, 848, 850. 88 Einnahmen aus der Inhaberschaft der Aktie, wie Dividendenbezüge, die in der Mitgliedschaft begründet sind, sind nach dem EuGH keine umsatzsteuerbaren Einnahmen, da sie nicht als Gegenleistung für eine wirtschaftliche Tätigkeit erfolgen, st. Rspr., s. etwa EuGH v. 27.9.2001 – C-16/00, ECLI:EU:C:2001:495, Rz. 19; s. auch Stadie in Stadie, Umsatzsteuergesetz, § 2 Rz. 68. 89 BFH v. 30.6.2010 – XI R 22/08, BStBl. II 2010, 1084, 1085 f.; EuGH v. 18.7.2007 – C-277/05, ECLI:EU:C:2007:440, Rz.  32; Oelmaier in Sölch/Ringleb, UStG, 74.  Ergänzungslieferung 2015, § 1 Rz. 101. 90 Vgl. Olgemöller/Selle, AG 2017, 309, 311. 91 St. Rspr. vgl. etwa BFH v. 8.11.2007 – V R 20/05, BStBl. II 2009, 483, 485. 92 FG Berlin-Brandenburg v. 24.11.2010 – 7 K 2182/06 B, AG 2011, 387 f. und Leitsatz; FG Köln v. 11.6.2015 – 13 K 3023/13, AG 2015, 834, 838 f.: „[…] von den Gesellschaften an den Kläger zu erbringende Zahlungen [wurden] als Gegenleistungen für die Erledigungser­ klärungen bzw. Rücknahme der Klagen sowie die Verpflichtung, weitere Störungen der ­beabsichtigten Umstrukturierungen zu unterlassen, geleistet. Der Verzicht auf die aus der Gesellschafterstellung und der Anfechtung der Gesellschaftsbeschlüsse resultierende Rechtsposition wurde also jeweils unmittelbar honoriert.“ Dass eine Leistung durch Verzicht auf eine Rechtsposition möglich ist, entspricht st. Rspr., s. etwa zuletzt BFH v. 16.1.2014 – V R 22/13, BFH/NV 2014, 736, 738 m.w.N. Es fehlt deswegen auch nicht an dem Merkmal der Verbrauchbarkeit. Ein tatsächlicher Wertverzehr ist insoweit nicht erforderlich, es genügt die Verschaffung eines geldwerten Vorteils, für den üblicherweise als Gegenleistung Vermögen aufgewendet wird, vgl. Stadie in Stadie, Umsatzsteuergesetz, § 1 Rz. 10; dens. in Rau/ Dürrwächter, UStG, 177. Lieferung 05.2018, § 2 Rz. 196.

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zur Anfechtung berechtigenden Verletzung von Teilnahmebefugnissen (Paradigma: Verkürzung der Redezeit) verstanden werden.93 Der „räuberische Aktionär“ erbringt demnach in allen Varianten umsatzsteuerpflichtige Leistungen i.S.d. §§ 1 Abs. 1 Nr. 1, 3 Abs. 9 UStG an die Gesellschaften gegen Entgelt.94 Im Ergebnis verbleibt dem Aktionär dann lediglich die Differenz zwischen der ihm mittelbar oder unmittelbar zugeflossenen Zahlung95 und der darauf zu entrichtenden Umsatzsteuer.96 Zu Unrecht nicht veranschlagte Mehrwertsteuer ist nachträglich in den Fristen des § 169 Abs. 2 AO i.V.m. § 170 Abs. 2 Nr. 2 AO zu entrichten.

V. Ausblick Das Steuerrecht kann dem aktienrechtlichen Beschlussmängelrecht in seiner Verlegenheit helfen, dass es den Missbrauch mit der Anfechtungsklage nicht aus eigener Kraft ausschließen kann. Es wird die Ausuferungen von legalem „räuberischen“ Vorgehen gegen Unternehmen zwar nicht verhindern, kann aber die wohl unvermeidlichen Fehlanreize eines Rechtssystems, das Kleinaktionären weiter eine Kassationsmacht gewährt, spürbar abmildern. Es zeigt sich dabei ein Handlungsbedarf für die Finanzverwaltung: Es wäre sicherzustellen, dass Zahlungen an räuberische Aktionäre nicht als Kapitalerträge eingestuft werden. Zudem ist Umsatzsteuer in vielen Fällen (nachträglich) zu erheben. Das BMF sollte hier der Finanzverwaltung einen handhabbaren Leitfaden vorgeben. Die relevanten Sachverhalte und Zahlungen sind – dank der Gesetze unseres Jubilars – leicht zu identifizieren, da bei börsennotierten Aktiengesellschaften die Vergleiche und Klagerücknahmen gemäß § 248a AktG i.V.m. § 149 Abs. 2 AktG, bei anderen gemäß §§ 246 Abs. 4 Satz 1, 249 Abs. 1 AktG die Anfechtungs- und Nichtigkeitsklagen im Bundesanzeiger zu veröffentlichen sind. Zudem sind die Tätigkeiten der „Berufskläger“ in einer Reihe von empirischen Untersuchungen gut nachgezeichnet. 93 FG Köln v. 11.6.2015 – 13 K 3023/13, AG 2015, 834, 838. Ein umsatzsteuerfreier Schadensersatz ist ausgeschlossen, wenn dem vermeintlichen Schadensersatz eine Gegenleistung gegenübersteht, vgl. Stadie in Stadie, Umsatzsteuergesetz, §  1 Rz.  48; Englisch in Tipke/ Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 17 Rz. 131.  94 FG Köln v. 11.6.2015  – 13 K 3023/13, AG 2015, 834, 838; FG Berlin-Brandenburg v. 24.11.2010 – 7 K 2182/06 B, AG 2011, 387, 387 f.; Stadie in Stadie, Umsatzsteuergesetz, § 1 Rz. 23, § 2 Rz. 124; Stadie in Rau/Dürrwächter, UStG, 177. Lieferung 05.2018, § 2 Rz. 441; vgl. auch Olgemöller, AG 2011, 547, 548. 95 Also unabhängig davon, ob die Zahlungen direkt an den Aktionär geleistet werden oder mittelbar als Teil der Anwaltsvergütung letztlich an den Aktionär weitergereicht wird. 96 Vgl. De Feo, DStR 2016, 848, 849. Nach der Rechtsprechung unterliegt bei Klageverzichten gegen Entgelt die gesamte Vergleichszahlung als Entgelt der Umsatzsteuer, da der Anfechtungskläger und nicht die Prozessbevollmächtigten, die die Zahlungen lediglich abwickeln, Verzichtender und somit auch Leistungsempfänger der gesamten Entgelte ist, FG Köln v. 11.6.2015 – 13 K 3023/13, AG 2015, 834, 839; insoweit können sich im Hinblick auf die Vorsteuerabzugsberechtigung des Anfechtungsklägers Friktionen ergeben, s. Olgemöller, AG 2011, 547, 548. 

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Barbara Grunewald

Rechtssicherheit bei der Verschmelzung einer GmbH mit einer nicht abschließend geklärten Anteilsinhaberschaft Inhaltsübersicht II. Die Verschmelzung auf einen Rechts­ träger des Erwerbers

2. Gesetzessystematik 3. Der Regelungszusammenhang 4. Aspekte der Rechtssicherheit

III. Das Zusammenspiel von § 16 Abs. 1 ­GmbHG und § 20 Abs. 1 UmwG 1. Der Wortlaut der Normen

V. Zusammenfassung

I. Fragestellung

IV. Der Ausgleich zwischen Berechtigtem und Legitimierten

I. Fragestellung Es kommt immer wieder vor, dass nicht abschließend geklärt ist, wem ein Geschäftsanteil an einer GmbH gehört. Solche Unklarheiten werden oftmals erst entdeckt, wenn der Anteil veräußert werden soll und der Erwerber den Nachweis verlangt, dass der Veräußerer tatsächlich Anteilsinhaber ist. Allein die Tatsache, dass der Veräußerer in der Gesellschafterliste eingetragen ist, sichert den Erwerber nicht hinreichend ab, da die Eintragung die materielle Rechtslage nicht verändert.1 Während die Umstände, unter denen der jetzige Veräußerer seinerseits erwarb, meist noch problemlos nachvollzogen werden können, ist dies für weiter zurückliegende Übertragungsvorgänge oftmals anders. Sollten auch die Voraussetzungen eines gutgläubigen Erwerbs nach § 16 Abs. 3 GmbHG nicht vorliegen, kann der Anteil leicht nahezu unveräußerlich werden. Abhilfe könnte eine Verschmelzung der GmbH bringen, da mit dem Untergang der GmbH auch die Anteile nicht mehr bestehen. Sollten die an die Stelle der untergegangenen Anteile tretenden Beteiligungen an dem übernehmenden Rechts­ träger dem Veräußerer in jedem Fall (also auch falls er nicht Inhaber des GmbH-­ Anteils gewesen sein sollte) zustehen, ließe sich Rechtssicherheit erreichen. Der Erwerber wäre hinreichend abgesichert.

II. Die Verschmelzung auf einen Rechtsträger des Erwerbers Eine Möglichkeit zur Erreichung des angestrebten Ziels wäre die Verschmelzung der GmbH auf einen Rechtsträger, der dem Erwerber gehört (oder auf den Erwerber selbst). Dazu müsste in der GmbH ein entsprechender Verschmelzungsbeschluss gefasst werden. Dies ist unproblematisch möglich. Sollte der Veräußerer nicht Gesell1 Unstreitig Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl., § 16 Rz. 26; Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl., § 16 Rz. 2.

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schafter sein, wäre dies nach § 16 Abs. 1 GmbHG unschädlich.2 Er gilt im Verhältnis zur GmbH unverrückbar als Gesellschafter. Gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 UmwG erlischt die übertragende GmbH mit Eintragung der Verschmelzung im Register des Sitzes des übernehmenden Rechtsträgers und nach § 20 Abs. 1 Nr. 3 Satz 1 UmwG werden die Anteilsinhaber der übertragenden Rechtsträger Anteilsinhaber des übernehmenden Rechtsträgers. Damit stellt sich die Frage, ob dies in jedem Fall der Veräußerer ist,3 also auch wenn er nicht der wirkliche Anteilsinhaber ist.

III. Das Zusammenspiel von § 16 Abs. 1 GmbHG und § 20 Abs. 1 UmwG 1. Der Wortlaut der Normen Nach § 16 Abs. 1 GmbHG gilt im Verhältnis zur GmbH als Inhaber des Geschäftsanteils nur, wer als solcher in der Gesellschafterliste eingetragen ist und das ist der Veräußerer wohl stets. Gegen die Anwendung dieser Norm auf den Verschmelzungsvorgang ließe sich einwenden, dass es nicht nur um das Verhältnis zu der GmbH geht sondern die Folgen der Verschmelzung auch den übernehmenden Rechtsträger treffen. Das trifft ohne Zweifel zu, ändert aber nichts an der Anwendbarkeit der Norm. Auch sonst haben innergesellschaftliche Akte (etwa die Bestellung einer Person zum Geschäftsführer) Auswirkungen auf Dritte, ohne dass das etwas an der Einschlägigkeit von § 16 Abs. 1 GmbHG ändern würde. Ein weiteres am Wortlaut der Norm ausgerichtetes Argument könnte gegen die Anwendbarkeit von § 16 Abs. 1 GmbHG bei Umwandlungsvorgängen sprechen. Nach § 20 Abs. 1, 3 Satz 1 UmwG werden die Anteilsinhaber des übertragenden Rechtsträgers zu Anteilsinhabern des übernehmenden Rechtsträgers und Anteilsinhaber ist der Veräußerer ja gerade nicht, wenn er zu Unrecht in der Gesellschafterliste eingetragen ist.4 In der Tat behandelt die Norm den Normalfall: Also die Situation, dass an dem übertragenden Rechtsträger kein „Scheingesellschafter“ beteiligt ist. Daraus kann aber nicht gefolgert werden, dass eine Person, die in der Gesellschafterliste einer GmbH eingetragen ist und die daher im Verhältnis zur GmbH als dem übertragenden Rechtsträger als Gesellschafter gilt, nicht mit erfasst sein sollte. Wollte man diesen Sonderfall als durch die Bestimmung mitgeregelt ansehen, würde man dem Wortlaut mehr entnehmen als in ihm liegt.

2 So speziell zum Fall der Verschmelzung Heidinger in MünchKomm. GmbHG, 2. Aufl., § 16 Rz. 221; Löbbe in Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, 2. Aufl., § 16 Rz. 76; Seibt in Scholz, GmbHG, 12. Aufl., § 16 Rz. 36. 3 Sollte die Übertragung des Anteils vor der Verschmelzung erfolgen, liegt die Problematik nicht anders. 4 So Leonhard in Semler/Stengel, UmwG, 4. Aufl., § 20 Rz. 74b; Leyendecker/Langner, ZGR 2015, 516, 529; Schniepp/Hensel, NZG 2014, 857, 861; Stratz in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, UmwG, 7. Aufl., § 20 Rz. 96.

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Verschmelzung einer GmbH mit einer Anteilsinhaberschaft

2. Gesetzessystematik Gegen die Zuweisung des Anteils am übernehmenden Rechtsträger an den nach § 16 Abs. 1 GmbHG Legitimierten wird weiter eingewandt, die Norm könne nicht dazu führen, dass der Legitimierte zum materiell Berechtigten werde. Dies sei allein unter den Voraussetzungen von § 16 Abs. 3 GmbHG möglich.5 Daran ist richtig, dass § 16 Abs. 3 GmbHG einen Fall regelt, in dem die formale Position als „Listenberechtigter“ zur Gesellschafterstellung erstarkt, und auch, dass die Anwendung von § 16 Abs. 1 GmbHG auf Umwandlungsfälle zu demselben Ergebnis führen würde. Allerdings sagt § 16 Abs. 3 GmbHG nicht, dass der dort geregelte Fall der einzige wäre, der zu einer solchen Erstarkung führen könnte. Ebenso gut lässt sich sagen, dass § 16 Abs. 3 GmbHG zeigt, dass eine solche Erstarkung durchaus möglich und somit auch systemkonform ist. Ebenfalls auf systematischen Überlegungen beruht wohl die Annahme, § 16 Abs. 1 GmbHG sei nicht anwendbar, wenn der Vollzug der Maßnahme kraft Gesetzes eintritt.6 Ohne Zweifel tritt die Rechtsfolge des Verschmelzungsbeschlusses (so wie der weiteren für die Verschmelzung erforderlichen Akte), eben die Gesamtrechtsnachfolge, kraft Gesetzes ein. Doch fragt es sich, warum dies für den Umfang der Legitimationswirkung maßgeblich sein sollte. Es geht um die Frage, wieweit der materiell Berechtigte dem formal Legitimierten zu weichen hat. Diese Frage, die letztlich anhand der Wertungen des Gesetzes zu entscheiden ist, hat mit dem formalen Weg, auf dem ein eventueller Rechtsverlust eintritt, nichts zu tun. Allerdings führt eine Gesamtrechtsnachfolge üblicher Weise nicht zu einem Mehr an Rechten in der Hand des Nachfolgers als sie der Rechtsvorgängers inne hatte. Der hier zur Debatte stehende Fall liegt aber besonders: Ein Rechtsgeschäft (eben der Verschmelzungsbeschluss) ist die maßgebliche Grundlage der Gesamtrechtsnachfolge und bei diesem Rechtsgeschäft gilt der in der Liste Eingetragene als Inhaber des Anteils.7 3. Der Regelungszusammenhang Wie geschildert gilt für den Verschmelzungsbeschluss unstreitig § 16 Abs. 1 GmbHG, der in der Liste Eingetragene ist also entsprechend legitimiert. Es liegt darüber hinaus in seiner Hand, ob überhaupt ein Anteil an dem übernehmenden Rechtsträger an die Stelle des GmbH-Anteils tritt. Er könnte auch gegenüber der GmbH einen entsprechenden Verzicht erklären, wozu er gemäß § 16 Abs. 1 GmbHG auch zu Lasten des wahren Berechtigten in der Lage wäre.8 Damit wird klar, dass der nach § 16 Abs. 1 5 Leyendecker/Langner, ZGR 2015, 516, 529. 6 Heidinger in MünchKomm. GmbHG, 2.  Aufl., §  16 Rz.  222; Löbbe in Ulmer/Habersack/ Löbbe, GmbHG, 2. Aufl., § 16 Rz. 77 f.; Westermann/Hornung, GmbHR 2017, 626, 628. 7 S. Schniepp/Hensel, NZG 2014, 857, 860, die aber im Ergebnis anders als hier vertreten entscheiden. 8 S. Schnorbus, ZGR 2004, 126, 148; Schniepp/Hensel, NZG 2014, 857, 861 schlagen daher eine Vertragsgestaltung der Anteilsveräußerung vor, die diese Verzichtsmöglichkeit nutzt.

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Barbara Grunewald

GmbHG Legitimierte über das Schicksal der Beteiligung entscheidet. Der Berechtigte ist von dieser Entscheidung ausgeschlossen, hat aber die Konsequenzen zu tragen. Das muss dann aber auch in Bezug auf den Verschmelzungsbeschluss und die Verschmelzung gelten. Hinzu kommt, dass der wahre Berechtigte keineswegs stets an dem Erwerb der Be­ teiligung (von dem er eventuell gar nichts weiß) interessiert ist. In der Literatur wird nur der Fall der Verschmelzung auf eine GmbH diskutiert, eine Situation, in der das Risiko des Anteilserwerbers überschaubar – aber durchaus existent – ist. Genauso gut kann aber die Verschmelzung auf eine Personengesellschaft beschlossen werden, eventuell sogar auf eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts oder eine OHG. Erfor­derlich ist dann natürlich die Zustimmung aller Anteilsinhaber des übertragenden Rechts­ trägers. Für diese Zustimmung gilt aber wiederum unstreitig § 16 Abs. 1 GmbHG. Würde § 16 Abs. 1 GmbHG also zur Folge haben, dass nicht der „Scheingesellschafter“ sondern der wahre Berechtigte Anteilsinhaber in dem übernehmenden Rechtsträger wird, sähe sich der wahre Berechtigte eventuell einer unbeschränkten persönlichen Haftung gegenüber. Dass dieses Ergebnis alles andere als sachgerecht wäre, liegt meines Erachtens auf der Hand. 4. Aspekte der Rechtssicherheit §  16 Abs.  1 GmbHG hat ebenso wie §  20 UmwG zum Ziel, dass Rechtsgeschäfte rechtssicher getätigt werden können. In § 20 UmwG wird dies durch Abs. 2 der Norm besonders deutlich: Mängel der Verschmelzung lassen die Wirkung der Eintragung der Verschmelzung unberührt. Dieses Ziel lässt sich umfassend aber nur erreichen, wenn sich alle Beteiligten darauf verlassen können, dass der nach § 16 Abs. 1 GmbHG Legitimierte es auch in Bezug auf die Verschmelzung ist. Es kann – insbesondere in kleinen Gesellschaften – auch für die Anteilsinhaber des übernehmenden Rechtsträgers von maßgeblicher Bedeutung sein, wer als weiterer Gesellschafter nach der Verschmelzung mit ihnen an einem Tisch sitzt.9 Wäre dies nicht der nach § 16 Abs. 1 GmbHG Legitimierte sondern eine völlig andere Person, könnte dies zu unliebsamen und auch nicht gerechtfertigten Überraschungen führen. Aspekte der Rechtssicherheit sind es dann wohl auch, die auch die Vertreter der Ansicht, dass der wahre Berechtigte die Anteile am übernehmenden Rechtsträger erwirbt, zu einer Einschränkung veranlassen. Wenn gemäß § 54 UmwG/§ 68 UmwG keine Kapitalerhöhung erfolgt ist, soll der wahre Berechtigte nicht Anteilsinhaber im übernehmenden Rechtsträger werden. Denn da dann keine Anteile existieren, könnte – so heißt es – der wahre Berechtigte auch keine Anteile erwerben.10 In der Tat: Solche Anteile zu fingieren, würde den übernehmenden Rechtsträger und seine An 9 S. den Hinweis von Schothöfer, GmbHR 2003, 1321, 1327; Schnorbus, ZGR 2004, 126, 148 weist darauf hin, dass der Scheingesellschafter im Verschmelzungsvertrag meist namentlich aufgeführt sein wird, und folgert daraus, dass er auch Anteilsinhaber im übernehmenden Rechtsträger wird. 10 Leonhard in Semler/Stengel, UmwG, 4. Aufl., § 20 Rz. 74; Leyendecker/Langner, ZGR 2015, 516, 530 f.; Westermann/Hornung, GmbHR 2017, 626, 629.

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Verschmelzung einer GmbH mit einer Anteilsinhaberschaft

teilsinhaber, die von diesen Anteilen ja gar nichts wissen, schwer belasten. Da in Personengesellschaften die Gesellschafterstellung nicht an eine Kapitalquote gebunden ist, soll für diese Gesellschaften als übernehmende Rechtsträger aber wiederum etwas anderes gelten und der wahre Berechtigte dann doch Gesellschafter werden.11 Gerade dieses Ergebnis zeigt aber, dass eine einheitliche Lösung angezeigt ist. Auch Personengesellschaften können nicht mit Gesellschaftern geführt werden, von deren Existenz meist keiner ausgeht.

IV. Der Ausgleich zwischen Berechtigtem und Legitimierten Der nicht in der Gesellschafterliste eingetragene Berechtigte verliert – folgt man dem hier entwickelten Gedankengang – im Zuge der Verschmelzung seine Geschäftsanteile. Damit stellt sich die Frage, ob ihm wenigstens Ersatzansprüche gegen den Legitimierten zustehen. Sollte der Legitimierte von dem Berechtigten unwirksam erworben haben, ist die Sache relativ klar. Die Rückabwicklung erfolgt regelmäßig über Bereicherungsrecht, da das der Übertragung zu Grunde liegende Verpflichtungsgeschäft meist ebenfalls unwirksam sein wird. Da die Rückübertragung des Geschäftsanteils nicht mehr möglich ist, erfolgt die Abrechnung nach §§ 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1, 818 Abs. 2 BGB. Im Regelfall wird eine solche Leistungsbeziehung zwischen dem Legitimierten und dem wahren Berechtigten aber nicht bestehen, da die fehlerhafte Übertragung zu einem früheren Zeitpunkt zwischen anderen Personen erfolgte. In diesem Fall steht dem Berechtigten die Eingriffskondiktion zur Verfügung, da der Legitimierte durch seine Mitwirkung an der Verschmelzung den Untergang des Geschäftsanteils herbeigeführt hat. Dem lässt sich auch nicht entgegenhalten, dass der Legitimierte die mit der Verschmelzung verbundenen Vorteile nicht auf Kosten des Berechtigten erhalten habe.12 Der im Zuge der Verschmelzung erfolgte Eingriff in die Rechtsstellung des Berechtigten hat zur Folge, dass dieser Geschäftsanteil nunmehr verloren ist. Der Anteil kann nicht mehr herausgegeben werden, da er in Folge der Verschmelzung erloschen ist. Genau diesen Fall regelt § 818 Abs. 2 BGB.13 Die Kondiktion kommt nur in Frage, wenn es an einem Rechtsgrund für den Eingriff fehlt. Auch das ist der Fall. Insbesondere ist § 20 UmwG kein Rechtsgrund im Verhältnis formal Legitimierter/wahrer Berechtigter für den Verlust des Geschäftsanteils.14 Zwar ist diese Norm insofern von besonderer Bedeutung, als sie das Erlöschen 11 Leyendecker/Langner, ZGR 2015, 516, 531 Fn. 67. 12 Westermann/Hornung, GmbHR 2017, 626, 631; a.A. Leyendecker/Langner, ZGR 2015, 516, 544. 13 Westermann/Hornung, GmbHR 2017, 626, 633. 14 Westermann/Hornung, GmbHR 2017, 626, 632; a.A. Leyendecker/Langner, ZGR 2015, 516, 545.

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Barbara Grunewald

des übertragenden Rechtsträgers und damit der betreffenden Geschäftsanteile anordnet (§ 20 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 UmwG). Aber diese Bestimmung bildet keinen Rechtsgrund im Verhältnis Scheingesellschafter/Berechtigter. Vielmehr dient sie genauso wie § 20 Abs. 2 UmwG lediglich der Festlegung der Rechtsfolge sowie der Absicherung der Verschmelzung gegen Rückabwicklungsbegehren. Genauso wertet ja auch § 951 BGB, eine Norm, die einen Ausgleich anordnet, nach dem ebenfalls ein Erwerb auf Grund gesetzlicher Anordnung eingetreten ist.

V. Zusammenfassung 1. Wird eine GmbH verschmolzen, hat § 16 Abs. 1 GmbHG zur Folge, dass der in der Gesellschafterliste Eingetragene die Anteile an dem übernehmenden Rechtsträger erwirbt. 2. Der Ausgleich zwischen dem Berechtigten und dem „Listengesellschafter“ erfolgt nach Bereicherungsrecht.

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Mathias Habersack

Elf Jahre neues Recht der Gesellschafterdarlehen: Zwischenevaluation und Verprobung am Beispiel der Wandelanleihe Inhaltsübersicht I. Einführung II. Holpriger Beginn 1. Gewitterwolken 2. Diskontinuität III. Tastende Konturierung durch höchst­ richterliche Rechtsprechung 1. Verlauf und heutiger Stand der Rechtsprechung des IX. Zivilsenats 2. Fazit

IV. Nachrang und Anfechtbarkeit als Preis für Haftungsbeschränkung V. Insolvenzrecht versus Wertpapierrecht 1. Präzisierung der Fragestellung 2. Gesellschafter in Wartestellung kein ­gesellschaftergleicher Dritter 3. Nachrang und Anfechtbarkeit versus Verkehrsfähigkeit der Anleihe VI. Schluss

I. Einführung Im Kreis der von Ulrich Seibert federführend betreuten gesellschaftsrechtlichen Reformgesetze nimmt das MoMiG vom 23. Oktober 20081 gewiss eine Sonderstellung ein. Auch der Jubilar sieht dies ersichtlich so, zitiert er doch im Vorwort des von ihm unmittelbar nach Inkrafttreten des MoMiG herausgegebenen, die Gesetzesmaterialien verlässlich dokumentierenden und in die Reform vermittels eines nach wie vor lesenswerten Überblicks einführenden Bandes2 Brigitte Zypries, die als seinerzeit amtierende Bundesministerin der Justiz bei der abschließenden Lesung des Gesetzes im Deutschen Bundestag ausgeführt hat, dass die Geschichte des Aktienrechts eine Geschichte seiner Reformen sei, während es sich beim GmbH-Recht genau umgekehrt verhalte: „Es ist eher eine Geschichte gescheiterter Reformvorhaben.“ Dass das ­MoMiG nicht das Schicksal der großen Reformvorhaben von 1937 und 1971/733 geteilt hat, ist nach Einschätzung Seiberts dem mit ihm verfolgten „Deregulierungsansatz“ zu verdanken: 1 Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen, BGBl. I 2008, 2026; umfassende Dokumentation der Entstehungsgeschichte bei Seibert, ­Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen – MoMiG, RWS-Dokumentation 23, 2008; Goette, Einführung in das neue GmbH-Recht, 2008.  2 Seibert, Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen – MoMiG, RWS-Dokumentation 23, 2008, S. V. 3 Näher zu diesen sowie allgemein zur Entwicklung des GmbH-Rechts Ulmer in Ulmer/­ Habersack/Löbbe, GmbHG, 2. Aufl. 2013, Einl. Rz. 54 ff.

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Mathias Habersack „Es geht darum, die Gründung und das normale Leben der GmbH zu erleichtern – dafür aber am Ende, in der Krise etwas schärfer zuzugreifen. Es greift dazu auch tief in das Haftkapitalsystem ein, vertritt die „Rückkehr zum bilanziellen Denken“ als Leitmotiv – und wann man in zehn Jahren an das MoMiG zurückdenken sollte, könnte das das Schlagwort sein, das haften geblieben ist.“4

In der Tat hat die „bilanzielle Betrachtungsweise“ dem Reformwerk seinen Stempel aufgedrückt, und zwar gleichermaßen im Recht der Kapitalaufbringung und im Recht der Kapitalerhaltung. Seinen sichtbaren Ausdruck findet dieses gesetzgeberische Leitmotiv unter anderem darin, dass die altehrwürdigen Grundsätze über eigenkapitalersetzende Darlehen ihrer gesellschaftsrechtlichen Grundlage beraubt und durch ein rein insolvenz- und anfechtungsrechtliches Regelungskonzept ersetzt worden sind. Indem § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG und § 57 Abs. 1 Satz 4 AktG in der Fassung durch das MoMiG explizit bestimmen, dass die in § 30 Abs. 1 Satz 1 GmbHG, § 57 Abs. 1 Satz 1 AktG statuierten Auszahlungsverbote auf die Rückgewähr eines Gesellschafterdarlehens und Leistungen auf Forderungen aus Rechtshandlungen, die einem Gesellschafterdarlehen wirtschaftlich entsprechen, nicht anzuwenden sind, wollen sie nicht nur sicherstellen, dass sich unter Geltung des MoMiG nicht wiederholt, was sich nach Inkrafttreten der GmbH-Novelle ereignet hatte, nämlich die Ergänzung der Neuregelung durch gesellschaftsrechtlich verankerte Rechtsprechungsregeln.5 Die Unanwendbarkeit des aktien- und GmbH-rechtlichen Auszahlungsverbots trägt vielmehr auch dem Umstand Rechnung, dass die Rückzahlung eines Darlehens (mag es sich um ein Gesellschafterdarlehen oder um ein Drittdarlehen handeln) angesichts des mit ihr verbundenen Wegfalls einer Verbindlichkeit zwar nicht „bilanzneutral“, wohl aber eine sub specie der Kapitalerhaltung irrelevante Bilanzkürzung ist. So gesehen verwirklichen § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG, § 57 Abs. 1 Satz 4 AktG betont bilanzielles Denken,6 während die Rechtsprechungsregeln zum Eigenkapitalersatz – ebenso wie sodann das „November“-Urteil des II. Zivilsenats des BGH7 – genau umgekehrt die bilanzielle Betrachtungsweise bewusst ignoriert hatten: Der mit der Erfüllung des Gesellschafterdarlehens verbundene Entlastungseffekt auf der Passivseite der Bilanz war bei Anwendung der Kapitalerhaltungsregeln auszublenden; die Rückzahlung war nur insoweit gestattet, als sie auch unabhängig von dem Wegfall einer Verbindlichkeit aus freiem Vermögen erfolgen konnte.8 Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden – knapp 11 Jahre nach Verabschiedung des MoMiG – zunächst „Bilanz gezogen“ und das Recht der Gesellschafterdarlehen 4 Seibert, Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen – MoMiG, RWS-Dokumentation 23, 2008, S. V. 5 BGH v. 26.3.1984 – II ZR 14/84, BGHZ 90, 370, 376 ff.; zur Einordnung s. Habersack in FS Canaris, 2017, S. 813, 827 ff. mit weit. Nachw. 6 Die Verbindlichkeit der Gesellschaft gegenüber dem Gesellschafter ist auch bei nachlassender Bonität der Gesellschaft zum Nennwert anzusetzen, s. Habersack in Ulmer/Habersack/ Löbbe, GmbHG, 2. Aufl. 2014, Anh. § 30 Rz. 22.  7 BGH v. 24.11.2003 – II ZR 171/01, BGHZ 157, 72, 75 ff. 8 S. für die GmbH Habersack in Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, 2. Aufl. 2014, Anh. § 30 Rz. 22 mit weit. Nachw.; speziell zu Aktionärsdarlehen BGH v. 26.3.1984 – II ZR 171/83, BGHZ 90, 381, 385 ff.

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im Lichte des heute erreichten Standes der Diskussion evaluiert werden. Dass der Verfasser an diese Aufgabe nicht ganz unbefangen herangeht, nachdem er sich – gemeinsam mit Ulrich Huber9 und im engen Dialog mit Ulrich Seibert – im Vorfeld des MoMiG für einen Paradigmenwechsel ausgesprochen hat, ist dabei hinzunehmen und wiegt vielleicht weniger schwer, nachdem der IX. Zivilsenat des BGH inzwischen zahlreiche Grundsatzfragen geklärt hat, so dass sich die im Folgenden vorzunehmende Bestandsaufnahme auf im Wesentlichen gesichertem Fundament bewegen kann, bevor sie in die Erörterung von in mancherlei Hinsicht noch offenen Fragen im Zusammenhang mit der Begebung von Wandel- und Optionsanleihen mündet.

II. Holpriger Beginn 1. Gewitterwolken Das gesetzgeberische Vorhaben, die Regeln über Gesellschafterdarlehen von dem Erfordernis einer in der Krise der Gesellschaft getroffenen Finanzierungsentscheidung zu befreien und auf eine rein insolvenz- und anfechtungsrechtliche Grundlage zu stellen, war seinerzeit beileibe nicht auf ungeteilte Zustimmung gestoßen. So heißt es etwa im Vorwort zur 2007 von Goette/Kleindiek vorgelegten 5. Auflage des „Eigenkapitalersatzes in der Praxis“, dass die Verfasser des Referententwurfs des MoMiG (mithin der Jubilar) planten, „einer modernistischen, die Bedeutung dieser in Jahrzehnten gewachsenen Rechtsfigur negierenden Stimmung im Schrifttum folgend, das Eigenkapitalersatzrecht (hinsichtlich der sog. „Rechtsprechungsregeln“ bemerkenswerterweise in Gestalt eines „Nichtanwendungsgesetzes“) abzuschaffen“ und „Restbestände (Kleinbeteiligungs- und Sanierungsprivileg) systemwidrig in das Insolvenzrecht“ zu transplantieren. Hommelhoff hat nachgerade den Untergang der mittelständischen Wirtschaft kommen sehen: „Die Finanzierung der mittelständischen Wirtschaft in Deutschland und wohl auch die Binnenfinanzierung vieler Konzerne wäre in ihren Fundamenten erschüttert und auf lange Zeit in hohem Maße verunsichert, wenn sich der deutsche Gesetzgeber für Gesellschafterkredite und sonstige Gesellschafterleistungen künftig von diesem Prinzip leiten lassen würde.“10 Altmeppen hat, um eine weitere lautstarke Stimme aus der Schar der Kritiker11 zu Wort kommen zu lassen, das Fehlen eines „dogmatischen Fundaments“ und im Hinblick auf den Fortbestand des Kleinbeteiligten- und des Sanierungsprivilegs einen „Systembruch“ moniert sowie den Vorwurf erhoben, es werde „das Kind mit dem Bade“ ausgeschüttet.12

9 Huber/Habersack, BB 2006, 1 ff.; dies. in Lutter, Das Kapital der Aktiengesellschaft in Europa, 2006, S. 370 ff.; s. ferner Röhricht, ZIP 2005, 505, 512 f.; Haas, Gutachten E zum 66. Deutschen Juristentag, 2006, S. 38 ff. 10 Hommelhoff in Gesellschaftsrechtliche Vereinigung (VGR), Die GmbH-Reform in der Diskussion, 2006, S. 115, 126.  11 Umf. Nachweise zur rechtspolitischen Bewertung der Reform bei Habersack in Ulmer/­ Habersack/Löbbe, GmbHG, 2. Aufl. 2014, Anh. § 30 Rz. 1 Fn. 4.  12 Altmeppen in Gesellschaftsrechtliche Vereinigung (VGR), Gesellschaftsrechts in der Diskussion 2006, S. 93, 101, 105, 113. 

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Derlei „Drohkulissen“ haben sich indes, wie im weiteren Verlauf des Beitrags in Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des IX. Zivilsenats darzulegen sein wird, als reichlich übertrieben und unbegründet erwiesen. Der deutsche Mittelstand ist unter der Neuregelung durch das MoMiG nicht zusammengebrochen, und an Klarheit, Stringenz, Übersichtlichkeit und Vorhersehbarkeit kann es die Neuregelung allemal mit den aus Rechtsprechungs- und Novellenregeln bestehendem Eigenkapitalersatzrecht aufnehmen.13 2. Diskontinuität Weniger pointiert, indes gleichfalls fundamental haben die Vertreter der diversen „Kontinuitätslehren“ ihre Kritik an der Neuregelung vorgetragen.14 Getreu der Devise, dass nicht sein kann, was nicht sein darf, haben sie behauptet, auch die Neuregelung folge – ungeachtet des Wegfalls des Krisenmerkmals – dem Konzept der Finanzierungsfolgenverantwortung und knüpfe damit letztlich doch an eine im Zustand der Krise getroffene Finanzierungsentscheidung an. Schon in den Materialien heißt es indes, dass auf das Merkmal „kapitalersetzend“ verzichtet werde und es „nach dem neuen Konzept keine kapitalersetzenden Gesellschafterdarlehen mehr“ gebe, künftig vielmehr jedes Gesellschafterdarlehen bei Eintritt der Insolvenz nachrangig sei.15 Damit hat der Gesetzgeber überaus deutlich zum Ausdruck gebracht, dass nicht mehr die in der Krise getroffenen Finanzierungsentscheidung, sondern der Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens den konzeptionellen Anknüpfungspunkt des neuen Rechts bildet.16 In der Folge kann der Gesellschafter die Subordination nicht dadurch abwenden, dass er das Darlehen mit Ausbruch der „Krise“ abzieht;17 umgekehrt entgeht er der Subordination, wenn er das Darlehen zwar nach Ausbruch der Krise, wohl aber außerhalb der Jahresfrist des § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO abzieht. Die insolvenz- und anfechtungsrechtlichen Rechtsfolgen treten damit völlig unabhängig von einer Be13 S. noch unter VI. – Es sei hier nicht verschwiegen, dass sich der Verfasser, beginnend mit den Beiträgen in ZHR 161 (1997), 457 und ZHR 162 (1998), 201, und mündend in die Kommentierung der §§ 32a/b GmbHG in der ersten Auflage des Großkommentars zum GmbHG (Ulmer/Habersack/Winter, GmbHG, 2006), als Befürworter der Regeln über den Eigenkapitalersatz hervorgetan hat; die Arbeit an der erwähnten Kommentierung hat indes die Überzeugung reifen lassen, dass das alte Recht nicht nur an zu hoher Komplexität gelitten, sondern auch einen unverhältnismäßigen Aufwand zur Bewältigung eines recht simplen Phänomens betrieben hat. 14 Namentlich Altmeppen, NJW 2008, 3601, 3602; Marotzke, ZInsO 2009, 2073, 2078; Pentz in FS Hüffer, 2010, S. 747, 760 ff.; Pentz, GmbHR 2013, 393, 397 ff.; K. Schmidt, GmbHR 2009, 1009, 1015 ff.; Thiessen, DStR 2007, 202, 206 ff. 15 Begr. RegE, BT-Drucks. 16/6140, S. 56; treffend auch Seibert, Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen – MoMiG, RWS-Dokumentation 23, 2008, S. 39 f.: Dass das GmbH-Recht damit auf den Entwicklungsstand von 1938 zurückkehre (so Vossius, NotBZ 2006, 373, 379), „ist eine inhaltsleere Insinuation.“ 16 Azara, Das Eigenkapitalersatzrecht nach dem MoMiG, 2010, S.  413  f.; Führ/Wahl, NZG 2010, 889, 892; Noack, DB 2007, 1395, 1398; eingehend Schulze De la Cruz, Der neue Normzweck des Rechts der Gesellschafterdarlehen und seine Auswirkungen auf den persönlichen Anwendungsbereich, 2015, S. 122 ff. mit umf. Nachw. 17 Vgl. bereits Habersack, ZIP 2007, 2145, 2146 f.; Huber in FS Priester, S. 259, 261.

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wertung der Gesellschafterhilfe18 und des Verhaltens des Gesellschafters auf ihre Vereinbarkeit mit (welchen?) Grundsätzen einer ordnungsgemäßen Unternehmensfinanzierung ein, weshalb es sinnlos und verfehlt ist, Tatbestandsmerkmale zu unterstellen, auf die es nicht mehr ankommen soll.19

III. Tastende Konturierung durch höchstrichterliche Rechtsprechung Erfreulicherweise hat der IX. Zivilsenat des BGH alsbald nach Erlass des MoMiG Gelegenheit gefunden, sich mit der Neuregelung zu befassen und einige wesentliche Leitlinien zu formulieren. 1. Verlauf und heutiger Stand der Rechtsprechung des IX. Zivilsenats Am Anfang stehen einige tastende und in erster Linie auf Abgrenzung zum alten Eigenkapitalersatzrecht angelegte Entscheidungen des IX. Zivilsenats. Schon im Urteil vom 17.2.2011 hat der Senat zu Recht betont, dass der maßgebliche Grund für den Nachrang entgegen verbreiteter Ansicht20 jedenfalls nicht in dem typischerweise gegebenen Informationsvorsprung des Gesellschafters zu erblicken ist und dass für das neue Recht nicht mehr an das Merkmal der Krise und das der fehlenden Kreditwürdigkeit im Zeitpunkt der Gewährung des Darlehens angeknüpft werden kann.21 Im Urteil vom 21.7.2011 hat der Senat – wiederum zu Recht – ausgeführt, dass es sich bei der Neuregelung um ein „Instrumentarium rein insolvenzrechtlicher Natur“ handelt.22 Damit nicht ohne Weiteres vereinbar ist zwar die im Urteil vom 21.2.2013 im Zusammenhang mit der Erstreckung der Regeln über Gesellschafterdarlehen auf verbundene Unternehmen getroffene Feststellung des Senats, dass die Annahme nahe liege, das durch das MoMiG umgestaltete Recht und damit auch § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO harmoniere mit der Legitimationsgrundlage des früheren Rechts im Sinne einer Finanzierungsfolgenverantwortung, und dass hieraus wiederum der anfechtungsrechtliche Regelungszweck herzuleiten sei, den infolge des gesellschaftsrechtlichen Näheverhältnisses über die finanzielle Lage ihres Betriebs regelmäßig wohlinformierten Gesellschafter die Möglichkeit zu versagen, der Gesellschaft zur Verfügung gestellte Kreditmittel zu Lasten der Gläubigergesamtheit zu entziehen.23 Dass es sich

18 Zutr. BGH v. 13.10.2016 – IX ZR 184/14 Rz. 22: „Bemakelung des Gesellschafterdarlehens“ ist kein Kriterium mehr für die Behandlung der Gesellschafterleistungen in der Insolvenz der Gesellschaft; s. zu dieser Entscheidung noch unter III. 1.  19 Huber in FS Priester, S. 259, 274; Habersack, ZIP 2007, 2145, 2148; K. Schmidt, GmbHR 2009, 1009, 1013; K. Schmidt in Liber Amicorum M. Winter, S. 601, 613 ff. 20 So de lege ferenda namentlich Eidenmüller in FS Canaris, 2007, S. 49, 61 ff., Eidenmüller, ZGR 2007, 168, 192 f., jew. verbunden mit der – konsequenten – Forderung, von einem gesetzlichen Nachrang abzusehen und sich mit Anfechtungsregeln zu begnügen. 21 BGH v. 17.2.2011 – IX ZR 131/10, BGHZ 188, 363 Rz. 17, 25.  22 BGH v. 21.7.2011 – IX ZR 185/10, BGHZ 190, 364 Rz. 30.  23 BGH v. 21.2.2013 – IX ZR 32/12, ZIP 2013, 582 Rz. 18. 

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hierbei um einen – insbesondere mit dem Grundsatzurteil vom 17.11.201124 unvereinbaren – „Ausreißer“ handelt, zeigt bereits das Urteil vom 7.3.2013: „Die Anfechtung beschränkt sich nicht mehr auf solche Fälle, in denen zurückgezahlte Ge­ sellschafterdarlehen eigenkapitalersetzend waren und die Befriedigung der Gesellschafter ihrer Finanzierungsfolgenverantwortung widersprach. Dieses Gesetzesverständnis ist eindeutig…“.25

Den im Urteil vom 17.2.2011 und im Urteil vom 28.6.2012 aufgeworfenen und dahingestellt gebliebenen Fragen nach dem „Grundgedanken der gesetzlichen Neuregelung“26 und dem „gesetzlichen Ordnungsprinzip“27 widmet sich der IX. Zivilsenat sodann vor allem28 im Urteil vom 13.10.2016.29 Im Zusammenhang mit der Frage, ob die Auszahlung eines Gesellschafterdarlehens an die Gesellschaft in der Insolvenz des Gesellschafters als unentgeltliche Leistung nach § 134 InsO angefochten werden kann, äußert sich der Senat in Rz. 21 f. zur gesetzlichen Systematik und zu Sinn und Zweck des Rechts der Gesellschafterdarlehen wie folgt: „Die Anfechtbarkeit (scil.: nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO) ist im Unterschied zur früheren Regelung nicht mehr auf Rechtshandlungen beschränkt, die für die Forderung eines Gesellschafters auf Rückgewähr eines kapitalersetzenden Darlehens oder für eine gleichgestellte Forderung Befriedigung gewährt haben, in denen die Befriedigung der Gesellschafter mithin ihrer Finanzierungsfolgenverantwortung widersprach (…). Sie ist nach der Neuregelung vielmehr lediglich zeitlich begrenzt worden. Die Norm dient der Ergänzung des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO und stellt sicher, dass der Nachrang nicht durch Abzug des Darlehens vor Insolvenzeröffnung oder Nichteröffnung des Insolvenzverfahrens und die vorrangige Befriedigung aus der Gesellschaftssicherheit durch Leistungen aus dem Insolvenzvermögen unterlaufen werden kann (vgl. Ulmer/Habersack, GmbHG 2. Aufl. Anh. § 30 Rn. 18 m.w.N.). Angesichts der Zuweisung der im letzten Jahr vor der Antragstellung erfolgten Rückzahlungen an die Masse der Gesellschaft und damit an deren Gläubiger wäre es widersprüchlich, die von dem Gesellschafter im Vierjahreszeitraum geleisteten und noch nicht zurückerlangten Zahlungen im Wege einer Anfechtbarkeit nach § 134 Abs. 1 InsO – unter Überwindung des voraussetzungslos angeordneten Nachrangs – dessen Gläubigern zuzuordnen. (c) Auch Sinn und Zweck der Neuregelung sprechen gegen die Annahme einer unentgeltlichen Leistung. Grundgedanke des neuen Rechts ist es, Gesellschafterdarlehen ohne Rücksicht auf einen Eigenkapitalcharakter einer insolvenzrechtlichen Sonderbehandlung zu unterwerfen und auf diese Weise eine darlehensweise Gewährung von Finanzmitteln der Zuführung haftenden Eigenkapitals weitgehend gleichzustellen. Deshalb knüpfen die Rechtsfolgen der Gewährung von Gesellschafterdarlehen tatbestandlich nicht mehr an eine Krise, sondern an die Insolvenz der Gesellschaft an. Damit wird die Behandlung von Gesellschafterdarlehen auf eine rein insolvenz- und anfechtungsrechtliche Basis gestellt (vgl. Gehrlein in Gehrlein/Ekkenga/ Simon, GmbHG 2. Aufl. Vor § 64 Rn. 122 m.w.N.). Eine mittelbare Besserstellung der Gesell24 BGH v. 17.2.2011 – IX ZR 131/10, BGHZ 188, 363 Rz. 17. 25 BGH v. 7.3.2013 – IX ZR 7/12, ZIP 2013, 734 Rz. 14.  26 BGH v. 17.2.2011 – IX ZR 131/10, BGHZ 188, 363 Rz. 16.  27 BGH v. 28.6.2012 – IX ZR 191/11, BGHZ 193, 378 Rz. 24.  28 S. auch BGH v. 29.1.2015 – IX ZR 279/13, BGHZ 204, 83 Rz. 38 ff. betreffend die (zu Recht verneinte) Frage eines Anspruchs des Insolvenzverwalters auf unentgeltliche Nutzung von der Gesellschaft vermieteten Betriebsanlagen. 29 BGH v. 13.10.2016 – IX ZR 184/14, BGHZ 212, 272. 

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Elf Jahre neues Recht der Gesellschafterdarlehen schaftergläubiger durch eine Ausweitung der Anfechtungsmöglichkeiten in der Insolvenz des Gesellschafters könnte ihre innere Berechtigung hingegen allein aus der Bemakelung des Gesellschafterdarlehens herleiten, die kein Kriterium für die Behandlung der Gesellschafterleistungen in der Insolvenz der Gesellschaft mehr sein soll.“

Bereits im Beschluss vom 30.4.2015 hat der IX. Zivilsenat ausgeführt, dass im Hinblick auf das Gesamtkonzept der neuen Regelungen weder für eine teleologische Reduktion des § 135 InsO in dem Sinne, dass dem Gesellschafter der Entlastungsbeweis ermöglicht wird, zum Zeitpunkt der Rückführung des Darlehens habe noch kein Insolvenzgrund vorgelegen, noch für eine analoge Anwendung des § 136 Abs. 2 InsO Raum bleibe:30 „Der Gesetzgeber wollte mit der Neuregelung die Rechtslage erheblich einfacher und übersichtlicher gestalten und dadurch zu einer größeren Rechtssicherheit und einfacheren Handhabbarkeit der Eigenkapitalgrundsätze gelangen. Er hat dabei unter Abwägung der Interessen sowohl der Insolvenzgläubiger als auch der Gesellschafter die Rückzahlung des Gesellschaftskredits und eines durch den Gesellschafter abgesicherten Kredits nicht mehr dem Kapitalerhaltungsrecht unterworfen, sondern dem durch feste Fristen gekennzeichneten Insolvenzanfechtungsrecht (vgl. Begr. zum Regierungsentwurf BT-Drs. 16/6140, 42). Damit hat er zwar einerseits die Haftung der Gesellschafter in der Insolvenz der Gesellschaft im letzten Jahr vor Insolvenzantragstellung durch Verzicht auf das Merkmal der Gesellschaftskrise verschärft (vgl. Habersack, ZIP 2007, 2145, 2146; Roth, GmbHR 2008, 1184, 1186; Bauer, ZInsO 2011, 1379, 1382), andererseits aber auch entschärft, weil Rückzahlungen, die außerhalb der Anfechtungsfrist erfolgen, nicht mehr unter Rückgriff auf § 31 GmbHG erstattet werden müssen (vgl. Haber­ sack, ZIP 2007, 2145; Bauer, ZInsO 2011, 1379). Im Übrigen ist infolge der Beseitigung des Eigenkapitalersatzrechts durch das MoMiG der Anspruch des Insolvenzverwalters gegen den Gesellschafter auf unentgeltliche Nutzung eines überlassenen Wirtschaftsguts zu ihren Gunsten entfallen (BGH, ZIP 2015, 589 Rn. 38; vgl. Habersack, ZIP 2007, 2145; Dahl/Schmitz, NZG 2009, 325, 328).“

Und weiter: „Jede typisierende Regelung kann zwar im Einzelfall zu Härten führen; dies wird jedoch ausgeglichen durch den Gewinn an Rechtssicherheit infolge des Verzichts auf die unnötig komplizierten Rechtsregeln des Kapitalersatzrechts…“31

2. Fazit Mit dem Urteil vom 13.10.201632 hat der IX. Zivilsenat des BGH die gesetzgeberische Konzeption in wesentlicher Hinsicht auf den Punkt gebracht: Im Vordergund steht der Nachrang gemäß § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO, der nicht durch Abzug des Darlehens vor Insolvenzeröffnung soll unterlaufen werden können, weshalb § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO ergänzend die Anfechtbarkeit von Befriedigungsmaßnahmen vorsieht. Die rein insolvenz- und anfechtungsrechtliche Basis der Neuregelung verzichtet zudem auf jedwede „Bemakelung des Gesellschafterdarlehens“. Dies wiederum geschieht, wie vor al30 BGH v. 30.4.2015 – IX ZR 196/13, NZG 2015, 924 Rz. 7.  31 BGH v. 30.4.2015 – IX ZR 196/13, NZG 2015, 924 Rz. 9.  32 BGH v. 13.10.2016 – IX ZR 184/14, BGHZ 212, 272 Rz. 21 f.

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lem im Beschluss vom 30.4.2015 überzeugend dargelegt wird, auf Grundlage einer typisierenden und damit die Umstände des Einzelfalles ignorierenden Betrachtung.33 Damit unterstreicht der Senat noch einmal die bereits im Urteil vom 17.2.201134 getroffene Feststellung, dass die Neuregelung nicht der Insiderstellung des Gesellschafters Rechnung trägt. Einem solchen Verständnis steht in der Tat schon entgegen, dass ein etwaiger Informationsvorsprung des Gesellschafters allenfalls die Anfechtung von Befriedigungs- und Besicherungshandlungen, nicht aber den – nach der Konzeption des MoMiG und der dieser Rechnung tragenden Rechtsprechung des BGH zentralen – Nachrang der Forderung zu erklären vermag. Zugleich widerspricht er damit einer Literaturströmung, die hinsichtlich des Normzwecks der Neuregelung zwischen dem Nachrang der Forderung auf der einen Seite und der Anfechtbarkeit von Befriedigungs- und Besicherungshandlungen auf der anderen Seite unterscheiden und nur hinsichtlich der Anfechtbarkeit auf die – vermeintliche – Insiderstellung des Gesellschafters abstellen möchte.35 Auch abgesehen davon, dass sich nach der Gesetz gewordenen Fassung nicht zwischen Nachrang und Anfechtbarkeit unterscheiden lässt, die konzeptionell vorrangige und für den Normzweck zentrale Folge vielmehr in dem Nachrang zu erblicken ist, korreliert der Insidergedanke nicht mit der Regelung des persönlichen Anwendungsbereichs der Neuregelung: Weder trifft es zu, dass jeder von der Neuregelung erfasste Gesellschafter über einen Informationsvorsprung verfügt (man denke an den Aktionär, dem grundsätzlich nur das Informationsrecht aus § 131 AktG zusteht), noch trifft es zu, dass von dem Kleinbeteiligtenprivileg erfasste Gesellschafter keinen Informationsvorsprung hätten (man denke insoweit an den GmbH-Gesellschafter, der stets das umfassende Informationsrecht aus § 51a GmbHG hat).36 Dass im Übrigen die „Nähebeziehung“ des Gesellschafters zur Gesellschaft die Sonderbehandlung von Gesellschafterdarlehen nicht zu erklären vermag,37 folgt schon daraus, dass es eine entsprechende Nähebeziehung – ebenso wie Informationsvorsprünge – auch bei gesetzestypischen Personengesellschaften gibt, Gesellschafter dieser Gesellschaften indes gleichwohl nicht den Nachrang- und Anfechtungsregeln unterstehen.

33 BGH v. 30.4.2015 – IX ZR 196/13, NZG 2015, 924 Rz. 7, 9.  34 BGH v. 17.2.2011 – II ZR 131/10, BGHZ 188, 363 Rz. 17. 35 So namentlich Thole, ZHR 176 (2012), 513, 521 ff.; s. ferner Mylich, ZHR 176 (2012), 547, 565 ff. 36 Ablehnend zur Trennung zwischen Nachrang und Insolvenzanfechtung auch Bitter, ZIP 2013, 2, 3 f.; Bitter, ZHR 176 (2012), 578, 581; Krolop, GmbHR 2009, 397, 398; Schulze De la Cruz, Der neue Normzweck des Rechts der Gesellschafterdarlehen und seine Auswirkungen auf den persönlichen Anwendungsbereich, 2015, S. 158 ff.; Ulbrich, Die Abschaffung des Eigenkapitalersatzrechts der GmbH, 2010, S. 128 ff., 192 ff. 37 Darauf abstellend aber – neben BGH v. 21.2.2013 – IX ZR 32/12, ZIP 2013, 582 Rz. 18 (s. dazu bereits unter III. 1.) – Gehrlein, BB 2008, 846, 849; Haas, ZInsO 2007, 617, 618 ff.; Mylich, ZGR 2009, 474, 488; Noack, DB 2007, 1395, 1398; K. Schmidt, GmbHR 2009, 1009, 1011; Ulbrich, Die Abschaffung des Eigenkapitalersatzrechts der GmbH, 2010, S. 150 ff.

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IV. Nachrang und Anfechtbarkeit als Preis für Haftungsbeschränkung Nach den bislang getroffenen Feststellungen und mit Blick auf § 39 Abs. 4 InsO sollte nicht zu bezweifeln sein, dass die MoMiG-Regeln über Gesellschafterdarlehen im engen Zusammenhang mit dem Kapitalgesellschaften und atypischen Personenge­ sellschaften eigenen Grundsatz der Haftungsbeschränkung stehen.38 Richtiger Weise sind die gesetzlichen Folgen eines Gesellschafterdarlehens sogar – durchaus im Einklang mit Nachbarrechtsordnungen39 – unmittelbar aus diesem Grundsatz herzuleiten.40 Einer darüber hinausgehenden „inhaltlichen Begründung“41 bedarf es nicht, wenn man nur berücksichtigt, dass dem MoMiG der – zugegebenermaßen nicht sonderlich komplexe – Gedanke zugrundeliegt, dass von einem Gesellschafter einer Gesellschaft, bei der keine natürliche Person auch nur mittelbar persönlich haftet, zur Verfügung gestelltes Fremdkapital in der Insolvenz und im Rahmen der Gläubigeranfechtung außerhalb des Insolvenzverfahrens deshalb eine Sonderbehandlung verdient, weil mit dem Zusammentreffen von Fremdfinanzierung und Haftungsbeschränkung die Gefahr einer nominellen Unterkapitalisierung einhergeht.42 Mögen auch die Unterscheidung zwischen Eigen- und Fremdkapital und die Gefahr einer nominellen Unterkapitalisierung nicht nur bei den von § 39 Abs. 4 Satz 1 InsO erfassten Gesellschaftsformen begegnen,43 so kann doch nicht bestritten werden,44 dass sich das Gesetz – und das ist nun einmal entscheidend – ihrer allein beim Fehlen persön38 Dies einräumend auch Kleindiek, ZGR 2017, 731, 741 f. 39 Huber/Habersack in Lutter, Das Kapital der Aktiengesellschaft in Europa, 2006, S.  370, 381 ff.; Haas, Gutachten E zum 66. Deutschen Juristentag, 2006, S. 38 ff.; ferner Begr. RegE, BT-Drucks. 16/6140, S. 56: „entspricht international verbreiteten Regelungsmustern“. 40 Huber in FS Priester, S. 259, 275 ff.; Huber/Habersack in Lutter, Das Kapital der Aktiengesellschaft in Europa, 2006, S. 370, 405 ff.; Fedke, NZG 2009, 928, 929 f.; Schall, Kapitalgesellschaftsrechtlicher Gläubigerschutz, 2009, S.  169  ff. („Sonderstellung“ und „Sonderopfer“ der Gesellschafter); näher Schulze De la Cruz, Der neue Normzweck des Rechts der Gesellschafterdarlehen und seine Auswirkungen auf den persönlichen Anwendungsbereich, 2015, S. 187 ff.; ähnlich Bitter, ZIP 2010, 1, 9 f.; ders., ZHR 176 (2012), 578, 581 f.; Büscher in FS Hüffer, S. 81, 96; Engert, ZGR 2012, 835, 849 ff.; Gehrlein, BB 2011, 3, 7 f.; Ulbrich, Die Abschaffung des Eigenkapitalersatzrechts der GmbH, 2010, S. 149 ff., 190 ff.; Wilhelm, ZHR 180 (2016), 776, 784 f., 791 ff.; ferner Servatius, Gläubigerschutz durch Covenants, 2008, S. 481 ff., allerdings vor Inkrafttreten des MoMiG und mit nicht Gesetz gewordenen Folgerungen. 41 Diese vermisst K. Schmidt, ZIP 2006, 1925, 1934; K. Schmidt, GmbHR 2009, 1009, 1013 ff.; ähnlich Bork, ZGR 2007, 250, 256 f.; zu beiden überzeugend Huber in FS Priester, S. 259, 278 (mit Fn. 68). 42 Eingehend Schulze De la Cruz, Der neue Normzweck des Rechts der Gesellschafterdarlehen und seine Auswirkungen auf den persönlichen Anwendungsbereich, 2015, S.  187  ff.  – Nichts anderes war gemeint, soweit der Normzweck darin gesehen worden war, der Gefahr einer missbräuchlichen Ausnutzung des Prinzips der Haftungsbeschränkung durch die Gesellschafter zu begegnen, s. Huber in FS Priester, S. 259, 275 ff.; Habersack, ZIP 2008, 2385, 2387, 2389.  43 Daraus leitet K. Schmidt (Liber Amicorum M. Winter, S. 601, 613 f. und GmbHR 2009, 1009, 1011 ff.) seine Kritik am hier vertretenen Standpunkt her. 44 Dies räumt auch K. Schmidt (Liber Amicorum M. Winter, S. 601, 613 f. und GmbHR 2009, 1009, 1011 ff.) ein.

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licher Gesellschafterhaftung annimmt; das den Gesellschaftern der von § 39 Abs. 4 Satz 1 InsO erfassten Gesellschaften auferlegte Nachrang- und Anfechtungsrisiko versteht sich als Preis für die Inanspruchnahme der Haftungsbeschränkung, der nicht zuletzt auch deshalb „gerecht“ ist, weil das MoMiG den auf Mindestkapital und Kapitalaufbringungs- und Kapitalerhaltungsregeln basierenden präventiven Gläubigerschutz empfindlich geschwächt hat.45 Vor diesem Hintergrund wäre es wertungswidersprüchlich, könnten sich die das Privileg der Haftungsbeschränkung in Anspruch nehmenden Gesellschafter, soweit sie der Gesellschaft Fremdkapital zuführen, auf die Rangstufe gewöhnlicher Gesellschaftsgläubiger begeben und ranggleich mit diesen an der Verteilung der Masse partizipieren.46 In diesem Sinne dürften nicht nur die unter III. 1. zitierten tragenden Erwägungen der BGH-Entscheidungen vom 30.4.2015 und vom 13.10.2016 zu verstehen sein. Vielmehr hat der IX. Zivilsenat in dem zum Verhältnis zwischen Nr. 1 und 2 des § 135 Abs. 1 InsO ergangenen Grundsatzurteil vom 18.7.2013 explizit darauf abgestellt, dass der bereits in der beschränkten Haftung auf das Gesellschaftsvermögen liegende Risikoanreiz des Gesellschafters zusätzlich erhöht werde, wenn er daraus dank einer Sicherung im Verhältnis zu den sonstigen Gläubigern auch noch vorrangig befriedigt werde:47 „Ein gesicherter Gesellschafter, der anders als im Falle der Gabe ungesicherter Darlehensmittel nicht um die Erfüllung seines Rückzahlungsanspruchs fürchten muss, wird in Wahrnehmung der Geschäftsführung zur Eingehung unangemessener, wenn nicht gar unverantwortlicher, allein die ungesicherten Gläubiger treffender geschäftlicher Wagnisse neigen (vgl. Engert ZGR 2004, 813, 831; Cahn AG 2005, 217, 225). Die Gewährung von Gesellschafterdarlehen, die durch das Gesellschaftsvermögen gesichert werden, ist darum mit einer ordnungsgemäßen Unternehmensfinanzierung nicht vereinbar (Engert aaO).“

Sieht man einmal davon ab, dass der Hinweis auf eine wie auch immer geartete „ordnungsgemäße Unternehmensfinanzierung“ unter Geltung des MoMiG für sich genommen irrelevant ist (die „Bemakelung des Gesellschafterdarlehens“ ist, wie der Senat drei Jahre später zu Recht betont, kein Kriterium für die Behandlung der Gesellschafterleistungen in der Insolvenz der Gesellschaft!48), und verallgemeinert man den vom BGH formulierten Gedanken, so sind es die mit der Doppelrolle als Gesellschafter und Darlehensgeber verbundenen Risikoanreize, die die Sonderbehandlung von Gesellschafterdarlehen nach sich ziehen. Man mag insoweit von einer Korrektur des „gestörten Risikogleichgewichts“ sprechen, wie es sich in der Tat aus einem naheliegenden strategischen Umgang mit den vom Gesellschafter überlassenen Kreditmitteln ergibt.49 Doch ist diese Störung nichts anderes als die Folge der Doppelrolle des Finanzierers als (persönlich nicht haftender) Gesellschafter und Kreditgeber, an die

45 S. bereits Huber/Habersack in Lutter, Das Kapital der Aktiengesellschaft in Europa, 2006, S. 370, 394 f.; Habersack, ZIP 2008, 2385, 2387; Schall, Kapitalgesellschaftsrechtlicher Gläubigerschutz, 2009, S. 107 ff. 46 Huber in Liber Amicorum M. Winter, S. 261, 277 f. 47 BGH v. 18.7.2013 – IX ZR 219/11, BGHZ 198, 64 Rz. 19 f. 48 BGH v. 13.10.2016 – IX ZR 184/14, BGHZ 212, 272 Rz. 22.  49 Kleindiek, ZGR 2017, 731, 742 mit weit. Nachw.; ähnlich Bitter, ZHR 176 (2012), 578, 581 f.; Engert, ZGR 2012, 835, 851 f.

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das Gesetz anknüpft. Ulrich Seibert hat das Regelungskonzept schon 2008 auf den Punkt gebracht: „Der Gesellschafter leveraged mit dem Fremdkapital seinen Eigenkapitaleinsatz und erhöht damit – falls es gut geht – seine Renditechance auf das eingesetzte Kapital; falls es schlecht geht, hat er ein erhöhtes Ausfallrisiko.“50

V. Insolvenzrecht versus Wertpapierrecht 1. Präzisierung der Fragestellung Naturgemäß hat der IX. Zivilsenat des BGH nicht schon zu sämtlichen Fragen, die das Recht der Gesellschafterdarlehen aufwirft, Stellung nehmen können. Zu den nach wie vor höchstrichterlich nicht geklärten Fragen51 zählen namentlich solche im Zusammenhang mit der Begebung von Anleihen durch die Gesellschaft. Insoweit fragt sich nicht nur, ob der Inhaber einer Wandel- oder Optionsanleihe im Hinblick auf sein Recht zum Erwerb von Anteilen einem Gesellschafter gleichzustellen und deshalb bereits vor Ausübung des Options- oder Wandlungsrechts den Regeln über Gesellschafterdarlehen unterliegt (dazu unter 1.). Fraglich ist vielmehr auch, wie sich die Regeln über Gesellschafterdarlehen (unabhängig davon, ob sie den Anleihegläubiger als solchen oder nur den Anleihegläubiger, der zugleich Gesellschafter ist, treffen) zu den das Recht der Inhaberschuldverschreibung kennzeichnenden Verkehrsschutzregeln verhalten (dazu unter 2.). Die unter IV. angestellten Überlegungen zur Ratio der §§ 39 Abs. 1 Nr. 5, 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO weisen insoweit zwar die Richtung, müssen jedoch unter den Vorbehalt gegenläufiger Wertungen des Wertpapierrechts gestellt werden. 2. Gesellschafter in Wartestellung kein gesellschaftergleicher Dritter Was zunächst die Frage anbelangt, ob der aufgrund einer Wandel- oder Optionsanleihe zum Erwerb von Anteilen Berechtigte den Regeln über Gesellschafterdarlehen unterliegt, so ist sie vor dem Hintergrund zu sehen, dass jedenfalls eine gewöhnliche Inhaberschuldverschreibung im Sinne des § 793 BGB weder die Stellung eines Gesellschafters noch die eines gesellschaftergleichen Dritten im Sinne des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO begründet.52 Ganz unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen der ver-

50 Seibert, Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen – MoMiG, RWS-Dokumentation 23, 2008, S. 41.  51 Für einen Überblick s. aus neuerer Zeit Brinkmann, ZGR 2017, 708  ff.; Kleindiek, ZGR 2017, 731 ff. 52 Näher zum Kreis der von §  39 Abs.  1 Nr.  5 InsO erfassten Personen s. Bitter in Scholz, ­GmbHG, 11.  Aufl. 2015, Anh. §  64 Rz.  180  ff.; Habersack in Ulmer/Habersack/Löbbe, ­GmbHG, 2. Aufl. 2014, Anh. § 30 Rz. 81 ff.; Haas in Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl. 2017, Anh. § 64 Rz. 56 ff.; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, Anh. § 64 Rz. 144 ff.

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briefte Anspruch entsteht und über welche Rechtsnatur dieser sodann verfügt,53 steht jedenfalls fest, dass der Anleihegläubiger als solcher nicht über die in § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO vorausgesetzte Doppelrolle als Gläubiger und Gesellschafter verfügt, er vielmehr Gläubiger, nicht aber Gesellschafter ist. Wie aber verhält es sich hinsichtlich des Anleihegläubigers, der vermittels der Anleihe das Recht hat, dieselbe in Anteile des Emittenten zu tauschen oder zusätzlich zur Anleihe Anteile des Emittenten zu erwerben, mithin des aus einer Options- oder Wandelanleihe im Sinne des § 221 Abs. 1 AktG Berechtigten? Betrachtet man zunächst die Optionsanleihe, so zeigt sie deutlich, dass für eine Qualifizierung des Anleihegläubigers vor Ausübung des Optionsrechts weder Raum ist noch Anlass besteht: Über die unerlässliche Doppelrolle als Gesellschafter und Fremdkapitalgeber, mit der sich die Gefahr eines Fehlanreizes verbindet, verfügt der Investor erst, nachdem er von seinem Optionsrecht Gebrauch gemacht hat. Tatsächlich wird denn auch, soweit ersichtlich, nicht vertreten, dass der aus einer Optionsanleihe Berechtigte bereits vor Ausübung des Optionsrechts gesellschaftergleicher Dritter im Sinne des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO sei. Hinsichtlich des Wandelgläubigers verhält es sich ähnlich. Die Regeln über Gesellschafterdarlehen können insoweit schon deshalb nicht zur Anwendung gebracht werden, weil der aus einer Wandelanleihe Berechtigte entweder Anleihegläubiger oder Gesellschafter, indes nie beides zusammen ist. Da die Wandelanleihe nach §  221 Abs.  1 Satz 1 AktG dadurch gekennzeichnet ist, dass der Gläubiger (oder die Ge­ sellschaft) ein „Umtauschrecht“ auf Aktien hat und mit Ausübung des Wandlungsrechts die Schuldverschreibung mit Wirkung ex nunc gegen Anteile „getauscht“ wird,54 ­stehen dem Wandelgläubiger Anleihe und Anteil nur alternativ, niemals dagegen kumulativ zu; in der Folge fehlt es sowohl vor als auch nach dem Umtausch an der unerlässlichen Doppelrolle und den von dieser ausgehenden Fehlanreizen. Die Unanwendbarkeit der Regeln über Gesellschafterdarlehen auf den Wandlungsberechtigten ist denn auch, soweit ersichtlich, einhellig anerkannt.55 An den vorstehend getroffenen Feststellungen ist im Übrigen auch dann festzuhalten, wenn entweder das Options- oder Umtauschrecht dem Emittenten und nicht dem Gläubiger zusteht (mithin eine „umgekehrte“ Options- oder Wandelanleihe in Frage steht) oder der Anleihegläubiger zum Bezug neuer Aktien bzw. zum Umtausch der 53 Näher zum Verpflichtungstatbestand (Rechtsscheintheorie) und zur Qualifizierung der verbrieften Forderung als abstraktes Schuldversprechen Habersack in Münchener Kommentar zum BGB, 7. Aufl. 2016, Vor § 793 Rz. 22 ff., § 793 Rz. 7; ferner BGH v. 15.7.2014 – XI ZR 100/13, NJW 2014, 3362 Rz. 32.  54 Näher zu Rechtsnatur und Vollzug der „Wandlung“ s. Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2017, § 221 Rz. 4; Merkt in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 221 Rz. 24; Habersack in Münchener Kommentar zum AktG, 4. Aufl. 2016, § 221 Rz. 226 f. mit umf. Nachw. 55 S. für Wandelgenussrechte Wittig in FS Uhlenbruck, 2000, S. 685, 705; allg. Habersack in Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, 2. Aufl. 2014, Anh. § 30 Rz. 95; im Ausgangspunkt auch Fischer, Das Wandeldarlehen in Venture Capital-Finanzierungen unter Beteiligung einer GmbH, 2017, S. 185 ff.

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Anleihe verpflichtet ist.56 Auch in diesen Fällen verfügen der Optionsanleihegläubiger erst nach Ausübung des Bezugsrechts57 und der Wandelgläubiger zu keinem Zeitpunkt über die unerlässliche Doppelrolle. Umstritten und hier nicht näher zu erörtern ist zwar, ob der Fremdkapitalgeber dadurch zu einem gesellschaftergleichen Dritten aufsteigt, dass ihm auf schuldrechtlichem Weg – insbesondere vermittels sogenannter Covenants58 – Einfluss auf die Geschäftsführung eingeräumt wird.59 Doch ist dies eine Frage, die allgemein den Fremdkapitalgeber betrifft, mag er Darlehensgeber, gewöhnlicher Anleihegläubiger oder Inhaber einer Options- bzw. Wandelanleihe sein. Das in der Anleihe verkörperte Erwerbs- oder Umtauschrecht jedenfalls ist keinesfalls geeignet, die für § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO unerlässliche Doppelrolle als Gesellschafter und Fremdkapitalgeber und die damit verbundene Gefahr eines Spekulierens zu Lasten der Gesellschaftsgläubiger zu begründen. 3. Nachrang und Anfechtbarkeit versus Verkehrsfähigkeit der Anleihe Nach den vorstehend getroffenen Feststellungen läuft der aus einer Optionsanleihe Berechtigte immerhin mit Ausübung des Optionsrechts und vorbehaltlich des Sanierungsprivilegs des § 39 Abs. 4 Satz 2 InsO sowie des Kleinbeteiligtenprivilegs des § 39 Abs. 5 InsO Gefahr, dass sein (auch nach Ausübung des Optionsrechts fortbestehender) Anspruch aus der Anleihe dem Nachrang des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO unterliegt.60 Der Wandelgläubiger hingegen hat zwar in Bezug auf die Forderung aus der Anleihe die Regeln über Gesellschafterdarlehen schon deshalb nicht zu fürchten, weil er mit Ausübung des Wandlungsrechts seine Gläubigerstellung verliert und statt dessen Gesellschafter wird. Mit Ausübung des Wandlungsrechts bestehen freilich auch in der Person des vormaligen Wandelgläubigers Nachrang- und Anfechtungsrisiken aus §§ 39 Abs. 1 Nr. 5, 135 Abs. 1 InsO immerhin insoweit, als er sonstige Forderungen gegen die Gesellschaft hat; unabhängig davon, ob diese Forderungen vor oder nach Wandlung begründet worden sind, unterliegen sie nun – wiederum vorbehaltlich des § 39 Abs. 4 Satz 2, Abs. 5 InsO – den Regeln über Gesellschafterdarlehen.

56 Näher zu „umgekehrten“ Wandelschuldverschreibungen i.S.d. §  221 Abs.  1 Satz 1 AktG sowie zur Zulässigkeit auch von Pflichtwandelanleihen Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 221 Rz. 5b; Habersack in Münchener Kommentar zum AktG, 4. Aufl. 2016, § 221 Rz. 52.  57 Im Falle der Pflichtoptionsanleihe ist der Anleihegläubiger verpflichtet, sein Bezugsrecht auszuüben; im Falle der „umgekehrten“ Optionsanleihe erfolgt die Ausübung des Optionsrechts zwar durch die Gesellschaft, indes für Rechnung des Anleihegläubigers. 58 Dazu Servatius, Gläubigerschutz durch Covenants, 2008, passim; Servatius, CFL 2013, 14 ff. 59 Zum Eigenkapitalersatzrecht zu Recht ablehnend BGH v. 6.4.2009  – II ZR 227/07, ZIP 2009, 1273 Rz. 16; zu §§ 39 Abs. 1 Nr. 5, 135 Abs. 1 InsO Huber in FS Priester, 2007, S. 259, 279; Habersack, ZIP 2008, 2385, 2388; K. Schmidt, GmbHR 2009, 1009, 1019; Bitter in ­Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2015, Anh. § 64 Rz. 228 mit weit. Nachw.; a.A. Servatius, Gläubigerschutz durch Covenants, 2008, S. 336 ff., 385 ff.; Fleischer, ZIP 1998, 315 ff. 60 Entsprechendes gilt für etwaige Forderungen, die dem durch Optionsausübung zum Gesellschafter gewordenen Anleihegläubiger neben der Anleihe zustehen.

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Gefahren für den Kapitalmarkt drohen vor diesem Hintergrund allenthalben, nämlich zunächst in dem Fall, dass der Optionsgläubiger nach Ausübung des Optionsrechts entweder seine Optionsanleihe oder sonstige Schuldverschreibungen überträgt, ferner dann, wenn der Wandelgläubiger neben der in Anteile gewandelten Anleihe weitere Wandelanleihen oder Schuldverschreibungen hält und diese überträgt: Der Erwerber hält dann ein Papier in Händen, das einen jedenfalls in der Person des Veräußerers nachrangig gewordenen Zahlungsanspruch verbrieft, und muss sich deshalb fragen, ob dieser Nachrang auch zu seinen Lasten wirkt, obgleich er nicht Gesellschafter ist. Für die Zession einer Forderung nach § 398 BGB ist diese Frage mit einem „jein“ zu beantworten, steht doch die herrschende Meinung zu Recht auf dem Standpunkt, dass sich der Erwerber zwar nach § 404 BGB den Nachrang entgegenhalten lassen muss, dies freilich in entsprechender Anwendung des § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO grundsätzlich61 nicht zeitlich unbegrenzt, sondern nur, aber immerhin, wenn die Zession innerhalb eines Jahres vor dem Eröffnungsantrag erfolgt ist; bei einem Erwerb außerhalb der Jahresfrist unterliegt die Forderung auch dann nicht dem Nachrang, wenn der Zessionar von der Gesellschafterstellung des Zedenten Kenntnis hatte.62 Für den Wertpapiererwerber muss dieses Ergebnis teilweise korrigiert werden. Auch insoweit gilt zwar, dass sich der Wertpapierinhaber bei einem Erwerb außerhalb der Jahresfrist des §  135 Abs.  1 Nr.  2 InsO den Nachrang nicht entgegenhalten lassen muss, und zwar wiederum unabhängig von seiner Gut- oder Bösgläubigkeit. Bei einem Erwerb innerhalb der Jahresfrist greift hingegen § 796 BGB;63 in der Folge trägt der Wertpapiererwerber das Nachrangrisiko nur, wenn er nicht gutgläubig ist,64 was freilich bei einem Erwerb des Papiers über einen organisierten Markt kaum denkbar ist.65 Geht man deshalb entsprechend dem Regelfall des Wertpapiererwerbs von der Gutgläubigkeit des Erwerbers aus und unterstellt man weiter, dass der Erwerber nicht seinerseits Gesellschafter ist, so entfällt der Nachrang unmittelbar mit Übertragung des Wertpapiers, und zwar ungeachtet des Umstands, dass die Übertragung innerhalb der Jahresfrist des § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO erfolgt ist. Die Anschlussfrage lautet dann, ob der Veräußerer, der zwar eine nur nachrangige Forderung in Händen gehalten, indes einen Kaufpreis vereinnahmt hat, der den Nachrang nicht berücksichtigt hat, und zudem nach Wegfall des Nachrangs auch keiner Verkäuferhaftung gegenüber 61 Anders, wenn der Zessionar seinerseits Gesellschafter ist und damit nach Forderungserwerb über eine Doppelrolle verfügt, s. BGH v. 21.2.2013 – IX ZR 32/12, BGHZ 196, 220 Rz. 26.  62 BGH v. 15.11.2011 – II ZR 6/11, ZIP 2012, 86 Rz. 13 ff.; BGH v. 21.2.2013 – IX ZR 32/12, BGHZ 196, 220 Rz. 24 ff. mit weit. Nachw.; näher Kleindiek, ZGR 2018, 731, 745 ff. 63 Bitter in Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2015, Anh. § 64 Rz. 57; Habersack in Ulmer/Habersack/ Löbbe, GmbHG, 2. Aufl. 2014, Anh. § 30 Rz. 56, 77; d’Avoine, NZI 2013, 321, 324 ff.; Wilhelm, ZHR 180 (2016), 776, 790 ff. 64 Ganz überwiegend wird zumindest Kenntnis verlangt, s. Habersack in Münchener Kommentar zum BGB, 7. Aufl. 2016, § 796 Rz. 13 f. mit weit. Nachw.; weitergehend – Wissenmüssen soll genügen – LG Düsseldorf v. 28.5.2015 – 3 O 290/14, BeckRS 2015, 12072.  65 So auch d’Avoine, NZI 2013, 321, 326; näher Wilhelm, ZHR 180 (2016), 776, 796 ff.

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dem Erwerber unterliegt, den Übererlös endgültig vereinnahmen darf. An anderer Stelle ist insoweit der Vorschlag unterbreitet worden, § 143 Abs. 3 InsO analog heranzuziehen und dem Insolvenzverwalter der Gesellschaft einen Ausgleichsanspruch zuzusprechen;66 denn schließlich hätte die Gesellschaft die verbriefte Forderung, wäre sie nicht abgetreten worden, nur nachrangig bedienen müssen, während sie sich nun der Inanspruchnahme durch einen gewöhnlichen Insolvenzgläubiger ausgesetzt sieht. Die Interessenlage entspricht damit derjenigen bei mittelbarer Finanzierung der Gesellschaft durch ihren Gesellschafter, auf die §§ 135 Abs. 2, 143 Abs. 3 InsO mit der Haftung des Gesellschafters, der durch die Leistung der Gesellschaft auf das gesellschafterbesicherte Darlehen freigeworden ist, reagiert. Dass die anfechtbare Leistung im unmittelbaren Anwendungsbereich der §§ 135 Abs. 2, 143 Abs. 3 InsO durch die Gesellschaft erfolgt, während der Kaufpreis für die eine nachrangige Forderung verbriefende Schuldverschreibung vom Erwerber geleistet wird,67 ist schon deshalb zu vernachlässigen, weil die Gesellschaft bei Tilgung des gesellschafterbesicherten Darlehens frei wird, während sie sich bei Übertragung der Schuldverschreibung nach wie vor der verbrieften Forderung ausgesetzt sieht, die nun sogar ihren Nachrang verloren hat, obgleich die Jahresfrist des § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO noch nicht abgelaufen ist. Gegen diese Lösung ist nun eingewandt worden, dass sich im unmittelbaren Anwendungsbereich des § 143 Abs. 3 InsO die Höhe der Erstattungsforderung der insolventen Gesellschaft leicht ermitteln lasse, während bei Übertragung des Wertpapiers unklar bleibe, wer genau der Erwerber sei und in welcher Höhe die Emittentin auf die konkrete Anleiheforderung geleistet habe.68 Indes ist dies nur die Folge des Umstands, dass im unmittelbaren Anwendungsbereich des § 143 Abs. 3 InsO das Freiwerden des die Sicherheit stellenden Gesellschafters die unmittelbare Folge der Leistung der Gesellschaft an den Darlehensgläubiger ist, während bei analoger Anwendung der Vorschrift die Befreiung vom Nachrangrisiko Folge des Wertpapiergeschäfts zwischen dem die Anleihe übertragenden Gesellschafter und dem Erwerber der Anleihe ist. Will man deshalb verhindern, dass der Gesellschafter den insolvenzrechtlichen Wertungen zuwider – und damit zu Lasten der Gesellschaft und ihrer Gläubiger – den Übererlös dauerhaft vereinnahmt, so bleiben bei Lichte betrachtet nur zwei Möglichkeiten. Die erste besteht darin, dem Gesellschafter ein immerhin schuldrechtliches Übertragungsverbot aufzuerlegen.69 Auch abgesehen davon, dass ein solches Übertragungsverbot kaum zu begründen wäre und überdies die Folgen einer Verletzung die nämlichen Bewertungsprobleme aufwerfen würde: Dass § 143 Abs. 3 InsO nicht unmittelbare, sondern nur entsprechende Anwendung findet, äußert sich auch in den Rechtsfolgen. Diese müssen, und dies führt zur zweiten der beiden verbleibenden Lösungen, dem schon erwähnten Umstand Rechnung tragen, dass die Leistung an den Gesellschafter nicht unmittelbar durch die Gesellschaft erfolgt, diese aber mittelbar belastet. Vor diesem Hintergrund erscheint es geboten, den Gesellschafter zur 66 Habersack in Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, 2. Aufl. 2014, Anh. § 30 Rz. 56, 77; zust. Bitter in Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2015, Anh. § 64 Rz. 57.  67 In diese Richtung d’Avoine, ZInsO 2013, 321, 326.  68 Wilhelm, ZHR 180 (2016), 776, 801 f.; s. ferner d’Avoine, ZInsO 2013, 321, 325.  69 In diese Richtung (freilich einen Sonderfall betreffend) LG Düsseldorf v. 28.5.2015 – 3 O 290/14, BeckRS 2015, 12072; differenzierend Wilhelm, ZHR 180 (2016), 776, 803 ff.

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Mathias Habersack

Erstattung der Differenz zwischen dem, was der Wertpapiererwerber als gewöhnlicher Insolvenzgläubiger der Gesellschaft tatsächlich erhalten hat, und dem, was der Gesellschafter als nachrangiger Gläubiger erhalten hätte, zu verpflichten.

VI. Schluss Das vor nunmehr elf Jahren geschaffene Recht der Gesellschafterdarlehen hat, dies wird man sagen dürfen, seine Bewährungsprobe bestanden. Der Verzicht auf das Krisenmerkmal und auf eine in der Krise getroffene Finanzierungsentscheiung und der damit verbundene Übergang zu einem rein insolvenz- und anfechtungsrechtlichen Ansatz, in dessen Zentrum der gesetzliche Nachrang der Forderung des Gesellschafters steht, haben die Rechtsanwendung vereinfacht. Der IX. Zivilsenat hat nicht nur zahlreiche der durchaus anspruchsvollen Rechtsfragen, die die Neuregelung aufwirft, geklärt. Sein hinsichtlich der konzeptionellen Grundlagen zu Recht „nüchterner“, die Doppelrolle des nicht persönlich haftenden Gesellschafters und die von dieser ausgehenden Fehlanreize betonender Ansatz ermöglicht es vielmehr, Antworten auf verbleibende Fragen im Wege der Deduktion zu entwickeln. Auch anfängliche Kritiker der Neuregelung müssen deshalb einräumen, dass Unzuträglichkeiten auf der Rechtsfolgenseite bislang nicht erkennbar seien und kein Anlass zur „Unruhe“ bestehe.70 Das Urteil des Verfassers fällt deutlich positiver aus, bezieht es doch den mit der Neuregelung verbundenen Gewinn an Verlässlichkeit und Rechtssicherheit ein. Wie dem auch sei: Ulrich Seibert, dem an dieser Stelle herzlich für sein stets offenes Ohr und die Bereitschaft zu konstruktivem Dialog gedankt sei, kann mit der Entwicklung des Rechts der Gesellschafterdarlehen überaus zufrieden sein.

70 Kleindiek, ZGR 2017, 731, 758. 

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Wilhelm Happ und Frauke Möhrle

D&O-Versicherung und Aktienrecht Viele Fragen offen Inhaltsübersicht  Einleitung I. Deckungsumfang und Interessen­ kollisionen bei der D&O-Versicherung 1. Umfasst der Deckungsschutz der D&O-Versicherung Kosten interner ­Ermittlungen der Gesellschaft? 2. Mögliche Entschärfungen von Interessen­ kollisionen im Falle der Innenhaftung? II. Versicherungsverschaffungspflicht 1. Gibt es einen gesetzlichen Anspruch der Vorstandsmitglieder gegenüber der Gesellschaft auf Abschluss und Inhalt ­einer D&O-Versicherung? 2. Inwieweit ist es zulässig und sinnvoll, in den Anstellungsvertrag mit den Vorstands­mitgliedern und/oder in der Satzung konkrete Rechte auf Abschluss und Inhalt einer Versicherung aufzunehmen?

III. Aktienrechtliche Zuständigkeiten im ­Zusammenhang mit der D&O-Versicherung für Vorstandsmitglieder 1. Vertretungsmacht des Aufsichtsrats für den Abschluss der Versicherung nach § 112 AktG? 2. Mitwirkung des Aufsichtsrats nach §§ 84, 87 Abs. 1 AktG? 3. Zustimmungsvorbehalt des Aufsichtsrats nach § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG? 4. Wer ist für die Entscheidung über den Zukauf von Schadensnachmeldefristen zuständig? 5. Wer ist für die Anzeige des Versicherungsfalls und die Abgabe von Umstandsmeldungen zuständig?  Resümee

Einleitung Die in den USA entwickelte und in die europäische und deutsche Versicherungspraxis übernommene „Directors and Officers“-Versicherung (D&O-Versicherung) hat in den letzten Jahren in der Praxis, begleitet von der wissenschaftlichen Auseinandersetzung und auch der gesetzlichen Klärung der Zulässigkeit der D&O-Versicherung durch die 2009 im Rahmen des VorstAG eingefügte Bestimmung von § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG, an erheblicher Bedeutung gewonnen. Dies war nicht zuletzt auch eine Folge von „spektakulären“ Haftungsfällen bei denen es in der gerichtlichen Auseinander­ setzung um sehr hohe Streitwerte ging.1 Die nicht nur infolge des „Diesel-Skandals“ sondern auch in anderen Wirtschaftsbereichen bestehenden aktuellen Haftungsfragen und im Zusammenhang damit im Raum stehende Haftungsprozesse lassen es 1 So z.B. Apo-Bank, vgl. LG Düsseldorf v. 25.4.2014 – 39 O 36/11, WM 2014, 1293; Siemens/ Neubürger, vgl. LG München I v. 10.12.2013  – 5 HK O 1387/10, NZG 2014, 345; Kirch/ Deutsche Bank, BGH v. 24.1.2006 – XI ZR 384/03, NJW 2006, 830.

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gerechtfertigt erscheinen, das ein oder andere Thema aus dem Bereich der D&O-Versicherung (wieder) zu beleuchten.2 Vor diesem Hintergrund sollte nach wie vor Anlass insbesondere für Vorstandsmitglieder bestehen, sich mit der für sie als Begünstigten abgeschlossenen D&O-Versicherung zu befassen und ihre Fortentwicklung im Auge zu behalten. Die nachfolgenden Darlegungen gehen auf einige aktuelle und in Rechtsprechung und Schrifttum noch nicht behandelte oder ausdiskutierte Fragen zu diesem Themenbereich ein.3

I. Deckungsumfang und Interessenkollisionen bei der D&OVersicherung Da es sich bei der D&O-Versicherung um eine Vermögensschadenhaftpflichtversicherung handelt, sind Haftungsrisiken der beruflichen Tätigkeit versichert, die sich aus einer Verursachung von Vermögensschäden ergeben.4 Die Versicherung deckt grundsätzlich entsprechende Schadensersatzansprüche, gleichgültig, ob die versicherte Person von der Gesellschaft (Innenhaftung) oder von einem außenstehenden Dritten (Außenhaftung) in Anspruch genommen wird.5 In dem deutlich praxisrelevanteren Fall der Innenhaftung entstehen zunehmend angesichts aufwändiger Untersuchungsprozesse potenzieller Pflichtverletzungen von Organmitgliedern erhebliche Kosten der Gesellschaft für interne Ermittlungen und Rechtsberatung.6 Zu untersuchen ist, ob derartige interne Ermittlungen einen ersatzfähigen Schaden darstellen, die vom D&O-Deckungsschutz umfasst sind.7 Ferner ergeben sich aus der besonderen Rechtsbeziehung der Parteien zueinander im Innenhaftungsfall mögliche Interessenkollisionen, die neue Versicherungskonzepte zur Folge haben.

2 Zuletzt ausführlich hierzu Hemeling in FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 491 ff. 3 Vgl. zu Themen im Zusammenhang mit der Erledigung des Versicherungsfalls in der D&O-­ Versicherung Happ/Möhrle in FS Vetter, 2019, S. 193 ff. 4 Vertiefend dazu Möhrle, Gesellschaftsrechtliche Probleme der D&O-Versicherung, Jur. Diss. 2007, S. 9 ff. 5 Vgl. Sieg in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 3.  Aufl. 2017, §  18 Rz. 18.20. 6 Nach Presseberichten sollen bei Volkswagen bislang 450 interne und externe Experten mit der Aufarbeitung des Diesel-Skandals beauftragt gewesen sein, vgl. manager-magazin, Dieselgate – den Drahtziehern auf der Spur, 8.4.2016, http://www.manager-magazin.de/unter​ nehmen/autoindustrie/volkswagen-wie-die-ermittler-bei-dieselgate-vorgehen-a-­1086120-­5. html; in der Korruptionsaffäre der Siemens AG sollen durch derartige Aufwendungen Kosten in Höhe von 850 Mio. US-Dollar entstanden sein, vgl. Bund, Zeit online, Tod eines Managers, 18.6.2015, https://www.zeit.de/2015/23/siemens-heinz-joachim-neubuerger-selbst​ mord. 7 Dazu vertiefend Lüneborg/Resch, NZG 2018, 209 ff.; Ehling, BB 2018, 1610, 1613 ff.

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1. Umfasst der Deckungsschutz der D&O-Versicherung Kosten interner Ermittlungen der Gesellschaft? Zunächst ist festzuhalten, dass eine grundsätzliche Pflicht der Gesellschaft zur Durchführung interner Ermittlungen besteht. Sie dient der Aufklärung möglicher Pflichtverletzungen und zählt grundsätzlich zu den dem Vorstand obliegenden Leitungsaufgaben,8 wenn es sich um Verstöße von Mitarbeitern unter der Vorstandsebene oder Aufsichtsratsmitgliedern handelt. Neben der Überwachung entsprechender Maßnahmen des Vorstandes,9 obliegt dem Aufsichtsrat darüber hinaus eine autonome Aufklärungspflicht, wenn potenzielle Pflichtverletzungen von Vorstandsmitgliedern in Betracht kommen.10 Nach der „Siemens/Neubürger-Entscheidung“ des LG München I11 sind auch Aufklärungs- und Rechtsverfolgungskosten nach § 93 Abs. 2 AktG ersatzfähige Schadensposten.12 Bei Rechtsverfolgungskosten ist dies unproblematisch, da diese kausal durch die Pflichtverletzung verursacht wurden. Aber auch bei Kosten präventiver Untersuchungen durch den Vorstand handelt es sich um ersatzfähige Aufwendungen zur Schadensminderung der Gesellschaft, da durch eine entsprechende Sachverhaltsaufklärung und die darauffolgende Unterbindung von Rechtsverstößen weiterer Schaden für die Gesellschaft verhindert wird.13 Lüneborg stellt zu Recht fest, 14 dass dies nicht ohne Weiteres auf interne Untersuchungen durch den Aufsichtsrat übertragbar ist: Untersuchungsmaßnahmen des Aufsichtsrats dienen primär der Prüfung der Durchsetzungswahrscheinlichkeit von Ansprüchen gegen Vorstandsmitglieder. Doch richtigerweise haben sie ebenso einen präventiven Zweck: So demonstrieren Aufklärungen von Pflichtverletzungen von Vorstandsmitgliedern, dass derartige Verstöße nicht hingenommen werden. Sie beugen damit einem drohenden Reputationsverlust der Gesellschaft vor. Ferner kann das Ergebnis von Untersuchungsmaßnahmen durch den Aufsichtsrat Grundlage für eine Anspruchsdurchsetzung sein. Sie führt dazu, dass der Schaden der Gesellschaft zumindest teilweise kompensiert wird.15 Kosten einer Aufsichtsratsuntersuchung sind folglich als Schadensminderung ebenso ersatzfähig gemäß § 93 Abs. 2 AktG16 und fallen bei einer erfolgreichen Regression gegenüber dem Organmitglied dementsprechend unter den D&O-Versicherungsschutz, sofern die Versicherungsbedingungen insoweit keinen Ausschluss vorsehen.

8 LG München I v. 10.12.2013  – 5 HK O 1387/10, NZG 2014, 345, 347; vgl. Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 76 AktG Rz. 13 ff. 9 Vertiefend dazu Reichert/Ott, NZG 2014, 241, 244 ff. 10 BGH v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, NJW 1997, 1926 ff.; BGH v. 18.9.2018 – II ZR 152/17, DB 2018, 2685 ff.; Reichert/Ott, NZG 2014, 241, 248 f. 11 LG München I v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, NZG 2014, 345 ff. 12 Fleischer in Spindler/Stilz, 3. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 213a; Meyer, DB 2014, 1063, 1068. 13 Fleischer, NZG 2014, 321, 327; Fuhrmann, NZG 2016, 881, 885 f. 14 Lüneborg/Resch, NZG 2018, 209 ff. 15 Lüneborg/Resch, NZG 2018, 209, 213. 16 S. Ehling, BB 2018, 1610, 1613 zu Schadenspositionen im Einzelnen; Lüneborg/Resch, NZG 2018, 209 ff.

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2. Mögliche Entschärfungen von Interessenkollisionen im Falle der Innenhaftung? Mögliche Interessenkollisionen ergeben sich daraus, dass im Falle der Innenhaftung zwischen dem D&O-Versicherer und beiden Streitparteien unterschiedliche Rechtsbeziehungen bestehen.17 Die Gesellschaft ist als Versicherungsnehmerin die Vertragspartnerin, das in Anspruch genommene Organmitglied als versicherte Person dagegen Inhaber der Rechte aus dem Vertrag (§ 44 Abs. 1 Satz 1 VVG). In Außenhaftungs­ fällen nimmt der Versicherer unproblematisch allein die Interessen der versicherten Person wahr. Die Besonderheit der Innenhaftung besteht darin, dass sich im Haftpflichtprozess einerseits die Interessen des in Anspruch genommenen Organmitglieds mit denen des Versicherers decken, nämlich die Verteidigung gegen die Inanspruchnahme durch die Gesellschaft, und andererseits in Deckungsfragen die Interessen der betroffenen Organmitglieder mit den Interessen der Gesellschaft als Versicherungsnehmerin insoweit gleich laufen, als sie auf die Einstandspflicht der D&O-Versicherung gerichtet sind. Aus dem zwischen der Versicherungsnehmerin und den versicherten Personen bei Abschluss einer D&O-Versicherung als Versicherung für fremde Rechnung resultierenden Treueverhältnis ergeben sich für die Gesellschaft bestimmte Treuepflichten.18 Andererseits hat die Gesellschaft versicherungsrechtliche Obliegenheiten gegenüber der Versicherung, bei deren Missachtung der Versicherungsschutz entfallen kann. In Betracht kommt dabei insbesondere eine Verletzung von Auskunftspflichten gemäß § 31 Abs. 1 VVG. Dem Versicherer kommt in Innenhaftungsfällen eine Mediationsfunktion zu,19 die er zur Entschärfung der oben genannten Interessenkonflikte auch wahrnehmen sollte. Ein weiterer Interessenkonflikt kann sich aus der begrenzten Deckungssumme für einen Versicherungsfall ergeben.20 Ist die Deckungssumme schon aufgebraucht, kann das im Ergebnis dazu führen, dass trotz Bestehens einer D&O-Versicherung der im Haftungsprozess geltend gemachte Anspruch nicht mehr vom Versicherungsschutz umfasst ist.21 Derartige Situationen können zum Beispiel entstehen, wenn mehrere Vorstandsmitglieder in Anspruch genommen werden oder zusätzlich die Haftung des Aufsichtsrats im Raum steht. Dies kann der Fall sein, wenn es zu einer Streitver­ kündung22 seitens der Vorstandsmitglieder kommt, die im Falle der Haftung zur ­Sicherung potenzieller Regressansprüche den Aufsichtsratsmitgliedern den Streit verkünden.23 Der Aufsichtsrat ist im Interesse der Gesellschaft dazu verpflichtet, 17 Zu verschiedenen Interessenkonflikten vertiefend Armbrüster, NJW 2016, 897 ff. 18 So ist beispielsweise beim Verzicht auf die Rechte des Versicherten durch den Versicherungsnehmer ein Schadenersatzanspruch des Versicherten denkbar, vgl. Klimke in Prölss/ Martin, Versicherungsvertragsgesetz, 30. Aufl. 2018, § 45 Rz. 19 m.w.N. 19 So etwa Lange in Veith/Gräfe/Gebert, Der Versicherungsprozess, 3. Aufl. 2016, § 21 Rz. 53. 20 Zur Problematik unzureichender Versicherungssummen in der D&O-Versicherung Pep­ per­sack, r+s 2018, 117 ff. 21 Armbrüster, NJW 2016, 897, 898; Schenk, NZG 2015, 494, 498. 22 Vertiefend dazu Kocher/Falkenhausen, AG 2016, 848 ff. 23 Vgl. LG Düsseldorf v. 25.4.2014 – O 36/11, WM 2014, 1293 im Fall der Apo-Bank.

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mögliche Ansprüche gegen Vorstandsmitglieder geltend zu machen, wird aber durch eine Streitverkündung in die Situation versetzt, ebendiese Ansprüche abwehren zu müssen. Ein Verzicht auf eine Inanspruchnahme des Vorstandes würde dagegen ebenfalls zu einer eigenen Haftung führen. Folge dieses Interessenkonflikts könnte eine gewisse „Beißhemmung“ auf Seiten des Aufsichtsrats sein.24 Auf Grund der vorgenannten Entwicklung wird in der Praxis nun der Bedarf einer zusätzlichen D&O-Police, der „Two-Tier Trigger Policy“ (TTTP) diskutiert. Die TTTP ist eine sogenannte Anschlussdeckung, die zusätzlich zur D&O-Police allein die Mitglieder des Aufsichtsrats schützt. Eine separate Deckungssumme durch die TTTP erscheint dem Grunde nach geeignet, einen verbesserten Versicherungsschutz der Aufsichtsräte sicherzustellen und eine potenzielle „Beißhemmung“ auf deren Seite zu reduzieren, da sie das Risiko beseitigt, Haftungsansprüchen schutzlos gegenüber zu stehen. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass die bloße Existenz der TTTP eine Streitverkündung durch Vorstandsmitglieder mangels Betroffenheit des eigenen Deckungsschutzes geradezu provozieren kann. Ferner tritt durch den Abschluss der TTTP eine weitere Partei im Haftungsprozess hinzu, wodurch sich die Anzahl an Streitverhältnisses potenziert. Der Abschluss eines Gesamtvergleichs wird somit erschwert und die Verfahrensdauer sowie -kosten erhöht.25

II. Versicherungsverschaffungspflicht Unterschiedliche Auffassungen bestehen zu Fragen rund um eine im Raum stehende Versicherungsverschaffungspflicht. Aus dem Spektrum der nach wie vor nicht einheitlichen Meinungen soll hier nur auf Folgendes eingegangen werden: 1. Gibt es einen gesetzlichen Anspruch der Vorstandsmitglieder gegenüber der Gesellschaft auf Abschluss und Inhalt einer D&O-Versicherung? In Rechtsprechung und überwiegend im Schrifttum26 besteht Übereinstimmung dahingehend, dass bei Fehlen einer entsprechenden Satzungsregelung eine generelle gesetzliche Verpflichtung der Gesellschaft zum Abschluss einer D&O-Versicherung nicht besteht. Das hat der BGH für Aufsichtsratsmitglieder ohne weitere Begründung festgestellt. Die Entscheidung lässt nicht erkennen, dass für Vorstandsmitglieder etwas anderes gilt.27 24 Reichert/Suchy, NZG 2017, 88, 89 f. 25 Vgl. Reichert/Suchy, NZG 2017, 88 ff. 26 Fleischer in Spindler/Stilz, 3. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 235 ff.; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 93 AktG Rz. 23; Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2006, § 93 AktG Rz. 455; Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 93 AktG Rz. 58a; Seyfarth, Vorstandsrecht, § 25 Rz. 51; Spindler in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, § 93 AktG Rz. 195; Deilmann, NZG 2005, 54, 56; Beiner/Braun, Der Vorstandsvertrag, 2. Aufl. 2014, Rz. 565; zu Interessenkonflikten im Zusammenhang mit D&O-Individualversicherungen, s. Dreher in FS Bergmann, 2018, S. 145, 152 ff. 27 BGH v. 16.6.2009 – AZ II ZR 280/07, NZG 2009, 550, 552.

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Entgegen einer in der Literatur vertretenen Ansicht kann man einen Anspruch von Vorstandsmitgliedern gegen die Gesellschaft auf Abschluss einer D&O-Versicherung nicht unter dem Gesichtspunkt der Risikovorsorge oder der Fürsorgepflicht herleiten.28 Es ist zwar richtig, dass die zuständigen Organe der Gesellschaft im Hinblick auf die ihnen obliegende Verpflichtung zur verantwortungsvollen und vorausschauenden Risikofrüherkennung und Risikominderung stets ernsthaft zu prüfen und abzuwägen haben, ob es unter Berücksichtigung des der Gesellschaft entstehenden Prämienaufwandes einerseits und des Deckungsschutzes andererseits ratsam ist, eine D&O-Versicherung für die Organe abzuschließen.29 Aus dieser Verpflichtung gemäß § 91 Abs. 2 AktG, auf die auch Ziff. 4.1.4 des DCGK Bezug nimmt, kann jedoch kein individueller Anspruch der Vorstandsmitglieder auf Abschluss einer D&O-Versicherung hergeleitet werden, auch nicht unter dem Gesichtspunkt einer Ermessensreduzierung bei entsprechender Risikolage, zumal unklar ist, auf welchen konkreten Inhalt des Versicherungsvertrages ein solcher Anspruch gerichtet sein könnte.30 Eine Versicherung von Innenansprüchen der Gesellschaft gegen schuldhaft schadenverursachende Vorstandsmitglieder kann ohnehin nicht von der Fürsorgepflicht umfasst sein.31 Fleischer weist zu Recht darauf hin, dass der BGH, der ohne Wenn und Aber eine Versicherungsverschaffungspflicht für Aufsichtsratsmitglieder abgelehnt hat, sich damit auch inzident gegen die Bejahung einer Versicherungspflicht unter dem Gesichtspunkt der Fürsorge entschieden hat. In dogmatischer Hinsicht scheint es eher angebracht zu sein, den Schutz der Vorstandsmitglieder durch eine Fortentwicklung einer Regressreduzierung zu bewirken.32 In der Praxis werden die aufgrund des vorstehenden Befunds sich ergebenden Risiken für Vorstandsmitglieder in der Regel dadurch gemildert sein, dass nach der herrschenden Auffassung der Vorstand für den Abschluss der D&O-Versicherung zuständig ist (s. dazu unter III. 1.-2.) und er es deshalb selbst in der Hand hat, – vorsorglich gedeckt durch eine entsprechenden Zustimmungsbeschluss des Aufsichtsrats (s. dazu unter III. 3.) – durch den Abschluss einer der Risikolage angemessen Rechnung tragenden D&O-Versicherung für die Gesellschaft und sich selbst hinreichenden Schutz zu verschaffen.33 Eine solche Möglichkeit steht allerdings ausgeschiedenen Vorstandsmitgliedern nicht zur Verfügung. Diese können bei Fehlen entsprechender vertraglicher Zusagen nicht mehr auf den Fortbestand und Anpassungen der Versicherungspolicen mit in der Regel jährlicher Laufzeiten Einfluss nehmen.34 28 E. Vetter, AG 2000, 453, 454 ff. 29 S. Vetter aaO. 30 Zu der Problematik, ob sich eine Abschlusspflicht bei entsprechender Risikoneigung und Schadenswahrscheinlichkeit aus einer Verdichtung des unternehmerischen Beurteilungsspielraumes ergeben kann: Lange, DStR 2002, 1626, 1630; Dreher, ZHR 165 (2001), 293, 313. 31 Fleischer in Spindler/Stilz, 3. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 237; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 93 AktG Rz. 243; Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 93 AktG Rz. 58. 32 Dazu Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 93 AktG Rz. 51; vertiefend dazu Bachmann, Gutachten E für den 70. DJT, 2014. 33 Zu der sich hieraus ergebenden Interessenkollision vgl. Krieger in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, § 3 Rz. 3.60, vgl. dazu auch III. 3.  34 Zur unabgestimmten Beendigung der D&O-Versicherung im Falle der Insolvenz durch den Insolvenzverwalter, vgl. BGH v. 14.4.2016 – IX ZR 161/15, AG 2016, 581; dagegen noch

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2. Inwieweit ist es zulässig und sinnvoll, in den Anstellungsvertrag mit den Vorstandsmitgliedern und/oder in der Satzung konkrete Rechte auf Abschluss und Inhalt einer Versicherung aufzunehmen? Zulässig ist es, dass die Gesellschaft mit den Vorstandsmitgliedern im Dienstvertrag individuelle Vereinbarungen trifft, die einen Anspruch auf Schutz durch eine D&O-­ Versicherungsklausel vorsehen („Versicherungsverschaffungsklausel“).35 Eine solche Klausel kann auch in die Satzung aufgenommen werden, wie sich aus der Entscheidung des BGH36 ergibt. Die Aufnahme einer Versicherungsverschaffungsklausel in der Satzung erscheint aber wenig sinnvoll. Abgesehen von allgemeinen, den Organen und der Gesellschaft wenig Rechtssicherheit aber immerhin dem Grunde nach einen Anspruch verschaffenden Klauseln, wie „die Gesellschaft schließt für ihre Vorstandsmitglieder eine Organhaftpflichtversicherung mit einer angemessenen Deckungssumme ab“, birgt eine in der Satzung enthaltene konkrete Bestimmung das Risiko, bei Anpassungs-/Änderungsbedürfnissen einen mit dem Risiko der Anfechtung behafteten Hauptversammlungsbeschluss herbeiführen zu müssen. Eine in der Satzung enthaltene Klausel kann auch nicht die Zuständigkeitsfrage für den Abschluss klären, denn es bleibt bis zu einer höchstgerichtlichen Klärung offen, wer die Gesellschaft beim Abschluss vertritt. Wenn nach der aktienrechtlichen Zuordnung der Aufsichtsrat zuständig sein sollte, kann die Satzung diese Zuständigkeit nicht auf den Vorstand verlagern (§ 23 Abs. 5 AktG).37 Will die Gesellschaft deshalb ihren Vorstandsmitgliedern einen Rechtsanspruch auf Schutz durch eine D&O-Versicherung verschaffen, bleibt nur der Weg über eine konkrete Regelung im Anstellungsvertrag. Hier stellen sich allerdings mannigfache Fragen, die mit ein Grund dafür sein dürften, dass sich in der Praxis noch keine Standards herausgebildet haben:38 a) Zunächst ist in steuerlicher Hinsicht zu beachten, dass zur Vermeidung einer steuerlichen Qualifizierung der Prämienzahlung als Vergütung die Vorgaben aus dem im Einvernehmen mit dem BMF und den obersten Finanzbehörden ergangenen Erlass des Finanzministeriums Niedersachsen vom 25.1.200239 zu beachten sind. Die Finanzverwaltung sieht die Versicherungsbeiträge nur unter bestimmten Vo­ raussetzungen als lohn- und einkommenssteuerpflichtige Einkünfte an, insbesondere wenn Risiken versichert werden, die in der Regel durch eine individuelle Haftpflichtversicherung abgedeckt werden. Ansonsten wird von einem überwiegend eigenbetrieblichen Interesse der Gesellschaft ausgegangen. Bei der D&O Versichedie Vorinstanz, vgl. OLG Hamburg v. 8.7.2015 – 11 U 313/13, ZIP 2015, 1840; dazu auch Flotmann/Klein, DB 2016, 1426 ff. 35 So der Formulierungsvorschlag von Lange, ZIP 2004, 2221. 36 BGH v. 16.3.2009 – II ZR 280/07, NZG 2009, 550, 552. 37 Möhrle, Gesellschaftsrechtliche Probleme der D&O-Versicherung, Jur. Diss. 2007, S. 208 ff. 38 Hierauf verweisen Hemeling in FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 491, 506 Fn. 54, 55; dazu im Einzelnen Lange, ZIP 2004, 2221 ff.; Hohenstatt/Naber, DB 2010, 2321 ff. 39 FinMin. Niedersachsen v. 25.1.2002 – S 2332 – 161 – 35 / S 2245 – 21 – 31 2, DB 2002, 399 ff.

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rung geht es vorwiegend um die Vermeidung gewichtiger Nachteile der dienstlichen Tätigkeit, nicht hingegen um die Abdeckung privater Risiken.40 Auch aus steuerrechtlicher Sicht erfolgen die Beiträge der Gesellschaft zur D&O-Versicherung schwerpunktmäßig der Zuwendung im Bereich der dienstlichen Aufgabenerfüllung, sodass das eigenbetriebliche Interesse der Gesellschaft überwiegt.41 Die Verträge müssen demnach für das Management insgesamt abgeschlossen werden. Individuelle Sonderreglungen im D&O-Vertrag oder in den D&O-Verträgen sind also steuerlich nachteilig. Daraus können sich im Einzelfall Probleme ergeben, wenn neu in den Vorstand zu berufende qualifizierte Vorstandsmitglieder mit den Regelungen des aktuellen D&O-Vertrages nicht einverstanden sind, etwa im Hinblick auf die Deckungssumme und eine Sonderbehandlung verlangen, die aktienrechtlich möglich wäre, die aber zum steuerlichen Nachteil für den gesamten Vorstand führen müsste. Der Erlass des Finanzministeriums Niedersachsen verbietet es aber aktienrechtlich nicht, in Vorstandsdienstverträgen unterschiedliche Vereinbarungen zu treffen. Das ist insbesondere von Bedeutung für die Fortentwicklung des Inhaltes der Vorstandsdienstverträge der Gesellschaft bei der Bestellung neuer Vorstandsmitglieder. b) Was man sollte und was man besser nicht in die Vorstandsdienstverträge aufnehmen sollte42 ist zunächst eine akademische Frage. In der Praxis kommt es darauf an, welche Verhandlungspositionen die Verhandlungspartner haben. Für die Gesellschaft ist aber insbesondere von Bedeutung, dass sie in aller Regel nicht bereit sein wird, zu detaillierte Regelungen über die D&O-Versicherung in den Vertrag aufzunehmen. Diese könnte der Gesellschaft bei späteren Änderungen, etwa der Änderung des Marktstandards, der Risikolage oder Änderungen des AktG oder des DCGK Probleme bereiten. Deshalb kann von zu detaillierten Regelungen nur abgeraten werden. Das gilt beispielhaft für die Deckungssumme, den Selbstbehalt (hier wird ein Vorstandsmitglied ohnehin in der Regel nicht bereit sein, einen höheren als den gesetzlich vorgeschriebenen Selbstbehalt zu akzeptieren), Deckung für Auslandsschäden, Deckung für Bußgelder und Strafen.43 Dies sind zwar alles sehr wichtige Punkte, aber sie gehören nicht in einen Anstellungsvertrag, sondern sind vom Vorstand im Rahmen seiner pflichtgemäßen Geschäftsführung im D&O-Vertrag zu regeln. Für neu zu bestellende Vorstandsmitglieder mag die eine oder mehrere unbefriedigende Regelung(en) Anlass sein, bei den Vertragsverhandlungen dahin zu wirken, dass der D&O-Vertrag, der normalerweise eine 40 Hemeling in FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 491, 493. 41 Vgl. zu den einzelnen Voraussetzungen an die Ausgestaltung der Versicherungsbedingungen für diesen Fall das Rundschreiben des FinMin. Niedersachsen v. 25.1.2002, DB 2002, 399; Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2006, § 113 AktG Rz. 52. 42 Hohenstatt/Naber, DB 2010, 2321 ff.; Lange differenziert in seiner Aufzählung der verschiedenen Arten von Klauseln zwischen „unechten“, „einfachen echten“ und „qualifiziert echten“ Versicherungsverschaffungsklauseln, Lange, ZIP 2004, 2221  ff.; Seyfarth in Krieger/ Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, § 9 Rz. 9.21. 43 Dazu Hohenstatt/Naber, DB 2010, 2322 ff.

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Laufzeit von einem Jahr hat, bei nächster Gelegenheit angepasst wird. Der zu bestellende Vorstand mag sich dann entscheiden, ob dieser Punkt so wichtig für ihn ist, dass er von einem Vertragsabschluss absieht oder aber sich ein Rücktrittsrecht für den Fall einräumen lässt, dass eine bei den Vertragsverhandlungen gegebene Zusage nicht eingelöst wird. In folgenden Bereichen erscheint es angebracht, einem Schutzbedürfnis von Vorstandsmitgliedern durch Aufnahme einer entsprechenden Klausel in dem Dienstvertrag zu entsprechen: aa) Da D&O-Versicherungen normalerweise auf dem sogenannten Claims-MaidPrinzip44 beruhen und es demnach für den Versicherungsschutz darauf ankommt, ob ein solcher besteht, wenn der Anspruch erhoben wird, ist es für das Vorstandsmitglied von großer Bedeutung, auch für solche Schadensfälle versichert zu sein, die während seiner Amtszeit verursacht, aber erst später nach seinem Ausscheiden oder nach Beendigung des Versicherungsvertrages geltend gemacht werden. Deshalb kann sich eine Bestimmung empfehlen, nach der die Gesellschaft die D&O-Versicherung für einen bestimmten Zeitraum nach dem Ausscheiden des Vorstandsmitglieds ohne Verschlechterung aufrechterhalten wird und für das Vorstandsmitglied auch eine Nachmeldefrist einräumt.45 Wenn eine solche Bestimmung nicht schon im Dienstvertrag vertraglich vereinbar wurde, bietet es sich an, diese zumindest im Rahmen einer Ausscheidungsvereinbarung aufzunehmen. bb) Auch ist von Bedeutung, die Gesellschaft zu verpflichten, über Änderungen des Versicherungsvertrages zu informieren. Sinnvoll erscheint es immer, die Gesellschaft zu verpflichten, dem Vorstandsmitglied die jeweils geltende Police und Versicherungsbedingungen zu übermitteln. cc) Es sollte ferner eine Verpflichtung der Gesellschaft vorgesehen werden, über drohende Schadenersatzansprüche der Gesellschaft oder von Dritten gegen das Vorstandsmitglied wegen Pflichtverletzungen während der Zeit der Vorstands­ tätigkeit zu unterrichten.46

III. Aktienrechtliche Zuständigkeiten im Zusammenhang mit der D&O- Versicherung für Vorstandsmitglieder Bislang immer noch nicht eindeutig – zumindest nicht gerichtlich – geklärt, ist die Frage, welches Organ die Zuständigkeit für den Abschluss des Versicherungsvertrages zugunsten von Vorstandsmitgliedern innehat, ob es zumindest der Zustimmung 44 Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 93 AktG Rz. 58b; Lange in Veith/Gräfe/Gebert, Der Versicherungsprozess, 3. Aufl. 2016, § 21 Rz. 68 ff.; Sieg in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, § 18 Rz. 18.35 f.; Hemeling in FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 491, 494. 45 S. dazu den Vorschlag von Hohenstatt/Naber, DB 2010, 2323; von Schenck, NZG 2015, 494, 498 f.; Cyrus, NZG 2018, 7, 14. 46 Hohenstatt/Naber, DB 2010, 2323 f.

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eines anderen Organs bedarf und welche Zuständigkeit beim Zukauf von Schadensnachmeldefristen und Umstandsmeldungen gegeben ist. 1. Vertretungsmacht des Aufsichtsrats für den Abschluss der Versicherung nach § 112 AktG? Da Vorstandsmitglieder in den Schutzbereich der D&O-Versicherung einbezogen sind, wird insofern diskutiert, ob der Aufsichtsrat gemäß § 112 AktG abweichend von § 78 Abs. 1 AktG47 zum Abschluss der Versicherung im Außenverhältnis zuständig ist, der Aufsichtsrat insoweit also Vertretungsmacht hat.48 § 112 AktG regelt, dass die Gesellschaft gegenüber Vorstandsmitgliedern durch den Aufsichtsrat vertreten wird. Dem Wortlaut der Norm zufolge ist der Anwendungsbereich demgemäß nicht eröffnet, da es sich bei dem Abschluss einer gesellschaftsfinanzierten D&O-Versicherung nicht um eine Vertretung gegenüber Vorstandsmitgliedern handelt.49 Der Versicherungsvertrag wird zwischen der Gesellschaft und dem Versicherer geschlossen, sodass es sich um eine Vertretung der Gesellschaft gegenüber einem Dritten handelt. Für die Anwendbarkeit von §  112  AktG könnte allerdings sprechen, dass der Vorstand aufgrund der Beteiligung an dem Versicherungsverhältnis als versicherte Person nicht die notwendige Unbefangenheit zur Wahrung der Gesellschaftsbelange aufweist. Die Schutznorm des § 112 AktG basiert auf der Besorgnis, dass der Vorstand als Vertretungsorgan die erforderliche Unbefangenheit nicht aufbringt, wenn er selbst am betreffenden Rechtsverhältnis beteiligt ist.50 Die Vertretungszuständigkeit des Aufsichtsrats gegenüber Dritten wird in der Literatur außerhalb der ausdrücklichen gesetzlichen Regelung ausnahmsweise auch dann anerkannt, wenn es sich um Geschäfte handelt, die im Zusammenhang mit der originären Zuständigkeit des Aufsichtsrats stehen.51

47 Für die Zuständigkeit des Vorstands nach § 78 Abs. 1 AktG: Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 93 AktG Rz. 58a, § 113 AktG Rz. 2a; Fleischer in Spindler/Stilz, 3. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz.  232  ff.; Habersack in MünchKomm. AktG, 4.  Aufl. 2008, §  113 AktG Rz.  13; Lutter/ Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl. 2014, § 7 Rz. 440 ff.; Vetter, AG 2000, 453, 457; vgl. auch Koch, GmbHR 2004, 160, 168 Fn. 70; Möhrle, Gesellschaftsrechtliche Probleme der D&O-Versicherung, Jur. Diss. 2007, S. 199. 48 Vertiefend dazu s. Möhrle, Gesellschaftsrechtliche Probleme der D&O-Versicherung, Jur. Diss. 2007, S. 197 ff. 49 Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2006, § 112 AktG Rz. 65; Kästner, AG 2000, 113, 121; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl. 2014, Rz. 440 ff. 50 Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 112 AktG Rz. 1; Habersack in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, §  112 AktG Rz.  1; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3.  Aufl. 2013, §  112 AktG Rz. 2. 51 Vgl. Habersack in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, § 112 AktG Rz. 8 ff.; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2013, § 112 AktG Rz. 16; Semler in FS Claussen, 1997, S. 381, 397 f.

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D&O-Versicherung und Aktienrecht

Aus diesem Gedanken heraus könnte sich eine Annexzuständigkeit des Aufsichtsrats zum Abschluss eines D&O-Versicherungsvertrags aufgrund der ohnehin bestehenden Zuständigkeit zur Be- und Anstellung eines Vorstandsmitglieds ergeben. Eine solche Auslegung des §  112  AktG würde aber zu weit führen.52 Der Abschluss der D&O-Versicherung erfolgt trotz gleichzeitiger Begünstigung der Vorstandsmitglieder vorrangig im Interesse der Gesellschaft und ist daher eine Maßnahme zur Sicherung des Gesellschaftsvermögens. Auch wenn der BGH einen generell strengen Maßstab hinsichtlich der Geschäftsführungsbefugnis des Vorstands anlegt und z.B. den Abschluss von Verträgen mit Dritten, durch die einem Vorstand eine Vergütung gewährt wird, in die Kompetenz des Aufsichtsrats fallen lässt, 53 so stellt der BGH in diesem Zusammenhang auf den Gleichlauf mit der Bestellungs- und Anstellungskompetenz ab. Diese ist hier gerade nicht gegeben, da es sich wie erwähnt primär um die Absicherung der Gesellschaft auch bei Einbeziehung des Vorstands in den Kreis der versicherten Personen handelt. Auch wenn der Schutzzweck von § 112 AktG wegen eines Eigeninteresses des Vorstands tangiert sein könnte, ist eine Anwendbarkeit von § 112 AktG aus teleologischen Gründen abzulehnen. Das Aktiengesetz bietet eine ausreichende Kontrollmöglichkeit der konkreten Geschäftsführungsmaßnahme über § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG, dem Zustimmungsvorbehalt (s. dazu unter 3.). Ferner handelt es sich, wie im Folgenden ausgeführt wird, bei der Übernahme der D&O-Prämien durch die Gesellschaft, nicht um eine Vergütung, sodass ein Gleichlauf mit den übrigen Kompetenzen des Aufsichtsrats nicht besteht. Es bleib daher festzuhalten, dass der Vorstand auch bei der Einbeziehung von Vorstandsmitgliedern in den Schutzbereich der D&O-Versicherung gemäß § 78 Abs. 1 AktG zum Abschluss der Versicherung zuständig ist. 2. Mitwirkung des Aufsichtsrats nach §§ 84, 87 Abs. 1 AktG? Da die Prämien einer D&O-Versicherung von der Gesellschaft gezahlt werden fragt sich, ob im Hinblick auf die Einbeziehung von Vorstandsmitgliedern in den Versicherungsschutz der Aufsichtsrat als zuständiges Organ für die Festsetzung der Vergütung nach §§ 84, 87 Abs. 1 Satz 1 AktG bei der Entscheidung über den Abschluss einer D&O-Versicherung jedenfalls mitzuwirken hat. Maßgeblich für die Beurteilung der Zuständigkeit ist, ob diese Prämien und der damit verbundene Versicherungsschutz als Vergütungsbestandteil der Organmitglieder zu qualifizieren sind.54 a) Wenngleich § 87 Abs. 1 Satz 1 AktG ausdrücklich Versicherungsentgelte als Bestandteil der Gesamtbezüge aufführt, stellt die gesellschaftsfinanzierte D&O-Versicherung keinen „Bezug“ der Vorstandsmitglieder dar. Vielmehr ist die Definition dieses Begriffs deckungsgleich mit dem der Vergütung von Aufsichtsratsmitglie52 Habersack in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, § 112 AktG Rz. 8; Dreher, ZHR 165 (2001), 293, 321; Vetter, AG 2000, 453, 457. 53 Vgl. BGH v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, NJW-RR 2015, 988, 990. 54 So Armbrüster, NJW 2016, 897, 900; vgl. auch Spindler in MünchKomm. AktG, 4.  Aufl. 2014, § 87 AktG Rz. 24 ff. m.w.N.

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dern gemäß § 113 AktG:55 Danach kann der grundsätzlichen Kompetenzverteilung des Aktiengesetzes entnommen werden, dass der Begriff „Vergütung“ eng ausgelegt werden muss56 und nur solche Leistungen unter den Begriff zu subsumieren sind, die tatsächlich als Gegenleistung für die Übernahme des Amtes erbracht werden. Wenngleich auch Nebenleistungen als Vergütungsbestandteil angesehen werden, sind darunter nur die Zuwendungen der Gesellschaft zu verstehen, die diese als Gegenleistung für die Übernahme des Amtes erbringt.57 Die gesellschaftsfinanzierte Versicherung stellt aber keine Gegenleistung für die Vorstandstätigkeit in diesem Sinne dar, sondern ist vielmehr ein Teil eines vorausschauenden Risikomanagements der Gesellschaft.58 Aus Vorstandsperspektive kann der Versicherungsschutz zwar durchaus als Vergütungsbestandteil erscheinen. Es besteht jedoch ein maßgebliches Eigeninteresse der Gesellschaft an der Sicherung von Vollstreckungsaussichten bei Innenhaftungsansprüchen sowie der Gewinnung qualifizierter Unternehmensleiter und der Vermeidung einer übertriebenen Risikoaversion des Vorstands durch die abgeschlossene D&O-Versicherung.59 Die in der D&O-Versicherung liegende Begünstigung der Vorstandsmitglieder stellt sich lediglich als Reflex des überwiegenden Eigeninteresses der Gesellschaft dar und begründet keinen Vergütungscharakter. Als Vergleich können gesellschaftsfinanzierte Vorsorgeuntersuchungen herangezogen werden, die ebenso bloß notwendige Begleiterscheinungen betrieblicher Zielsetzungen darstellen.60 b) Fraglich ist, ob sich die Zuständigkeitsfrage aus steuerrechtlicher Perspektive anders beurteilt und, ob dies Auswirkungen auf die Beurteilung im Aktienrecht hätte. Der hier vertretenen Auffassung, dass die D&O-Versicherung nicht Bestandteil der Vorstands- bzw. Aufsichtsratsvergütung ist, hat sich im Wesentlichen wohl auch die Finanzverwaltung angeschlossen (dazu s. oben II. 2. a)). Die aktienrechtliche Zuständigkeitsfrage wurde nach Hemeling durch diesen Erlass in der Praxis regulatorisch gelöst.61 Es stellt sich aber die Frage, inwieweit die steuerrechtliche Beurteilung des Vergütungsbegriffs aktienrechtlich herangezogen werden kann. Dies ist insbesondere bedeutsam, wenn die Versicherungsbeiträge aus steuerrechtlicher Perspektive ausnahmsweise als steuerpflichtige Einkünfte behandelt werden. Überzeugenderweise lassen sich aus der steuerrechtlichen Perspektive keine zwingenden Folgen für die aktienrechtliche Einordnung ableiten.62 Zunächst gilt, dass 55 Dreher, ZHR 165 (2001), 293, 304; Pammler, Die gesellschaftsfinanzierte D&O-Versicherung im Spannungsfeld des Aktienrechts, Jur. Diss. 2006, S. 169. 56 Lange, ZIP 2001, 1524, 1527. 57 Mertens, AG 2000, 447, 448; Vetter, AG 2000, 453, 457. 58 Habersack in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, § 113 AktG Rz. 13; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2013, § 113 AktG Rz. 16; Vetter, AG 2000, 453, 458; vgl. Hemeling in FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 491, 492 f. 59 Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 93 AktG Rz. 58a; Hemeling in FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 491, 492.  60 Fleischer in Spindler/Stilz, 3. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 234. 61 Hemeling in FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 491, 492. 62 Vgl. Armbrüster, NJW 2016, 897, 900; Schüppen/Sanna, ZIP 2002, 550, 553.

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D&O-Versicherung und Aktienrecht

Zivilrecht und Steuerrecht nebengeordnete Rechtsgebiete sind, die voneinander unabhängig Sachverhalte aus verschiedenen Perspektiven beurteilen.63 Schon deshalb ist die steuerrechtliche Würdigung eines Sachverhalts für das Aktienrecht nicht maßgeblich. Dies erscheint sachgerecht, da sonst jeder steuerrechtliche Vorteil als Vergütungsbestandteil gewertet werden müsste. Angesichts der engen Definition des Begriffs „Vergütung“ im Aktienrecht, der vor allem auf ein bestehendes Gegenseitigkeitsverhältnis abstellt,64 würde die Übertragung des steuerrechtlichen Begriffs dieses Verständnis unangemessen ausdehnen. Insbesondere die aktienrechtliche Kompetenzordnung würde dadurch faktisch ausgehebelt.65 Folglich kann die steuerrechtliche Einschätzung der Finanzverwaltung zwar in ihren Einschätzungen als Anhaltspunkt in der Zuständigkeitsfrage dienen, hat die unklare Rechtslage hinsichtlich der Zuständigkeitsfrage über den Abschluss der D&O-Versicherung jedoch nicht regulatorisch gelöst. 3. Zustimmungsvorbehalt des Aufsichtsrats nach § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG? Im Einzelfall zu prüfen ist, ob der im Außenverhältnis nach § 78 Abs. 1 AktG für den Versicherungsabschluss zuständige Vorstand auch im Innenverhältnis über den Abschluss und die Ausgestaltung der D&O-Versicherung entscheidungsbefugt ist, denn der Aufsichtsrat könnte diese Entscheidung über eine Regelung in der Geschäftsordnung für den Vorstand an sich gezogen haben.66 Ein solcher Zustimmungsvorbehalt des Aufsichtsrats zum Abschluss einer D&O-Versicherung könnte ratsam oder sogar notwendig sein. Trotz der generellen Vertretungsmacht des Vorstands ist zu berücksichtigen, dass ein nicht unerhebliches Interesse der Vorstandsmitglieder am Versicherungsabschluss besteht, um so eine eigene Inanspruchnahme größtmöglich zu reduzieren.67 Zum Teil wird vertreten, es lasse sich objektiv kaum feststellen, welche der gleichlaufenden Interessen dominiere, da dies maßgeblich von der jeweiligen Perspektive abhänge.68 Weiter kann wohl eine neuere Entscheidung des BGH dahingehend gedeutet werden, dass ein generell strenger Maßstab hinsichtlich der Geschäftsführungsbefugnis des Vorstands anzulegen ist.69 Daher empfehlen Teile der Literatur für den Abschluss einer D&O-Versicherung zumindest die Schaffung eines Zustimmungsvorbehalts des Aufsichtsrats gemäß § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG.70

63 BVerfG v. 27.12.1991 – 2 BvR 72/90, StuW 1992, 186. 64 Möhrle, Gesellschaftsrechtliche Probleme der D&O-Versicherung, Jur. Diss. 2007, S. 180 f. 65 Vgl. Pammler, Die gesellschaftsfinanzierte D&O-Versicherung im Spannungsfeld des Ak­ tienrechts, Jur. Diss. 2006, S. 117. 66 Happ/Ludwig in Happ/Groß/Möhrle/Vetter, Aktienrecht, Muster 8.01 Rz. 22.1 f. 67 Fassbach/Wettich, GWR 2016, 199, 200; vgl. Lüneborg/Resch, AG 2017, 691, 693; vgl. Armbrüster, NJW 2016, 897, 900. 68 Hemeling, FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 491, 492. 69 Vgl. BGH v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, NJW-RR 2015, 988, 990. 70 Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 93 AktG Rz. 58a; Krieger/Sailer in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 56; Krieger in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, § 3 Rz. 3.58.

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Wilhelm Happ und Frauke Möhrle

Nach dem Schrifttum, das zur Begründung auf Ziff. 3.3 DCGK verweist, trifft den Aufsichtsrat sogar die Pflicht, Geschäfte von grundlegender Bedeutung in den Zustimmungskatalog aufzunehmen.71 Davon zu unterscheiden sind Maßnahmen des Vorstands, für die der Aufsichtsrat einen Zustimmungsvorbehalt aufnehmen darf, aber nicht muss.72 In dem Fall, dass dem Aufsichtsrat ein Ermessensspielraum verbleibt, darf er nur bedeutsame Geschäfte, die über den gewöhnlichen Geschäftsbetrieb hinausgehen, seiner Zustimmung unterwerfen. Jedoch hat der Aufsichtsrat bei der Festsetzung des Katalogs zu berücksichtigen, dass der Vorstand in der Lage bleiben muss, die Gesellschaft selbstständig und eigenverantwortlich zu führen. Die Zustimmungspflicht des Aufsichtsrats darf folglich im Einzelnen nicht mit der Leitungsautonomie des Vorstands kollidieren.73 Angesichts der hier vertretenen Ansicht, die die Zuständigkeit des Versicherungsabschlusses im Außenverhältnis beim Vorstand sieht, empfiehlt es sich aus der Perspektive des Aufsichtsrats deshalb, einen entsprechenden Zustimmungsvorbehalt in die Geschäftsordnung des Vorstands aufzunehmen,74 um einer Pflichtverletzung durch eine für die Gesellschaft unangemessene, für ihn aber günstige Ausgestaltung des Versicherungsvertrags vorzubeugen. Ein derartiger Eingriff in die Leitungsautonomie des Vorstands erscheint angesichts der Bedeutung einer D&O-Versicherung für die Gesellschaft einerseits und mögliche Interessenkonflikte des Vorstands andererseits angemessen und gerechtfertigt. Eine Pflicht des Aufsichtsrats zur Aufnahme eines diesbezüglichen Zustimmungsvorbehalts lässt sich allerdings nicht erkennen. Der Aufsichtsrat sollte aber trotz der Zuständigkeit des Vorstands im Außenverhältnis fortlaufend über den Status der Versicherungsverträge hinsichtlich der Vorstandsmitglieder sowie des eigenen Deckungsschutzes informiert sein, sodass er in die Lage versetzt wird, im Rahmen seiner Überwachungsaufgabe die D&O-Deckung für Haftungsrisiken regelmäßig zu kontrollieren.75 Denkbar ist es für den Aufsichtsrat dann, einen entsprechenden Zustimmungsvorbehalt auch ad-hoc zu beschließen.76 4. Wer ist für die Entscheidung über den Zukauf von Schadensnachmelde­ fristen zuständig? Nicht eindeutig erscheint, wer für die Entscheidung über den Zukauf von Schadensnachmeldefristen intern zuständig ist. D&O-Policen sehen teilweise die Möglichkeit vor, bei Vertragskündigung zusätzliche (Schadens-)Nachmeldefristen gegen Zahlung einer Zusatzprämie zuzukaufen.77 Es handelt sich dabei im Ergebnis um eine Verlänge71 Bosse, DB 2002, 1592, 1594; Götz, NZG 2002, 599, 602 f.; Grooterhorst, NZG 2011, 921, 922; Habersack in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2008, § 111 AktG Rz. 107; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl. 2014, Rz. 115. 72 Fleischer, BB 2013, 835, 840 ff. 73 Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 111 AktG Rz. 42. 74 Happ/Ludwig in Happ/Groß/Möhrle/Vetter, Aktienrecht, Muster 8.01 Rz. 22.7. 75 Lüneborg/Resch, AG 2017, 691, 693. 76 BGH v. 15.11.1993 – II ZR 235/92, NJW 1994, 520, 524; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl. 2014, Rz. 115. 77 Dazu auch Leuering/Rubner, NJW-Spezial 2016, 143, 144.

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D&O-Versicherung und Aktienrecht

rung der Anspruchserhebungsfrist. 78 Die Zuständigkeit für die Vertretung der Gesellschaft korreliert insoweit mit der für den Abschluss der D&O-Versicherung. Danach ist nach der hier vertretenen herrschenden Auffassung dafür der Vorstand zuständig. In Rechtsprechung und Literatur aber noch nicht vertieft behandelt ist die Frage, ob der Vorstand bei der Entscheidung über den Zukauf von Schadensnachmeldefristen den Aufsichtsrat einbinden muss oder sollte. Auf den ersten Blick erscheint es konsequent, auch für diesen Fall dem Vorstand die alleinige Kompetenz zuzusprechen. Es ist jedoch zu bedenken, dass bei dieser Entscheidung Erwägungen eine Rolle spielen können, für die allein der Aufsichtsrat zuständig ist. Dies ist etwa der Fall, wenn der Aufsichtsrat bereits Untersuchungen zu möglichen Pflichtverletzungen von Vorstandsmitgliedern durchführt, mangels eindeutiger Untersuchungsergebnisse bzw. aufgrund einer nicht abgeschlossenen Untersuchung eine einen Versicherungsfall auslösende Anspruchserhebung aber noch nicht möglich ist. Da die Verfolgung von Ersatzansprüchen gegen Vorstandsmitglieder zu den Aufgaben des Aufsichtsrats gehört, 79 muss sich dieser selbst mit Fragen des Haftungszeitraums und damit verbunden mit der Entscheidung über den Zukauf von Schadensnachmeldefristen befassen, wenn und soweit diese auch für die in Frage stehende Vorstandshaftung eingreifen. Der Vorstand ist in der Regel nicht umfassend über den Stand derartiger Untersuchungen des Aufsichtsrats informiert und könnte bei einer alleinigen Entscheidung dem Interessekonflikt ausgesetzt sein, dass er bei bevorstehendem Vertragsende angesichts möglicher Pflichtverletzungen durch die Vorstandsmitglieder selbst, ohne Berücksichtigung negativer Auswirkungen für die Gesellschaft, Schadensnachmeldefristen zukauft, um sich selbst einen optimalen Versicherungsschutz zu gewährleisten.80 Für die Einbeziehung des Aufsichtsrats in die Entscheidung über den Zukauf von Schadensnachmeldefristen spricht daher auch, dass der Vorstand im Rahmen seines Geschäftsleiterermessens nach der Business Judgment Rule (BJR), unternehmerische Entscheidungen auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu treffen hat und zwar frei von Sonderinteressen und Interessenkonflikten. Nach der BJR besteht die Pflicht des Vorstands zur gründlichen Entscheidungsvorbereitung sowie sachgerechten Risikoabschätzung.81 Es reicht jedoch aus, wenn der Vorstand bloß vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Informationen zu handeln.82 Dadurch verbleibt ihm zwar ein erheblicher Beurteilungsspielraum, dennoch erscheint es zumindest möglich, dass der Vorstand seine Sorgfaltspflicht aus der BJR verletzt, wenn er die Entscheidung über den Zukauf von Schadensnachmeldefristen trifft, ohne umfassende Informationen des Aufsichtsrats einzuholen.

78 Lüneborg/Resch, AG 2017, 696; Beckmann in Beckmann/Matusche-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch, 3. Aufl. 2015, § 28 Rz. 111 f. 79 BGH v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, NJW 1997, 1926 ff. 80 Lüneborg/Resch, AG 2017, 691, 696. 81 Fleischer in Spindler/Stilz, 3. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 59, 70-72. 82 Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 93 AktG Rz. 35; Krieger/Sailer-Coceani in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 17.

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Wilhelm Happ und Frauke Möhrle

Um mögliche Interessenkonflikte und eventuelle Sorgfaltspflichtverletzungen zu vermeiden sollte der Vorstand daher den Aufsichtsrat umfassend in die Entscheidung über den Zukauf von Schadensnachmeldefristen einbinden. Insoweit bietet es sich an, auch diese Entscheidung ausdrücklich dem Zustimmungsvorbehalt des Aufsichtsrats zu unterwerfen, indem diese in die Geschäftsordnung aufgenommen wird (s. dazu oben III. 3.). 5. Wer ist für die Anzeige des Versicherungsfalls und die Abgabe von Umstandsmeldungen zuständig? Unverzüglich nach einer Inanspruchnahme eines Vorstandsmitglieds ist diese dem D&O-Versicherer gegenüber anzuzeigen. Diese Pflicht obliegt sowohl der Gesellschaft als Versicherungsnehmerin (§ 30 Abs. 1 Satz 1 VVG) als auch der versicherten Person (§ 30 Abs. 1 Satz 2 VVG). Für die Anzeige des Versicherungsfalls gegenüber der D&O-Versicherung ist der Vorstand gemäß § 78 Abs. 1 AktG zuständig, da dieser die Gesellschaft nach außen vertritt. Dies gilt auch bei einer Inanspruchnahme durch die Gesellschaft, vertreten gemäß § 112 AktG durch den Aufsichtsrat, denn bei der Anzeige handelt es sich nicht um eine Vertretung der Gesellschaft gegenüber Vorstandsmitgliedern. Bisher nicht mit Sicherheit beantwortet ist aber die Frage, wer gesellschaftsintern für die Entscheidung über die Abgabe einer Umstandsmeldung zuständig ist. In einigen D&O-Policen wird das Recht83 eingeräumt, Umstände anzuzeigen, wenn eine Pflichtverletzung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht,84 wie z.B. die Entlastungsverweigerung oder die Abberufung des Organmitglieds. Die Abgabe einer Umstandsmeldung hat üblicherweise zur Folge, dass ein eintretender Versicherungsfall ungeachtet des Zeitpunkts der Anspruchserhebung fiktiv in die Versicherungsperiode zurückverlagert wird, in der die Umstandsmeldung abgegeben wurde. Selbst im Fall einer Kündigung des D&O-Versicherungsvertrags, auf die das Organmitglied insbesondere im Fall seines Ausscheidens keinen Einfluss hat, gilt dadurch der Versicherungsfall als während der Laufzeit des Vertrags als eingetreten.85 Zur Abgabe einer Umstandsmeldung gegenüber der D&O-Versicherung ist ebenso wie bei der Anzeige des Versicherungsfalls der Vorstand §  78 Abs.  1 AktG vertretungsbefugt.86 Teilweise wird allerdings vertreten, dass gesellschaftsintern hinsichtlich der Zuständigkeit über diese Entscheidung zur Umstandsmeldung dieselben Regeln zu gelten haben, wie für die Anspruchserhebung. 87 Danach wäre der Aufsichtsrat 83 Dazu der Vorschlag, die Umstandsmeldung als Obliegenheit auszugestalten, vgl. Lange, r+s 2006, 177, 181 f. 84 Lange in Veith/Gräfe/Gebert, Der Versicherungsprozess, 3. Aufl. 2016, § 21 Rz. 105; vgl. Beckmann in Beckmann/Matusche-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch, 3.  Aufl. 2015, § 28 Rz. 114b f. 85 Lüneborg/Resch, AG 2017, 691, 697. 86 Lüneborg/Resch, AG 2017, 691, 699 87 Lange, D&O-Versicherung und Managerhaftung, 2014, § 9 Rz. 93; Graf von Westphalen, VersR 2011, 145, 153; vgl. Lange in Veith/Gräfe/Gebert, Der Versicherungsprozess, 3. Aufl. 2016, § 21 Rz. 105.

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D&O-Versicherung und Aktienrecht

für die Entscheidung über Umstandsmeldungen zuständig, wenn Umstände zur Innenhaftung des Vorstands betroffen sind. Ein wesentlicher Unterschied zwischen der Anspruchserhebung und der Umstandsmeldung besteht allerdings darin, dass durch letztgenannte gerade kein Versicherungsfall ausgelöst wird.88 Die aktienrechtliche Kompetenzregelung lässt sich daher nicht ohne weiteres unmittelbar übertragen. In der Praxis fließen zahlreiche Erwägungen, wie beispielsweise der Verhandlungsstand mit den Versicherern über die Vertragsverlängerung, in die Entscheidung über die Abgabe einer Umstandsmeldung ein und der Aufsichtsrat ist insoweit im Gegensatz zum Vorstand allenfalls am Rande in derartige Erwägungen eingebunden. Da der Aufsichtsrat insbesondere bei Innenhaftungsfällen des Vorstandes, aber auch in den seltenen Fällen einer Außenhaftung, im Rahmen seiner Überwachungsfunktion oftmals über relevante Informationen hinsichtlich eventueller Pflichtverletzungen verfügt, muss ihm stets die Möglichkeit gegeben werden, sich an der Abgabe der Umstandsmeldung zu beteiligen. Dafür spricht insbesondere, dass Vorstandsmitglieder angesichts möglicher eigener Pflichtverletzungen in der Entscheidung über die Abgabe einer Umstandsmeldung in einen Interessenkonflikt geraten. Denn sie wollen zwar durch die Umstandsmeldung einen möglichst umfangreichen D&O-Deckungsschutz erreichen, könnten sich aber durch die eigene namentliche Nennung und Beschreibung ihrer Pflichtverletzung selbst belasten. Aus diesem Grund könnten einige Vorstandsmitglieder dies als eine Art „Vorverurteilung“ wahrnehmen und so dazu verleitet werden, ihre eigene Belastung zu umgehen.89 Deshalb ist es auch angesichts der BJR notwendig, dass der Aufsichtsrat ebenfalls in die Entscheidung über die Abgabe einer Umstandsmeldung einbezogen wird. Dafür bietet sich wiederum ein Zustimmungsvorbehalt des Aufsichtsrats, aufgenommen in die Geschäftsordnung, an (dazu s. oben III. 3.).

Resümee Die vorstehenden Erörterungen zum Problembereich „D&O-Versicherung und Ak­ tienrecht“ zeigen, dass trotz mancher Übereinstimmungen und überwiegender Mehrheiten im Schrifttum vieles noch ungeklärt ist und sich in der Praxis nicht in allen Fragen Einheitlichkeit herausgebildet hat. Auch die weitere Diskussion im Schrifttum wird Fragen offenlassen, solange nicht die Rechtsprechung in wichtigen Punkten Klärung schafft. Die Hoffnung auf derartige Klärung dürfte allerdings gedämpft sein im Hinblick auf die Scheu von Unternehmen und Versicherern, die Streitfragen gerichtlich klären zu lassen und der „stillen“ Erledigung durch Vergleich den Vorzug zu geben.

88 Beckmann in Beckmann/Matusche-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch, 3.  Aufl. 2015, Rz. 114b; Lüneborg/Resch, AG 2017, 691, 698; dagegen Lange, r+s 2006, 177, 180 f.; nunmehr auch von Lange relativiert, der in der Praxis eine bloße Fiktion der Umstandsmeldung anerkennt, vgl. Lange in Veith/Gräfe/Gebert, Der Versicherungsprozess, 3. Aufl. 2016, § 21 Rz. 106. 89 Lüneborg/Resch, AG 2017, 691, 698 f.

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Stephan Harbarth

Beschlussmängel im Recht des Aufsichtsrats der ­Aktiengesellschaft Anmerkungen de lege lata und de lege ferenda Inhaltsübersicht I. Einführung II. Rechtslage de lege lata 1. Position des BGH 2. Meinungsbild im Schrifttum a) Grundsätzliche Nichtigkeit b) Analoge Anwendung der §§ 241 ff. AktG c) Vermittelnde Ansicht d) Stellungnahme III. Überlegungen de lege ferenda 1. Vorzüge eines Anfechtungsmodells

2. Ausgestaltung eines Anfechtungsmodells a) Parallele Behandlung von Haupt­ versammlungs- und Aufsichtsrats­ beschlüssen? b) Nichtigkeit und Anfechtbarkeit als zweigleisiger Reaktionsmechanismus c) Rechtsfolge der Anfechtbarkeit d) Antragsbefugnis e) Anfechtungsfrist IV. Fazit

I. Einführung Das Beschlussmängelrecht gehört derzeit jedenfalls de lege ferenda zu den meistdis­ kutierten Bereichen des Gesellschaftsrechts. Seinen Niederschlag fand dieser Befund nicht zuletzt in der Themensetzung und den Diskussionen der Abteilung Wirtschaftsrecht des 72. Deutschen Juristentages in Leipzig im Jahr 2018.1 Dies gilt unbeschadet der durch UMAG und ARUG herbeigeführten Verbesserungen des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts,2 um die sich Ulrich Seibert ebenso verdient gemacht hat wie um die Fortentwicklung und Modernisierung des deutschen Gesellschaftsrechts insgesamt. Dass die Diskussion um das „richtige“ Beschlussmängelrecht kaum jemals einen Endpunkt erreichen wird, ist auf das von Wolfgang Zöllner beschriebene Dilemma zurückzuführen, dass es mit Blick auf die Anfechtungsklage ein niemals vollkommen lösbares Problem sei, „den Mißbrauch dieser Waffe zu verhindern, ohne das Schwert selbst allzu stumpf zu machen“.3

1 S. dazu insbesondere Koch, Gutachten F zum 72. DJT. 2 S. dazu Bayer/Möller, NZG 2018, 801, 803; Seibert/Florstedt, ZIP 2008, 2145 ff. 3 Zöllner, Die Schranken mitgliedschaftlicher Stimmrechtsmacht bei den privatrechtlichen Personenverbänden, 1963, S. 391.

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Stephan Harbarth

Wird vom aktienrechtlichen Beschlussmängelrecht gesprochen, wird zumeist in erster Linie das Recht der Hauptversammlungsbeschlüsse gemeint, nicht das Recht der Beschlüsse der übrigen Organe. Hiervon abweichend will sich der folgende Beitrag der Problematik des Umgangs mit fehlerhaften Aufsichtsratsbeschlüssen zuwenden, die freilich nur einen (besonders wichtigen) Teilbereich der Gesamtproblematik fehlerhafter Organbeschlüsse darstellen.

II. Rechtslage de lege lata Im Rahmen der näheren Betrachtung der Rechtslage de lege lata soll im Folgenden zunächst auf die Position des BGH (dazu 1.), sodann auf das Meinungsbild im Schrifttum (dazu 2.) eingegangen werden. 1. Position des BGH In einer Grundsatzentscheidung aus dem Jahr 1993 hat sich der BGH gegen die von Teilen der Lehre4 befürwortete analoge Anwendung der §§ 241 ff. AktG entschieden und auf die allgemeine Feststellungsklage nach § 256 ZPO verwiesen.5 Verstoßen Aufsichtsratsbeschlüsse in verfahrensrechtlicher oder inhaltlicher Hinsicht gegen zwingendes Gesetzes- oder Satzungsrecht, sind sie nichtig.6 In der Begründung dieser Entscheidung setzte sich der BGH eingehend mit der die analoge Anwendung der §§ 241 ff. AktG befürwortenden Literaturansicht – der sich auch das Berufungsgericht angeschlossen hatte7 – auseinander und stellte insbesondere die unterschiedlichen Interessenlagen im Rahmen von Aufsichtsrats- und Hauptversammlungsbeschlüssen heraus (s. dazu unter III.1.).8 Zudem äußerte er die Befürchtung, dass eine analoge Anwendung der Monatsfrist des § 246 Abs. 1 AktG das an der Rechtmäßigkeit des Beschlusses zweifelnde Aufsichtsratsmitglied dazu dränge, interne Meinungsdifferenzen verfrüht durch Klageerhebung in die Öffentlichkeit zu tragen, statt den internen Weg der Verständigung zu beschreiten.9 Dem vom Berufungsgericht vorgetragenen Argument der größeren Rechtssicherheit10 hielt der BGH die auch bei der Anfechtungsklage – namentlich durch die Rechtsfolge der rückwirkenden Beschlusskassation – bestehende Rechtsunsicherheit entgegen.11

4 Aus der Zeit vor der Grundsatzentscheidung des BGH sind insbesondere zu nennen Axhausen, Anfechtbarkeit aktienrechtlicher Aufsichtsratsbeschlüsse, 1986, S. 113 ff., 157 ff.; Baums, ZGR 1983, 300, 305 ff.; Radtke, BB 1960, 1045, 1048. 5 BGH NJW 1993, 2307. 6 BGH NJW 1993, 2307, 2309; ebenso in jüngerer Vergangenheit OLG München ZIP 2017, 372, 373. 7 OLG Hamburg AG 1992, 197. 8 BGH NJW 1993, 2307, 2308 f. 9 BGH NJW 1993, 2307, 2309. 10 Vgl. OLG Hamburg AG 1992, 197, 198. 11 BGH NJW 1993, 2307, 2308 f.

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Gleichwohl erkannte der BGH das Bedürfnis, die Nichtigkeitsfolge aus Gründen der  Rechtssicherheit  – jedenfalls in Fällen einer Geltendmachung minderschwerer Mängel – zurückzudrängen.12 Als Instrumente hierfür nannte er die mit Blick auf das Rechtsschutzinteresse erfolgende Einschränkung des zur Geltendmachung der Nichtigkeit berechtigten Personenkreises und das an die Umstände des Einzelfalls angepasste Institut der Verwirkung.13 Zusätzlich griff der BGH das Argument der „all­ seitigen Gestaltungswirkung“14 des §  248 AktG auf und betonte, dass das bei der Feststellungsklage ergehende Urteil von dem „in Betracht kommenden Personenkreis (§  245 AktG) im allgemeinen“ akzeptiert werde und im Falle der Feststellung der Nichtigkeit eine der Regelung des § 248 AktG „ganz ähnliche Rechtskraftwirkung innerhalb des Vereins“ entfalte.15 Während in der Folgezeit die Eingrenzung des mit Feststellungsinteresse ausgestatteten Personenkreises durch die Rechtsprechung weiter vorangetrieben wurde,16 unterblieb eine genauere Konturierung des Anwendungsbereichs des Instituts der Verwirkung weitgehend.17 2. Meinungsbild im Schrifttum Das Meinungsbild innerhalb der Literatur ist uneinheitlich. Während der wohl überwiegende Teil im Einklang mit der Rechtsprechung eine analoge Anwendung der §§  241  ff. AktG auf Aufsichtsratsbeschlüsse ablehnt,18 befürwortet ein anderer Teil eine analoge (Einzel- bzw. Teil-)Anwendung der §§ 241 ff. AktG und spricht sich für eine Differenzierung zwischen nichtigen und anfechtbaren Aufsichtsratsbeschlüssen aus.19 Im Einzelnen: a) Grundsätzliche Nichtigkeit Die wohl überwiegende Ansicht lehnt eine analoge Anwendung der §§ 241 ff. AktG ab und wendet gegen eine solche ein, dass eine Übertragung der speziell für die 12 BGH NJW 1993, 2307, 2309. 13 BGH NJW 1993, 2307, 2309. 14 Baums, ZGR 1983, 300, 307. 15 BGH NJW 1993, 2307, 2309. 16 Zum Feststellungsinteresse der Aufsichtsratsmitglieder s. etwa BGH ZIP 1997, 883; BGH AG 2012, 677, 678; zum Feststellungsinteresse der Aktionäre s. etwa BGH NJW 2006, 374; OLG Frankfurt/M. ZIP 2007, 72, 74; OLG Frankfurt/M. AG 2011, 631, 633. 17 Vgl. hierzu OLG Düsseldorf AG 1995, 416; OLG Zweibrücken AG 2011, 304, 305; für Vereinsmaßnahmen OLG Hamm NJW-RR 1997, 989. 18 So etwa Drygala in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 108 Rz. 37; Habersack in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, § 108 Rz. 73 ff.; Spindler in Spindler/Stilz, AktG, 3. Aufl. 2015, § 108 Rz. 77; Tomasic in Grigoleit, AktG, 1. Aufl. 2013, § 108 Rz. 38. 19 Axhausen, Anfechtbarkeit aktienrechtlicher Aufsichtsratsbeschlüsse, 1986, S. 113 ff. sowie 157 ff.; Baums, ZGR 1983, 300, 305 ff.; Radtke, BB 1960, 1045, 1046 ff.; Schwab, Das Prozeßrecht gesellschaftsinterner Streitigkeiten, 2005, S. 566 ff.; zu den „jüngeren“ Tendenzen dieser Ansicht s. Fn. 44.

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Hauptversammlung entwickelten Vorschriften auf fehlerhafte Aufsichtsratsbeschlüsse aufgrund unterschiedlicher Sach- und Interessenlagen bei den Beschlussfassungen der beiden Organe ausscheide.20 Gründe dafür seien vor allem der im Vergleich zur Hauptversammlung deutlich engere personelle Kreis bei der Beschlussfassung und die vornehmlich auf interne Wirkung ausgerichtete Arbeit des Aufsichtsrats.21 Ein fehlerhafter Aufsichtsratsbeschluss ist nach dieser Ansicht grundsätzlich nichtig22 und die Mangelhaftigkeit über die allgemeine Feststellungsklage gemäß § 256 ZPO gerichtlich geltend zu machen.23 Jedoch erkennt auch diese sich für die grundsätzliche Nichtigkeit fehlerhafter Aufsichtsratsbeschlüsse aussprechende Literaturansicht – auch insoweit der Rechtsprechung folgend24 – das dem Anliegen der Rechtssicherheit geschuldete Bedürfnis nach einer Zurückdrängung der Nichtigkeitsfolge.25 Dabei werden verschiedene dogmatische Ansätze – auch kumulativ – herangezogen, um das strikte Nichtigkeitsdogma einzuhegen. Vor allem Art und Bedeutung des Beschlussfehlers dienen dabei als Gradmesser.26 So werden Inhaltsmängel von der überwiegenden Meinung uneingeschränkt als Nichtigkeitsgründe behandelt,27 während bei Verfahrensfehlern auf die Schwere und Relevanz des Fehlers für die Beschlussfassung abgestellt wird.28 Bei ­weniger schweren Verfahrensfehlern – zu welchen insbesondere Verstöße gegen „verzichtbare, d.h. der Sicherung der Teilhaberechte des einzelnen Aufsichtsratsmitglieds dienende Verfahrensvorschriften“29 gezählt werden – wird eine Rügeobliegenheit des Aufsichtsratsmitglieds angenommen, die für den Fall des verspäteten Tätigwerdens zur Verwirkung (§  242 BGB) des Rechts der Feststellung der Nichtigkeit des Aufsichtsratsbeschlusses führt.30 Ordnungsverstöße hingegen führen nach ganz überwiegender Auffassung grundsätzlich nicht zur Nichtigkeit des Beschlusses.31 Zudem wird zwischen der gesamten Beschlussfassung und der einzelnen Stimmabgabe differen20 Drygala in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3.  Aufl. 2015, §  108 Rz.  37; Habersack in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, § 108 Rz. 81; Spindler in Spindler/Stilz, AktG, 3. Aufl. 2015, § 108 Rz. 77; Tomasic in Grigoleit, AktG, 1. Aufl. 2013, § 108 Rz. 38. 21 Tomasic in Grigoleit, AktG, 1. Aufl. 2013, § 108 Rz. 38. 22 Für viele Habersack in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, § 108 Rz. 73. 23 Für viele Spindler in Spindler/Stilz, AktG, 3. Aufl. 2015, § 108 Rz. 77 f. 24 Vgl. BGH NJW 1993, 2307, 2309. 25 S. etwa Habersack in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, § 108 Rz. 82 f.; Tomasic in Grigoleit, AktG, 1. Aufl. 2013, § 108 Rz. 38 ff. 26 Vgl. Drygala in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 108 Rz. 37 ff. 27 Drygala in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3.  Aufl. 2015, §  108 Rz.  39; Habersack in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, § 108 Rz. 80; Spindler in Spindler/Stilz, AktG, 3. Aufl. 2015, § 108 Rz. 74. 28 S. etwa Habersack in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, § 108 Rz. 76 ff.; Spindler in Spindler/Stilz, AktG, 3. Aufl. 2015, § 108 Rz. 72 f. 29 Habersack in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, § 108 Rz. 82. 30 Vgl. dazu Drygala in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 108 Rz. 43; Habersack in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, § 108 Rz. 81 ff.; Spindler in Spindler/Stilz, AktG, 3. Aufl. 2015, § 108 Rz. 82; Tomasic in Grigoleit, AktG, 1. Aufl. 2013, § 108 Rz. 38 und 40. 31 S.  etwa Drygala in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3.  Aufl. 2015, §  108 Rz.  38; Habersack in Münch­Komm. AktG, 4. Aufl. 2014, § 108 Rz. 79.

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ziert.32 Zwar wird auch letztere dem allgemeinen Nichtigkeitsdogma unterworfen, ihre Tragweite wird jedoch durch Kausalitäts- und Relevanzüberlegungen eingeschränkt. So wirkt sich nach überwiegender Ansicht die Fehlerhaftigkeit und somit grundsätzliche Nichtigkeit einer einzelnen Stimmabgabe auf das Gesamtergebnis der Beschlussfassung nur dann aus, wenn sie ergebnisrelevant war.33 Flankiert wird diese die Nichtigkeit einschränkende Handhabung durch eine Eingrenzung des zur Geltendmachung der Nichtigkeit berechtigten Personenkreises.34 Das im Rahmen der allgemeinen Feststellungsklage maßgebliche Feststellungsinte­ resse wird regelmäßig auf Aufsichtsratsmitglieder und Vorstandsmitglieder beschränkt, während Aktionären ein solches Feststellungsinteresse grundsätzlich nicht zugebilligt wird.35 b) Analoge Anwendung der §§ 241 ff. AktG Insbesondere in der Zeit vor der Grundsatzentscheidung des BGH aus dem Jahr 1993 finden sich in der Literatur Stimmen, die sich auch bei fehlerhaften Aufsichtsratsbeschlüssen für eine Differenzierung zwischen nichtigen und anfechtbaren Beschlüssen aussprechen und auf eine analoge Anwendung der §§ 241 ff. AktG verweisen.36 Gegen die Handhabung der Rechtsprechung und der überwiegenden Literaturansicht wird insbesondere eingewandt, dass durch die grundsätzlich uneingeschränkte Nichtigkeitsfolge fehlerhafter Beschlüsse eine erhebliche Rechtsunsicherheit bestehe.37 Auch der Versuch der Eindämmung der grundsätzlich uneingeschränkten Nichtigkeitsfolge über das Instrument der Verwirkung lasse einen „derartig großen Beurteilungsspielraum zu, daß eindeutige Abgrenzungen nur im Einzelfall und durch ein gerichtliches Verfahren zu erreichen“38 seien; dies tauge nicht zur Schaffung von Rechtssicherheit. Da dem Gesellschaftsrecht ein solches Bedürfnis nach Rechtssicherheit jedoch in erhöhtem Maße zu eigen sei, sei eine Anwendung der bürgerlich-rechtlichen Nichtigkeitsnormen im Fall fehlerhafter Aufsichtsratsbeschlüsse abzulehnen.39 Zur Differenzierung, wann ein nichtiger und wann ein lediglich anfechtbarer Aufsichtsratsbeschluss vorliege, solle auf den Telos der verletzten Vorschrift abgestellt werden.40 In den ­Fällen, in denen die Wahrung des Schutzzwecks der durch die Beschlussfassung ver32 Für viele Habersack in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, § 108 Rz. 74. 33 Vgl. etwa Habersack in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, § 108 Rz. 74; Schütz in Semler/v. Schenck, Der Aufsichtsrat, 1.  Aufl. 2015, §  108 AktG Rz.  228; Spindler in Spindler/Stilz, AktG, 3. Aufl. 2015, § 108 Rz. 70. 34 Vgl. Habersack in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, § 108 Rz. 82 und 85. 35 Dazu ausführlich Habersack in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, § 108 Rz. 85; Spindler in Spindler/Stilz, AktG, 3. Aufl. 2015, § 108 Rz. 79. 36 Axhausen, Anfechtbarkeit aktienrechtlicher Aufsichtsratsbeschlüsse, 1986, S. 113 ff., 157 ff.; Baums, ZGR 1983, 300, 305 ff.; Radtke, BB 1960, 1045, 1047 f.; in jüngerer Zeit Schwab, Das Prozeßrecht gesellschaftsinterner Streitigkeiten, 2005, S. 566 ff. 37 So etwa Radtke, BB 1960, 1045, 1046. 38 Radtke, BB 1960, 1045, 1046. 39 Radtke, BB 1960, 1045, 1048. 40 Baums, ZGR 1983, 300, 337.

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letzten Vorschrift durch die disponible Geltendmachung des eingeschränkten anfechtungsberechtigten Personenkreises nicht hinreichend gewährleistet ist, liege Nich­ tigkeit vor.41 Umgekehrt sei Anfechtbarkeit gegeben, wenn „nach dem Zweck der verletzten Vorschrift den anfechtungsbefugten Personen überlassen bleiben kann, den Mangel geltend zu machen […]“.42 c) Vermittelnde Ansicht In jüngerer Zeit findet sich zudem eine vermittelnde Ansicht, die das Argument der unterschiedlichen Sach- und Interessenlage bei Hauptversammlungs- und Aufsichtsratsbeschlüssen der wohl überwiegenden Ansicht43 aufgreift und sich de lege lata zwar gegen eine pauschale Anwendung der §§ 241 ff. AktG ausspricht, jedoch die Anwendung von „Einzel- oder Teilanalogien“ von Vorschriften des Beschlussmängelrechts der Hauptversammlung befürwortet.44 Während sich dabei einige für die grundsätzliche Differenzierung zwischen nichtigen und anfechtbaren bzw. lediglich „vernichtbaren“ Beschlussfehlern aussprechen,45 gehen andere Vertreter dieser Ansicht von der grundsätzlichen Nichtigkeitsfolge aus und suchen diese zusätzlich mithilfe der Anwendung von Einzel- oder Teilanalogien der §§ 241 ff. AktG zu beschränken.46 d) Stellungnahme Auch wenn sich die Ansichten – gerade mit Blick auf die prozessuale Ausgestaltung – in grundsätzlichen Zügen unterscheiden, so kann dennoch das gemeinsame Bestreben konstatiert werden, die Rechtssicherheit zu fördern und aus diesem Grund die Nichtigkeitsfolge zurückzudrängen.47 Der dabei eingeschlagene Weg unterscheidet sich freilich.48 Keiner der verfolgten Ansätze vermag jedenfalls aus rechtspolitischer Perspektive zu überzeugen. Die dargestellten Versuche der Rechtsprechung, ausgehend vom Nichtigkeitsdogma überschießende Konsequenzen namentlich durch das Institut der Verwirkung und die restriktive Interpretation des Feststellungsinteresses im Rahmen von § 256 ZPO einzuhegen, sind angesichts der beachtlichen Unschärfen, die dem Institut der Verwirkung und dem Begriff des Feststellungsinteresses innewohnen, insbe­ sondere unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit rechtspolitisch kaum als gelungene Lösung anzusehen. Auch die Versuche, das Recht der Beschlussmängel im 41 Baums, ZGR 1983, 300, 337. 42 Baums, ZGR 1983, 300, 337. 43 Vgl. dazu bereits Fn. 20. 44 So etwa Ehmann in Grigoleit, AktG, 1. Aufl. 2013, § 241 Rz. 4; Fleischer, DB 2013, 217, 218; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 108 Rz. 29. 45 So etwa Ehmann in Grigoleit, AktG, 1.  Aufl. 2013, §  241 Rz.  4; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2013, § 108 Rz. 101 f. 46 So etwa Fleischer, DB 2013, 217 ff.; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 108 Rz. 29. 47 So bereits Fleischer, DB 2013, 217. 48 So heißt es exemplarisch bei Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 108 Rz. 29: „Die Zielsetzung der abgelehnten Meinung bleibt also richtig; verfehlt ist Analogie zu §§ 243 ff. als Mittel.“

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Aufsichtsrat durch (gegebenenfalls partielle) analoge Anwendung des Beschlussmängelrechts der Hauptversammlung zu bewältigen, sind – jenseits der Reformbedürf­ tigkeit des Beschlussmängelrechts der Hauptversammlung selbst – angesichts der unterschiedlichen Interessenlagen bei Hauptversammlungsbeschlüssen einerseits und Aufsichtsratsbeschlüssen andererseits allenfalls in Teilbereichen aussichtsreich. Mit Blick auf den insoweit zu konstatierenden „chronischen Normenmangel“49 sind die von den verschiedenen Auffassungen de lege lata verfolgten Ansätze zwar nachvollziehbar, aber weit davon entfernt, als auch rechtspolitisch befriedigende Lösung der Problematik eingestuft werden zu können. De lege ferenda ist es vielmehr angezeigt, im Rahmen der ohnehin gebotenen Reform des Beschlussmängelrechts der Hauptversammlung50 auch das Recht der Beschlussmängel des Aufsichtsrats zu reformieren und einer eigenständigen gesetzlichen Regelung zuzuführen.51 Dabei empfiehlt es sich, die aus dem kodifizierten Beschlussmängelrecht der Hauptversammlung gezogenen Lehren zu berücksichtigen und dort, wo die Interessenlagen einen sachgerechten Wertungstransfer zulassen, Überlegungen in die Reformdiskussion des Beschlussmängelrechts des Aufsichtsrats zu übertragen und das zu konzipierende System entsprechend auszurichten. Dort, wo die Interessenlagen rund um die Beschlussfassungen der Hauptversammlung und des Aufsichtsrats Unterschiede aufweisen, muss das Beschlussmängelrecht des Aufsichtsrats indes eigenständig ausgestaltet werden.

III. Überlegungen de lege ferenda Im Rahmen der Überlegungen, wie das Recht mangelhafter Aufsichtsratsbeschlüsse de lege ferenda ausgestaltet werden sollte, soll zunächst auf die Vorzüge eines Anfechtungsmodells (dazu 1.), sodann auf dessen nähere Ausgestaltung (dazu 2.) eingegangen werden. 1. Vorzüge eines Anfechtungsmodells Im Recht der Hauptversammlung sollen nach der Grundidee der §§ 241 ff. AktG gegen Gesetz oder Satzung verstoßende Hauptversammlungsbeschlüsse anfechtbar sein und durch eine Anfechtungsklage gemäß § 246 AktG gerichtlich angegriffen werden können. Bei erfolgreicher (auch fristgemäßer) Klage wird der Beschluss mit Wirkung für und gegen jeden für nichtig erklärt (§ 248 Abs. 1 AktG). Unterbleibt die fristgerechte Klageerhebung, wird der Beschluss bestandskräftig. Ein solches Anfechtungsmodell würde die Rechtssicherheit gegenüber dem vom BGH derzeit auf Aufsichtsratsbeschlüsse angewandten Nichtigkeitsmodell verbessern. Verstreicht die Anfechtungsfrist ohne Klageerhebung, bleibt der Beschluss bei Fehlen eines Nichtigkeitsgrundes dauerhaft wirksam, während die Nichtigkeitsfolge nach der derzeitigen Rechtslage auf der Grundlage der BGH-Rechtsprechung allen49 So treffend Fleischer, DB 2013, 217, 218. 50 Dazu Harbarth, AG 2018, 637, 638 ff. 51 So auch Koch, Gutachten F zum 72. DJT, F 96 f.; rechtspolitischen Handlungsbedarf verneinend Bayer/Möller, NZG 2018, 801, 811.

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falls über das Rechtsinstitut der Verwirkung und die Einschränkung des zur Geltendmachung der Feststellung der Nichtigkeit berechtigten Personenkreises begrenzt wird (dazu bereits unter II.1.). Das Bedürfnis nach einem die Rechtssicherheit fördernden Anfechtungsmodell erscheint auf Ebene des Aufsichtsrats allerdings insgesamt geringer als mit Blick auf die Hauptversammlung. Zwischen der Beschlussfassung beider Gremien bestehen gravierende Unterschiede, einige wenige seien genannt: –– Ein zentrales Charakteristikum gesellschaftsrechtlicher Beschlüsse liegt in den Schwierigkeiten kollektiver Beschlussfassung.52 An der Beschlussfassung der Hauptversammlung sind im Rahmen einer typisierenden Betrachtung indes wesentlich mehr Akteure beteiligt als an einer solchen des Aufsichtsrats. Die Beschlussfassung der Hauptversammlung ist mithin als komplexer und fehleranfälliger anzusehen als jene des Aufsichtsrats. –– Ist ein Hauptversammlungsbeschluss fehlerhaft, ist die Wahrscheinlichkeit, dass er einer gerichtlichen Klärung zugeführt wird, höher als bei einem fehlerhaften Aufsichtsratsbeschluss, weil die Interessenlagen der Aufsichtsratsmitglieder regelmäßig nicht so stark divergieren wie jene der Aktionäre. Die Streitanfälligkeit in der Hauptversammlung ist deutlich größer.53 –– Die rechtlichen Anforderungen an die Beschlussfassung sind in der Hauptversammlung strenger als im Aufsichtsrat. Sind fehlerhafte Informationserteilungen auch unter Berücksichtigung von § 243 Abs. 4 AktG jedenfalls grundsätzlich geeignet, die Anfechtbarkeit und damit die durch ein Gericht anzuordnende Nichtigkeit eines Hauptversammlungsbeschlusses auszulösen, wird man die entsprechende Frage mit Blick auf Aufsichtsratsbeschlüsse mindestens als offen anzusehen haben.54 Fehlerhafte Informationserteilungen werden bei Aufsichtsratsbeschlüssen üblicherweise nicht im Zusammenhang mit der Beurteilung ihrer Wirksamkeit, sondern im Haftungskontext diskutiert. Es ist nämlich anerkannt, dass die Entscheidung auf der Grundlage angemessener Informationen gemäß  §  116 Satz  1 AktG i.V.m. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG eine der Voraussetzungen der Anwendbarkeit der Business Judgement Rule ist.55 Demgegenüber wird die Frage, ob eine fehlerhafte Informationserteilung zur Unwirksamkeit des Aufsichtsratsbeschlusses selbst führt, kaum diskutiert.56 Die Auswirkungen eines solchen Ansatzes im Bereich der Beschlussfassung durch den Aufsichtsrat wären umso gravierender, als insoweit keine einschränkende gesetzliche Regelung im Stil von § 243 Abs. 4 AktG existiert. Eine gewisse Zurückhaltung, etwa aus fehlerhafter Informationserteilung die Un52 Koch, Gutachten F zum 72. DJT, F 104. 53 Vgl. auch BGH NJW 1993, 2307, 2308. 54 Vgl. insoweit Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2013, § 108 Rz. 90 f. 55 Näher dazu Hüffer/Koch, AktG, 13.  Aufl. 2018, §  93 Rz.  20 und §  116 Rz.  6; Spindler in Spindler/Stilz, AktG, 3. Aufl. 2015, § 116 Rz. 45; im Rahmen von Interessenskonflikten des Vorstands Harbarth in FS Hommelhoff, 2012, S. 323, 326 ff. 56 Vgl. dazu etwa Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2013, § 108 Rz. 90 f.; Spindler in Spindler/Stilz, AktG, 3. Aufl. 2015, § 108 Rz. 71.

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wirksamkeit eines gefassten Aufsichtsratsbeschlusses abzuleiten, mag auch eine Folge des Fehlens eines Anfechtungsmodells bei Aufsichtsratsbeschlüssen und der durchgängigen Anwendung des Nichtigkeitsmodells geschuldet sein. Anders gewendet: Die Einführung eines Anfechtungsmodells auch im Bereich von Aufsichtsratsbeschlüssen könnte unter Umständen dazu führen, perspektivisch auf der Tatbestandsseite strengere Anforderungen an die Fassung von Aufsichtsratsbeschlüssen zu stellen. –– Wird die Nichtigkeit eines Aufsichtsratsbeschlusses erkannt, lässt er sich angesichts der im Vergleich zur Hauptversammlung deutlich reduzierten Formalitäten der Einberufung und Abhaltung einer Aufsichtsratssitzung tendenziell schneller und einfacher durch eine erneute Beschlussfassung „reparieren“ als ein fehlerhafter Hauptversammlungsbeschluss. –– Soweit der BGH zur Unterstützung seiner eine analoge Anwendung der §§ 241 ff. AktG ablehnenden Position darauf hinweist, dass Aufsichtsratsbeschlüsse anders als Hauptversammlungsbeschlüsse nicht des Vertrauens der Öffentlichkeit in ihre Bestandskraft bedürften,57 vermag dies nicht zu überzeugen. Tragender Gesichtspunkt des Anfechtungsmodells im Bereich der Hauptversammlungsbeschlüsse dürfte nicht „das Vertrauen der Öffentlichkeit oder doch jedenfalls einer unbestimmten Vielzahl gegenwärtiger und künftiger Anleger in den Bestand grundlegender, mit erheblicher Außenwirkung und Publizität ausgestatteter Entscheidungen der Gesellschaft“,58 sondern die Sicherstellung der Funktionsfähigkeit der Aktiengesellschaft sein, die auch durch unwirksame Aufsichtsratsbeschlüsse bedroht sein kann (dazu näher sogleich). Auch soweit der BGH argumentiert, bei der Bestellung von Vorstandsmitgliedern gehe es „nicht in erster Linie um das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Bestandskraft der Wahl, sondern vielmehr vor allem um die Begrenzung der Nichtigkeitswirkung für die Zukunft, da die vom Aufsichtsrat bestellten Vorstandsmitglieder auf die Wirksamkeit ihrer Bestellung und ihrer Anstellung müssen vertrauen können“, kann es nicht überzeugen, weshalb das Vertrauen gerade der Aktionäre in die für die Funktionsfähigkeit der Aktiengesellschaft bedeutsame Wirksamkeit von Vorstandsbestellungen hinter das Vertrauen der Vorstandsmitglieder auf die Wirksamkeit ihrer Bestellung und ihrer Anstellung zurücktreten soll. Ungeachtet der Unterschiede zwischen Beschlussmängeln von Hauptversammlung und Aufsichtsrat ist nicht zu leugnen, dass auch unwirksame Aufsichtsratsbeschlüsse gravierende Probleme nach sich ziehen können. Ist etwa die Feststellung des Jahresabschlusses durch den Aufsichtsrat unwirksam, birgt dies die Gefahr schwerwiegender „weiterfressender Fehlerfolgen“59. Hierzu tragen verschiedene Faktoren bei: –– Aufsichtsratsbeschlüsse waren in deutlich geringerem Umfang Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen als Hauptversammlungsbeschlüsse. Die rechtlichen Anforderungen an fehlerfreie Aufsichtsratsbeschlüsse sind deshalb schwerer zu prognostizieren, die Rechtsunsicherheit ist insoweit größer. 57 So BGH NJW 1993, 2307, 2308. 58 So BGH NJW 1993, 2307, 2308. 59 Vgl. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, F 104 (in einem allgemeinen Sinne).

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–– Auch wenn sich Aufsichtsratsbeschlüsse tendenziell schneller und einfacher „reparieren“ lassen, ist dies nicht rückwirkend möglich. Für die Phase bis zur „Reparatur“ verbleibt es mithin bei der Gefahr eines „Weiterfressens“ der in Form der Nichtigkeit des Beschlusses eingetretenen Fehlerfolge. Die Eindämmung des „Weiterfresser“-Effekts kann mit einem nicht unerheblichen Aufwand verbunden sein. –– Der Anteil eintragungsbedürftiger und damit heilbarer Aufsichtsratsbeschlüsse ist deutlich geringer als jener bei Hauptversammlungsbeschlüssen.60 Auch wenn de lege lata die analoge Anwendung der §§ 241 ff. AktG auf fehlerhafte Aufsichtsratsbeschlüsse aufgrund der starren Rechtsfolgenhandhabung und einer unterschiedlichen Interessenlage von Rechtsprechung und Lehre überwiegend abgelehnt wird,61 dürfte vor diesem Hintergrund viel für eine Neuregelung im Sinne der Einführung eines Anfechtungsmodells auch für Aufsichtsratsbeschlüsse sprechen. Wie oben dargestellt besteht auch im Beschlussmängelrecht des Aufsichtsrats ein erhöhtes Bedürfnis nach Bestandskraft und Rechtssicherheit. Als wesentliche Vorteile eines Anfechtungs- gegenüber dem derzeit praktizierten Nichtigkeitsmodell erscheinen daher aus materieller Sicht die Bestandskraft fehlerhafter Beschlüsse bei unterbliebener Klageerhebung und die erga omnes-Wirkung eines etwaigen Urteils. Ein – eigens für Beschlussmängel des Aufsichtsrats neu zu konzipierendes – Anfechtungsmodell ist gegenüber der aktuellen Handhabung der Rechtsprechung und überwiegenden Literaturansicht indes auch gerade mit Blick auf Dogmatik und Stringenz des Nichtigkeitsmodells angezeigt. Dieses wird den vielschichtigen Problemkonstellationen im Zusammenhang mit Beschlussmängeln des Aufsichtsrats nicht gerecht. Wird von der Rechtsprechung und überwiegenden Literaturansicht gegen eine analoge Anwendung der §§ 241 ff. AktG die fehlende übereinstimmende Sachlage mit der Beschlussfassung der Hauptversammlung angeführt,62 so muss man dem grundsätzlich umfassenden Nichtigkeitsdogma und der Feststellungsklage eine fehlende Passgenauigkeit für den Umgang mit Beschlussmängeln des Aufsichtsrats entgegen halten. Diese offenbart sich etwa in dem Rückgriff auf das Rechtsinstitut der Verwirkung oder der nicht ohne weiteres aus dem Gesetz ablesbaren Einschränkung der prozessualen Voraussetzung des Feststellungsinteresses,63 die in Anbetracht der – auch von der Rechtsprechung so wahrgenommenen64  – notwendigen Einschränkung der für das Beschlussmängelrecht des Aufsichtsrats zu weit geratenen umfassenden Nichtigkeit vorgenommen werden müssen. Diesem Vorgehen attestiert Fleischer einen „chronischen Normenmangel“ und fügt dem Befund die treffende Beobachtung an, dass „das dogmatische Gebäude der herrschenden Meinung […] einen unfertigen Eindruck“

60 Vgl. auch Koch, Gutachten F zum 72. DJT, F 103; Radtke, BB 1960, 1045, 1048; den Fall der Heilung einer unwirksamen Vorstandsbestellung betonend demgegenüber BGH NJW 1993, 2307, 2309. 61 S. bereits Fn. 8 und 20. 62 S. dazu bereits Fn. 8 und 20. 63 Ähnlich auch Koch, Gutachten F zum 72. DJT, F 99. 64 Vgl. BGH NJW 1993, 2307, 2309.

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vermittle.65 Dem sei hinzugefügt, dass das „dogmatische Gebäude“ bereits seit der Grundsatzentscheidung des BGH aus dem Jahr 1993 im Wesentlichen unverändert steht und für dessen „Fertigstellung“ ein Ansatz an der „Fassade“ nicht genügt. Vielmehr muss an dem derzeitigen Fundament des Beschlussmängelrechts des Aufsichtsrats, dem Nichtigkeitsdogma und dem prozessualen Weg der allgemeinen Feststellungsklage, angesetzt werden. Ein (im Einzelnen näher zu normierendes) Anfechtungsmodell ist auch für das Beschlussmängelrecht des Aufsichtsrats der richtige Weg. Das aktienrechtliche Beschlussmängelrecht des Aufsichtsrats ist de lege lata sowohl aus materieller als auch aus dogmatischer Perspektive reformbedürftig. Aufgrund der – insbesondere mit Blick auf das Bedürfnis der Rechtssicherheit – aufgezeigten Schwächen des Nichtigkeitsmodells ist die Anwendung eines Anfechtungsmodells vorzugswürdig. Wie oben dargestellt bestehen zwischen der Beschlussfassung der Hauptversammlung und derjenigen des Aufsichtsrats teils wesentliche Unterschiede, weswegen eine geschlossene Übertragung der normierten Vorschriften des Beschlussmängelrechts der Hauptversammlung im Wege einer Gesamtanalogie ausscheidet. Gegenüber der – bereits de lege lata von Teilen der Literatur befürworteten66 – analogen Anwendung von Einzel- oder Teilvorschriften ist der Weg einer Normierung des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts des Aufsichtsrats vorzuziehen.67 2. Ausgestaltung eines Anfechtungsmodells Im Folgenden soll den näheren Konturen eines Anfechtungsmodells nachgegangen werden. Insoweit stellt sich zunächst die Frage, ob Hauptversammlungs- und Aufsichtsratsbeschlüsse parallel behandelt werden sollten (dazu lit. a)). Sodann wird auf Nichtigkeit und Anfechtbarkeit als zweigleisigen Reaktionsmechanismus (dazu lit. b)), die Rechtsfolge der Anfechtbarkeit (dazu lit. c)), die Antragsbefugnis (dazu lit. d)) und die Anfechtungsfrist (dazu lit. e)) eingegangen. a) Parallele Behandlung von Hauptversammlungs- und Aufsichtsrats­ beschlüssen? Die Interessenlagen im Rahmen des Beschlussmängelrechts von Hauptversammlung und Aufsichtsrat weisen inhaltliche Ähnlichkeiten, aber keine durchgängige Paralle­ lität auf (s. dazu bereits III.1.). Angesichts dessen scheidet de lege lata ein schlichter Analogieschluss aus.68 Besonders augenfällig werden die Schwächen eines Analo65 Fleischer, DB 2013, 217, 218. 66 So etwa Ehmann in Grigoleit, AktG, 1. Aufl. 2013, § 241 Rz. 4; Fleischer, DB 2013, 217, 218; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 108 Rz. 29. 67 Ein Normierungsbedürfnis bejahend Fleischer, DB 2013, 217, 223 f.; ebenso jüngst Koch, Gutachten F zum 72. DJT, F 96 f.; rechtspolitischen Handlungsbedarf verneinend Bayer/ Möller, NZG 2018, 801, 811. 68 So bereits Fleischer, DB 2013, 217 f.; ebenso Koch, Gutachten F zum 72. DJT, F 96 unter Hinweis auf eine entsprechende internationale Tendenz.

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gieschlusses mit Blick auf die Frage der Anfechtungsbefugnis.69 Entsprechendes gilt im Fall einer Normierung des Beschlussmängelrechts des Aufsichtsrats. Scheiden de lege lata eine Gesamtanalogie und de lege ferenda eine Gesamtübernahme der Vorschriften zum Beschlussmängelrecht der Hauptversammlung insoweit folglich aus, bedeutet dies freilich nicht, dass durchgreifende Bedenken gegen die Übernahme einzelner Bestimmungen bzw. eine partiell parallele Behandlung von Beschlussmängeln in der Hauptversammlung und im Aufsichtsrat bestünden.70 Eine parallele Behandlung in Teilbereichen ist vielmehr sogar angezeigt. b) Nichtigkeit und Anfechtbarkeit als zweigleisiger Reaktionsmechanismus So ist parallel zum Beschlussmängelrecht der Hauptversammlung auch bei Beschlussfehlern des Aufsichtsrats die grundsätzliche Anfechtbarkeit und damit einhergehend für eine etwaige Beschlusskassation grundsätzlich die Erhebung einer Anfechtungsklage zu fordern. Die Anfechtbarkeit sollte die Nichtigkeit von Aufsichtsratsbeschlüssen indes nicht komplett verdrängen. Für Hauptversammlungsbeschlüsse wird zurecht darauf hingewiesen, dass mit Rücksicht auf die Interessen von Gläubigern und Allgemeinheit Fälle verbleiben, in denen die Dispositionsbefugnis über Wirksamkeit oder Unwirksamkeit von Hauptversammlungsbeschlüssen nicht in die Hände anfechtungsbefugter Personen gelegt werden darf.71 Dieser Befund trifft auch für Aufsichtsratsbeschlüsse zu. Verletzen Aufsichtsratsbeschlüsse die Interessen Dritter oder der Allgemeinheit, muss ihre Nichtigkeit grundsätzlich auch dann eintreten, wenn keine anfechtungsbefugte Person an der Anfechtung der fraglichen Aufsichtsratsbeschlüsse ein Interesse hat und eine Beschlussmängelklage erhebt.72 Die schwierige Frage der konkreten Abgrenzung zwischen dem Nichtigkeitstatbestand auf der einen Seite und dem Anfechtungstatbestand auf der anderen Seite73 kann nicht Gegenstand dieses Beitrags sein. Mit Blick auf den als zu weit geratenen und als reformbedürftig empfundenen Tatbestand des § 241 AktG74 sollte bei einer etwaigen konzeptionellen Erarbeitung einer Normierung für die Abgrenzung nicht auf diesen zurückgegriffen werden.75 Vielmehr gilt es die bereits fortgeschrittenen 69 Vgl. in diesem Zusammenhang Koch, Gutachten F zum 72. DJT, F 99 ff. 70 Bereits de lege lata für die Anwendung von Teil- und Einzelanalogien Ehmann in Grigoleit, AktG, 1. Aufl. 2013, § 241 Rz. 4; Fleischer, DB 2013, 217, 218; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 108 Rz. 29. 71 So jüngst bereits Bayer/Möller, NZG 2018, 801, 806; Harbarth, AG 2018, 637, 639 f.; Koch, Gutachten F zum 72. DJT, F 48 f. 72 In diesem Sinne auch BGH NJW 1993, 2307, 2309; Koch, Gutachten F zum 72. DJT, F 103 f. (mit zutreffendem Hinweis auf die klärungsbedürftige Frage, ob es sich um eine dauerhaft von jedermann geltend zu machende Nichtigkeit oder um eine solche im Sinne der vorbeschriebenen BGH-Rechtsprechung, also mit Verwirkungsfrist und eng begrenztem Feststellungsinteresse, handelt). 73 Vgl. hierzu Koch, Gutachten F zum 72. DJT, F 103 f. 74 Eingehend Harbarth, AG 2018, 637, 639 f. 75 Eine entsprechende Verweisung de lege lata als „Verlegenheitsanalogie“ bezeichnend Fleischer, DB 2013, 217, 224.

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Reformüberlegungen zum Beschlussmängelrecht der Hauptversammlung auch für die Zwecke der Reform des Beschlussmängelrechts des Aufsichtsrats nutzbar zu machen und für die Beschlussfassung der Hauptversammlung getätigte Wertungs­ entscheidungen aufzugreifen und  – soweit sachgerecht  – zu übernehmen. Bei der vorliegend in Frage stehenden Abgrenzung zwischen Nichtigkeits- und Anfechtungstatbestand dürften insbesondere Schutzzwecküberlegungen im Fokus der Reform­ überlegungen stehen.76 c) Rechtsfolge der Anfechtbarkeit Im Rahmen der bereits vorangeschrittenen Diskussionen zum Beschlussmängelrecht der Hauptversammlung ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass die scharfe Folge der rückwirkenden Beschlusskassation nur dort angezeigt ist, wo dies mit Blick auf den Telos der verletzten Norm und die betroffenen Interessen angemessen und verhältnismäßig ist.77 Auch insoweit gilt für Aufsichtsratsbeschlüsse im Grundsatz nichts anderes, sodass auch hier – auch auf der Rechtsfolgenseite – der Blick auf den Telos der verletzten Vorschrift und die Wahrung der Verhältnismäßigkeit von Beschlussfehler und Rechtsfolgen nicht außer Acht gelassen werden dürfen. Daher sollte es dem Gericht auch bei fehlerhaften Aufsichtsratsbeschlüssen gestattet werden, die rückwirkende Beschlusskassation durch andere – hier im Einzelnen nicht zu vertiefende – Rechtsfolgen zu ersetzen.78 d) Antragsbefugnis Aus prozessualer Perspektive ist für das Anfechtungsmodell im Rahmen des Beschlussmängelrechts des Aufsichtsrats ebenso wie in § 245 AktG für das Beschlussmängelrecht der Hauptversammlung ein die Anfechtungsbefugnis regelnder Tatbestand zu schaffen. Ein materieller Gleichlauf des Beschlussmängelrechts der Hauptversammlung und des Beschlussmängelrechts des Aufsichtsrats kommt aufgrund der strukturellen Unterschiede der beiden Organe und deren Beschlussfassungen und der damit einhergehenden unterschiedlichen Interessenlagen (s. dazu III.1.) indes nicht in Betracht. Anfechtungsbefugt sollten zunächst die einzelnen Aufsichtsratsmitglieder sein. Bereits de lege lata wird diesen von Rechtsprechung79 und h.M.80 allein wegen ihrer Organstellung ein Feststellungsinteresse zugebilligt. Aufgrund der Verantwortung für gesetz- und satzungsmäßiges Handeln, das gerade auch die einzelnen Beschlüsse und 76 So wohl bereits Baums, ZGR 1983, 300, 337; für die Reformüberlegungen bzgl. der Beschlussfassung der Hauptversammlung Harbarth, AG 2018, 637, 640 m.w.N. 77 So etwa Arbeitskreis Beschlussmängelrecht, AG 2008, 617, 621 f.; Bayer/Möller, NZG 2018, 801, 805; Fleischer, ZIP 2014, 149, 153, 159; Harbarth, AG 2018, 637, 640 f. 78 Koch, Gutachten F zum 72. DJT, F 104 f. (mit Plädoyer für Möglichkeit der Kassation ex nunc); zu alternativen Rechtsfolgen im Bereich fehlerhafter Hauptversammlungsbeschlüsse Arbeitskreis Beschlussmängelrecht, AG 2008, 617, 618; Harbarth, AG 2018, 637, 643. 79 BGH NJW 1997, 1927; BGH NZG 2012, 1027, 1028. 80 Für viele Habersack in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, § 108 Rz. 85.

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deren Folgen umfasst, wird ihnen das Feststellungsinteresse dabei unterschiedslos zugesprochen, ganz gleich ob das betreffende Aufsichtsratsmitglied an der konkreten Beschlussfassung beteiligt war und überstimmt wurde oder ob es sich um einen vor der Amtszeit des Aufsichtsratsmitglieds gefassten, aber noch während der Amtszeit Relevanz entfaltenden Beschluss handelt.81 Auch bei der Normierung einer Anfechtungsbefugnis ist den Aufsichtsratsmitgliedern eine solche aufgrund ihrer Verantwortung in einem vergleichbar großzügigen Rahmen zuzugestehen. Dabei ist – insbesondere auch bei Verfahrensfehlern – für die Anfechtungsbefugnis keine individuelle Betroffenheit des einzelnen Aufsichtsratsmitglieds zu fordern.82 Zum einen wohnt der Anfechtung von Aufsichtsratsbeschlüssen durch Mitglieder des Aufsichtsrats im Vergleich zu der Anfechtung von Hauptversammlungsbeschlüssen durch Aktionäre keine wesentliche Missbrauchsgefahr inne. Zum anderen ist die grundsätzliche Möglichkeit der Wahrung von Gesetzes- und Satzungsvorschriften – die Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens eingeschlossen – durch die Erhebung einer Anfechtungsklage als ultima ratio durchaus begrüßenswert und dürfte von einem Aufsichtsratsmitglied mit Blick auf dessen potentiell persönliche Verantwortung eher erwartet werden83 als von einem Aktionär, der vor allem mit Blick auf die ihm durch eine potenziell aufwändige Informationsbeschaffung und anschließende -verarbeitung entstehenden Kosten sowie die ungewissen Erfolgsaussichten seines Handelns von einem Vorgehen gegen die Verwaltung absehen wird (sog. „rationale Apathie“).84 Eine Einschränkung der Anfechtungsbefugnis der Aufsichtsratsmitglieder kommt indes bei widersprüchlichem Verhalten in Betracht,85 wobei eine explizite Aufnahme dieses aus § 242 BGB hergeleiteten allgemeinen Rechtsgrundsatzes in eine gesetzliche Regelung der Anfechtungsbefugnis kaum angezeigt ist. Insbesondere von einer sofortigen Widerspruchsobliegenheit des anfechtenden Aufsichtsratsmitglieds, wie dies etwa in § 245 Nr. 1 AktG für den Aktionär gefordert wird, ist mit Blick auf die gesetzlichen Teilhabeanforderungen an das einzelne Aufsichtsratsmitglied im Rahmen der Beschlussfassung (s. insbesondere § 108 Abs. 3 AktG) Abstand zu nehmen.86 Weniger eindeutig ist die Frage nach der Anfechtungsbefugnis des Vorstands und der einzelnen Vorstandsmitglieder zu beantworten. Auch hier sehen einige Stimmen de lege lata das Feststellungsinteresse bereits in der Organstellung begründet.87 Andere stellen auf den konkreten Inhalt der Beschlussfassung ab und fordern eine persönli81 BGH NZG 2012, 1027, 1028. 82 So bereits Baums, ZGR 1983, 300, 339; ebenso Schwab, Das Prozeßrecht gesellschaftsinterner Streitigkeiten, 2005, S. 571; a.A. betreffend Verfahrensfehler Koch, Gutachten F zum 72. DJT, F 100. 83 Für Verpflichtung der einzelnen Aufsichtsratsmitglieder zur Bekämpfung rechtswidriger Beschlüsse Schwab, Das Prozeßrecht gesellschaftsinterner Streitigkeiten, 2005, S. 571. 84 Zur rationalen Apathie der Aktionäre Spindler in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, Vor. § 76 Rz. 3, m.w.N. 85 So auch Koch, Gutachten F zum 72. DJT, F 99; bezogen auf das Feststellungsinteresse Fleischer, DB 2013, 217, 219, m.w.N. 86 Fleischer, DB 2013, 217, 220 f. 87 So etwa Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 108 Rz. 30; Spindler in Spindler/Stilz, AktG, 3. Aufl. 2015, § 108 Rz. 79.

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che Betroffenheit des einzelnen Vorstandsmitglieds oder eine Verletzung der Kompetenzen des Gesamtvorstands.88 Ein gewichtiger Einwand gegen eine von der individuellen Betroffenheit des einzelnen Vorstandsmitglieds oder des Gesamtvorstands losgelöste Anfechtungsbefugnis ist die Wahrung des im Aktiengesetz verankerten Kompetenzgefüges.89 Hier gilt es zu beachten, dass sich „der Kontrollierte nicht zum Kontrolleur aufschwingen darf“.90 Insofern vermag auch die Parallele zum Beschlussmängelrecht der Hauptversammlung, in der dem Vorstand nach § 245 Nr. 4 AktG die Anfechtungsbefugnis und mit dieser der Auftrag, „umfassend für die Rechtmäßigkeit des Korporationshandelns zu sorgen“, übertragen wird,91 – gerade mit Blick auf die im Vergleich zur Beschlussfassung der Hauptversammlung geringere Fehleranfälligkeit der Beschlussfassung des Aufsichtsrats (s. dazu III.1.) – nicht zu überzeugen. Die Anfechtungsbefugnis des Gesamtvorstands und dessen einzelner Mitglieder sollte demnach an eine individuelle Betroffenheit geknüpft werden. Während es bei Hauptversammlungsbeschlüssen streitig ist, inwieweit dem einzelnen Aktionär eine sog. Polizeifunktion zukommt oder nicht,92 steht ihm diese Rolle nach allgemeiner Ansicht bei der Beschlussfassung des Aufsichtsrats nicht zu.93 Die Anfechtungsbefugnis ist insoweit an eine unmittelbare Beeinträchtigung durch den Beschluss zu knüpfen,94 die insbesondere bei Verletzung der mitgliedschaftlichen Rechte in Betracht kommt.95 e) Anfechtungsfrist Hinsichtlich der Ausgestaltung der Anfechtungsfrist ist zwischen Klagen von Aufsichtsratsmitgliedern und Klagen anderer Rechtssubjekte zu differenzieren. Nach der Auffassung des BGH zu einer etwaigen analogen Anwendung der Monatsfrist des § 246 Abs. 1 AktG „würde der von der drohenden Präklusionswirkung dieser Frist ausgehende Druck auf die Mitglieder des Aufsichtsrates dazu führen, stets dasjenige Mitglied, das Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit eines Beschlusses trägt, einseitig in die Rolle des Kl. zu drängen und Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Aufsichtsrats vor Erschöpfung sämtlicher interner Einigungsmöglichkeiten durch Klageerhebung in die Öffentlichkeit zu tragen“.96 Ob diese Einschätzung empirisch zutrifft, ist jedoch keinesfalls gesichert. Zum einen werden in Unternehmen zahlreiche wichtige – ggf. 88 So etwa Drygala in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 108 Rz. 45; Fleischer, DB 2013, 217, 220; Habersack in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, § 108 Rz. 85. 89 Fleischer, DB 2013, 217, 220; Schwab, Das Prozeßrecht gesellschaftsinterner Streitigkeiten, 2005, S. 571 f. 90 Fleischer, DB 2013, 217, 220; im Rahmen der Frage der Anfechtungsbefugnis des Vorstands bei einem Zustimmungsvorbehalt ebenso Schwab, Das Prozeßrecht gesellschaftsinterner Streitigkeiten, 2005, S. 571 f. 91 So Koch, Gutachten F zum 72. DJT, F 100. 92 Eingehend K. Schmidt, AG 2009, 248, 254 ff. 93 Für viele Habersack in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, § 108 Rz. 85 m.w.N. 94 Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 108 Rz. 30. 95 Habersack in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, § 108 Rz. 85. 96 BGH NJW 1993, 2307, 2309.

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auch kontroverse  – Entscheidungen in einem kürzeren Zeitraum als einem Monat getroffen, so dass sich mit guten Gründen in Zweifel ziehen lässt, ob eine Einigung (auch unter Berücksichtigung einer nach einer kontroversen und leidenschaftlichen Debatte unter Umständen angezeigten kurzen „Abkühlungsphase“) tatsächlich nicht innerhalb eines Monats herbeigeführt werden kann. Zum anderen ließe sich auch mit guten Gründen die These vertreten, dass eine einmonatige Frist im Interesse der Gesellschaft Druck im Sinn einer zeitnahen Verständigung entfalten kann. Auch wenn es keinesfalls zwingend ist, gesetzlich eine über einen Monat hinausreichende Anfechtungsfrist einzuräumen, dürfte der angemessene Ausgleich zwischen der unter Rechtssicherheitsgesichtspunkten erstrebten raschen Klärung und der Vermeidung einer übereilten juristischen Eskalation einen zweimonatigen Zeitraum  – gerechnet nicht ab dem Zeitpunkt der Beschlussfassung,97 sondern ab Erhalt des Protokolls der Aufsichtsratssitzung – näher legen. Ein längerer Zeitraum ist demgegenüber ebenso wenig angezeigt wie die Einführung eines Hemmungstatbestands für die Zeit der organinternen Klärung.98 Würde man einen Hemmungstatbestand für die Zeit der organinternen Klärung zusätzlich zu einer (großzügig bemessenen) zweimonatigen Anfechtungsfrist einführen, würde das der Anfechtungslösung zugrunde liegende Bedürfnis nach Rechtssicherheit konterkariert. Wollte man zur Vermeidung einer juristischen Eskalation eine Möglichkeit zur Verlängerung der grundsätzlichen gesetzlichen Anfechtungsfrist schaffen, dürfte die Befugnis, durch Aufsichtsratsbeschluss die Anfechtungsfrist – innerhalb bestimmter zeitlicher Grenzen – zu verlängern, der Einführung eines Hemmungstatbestands für die Zeit der organinternen Klärung unter Rechtssicherheitsgesichtspunkten vorzuziehen sein. Dies gilt umso mehr, als der Begriff der „organinternen Klärung“ tatbestandlich wohl schwer fassbar sein dürfte: Soll jede Kommunikation zwischen Aufsichtsratsmitgliedern über eine einvernehmliche Lösung die Verjährung hemmen (was erhebliche Rechtsunsicherheiten schaffen würde)? Soll dies nur für bestimmte Kommunikationskanäle im Aufsichtsrat gelten (etwa gegenüber dem Vorsitzenden oder einem Repräsentanten der Mehrheit)? Ob sich dies gesetzgeberisch einer praktikablen Lösung zuführen lässt, erscheint durchaus zweifelhaft. Möchte man dem Aufsichtsrat eine Möglichkeit einräumen, die Anfechtungsfrist durch Beschluss zu verlängern, dürfte freilich auch eine grundsätzlich einmonatige Anfechtungsfrist ausreichen. Eine Berücksichtigung des Zeitpunktes der nächsten Aufsichtsratssitzung ist angesichts der heutigen Kommunikationswege ohnehin nicht angezeigt.99 Bei Klagen anderer Rechtssubjekte als Aufsichtsratsmitglieder sollte die Frist mit Kennenmüssen des jeweiligen Aufsichtsratsbeschlusses zu laufen beginnen, sie aber auch um eine absolute, kenntnisunabhängige Verfristungsregel ergänzt werden.100

97 So aber Koch, Gutachten F zum 72. DJT, F 102. 98 Abweichend Koch, Gutachten F zum 72.  DJT, F 102; Schwab, Das Prozeßrecht gesellschaftsinterner Streitigkeiten, 2005, S. 402 ff., 577.  99 Ebenso Koch, Gutachten F zum 72. DJT, F 102. 100 Koch, Gutachten F zum 72. DJT, F 102 f.

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IV. Fazit Zusammenfassend bleibt festzuhalten: 1. Der Umgang mit fehlerhaften Aufsichtsratsbeschlüssen ist nicht ausdrücklich im Aktiengesetz geregelt. Insoweit besteht Uneinigkeit zwischen Rechtsprechung und Teilen der Literatur. Während die Rechtsprechung und der überwiegende Teil der Literatur bei fehlerhaften Aufsichtsratsbeschlüssen grundsätzlich die Nichtigkeit als Fehlerfolge befürworten, spricht sich eine andere Ansicht innerhalb der Literatur für eine analoge Anwendung der §§ 241 ff. AktG und somit für eine Differenzierung zwischen nichtigen und lediglich anfechtbaren Beschlüssen aus. Eine vermittelnde Ansicht plädiert für Einzel- bzw. Teilanalogien zu §§ 241 ff. AktG. 2. Einig sind sich die verschiedenen Ansichten indes bezüglich des verstärkten Bedürfnisses nach Rechtssicherheit. Zentraler Ansatzpunkt ist dabei die Zurückdrängung der Nichtigkeitsfolge. Die Rechtsprechung kommt diesem Bedürfnis de lege lata insbesondere durch die Anwendung des Instituts der Verwirkung und die Einschränkung des zur Geltendmachung der Nichtigkeit berechtigten Personenkreises nach. 3. Sowohl die Handhabung der Rechtsprechung und überwiegenden Literaturansicht (Nichtigkeitsdogma) als auch die der abweichenden Literaturansicht (analoge Anwendung der §§ 241 ff. AktG) offenbaren insbesondere durch dogmatische „Ungereimtheiten“ das Bedürfnis nach einer eigenständigen Normierung des Umgangs mit fehlerhaften Aufsichtsratsbeschlüssen im Aktiengesetz. 4. Trotz der wesentlichen Unterschiede – insbesondere der verschiedenen Interessenlagen – im Zusammenhang mit fehlerhaften Beschlussfassungen der Hauptversammlung und solchen des Aufsichtsrats stellt auch bei letzteren ein Anfechtungsmodell – gerade mit Blick auf die Rechtssicherheit  – die vorzugswürdige Lösung dar. Ein schlichter Wertungstransfer der §§ 241 ff. AktG scheidet jedoch auch de lege ferenda aus. 5. Bei einer gesetzlichen Normierung ist – wie auch bei den Bestrebungen zur Reform des Beschlussmängelrechts der Hauptversammlung  – ein Blick auf die Rechtsfolge der Anfechtbarkeit zu werfen. Auch hier gebietet das Bedürfnis der Rechtssicherheit eine Zurückdrängung der Rechtsfolge der rückwirkenden Beschlusskassation. 6. Bei der Antragsbefugnis kommt ein materieller Gleichlauf des Beschlussmängelrechts der Hauptversammlung und des Beschlussmängelrechts des Aufsichtsrats nicht in Betracht. Während Aufsichtsratsmitglieder bezüglich fehlerhafter Aufsichtsratsbeschlüsse grundsätzlich anfechtungsbefugt sind, ist bei Vorstandsmitgliedern zur Wahrung des aktienrechtlichen Kompetenzgefüges auf die individuelle Betroffenheit abzustellen. Aktionäre sind indes grundsätzlich nicht anfechtungsbefugt, es sei denn, sie werden durch den Aufsichtsratsbeschluss unmittelbar betroffen, was insbesondere bei einer Verletzung ihrer mitgliedschaftlichen Rechte in Betracht kommt. 7. Für die Erhebung der sich gegen fehlerhafte Aufsichtsratsbeschlüsse richtenden Anfechtungsklage bietet sich  – anders als im Beschlussmängelrecht der Hauptver307

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sammlung – eine zweimonatige Frist an. Bei Aufsichtsratsmitgliedern sollte für den Fristbeginn auf den Zeitpunkt des Erhalts des Sitzungsprotokolls abgestellt werden. Bei anderen anfechtungsbefugten Rechtssubjekten ist indes auf den Zeitpunkt des Kennenmüssens des jeweiligen Aufsichtsratsbeschlusses abzustellen, wobei dies von einer absoluten, kenntnisunabhängigen Verfristungsregel flankiert werden sollte.

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Die gerichtliche Durchsetzung der Informationsrechte in der Aktiengesellschaft Inhaltsübersicht I. Problemstellung II. Mitgliedschaftliche Auskunftsansprüche III. Informationsversorgung des Aufsichtsrats 1. Lösungswege in Rechtsprechung und Schrifttum 2. Verkehrtes Regel-Ausnahme-Verhältnis der Traditionalisten 3. Organstreit als Dammbruch? 4. Anerkennung der Organrechte als ­praktikable Lösung

5. Folgen der Lehre von Organrechten für Informationsversorgung a) Interorganstreit zwischen Vorstand und Aufsichtsrat b) Durchsetzung der Individualansprüche durch Aufsichtsratsmitglieder IV. Informationsversorgung des besonderen Vertreters V. Informationsversorgung des Sonder­ prüfers VI. Zusammenfassung

I. Problemstellung Nachdem das Aktiengesetz 1965 verabschiedet und die unternehmerische Mitbestimmung in den 1970er Jahren eingeführt wurden, hat die Legislative das Aktienrecht weitgehend vernachlässigt. Erst in den 1990er Jahren begann die „Aktienrechtsreform in Permanenz“, die mit dem Jubilar untrennbar verbunden ist. Angetrieben durch Reformvorschläge des Jubilars  – der immer bereit war, verkrustete Rechtsstrukturen aufzubrechen und neue Wege zu gehen – hat der Gesetzgeber die Aktiengesellschaft aufpoliert und auf den internationalen Wettbewerb der Gesellschaftsformen vorbereitet. Der Verfasser dieses Beitrags darf sich glücklich schätzen, dass er als Referendar diese Entwicklung ein Stück weit begleiten durfte. Dabei hat ihn insbesondere eine Äußerung des Jubilars nachhaltig geprägt, die in einer Besprechung zu den Details der Frauenquote gefallen ist: Das Leben ist kompliziert; das Recht muss es nicht sein. Mit dieser Maxime vor Augen lotet der Beitrag aus, wie die in einer Aktiengesellschaft tätigen Akteure ihre Informationsrechte gerichtlich durchsetzen können. Das Pro­ blem kann sich in unterschiedlichen Konstellationen stellen. So kann ein Aktionär ein Auskunftserzwingungsverfahren nach § 132 AktG einleiten oder die Auskunftsverweigerung seitens des Vorstands zum Anlass nehmen, eine Anfechtungsklage zu ­erheben. Der Aufsichtsrat oder ein Aufsichtsratsmitglied können vom Vorstand verlangen, nach § 90 AktG Bericht zu erstatten, die Ausübung des Einsichts- und Prüfungsrechts nach § 111 Abs. 2 AktG zu ermöglichen oder die in §§ 170, 314 AktG genannten Unterlagen vorzulegen. Schließlich können der Sonderprüfer und der be309

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sondere Vertreter im Vorfeld eines etwaigen Haftungsprozesses versuchen, ihre Ermittlungsbefugnisse mit gerichtlicher Hilfe durchzusetzen.1 Die Analyse wird zeigen, dass keine wesentlichen Probleme dort bestehen, wo der Gesetzgeber in weiser Voraussicht eine Regelung geschaffen hat, die den prozessualen Weg der Akteure vorzeichnet. Hat der Gesetzgeber den Rechtsanwender mit einem lückenhaften Normbestand allein gelassen, neigen Wissenschaft und Praxis dazu, übermäßig komplizierte Gedankenkonstrukte aufzubauen, obwohl einfachere Lösungswege offen stehen.

II. Mitgliedschaftliche Auskunftsansprüche Beginnt man die Untersuchung mit der gerichtlichen Durchsetzung der Aktionärs­ ansprüche, ist die Rechtslage verhältnismäßig klar. Das Aktiengesetz räumt dem Aktionär zum einen die Möglichkeit ein, gem. § 132 AktG ein Auskunftserzwingungsverfahren einzuleiten, zum anderen provoziert der Vorstand eine Anfechtungsklage, wenn er die Aktionärsfragen nicht oder unrichtig beantwortet.2 In beiden Fällen sind die wesentlichen Punkte gesetzlich geregelt: Wer antrags- bzw. klagebefugt ist, ergibt sich aus § 132 Abs. 2 Satz 1 und § 245 AktG; die Antrags- bzw. Klagefrist ist in § 132 Abs. 2 Satz 2 und § 246 Abs. 1 AktG bestimmt. Auf der Gegenseite steht jeweils die Aktiengesellschaft, was für die Anfechtungsklage aus § 246 Abs. 2 Satz 1 AktG folgt. Für das Auskunftserzwingungsverfahren stellt § 132 AktG zwar nicht ausdrücklich klar, dass die Gesellschaft die Antragsgegnerin ist, dies ergibt sich aber aus dem Umstand, dass sie – trotz der missverständlichen Formulierung des § 131 Abs. 1 AktG, der auf den Vorstand abstellt  – materiell-rechtlich Schuldnerin des Auskunftsanspruchs ist.3 Die Gesellschaft wird im Auskunftserzwingungsverfahren gem. §  78 AktG vom Vorstand, im Beschlussmängelstreit gem. § 246 Abs. 2 Satz 2 AktG vom Vorstand und Aufsichtsrat vertreten. Auch die Kosten, die Rechtsmittel und die Folgen der gerichtlichen Entscheidung sind in beiden Fällen gesetzlich geregelt. Diese hohe Regelungsdichte führt dazu, dass lediglich Detailfragen umstritten sind: Kann ein Aktionär nach § 132 AktG vorgehen, wenn ihm eine falsche Auskunft erteilt

1 In der Praxis wird es freilich oft auf den einstweiligen Rechtsschutz ankommen, die damit verbundenen Probleme würden aber den Umfang des Beitrags sprengen und bleiben deshalb außen vor. Zum einstweiligen Rechtsschutz des Aufsichtsrats und seiner Mitglieder statt vieler Friedeborn, NZG 2018, 770, 774  ff.; zum besonderen Vertreter OLG Köln v. 4.12.2015 – 18 U 149/15, NZG 2016, 147, 148 f.; LG Duisburg v. 9.6.2016 – 22 O 50/16, ZIP 2016, 1970, 1972 ff.; M. Arnold in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 147 AktG Rz. 74. 2 Zum Nebeneinander dieser Verfahren Hüffer/J. Koch, 13. Aufl. 2018, § 132 AktG Rz. 2. 3 Zur Auskunftspflicht der AG statt vieler Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 132 AktG Rz. 19; zur AG als Antragsgegnerin im Auskunftserzwingungsverfahren Spindler in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 132 AktG Rz. 12. Diese Einordnung ist allerdings nicht selbstverständlich, wenn man mit der hier vertretenen Auffassung der Lehre von Organrechten folgt, s. dazu noch unter III.

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wurde4 oder wenn er nicht nach § 245 Nr. 1 AktG anfechtungsbefugt ist?5 Ist das Auskunftserzwingungsverfahren gem. § 170 Abs. 1 Satz 1 GVG nicht öffentlich oder muss §  170 GVG teleologisch reduziert werden, weil es sich um ein echtes Streitverfahren handelt?6 Diese Probleme sind für die Praxis durchaus bedeutsam, jedoch recht schnell mit den herkömmlichen methodischen Instrumenten zu lösen und aus einer dogmatischen Perspektive nicht weltbewegend.

III. Informationsversorgung des Aufsichtsrats 1. Lösungswege in Rechtsprechung und Schrifttum Auf einer höheren Abstraktionsebene sind die Debatten über die gerichtliche Durchsetzung der organschaftlichen Auskunftsrechte angesiedelt. Da das Aktiengesetz zwar in §§ 90, 111 Abs. 2, 170, 314 AktG die Informationsquellen des Aufsichtsrats und seiner Mitglieder vorsieht, aber darüber schweigt, ob und wie der Aufsichtsrat sich den Zugang zu diesen Quellen verschaffen kann, diskutieren Rechtsprechung und Schrifttum seit Jahren leidenschaftlich über die prozessuale Durchsetzung der Informationsansprüche. Die Stellungnahmen sind sich inzwischen im Ergebnis darüber einig, dass die Berichterstattung durch den Vorstand (§ 90 AktG) gerichtlich erzwungen werden kann.7 Die Begründung dieses Ergebnisses sowie die prozessualen Einzelheiten bleiben aber nach wie vor umstritten. Die herrschende Auffassung in der Kommentarliteratur lehnt Organansprüche des Aufsichtsrats wie Organpflichten des Vorstands ab und hält die Verwaltungsorgane für nicht parteifähig nach § 50 ZPO.8 Stattdessen konstruiert sie eine Anspruchsbeziehung zwischen der Gesellschaft und den einzelnen Organmitgliedern: Die Ansprüche auf Berichterstattung aus § 90 Abs. 3 Satz 1 AktG stünden der Gesellschaft zu, die – vertreten durch den Aufsichtsrat (§ 112 AktG) – gegen die Vorstandsmitglieder

4 Dagegen die ältere Rechtsprechung, s. KG v. 16.7.2009 – 23 W 69/08, ZIP 2010, 698 ff.; LG Dortmund v. 1.10.1998 – 20 AktE 8/98, AG 1999, 133; LG Köln v. 2.4.1990 – 91 O 132/89, AG 1991, 38; dafür die inzwischen h.A., s. nur LG München I v. 28.5.2010 – 5 HK O 14307/07, ZIP 2010, 2148, 2149 f.; Hüffer/J. Koch, 13. Aufl. 2018, § 132 AktG Rz. 4a, jeweils m.w.N. 5 Dafür zu Recht die h.M., s. nur Hüffer/J. Koch, 13. Aufl. 2018, § 132 AktG Rz. 4a m.w.N.; dagegen Decher in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 132 AktG Rz. 27. 6 Für das Erste OLG Stuttgart v. 29.2.2012 − 20 W 5/11, AG 2012, 377, 385; Hüffer/J. Koch, 13. Aufl. 2018, § 132 AktG Rz. 6. Für das Zweite Kersting in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 132 AktG Rz. 56; Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 132 AktG Rz. 28. 7 Dies stellt etwa Hüffer/J. Koch, 13. Aufl. 2018, § 90 AktG Rz. 17 m.w.N. fest. A.A. zur Berichterstattung an den Gesamtaufsichtsrat lediglich Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 90 AktG Rz. 66; Borgmann, Der Organstreit in der Kapitalgesellschaft, 1996, S. 238 ff. 8 Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, Vorb. § 76 AktG Rz. 3; Spindler in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 108 AktG Rz. 87. S. ferner BGH v. 17.5.1993 – II ZR 89/92, BGHZ 122, 342, 345 = NJW 1993, 2307; BGH v. 20.3.2018  – II ZR 359/16, NJW-RR 2018, 800 Rz.  15; Baumann, Die Rechte des einzelnen Aufsichtsratsmitglieds, 2017, S.  92  ff.; Häsemeyer, ZHR 144 (1980), 265, 271 ff.

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als notwendige Streitgenossen vorgehen könne.9 Wolle ein einzelnes Aufsichtsratsmitglied gem. § 90 Abs. 3 Satz 2 AktG die Berichterstattung an den Gesamtaufsichtsrat erzwingen, könne er eine Klage gegen die Gesellschaft erheben, die nach §  78 AktG durch den Vorstand vertreten werde; dies gelte auch für die Durchsetzung des Individualanspruchs aus § 90 Abs. 5 AktG.10 Legt man die Kommentare beiseite und wertet man sonstige Beiträge aus, zeichnet sich ein gänzlich anderes Bild. Zahlreiche Autoren zeigen sich deutlich progressiver und halten die Organe als solche für materiell-rechtlich auskunftsberechtigt und -verpflichtet. Daraus folgern die Vertreter der Lehre von Organrechten und Organpflichten auf prozessualer Ebene, dass die Organe nach § 50 ZPO parteifähig sind. Daher könnten der Gesamtaufsichtsrat und das einzelne Aufsichtsratsmitglied im eigenen Namen die Berichtsansprüche aus § 90 Abs. 3 AktG gegen den Vorstand als solchen geltend machen.11 Bei Individualrechten aus § 90 Abs. 5 AktG ist unter den Befürwortern des echten Organstreits die Passivlegitimation umstritten: Während einige den jeweils amtierenden Aufsichtsratsvorsitzenden für den Schuldner des Informationsanspruchs halten,12 sehen andere den Gesamtaufsichtsrat13 oder den Aufsichtsratsvorsitzenden als Organ innerhalb des Organs auf der Gegenseite.14 Wie die Informationsrechte aus §§ 111 Abs. 2, 170, 314 AktG durchgesetzt werden, wird im Schrifttum weniger intensiv diskutiert. Manche übertragen das Modell der 9 Grigoleit/Tomasic in Grigoleit, 2013, § 90 AktG Rz. 32, 37; Hüffer/J. Koch, 13. Aufl. 2018, § 90 AktG Rz. 15, 19; Krieger/Sailer-Coceani in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 90 AktG Rz.  70; Oltmanns in Heidel, 4.  Aufl. 2014, §  90 AktG Rz.  24; Lewerenz, Leistungsklagen zwischen Organen und Organmitgliedern der Aktiengesellschaft, 1977, S. 101 ff.; H. Westermann in FS Bötticher, 1969, S. 369, 378 ff. 10 Bürgers in Bürgers/Körber, 4. Aufl. 2017, § 90 AktG Rz. 20; Grigoleit/Tomasic in Grigoleit, 2013, § 90 AktG Rz. 32, 38; Hüffer/J. Koch, 13. Aufl. 2018, § 90 AktG Rz. 22 f.; Krieger/Sailer-­ Coceani in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 90 AktG Rz. 71; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 90 AktG Rz. 66 (ohne sich zur Vertretung der AG zu äußern); Oltmanns in Heidel, 4.  Aufl. 2014, §  90 AktG Rz.  25.  Noch anders Stodolkowitz, ZHR 154 (1990), 1, 8, der § 90 Abs. 3 Satz 2 AktG als einen Fall gesetzlicher Prozessstandschaft versteht (S. 14) und bei einer Klage eines AR-Mitglieds aus § 90 Abs. 5 AktG die Vertretung der AG in die Hände des AR legt (S. 16). 11 Ihrig/C. Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, 2014, Rz. 917; Grobe, Inter- und Intraorganklagen in der Aktiengesellschaft, § 22 C V 2 und D II 2, § 28 A I 1 (im Erscheinen); Peine, Der Organstreit im Recht der Aktiengesellschaft und der Gesellschaft mit beschränkter Haftung, 2017, S. 98 ff., 135 f.; Schwab, Das Prozeßrecht gesellschaftsinterner Streitig­ keiten, 2005, S. 594 ff.; Bork, ZGR 1989, 1, 16; Hommelhoff, ZHR 143 (1979), 288, 302 ff.; Poseck, DB 1996, 2165, 2167, 2169. Aus der Kommentarliteratur Fleischer in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 90 AktG Rz. 70; Müller-Michaels in Hölters, 3. Aufl. 2017, § 90 AktG Rz. 22. 12 Borgmann, Der Organstreit in der Kapitalgesellschaft, 1996, S. 216 f.; Lewerenz, Leistungsklagen zwischen Organen und Organmitgliedern der Aktiengesellschaft, 1977, S. 100 f.; H. Westermann in FS Bötticher, 1969, S. 369, 381. 13 So Bork, ZIP 1991, 137, 143. 14 Hommelhoff, ZHR 143 (1979), 288, 315. Ähnlich Schürnbrand, Organschaft im Recht der privaten Verbände, 2007, S. 372; Schwab, Das Prozeßrecht gesellschaftsinterner Streitigkeiten, 2005, S. 599. 

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herrschenden Kommentarliteratur zu § 90 AktG auf verwandte Regelungen und konstruieren ebenfalls eine Anspruchsbeziehung zwischen der Gesellschaft und den ­Organmitgliedern.15 Andere verweisen im Zusammenhang mit den Ansprüchen des Gesamtaufsichtsrats aus §§ 111 Abs. 2, 170 Abs. 1, 314 Abs. 1 Satz 1 AktG auf das Zwangsgeld nach § 407 Abs. 1 AktG sowie die Möglichkeit, die nicht kooperationswilligen Vorstandsmitglieder gem. § 93 Abs. 2 AktG auf Schadensersatz in Anspruch zu nehmen und gem. § 84 Abs. 3 AktG abzuberufen.16 Daraus lässt sich der vorsichtige Schluss ziehen, dass sie eine Klage auf Erfüllung dieser Ansprüche ablehnen.17 Hinsichtlich der Individualansprüche aus §§ 170 Abs. 3, 314 Abs. 1 Satz 2 AktG soll hingegen eine Klage der Aufsichtsratsmitglieder gegen die vom Vorstand vertretene Gesellschaft zulässig sein.18 Die Vertreter der Lehre von Organrechten halten schließlich auch im Zusammenhang mit §§ 111 Abs. 2, 170, 314 AktG einen echten Organstreit für möglich.19 2. Verkehrtes Regel-Ausnahme-Verhältnis der Traditionalisten Die Konstruktion der herrschenden Auffassung, die bald eine Klage der Gesellschaft gegen die Vorstandsmitglieder, bald eine Klage der einzelnen Aufsichtsratsmitglieder gegen die Gesellschaft befürwortet, hängt mit der Frage zusammen, ob Gesellschaftsorgane rechts- und parteifähig sind. Diese Frage ist nach tradierter Ansicht zu verneinen: Organe seien nicht im Eigeninteresse tätig, sondern allein dem Gesellschafts-

15 Brönner in Großkomm. AktG, 4. Aufl., Stand 1.11.1992, § 170 AktG Rz. 25; Grigoleit/Zellner in Grigoleit, 2013, §  170 AktG Rz.  15; Hennrichs/Pöschke in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 170 AktG Rz. 112 f. 16 Euler/Klein in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 170 AktG Rz. 55; Waclawik in Hölters, 3. Aufl. 2017, § 170 AktG Rz. 33. Nur auf das Zwangsgeld stellen ab: Altmeppen in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2015, § 314 AktG Rz. 13; Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, §  111 AktG Rz.  76; ders. in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 8. Aufl. 2016, § 314 AktG Rz. 4; Hopt/M. Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 111 AktG Rz.  390; Hüffer/J. Koch, 13.  Aufl. 2018, §  314 AktG Rz.  2; Koppensteiner in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2004, § 314 AktG Rz. 3; Leuering/Goertz in Hölters, 3. Aufl. 2017, § 314 AktG Rz. 7; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2013, § 111 AktG Rz. 57; H.-F. Müller in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 314 AktG Rz. 4; J. Vetter in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 314 AktG Rz. 5. 17 So ausdrücklich Ekkenga in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2012, § 170 AktG Rz. 11; Suchan/ Gerdes in Semler/v. Schenck, Der Aufsichtsrat, 2015, § 170 AktG Rz. 44; E. Vetter in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 170 AktG Rz. 94 f. 18 Hüffer/J. Koch, 13. Aufl. 2018, § 170 AktG Rz. 15; Steiner in Heidel, 4. Aufl. 2014, § 170 AktG Rz. 21 ff. Ohne Aussage zur Vertretung auch Drygala in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 170 AktG Rz. 20; Ekkenga in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2012, § 170 AktG Rz. 42; Euler/Klein in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 170 AktG Rz. 56; Suchan/Gerdes in Semler/v. Schenck, Der Aufsichtsrat, 2015, § 170 AktG Rz. 101. 19 Peine, Der Organstreit im Recht der Aktiengesellschaft und der Gesellschaft mit beschränkter Haftung, 2017, S. 102 ff.; Bork, ZGR 1989, 1, 16; Poseck, DB 1996, 2165, 2167. So augenscheinlich auch E. Vetter in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 170 AktG Rz. 192: Klage gegen den Aufsichtsrat bzw. den Aufsichtsratsvorsitzenden.

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wohl verpflichtet, so dass sie nicht über subjektive Rechte verfügen würden.20 Um die prozessuale Durchsetzung der Informationsrechte dennoch zu ermöglichen, stellen die Traditionalisten auf die Gesellschaft und einzelne Organwalter ab, deren Rechtsund Parteifähigkeit unproblematisch ist. Mit dieser Konstruktion werden zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Auf der einen Seite müssen die Vorstandsmitglieder damit rechnen, dass sie gezwungen werden, dem Aufsichtsrat und seinen Mitgliedern den Zugang zu Informationsquellen zu gewähren, was eine hygienische Wirkung erzeugen kann. Auf der anderen Seite wird der Organstreit verhindert, der vielen als „Schreckbild“21 und „systematischer Fremdkörper“22 gilt, der geeignet ist, „eine drastische Wesensveränderung der aktienrechtlichen Kompetenzordnung herbei zu führen“23 und „das Organisationsgefüge der Aktiengesellschaft zu zerstören“.24 Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, wenn der Organstreit als „in der Sache kaum wünschenswert“25 bezeichnet wird. Bettet man die Diskussion um die Durchsetzung der Informationsrechte des Aufsichtsrats in einen weiteren Kontext des Organstreits ein, zeigt eine nähere Auseinandersetzung mit dem Schrifttum, dass die herrschende Kommentarliteratur inkonsequent ist. Sie lehnt zwar einen echten Organstreit zwischen Vorstand und Aufsichtsrat ab, greift aber zugleich auf die Rechtsbeziehung zwischen den Organmitgliedern und der Gesellschaft zurück, wenn sie es ausnahmsweise für erforderlich hält, einen Prozess zuzulassen. Ein solches Vorgehen wäre an sich nicht außergewöhnlich. Was es aber bedenklich macht, ist die Anzahl der Ausnahmen, in denen ein verkappter Organstreit zulässig sein soll: Neben der Durchsetzung der Informationsrechte soll ein Prozess zwischen den Organmitgliedern und der Gesellschaft möglich sein, wenn ein Organ oder ein Organmitglied seine Kompetenzen überschritten hat,26 wenn sich ein Organmitglied gegen einen Organbeschluss wendet27 und sogar wenn der Vorstand rechtmäßiges Verhalten des Aufsichtsrats und seiner Mitglieder erzwingen will.28 Was mit der Ablehnung des Organstreits verhindert werden soll, ist bei Lichte besehen lediglich die allgemeine Verhaltenskontrolle des Vorstands durch den Auf-

20 S. bereits die Nachw. in Fn. 8. 21 So Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, Vorb. § 76 AktG Rz. 4. 22 Hüffer/J. Koch, 13. Aufl. 2018, § 90 AktG Rz. 24.  23 Baumann, Die Rechte des einzelnen Aufsichtsratsmitglieds, 2017, S. 105. 24 Brücher, AG 1989, 190, 191. 25 Hüffer/J. Koch, 13. Aufl. 2018, § 90 AktG Rz. 24. 26 Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 111 AktG Rz. 112; Stodolkowitz, ZHR 154 (1990), 1, 8 f., 13 f.; bei Kompetenzüberschreitungen des AR-Vorsitzenden auch Hüffer/J. Koch, 13. Aufl. 2018, § 107 AktG Rz. 8; a.A. Grigoleit/Tomasic in Grigoleit, 2013, § 90 AktG Rz. 34 f. 27 Für den Aufsichtsrat BGH v. 17.5.1993 – II ZR 89/92, BGHZ 122, 342, 344 ff. = NJW 1993, 2307; Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 108 AktG Rz. 85; für den Vorstand Spindler in MünchKomm. AktG, 5.  Aufl. 2019, §  77 AktG Rz.  29; M. Weber in Hölters, 3. Aufl. 2017, § 77 AktG Rz. 26. 28 J. Koch, ZHR 180 (2016), 578, 609 ff. A.A. Lewerenz, Leistungsklagen zwischen Organen und Organmitgliedern der Aktiengesellschaft, 1977, S. 135 ff.

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sichtsrat,29 die im Hinblick auf die Organisationsverfassung der Aktiengesellschaft in der Tat nicht unproblematisch ist und deshalb von zahlreichen Befürwortern der Lehre von Organrechten nicht zugelassen wird.30 Wollte man in die Rolle des Jubilars schlüpfen und die Aussagen aus den Kommentaren in Gesetzesform gießen, lautete § 1 des Organstreitgesetz-Entwurfs schlicht: „Der Organstreit ist unzulässig“. Ein Ausnahmekatalog in § 2 listete Fälle auf, in denen ein verkappter Inter- oder Intraorganstreit doch zulässig wäre. Am Ende des Tages wäre der Ausnahmekatalog so lang, dass die Regel letztlich nur eine Konstellation erfasste. Die ersten Stellungnahmen zum Gesetzesentwurf würden vermutlich die Frage aufwerfen, ob die Regel richtig formuliert ist. 3. Organstreit als Dammbruch? Die Kritiker eines solchen hypothetischen Gesetzesentwurfs hätten Recht. Es ist wenig sinnvoll, eine Regel aufzustellen, um sie sodann in einem Atemzug durch so viele Ausnahmen zu konterkarieren, dass der Anwendungsbereich dieser Regel auf einen Fall schrumpft. Hinzu kommt, dass dieses seltsam anmutende Vorgehen nicht durch dogmatische Zwangsläufigkeit bedingt ist. Teilt man die Beobachtung, dass die Traditionalisten die Lehre von Organrechten ablehnen, um die allgemeine Verhaltenskontrolle des Vorstands durch den Aufsichtsrat zu verhindern,31 liegt es nahe, dass ihre Beweggründe eher psychologischer denn dogmatischer Natur sind. Der herrschenden Kommentarliteratur liegt nämlich die Befürchtung zugrunde, dass die Anerkennung des Organstreits zu einem Dammbruch führt und die Gesellschaftsorgane sich permanent gegenseitig verklagen, statt ihre Energie zum Wohle des Unternehmens einzusetzen.32 29 Grigoleit/Tomasic in Grigoleit, 2013, § 90 AktG Rz. 33; Habersack in MünchKomm. AktG, 5.  Aufl. 2019, §  111 AktG Rz.  112; Spindler in Spindler/Stilz, 4.  Aufl. 2019, §  108 AktG Rz. 87; Stodolkowitz, ZHR 154 (1990), 1, 10 ff. 30 S. statt vieler Grobe, Inter- und Intraorganklagen in der Aktiengesellschaft, § 28 C III (im Erscheinen); Schürnbrand, Organschaft im Recht der privaten Verbände, 2007, S. 388 ff. A.A. T. Raiser, ZGR 1989, 44, 56 ff., 63 ff.; v. Schenck in Semler/v. Schenck, Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder, 4.  Aufl. 2013, §  7 Rz.  334.  Für Eingriffsrecht des Aufsichtsrats bei schwerwiegenden Rechtsverstößen des Vorstands Peine, Der Organstreit im Recht der Aktiengesellschaft und der Gesellschaft mit beschränkter Haftung, 2017, S. 122 ff. 31 Ausgerechnet die allgemeine Verhaltenskontrolle ist aber auch dann denkbar, wenn man den echten Organstreit nicht anerkennen will: Bejaht man den Rechtsgrundsatz, dass drohende, zum Schadensersatz führende Handlungen nicht hingenommen werden müssen – ein Gedanke, der etwa dem quasi-negatorischen Unterlassungsanspruch analog §§ 1004, 823 Abs. 1 BGB zugrunde liegt (s. etwa Förster in BeckOK BGB, 49. Edition, Stand 1.2.2019, § 823 BGB Rz. 50 ff. m.w.N.) – kann man aus § 93 Abs. 2 AktG einen Unterlassungsanspruch der Gesellschaft gegen die Vorstandsmitglieder herleiten, der nach §  112 AktG durch den Aufsichtsrat geltend gemacht wird, vgl. dazu A. Teichmann in FS Mühl, S. 663, 675 ff. A.A. für die Publikums-KG BGH v. 11.2.1980 – II ZR 41/79, BGHZ 76, 160, 167 f. = NJW 1980, 1463. Dagegen wiederum Grunewald, DB 1981, 407, 408 f. 32 Besonders deutlich kommt diese Besorgnis zum Ausdruck bei Mertens, ZHR 154 (1990), 24, 26  ff. S.  ferner Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3.  Aufl. 2010, Vorb. §  76 AktG Rz. 4. Zum Begriff des Dammbruchs in diesem Kontext J. Koch, ZHR 180 (2016), 578, 610.

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Diese Angst vor der Lehre von Organrechten ist aus mehreren Gründen unberechtigt. Aus einer praktischen Perspektive kann die Anerkennung des Organstreits zu keinem Dammbruch mehr führen, weil dieser längst erfolgt ist: Als die Rechtsprechung und herrschende Kommentarliteratur den verkappten Organstreit im Namen der und ­gegen die Gesellschaft absegneten, schufen sie für die Verwaltungsorgane und ihre Mitglieder genügend Möglichkeiten, sich gegenseitig vor Gericht zu zerren. Dies hat allerdings nicht dazu geführt, dass sich die Organwalter ihre Schreibtische in den Unternehmenszentralen abbauen und in den Gerichtssälen anmontieren ließen, und es wird sich nicht dadurch ändern, dass man die schwerfällige Konstruktion der Traditionalisten durch eine einfachere Lösung ersetzt. Der Umstand, dass ein Gesellschaftsorgan theoretisch klagen kann, führt nicht automatisch dazu, dass das Organ von der Klagemöglichkeit Gebrauch macht. Es kann sein, dass sich das Organ für eine informelle Lösung des Problems entscheidet. Es kann aber genauso gut sein, dass es keinen anderen Ausweg sieht als eine Klageerhebung. Diese Entscheidung können nur die Organe selbst treffen und nicht die Rechtswissenschaft.33 Überdies führt die Anerkennung des echten Organstreits nicht automatisch dazu, dass sich die Gesellschaftsorgane aus jedem erdenklichen Grund vor Gericht zerren  dürfen. Vielmehr spricht sich die Lehre von Organrechten nur dafür aus, Vorstand und Aufsichtsrat abstrakt als Subjekte zu akzeptieren, denen gewisse materielle Rechtspositionen zugewiesen sind und die deshalb nach § 50 ZPO parteifähig sind. Damit ist aber noch nicht gesagt, wann die Verwaltungsorgane und ihre Mitglieder im konkreten Fall eine solche Rechtsposition tatsächlich innehaben. Dies hängt davon ab, ob das Aktienrecht ihnen im konkreten Fall einen materiell-rechtlichen Anspruch zuweist, so dass sie auf prozessualer Ebene klagebefugt sind. Es ist also zu unterscheiden zwischen der Rechts- und Parteifähigkeit einerseits und der Klagebefugnis andererseits. Selbst wenn man die Klagebefugnis bejaht, ist weiter zu untersuchen, ob die Organe und ihre Mitglieder ihre Rechte mit außerprozessualen Instrumenten durchsetzen können, so dass ihnen das Rechtsschutzbedürfnis fehlt.34 Greifen die Organe oder ihre Mitglieder vorschnell auf die Klagemöglichkeiten zu, steht zudem das (weit verstandene) Sanktionsrecht als Korrektiv bereit.35 Leiten sie mutwillig einen Organstreit ein, der unnötige Prozess- und Anwaltskosten provoziert, belasten sie damit die Kasse der Gesellschaft und lähmen ihre Aktivitäten, was nicht der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters entspricht. 33 So auch Schwab, Das Prozeßrecht gesellschaftsinterner Streitigkeiten, 2005, S. 601; Steinbeck, Überwachungspflicht und Einwirkungsmöglichkeiten des Aufsichtsrats in der Ak­ tiengesellschaft, 1992, S. 186. 34 Dies ist etwa der Fall, wenn ein Vorstandsmitglied einen Vorstandsbeschluss für rechtswidrig hält. In einem solchen Fall muss das Mitglied zunächst die verbandsinternen Konfliktlösungsmechanismen ausschöpfen (etwa den Aufsichtsrat als Streitschlichter einschalten), bevor es eine Klage erheben darf, s. nur Wettich, Vorstandsorganisation in der Aktiengesellschaft, 2008, S. 280 f. 35 S. hierzu Grobe, Inter- und Intraorganklagen in der Aktiengesellschaft, § 26 A (im Erscheinen); Steinbeck, Überwachungspflicht und Einwirkungsmöglichkeiten des Aufsichtsrats in der Aktiengesellschaft, 1992, S. 186 f.

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Dieser Sorgfaltsverstoß kann zum einen haftungsrechtliche Folgen auslösen (§  93 Abs. 2 AktG, ggf. i.V.m. § 116 Satz 1 AktG), zum anderen kann er Personalmaßnahmen nach sich ziehen (§ 84 Abs. 3 und § 103 Abs. 3 AktG). Dieses Sanktionsrisiko kann ebenfalls dazu beitragen, dass die Organe und ihre Mitglieder die prozessualen Instrumente mit Bedacht einsetzen. 4. Anerkennung der Organrechte als praktikable Lösung Schichtet man die Fragen nach der Rechts- und Parteifähigkeit, der Klagebefugnis und dem Rechtsschutzbedürfnis voneinander ab und wendet man sich zunächst der Rechts- und Parteifähigkeit zu, stellt man fest, dass sich dem Aktienrecht durchaus entnehmen lässt, dass die Verwaltungsorgane als solche einander zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet sind und dass sie spiegelbildlich gegeneinander Ansprüche geltend machen können.36 So deutet die Zuweisung der Kompetenzbereiche an den Vorstand und Aufsichtsrat darauf hin, dass das Gesetz diesen Organen wehrfähige Rechtspositionen einräumt. Auch § 245 Nr. 4 AktG, aus dem die Anfechtungsbefugnis des Vorstands als solchem folgt, zeigt, dass dem deutschen Aktienrecht die Vorstellung nicht fremd ist, dass Organe als Inhaber von Rechtspositionen in Betracht kommen. Dafür spricht überdies der Wortlaut der §§ 90, 111 Abs. 2, 170 Abs. 1, 3, 314 Abs. 1 AktG, die wie typische Anspruchsgrundlagen formuliert sind und somit den Verwaltungsorganen und ihren Mitgliedern Rechte einräumen und Pflichten auferlegen.37 Es ist ein Kunstgriff, diese Vorschriften mit der herrschenden Kommentarliteratur dahingehend zu lesen, dass die Gesellschaft die Inhaberin der Ansprüche bzw. die Adressatin der Pflichten ist und dabei im Prozess durch die Organe vertreten wird. Dieser Kunstgriff verkompliziert die Rechtslage unnötig und führt zu systematischen Ungereimtheiten. So wurde bereits vielerorts festgestellt, dass sich nicht erklären lässt, wieso die Gesellschaft die Inhaberin des Anspruchs aus § 90 Abs. 3 Satz 1 AktG ist, zugleich aber in § 90 Abs. 3 Satz 2 AktG als Anspruchsgegnerin adressiert werden soll, obwohl beide Regelungen denselben Bericht betreffen, den der Vorstand erstatten muss. Es ist ein gewöhnungsbedürftiger Gedanke, dass die Gesellschaft hinsichtlich eines Berichts mal der Gläubiger, mal der Schuldner ist. Diese Ungereimtheiten kann man vermeiden, indem man die Gesellschaft außen vor lässt und auf die Beziehungen zwischen den Organen abstellt.38 Auch etwaige Wechsel der Organbesetzung führen auf dem Boden der herrschenden Kommentarliteratur zu unnötigen Komplikationen: Klagt die Gesellschaft, vertreten durch den Aufsichtsrat, gegen die Vorstandsmitglieder aus § 90 Abs. 3 Satz 1 AktG und wird ein Vorstandsmitglied im Laufe des Prozesses aus36 Überblick bei Grobe, Inter- und Intraorganklagen in der Aktiengesellschaft, § 22 C V (im Erscheinen). 37 Auf den Wortlaut abstellend Fleischer in Spindler/Stilz, 4.  Aufl. 2019, §  90 AktG Rz.  70; Müller-Michaels in Hölters, 3. Aufl. 2017, § 90 AktG Rz. 22; Hommelhoff, ZHR 143 (1979), 288, 291; Poseck, DB 1996, 2165, 2166. A.A. Hüffer/J. Koch, 13. Aufl. 2018, § 90 AktG Rz. 19; H. Westermann in FS Bötticher, 1969, S. 369, 377. 38 Statt vieler Schürnbrand, Organschaft im Recht der privaten Verbände, 2007, S.  369  f.; Schwab, Das Prozeßrecht gesellschaftsinterner Streitigkeiten, 2005, S. 582.

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getauscht, muss die Gesellschaft die Klage auf den neuen Geschäftsleiter erweitern. Dies ist aber nicht erforderlich, wenn die Klage von vornherein gegen den Vorstand als solchen gerichtet ist.39 Auch im Hinblick auf die Prozesskosten, Rechtskraft und Zwangsvollstreckung ist die Lehre von Organrechten der tradierten Auffassung überlegen.40 Diese Beispiele zeigen, dass die dogmatischen Klimmzüge der Traditionalisten weder der Reinheit des deutschen Aktienrechts dienen noch einem zentralen Gebot der Seibert’schen Gesetzgebungslehre standhalten: Sie sind alles andere als einfach. Deshalb ist es vorzugswürdig, sich einen Ruck zu geben und zu akzeptieren, dass die Verwaltungsorgane einer Aktiengesellschaft eigene wehrfähige Rechtspositionen innehaben können und deshalb nach §  50 ZPO parteifähig sind. Ob man aus diesem Grund die  volle Rechtfähigkeit der Organe anerkennt41 oder bloß von Teilrechtsfähigkeit der  Organe, Organrechtsfähigkeit42 oder relativer Rechtsfähigkeit43 spricht, ist eine bloß terminologische Frage.44 Man kann mit erheblicher wissenschaftlicher Energie und intradisziplinärem Blick auf Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie darüber sinnieren, was Rechtsfähigkeit bedeutet und ob sie auch Organisationseinheiten einer juristischen Person zukommt. Der Ertrag dieser Diskussion ist aus einer rechtstheoretischen Perspektive groß, im Kontext aktienrechtlicher Inter- und Intraorganstreitigkeiten verdunkelt die Debatte aber das Problem, statt zu dessen Lösung beizutragen. Die zentrale Frage lautet nämlich nicht „Rechtsfähigkeit der Organe – ja oder nein?“, sondern „Räumt das Aktiengesetz Organen und/oder Organmitgliedern Rechtspositionen ein, auf die sich die Klagebefugnis stützen lässt und die nur mit gerichtlicher Hilfe durchgesetzt werden können?“ 5. Folgen der Lehre von Organrechten für Informationsversorgung a) Interorganstreit zwischen Vorstand und Aufsichtsrat Folgt man mit der hier vertretenen Auffassung der Lehre von Organrechten, ist der Aufsichtsrat gem. §  50 ZPO als solcher parteifähig; die Klagebefugnis kann er auf §§ 90, 111 Abs. 2, 170 Abs. 1, 314 Abs. 1 Satz 1 AktG stützen. Um die Klage zu erheben, muss der Aufsichtsrat zunächst gem. § 108 Abs. 1 AktG mit einfacher Mehrheit 39 Zu den Vorzügen der Lehre von Organrechten in dieser Hinsicht Schwab, Das Prozeßrecht gesellschaftsinterner Streitigkeiten, 2005, S. 596 ff. 40 Ausf. dazu Bauer, Organklagen zwischen Vorstand und Aufsichtsrat der Aktiengesellschaft, 1986, S. 80 ff.; Grobe, Inter- und Intraorganklagen in der Aktiengesellschaft, §§ 24, 25 (im Erscheinen); Peine, Der Organstreit im Recht der Aktiengesellschaft und der Gesellschaft mit beschränkter Haftung, 2017, S. 172 ff. 41 Dafür Grobe, Inter- und Intraorganklagen in der Aktiengesellschaft, § 21 C, § 22 C IV (im Erscheinen); Bork, ZGR 1989, 1, 12 ff. 42 Diese begrifflichen Vorschläge wirft etwa Hommelhoff, ZHR 143 (1979), 288, 303 f. in den Raum. 43 Vgl. Bauer, Organklagen zwischen Vorstand und Aufsichtsrat der Aktiengesellschaft, 1986, S. 33 ff., 49 ff. 44 So wohl auch Steinbeck, Überwachungspflicht und Einwirkungsmöglichkeiten des Aufsichtsrats in der Aktiengesellschaft, 1992, S. 174, 176: begriffliche Differenzen.

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einen Beschluss fassen, in dem er über die gerichtliche Durchsetzung der Informa­ tionsansprüche entscheidet. Auf Grundlage dieses Beschlusses kann ein vom Aufsichtsrat beauftragtes Mitglied, etwa der Aufsichtsratsvorsitzende, die Klage gegen den Vorstand als solchen erheben. Auf Seiten des Vorstands bietet es sich an, die Vorschriften über die Vertretung der Gesellschaft entsprechend heranzuziehen; der Vorstand wird also im Organstreit nach Maßgabe des § 78 AktG vertreten. Das Rechtsschutzbedürfnis des Aufsichtsrats kann nicht mit einem Verweis auf § 407 Abs. 1 AktG bestritten werden: Es entspricht allgemeiner Auffassung, dass das Zwangsgeldverfahren allein dem öffentlichen Interesse dient und nicht der Durchsetzung der individuellen Rechte.45 Auch die Möglichkeit des Aufsichtsrats, die Vorstandsmitglieder wegen verweigerter Informationserteilung gem. § 84 Abs. 3 AktG abzuberufen oder gem. § 93 Abs. 2 AktG auf Schadensersatz in Anspruch zu nehmen, lässt das Rechtsschutzbedürfnis nicht entfallen: Ein Abberufungs- und Schadensersatzprozess erreicht eine öffentlichkeitswirksame Eskalationsstufe, die weit über dem gegenständlich abgegrenzten Streit über die Informationserteilung liegt.46 b) Durchsetzung der Individualansprüche durch Aufsichtsratsmitglieder Will ein Aufsichtsratsmitglied die Informationsansprüche gerichtlich geltend machen, ist danach zu differenzieren, ob der Vorstand seinen Pflichten gegenüber dem Gesamtaufsichtsrat nachgekommen ist oder nicht. Weigert sich der Vorstand, an den Aufsichtsrat gem. § 90 AktG zu berichten, und will das Überwachungsorgan nicht gegen das Leitungsorgan vorgehen, kann ein Aufsichtsratsmitglied nach § 90 Abs. 3 Satz 2 AktG aus eigenem Recht die Berichterstattung an das Gremium verlangen und eine Klage gegen den Vorstand erheben.47 Geht es um die Vorlage der Unterlagen nach §§ 170 Abs. 1, 314 Abs. 1 Satz 1 AktG, ist zwar ein solcher Individualanspruch des einzelnen Aufsichtsratsmitglieds nicht ausdrücklich vorgesehen. Es spricht jedoch viel dafür, § 90 Abs. 3 Satz 2 AktG analog anzuwenden: Das Aufsichtsratsmitglied kann seine Überwachungsaufgabe aus § 111 Abs. 1 AktG nur dann effektiv ausüben, wenn der Vorstand dem Überwachungsgremium die in §§  170, 314 AktG aufgezählten Unterlagen vorlegt; dies kann das einzelne Mitglied analog § 90 Abs. 3 Satz 2 AktG erzwingen. Anderenfalls läuft das Individualrecht aus §§ 170 Abs. 3, 314 Abs. 1 Satz 2 AktG leer.

45 Dies räumen auch die Traditionalisten ein, grundlegend H. Westermann in FS Bötticher, 1969, S. 369, 371 ff.; dem folgend etwa Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 90 AktG Rz.  62.  A.A. hinsichtlich der Informationsrechte der Aufsichtsratsmitglieder Baumann, Die Rechte des einzelnen Aufsichtsratsmitglieds, 2017, S. 231 f. 46 Peine, Der Organstreit im Recht der Aktiengesellschaft und der Gesellschaft mit beschränkter Haftung, 2017, S. 22 f.; Steinbeck, Überwachungspflicht und Einwirkungsmöglichkeiten des Aufsichtsrats in der Aktiengesellschaft, 1992, S.  183  f.; Poseck, DB 1996, 2165, 2167; s. auch K. Schmidt, ZZP 92 (1979), 212, 229 f.: Verfeinerung des Instrumentariums. Anders v. Schenck in Semler/v. Schenck, Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder, 4.  Aufl. 2013, § 7 Rz. 314; Borgmann, Der Organstreit in der Kapitalgesellschaft, 1996, S. 237 f. 47 Bork, ZGR 1989, 1, 32 f. A.A. wohl Hommelhoff, ZHR 143 (1979), 288, 315.

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Anders ist die Rechtslage im Zusammenhang mit den Einsichts- und Prüfungsbefugnissen aus § 111 Abs. 2 AktG. Wie in §§ 170, 314 AktG sieht das Gesetz auch bei § 111 Abs.  2 AktG ein Erzwingungsrecht des Aufsichtsratsmitglieds nicht vor, wenn der Vorstand dem Überwachungsorgan die Einsichtnahme verweigert. Hier ist es aber nicht möglich, ein Individualrecht im Wege der Analogie zu § 90 Abs. 3 Satz 2 AktG zu konstruieren:48 Die Prüfung nach § 111 Abs. 2 AktG weist eine höhere Intensität auf als die Berichterstattung nach § 90 AktG, so dass ein Aufsichtsratsmitglied gehalten ist, einen Aufsichtsratsbeschluss herbeizuführen, in dem über die gerichtliche Durchsetzung des Anspruchs aus § 111 Abs. 2 AktG entschieden wird. Weigert sich die Aufsichtsratsmehrheit, gegen den Vorstand gerichtlich vorzugehen, um die Einsichts- und Prüfungsbefugnisse aus § 111 Abs. 2 AktG durchzusetzen, kann sich das überstimmte Aufsichtsratsmitglied gegen den Aufsichtsratsbeschluss wenden, nicht aber den Konflikt innerhalb des Überwachungsgremiums auf dem Rücken des Vorstands austragen.49 Ist der Vorstand seinen Pflichten aus §§ 90 Abs. 1 und 3, 170 Abs. 1, 314 Abs. 1 Satz 1 AktG nachgekommen, befinden sich die Berichte und sonstigen Unterlagen in der Regel in den Händen des Aufsichtsratsvorsitzenden,50 der nach §§  90 Abs.  5, 170 Abs. 3, 314 Abs. 1 Satz 2 AktG verpflichtet ist, die Informationen an die Aufsichtsratsmitglieder weiterzuleiten. Erfüllt der Vorsitzende diese Pflicht nicht  – etwa weil er befürchtet, dass vertrauliche Informationen an die Außenwelt gelangen – können die einzelnen Mitglieder eine Klage erheben, die gegen den Aufsichtsratsvorsitzenden zu richten ist. Damit ist nicht die natürliche Person gemeint, die im Zeitpunkt der Klageerhebung den Posten des Vorsitzenden bekleidet, sondern der Aufsichtsratsvorsitzende als herausgehobener Teil des Kollegialorgans. Eine Klage gegen die konkrete Person wäre nur dann sinnvoll, wenn der Vorstand die Berichte mündlich erstatten würde, so dass nur der Berichtsempfänger in der Lage wäre, die Informationen weiterzugeben.51 § 90 Abs. 4 Satz 2 AktG sieht aber die Berichterstattung in Textform als Regelfall vor. Deshalb ist die Weitergabe der Informationen unabhängig davon möglich, wer den Posten des Vorsitzenden bekleidet. Vor diesem Hintergrund erscheint eine Klage gegen den Aufsichtsratsvorsitzenden als Teil des Kollegialorgans vorzugswürdig, weil bei einem etwaigen Vorsitzwechsel keine Klageänderung erforderlich ist und der neue Vorsitzende die Berichte und sonstigen Unterlagen aushändigen kann.

48 So auch im Ergebnis Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 111 AktG Rz. 73; Hopt/M. Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 111 AktG Rz. 379 f.; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2013, § 111 AktG Rz. 56; Lutter, Information und Vertraulichkeit im Aufsichtsrat, 3. Aufl. 2006, Rz. 284. 49 Insoweit zutr. BGH v. 28.11.1988 – II ZR 57/88, BGHZ 106, 54, 62 ff. = NJW 1989, 979; OLG Celle v. 9.10.1989 – 9 U 186/89, NJW 1990, 582, 583; OLG Stuttgart v. 30.5.2007 – 20 U 14/06, AG 2007, 873, 874 f.; Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 111 AktG Rz. 112. 50 Zum Adressaten der Berichterstattung statt vieler Hüffer/J. Koch, 13. Aufl. 2018, § 90 AktG Rz. 14, § 170 AktG Rz. 4, § 314 AktG Rz. 2. 51 Davon geht noch etwa Lewerenz, Leistungsklagen zwischen Organen und Organmitgliedern der Aktiengesellschaft, 1977, S. 100 aus.

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IV. Informationsversorgung des besonderen Vertreters Die vorstehenden Überlegungen zur Information der Aktionäre und des Aufsichtsrats werden seit Jahren angestellt. Verhältnismäßig neu ist die Debatte um die Durchsetzung der Informationsrechte zweier weiterer Akteure, die nur gelegentlich die aktienrechtliche Bühne betreten. Seit den Streitigkeiten rund um die Übernahme der HypoVereinsbank durch die UniCredit ist die Informationsversorgung des besonderen Vertreters ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt.52 Die gerichtliche Anordnung einer Sonderprüfung im VW-Abgasfall53 könnte eine Debatte über die Durchsetzung der Informationsrechte des Sonderprüfers auslösen. Wendet man sich zunächst dem besonderen Vertreter zu, findet man keine Vorschrift, die dessen Ermittlungsbefugnisse ausdrücklich regelt. Die inzwischen ganz herrschende Auffassung räumt ihm dennoch Informationsrechte als Annexkompetenzen ein, die allerdings nicht so weit gehen wie die Befugnisse des Aufsichtsrats nach § 111 Abs. 2 AktG und des Sonderprüfers nach § 145 Abs. 1 bis 3 AktG.54 Diese Informa­ tionsrechte kann der besondere Vertreter gerichtlich durchsetzen, wobei die überwiegende Ansicht denselben Weg geht wie die herrschende Kommentarliteratur bei Informationsansprüchen des Aufsichtsrats und eine Klage gegen die vom Vorstand vertretene Gesellschaft befürwortet.55 Nur vereinzelt wird vertreten, dass die Klage des Sondervertreters gegen das Verwaltungsorgan zu richten ist, das die benötigten Informationen hat, meist also gegen den Vorstand.56 Vorzugswürdig ist die letztgenannte Auffassung: Hält man einen echten Organstreit zwischen Vorstand und Aufsichtsrat für möglich, ist es nur konsequent, den Streit um die Informationsversorgung des besonderen Vertreters zwischen diesem und dem Vorstand austragen zu lassen. Dabei ist es unerheblich, wie man sich in der Debatte um die Organqualität des besonderen Vertreters positioniert. Wer den Sondervertreter mit der herrschenden Auffassung als Organ der Gesellschaft ansieht,57 mag von einem Interorganstreit sprechen. Wem der Organbegriff zu heilig ist, um ihn auf den 52 Hierzu etwa Verhoeven, ZIP 2008, 245 ff. 53 OLG Celle v. 8.11.2017 – 9 W 86/17, NZG 2017, 1381. 54 Zutr. M. Arnold in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 147 AktG Rz. 70; Hüffer/J. Koch, 13. Aufl. 2018, § 147 AktG Rz. 15. Zu großzügig etwa Mock, ZHR 181 (2017), 688, 718 ff. 55 LG Heidelberg v. 4.12.2015 – 11 O 37/15 KfH, ZIP 2016, 471, 472; M. Arnold in MünchKomm. AktG, 4.  Aufl. 2018, §  147 AktG Rz.  74; Herrler in Grigoleit, 2013, §  147 AktG Rz. 14; Hüffer/J. Koch, 13. Aufl. 2018, § 147 AktG Rz. 16; Lochner in Heidel, 4. Aufl. 2014, § 147 AktG Rz. 24. Zum einstweiligen Rechtsschutz s. die Nachw. in Fn. 1. 56 Rieckers/J. Vetter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 147 AktG Rz. 691 ff.; Spindler in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 147 AktG Rz. 29 (trotz der ablehnenden Haltung gegenüber dem Organstreit zwischen Vorstand und Aufsichtsrat, s. unter III 1 mit Fn. 8); Schürnbrand, Organschaft im Recht der privaten Verbände, 2007, S. 397. So wohl auch Mock in Spindler/ Stilz, 4. Aufl. 2019, § 147 AktG Rz. 141: Interorganstreit. S. ferner OLG Köln v. 4.12.2015 – 18 U 149/15, NZG 2016, 147, 148: Klage gegen die AG bzw. den Vorstand als zuständiges Organ. 57 BGH v. 18.12.1980 – II ZR 140/79, NJW 1981, 1097, 1098; BGH v. 27.9.2011 − II ZR 225/08, NZG 2011, 1383, 1394; Hüffer/J. Koch, 13. Aufl. 2018, § 147 AktG Rz. 13 m.w.N.

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besonderen Vertreter auszuweiten,58 mag im Anschluss an Uwe Hüffer von einem Sachwalter sprechen,59 der einen Prozess gegen den Vorstand als Organ führt. Die Diskussion um die Organqualität des Sondervertreters ist ohnehin eine Nebelkerze, die – wie auch der Streit um die Rechtsfähigkeit der „echten“ Organe – das maßgebliche Problem verschleiert. Entscheidend ist nämlich, ob das Aktienrecht dem besonderen Vertreter eine wehrhafte Rechtsposition einräumt. Erkennt man die Ermittlungsbefugnisse als Annexkompetenzen des besonderen Vertreters an, ist es folgerichtig, ihm auf verfahrensrechtlicher Ebene die Klagebefugnis einzuräumen. Hält man es für möglich, dass der Vorstand als solcher gegenüber dem Aufsichtsrat zur Informationsweitergabe verpflichtet ist, ist es konsequent, das Geschäftsleitungsorgan als parteifähigen Schuldner des Sondervertreters anzusehen.

V. Informationsversorgung des Sonderprüfers Geht man in einem letzten Schritt auf den Sonderprüfer ein, findet man in §  145 Abs. 1 bis 3 AktG eine Reihe von Vorschriften, die dessen Informationsversorgung sicherstellen: Der Vorstand muss dem Sonderprüfer die Einsicht und Prüfung der Bücher, Schriften und Vermögensgegenstände der Gesellschaft gestatten. Der Sonderprüfer kann von Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern alle Aufklärungen und Nachweise verlangen, die eine sorgfältige Prüfung notwendig machen; diese Rechte gelten gegenüber einem Konzernunternehmen sowie gegenüber einem abhängigen oder herrschenden Unternehmen. Ob der Sonderprüfer diese Ansprüche auf zivilprozessualem Wege durchsetzen kann, beantwortet das Gesetz nicht. Die Antwort des Schrifttums ist eindeutig: Der Sonderprüfer kann seine Ermittlungsrechte aus § 145 Abs. 1 bis 3 AktG nicht in einem Zivilprozess geltend machen. Stattdessen wird auf die Zwangsgeldfestsetzung nach § 407 Abs. 1 AktG, die Schadensersatzhaftung der Verwaltungsmitglieder gem. §§ 93, 116 AktG und die Möglichkeit verwiesen, die fehlende Kooperation des Vorstands und Aufsichtsrats in den Sonderprüfungsbericht aufzunehmen.60 Dieses Auseinanderdriften des materiellen Rechts und Verfahrensrechts ist verblüffend, wenn man sich daran erinnert, dass Rechtsprechung und Schrifttum es dem besonderen Vertreter gestatten, seine Informationsansprüche – die als gesetzlich nicht 58 Gegen die Qualifizierung des Sondervertreters als Organ etwa Grobe, Inter- und Intraorganklagen in der Aktiengesellschaft, § 8 C II 3 c (im Erscheinen); G. Wirth in FS Hüffer, 2010, S. 1129, 1143 f. 59 Hüffer, ZHR 174 (2010), 642, 676. 60 Vgl. M. Arnold in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 145 AktG Rz. 22 ff.; Holzborn/Jänig in Bürgers/Körber, 4. Aufl. 2017, § 145 AktG Rz. 8; Herrler in Grigoleit, 2013, § 145 AktG Rz. 5; Liebscher in Henssler/Strohn, GesR, 3. Aufl. 2016, § 145 AktG Rz. 6; Mock in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 145 AktG Rz. 24 ff.; Rieckers/J. Vetter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 145 AktG Rz. 76 ff.; Spindler in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 145 AktG Rz. 19; Jänig, Die aktienrechtliche Sonderprüfung, 2005, S. 373; Slavik, WM 2017, 1684, 1692 f.

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geregelte Annexkompetenzen angesehen werden und nicht an die Ermittlungsbefugnisse des Aufsichtsrats und Sonderprüfers heranreichen – zivilprozessual durchzusetzen.61 Diese Diskrepanz ist dogmatisch nicht zu erklären. Vielmehr ist es widersprüchlich, einem Akteur, der eine eher schwache, auf Rechtsfortbildung beruhende materiell-rechtliche Position hat, prozessuale Instrumente an die Hand zu geben, zugleich aber die starke materiell-rechtliche Position eines anderen Akteurs auf verfahrensrechtlicher Ebene zu konterkarieren. Der Grund für diese Diskrepanz ist nicht in der aktienrechtlichen Dogmatik zu suchen. Vielmehr liegt es nahe, dass die Wissenschaft bislang keinen Schub seitens der Praxis bekommen hat, sich mit der zivilprozessualen Durchsetzung der Ermittlungsbefugnisse aus § 145 Abs. 1 bis 3 AktG vertieft zu befassen. Dass diese Vermutung nicht völlig unplausibel ist, zeigt ein Seitenblick auf die Entwicklung der Diskussion über die Informationsversorgung des besonderen Vertreters: Vor dem HypoVereins­ bank-Streit suchte man vergeblich nach ausführlichen Stellungnahmen zu den Ermittlungsbefugnissen des Sondervertreters. Erst ein forsches Vorgehen eines Bonner Praktikers hat die bis dato träge Wissenschaft dazu bewegt, diesem Problemkreis auf den Grund zu gehen. Im Zusammenhang mit dem Sonderprüfer ist die Wissenschaft immer noch träge, weil bislang der Schub aus der Praxis fehlt: Entweder zeigen sich die Verwaltungsorgane im Rahmen der Sonderprüfung kooperativ und provozieren damit keine Rechtsstreitigkeiten oder es ist noch kein Sonderprüfer auf die Idee gekommen, seine Ermittlungsbefugnisse zivilprozessual durchzusetzen – was im Hinblick auf die einmütigen Stellungnahmen im Schrifttum nicht überraschend wäre. Diese Einmütigkeit sollte den Wissenschaftler freilich nicht davon abhalten, die bislang vertretenen Ansichten auch ohne Impulse aus der Praxis zu hinterfragen. Die Systematik der §§ 142 ff. und § 147 AktG spricht dafür, dass die Kommentatoren des § 145 AktG falsch liegen. Wer den Sonderprüfer als den Akteur ansieht, der in erster Linie den Boden für die Durchsetzung etwaiger Haftungsansprüche vorbereitet,62 sollte seine materiell-rechtliche Position im Prozessrecht spiegeln. § 145 Abs. 1 AktG räumt dem Sonderprüfer ähnliche Ermittlungsbefugnisse ein wie § 111 Abs. 2 Satz 1 AktG dem Aufsichtsrat; § 145 Abs. 2 und 3 AktG flankiert diese Befugnisse durch Auskunftsansprüche. Diese Regelungen erlauben es, den Sonderprüfer als rechtsfähig und damit parteifähig i.S.d. § 50 ZPO anzusehen. Sie können auch herangezogen werden, um dessen Klagebefugnis zu begründen.63 Dass weder § 407 Abs. 1 AktG noch das Sanktionsrecht das Rechtsschutzbedürfnis entfallen lassen, wurde bereits unter 61 Dies bemerkt auch Mock in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 145 AktG Rz. 24, ohne aber aus dieser Inkonsequenz eine dogmatische Schlussfolgerung zu ziehen. 62 Dies behaupten jedenfalls die Autoren, die das Informationsrecht des besonderen Vertreters (zu Recht) einschränken, s. nur M. Arnold in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 147 AktG Rz. 70 m.w.N. 63 Dass ein gerichtliches Verfahren über Prüfungsvorgänge dem Aktienrecht nicht gänzlich fremd ist, zeigt überdies § 35 Abs. 2 AktG, der dem Gründungsprüfer die Möglichkeit gewährt, ein Gericht anzurufen, wenn er mit den Gründern über den Umfang der Aufklärungen und Nachweise streitet. Allerdings dürfte eine analoge Anwendung des §  35 Abs.  2 AktG auf den Sonderprüfer mangels planwidriger Regelungslücke scheitern.

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Rafael Harnos

III 5 a im Zusammenhang mit dem Aufsichtsrat erläutert. Erhebt der Sonderprüfer eine Klage, ist sie gegen die Person zu richten, den die Anspruchsgrundlage als Schuldner benennt: Bei § 145 Abs. 1 AktG ist es der Vorstand, bei § 145 Abs. 2 AktG die Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder.

VI. Zusammenfassung Die vorstehenden Ausführungen sollten gezeigt haben, dass die gerichtliche Durchsetzung der aktienrechtlichen Informationsansprüche dort einfach ist, wo das Gesetz klare Regelungen schafft: bei den Aktionärsauskünften. Wo eine solche Regelung fehlt, neigen Rechtsprechung und Wissenschaft zu komplizierten Konstrukten, weil sie aus nicht überzeugenden Gründen eine simple Lösung ablehnen, die darin liegt, die Lehre von Organrechten und den echten Organstreit anzuerkennen. Ist man bereit zu akzeptieren, dass die Verwaltungsorgane und ihre Mitglieder sowie sonstige Organisationssubjekte innerhalb der Aktiengesellschaft im Verhältnis zueinander über Rechtssubjektivität verfügen und deshalb parteifähig sind, stellt das Zivilprozess­ recht genügend Instrumente zur Verfügung, mit denen ein dogmatisch sauberes und praktikables System der Anspruchsdurchsetzung aufgebaut werden kann. Damit hat man mit dem Jubilar zweierlei gemeinsam: Die Neigung, das Rechtssystem nicht zu verkomplizieren, und den Mut, bei der Rechtsentwicklung bislang unerforschte Wege zu gehen.

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„Kompensation statt Kassation“ – ein überzeugender Grundsatz de lege lata oder de lege ferenda?** Inhaltsübersicht I. Einführung II. Situation de lege lata 1. Ausnahmen von der Kassationsfolge 2. Grundsatz der Kompensation im Sinne eines „Dulde und liquidiere“? 3. Fortbestand des Kassationsgrundsatzes a) Doppelfunktion der Anfechtungsklage b) Kassationsfolge weiterhin vorgesehen und für beide Funktionen notwendig c) Vorschlag von Noack/Zetzsche

III. Perspektive de lege ferenda 1. Prinzip der Verhältnismäßigkeit? ­Alternative Rechtsfolgen? 2. Abrücken vom Kassationsgrundsatz ­würde Missbrauch von Mehrheitsmacht Tür und Tor öffnen 3. Verfassungsrechtliche Erwägungen 4. Unionsrechtliche Erwägungen 5. Zementierung des Fehlers bleibt auch bei Geldzahlung unangemessen IV. Zusammenfassung und Ausblick

I. Einführung Die Feldmühle-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts liegt über 55 Jahre zurück.1 Damals attestierte das Gericht der aktienrechtlichen Anfechtungsklage  – in umwandlungsrechtlichem Kontext – noch eine hinreichend starke Abwehrfunktion, sodass Art. 14 GG (der immer auch durch die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG gesäumt wird) nicht verletzt ist. Dies dürfte nicht zuletzt auf den aktienrechtlichen Kassationsgrundsatz zurückzuführen gewesen sein: Fehler bei der Beschlussfassung machen den Beschluss anfechtbar; dieser ist auf Klage hin grundsätzlich für nichtig zu erklären und damit von Anfang an unwirksam. Im Zuge dessen bezeichnete die Regierungsbegründung zum AktG 1965 das Anfechtungsrecht als „die wirksamste Waffe des Aktionärs“.2

* Der Autor Ridder war von Juni bis August 2018 Stationsreferendar beim Jubilar im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz und anschließend bis Mai 2019 beim Autor Heidel. ** Der Titel des Beitrags beruht auf einer von Prof. Dr. Jens Koch vergebenen, von Victoria Best vorgelegten Seminararbeit im Sommersemester 2018 an der Uni Bonn, der wir zahlreiche Anregungen verdanken. 1 Urt. v. 7.8.1962, BVerfGE 14, 263, 274 f., 283 f. (juris Rz. 40 f., 66). 2 Abgedruckt bei Kropff, AktG 1965, S. 332 f.

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Seit 1962 ist viel Zeit vergangen, und die gesellschaftsrechtliche Gesetzgebung war unterdessen sehr aktiv.3 Zahlreiche Vorhaben mit Bezug zum Aktienrecht sind dem Bundestag vorgelegt worden, die meisten davon wurden (wenn auch mit Änderungen) verabschiedet. Viele der Gesetze entsprangen der Feder und Führung des Jubi­ lars4 – zunächst als Referent, sodann als Referatsleiter und Ministerialrat im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz. Einige entfalteten immense Bedeutung für Theorie und Praxis des Aktienrechts. Für dessen Beschlussmängelrecht gravierend waren namentlich UMAG5 und ARUG.6 Sie normierten – insbesondere mit dem Freigabeverfahren nach § 246a AktG7 – wichtige Durchbrechungen der vorher weitergehend geltenden Kassationsregel. Unser Beitrag erhielt seine thematische Ausrichtung aus Anlass der Neukommentierung des Beschlussmängelrechts 2017 durch Ulrich Noack und Dirk Zetzsche im Kölner Kommentar sowie des Gutachtens zur wirtschaftsrechtlichen Abteilung des 72. Deutschen Juristentages (DJT) 2018, wonach auf Basis von Verhältnismäßigkeitserwägungen lediglich kompensatorische Sanktionen bei erfolgreicher Anfechtung das Kassationsprinzip in vielen Bereichen ersetzen sollen.8 Im Folgenden gehen wir der Frage nach, inwiefern ein Kassationsgrundsatz im aktienrechtlichen Beschlussmängelrecht heute noch besteht und ob seine Ablösung durch einen reinen Kompensationsgedanken de lege ferenda (oder gar schon de lege lata) überzeugen kann.

II. Situation de lege lata Der Grundsatz der kassatorischen Anfechtungsklage bildet den historischen Grundstein des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts. Schon zu Zeiten des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuchs (ADHGB), das ab 1861 in den Staaten des Deutschen Bundes galt,9 war trotz ihrer zunächst fehlenden (einheitlichen) Kodifizierung die Regel anerkannt, dass Beschlüsse einer Gesellschaft, die mit einem Fehler behaftet sind, 3 S.  schon Seibert in Heidel, Aktienrecht und Kapitalmarktrecht, 1.  Aufl. 2003, Abschn.  22 (S. 2705 ff.) – damals in die Zukunft blickend – und zwölf Jahre später Seibert, AG 2015, 593, insbes. 594 ff. – eine Rückblende auf 50 Jahre Aktiengesetz 1965 vornehmend. 4 Nicht immer unter bloßer Zustimmung von jedermann, vgl. Meilicke/Heidel, DB 2004, 1479 („UMAG ‚Modernisierung‘ des Aktienrechts durch Beschränkung des Eigentumsschutzes der Aktionäre“). 5 Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts, BGBl. I 2005, 2802. 6 Gesetz zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie, BGBl. I 2009, 2479. Den Regierungsund den Referentenentwurf vergleichend Seibert/Florstedt, ZIP 2008, 2145. Aus dem Gesetzgebungsverfahren zum ARUG berichtet Seibert in FS U. H. Schneider, 2011, S. 1211. 7 Parallelvorschriften sind § 319 Abs. 6 AktG, § 327e Abs. 2 AktG, § 16 Abs. 3 UmwG und § 20 Abs. 3 Satz 3 SchVG. Im Folgenden wird regelmäßig nur § 246a AktG zitiert, da die anderen Regelungen keinen zusätzlichen Erkenntnisgewinn liefern. 8 Koch, Gutachten F zum 72. DJT 2018. Vgl. dazu Referat Heidel in derselben Abteilung des 72. DJT 2018 (Druckfassung demnächst). Dies war bereits der fünfte DJT, der sich mit der Frage befasst (erstmalig 1926) – näher Noack/Zetzsche in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2017, Vor § 241 Rz. 74. 9 Vgl. etwa Pahlow in Bayer/Habersack, Aktienrecht im Wandel, Bd. I, 237.

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von einem Gesellschafter durch Klage angefochten werden können mit der Folge, dass der Beschluss mit Rechtskraft der stattgebenden gerichtlichen Entscheidung ungültig wird. Das Reichsoberhandelsgericht (ROHG) stellte 1877 fest, dieser Mechanismus könne „im Princip als bestehend anerkannt werden“.10 1884 normierte der Gesetzgeber die kassatorische Anfechtungsklage (Art. 190a des Gesetzes betreffend die KGaA und die AG).11 Dieses Kassationsprinzip hat seither Bestand. Das AktG 1937 (§ 197 Abs. 1 und § 195)12 und das AktG 1965 (§ 243 Abs. 1, § 241 Nr. 5)13 übernahmen es. Bis heute, da sich – inzwischen jahrzehntelange – Debatten um die richtige Ausgestaltung des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts und insbesondere um die Rolle der Kassationsfolge ranken,14 statuieren die §§ 241 Nr. 5, 243, 248 AktG den Grundsatz,15 dass ein Beschluss der Hauptversammlung wegen Verletzung des Gesetzes oder der Satzung angefochten werden kann mit der Folge, dass er bei begründeter Anfechtung zwingend für nichtig zu erklären ist. 1. Ausnahmen von der Kassationsfolge „Kein Grundsatz ohne Ausnahme“ lautet ein in der Jurisprudenz wohl gleichermaßen vielzitierter wie verhasster Erfahrungssatz. In der Tat finden sich im heutigen AktG und UmwG in einer zumindest nicht unerheblichen Anzahl Tatbestände und sogar ganze Verfahren, die die Kette von dem die Rechtswidrigkeit begründenden Fehler in der Beschlussfassung bis zur gerichtlichen Nichtigerklärung des Beschlusses durchbrechen, die den Automatismus aufheben. So können etwa bestimmte Fragen der Bewertung heute gar nicht mehr mit der Anfechtungsklage angegriffen werden.16 Ist eine in der Hauptversammlung beschlossene Maßnahme abfindungs- oder ausgleichs­ pflichtig, begründet auch eine rechtswidrige (in der Regel zu niedrige) Festlegung der Höhe der Abfindung bzw. des Ausgleichs keinen Anfechtungsgrund nach § 243 AktG (exemplarisch § 327f Satz 1 AktG); AktG und UmwG verweisen auf das Spruchverfahren nach dem Spruchverfahrensgesetz (SpruchG).17 Jenes lässt die Wirksamkeit des Beschlusses der Hauptversammlung unangetastet. Ausgeurteilt wird vielmehr 10 Urt. v. 12.10.1877, ROHGE 23, 272, 275. Vgl. auch bereits – allerdings im Wesentlichen Preußen fokussierend – Urt. v. 26.10.1874, ROHGE 14, 354, 357 f.: „(…) der Anfechtung unterliegt, erscheint selbstverständlich. Die Befugnis des einzelnen Aktionärs in allen diesen Fällen, gegen die Gesellschaft klagend aufzutreten, lässt sich, wenigstens nach Preußischem Rechte nicht bezweifeln“. 11 Gesetz, betreffend die Kommanditgesellschaften auf Aktien und die Aktiengesellschaften, RGBl. 1884, Nr. 22, 123 ff. Abdruck bei Schubert/Hommelhoff, ZGR-Sonderheft 4 (1985), S. 387, hier insbes. S. 392, 467. 12 RGBl. I 1937, 107. 13 BGBl. I 1965, 1089. 14 Präzise zum Freigabeverfahren Seibert/Bulgrin in FS Marsch-Barner, 2018, S. 525. Insgesamt zu einer Reform des Beschlussmängelrechts neben vielen anderen Arbeitskreis Beschlussmängelrecht, AG 2008, 617. 15 Vgl. zu den Ausnahmen sogleich. 16 S. § 243 Abs. 4 Satz 2 AktG; näher hierzu Heidel, Referat zum 72. DJT 2018, Abschnitt I.3.a) (Druckfassung demnächst). 17 Zu den Anwendungsfällen des Verfahrens s. § 1 SpruchG.

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nur – und zwar in einem Hauptsacheverfahren – die Höhe der zu zahlenden Abfindung oder des Ausgleichs. In praxi besonders relevant und auch in der Fachdiskus­ sion sehr stark umspült18 ist das Freigabeverfahren nach § 246a AktG, welches der Jubilar als „hässliche Krücke“19 bezeichnet hat: Es ändert zwar nichts an der weiterhin bestehenden Statthaftigkeit der Anfechtungsklage, eröffnet gemäß §  246a Abs.  1 Satz 1 AktG für Beschlüsse über Kapitalmaßnahmen oder Unternehmensverträge jedoch ein weiteres – mit Zügen des Eilrechtsschutzes ausgestattetes20 – Verfahren, das unter bestimmten Voraussetzungen die „Freigabe“ des rechtswidrigen Hauptversammlungsbeschlusses vorsieht. Freigabe bedeutet, dass die für solche Beschlüsse aufgrund der konstitutiven Handelsregistereintragung mit der Erhebung der Anfechtungsklage entstehende rechtliche oder auch nur faktische Suspensivwirkung des Hauptsacherechtsbehelfs aufgehoben wird,21 indem der Beschluss ins Handelsregister eingetragen und endgültig bestandskräftig wird, ohne dass ihn die gerügten Fehler auch bei ihrer Begründetheit noch unwirksam machen könnten (§ 246a Abs. 4 Satz 2, § 242 Abs. 2 Satz 5 AktG). Eine Kassation ist damit nicht mehr möglich. Dem Anfechtungskläger (und zwar nur diesem) verbleibt bei Begründetheit der Hauptsache allein ein Schadensersatzanspruch gemäß § 246a Abs. 4 Satz 1 AktG, der allerdings regelmäßig nicht viel hergibt.22 Das Freigabeverfahren wurde 2005 mit dem UMAG23 eingeführt und 2009 mit dem ARUG24 verfeinert, erklärtermaßen, um missbräuchlichen Anfechtungsklagen entgegenzuwirken.25 Weitere „perturbierende Momente“26 auf dem Weg vom Beschlussfehler zur Kassation sind das Widerspruchserfordernis und das Relevanzkriterium bei Verfahrensfehlern, die conditiones sine quibus non für eine Kassation sind.27 Zudem bestehen für bestimmte, wie man an dessen Nr. 3 sieht, auch sehr beachtliche Fehler Anfechtungsausschlüsse nach § 243 Abs. 3 AktG. Ferner enthält § 243 Abs. 2 Satz 2 AktG eine Beschränkung der Anfechtung, wenn der anzugreifende Beschluss eine angemessene Ausgleichszahlung für die Aktionäre festsetzt; allerdings entfaltet dieser nur geringe praktische Wirkung, da er nach ganz herrschender 18 S. nur die in Fn. 14 Genannten. 19 Seibert/Bulgrin in FS Marsch-Barner, 2018, S. 525, 525. 20 Seibert/Bulgrin in FS Marsch-Barner, 2018, S.  525, 527; ferner Koch, Gutachten F zum 72. DJT 2018, S. F 20. 21 Prägnant zur gesetzlichen und faktischen Registersperre Schatz in Heidel, Aktienrecht, 5. Aufl. 2019, § 246a AktG Rz. 2 sowie Seibert/Bulgrin in FS Marsch-Barner, 2018, S. 525, 527. 22 S. Koch, Gutachten F zum 72. DJT 2018, S. F 28: „im Regelfall keinen ‚Schaden‘“ und Seibert/Bulgrin in FS Marsch-Barner, 2018, S.  525, 528.  Vgl. Nietsch, Freigabeverfahren, S. 153 f. und eingehend Spindler, NZG 2005, 825, 830. Daher kritisch z.B. Schatz in Heidel, Aktienrecht, 5. Aufl. 2019, § 246a AktG Rz. 91.  23 BGBl. I 2005, 2802. Rechtsfolgen des UMAG analysierte der Jubilar in NZG 2007, 841. 24 Gesetz zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie, BGBl. I 2009, 2479. S. auch bereits Fn. 6. 25 S. statt vieler nur Schatz in Heidel, Aktienrecht, 5. Aufl. 2019, § 246a AktG Rz. 1 f. 26 Begriff in Anlehnung an das sog. retardierende Moment, das regelmäßig den vierten Akt im fünfaktigen klassischen Drama bildet. 27 Zum Widerspruchserfordernis s. § 245 Nr. 1 a.E. AktG; zum Relevanzmerkmal der h.M. entsprechend dem Grundsatz minima non curat praetor s. statt vieler Heidel in Heidel, Aktienrecht, 5. Aufl. 2019, § 243 AktG Rz. 10.

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Auffassung nur die Anfechtung nach § 243 Abs. 2 Satz 1 AktG ausschließt, nicht aber die nach dem viel weiteren Tatbestand des § 243 Abs. 1 AktG.28 2. Grundsatz der Kompensation im Sinne eines „Dulde und liquidiere“? Die vielen Tatbestände, die die Kassationsfolge für fehlerhafte Beschlüsse ausschließen, legen die Frage nahe, ob de lege lata noch von einem Grundsatz der Kassation die Rede sein kann  – oder ob die Kassationsfolge fehlerhafter Beschlüsse inzwischen nicht vielmehr solchermaßen zur Ausnahme geworden ist, dass ein entsprechender Grundsatz nicht mehr festgestellt werden kann. Das Pendant wäre dann ein Grundsatz der Kompensation, zu dem die Kassationsfolge lediglich eine Ausnahme bildete.29 Kompensation meint hier das Prinzip eines „Dulde und liquidiere“,30 also den Umstand, dass Aktionäre gegen Wirksamkeit und Bestandskraft eines rechtswidrigen Hauptversammlungsbeschlusses letztlich nichts tun, sondern allein ihre daraus folgenden Schäden (vgl. §  246a Abs.  4 Satz 1 AktG) liquidieren können. Ein solcher ­Paradigmenwechsel ginge an die Grundfesten des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts – und wegen dessen Leitbildfunktion für andere Gesellschaftsformen möglicherweise sogar darüber hinaus. Nach den Ausführungen oben unter II.1.  ist das Kassationsprinzip im Aktienrecht schon heute empfindlich beschnitten. Geringfügige Verfahrensfehler fallen ohnehin durch’s Netz. Gleiches gilt für die, die das Gericht für „irrelevant“ ansieht. Gesetzlich ausgeschlossen ist die Anfechtung, wenn es um die Höhe von Abfindung oder Ausgleich geht, auch Informationspflichtverletzungen in der Hauptversammlung bleiben dort generell sanktionslos. Ansonsten bleibt für gravierende Verfahrensfehler und inhaltliche Beschlussmängel die kassatorische Anfechtungsklage hingegen eröffnet. Dies aber wiederum nur im Grundsatz. Für den wichtigen Bereich zentraler Strukturmaßnahmen, zumal Kapitalmaßnahmen und Unternehmensverträge, ist das Freigabeverfahren gemäß § 246a AktG eröffnet. Hier liegt der Schwerpunkt der Bewegung, die an der Geltung des Grundsatzes der Kassation rütteln kann. Für die Frage, ob der Beschluss freigegeben wird oder nicht, kommt es regelmäßig (allein) auf die Interessenabwägung gemäß § 246a Abs. 2 Nr. 3 AktG an.31 Denn nach der Vorstellung des 28 Mit Nachweisen Würthwein in Spindler/Stilz, AktG, 3. Aufl. 2015, § 243 Rz. 212. S. zu der von Noack/Zetzsche ins Spiel gebrachten Möglichkeit, § 243 Abs. 2 Satz 2 AktG sehr weitreichend analog anzuwenden, eingehend noch infra unter II.3.c). 29 Eingehend zu diesem Gedanken namentlich Noack/Zetzsche in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2017, Vor § 241 Rz. 65 ff. In eine ähnliche Richtung für die Ebene der Mitspracherechte der Aktionäre über die Hauptversammlung Mülbert in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2017, § 119 Rz.  38, 46, 60  f.; so auch bereits Mülbert, Aktiengesellschaft, Unternehmensgruppe und Kapitalmarkt, S. 347 ff. 30 S. Noack/Zetzsche in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2017, Vor § 241 Rz. 64. Das Prinzip ist namentlich aus dem Staatshaftungsrecht des Preußischen Allgemeinen Landrechts bekannt, s. K. Schmidt, NZG 2003, 601, 603 f. und Seibert/Bulgrin in FS Marsch-Barner, 2018, S. 525, 528. 31 S. nur Koch, Gutachten F zum 72. DJT 2018, S. F 27: „Entscheidend ist in den meisten Fällen ausschließlich die Folgenabwägung, die aber – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – als alleiniger Gradmesser ungeeignet ist“.

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Gesetzgebers soll selbst die „besondere Schwere des Rechtsverstoßes“ nur in absoluten Extremfällen eingreifen.32 Die besondere Schwere des Verstoßes hält der Jubilar nur noch für den letzten Rettungsanker des Anfechtenden.33 Sie lässt sich kaum je zur Überzeugung des Gerichts dartun.34 Die Freigabeentscheidung geht in ihrer Fassung nach dem ARUG bei geringfügig beteiligten Klägern in der Regel zugunsten der Freigabe aus, d.h. zugunsten der antragstellenden Gesellschaft. Denn nach der Gesetzesformulierung fallen auf deren Seite all ihre (wirtschaftlichen) Nachteile und diejenigen der (anderen) Aktionäre im Falle der Nichtfreigabe in die Waagschale, wohingegen auf Klägerseite allein dessen eigene und auch nur wirtschaftliche Interessen an der Nichtfreigabe Berücksichtigung finden.35 Bei wichtigen Maßnahmen in größeren ­Gesellschaften überwiegen nach der Gerichtspraxis immer die Belange der Antragstellerin. Daher müssen auch nennenswert beteiligte, auch unternehmerische und institutionelle Aktionäre damit rechnen, auch bei sehr schweren Rechtsfehlern des Hauptversammlungsbeschlusses keine Kassation erreichen zu können, sofern dieser in den Anwendungsbereich des Freigabeverfahrens fällt.36 Anfechtungsklagen sind nach rechtstatsächlichen Erhebungen stark zurückgegangen.37 Das war erklärtermaßen das Ziel von UMAG und ARUG. Gerade diese Ausformung des Freigabeverfahrens in der praktischen Rechtsanwendung ist es, die – in Zusammenschau mit den weiteren aufgezeigten Beschränkungen – daran zweifeln lässt, ob es de lege lata einen Grundsatz der Kassation noch gibt. Muss oder zumindest kann man inzwischen vielleicht eher von einem Grundsatz der Kompensation sprechen? 3. Fortbestand des Kassationsgrundsatzes Eine genauere Analyse bringt indes Entwarnung: Der Grundsatz der Kassationsfolge rechtswidriger Hauptversammlungsbeschlüsse besteht fort. Er erfährt zwar sowohl von Rechts wegen als auch faktisch erhebliche Durchbrechungen. Diese sind aber gesamtbetrachtet punktueller Natur; sie verfestigen sich nicht zu einer so starken Gegeninstitution, dass der Kassationsgrundsatz aufgegeben wäre.

32 Massive Kritik an der Anwendung der Norm auf der Grundlage der Gesetzesbegründung zum UMAG (BT-Drucks. 15/5092, S.  29) äußert Schwab in K.  Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 246a Rz. 21 ff., der sich dabei auch darauf stützt, dass diese Anwendung im Gesetzeswortlaut keinen Niederschlag gefunden habe. 33 Seibert/Bulgrin in FS Marsch-Barner, 2018, S. 525, 528: „das letzte Schutz-Residuum“ mit Verweis auf Seibert/Hartmann in FS Stilz, 2010, S. 585, 589. 34 Koch, Gutachten F zum 72. DJT 2018, S. F 27. 35 Treffend Koch, Gutachten F zum 72. DJT 2018, S. F 28 und Bayer in FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 91, 113. 36 Noack, NZG 2008, 441, 446; ferner Koch, Gutachten F zum 72. DJT 2018, S. F 28. 37 Dies befanden schon 2011 – 2 Jahre nach ARUG – Baums/Drinhausen/Keinath, ZIP 2011, 2329, 2331 f. In den Jahren 2017 und 2018 waren nur noch insgesamt ca. 50 AG, KGaA und SE von Beschlussmängelklagen betroffen, vgl. hierzu Heidel, Referat zum 72.  DJT 2018, Abschnitt I.5.a) (Druckfassung demnächst).

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a) Doppelfunktion der Anfechtungsklage Den Ausgangspunkt der Überlegungen bildet die Doppelfunktion der kassatorischen Anfechtungsklage.38 Beide Funktionen sind dabei mit den Aspekten der Rechtssicherheit und der Prävention unterlegt.39 Die Anfechtungsklage hat erstens einen individualschützenden Zweck.40 Die Mitgliedschaft des Aktionärs ist eine starke, von der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Rechtsposition.41 Sie enthält einerseits vermögensrechtliche Bestandteile, andererseits Mitverwaltungs- und Mitlenkungsrechte.42 Zwar ist vom Grundsatz her nicht zu beanstanden, dass in der Aktiengesellschaft das Mehrheitsprinzip (§ 133 Abs. 1 AktG) als praktikable Möglichkeit der Willensbildung in einem Verband gilt, in dem eine Vielzahl von Akteuren vereint ist und deshalb „die Funktionsbedingungen des Einstimmigkeitsprinzips nicht gegeben“ sind.43 Für besonders gravierende Maßnahmen gelten allerdings besonders strenge Quoren (s. etwa § 179 Abs. 2 AktG), eine Zweckänderung erfordert sogar Zustimmung aller Aktionäre nach § 33 Abs. 1 Satz 2 BGB. Klar muss zudem sein, dass Mitspracherechte von Minderheiten bestehen und auch geschützt werden müssen. Der Kern der Mitgliedschaft muss nicht nur gegen direkte Angriffe abgeschirmt, sondern auch vor Aushöhlung bewahrt werden. Es geht nicht an, zunächst Kapital von (Minderheits-) Aktionären zu sammeln unter dem Versprechen, der Aktionär werde im Gegenzug an dem künftigen Prosperieren der Gesellschaft teilhaben, und später – sobald die Gesellschaft wirklich floriert – Mittel und Wege gefunden werden, um den Kapitalgeber um die ihm zustehende Beteiligung am Ertrag und an den Zukunfts­ chancen der Gesellschaft zu bringen.44 Just dies wird in praxi jedoch gerne versucht z.B. mittels des (an sich zulässigen und legitimen) Squeeze out, auch über vorbereitende Umwege,45 und durch Abzweigen und Verstecken von Gewinnen, sodass diese aus 38 Vgl. Ehmann in Grigoleit, AktG, § 243 Rz. 2; Karami, Unternehmensbewertung in Spruchverfahren beim „Squeeze out“, S. 32 (in Fn. 1); K. Schmidt in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2013, § 246 Rz. 11; Verhandlungen des 63. DJT, S. O 73. 39 Heidel in Heidel, Aktienrecht, 5. Aufl. 2019, § 243 AktG Rz. 1; Hüffer/Schäfer in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 243 Rz. 5. Zum Präventionsgedanken insbesondere K. Schmidt in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2013, § 246 Rz. 11 und ihm folgend Holler, Verhältnis von Anfechtungsklage und Spruchverfahren, S. 51. 40 Würthwein in Spindler/Stilz, AktG, 3. Aufl. 2015, § 243 Rz. 3; ferner Holler, Verhältnis von Anfechtungsklage und Spruchverfahren, S. 51, und Karami, Unternehmensbewertung in Spruchverfahren beim „Squeeze out“, S. 32 (in Fn. 1); vgl. auch BGH, Urt. v. 25.11.2002, BGHZ 153, 32, 46. 41 Grundlegend BVerfG, Urt. v. 7.8.1962, BVerfGE 14, 263 (Rz. 47 ff. in juris) – Feldmühle; BVerfG, Beschl. v. 27.4.1999, BVerfGE 100, 289, 301 f. (Rz. 42 ff. in juris) – DAT/Altana. 42 S. die Fundstellen in Fn. 41. 43 Solchermaßen treffend (einschließlich des wörtlichen Zitats) Tröger in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2004-2017, § 133 Rz. 17. 44 Vgl. Heidel/Lochner, DB 2001, 2031. 45 Die Grundregelungen der §§ 327a ff. AktG und §§ 39a ff. WpÜG verlangen für den Squeeze out eine Anteilsmehrheit von 95 %. In der STRABAG-„Saga“, bei der etliche Entscheidungen vor den Kölner Gerichten ergingen, war versucht worden, über aufwändige vorbereitende Umbauten von dem „Rabatt“ des umwandlungsrechtlichen Squeeze out zu profitieren (§ 62 Abs. 5 UmwG): Dieser verlangt nur eine Mehrheit von 90 %. Eine Umwandlung

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der Bemessungsgrundlage für die Gewinnermittlung scheinbar herausfallen.46 Eines muss vor Augen gehalten werden: Die Zukunft ist stets nur schlecht vorherzusagen, und das gilt auch im Gesellschaftsrecht. Wo Aktionäre gegen Abfindung auf Basis ­einer Zukunftsprognose ihrer Mitgestaltungsrechte enthoben werden sollen (etwa § 327b Abs. 1 Satz 1 AktG; im Vertragskonzern § 305 Abs. 1 AktG), wird diese Abfindung jedenfalls in größeren Gesellschaften meist weit hinter dem zurückbleiben, was die weitere Teilhabe an der Gesellschaft eingebracht hätte. Dies gilt umso mehr, wenn und weil die Gesellschaft und der Abfindungsschuldner mit seinem privilegierten Zugang zu Informationen und oft herrschenden Einfluss sich möglichst arm rechnen, um die Bemessungsgrundlage in dem maßgeblichen Zeitpunkt gering zu halten. Die Anfechtungsklage verfolgt zweitens auch einen kollektiv-schützenden Zweck, der mit dem Aspekt objektiver Kontrolle einhergeht, die auch präventiv gegen Rechtsverstöße wirken soll.47 Dieser wird auch unter dem Begriff der „Polizeifunktion“ der Anfechtungsklage angesprochen.48 Das einst bestehende sog. Konzessionssystem, das mit staatlicher Aufsicht über die Einhaltung von Recht und Gesetz im Innenwesen der AG verbunden war,49 wurde mit der Aktienrechtsnovelle 1870 aufgegeben.50 An seine Stelle trat ein selbstregulierendes System. Dieses kennzeichnen ein als Überwachungsgremium fungierender Aufsichtsrat (s. § 111 AktG) und Rechtsdurchsetzungsbefugnisse der Organe sowie der Aktionäre (vgl. §§ 111, 112, 245 AktG), und es enthält ergänzend Mechanismen wie den besonderen Vertreter51 gemäß §  147 Abs.  2 AktG. In Sachen Feldmühle beschrieb das Bundesverfassungsgericht das Funktionsprinzip zutreffend: Das Aktienrecht sehe davon ab, Aktiengesellschaften von Staats wegen zu überwachen; vielmehr überlasse es die Kontrolle des Handelns der Gesellschaftsorgane grundsätzlich den Beteiligten selbst. Die aktienrechtlichen Vorschriften blieben in großem Umfang im Bereich des Organisatorisch-Formalen; in der Regel sei es den Beteiligten überlassen, von ihnen beanstandete Hauptversammlungsbeschlüsse durch eigene Klage „zu beseitigen“.52 Dieses System bezeichnet das Bundeswar in der Sache jedoch gar nicht gewollt. Anschaulich zu einem Ausschnitt der „Saga“ Florstedt, ZIP 2018, 1661. 46 Beliebt war die Auslagerung besonders profitabler Unternehmensteile in eine andere Gesellschaft, an der die Mehrheitsaktionärin 100 % hält; diese Praxis sollte die Schaffung ungeschriebener Hauptversammlungskompetenzen zumindest beschränken, grundlegend BGH, Urt. v. 25.2.1982, BGHZ 83, 122 – Holzmüller. 47 Eingehend Dornbach, Anfechtungsklage zwischen subjektivem Rechtsschutz und objektiver Rechtskontrolle, S. 163 ff.; ferner Karami, Unternehmensbewertung in Spruchverfahren beim „Squeeze out“, S. 32 (in Fn. 1); s. auch Baums/Drinhausen, ZIP 2008, 145, 146 sowie Lutter, ZGR 1978, 347, 349 f. 48 Etwa Goette, DStR 2009, 51, 55; Illner, Fehlerhafte Bestellung von Aufsichtsratsmitgliedern, S. 299; Seibert/Bulgrin in FS Marsch-Barner, 2018, S. 525, 528; auch Arbeitskreis Beschlussmängelrecht, AG 2008, 617, 619. 49 Näher Pahlow in Bayer/Habersack, Aktienrecht im Wandel, Bd. I, S. 237, 260 ff. – auch zu den im Einzelnen divergierenden Regimes in den Staaten des Deutschen Bundes. 50 Statt vieler und mit zahlreichen Nachweisen Lieder in Bayer/Habersack, Aktienrecht im Wandel, Bd. I, S. 318, 321 ff. 51 Dazu statt vieler Beneke, Der besondere Vertreter nach § 147 AktG, passim. 52 Urt. v. 7.8.1962, BVerfGE 14, 263, 274 f. (juris Rz. 40 f.).

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verfassungsgericht an anderer Stelle von Feldmühle als ausreichend wirksamen Schutz gegen Mehrheitsentscheidungen.53 Es überzeugt: Auch im übrigen Privat- und sogar in großen Teilen des öffentlichen Rechts regiert das Prinzip subjektiven Rechtsschutzes; es ist nämlich grundsätzlich sachgerecht, darauf zu vertrauen, dass diejenigen das Recht durchsetzen, die durch Rechtsverletzungen betroffen bzw. benachteiligt werden54 – was freilich die Effektivität des Rechtsschutzes voraussetzt, damit eine realistische Chance besteht, dass er genutzt werden und den präventiven Zweck erreichen kann. Der altruistischen Verbandsklage erteilt das deutsche Recht grundsätzlich  – mit Ausnahmen etwa im Umweltrecht – eine Absage. Dann müssen diesen Akteuren aber effektive Rechtsschutzmechanismen zur Seite stehen (Art. 19 Abs. 4 GG), und andere Beteiligte dürfen den Rechtsschutz nicht durch kollusives Zusammenwirken untergraben können. Für das Aktienrecht gilt im Hinblick auf den subjektiven Rechtsschutz die Besonderheit, dass die subjektive Betroffenheit durch rechtswidrige Beschlüsse bereits aus der Stellung als Anteilseigner folgt. So wird aus der Anfechtungsklage eine „auf den Kreis der Aktionäre beschränkte Popularklage“.55 Sie erfordert folgerichtig – insoweit anders als sonst im System subjektiven Rechtsschutzes – keine individuelle konkrete Rechtsverletzung des klagenden Aktionärs.56 Rechtswidrige Beschlüsse verletzen nämlich das Prinzip, das der BGH so formuliert: Jeder Aktionär habe „einen verbandsrechtlichen Anspruch darauf, daß die Gesellschaft seine Mitgliedsrechte achtet und alles unterläßt, was sie über das durch Gesetz und Satzung gedeckte Maß hinaus beeinträchtigt.“57 Daher reicht aus, dass der Kläger zum Kreis der Aktionäre zählt. Auch eine ökonomische Analyse der Anreizlage im Beschlussmängelrecht untermauert die gesetzgeberische Grundentscheidung (ohne Präjudiz für die konkrete Ausgestaltung heute), den Staat aus der Rechtmäßigkeitskontrolle in der AG weitgehend herauszunehmen: Eine rationale Apathie bei manchen Aktionä-

53 Urt. v. 7.8.1962, BVerfGE 14, 263, 283 f. (juris Rz. 66). 54 Im Verwaltungsrecht ergibt sich dies etwa aus § 42 Abs. 2 VwGO, der auf nahezu alle verwaltungsgerichtlichen Rechtsbehelfe direkt oder analog angewandt wird. Privatrechtliches Pendant ist die Sachentscheidungsvoraussetzung der aktiven Prozessführungsbefugnis, s. mit Nachweisen Weth in Musielak/Voit, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 51 Rz. 14. 55 Schwab, Prozeßrecht gesellschaftsinterner Streitigkeiten, S. 276 mit weiteren Nachweisen; s. auch Dornbach, Anfechtungsklage zwischen subjektivem Rechtsschutz und objektiver Rechtskontrolle, S. 138.  56 Statt vieler – neben den in Fn. 55 Genannten – Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 245 Rz. 1. 57 Urt. v. 25.2.1982, BGHZ 83, 122, 133 – Holzmüller; vgl. auch zuvor RGZ 3, 123, 126, wonach der Aktionär ein Recht darauf hat, dass die Gesellschaftsorgane den gesetzlichen ­Bestimmungen folgen und dass er „zur Realisierung dieses Rechts die richterliche Hilfe anrufen“ könne. In dieselbe Richtung ging die vorherige Rechtsprechung des Reichsoberhandelsgerichts; es anerkannte das Recht des Aktionärs, „um der Gesellschaft und seiner Mitgliedschaft willen zu verlangen, daß der Gesellschaftswille sich entsprechend den Gesetzen und statutarischen Bestimmungen bethätige“, ROHGE 23, 273, 275.  Nimmt man diesen Grundsatz ernst, kann Rechtsfolge der Verletzung des verbandsrechtlichen Anspruchs des Aktionärs nur sein, dass die diesen Anspruch verletzenden Hauptversammlungsbeschlüsse nicht wirksam werden bzw. gerichtlich zu kassieren sind.

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ren ist heute anerkannt und investitionspolitisch nachvollziehbar.58 Die Polizeifunktion müssen dann diejenigen wahrnehmen, die ein besonderes Interesse an der Geltendmachung des Rechtsverstoßes haben. Ihnen muss konsequenterweise ein sachgerechtes (Anreiz-) Instrumentarium zur Seite stehen, um in der AG für die Einhaltung des Rechts zu sorgen. b) Kassationsfolge weiterhin vorgesehen und für beide Funktionen notwendig Beide Funktionen können in Gänze nur dann erfüllt werden, wenn am Ende des Rechtsbehelfs grundsätzlich die Kassation steht. Nur dann hat der Tiger die Zähne, die er zur Prävention, zum wirksamen Schutz der individuellen Aktionäre wie auch des Kollektivs des Aktionariats benötigt (und die eine staatliche Aufsicht ganz zweifellos hätte und hatte). Nur dann steht ein wirkungsvoller – weil allgemein abschreckender59 und auch im Einzelfall durchzugsstarker – Rechtsbehelf im Sinne des Grundsatzes ubi ius, ibi remedium est60 zur Verfügung. Sollen Mitverwaltungsrechte der Aktionäre geschützt und gesichert werden und das Konzept der Prävention durch individuelle Klagerechte statt staatlicher Überwachung Erfolg versprechen, kann dies nur dadurch geschehen, dass ein rechtswidriger Beschluss, der diese Mitverwaltungsrechte – wie im Falle des Squeeze out – endgültig auszuschließen sucht, aufgehoben wird. Im heutigen Beschlussmängelrecht bestehen sowohl beide Funktionen der Anfechtungsklage als auch der Grundsatz der Kassation fort. Der etablierte Grundsatz der Kassation ist einerseits im aktuellen Beschlussmängelrecht nach wie vor stark fundiert. Das Gros der Beschlüsse ist nämlich weiterhin im Wege der Anfechtungsklage mit Kassationsfolge überprüfbar, es unterfällt nicht dem Numerus Clausus des Freigabeverfahrens (§ 246a Abs. 1 Satz 1 AktG). Zwar fallen zahlreiche wichtige und wegweisende Beschlüsse in den Anwendungsbereich des Freigabeverfahrens. Sie sind damit weitgehend der Kassationsfolge entzogen, wenn die AG ein Freigabeverfahren verfolgt. Aber ein neuer Grundsatz der Kompensation hat den etablierten Grundsatz nicht abgelöst. Die Kompensation findet sich nur sehr punktuell im Gesetz: Beim Anfechtungsausschluss im Hinblick auf Spruchverfahren, bei dem praktisch kaum ergiebigen § 246a Abs. 4 Satz 1 AktG sowie bei § 243 Abs. 2 Satz 2 AktG, welcher jedoch nur für den spezifischen Anfechtungsgrund der Verfolgung von Sondervorteilen gilt.61 Entgegen in der Literatur vertretener Sicht (vgl. dazu sogleich) eignet sie sich nicht als Anknüpfungspunkt für eine Verallgemeinerung. 58 Mit vielen Nachweisen Zetzsche in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2004-2017, § 135 Rz. 11 ff. Vgl. auch Bayer/Möller, NZG 2018, 801, 804 und Koch, Gutachten F zum 72. DJT 2018, S. F 58 f. 59 Treffend Bayer in VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 1999, 2000, S. 35, 38 f., der erläutert, dass Sanktion und Prävention in unmittelbarem Zusammenhang stehen und das Risiko der Beschlussvernichtung starke präventive Wirkung hat. 60 S. zu diesem Grundsatz Ridder, Ebenenübergreifende Treuepflichten in der Kapitalgesellschaft & Co. KG, S. 125 (insbes. Fn. 237). 61 So die ganz herrschende Meinung im Anschluss an Zöllner in KölnKomm. AktG, 2. Aufl. 1985, § 243 Rz. 240 f. S. nur Drescher in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 243 Rz. 211; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 243 Rz. 31 f., 37, 39.

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c) Vorschlag von Noack/Zetzsche Dem § 243 Abs. 2 Satz 2 AktG kommt für die Frage „Kompensation statt Kassation?“ eine gewisse Prominenz zu, nachdem Noack/Zetzsche schon heute im aktienrechtlichen Beschlussmängelrecht den Boden für einen Grundsatz der Kompensation zu erkennen meinen.62 Sie plädieren deshalb für einen grundsätzlichen Vorrang der Kompensationsfolge bei allen Inhaltsmängeln, die vermögensrechtliche Positionen des Aktionärs verletzen; bei jenen könne deshalb „geleisteter Ausgleich das verletzte Interesse befrieden“.63 Erreichen wollen die Autoren dies über eine analoge Anwendung des § 243 Abs. 2 Satz 2 AktG in all solchen Fällen.64 Gleichzeitig soll die Anfechtungsmöglichkeit dann entfallen,65 wofür Noack/Zetzsche methodisch eine teleologische Reduktion der verletzten materiellen Normen ins Spiel bringen.66 Allerdings fehlt es bereits an der für die Analogie nötigen planwidrigen Regelungslücke. § 243 Abs. 2 Satz 1 AktG ordnet die Anfechtbarkeit nämlich nur „auch“ an, zusätzlich zur Anfechtung nach § 243 Abs. 1 AktG.67 Den Wortlaut enthielt bereits die Vorgängernorm § 197 Abs. 2 AktG 1937.68 Dessen Gesetzesmaterialien sagen ausdrücklich, die Verfolgung von Sondervorteilen solle unter beide Anfechtungstatbestände, sowohl unter Abs. 2 als auch Abs. 1 fallen.69 Systematisch spricht gegen die Verallgemeinerung der Regelung zum Sondervorteil, dass der Gesetzgeber den § 243 Abs. 2 Satz 2 AktG ohne weiteres als eigenständigen Abs. 3 hätte fassen können und müssen, hätte er einen Kassationsausschluss bei Kompensation als allgemeinen Grundsatz für alle Fälle des Abs. 1 und des Abs. 2 Satz 1 installieren wollen. Dies ist etwa bei dem gegenwärtigen § 243 Abs. 3 AktG so geschehen. § 243 Abs. 2 Satz 1 AktG ist hingegen ein Spezialtatbestand zu dem allgemeineren § 243 Abs. 1 AktG ohne Verdrängungswirkung.70 Zudem spricht nichts überzeugend für eine teleologische Reduktion der verletzten Rechtsnormen wegen einer planwidrig zu weiten Fassung von deren Wortlaut. Eine Reduktion beschnitte nämlich allzu stark die anerkannte Polizeifunktion des Beschlussmängelrechts. Mangels staatlicher Aufsicht muss jedoch schon aufgrund 62 Noack/Zetzsche in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2017, Vor § 241 Rz. 64 ff., insbes. Rz. 66 ff.; ferner § 243 Rz. 212 ff., 220 ff., 268 ff., 383 ff., 460 ff., 732. 63 Noack/Zetzsche in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2017, Vor § 241 Rz. 65. 64 Noack/Zetzsche in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2017, Vor § 241 Rz. 68 f.: „entsprechenden Anwendung“ – gemeint sein kann allein die Analogie, da eine gesetzliche Verweisung fehlt. Näher zu der methodischen Unterscheidung von entsprechender und analoger Anwendung Ridder, Ebenenübergreifende Treuepflichten in der Kapitalgesellschaft & Co. KG, S. 136. Klar sodann aber Noack/Zetzsche in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2017, § 243 Rz. 214 f., 268 („analog“). 65 S. die Nachweise in Fn. 64. 66 Noack/Zetzsche in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2017, § 243 Rz. 222. 67 Nach ganz h.M. wird keine Sperrwirkung entfaltet, s. nur K. Schmidt in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1995, § 243 Rz. 53. Ablehnend gegenüber einer Erhebung des § 243 Abs. 2 Satz 2 AktG zum allgemeinen Prinzip auch Florstedt, ZIP 2018, 1661, 1668. 68 K. Schmidt in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1995, § 243 Rz. 51. 69 S. die Gesetzesbegründung zu § 197 Abs. 2 AktG 1937: Klausing, AktG 1937, S. 177. Zum AktG 1965 geht dies aus der Begründung zum Regierungsentwurf hervor, vgl. Kropff, AktG 1965, S. 329. 70 S. Fn. 67.

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des Art. 14 Abs. 1 GG eine wirksame Kontrolle der Rechtmäßigkeit gewährleistet bleiben.

III. Perspektive de lege ferenda Der nach den obigen Erkenntnissen also fortbestehende Grundsatz der kassatorischen Anfechtungsklage wird kritisiert. Er sei zu formalistisch, zu pauschal,71 nicht ausreichend flexibel,72 heißt es. Es bedürfe einer „Flexibilisierung der Korporation im Rechtsverkehr“.73 Eine Umstellung auf den Kompensationsgrundsatz ermögliche in größerem Maße wertsteigernde Transaktionen, die volkswirtschaftlichen Gesamtnutzen und damit das Land vorwärts brächten;74 der Kassationsgrundsatz hingegen wirke dem entgegen. Vereinzelt heißt es sogar, er führe zu empfindlichen Wettbewerbsnachteilen Deutschlands im internationalen Vergleich.75 Was ist von dieser Kritik zu halten? Spricht etwas hinreichend für eine Umstellung von der Kassation auf die Kompensation de lege ferenda? 1. Prinzip der Verhältnismäßigkeit? Alternative Rechtsfolgen? Überlegungen in diese Richtung unterbreitete Koch in seinem Gutachten für den Deutschen Juristentag (DJT) 2018: Anfechtungs- und Freigabeverfahren seien zu einem einheitlichen Hauptsacheverfahren vor dem OLG zusammenzuführen mit der Möglichkeit von Zwischenbeschlüssen (entsprechend bisheriger Freigabe). Koch stützt sich auf das Prinzip der Verhältnismäßigkeit; dessen Grundlage erblickt er in der Abwägung nach § 246a Abs. 2 Nr. 3 AktG und hält sie für verallgemeinerungsfähig im gesamten Beschlussmängelrecht.76 Bei gesetzlicher Umsetzung von Kochs Vorschlag müsste das Gericht im Anfechtungsprozess stets beurteilen, ob die Kassation eines rechtswidrigen Beschlusses in Anbetracht der vielfältigen involvierten Belange unter Berücksichtigung des Fehlers verhältnismäßig ist. Nur wenn es dies bejaht, wäre der Beschluss zu kassieren. Verneint es dies hingegen, ist nach Koch die Kassa­ tion als unverhältnismäßige Sanktion obsolet. Er bringt in Anlehnung an Vorschläge des Arbeitskreises Beschlussmängelrecht andere Rechtsfolgen ins Spiel: So könnte neben der Feststellung der Rechtswidrigkeit ein Rügegeld verhängt werden, die Veröffentlichung der Verurteilung erzwungen und somit auf eine Prangerwirkung abgezielt („name and shame“) oder der Beschluss nur ex nunc aufgehoben werden.77 Auch 71 Vgl. Arbeitskreis Beschlussmängelrecht, AG 2008, 617, 619 und Bayer/Fiebelkorn, ZIP 2012, 2181, 2184. 72 Brouwer, NZG 2014, 201, 203; Goll/Schwörer, ZRP 2008, 245, 246 f.; vgl. auch Dornbach, Anfechtungsklage zwischen subjektivem Rechtsschutz und objektiver Rechtskontrolle, S. 282 und Vetter, AG 2008, 177, 182. 73 So Noack/Zetzsche in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2017, § 243 Rz. 223. 74 Noack/Zetzsche in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2017, § 243 Rz. 223. 75 Vetter, AG 2008, 177, 180 f. 76 Koch, Gutachten F zum 72. DJT 2018, insbesondere S. F 20 – F 40. 77 Koch, Gutachten F zum 72.  DJT 2018, S.  F 38  f. unter Bezugnahme auf Arbeitskreis Beschlussmängelrecht, AG 2008, 617, 618.

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die  – wenn auch bislang selten ergiebigen  – Schadensersatzansprüche des Klägers gegen die Gesellschaft blieben im Rennen.78 Diese Rechtsfolgenvorschläge gehen (soweit die Aufhebung ex nunc einmal außer Acht bleibt) in Richtung eines Kompensationsgedankens statt klassischer Kassation. Ob Koch die Kompensation auch im eigentlichen Sinne zur Grundregel erheben will, lässt sich nicht eindeutig feststellen. Immerhin will er bei seiner Verhältnismäßigkeitsabwägung dem Merkmal der besonderen Schwere des Rechtsverstoßes gegenüber der derzeitigen Praxis zu einer deutlich gesteigerten Bedeutung verhelfen; insbesondere wirft er auf Seiten des Anfechtungsklägers bei der Freigabeentscheidung nicht nur dessen eigene wirtschaftliche Interessen in die Waagschale, sondern auch die Interessen der anderen betroffenen Aktio­ näre.79 Unter den Begriff der „Interessen“ sollen anders als heute überdies auch Belange nichtwirtschaftlicher Natur fallen, sofern sie Ziele der Unternehmenspolitik des (unternehmerischen) Aktionärs darstellen.80 2. Abrücken vom Kassationsgrundsatz würde Missbrauch von Mehrheitsmacht Tür und Tor öffnen Die Erhebung der bloßen Kompensation zum Grundsatz nebst Degradierung des etablierten Kassationsprinzips zur Ausnahme kann nicht überzeugen. Ausgangspunkt der Beurteilung muss die – wahrscheinlich unstreitige – Einsicht sein, dass es ebenso wie im Staatswesen auch im Innenbereich der Aktiengesellschaft eines Systems gegenseitiger checks and balances81 bedarf. Denn den „vom eigenen Vorteil unbeeinflusst Denkenden“, den der Bundesgerichtshof in der einen oder anderen Entscheidung zum Eigentümer-Besitzer-Verhältnis als Maßstab bemüht hat,82 gibt es in Wahrheit nicht; das dürfte nicht allzu sehr desillusionieren. Nach der Aufgabe der staatlichen Überwachung der Rechtmäßigkeit in der AG83 ist die Polizeifunktion der Anfechtungsklage nicht umsonst ein tragender Pfeiler des Beschlussmängelrechts.84 Der Regelfall der Kompensation hätte auf beherrschende Mehrheiten und die regelmäßig von ihnen kontrollierten Verwaltungsmitglieder der Gesellschaften aber keine nennenswerte abschreckende Wirkung mehr. Denn sie müssten für den Behalt der Vorteile aus der rechtswidrigen Maßnahme im aus ihrer Sicht worst case, dass sich doch einmal ein Kläger findet, die Rechtswidrigkeit des Vorgehens mit der Klage aufzugreifen, keinesfalls mehr zahlen als den angemessenen Ausgleich für die Nachteile, die die Kläger bzw. die anderen Aktionäre durch das rechtswidrige Vorgehen erleiden. 78 Ablehnend zeigt sich Koch hingegen gegenüber Fangprämie, Organaußenhaftung und Benachteiligung bei der Vergabe öffentlicher Aufträge: Gutachten F zum 72. DJT 2018, S. F 39 und F 64. 79 Koch, Gutachten F zum 72. DJT 2018, S. F 27 und F 30 f. 80 Koch, Gutachten F zum 72. DJT 2018, S. F 28. 81 Besonders bekannt geworden ist das Aufgreifen dieses Prinzips, das im Staatswesen die Grundlage der Gewaltenteilung bildet, durch Montesquieu in seinem Werk L‘esprit des lois, 1748. 82 Etwa BGH, Urt. v. 22.1.1958, BGHZ 26, 256 (juris Rz. 49 ff.); BGH, Urt. v. 12.7.1968, DB 1968, 1617 (juris Rz. 18). 83 S. bereits oben unter II.3.a). 84 S. oben unter II.3.a)

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Das worst case-Szenario wäre für die Mehrheit also allenfalls ein Nullsummenspiel, sie behielte sogar alle rechtswidrig erlangten Vorteile, denen nicht ein stoffgleicher Nachteil der Aktionäre gegenüberstände. Ein Rügegeld? Dieses würde man in vielen Fällen wohl aus der Portokasse entrichten können, zumal ernsthaft hohe Rügegelder nicht in der Diskussion sind. Außerdem lädt es ganz besonders zum Abkaufen von Klagen ein.85 „Name and shame“? Jenes Prinzip ist keinesfalls gleichermaßen abschreckend, geschweige denn so rechtsschutzintensiv wie die Aussicht der Kassation. Ob es im Kontext der Wirtschaftswelt und der Überflutung der Marktteilnehmer mit Informationen überhaupt funktioniert, darf zumindest für die Fälle bezweifelt werden, in denen eine Gesellschaft nur hin und wieder verurteilt und nur zulasten weniger Aktionäre gehandelt wird. Soweit das Konzept aber wider Erwarten doch funktioniert, lädt es ebenfalls zum Abkaufen von Klagen ein, wenn die Gesellschaft nämlich vermeiden will, zum Objekt negativer Diskussionen in der Öffentlichkeit zu werden.86 Auch eine Aufhebung nur ex nunc wirkt wenig abschreckend, so dass der Präventionsgedanke der Klage leer läuft; denn bis die Hauptsache rechtskräftig ausgefochten ist, ist üblicherweise lange Zeit verstrichen, binnen derer ein organisiertes Management längst vollendete Tatsachen geschaffen hat, die nicht mehr mit dem Risiko der Rückabwicklung behaftet sind.87 Die rechtswidrig Handelnden bekämen nach dem Kompensationsgedanken also genau das, was sie wollen, nämlich den von ihnen erstrebten rechtswidrigen Vorteil zu Lasten der AG und/oder ihrer anderen Aktionäre: Sie kämen ohne nennenswertes Risiko davon, und wenn sie doch einmal – gleichsam versehentlich – „erwischt“ würden, drohte kaum mehr als eine kompensatorische Zahlung für die verursachten Einbußen. Dies käme einer Einladung zum Machtmissbrauch gleich.88 Die Situation ähnelt derjenigen eines stehlenden Ladenangestellten, nur mit der seltsam anmutenden Modifikation, dass er im Entdeckensfall nicht wegen Diebstahls und Untreue bestraft wird, sondern allenfalls Wertersatz für den entwendeten Laptopcomputer zahlen muss, den er dann aber auch noch behalten darf. Bloße Kompensation als Regelfall würde dem Missbrauch von Mehrheitsmacht und einem kollusiven Zusammenwirken von herrschendem Aktionär oder sonst der Mehrheit und der Verwaltung Türen und Tore öffnen.89 Ein solcher Zustand kann keinesfalls erstrebenswert sein, er stände

85 Treffend zur Schaffung von Fehlanreizen durch ein Rügegeld Grunewald, NZG 2009, 967, 968. 86 Vgl. auch Heidel, Referat zum 72.  DJT 2018, Abschnitt I.5.b)bb) (Druckfassung demnächst). 87 Zu weiteren gegen das ex-nunc-Modell sprechenden Punkten s. Heidel, Referat zum 72. DJT 2018, Abschnitt I.5.b)dd) (Druckfassung demnächst). 88 Vgl. Seibert/Bulgrin in FS Marsch-Barner, 2018, S. 525, 528, die unter Verweis auf Sauerbruch, Das Freigabeverfahren gem. § 246a AktG, S. 255 konstatieren: „Mit der Einschränkung des Rechtsschutzes [im Beschlussmängelrecht] steigt gleichzeitig der Anreiz für opportunistisches Verhalten kontrollierender Aktionäre“. Auch Anlegerschutzorganisationen beklagten dies zunehmend. Ähnlich Bayer in VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 1999, 2000, S. 35, 38 f. 89 S. soeben Fn. 88.

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dem Prinzip der Prävention gegen rechtswidriges Verhalten durch die Möglichkeit der Individualklage entgegen. Zur Ablehnung des Kompensationsgedankens führt auch die Erwägung dazu, wer eine allfällige Kompensationszahlung zu leisten hätte. Die Gesellschaft? Dann müsste der Berechtigte bei wirtschaftlicher Betrachtung seine Kompensation partiell aus eigener Tasche bezahlen.90 Die Verwaltungsmitglieder? Typischerweise werden sie sich durch Rechtsgutachten absichern, und es findet sich sicherlich ein D&O-Versicherungsmodell, das ihnen Kompensationszahlungen abnimmt. Oder die herrschende Mehrheit? Dann würden regelmäßig Beweisschwierigkeiten bezüglich der Einflussnahme auf die Verwaltung bestehen; wie sollte ein Außenstehender belegen, auf welche Weise eine rechtswidrige Maßnahme wirklich zustande gekommen ist? Wäre insoweit nicht bloß die interne Rückforderung betroffen, stände regelmäßig die Realisierbarkeit der Kompensationsforderung als solche in Frage. Diese praktischen Fragen zeigen, dass zumal Großaktionäre und die Verwaltung das Risiko von Kompensation nicht schrecken werden und ein Kompensationsprinzip keine ernsthafte Präventionswirkung gegen rechtswidriges Verhalten entfalten kann. Als Gründe für die Einschränkung der Kassation durch Verhältnismäßigkeitserwägungen nannte Koch im Gutachten für den Deutschen Juristentag Missbrauchsanfälligkeit und besondere Fehleranfälligkeit von Hauptversammlungsbeschlüssen.91 Das führt gegenüber dem Obigen zu keinem anderen Ergebnis. Missbrauch kann man dort bekämpfen, wo er stattfindet; die Bekämpfung darf aber nicht die Berechtigung eines an sich legitimen Regimes erschüttern.92 Ohnehin ist in der Justiz anerkannt, dass selbst möglicherweise mit missbräuchlichen Zielen verfolgte Anfechtungsklagen eine sehr heilsame Funktion zur Kontrolle von Mehrheitsmacht in der AG haben.93 Auch Fehleranfälligkeit ist kein überzeugendes Argument. Die Erfahrung zeigt, dass die meisten begründeten Anfechtungsklagen weniger auf eine zu komplizierte oder praxisuntaugliche Gesetzeslage zurückgehen als vielmehr auf ein ganz bewusstes Austesten der gesetzlichen Grenzen durch die Mehrheit.94 Die Verfasser fühlen sich mit ihrer Auffassung in guter Gesellschaft. Seit längerem werden die Stimmen immer lauter, die konstatieren: Die Aktiengesetzgebung der vergangenen Jahrzehnte stand ganz maßgeblich unter dem Postulat der Bekämpfung der 90 Dornbach, Anfechtungsklage zwischen subjektivem Rechtsschutz und objektiver Rechtskontrolle, S. 282. 91 Koch, Gutachten F zum 72. DJT 2018, S. F 14 ff. 92 Heidel, Referat zum 72. DJT 2018, Abschnitt I.1.b), I.5.c)aa)(1) (Druckfassung demnächst). 93 So der damalige Vorsitzende des Gesellschaftsrechtssenats des BGH, Goette, DStR 2009, 51, 55: „… für die Kultur des Aktienrechts gleichwohl segensreich wirken kann. Denn es geht bei diesen Verfahren auch um den Schutz der Minderheit vor Allmachtbestrebungen der Mehrheit und der von ihr berufenen Organmitglieder“. Ähnlich auch Krenek, Vorsitzender Richter am LG München I, „sinnvolles Kontrollinstrument“, und M. Müller, Vorsitzender Richter am LG Frankfurt a.M., „treiben das Aktienrecht voran. [Ohne sie] würden Hauptversammlungen oft noch viel schlampiger vorbereitet und durchgeführt, als das schon der Fall ist“. Beide zitiert nach Heidel in Heidel, Aktienrecht, 5. Aufl. 2019, § 245 AktG Rz. 36. 94 S. Heidel, Referat zum 72. DJT 2018, Abschnitt I.5.c)aa)(2) (Druckfassung demnächst).

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sogenannten missbräuchlichen Anfechtungsklagen bzw. der sogenannten „räuberischen Aktionäre“.95 Mit UMAG und ARUG hat der Gesetzgeber nicht nur den sub­ jektiven Rechtsschutz im Aktien- und Beschlussmängelrecht stark beschnitten, sondern insgesamt die (objektive) Rechtmäßigkeitskontrolle im Beschlusswesen.96 Damit dürfte er über das Maß des Erforderlichen (Prinzip des Interventionsminimums) längst hinausgeschossen, jedenfalls aber dessen Grenze erreicht haben.97 Von einer noch weiteren Beschneidung der Kontrollmöglichkeiten, die mit einer stetigen Stärkung der Mehrheitsseite verbunden ist, ist dringend abzuraten. Das thematisierte der Koalitionsvertrag der 2018 begründeten Großen Koalition so: Die Koalitionsparteien wollen „im Interesse des Minderheitenschutzes und der Rechtssicherheit Brüche und Wertungswidersprüche beseitigen“.98 Dies zielt zutreffend auf eine Modifizierung zugunsten effektiver Rechtsmäßigkeitskontrolle. 3. Verfassungsrechtliche Erwägungen Gegen die Ersetzung des Prinzips der Kassation durch das der Kompensation spricht auch die verfassungsrechtliche Betrachtung. Da die Mitgliedschaft in der AG durch Art.  14 Abs.  1 GG geschützt ist und dies insbesondere für ihre auf die Mitverwaltungsrechte bezogenen Bestandteile gilt,99 müssen auch effektive Schutzinstrumente existieren. Die Mitgliedschaft darf nicht der Aushöhlung preisgegeben werden. Vielmehr ist sie nach Art. 19 Abs. 4 GG effektiv zu schützen. Bezeichnenderweise hat das Bundesverfassungsgericht etwa die Bestimmungen zum Squeeze out nur unter zweierlei Prämissen für verfassungsgemäß gehalten: dem wirksamen Schutz der hinausgedrängten Minderheit gegen Missbrauch durch die Mehrheit und dem angemessenen finanziellen Ausgleich.100 Finanzieller Ausgleich allein, die Kompensation, reicht also nicht. Dies leuchtet unmittelbar ein: Ist der Ausgleich nicht überprüfbar, ist er wertlos, weil er der Willkür des Mehrheitsaktionärs unterliegt. Dass das Bundesverfas 95 Vgl. Noack/Zetzsche in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2017, § 243 Rz. 25 ff. und Schatz in Heidel, Aktienrecht, 5. Aufl. 2019, § 246a AktG Rz. 1 ff. 96 Habersack/Stilz, ZGR 2010, 710, 714; Schatz in Heidel, Aktienrecht, 5. Aufl. 2019, § 246a AktG Rz. 3; Seibert/Bulgrin in FS Marsch-Barner, 2018, S. 525, 528; vgl. auch Hirte in FS Meilicke, 2010, S. 201, 206 f. 97 Seibert/Hartmann in FS Stilz, 2014, S. 585, 585: „… drängt sich die Frage, ob man noch mehr tun müsse, weniger auf, als die, ob man nicht schon zu weit gegangen sei“; ähnlich Noack, JZ 2018, 824, 825: „Allerdings stellt sich jetzt die Frage, ob das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet wurde“; vgl. auch Koch, Gutachten F zum 72. DJT 2018, S. F 11. 98 Rz.  6191  f. Vgl. auch das Rechtspolitische Programm des Bundesarbeitskreises christlich-demokratischer Juristen zur Bundestagswahl 2017, Abschnitt V.2: „Wo insbesondere Kleinaktionäre nicht in das operative Geschäft eines Unternehmens eingreifen können, müssen sie vor missbräuchlichen und rechtswidrigen Entscheidungen von Geschäftsführern und Vorständen geschützt werden. Dazu ist das bestehende langwierige und teure Spruchverfahrens- und Beschlussmängelrecht unter besonderer Berücksichtigung der Interessen von Minderheitsaktionären und Kleinanlegern zu reformieren“. 99 Oben unter II.3.a), bei Fn. 41. 100 Beschl. v. 27.4.1999, BVerfGE 100, 289, 303; Nichtannahmebeschl. v. 30.5.2007, NZG 2007, 587 (juris Rz. 19).

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sungsgericht das Institut der Anfechtungsklage in der Feldmühle-Entscheidung101 für ausreichend rechtsschutzintensiv gehalten hat, ist nunmehr – wie bereits einleitend erwähnt – über 55 Jahre her. Angesichts des heutigen Rechtszustands bedarf es einer Rückkehr zu effektiver gerichtlicher Kontrolle der Machtausübung auf der Hauptversammlung.102 Eine noch weitere Aufweichung des Rechtsschutzes durch eine Verhältnismäßigkeitsprüfung oder Kompensationserwägungen ist damit nicht vereinbar, sondern ginge vielmehr gerade in die falsche Richtung. 4. Unionsrechtliche Erwägungen Unionsrechtlich gilt es zu beachten, dass die Aktionärsrechterichtlinie, zu deren Umsetzung 2009 das ARUG diente, nunmehr novelliert ist.103 Der Bundesgesetzgeber muss daher bald104 das Nachfolgegesetz zum ARUG verabschieden. Ziel der geänderten Richtlinie ist, Mitverwaltung und Mitverantwortung der Aktionäre in ihrer AG zu stärken. Die Richtlinie will sie incentivieren, auf ein langfristiges Wohlergehen der Gesellschaft hinzuwirken und nicht bloß kurzfristige Gewinne zu erstreben, um sodann zu deinvestieren und die Gesellschaft ihrem Schicksal zu überlassen.105 Mit der unionsrechtlich vorgegebenen Stärkung der Mitverwaltung wäre unvereinbar, die Rechtmäßigkeitskontrolle und die Effektivität des individuellen Rechtsschutzes noch weiter zurückzudrängen, als dies ohnehin schon de lege lata der Fall ist. Im Gegenteil spricht alles dafür, dass die (geänderte) Richtlinie eine Stärkung der Aktionärsrechte verlangt.106 Dies aber ist nur mit dem Kassationsgrundsatz vereinbar, nicht jedoch mit Verhältnismäßigkeit und Kompensation. 5. Zementierung des Fehlers bleibt auch bei Geldzahlung unangemessen Nach den Gesetzgebungsmaterialien zum ARUG besteht ein besonders schwerwiegender Rechtsverstoß im Sinne des § 246a Abs. 2 Nr. 3 a.E. AktG (bei dessen Vorliegen niemals die Freigabe erfolgen darf) zumindest dann, wenn der Verstoß so eklatant ist, dass er „durch Schadensersatz nicht angemessen zu kompensieren wäre“.107 Für diesen Fall schließt das Gesetz eine Freigabe aus. Der „Zug“ des Verfahrens bleibt weiterhin auf dem Gleis in Richtung Kassation. Auf diesem Gleis sollte er auch in der 101 Urt. v. 7.8.1962, BVerfGE 14, 263. 102 Vgl. Florstedt, ZIP 2018, 1661, 1669: „Das BVerfG hatte der Anfechtungsklage noch eine genügende Abwehrfunktion attestiert. Das war im Jahr 1962. Die Einführung und Reform des Unbedenklichkeitsverfahrens hat diese Funktion geschwächt, und man kann sagen, das OLG Köln hebt sie [in Sachen STRABAG] nunmehr bei freigabefähigen Beschlüssen weithin auf “. 103 Richtlinie (EU) 2017/828, ABl. 2017 L 132/1. 104 Das Ende der Umsetzungsfrist lag im Juni 2019. 105 S. namentlich die Erwägungsgründe 3, 14 und 19 der Richtlinie. Bezeichnend ist ferner ihr Titel: „Richtlinie (…) im Hinblick auf die Förderung der langfristigen Mitwirkung der Aktionäre“. 106 In diese Richtung auch Florstedt, ZIP 2018, 1661, 1668. 107 So die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses des Bundestages, BT-Drucks. 16/13098, S. 42.

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Hauptsache grundsätzlich bleiben. Recht hinter Erwägungen von Nützlichkeit und Wirtschaftlichkeit zurückzustellen, ist zumindest ein sehr ungewöhnlicher und begründungsbedürftiger Gedanke.108 Florstedt ist zuzustimmen, wenn er hinsichtlich der erwähnten Passage in den Gesetzesmaterialien zum ARUG aus Anlass der „STRABAG“-Entscheidung des OLG Köln109 mit Recht bemerkt: „Aber bedeutet die zitierte Textstelle wirklich, dass eine Geldzahlung die Schwere eines Rechtsverstoßes verringert und damit einen an sich kassationswürdigen Beschluss ‚retten‘ kann? Bei näherem Hinsehen ist das nicht der Fall.“110

IV. Zusammenfassung und Ausblick Es hat sich nun zweierlei gezeigt: Erstens besteht weiterhin der Kassationsgrundsatz als Grundlage des aktienrechtlichen Beschlussmängel- und Beschlussanfechtungsrechts. Trotz aller Durchbrechungen, die er an zwar nur einzelnen, aber bedeutenden Stellen der Kodifikation erfahren hat, haben ihn weder Gesetzgebung noch Rechtsprechung durch einen Grundsatz der Kompensation im Sinne eines „Dulde und liquidiere“ abgelöst. Zweitens wäre eine Ablösung auch de lege ferenda nicht überzeugend; denn dann böte die Anfechtungsklage endgültig keine Gewähr mehr dafür, in ihrem Anwendungsbereich für rechtmäßige Verhältnisse in der Aktiengesellschaft („Polizeifunktion“) zu sorgen. Die individuelle Mitgliedschaft würde vollends ausgehöhlt, da mit dem Kompensationsprinzip die Willkürherrschaft der Mehrheit (noch weiter als schon bisher) Einzug hielte. Vor allem wäre die präventive Funktion der Möglichkeit der Beschlussmängelklage dahin. Diesen Befund stützen sowohl verfassungs- als auch unionsrechtliche Erwägungen. Einer grundlegenden Totalreform des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts bedarf es nach allem nicht, insbesondere weder der Einführung eines Verhältnismäßigkeitsprinzips noch der Ersetzung der Kassation durch Kompensation. Vielmehr sind einzelne Punkte der Kodifikation in Richtung einer Stärkung des Aktionärsschutzes nachzubessern, um dem Ziel der umfassenden Ermöglichung des individuellen Rechtsschutzes wieder gerecht zu werden, der effektiven Prävention gegen rechtswidriges Verhalten der Mehrheit. Das postuliert der Koalitionsvertrag für die 19. Legislaturperiode ganz richtig, wenn es heißt, die Koalition werde im aktienrechtlichen Beschlussmängelrecht „im Interesse des Minderheitenschutzes und der Rechtssicherheit Brüche und Wertungswidersprüche beseitigen“.111 Die entsprechenden Entwürfe wird

108 Dagegen überzeugend bereits das Reichsgericht in einem aktienrechtlichen Fall: Urt. v. 20.2.1923, RGZ 107, 161, 169: „Was gesetzwidrig ist, kann nicht dadurch zulässig werden, dass es wirtschaftlich nützlich oder geboten erscheint“. In diese Richtung auch Koch, Gutachten F zum 72. DJT 2018, S. F 32: „… generell ein gewöhnungsbedürftiger Gedanke, dass das Recht hinter Nützlichkeitserwägungen zurückgestellt werden kann“. 109 Beschl. v. 14.12.2017, ZIP 2017, 2468. 110 Florstedt, ZIP 2018, 1661, 1668. 111 „Ein neuer Aufbruch für Europa – Eine neue Dynamik für Deutschland – Ein neuer Zusammenhalt für unser Land  – Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD“ vom

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die Ministerialbürokratie hoffentlich noch unter der Federführung des Jubilars ausarbeiten, so wie bereits zahlreiche bedeutende Gesetze auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts in den vergangenen Jahrzehnten seine Handschrift getragen haben.112 Die Verfasser sind zuversichtlich, dass nicht nur der Jubilar, sondern auch die politischen Gremien Neuregelungen durchsetzen werden, die das Beschlussmängelrecht zurück in eine ausgewogene Balance von Mehrheits- und Minderheitsbefugnissen in der Aktiengesellschaft bringen und dem Präventionsgedanken effektiv Rechnung tragen. Dazu taugt der Ersatz des Kassationsprinzips durch Kompensation nicht.

7.2.2018, Rz. 6174. Vgl. Heidel, Referat zum 72. DJT 2018, Abschnitt I.2. (Druckfassung demnächst). 112 Unter vielen weiteren herausgegriffen sei nur das Mammutvorhaben „MoMiG“ – Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen, BGBl. I 2008, 2026.

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Heribert Hirte1

Das Gesellschaftsrecht und die Politik Inhaltsübersicht I. Der Anstoß zum gesetzgeberischen ­Wirken II. Der Weg zum Koalitionsvertrag III. Für manch’ Einen nur Terra incognita: Geschäftsordnung der Bundesregierung und Formulierungshilfe

1. First: Die Geschäftsordnung der ­Bundesregierung 2. Second: Die Formulierungshilfe IV. Gesetzesauslegung V. Coda

Zu Beginn der 1990er Jahre  – meine Doktorarbeit zum Thema „Bezugsrechtsausschluß und Konzernbildung“2 war schon einige Zeit veröffentlicht  – entspann sich eine rechtspolitische Diskussion über die Frage, wie man den zahlreichen, in vielen Fällen als missbräuchlich angesehenen Klagen gegen Bezugsrechtsausschlüsse durch börsennotierte Aktiengesellschaften auf gesetzlicher Ebene entgegentreten könnte. Was seitens des damals noch sogenannten Bundesministeriums der Justiz dann als (Fraktions‑)„Entwurf eines Gesetzes für kleine Aktiengesellschaften und zur Deregulierung des Aktienrechts“ vorgelegt wurde,3 begegnete in (mindestens) einer zentralen Frage meinen Bedenken. Denn so sehr ich es für richtig hielt, missbräuchliche Klagen einzudämmen,4 so sehr hielt ich es auch für richtig, die Angemessenheit des Ausgabekurses von unter Ausschluss des Bezugsrechts ausgegebenen Aktien in einem einfachen Verfahren prüfen zu können. Meine entsprechenden Überlegungen schrieb ich dementsprechend nieder,5 adressierte sie an den hier zu Ehrenden und hoffte, er würde sie „eins zu eins“ dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages als Anregung vorschlagen. Dem war – natürlich – nicht so. Ich weiß heute nicht mehr, ob ich es ernsthaft geglaubt hatte. Sicher aber ist, dass sich etwa seit dieser Zeit ein langjäh1 Prof. Dr. Heribert Hirte LL.M. (Berkeley), Universitätsprofessor an der Universität Hamburg, vertritt als direkt gewählter Abgeordneter der CDU den Kölner Süden und Westen im Deutschen Bundestag. Er ist stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz, Vorsitzender des Unterausschusses Europarecht sowie ordentliches Mitglied im Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union. In der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist er zudem Mitglied der Arbeitsgruppe „Brexit“. 2 Bezugsrechtsausschluß und Konzernbildung. Minderheitenschutz bei Eingriffen in die Beteiligungsstruktur der Aktiengesellschaft. Abhandlungen zum deutschen und europäischen Handels- und Wirtschaftsrecht, Köln/Berlin/Bonn/München 1986.  3 BT-Drucks. 12/6721. 4 S.  Hirte, Mißbrauch aktienrechtlicher Anfechtungsklagen. Vom Querulieren und seinen Grenzen, BB 1988, 1469-1477. 5 Anmerkungen und Anregungen zur geplanten gesetzlichen Neuregelung des Bezugsrechts, ZIP 1994, 356-363.

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Heribert Hirte

riger Dialog zwischen dem hier Geehrten und dem Unterzeichner entfaltet hat, der sich dann nach meiner Wahl in den 18. Deutschen Bundestag, in dem ich – zunächst gemeinsam mit Stephan Harbarth – in meiner Fraktion die Berichterstattung für das Gesellschaftsrecht übernommen hatte, noch intensivierte. Als Beispiele dieser Zusammenarbeit seien hier eingangs nur erwähnt das Gesetzgebungsverfahren zum Delisting, in dem durch Art.  2 des „Gesetzes zur Umsetzung der Transparenzrichtlinie-Änderungsrichtlinie“ 6 eine Neufassung von § 39 Abs. 2 BörsG erfolgte. Danach ist jetzt im Falle eines Delisting (wieder) eine Abfindung vorzusehen, die sich „im Grundsatz“ an den früheren Börsenkursen des nicht mehr notierten Titels bemessen muss („kapitalmarktrechtliche Lösung“). Allerdings ist § 31 WpÜG anzuwenden, so dass etwa außerbörsliche Parallelerwerbe für die Bemessung der Gegenleistung zu berücksichtigen sind; vor allem aber ist – zurückgehend auf einen Vorschlag des Verfassers  – anstelle der kapitalmarktrechtlichen Lösung eine „klassische Unternehmensbewertung“ vorzunehmen, wenn der Börsenkurs in Folge unterlassener oder fehlerhafter Ad-hoc-Meldungen nach §  15 WpHG oder einer Marktmanipulation nach § 20a WpHG nicht den wahren Unternehmenswert widerspiegelt (§ 39 Abs. 3 BörsG n.F.). Zum Zweiten ist zu nennen das „Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst“,7 mit dem für Aufsichtsräte von börsennotierten und der paritätischen Mitbestimmung unterliegenden Aktiengesellschaften eine Geschlechterquote für Frauen und Männer von mindestens 30 % eingeführt wurde (§ 96 Abs. 2 AktG n. F.). Da auch Ulrich Seibert eine gewisse Sympathie dafür hat, die – gelegentlich überraschenden, manchmal auch schlicht unbekannten – Hintergründe des Gesetzgebungsverfahrens aufzuschreiben,8 möchte ich die Gelegenheit nutzen, dies sozusagen spiegelbildlich aus der Sicht des „Nebenberufspolitikers“9 ebenfalls einmal zu tun. Deshalb sollen hier, mehr oder weniger zufällig einmal die Punkte aufgeschrieben werden, in denen Politik und Gesellschaftsrecht aneinander vorbei reden, und solche Punkte aufgezeigt werden, bei denen man – entsprechend – ein besseres Verständnis fürei­ nander erreichen könnte. Und dabei muss „Gesellschaftsrecht“ zugleich pars pro toto auch für andere Rechtsbereiche stehen, so dass es im Folgenden vor allem darum gehen wird, die Grenzen des Politischen für den in der Praxis tätigen Juristen auszulo-

6 Vom 20.11.2015 (BGBl. I 2015, 2029); näher hierzu bereits Hirte, Die Entwicklung des Unternehmens- und Gesellschaftsrechts im Jahr 2015, NJW 2016, 1216 f.; zur Neuregelung im Übrigen Bayer, Delisting: Korrektur der Frosta-Rechtsprechung durch den Gesetzgeber, NZG 2015, 1169; Bungert/Leyendecker-Langner, Die Neuregelung des Delisting, ZIP 2016, 49; Groß, Die Neuregelung des Anlegerschutzes beim Delisting, NZG 2015, 812; Hasselbach/ Pröhl, Delisting mit oder ohne Erwerbsangebot nach neuer Rechtslage, NZG 2015, 209; Kocher/Seiz, Das neue Delisting nach § 39 Abs. 2-6 BörsG, DB 2016, 153; Mense/Klie, Neues zum Going Private – Praxisfragen zur aktuellen Rechtslage zum Delisting, DStR 2015, 2782. 7 Vom 24.4.2015 (BGBl. I 2015, 642); zuvor BR-Drucks. 636/14 und BT-Drucks. 18/3784. 8 Vgl. aus seinem reichhaltigen rechtspolitischen Schrifttum etwa Seibert in FS Wiedemann, 2002, S. 123: „Aus dem Entwurfs-Atelier der Gesetzgebung – Beobachtungen zur Denk- und Arbeitsweise des Gesetzgebungsreferenten im Bundesministerium“. 9 So Jahn, FAZ v. 26.12.2012, „Der Nebenberufspolitiker“, S. 6. 

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Das Gesellschaftsrecht und die Politik

ten.10 Wer sich rechtspolitisch darüber hinaus noch etwa für die Berichterstattergespräche im Café Einstein (Unter den Linden) interessiert (die in der jüngeren Zeit jedenfalls nach Kenntnis des Verfassers offensichtlich der zunehmenden Hektik des politischen Geschäfts zum Opfer gefallen sind),11 der hat mit Ulrich Seibert den genau richtigen Ansprechpartner gefunden, der sich seine Sprezzatura wie nur wenige Juristen auch für komplizierte rechtspolitische Entwicklungen zunutze machen kann.

I. Der Anstoß zum gesetzgeberischen Wirken Beginnen wir deshalb mit der Frage, warum überhaupt der Gesetzgeber tätig wird. Ich habe dies immer wieder gesagt und sagen müssen. Ausgangspunkt der „normalen“ politischen Arbeit ist im Falle einer Koalitionsregierung (und andere Regierungen hatten wir in Deutschland nur selten, jedenfalls auf Bundesebene) der Koalitionsvertrag.12 Daneben sind als „normale Anlässe“ für gesetzgeberisches Tätigwerden noch Evaluationsergebnisse zu früheren Gesetzen zu nennen, mit denen – so wird man es politisch beschreiben müssen – frühere Gesetzgeber ihren Nachfolgern Handlungspflichten auferlegen, letztlich in der Annahme oder der Hoffnung, dass sich bis zu diesem Zeitpunkt die Dinge im Sinne des einen oder anderen Koalitionspartners verändern könnten (Beispiel: ESUG13 und erneut Delisting14). Zu erwähnen sind unter den „Normalfällen“ schließlich noch die Umsetzungspflichten, die sich aus europäischem – oder gegebenenfalls auch sonstigem internationalen – Recht ergeben. Was viele nicht wissen: Der Deutsche Bundestag ist auch an der europäischen Rechtsetzung schon in einer frühen Phase beteiligt, und zwar formal deshalb, weil die europäische Rechtsetzung unter Einbeziehung des Ministerrats und damit der nationalen Regierungen erfolgt. Diese aber unterliegen der (nationalen)

10 Ähnlich bereits für das Insolvenzrecht: Hirte, Das Insolvenzrecht und die Politik, in Schwartz, Insolvenzverwalter, Insolvenzrecht. Synopse (Stand 31.8.2017), 5.  Aufl. 2017, S. 7-17. 11 Vgl. etwa Seibert in FS Peltzer, 2001, S. 469 ff. 12 Dazu, und vor allem zu dessen Rechtsnatur, ausführlich jüngst Kloepfer, NJW 2018, 1799 ff. (mit allerdings insoweit abweichender Auffassung, als er von der rechtlichen „Unverbindlichkeit“ von Koalitionsverträgen ausgeht). 13 Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen vom 7.12.2011 (BGBl. I 2011, 2582). – Diskussions- und möglicherweise Anpassungsbedarf für die InsO kann sich hier aus der – so der entsprechende Bundestagsbeschluss (Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 17/7511, S.  5)  – „nach Ablauf von fünf Jahren nach dem Inkrafttreten“ des ESUG durchzuführenden Evaluation des ESUG ergeben. 14 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses, BT-Drucks. 18/6220, S. 79: „Die Koalitionsfraktionen der CDU/CSU und SPD baten die Bundesregierung, über die praktischen Erfahrungen mit den neuen Vorschriften zum Anlegerschutz beim Delisting (§ 39 Absatz 2 bis 6 – neu – des Börsengesetzes) und den Regelungen zum Rechtsverlust gemäß § 28 des Wertpapierhandelsgesetzes bis zum Ende des Jahres 2017 an den Finanzausschuss zu berichten.“

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Heribert Hirte

parlamentarischen Kontrolle,15 die in genuin rechtspolitischen Fragen in aller Regel durch den Unterausschuss Europarecht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz wahrgenommen wird. Eine der zentralen Schwierigkeiten, auch für die Frage, ob die Erhebung einer Subsidiaritätsrüge nach Art. 5 EUV i.V.m. dem entsprechenden Protokoll sinnvoll ist, liegt dabei freilich darin, dass der „horizontale Austausch“ zwischen den Mitgliedstaaten über die Frage einer Richtlinienumsetzung erst in den Anfängen ist (insbesondere: wie setzt Staat „A“ das Richtlinienrecht um und wie Staat „B“ – und noch wichtiger: wie will er es umsetzen?). Anders – im Sinne eines „spontanen Tätigwerdens“ – liegen die Dinge, wenn es um die gesetzgeberische Reaktion auf „Tagesereignisse“ geht, wie wir dies in der allgemeinen Politik intensiv mit der Flüchtlingskrise erlebt haben, im Gesellschafsrecht (immer wieder) im Zusammenhang mit Exzessen bei der Managervergütung (wo es zum Ende des 18.  Legislaturperiode dann aber zu keinen gesetzgeberischen Schritten mehr kam16) oder als Reaktion auf die geänderte Rechtsprechung des BGH zum Delisting,17 im Insolvenzrecht schließlich als Reaktion auf die Entscheidungen des BGH zum Liquidations-Netting18 und des BFH zum Sanierungserlass.19 Dass man Koalitionsverträge genau lesen muss, sei an einem Blick in die Aussagen des Koalitionsvertrages der 2017 zu Ende gegangenen Legislaturperiode zum Thema Anfechtungsrecht veranschaulicht. Dort hieß es:

15 Etwas Gesetzessystematik: Im Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der EU (EUZBBG) ist die Mitwirkung des Deutschen Bundestages (§ 1) ebenso wie die Bestellung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union (§ 2) geregelt. Die Pflicht zur Unterrichtung des Deutschen Bundestages trifft die Bundesregierung nach § 3 Abs. 1 und nach dessen Abs. 3 ausdrücklich auch im Hinblick auf den „Verlauf der Beratungen der informellen Ministertreffen“. Vor der Mitwirkung an Vorhaben hat die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag ­Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben (§ 8). Diese Stellungnahme des Deutschen Bundestages nimmt eine bedeutende Rolle ein (vgl. nur § 8 Abs. 2): „Gibt der Bundestag eine Stellungnahme ab, legt die Bundesregierung diese ihren Verhandlungen zugrunde. Die Bundesregierung unterrichtet fortlaufend über die Berücksichtigung der Stellungnahme in den Verhandlungen.“ S. im Übrigen ausführlich Hirte, Small Claims: „Kleine“ Forderungen und große Auswirkungen. Zum Parlamentsvorbehalt des Deutschen Bundestages bei der Änderung der Verordnung (EG) Nr. 861/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 zur Einführung eines europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen, in FS Vallender, 2015, S. 247 ff. 16 Dazu (und auch zu früheren Initiativen) ausführlich Hirte/Schüppen, Begrenzung exzessiver Managervergütungen durch Steuerrecht?, in GS Schmehl, 2019, S. 419 ff. 17 BGH (Beschl. v. 8.10.2013 – II ZB 26/12) ZIP 2013, 2254 (Frosta) = NZG 2013, 1342.  18 BGH (Urt. v. 9.6.2016 – IX ZR 314/14) BGHZ 210, 321 = NJW 2013, 2328 = ZIP 2016, 1226 = ZInsO 2016, 1299 = NZI 2016, 627. 19 BFH (Urt. v. 28.11.2016 – GrS 1/15) BFHE 255, 482 = ZIP 2017, 338 = ZInsO 2017, 340 = NZI 2017, 163 = DStR 2017, 305.

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Das Gesellschaftsrecht und die Politik „[…] Zudem werden wir das Insolvenzanfechtungsrecht im Interesse der Planungssicherheit des Geschäftsverkehrs sowie des Vertrauens der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in ausgezahlte Löhne auf den Prüfstand stellen.“20

Schon auf den ersten Blick wird deutlich: Es ist ein Gleichgewicht vereinbart zwischen einer Verbesserung des Rechts der Insolvenzanfechtung zugunsten mittelständischer Anfechtungsgegner wie zugunsten von Arbeitnehmern. Und es ist andererseits nicht fest vereinbart, dass geändert wird, sondern nur, dass eine Änderung „geprüft“ wird. Ähnlich, d.h. semantisch genau (!) ist auch mit dem neuen Koalitionsvertrag zu verfahren, wenn es etwa heißt: „[…] Ferner werden wir das langwierige und teure Spruchverfahren unter besonderer Berücksichtigung der Interessen von Minderheitsaktionärinnen und -aktionären sowie Kleinanlegerinnern und -anlegern evaluieren.“21

Es ist nicht vereinbart worden, dass das Spruchverfahren in dieser Legislaturperiode bereits geändert wird, sondern wir das Verfahren „evaluieren“. Ob aus einem „Weniger“ (Evaluation) dann ein „Mehr“ (Reform) wird, ist eine ganz andere politisch und demokratisch (!) zu lösende Frage (s. sogleich). Alle diese auf den ersten Blick semantischen Feinheiten haben die Diskussion in der letzten Legislaturperiode zentral beeinflusst. Denn ohne Einigung zwischen den Koalitionspartnern in der Sache kann es keine Änderung geben – und der Prüfauftrag wäre erledigt gewesen. Von entscheidender Bedeutung ist aber auch, was alles gerade nicht vereinbart war. Nicht vereinbart war insbesondere, dass auch die Lage von Fiskus und Sozialversicherungsträgern als Anfechtungsgegnern verbessert werden sollte. Entsprechende Begehrlichkeiten waren aber gleichwohl nicht leicht zurückzuweisen: Denn auch Koalitionsverträge lassen sich natürlich einvernehmlich ändern. Und wenn in beiden die Koalition tragenden Fraktionen die dem Fiskus und den Sozialversicherungsträgern nahestehenden Arbeitsgruppen, also Finanzen, Arbeit und Soziales sowie Gesundheit, ihren Hut in den Ring werfen, und wenn Gleiches auch noch auf der Ebene der Bundesländer  – also des Bundesrates  – geschieht, wird es für die Rechtspolitiker schwer, ihre rechtspolitische Grundüberzeugung zu verteidigen. Und deshalb ergab sich fast während der ganzen letzten Legislaturperiode die bemerkenswerte Lage, dass die Rechtspolitiker aller Fraktionen gemeinschaftlich ein Fiskusprivileg (durch die „Hintertür“) ablehnten, während umgekehrt ebenso deutlich bei den Finanzpolitikern auf Bundes- wie Landesebene durchaus Sympathien in diese Richtung bestanden.22 20 DEUTSCHLANDS ZUKUNFT GESTALTEN, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 2013, S. 19. 21 Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 2018, S. 131. 22 Dass es in der Insolvenzanfechtung keine besonderen Vorrechte für den Staat („Fiskusprivileg“) geben darf (auch nicht indirekt), schlägt sich denn auch in der dies nicht mehr aufgreifenden Neufassung des Gesetzes wieder (Gesetz zur Verbesserung der Rechtssicherheit

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Das aber heißt in summa: Was nicht im Koalitionsvertrag steht, hat es schwer verwirklicht zu werden. Das heißt nicht, dass nicht viele der Beteiligten noch deutlich mehr Ideen hatten – oder hätten entwickeln können. Nur: Diese fanden in den relevanten Gremien, also in allen beteiligten Arbeitsgruppen bzw. bei allen Partnern des Koalitionsvertrages, eben keine Mehrheit. Und dann muss man sich – gerade auch als Jurist – gelegentlich auf die Grundlagen unserer Demokratie zurückbesinnen, nach denen nicht das, was einzelne oder „die Wissenschaft“ für richtig halten, formelles „Recht“ ist, sondern nur und erst das, was das parlamentarische Verfahren durchlaufen hat.

II. Der Weg zum Koalitionsvertrag Zentrale Bedeutung hat daher die Frage: Wie kommt ein Vorhaben in den Koalitionsvertrag hinein? Dafür muss man – gerade gegenüber Juristen – in Erinnerung rufen, wer die Partner, jedenfalls die Hauptpartner, eines solchen Vertrages sind. Es sind die Parteien, die anschließend mit ihren Fraktionen die Regierung tragen wollen. Wurzel des Koalitionsvertrages ist daher der von Parteien zuvor in ihren Wahlprogrammen und Parteitagsbeschlüssen artikulierte Wille. Wer also – auch im Gesellschaftsrecht – etwas verändern will, muss daher versuchen, auf eben diese Programme im Vorfeld, und zwar lange im Vorfeld, einzuwirken. Und hier ist es dann durchaus bemerkenswert, dass sich weite Teile der bürgerlichen Mittelschicht aus der Arbeit in den Parteien zurückgezogen haben – und damit die Themenhoheit anderen überlassen haben. Die Verbände spielen hier zwar eine durchaus wichtige Vermittlerrolle, die den fehlenden direkten Einfluss teilweise ersetzen kann. Aber nicht alle Interessen sind in Verbänden gebündelt, und erst recht haben die Verbände bei ihren Forderungen schon vom eigenen Anspruch nicht immer eine Aus­ gewogenheit ihrer Positionen im Blick. Gerade für die Rechtspolitik seien hier desbei Anfechtungen nach der Insolvenzordnung und nach dem Anfechtungsgesetz vom 29.3.2017, BGBl. I 2017, 654), vgl. auch schon zuvor Hirte, Erstreckung der Bargeschäftsausnahme des § 142 InsO auf den „Bruttolohn“?, ZInsO 2016, 2027 ff. – Zur Vorgeschichte Pressemitteilungen der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung (MIT) der CDU vom 2.10.2015, MIT begrüßt Einigung bei Insolvenzanfechtung (zum ursprünglichen Regierungsentwurf; abrufbar unter https://www.mit-bund.de/content/mit-begruesst-einigung-­ bei-­insolvenzanfechtung), der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag vom 20.10.2014, Union hält an Änderungen im Insolvenzanfechtungsrecht fest (zum zeitweiligen Stopp der Koalitionsverhandlungen über das Gesetz; abrufbar unter https://www.cducsu.de/presse/ pressemitteilungen/union-haelt-aenderungen-im-insolvenzanfechtungsrecht-fest) und vom 14.2.2017, Koalition einigt sich auf Reform des Insolvenzanfechtungsrechts (zur Verabschiedung des Gesetzes, abrufbar unter https://www.cducsu.de/presse/pressemitteilungen/ koalition-einigt-sich-auf-reform-des-insolvenzanfechtungsrechts) sowie das Wortprotokoll der 92. Sitzung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz vom 24.2.2016 (Protokoll Nr.  18/92) sowie Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz, BT-Drucks. 18/11199, S. 10.

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halb die Vorarbeiten des „Bundesarbeitskreises Christlich Demokratischer Juristen (BACDJ)“23 auf Seiten der CDU und der „Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristinnen und Juristen (ASJ)“24 auf Seiten der SPD erwähnt. Besonders bemerkenswert ist daher, dass die Wissenschaft, die eigentlich diese Aufgabe wahrnehmen will, dies praktisch nicht tut. Ja, Vorschläge werden erdacht und veröffentlicht, und auch der Verfasser hat dies – s. die Eingangsbemerkungen – früher gelegentlich gemacht. Aber die Einbringung in den politischen Prozess wird unterlassen, weil man sich – vereinfacht gesagt – scheut, die Notwendigkeit einer Reform des Bilanzrechts auch am Wahlkampfstand in der Fußgängerzone zu vertreten! Kontakt gesucht wird nur zur Regierung, die aber – das muss man betonen – nur eine Rolle im Geflecht der Entscheidungsträger spielt. Umgekehrt gilt aber auch: Jedenfalls aus meiner eigenen politischen Erfahrung kann ich sagen, dass Positionen nicht in Programme gelangen (und damit potentiell in Koalitionsvereinbarungen), die vorher nicht in hinreichendem Umfang diskutiert wurden – und das typischerweise in der Wissenschaft. Es ist daher von besonderer Bedeutung, dass deren Arbeit nicht schon im Vorfeld manipuliert wird.25 So hat die Reform des BGB-Gesellschaftsrechts (natürlich) nur deshalb Eingang in das „Rechtspolitische Programm des BACDJ zur Bundestagswahl 2017“26 und inzwischen in den Koalitionsvertrag27 gefunden, weil es vorher Gegenstand der wirtschaftsrechtlichen Abteilung des 71. Deutschen Juristentages (2016) war („Empfiehlt sich eine grundlegende Reform des Personengesellschaftsrechts?“, Gutachten Carsten Schäfer).

23 https://www.cdu.de/bacdj. 24 https://asj.spd.de/. 25 Das liegt nach dem Urteil des LG Heidelberg (v. 29.3.2018 – 5 O 226/17, abrufbar auf der Lehrstuhlhomepage des Verfassers https://www.jura.uni-hamburg.de/die-fakultaet/profes​ suren/handels-r/ecfr.html [ebenso der vorangehende Beschluss im Eilverfahren]; Kurzdarstellung unter Noacks Blog: notizen.duslaw.de) bei ZGR und ECFR nicht mehr fern (die vom Kläger eingelegte Berufung gegen das Urteil wurde nunmehr vom OLG Karlsruhe mit Urteil v. 20.12.2018 – 7 U 149/18 [ZInsO 2019, 216] unter Verweis darauf zurückgewiesen, dass die aufgeworfenen Fragen im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht abschließend entschieden werden könnten; zwischenzeitlich hat der Kläger daher das Hauptsacheverfahren eingeleitet). 26 https://www.cdu.de/system/tdf/media/dokumente/bacdj/rechtspolitisches_programm_ des_bacdj_stand_-20.03.2017.pdf?file=1&type=field_collection_item&id=8552, S. 13: „So wollen wir das Recht der BGB-Gesellschaft auf ein neues Fundament stellen und so Rechtssicherheit auch für „kleine“ Gründer schaffen.“ 27 Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 2018, S.  131: „Wir werden das Personengesellschaftsrecht reformieren und an die Anforderungen eines modernen, vielfältigen Wirtschaftslebens anpassen; wir werden eine Expertenkommission einsetzen, die gesetzliche Vorschläge für eine grundlegende Reform erarbeitet.“

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III. Für manch’ Einen nur Terra incognita: Geschäftsordnung der Bundesregierung und Formulierungshilfe Das alles leitet über zu zwei weiteren wichtigen Instrumenten der parlamentarischen Entscheidungsfindung, die in der Öffentlichkeit kaum bekannt sind, aber erhebliche Auswirkungen haben: Der Geschäftsordnung der Bundesregierung und der Formulierungshilfe. 1. First: Die Geschäftsordnung der Bundesregierung Was zunächst die Geschäftsordnung der Bundesregierung (GOBReg) angeht, ist sie das Instrument, das (unter anderem) das Verfahren regelt, in dem Gesetzentwürfe der Bundesregierung erarbeitet werden. a) Bemerkenswerterweise ist es kaum einem praktizierenden Juristen bekannt, was es eigentlich bedeutet, wenn ein „Regierungs“-Entwurf vorgelegt wird. Denn nach deren §  15 Abs.  1 sind sämtliche Gesetzentwürfe von der (gesamten) Bundesregierung zu beschließen und vorher zwischen den beteiligten Bundesministerien abzustimmen (§ 16). Das bedeutet nichts anderes, als dass (im „Normalfall“ einer Koalitionsregierung) die Sicht aller Koalitionspartner bereits im Gesetzentwurf reflektiert ist, und dass außerdem auch und gerade die Sicht der nicht federführenden Ministerien bereits berücksichtigt ist. Dass „informell“ oft auch schon die Sicht der Bundesländer eingeflossen ist, zumal sie über die Parteischiene ja oft auch bestimmten Ministerien verbunden sind, versteht sich. Mit „Dogmatik“ hat all‘ dies nichts zu tun – sondern mit Demokratie und Staatsorganisation. Dass sogar manchem Staatsrechtslehrer dieses für unsere Staatsorganisation so wichtige „Nebenrecht“ nicht bekannt ist, ist bedauerlich und bezeichnend. So führt die Geschäftsordnung der Bundesregierung in der allgemeinen Lehrbuchliteratur ein Schattendasein;28 immerhin hat sich Volker Busse der Aufgabe angenommen, dem so wichtigen Nebenrecht eine Kommentierung29 zur Seite zu stellen. Aber auch im Gesellschaftsrecht ist es ja keinesfalls selbstverständlich, dass über schuldrechtliche Gesellschaftervereinbarungen („Nebenverträge“, „Nebenabreden“ zum statutarischen Gesellschaftsvertrag) 30 in der Vorlesung gesprochen wird. Aber die Sicht der Bundesländer wird natürlich auch ganz formal einbezogen: Denn Regierungsentwürfe – und die sind bei einer funktionierenden Regierung der Normalfall – werden zunächst dem Bundesrat zugeleitet, um erst dann, also mit dessen 28 So findet sich in dem Standardwerk zum Staatsrecht von Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010 nur in einer Randnummer (§ 1 Rn. 42) ein Hinweis, dass es solche Geschäftsordnungen gibt. Immerhin heißt es dort: „Sie dürfen aber gleichwohl in ihrer allgemeinen Bedeutung nicht unterschätzt werden“. Mehr dann aber von Maurer (statt vieler Lehrbuchautoren) erst zur Geschäftsordnung des Bundestages (GOBT) unter § 13 Rn. 87-96. 29 Busse, Geschäftsordnung Bundesregierung, 2. Aufl. 2014. 30 S. etwa Hirte, Kapitalgesellschaftsrecht, 8. Aufl. 2016, Rn. 3.269; Noack, Gesellschaftervereinbarungen bei Kapitalgesellschaften, 1994; ders., Satzungsergänzende Verträge der Gesellschaft mit ihren Gesellschaftern, NZG 2013, 281 ff.; Röhricht/Schall in Großkommentar zum Aktiengesetz, 5. Aufl. 2016, § 23 Rn. 296 ff.

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Stellungnahme und der Gegenäußerung der Bundesregierung, Gegenstand der parlamentarischen Beratungen im Deutschen Bundestag zu werden (Art. 76 GG). Dabei steht natürlich auch die Überlegung im Hintergrund zu verhindern, dass der Bundesrat mit einer möglicherweise „andersfarbigen“ Mehrheit ein Gesetz später durch Einspruch oder verweigerte Zustimmung (Artt. 77 Abs.  2  ff., 78 GG) zu Fall bringen könnte – bzw. in den Vermittlungsausschuss, und dass heißt am Ende einer Legislaturperiode dann eben das endgültige Aus (§ 125 GOBT). Wer dann im weiteren Gesetzgebungsverfahren eines solchen Gesetzes „seinen Abgeordneten“ anspricht, er möge zu einem bestimmten Gesetzentwurf nicht die Hand heben, übersieht: Das, was Gegenstand der parlamentarischen Beratung wird, ist schon diverse Male vorher von den vom Parlament über die Wahl der Bundeskanzlerin bestimmten Ministern besprochen, beraten und austariert worden. Und das heißt andererseits auch: Wer ein solches Gesetz mitträgt, kann dies – jedenfalls im Regelfall – so weit vor seinem Gewissen verantworten (Art. 38 Abs. 1 GG), wie er die Wahl eines bestimmten Bundeskanzlers oder einer bestimmten Bundeskanzlerin vor seinem Gewissen verantworten kann. b) Die Geschäftsordnung der Bundesregierung regelt aber auch die Frage, welches aller beteiligten Ministerien die „Federführung“ bei der Erarbeitung eines Gesetzentwurfs hat, eine Frage, die auch bei den oben angesprochenen Gesetzen – Geschlechterquote und Delisting – durchaus kontrovers war. Dies zeigt, welche fundamentale Bedeutung diese Zuständigkeit hat, die auf § 9 GOBReg31 zurückgeht. Die „Federführung“ durch ein Ministerium bestimmt auch – jedenfalls im Normalfall (vgl. aber hierzu offen § 80 GOBT32) – die Federführung im korrespondierenden Ausschuss des Deutschen Bundestages. Das führt – wiederum im Normalfall – dazu, dass dessen Position die maßgebliche Stimme in den weiteren Beratungen auch im Deutschen Bundestag ist. Denn die anderen – bloß „mitberatenden“ – Ausschüsse werden im Verlauf der Gesetzesberatungen in der Regel nur sehr kurz gehört: Ihre Stellungnahme beschränkt sich meist darauf, das „durchzuwinken“, was der federführende Ausschuss beschlossen hat. Und das geht auch kaum anders: Denn einmal liegen etwa im Rechtsausschuss praktisch alle Finanz- und Steuerfragen im Rahmen der Mitberatung in den Händen jeweils nur eines Abgeordneten einer Fraktion – bei der CDU/ CSU-Fraktion bei mir. Und da ist es schon technisch kaum möglich, alle die Fragen, die im federführenden Ausschuss intensiv diskutiert wurden, im Rechtsausschuss noch einmal „aufzumachen“. Vor allem aber dient die Mitberatung auch (nur) dazu, 31 §  9 GOBReg lautet: „Der Geschäftsbereich der einzelnen Bundesminister wird in den Grundzügen durch den Bundeskanzler festgelegt. Bei Überschneidungen und sich daraus ergebenden Meinungsverschiedenheiten zwischen den einzelnen Bundesministern entscheidet die Bundesregierung durch Beschluß.“ 32 § 80 Abs. 1 GOBT lautet: „(1) Am Schluß der ersten Beratung wird der Gesetzentwurf vorbehaltlich einer abweichenden Entscheidung gemäß Absatz 2 einem Ausschuß überwiesen; er kann nur in besonderen Fällen gleichzeitig mehreren Ausschüssen überwiesen werden, wobei der federführende Ausschuß zu bestimmen ist. Weitere Ausschüsse können sich im Benehmen mit dem federführenden Ausschuß an der Beratung bestimmter Fragen der Vorlage gutachtlich beteiligen.“

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diejenigen Perspektiven einzubringen, für die der federführende Ausschuss eben auch nicht zuständig ist. Ein schönes Beispiel: Bei der großen Reform der Abgabenordnung in der letzten Legislaturperiode durch das Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens vom 18.  Juli 2016 (BGBl. I 2016, 1679) wurde im Vorfeld gerügt, dass die vorgeschlagenen Normen in zahlreichen Punkten eine Verletzung des „Rechtsstaatsprinzips“ darstellten.33 Das eröffnete der Arbeitsgruppe Recht meiner Fraktion die Möglichkeit der Intervention, die sich dann auch in zahlreichen Klarstellungen im Bericht des Finanzausschusses widerspiegelt. Und gleich ein Gegenbeispiel: Die am Ende der letzten Legislaturperiode verabschiedete Neuregelung zur Steuerfreiheit von Sanierungsgewinnen im Gesetz gegen schädliche Steuerpraktiken im Zusammenhang mit Rechteüberlassungen vom 27. April 201734 betraf ebenfalls eine steuerrechtliche Regelung in der Federführung des Bundesministeriums der Finanzen und damit des Finanzausschusses. Andererseits betraf sie natürlich das Insolvenzrecht, und damit Fragen in der Zuständigkeit „meines Ausschusses“. Hier seitens der Arbeitsgruppe Recht bzw. des Rechtsausschusses intervenieren zu wollen, wäre aber kaum sinnvoll gewesen angesichts der Vorab-Koordination des Gesetzentwurfs mit den Finanzministerien der Länder (dazu schon oben und Artt. 77 Abs. 2 ff., 78 GG) und der dann drohenden Verfahrensverzögerung mit dem Risiko, dass der Entwurf der Diskontinuität anheim hätte fallen können. Dass es im Rechtsausschuss bzw. der Arbeitsgruppe Recht nicht durchaus auch andere Überlegungen gab, ist dann – leider – irrelevant.

Im Bereich der Reform des Insolvenzanfechtungsrechts haben wir das dann in umgekehrter Richtung erlebt: So wie bei der Formulierung eines Gesetzentwurfs der Bundesregierung gerade bei den Fiskalfragen auch andere Ministerien ihren Hut in den Ring warfen, äußerten sich naturgemäß auf der Ebene der (Fraktions‑)Arbeitsgruppen und (Bundestags‑)Ausschüsse hier auch die nicht federführenden, sondern nur mitberatenden Arbeitsgruppen. Und nur zur Klarstellung: Auch wenn die Positionierungen durchaus differenziert waren – die anderen Arbeitsgruppen waren zumindest zahlenmäßig mehr. Und das ist bekanntlich in der Demokratie ein nicht unwesentlicher Faktor … Der „Rechtstheoretiker“ wird nun sagen: Nun gut, dann muss man die Sache eben auf der Ebene der Gesamtfraktion – und bei einer Koalitionsregierung aller beteiligten Fraktionen – abstimmen. Bei der großen Zahl der je Sitzungswoche zu bearbeitenden Gesetzesvorlagen (manchmal mehrere Dutzend) und der letztlich bei jedem Gesetz verbleibenden Streitfragen wäre dies jedoch ein kaum praktikables Verfahren. Nicht zuletzt weiß jeder, der in Gremien arbeitet: Wenn ein Einzelner ein großes Gremium mit seinem „Spezialproblem“ befassen will, geht dies nur im Wege der Vor-Abstimmung, will er nicht von vornherein ein Scheitern seines Anliegens riskieren (außer es geht nur um die mediale Wirkung, da jedenfalls über die – vertraulich tagenden – Fraktionssitzungen der großen Fraktionen ausführlich in der Presse berichtet wird …). Üblich – letztlich aus Gründen der Arbeitsökonomie – ist daher erst einmal die „Eskalation nach oben“. Können sich die Berichterstatter nicht einigen, werden erst 33 Vgl. Baldauf, Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens – Kritische Betrachtung des Regierungsentwurfs, DStR 2016, 833. 34 BGBl. I 2017, 2074.

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die jeweiligen Arbeitsgruppensprecher, dann die stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden und schließlich die Fraktionsvorsitzenden in den Entscheidungsprozess eingebunden. Allerdings: Je höher die Ebene, desto weniger  – schon aus ganz praktischen Gründen  – die Möglichkeit einer bei Juristen so beliebten „dogmatischen Durchdringung“. Es ist daher ein nicht ganz leichter Abwägungsprozess, ob man einen möglicherweise nur begrenzt überzeugenden Kompromiss auf einer der unteren Ebenen hinnehmen soll oder darauf hoffen will, weiter oben eine (bessere?) „politische Entscheidung“ zu bekommen. Bei den dann immer wieder vorzufindenden Kritiken aus dem Aufsatz- oder Monographie-Schrifttum wird all‘ dies leider immer wieder ausgeblendet. 2. Second: Die Formulierungshilfe Doch nun zur „Formulierungshilfe“. Sie ist ein in § 52 Abs. 2 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO)35 niedergelegtes Instrument der parlamentarischen Arbeit. Worum geht es? Nicht selten – und eigentlich selbstverständlich in unserem parlamentarischen System – will der Deutsche Bundestag, in der Regel in Form der federführenden Ausschüsse und hier faktisch seiner Berichterstatter, Änderungen am Text eines eingebrachten Gesetzes anbringen. (Verfassungs‑)Rechtlich zulässig wäre es natürlich, wenn die Abgeordneten sich einigten – und ihre Einigung über zustimmende Voten ihrer Fraktionen und dann der Beschlussempfehlung des federführenden Ausschusses zur Grundlage eines entsprechenden Bundestagsbeschlusses machten. Allerdings: Bei den Beratungen über Gesetzentwürfe – und natürlich erst recht im Normalfall des Regierungsentwurfs – sitzt natürlich auch das federführende Ministerium „mit am Tisch“. In einigen Fällen – so etwa die durchaus hinterfragbare Praxis – im Bereich des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz ist es sogar das zuständige Ministerium, das die entsprechenden Gespräche koordiniert (statt  – wie im Bereich anderer Ausschüsse – die Vorsitzenden der entsprechenden Arbeitsgruppen der Fraktionen im Deutschen Bundestag). Änderungsbitten der Abgeordneten zu Gesetzen werden daher faktisch immer an das zuständige Ministerium weitergereicht – mit der Bitte, den politischen Willen rechtlich korrekt auszuformulieren, eben in Form einer „Formulierungshilfe“. Das hat durchaus sein Gutes, weil unsere Ministerialbürokratie qualitativ hochwertige Arbeit leistet, gerade was die Erhaltung der Einheit der Rechtsordnung angeht (ganz anders etwa in den Vereinigten Staaten, wo ein solcher Prozess unüblich ist36). 35 § 52 GGO (Einheitliches Vertreten der Gesetzesvorlagen; Formulierungshilfe für den Deutschen Bundestag und den Bundesrat) lautet: (1) […]. (2) Über Formulierungshilfen, die inhaltlich von Beschlüssen der Bundesregierung abweichen oder über sie hinausgehen, sind die beteiligten Bundesministerien und das Bundeskanzleramt unverzüglich zu unterrichten, möglichst vor Zuleitung an die Ausschüsse. 36 Vgl. zum System näher Hay, Law of the United States, 3rd ed., München 2016, Chapter 2; ders., US-Amerikanisches Recht, 6. Aufl., München 2015, Rn. 37 ff.

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Aber eine solche „Formulierungshilfe“ ist eben auch ein Textentwurf der Bundesregierung – und dann gilt das oben beschriebene Prozedere – einschließlich der Beteiligung aller Ministerien. Zu glauben, man könnte dieses Vorgehen blockieren, ist schwierig: Denn es wird – gerade bei Koalitionsregierungen – immer einen Beteiligten geben, der auf der textlichen Prüfung eines Entwurfs durch die Bundesregierung besteht. Das ist meistens auch gut so, und ist – wenn man so will – eine Herunterbrechung des demokratischen Systems auf seine unterste parlamentarische Ebene.

IV. Gesetzesauslegung Nach der Verabschiedung eines Gesetzes stellt sich dem geneigten Rechtsanwender vielfach die Frage nach der korrekten Auslegung des Textes. Im Rahmen der historisch-teleologischen Auslegung versuchen sowohl Rechtsanwälte wie auch Richter den wahren Willen des Gesetzgebers zu erforschen. Ausweislich vieler Kommentare und auch Urteile wird hierbei vor allem auf die sog. Gesetzesbegründung rekurriert. Bei diesem verpflichtenden Bestandteil eines Gesetzentwurfes der Bundesregierung (Art. 42 GGO) ist allerdings in Erinnerung zu rufen, dass dieser nicht die im parlamentarischen Verfahren erfolgten Änderungen nachzeichnet bzw. nachzeichnen kann; die Gesetzesbegründung als „Regierungs“-Begründung verbleibt vielmehr auf dem Stand des Kabinettsbeschlusses, damit also auf dem Stand der Übersendung des Entwurfes an den Bundesrat. Mit der Einbringung in den Deutschen Bundestag hat aber diese ihre Schuldigkeit, nämlich den Mitgliedern des Deutschen Bundestages die Position der Bundesregierung (!) zu erläutern, getan. Auch der bereits erwähnten Formulierungshilfe ist meist ein „erklärender“ Teil angefügt, der zwar nun auch explizit mit den Regierungsfraktionen abgestimmt wird, aber eben auch nur Änderungen am ursprünglichen Entwurf erläutert. Zur Auslegung des konsentierten Textentwurfs – und damit also des verbindlich gewordenen Gesetzes – schweigt eine Formulierungshilfe somit üblicherweise auch dann, wenn die Berichterstatter der Fraktionen den Entwurf abweichend von der Gesetzesbegründung interpretieren. All dies zeigt, dass die Gesetzes- (= Regierungs‑)begründung nur beschränkt für die Erforschung des Willens des Gesetzgebers (also von Bundestag und Bundesrat) dienlich ist. Der „Bericht des Ausschusses“ als Teil der Beschlussempfehlung des federführenden Ausschusses an das Plenum (Artt. 63, 66 GOBT) bietet hingegen Raum für eine Interpretation, da in ihm sowohl konsentierte als auch fraktions-spezifische Ansichten zu Gesetzentwürfen protokollsicher zu Papier gebracht werden können. In gleicher Weise sind gerade in den Plenarreden der 2./3. Lesung meist Anhaltspunkte zu finden, wie die Berichterstatter der Fraktionen – und damit in den Regierungsfraktionen die eigentlichen Entscheidungsträger – das zu verabschiedende Gesetz interpretieren. Gerade bei eher „technischen“ Politikbereichen  – und viele Teile der Rechtspolitik gehören dazu – ist es dabei üblich, die entsprechenden Plenarreden – nach Einverständnis aller Fraktionen im Ältestenrat  – „zu Protokoll“ zu geben (§  78 Abs.  6 GOBT). Die schriftlich eingereichte Fassung der Rede wird dann als Anhang zum jeweiligen Tagesordnungspunkt im Plenarprotokoll abgedruckt. Das hat Vor- und 356

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Nachteile: Politisch wird kritisiert, dass es dann an der „live“ geführten Auseinandersetzung fehlt, was auch stimmt. Nur: Bei einem Thema, dass sonst zu nächtlicher Stunde ausschließlich unter Fachpolitikern debattiert wird, kommt es darauf nicht wirklich an. Umgekehrt erlaubt die zu Protokoll gegebene Rede einen höheren Grad an Präzision – und ist daher gerade für die juristische Auseinandersetzung und spätere Interpretation des Gesetzes vielleicht sogar aussagekräftiger.

V. Coda Es zeigt sich also, dass sich die Frage des (möglichen) Einflusses von Wissenschaft und Praxis auf die Gesetzgebung nicht mit einem Blick in das Grundgesetz alleine lösen lässt. Auch Staatsrechtsvorlesungen bereiten den interessierten Studenten der Rechtswissenschaften im ersten Semester wenig auf das „wirkliche“ Leben vor. Es ist aus „Praxissicht“ sicher gut, wenn manche Fälle aus dem „wahren Leben“ Eingang in die Vorlesungen und Lehrbücher des Staatsrechts finden, so etwa der Klassiker um die Beschlussfassung im Bundesrat zu dem zustimmungsbedürftigen Zuwanderungsgesetz aus dem Jahr 2002 und der uneinheitlichen Stimmabgabe des Landes Brandenburg.37 Gleichwohl sollte man nicht verkennen, dass die (entschiedenen) „großen“ Fälle doch eigentlich nur den Blick auf die gelebte Normalität – ohne große dogmatische Fehlerquellen – verstellen. Staatsrecht ohne die großen praktischen (!) Komponenten38 zu lehren, ist nach all dem Vorstehenden aber trotzdem inhaltsleer, ja gar nur die „halbe Wahrheit“. Wenn auch vereinzelt zumindest die GOBT von meinen geschätzten Kollegen Staatsrechtslehrern erwähnt oder gar besprochen wird, fehlt es aber doch meist an der nötigen Kenntnis der wirklich in der Praxis relevanten Regelungen. Dieses Manko an „Praxiswissen“ lässt sich nur beheben, wenn man in der Wissenschaft auch ein offenes Ohr (besser zwei) für die Rechtspolitik – und die Politik insgesamt  – mitbringt. Denn am Ende des Tages ist „Recht“  – wie es so schön heißt  – doch „geronnene Politik“, welches nur in einem komplexen gesellschaftlich-demokratischen Prozess entstehen kann und in einen gesetzgeberischen Akt mündet. Und an die Adresse des Rechtswissenschaftlers muss man dabei sagen: Es entscheidet die Mehrheit, nicht die Dogmatik, und das steht sogar im Grundgesetz. So: Be open to legal politics!

37 So etwa schon für Studienanfänger zu finden bei Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 16 Rn. 23; Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 8. Aufl. 2018, § 13 Rn. 21 ff. 38 Und das müssen eben keine dogmatischen Feinheiten sein, sondern ganz praktische mitsamt Demokratieverständnis.

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Geschäftsführer der GmbH & Co. KG – eine hybride Rechtsstellung zwischen GmbH und KG Inhaltsübersicht I. Einführung II. Geklärte Fragen 1. Gesetzliche Regelungen zu Firmierung, Rechnungslegung, Mitbestimmung und Kapitalschutz a) Firmierung b) Rechnungslegung c) Mitbestimmung d) Kapitalschutz 2. Vertragspraxis zur Verbindung von KG und GmbH a) Gleichschaltung der Beteiligungs­ quoten

b) Einheitsgesellschaft 3. Fazit III. Offene Fragen zur Rechtsstellung des ­Geschäftsführers 1. Anstellungsvertrag 2. Weisungsbindung 3. Auskunftspflicht gegenüber den ­Gesellschaftern 4. Wettbewerbsverbot 5. Haftung 6. Fazit IV. „Handelsgesellschaft auf Einlagen“

I. Einführung Die typische GmbH & Co. KG, wie sie in der Praxis vorherrscht und von der nachfolgend ausgegangen wird, ist wie folgt strukturiert: Die Komplementär-GmbH führt als ihre einzige Aufgabe die Geschäfte der KG, an deren Kapital sie nicht beteiligt ist und in deren Gesellschafterversammlung sie kein Stimmrecht besitzt. Die Kommanditisten sind entweder im gleichen Verhältnis auch an der Komplementär-GmbH beteiligt (beteiligungsidentische GmbH & Co. KG) oder die Geschäftsanteile an der Komplementär-GmbH werden von der KG gehalten (GmbH & Co. KG als Einheitsgesellschaft). Die GmbH & Co. KG ist „ein künstliches Gebilde, bei dem zwei Gesellschaften unterschiedlicher Rechtsform für die Organisation eines Unternehmens verwendet werden“.1 An der Zulässigkeit dieser Grundtypenvermischung wird heute nicht mehr gezweifelt, aber es bleibt ein verbreitetes Unbehagen wegen der vielen Zweifelsfragen, die sich aus der Verbindung der beiden Gesellschaftsformen ergeben. Einige Fragen hat der Gesetzgeber durch Sonderregelungen geklärt, und manches wurde durch die Praxis und die Rechtsprechung zumindest soweit entwickelt und verfestigt, dass ein ausreichendes Maß an Rechtssicherheit erreicht ist (dazu unter II.). Aber es besteht noch erhebliche Unsicherheit bei einer Reihe von Themen. Das gilt insbesondere im 1 Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 56 I 2 b).

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Hinblick auf die Rechtsstellung des Geschäftsführers der Komplementär GmbH, die nachstehend unter den Aspekten Anstellungsvertrag, Weisungsbindung, Informa­ tionspflichten, Wettbewerbsverbot und Haftung stichwortartig beleuchtet wird (dazu III). Dabei geht es exemplarisch um die grundsätzliche Frage, inwieweit die Rechtsstellung des Geschäftsführers durch seine Aufgabe als mittelbarer Geschäftsführer der KG bestimmt wird und somit nach Maßgabe des HGB statt des GmbHG definiert werden kann und vielleicht auch definiert werden sollte.

II. Geklärte Fragen 1. Gesetzliche Regelungen zu Firmierung, Rechnungslegung, Mitbestimmung und Kapitalschutz a) Firmierung Seit 1980 schreibt § 19 Abs. 2 HGB vor, dass die Firma der GmbH & Co. KG eine Bezeichnung enthalten muss, welche die Haftungsbeschränkung kennzeichnet. Ergänzt wurde dies in 1998 durch §  19 Abs.  1 Nr.  3 HGB, wonach die Bezeichnung „GmbH & Co.“ nicht genügt, sondern „KG“ hinzugefügt werden muss. In diesen Zusammenhang gehört auch § 125a i.V.m. § 161 Abs. 2 HGB, der die GmbH & Co. KG verpflichtet, die nach § 35a GmbHG geforderten Angaben zur Komplementär-GmbH auch auf den Geschäftsbriefen der KG auszuweisen. b) Rechnungslegung Durch die 2000 in Umsetzung einer Richtlinie der EU geschaffene Vorschrift des § 264a HGB wird die GmbH & Co. KG im Hinblick auf die Erstellung, Prüfung und Offenlegung ihrer Jahresabschlüsse pauschal den Regeln für Kapitalgesellschaften unterworfen, um – wie es in der Begründung des Regierungsentwurfs heißt – dadurch den notwendigen Ausgleich für die Haftungsbeschränkung zu schaffen.2 c) Mitbestimmung Die Kommanditgesellschaft gehört nicht zu den durch die Mitbestimmungsgesetze erfassten Rechtsformen, und zwar aus Respekt vor der persönlichen Haftung des oder der Komplementäre. Um dennoch die GmbH & Co. KG zumindest mittelbar in den Anwendungsbereich der paritätischen Mitbestimmung einzubeziehen, hat der Gesetzgeber in § 4 MitbestG einen Kunstgriff angewendet, nämlich die Zurechnung der Mitarbeiter der KG (und der Mitarbeiter ihrer nachgeordneten Konzernunternehmen) zur Komplementär-GmbH, um dort bei Überschreiten des Schwellenwerts von 2000 Arbeitnehmern die Bildung eines paritätisch besetzten Aufsichtsrats vorzuschreiben. Die Regelung geht nicht so weit, die GmbH & Co. KG als Kapitalgesellschaft zu fingieren und dadurch der Mitbestimmung zu unterwerfen, aber die mit der 2 BT-Drucks. 14/1806, S. 18.

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Geschäftsführung betraute GmbH muss, auch wenn es neben ihr einen geschäftsführenden natürlichen Komplementär gibt, einen paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat bilden, falls die Mehrheit der Kommanditisten die Mehrheit der Geschäftsanteile an der GmbH hält. Inzwischen ist geklärt, dass diese Voraussetzung auch dann analog § 4 Abs. 1 MitbestG als gegeben anzusehen ist, wenn die GmbH & Co. KG als Einheitsgesellschaft gestaltet ist.3 d) Kapitalschutz Zu Kapitalaufbringung bei der GmbH & Co. KG gibt es nur eine gesetzliche Sonderregelung in § 172 Abs. 6 HGB. Danach gilt die Hafteinlage eines Kommanditisten als nicht geleistet, soweit sie in Anteilen an der Komplementär-GmbH bewirkt ist. Für den Fall der Einheitsgesellschaft bedeutet dies, dass die Kommanditisten außer den im Handelsregister eingetragenen Hafteinlagen auch das Stammkapital der GmbH aufbringen müssen. Ansonsten gibt es keine gesetzliche Sonderregelung zur Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung bei der GmbH & Co. KG. Falls durch Auszahlungen an Kommanditisten das Vermögen der KG unter die Haftsummen gemindert wird, bleibt es bei der Haftung der Kommanditisten nach § 172 Abs. 4 HGB. Zum Schutz des Stammkapitals der GmbH hat die Rechtsprechung allerdings den Grundsatz entwickelt, dass die §§ 30, 31 GmbHG analog anzuwenden sind, falls sich durch eine Auszahlung aus dem Vermögen der KG an die Kommanditisten eine mittelbare Unterbilanz bei der GmbH ergibt, was der Fall sein kann, wenn die GmbH ihr Vermögen bei der KG angelegt hat.4 Der Rückforderungsanspruch gegen die Kommanditisten analog §  31 GmbHG steht dann der Kommanditgesellschaft und nicht der GmbH zu.5 Insoweit wird also die KG, wenn auch nur für eine spezielle Konstellation, wie eine GmbH behandelt. 2. Vertragspraxis zur Verbindung von KG und GmbH a) Gleichschaltung der Beteiligungsquoten Bei der beteiligungsidentischen GmbH & Co. KG muss durch Gleichschaltungsregeln in beiden Gesellschaftsverträgen insbesondere durch Abtretungspflichten und Einziehungsrechte gewährleistet werden, dass alle Gesellschafter trotz aller Wechselfälle im Gesellschafterkreis stets proportional gleich an beiden Gesellschaften beteiligt sind. Dabei ist die Höhe der Kommanditbeteiligung in aller Regel „federführend“; nach ihr richtet sich das gebotene Maß der Beteiligung an der GmbH.6

3 Habersack in Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 4. Aufl. 2018, § 4 MitbestG Rz. 17 m.Nachw. 4 Nachw. bei Binz/Sorg, Die GmbH & Co. KG, 12. Aufl. 2018, § 12 Rz. 54, 57. 5 Nachw. bei Karsten Schmidt, ZIP 2008, 481, 482 Fn. 15. 6 Vgl. Grunewald in MünchKomm. HGB, 3. Aufl. 2012, § 161 Rz. 94; Blaum in Westermann/ Wertenbruch, Hdb. Personengesellschaften, Sept.  2017, §  55 Rz.  I  3202; Blaum/Scholz in

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b) Einheitsgesellschaft Die Verklammerung zwischen der Komplementär-GmbH und der KG ist besonders eng, wenn alle Geschäftsanteile der GmbH von der KG gehalten werden („Einheitsgesellschaft“). Diese Gestaltung setzt sich in der Praxis immer mehr durch. Sie erspart insbesondere die komplizierten Gleichschaltungsregeln in beiden Gesellschaftsverträgen. Die Zulässigkeit der Einheitsgesellschaft ist heute außer Streit.7 Im Gesellschaftsvertrag der KG muss allerdings, damit sich nicht „die Katze in den Schwanz beißt“, ausgeschlossen werden, dass die Stimmrechte der KG aus den GmbH-Geschäftsanteilen von der GmbH durch ihre Geschäftsführer ausgeübt werden. Wenn die KG über einen Beirat oder Gesellschafterausschuss als zusätzliches Organ verfügt, ist es üblich, die Vertretung der KG bei Ausübung der Stimmrechte aus den GmbH-­Anteilen im Gesellschaftsvertrag diesem Organ zu übertragen.8 Falls ein solches Organ nicht eingerichtet worden ist, kann im Gesellschaftsvertrag der KG den Kommanditisten die notwendige Geschäftsführungsbefugnis und Vertretungsmacht für die Ausübung der Stimmrechte aus den GmbH-Anteilen eingeräumt werden. Bei dieser Gestaltung handelt es sich um eine organschaftliche Vertretungsmacht der Gesamtheit der Kommanditisten, deren Willensbildung angesichts der Stimmrechtslosigkeit der GmbH nach den für die Gesellschafterversammlung geltenden Regeln erfolgt, und nicht nur um eine den Kommanditisten durch die Komplementär- GmbH erteilte rechtsgeschäftliche Vollmacht. 9 Eine Vollmacht ist nur erforderlich für die Ausführung der Beschlüsse der Kommanditistenversammlung durch einen Kommanditisten. 3. Fazit Der Gesetzgeber tendiert dazu, die GmbH & Co. KG in wesentlichen Punkten wie eine GmbH zu behandeln. Das zeigt sich insbesondere in den vorstehend angeführten Regelungen zur Firmierung, Rechnungslegung und Mitbestimmung. Die Kautelarpraxis betont dagegen den vorrangigen Charakter als Personengesellschaft. Bei der beteiligungsidentischen KG zeigt sich das darin, dass die Höhe der Beteiligung an der KG maßgebend ist für die Höhe der entsprechenden Beteiligung an der GmbH, und bei der Einheitsgesellschaft sind die Gesellschafter sogar ausschließlich an der KG beteiligt, so dass für ihre Rechtsbeziehungen ausschließlich das Recht der Personengesellschaft maßgebend ist und die GmbH auf ein Schattendasein reduziert wird. Beck‘sches Formularbuch Bürgerliches, Handels- und Wirtschaftsrecht, 12.  Aufl. 2016, Form. VIII.D.6 § 8 Abs. 1. 7 Nachw. bei Binz/Sorg, GmbH & Co. KG, § 8 Rz. 6 f.; Karsten Schmidt, JZ 2008, 425, 435 f.; Gummert in Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts Bd. 2 (MünchHdb. KG), 4. Aufl. 2014, § 51 Rz. 3. 8 So z.B. im Fall OLG Celle v. 24.5.2016 – 27 W 27/16, ZIP 2016, 1728. 9 Brosius/Frese, NZG 2016, 808, 810; Binz/Sorg, GmbH & Co. KG, § 8 Rz. 22; i. Erg. auch Karsten  Schmidt in FS Westermann, 2008, S.  1425, 1438  f.; anders Casper in FS Stilz, 2014, S. 111 118; Grunewald in MünchKomm. HGB, 3. Aufl. 2012, § 161 Rz. 99; Otte, Der Konzern 2016, 477, 479. Eine gewisse Parallele gibt es im Recht der KGaA in Form der „Gesamtheit der Kommanditaktionäre“ in §§ 278 Abs. 2, 287 Abs. 2 AktG; dazu näher Bachmann in FS Marsch-Barner, 2018, S. 1, 14 f.

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III. Offene Fragen zur Rechtsstellung des Geschäftsführers 1. Anstellungsvertrag Die Bestellung des Geschäftsführers der Komplementär-GmbH erfolgt im Fall der beteiligungsidentischen GmbH & Co. KG durch die Gesellschafter der GmbH oder durch einen von den Gesellschaftern eingesetzten Beirat oder Gesellschafterausschuss der GmbH, im Fall der Einheitsgesellschaft durch dasjenige Organ der KG, das für die Ausübung der Stimmrechte aus den GmbH-Anteilen zuständig ist. Bei beiden Formen der GmbH & Co. KG können die Beteiligten wählen, ob der Anstellungsvertrag mit der GmbH oder mit der KG abgeschlossen werden soll. Der Vertragsschluss mit der KG ist in der Praxis häufig anzutreffen, und diese Gestaltung ist auch sachgerecht. Die unmittelbare Verpflichtung der KG zur Zahlung der Bezüge erspart den Umweg über eine Erstattung der von der GmbH geschuldeten Bezüge durch die KG und gibt dem Geschäftsführer einen unmittelbaren Anspruch gegen den zahlungskräftigeren Schuldner. Besonders nahe liegt der Abschluss des Anstellungsvertrags mit der KG, wenn dem Geschäftsführer variable Bezüge zugesagt werden, die auf den Erfolg der KG abstellen. Und nicht zuletzt entspricht die Wahl dieses Vertragspartners am besten dem Verständnis der Beteiligten: Der Geschäftsführer führt die Geschäfte der KG und versteht sich als deren Geschäftsführer, und die Kommanditisten verstehen ihn als „ihren“ Geschäftsführer. Dazu passt es am besten, wenn die Kommanditisten oder der von ihnen eingesetzte Beirat oder Gesellschafterausschuss die Bezüge des Geschäftsführers mit diesem vereinbart, zumal die finanzielle Belastung ohnehin nicht die GmbH sondern die KG trifft. Die Zulässigkeit einer Drittanstellung des Geschäftsführers der Komplementär-GmbH durch die KG ist im Grundsatz anerkannt.10 Umstritten ist allerdings, ob für die Wirksamkeit des Vertrags ein zustimmender Beschluss des Bestellungsorgans der GmbH, im Regelfall also der Gesellschafterversammlung der GmbH, erforderlich ist.11 Praktische Bedeutung hat dieser Streit für den Sonderfall einer paritätisch mitbestimmten Komplementär-GmbH, bei der die Bestellung des Geschäftsführers zwingend durch den Aufsichtsrat der GmbH erfolgt. Durch die Rechtsprechung ist geklärt, dass der mitbestimmte Aufsichtsrat der Komplementär-GmbH nicht nur für die Bestellung des Geschäftsführers zuständig ist, sondern ihm auch die Entscheidung über den Anstellungsvertrag zwischen dem Geschäftsführer und der GmbH zusteht.12 Insofern gilt für die mitbestimmte GmbH & Co. KG, was die Organkompetenzen betrifft, dasselbe wie für die mitbestimmte AG & Co. KG. Zur AG wird verbreitet die Auffassung vertreten, die Drittanstellung des Vorstandsmitglieds bedürfe zumindest der Zustimmung des Aufsichtsrats der AG, da sonst die in § 87 AktG begründete Vergütungs10 Nachw. bei Gummert in MünchHdb. KG, § 52 Rz. 16; Binz/Sorg, GmbH & Co. KG, § 9 Rz. 7. 11 Zum Streitstand s. die Nachw. in BGH  v.  19.4.2016  Rz.  31  – II  ZR  123/15, NZG  2016, 826, 827 f. Der BGH hat die Frage offen gelassen, da bei der beteiligungsidentischen GmbH & Co. KG mit für die Anstellung zuständigem KG-Beirat kein weitergehender Schutz der Gesellschafter erforderlich sei. 12 BGH v. 14.11.1983 – II ZR 33/83, BGHZ 89, 48/52 ff.

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kompetenz des Aufsichtsrats13 missachtet und die durch §  76 AktG gebotene Leitungsautonomie des Vorstands14 gefährdet werde. Offenbar sollen diese Argumente auch der Drittanstellung durch die KG bei der AG & Co. KG entgegenstehen.15 Das überzeugt jedoch nicht, und zwar nicht für die mitbestimmte Komplementär-AG und erst recht nicht für die mitbestimmte Komplementär-GmbH. Der Geschäftsführer der GmbH besitzt anders als der Vorstand der AG keine Leitungsautonomie, so dass eine Bezugnahme auf § 76 AktG für die GmbH & Co. KG in jedem Fall fehlgeht, und auch bei der AG & Co. KG lässt sich aus § 76 AktG kein Zustimmungsvorbehalt für den Aufsichtsrat herleiten, da die AG die Geschäfte der KG in deren Interesse und nach den Vorgaben des zuständigen Organs der KG führt.16 Aus der Vergütungskompetenz des Aufsichtsrats lässt sich ebenfalls kein Zustimmungsvorbehalt ableiten. Da die Bezüge nicht von der Komplementärin sondern von der KG zu tragen sind, bedarf es nicht der Einschaltung des Aufsichtsrats der Komplementärgesellschaft zum Schutz des Vermögens der Komplementärin, sondern es kann unbedenklich dem zuständigen Organ der KG überlassen werden, das Vermögen der KG gegen übermäßige Bezüge zu schützen. Zu erwägen ist allenfalls eine Informationspflicht gegenüber dem Aufsichtsrat der Komplementärgesellschaft: Wenn die Höhe und die Gestaltung der Bezüge des Geschäftsführers wesentlich ist für eine ordnungsgemäße Meinungsbildung des Aufsichtsrats über die Bestellung oder Wiederbestellung des Geschäftsführers, kann der Aufsichtsrat verlangen, über die zwischen dem Geschäftsführer und der KG vereinbarten Bezüge informiert zu werden. Was den Rechtsweg für Streitigkeiten aus dem Anstellungsverhältnis betrifft, hat das BAG inzwischen geklärt, dass in jedem Fall die ordentlichen Gerichte und nicht die Arbeitsgerichte zuständig sind, ganz gleich, ob der Anstellungsvertrag mit der GmbH oder der KG abgeschlossen wurde.17 Der Geschäftsführer sei bei der einen wie der anderen Gestaltung nicht als Arbeitnehmer im Sinne von § 5 Abs. 1 Satz 3 ArbGG anzusehen. Offen ist dagegen noch die Frage, ob der Geschäftsführer im Fall der Kündigung des mit der KG geschlossenen Anstellungsvertrags Kündigungsschutz nach dem KSchG in Anspruch nehmen kann. Die Frage ist noch nicht höchstrichterlich entschieden, aber es spricht viel dafür, dass es ebenso wie bei der Frage des Rechtswegs nicht darauf ankommt, ob das Anstellungsverhältnis mit der GmbH oder der KG besteht, sondern der Kündigungsschutz in jedem Fall nach §  14 Abs.  1 Nr.  1 KSchG ausgeschlossen ist.18

13 Spindler in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, § 84 Rz. 76; Seyfarth, Vorstandsrecht, 2016, § 7 Rz. 33, 37; Wiesner in MünchHdb. AG, 4. Aufl. 2015, § 21 Rz. 3, 5; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, Rz. 56; Fonk, NZG 2010, 368, 370. 14 Hüffer/Koch, AktG,  13.  Aufl.  2018, §  84  Rz.  18; Weber in Hölters, AktG,  3.  Aufl.  2017, § 84 Rz. 41. 15 Vgl. Wiesner (Fn. 13) u. Seyfarth (Fn. 13). 16 Hoffmann-Becking in FS Marsch-Barner, 2018, S. 235/241. 17 BAG v. 20.8.2003 – 5 AZB 79/02, NJW 2003, 3290. 18 Binz/Sorg, GmbH & Co. KG, §  9  Rz.  11; Zimmer/Rupp, GmbHR  2006,  572,  574; Kiel in ErfK, 18. Aufl. 2018, § 14 KSchG Rz. 4; Blaum  in Westermann/Wertenbruch, Hdb. Personengesellschaften, Sept. 2017, Rz. I 3213.

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2. Weisungsbindung Wenn sich die Tätigkeit der GmbH, wie es typischerweise der Fall ist, auf die Führung der Geschäfte der KG beschränkt, muss die Geschäftsführung an den inhaltlichen Vorgaben des dafür zuständigen Organs der KG ausgerichtet werden, also entweder der Gesellschafterversammlung der KG oder eines Beirats oder Gesellschafterausschusses der KG, auf den die Kommanditisten ihre entsprechenden Kompetenzen delegiert haben. Da der Geschäftsführer der GmbH die Pflichten der GmbH zu erfüllen hat, besteht im  Ergebnis kein Zweifel, dass er an die Zustimmungsvorbehalte, Richtlinien und Weisungen des betreffenden Organs der KG gebunden ist. Die Frage ist nur, ob es konstruktiv der Vermittlung über zwei Stationen bedarf, nämlich über die Bindung der GmbH an die Beschlüsse des zuständigen Organs der KG und die Bindung des Geschäftsführers an die Weisungen der Gesellschafterversammlung der GmbH, oder ob die Beschlüsse des zuständigen Organs der KG in Fragen der Geschäftsführung für den Geschäftsführer der GmbH unmittelbar verbindlich sind. Letzteres wird im Schrifttum insbesondere von Karsten Schmidt vertreten. Er lehnt zwar in seinem Beitrag zur Festschrift Röhricht einen unmittelbaren „organisationsrechtlichen Durchgriff “ der Kommanditisten noch ab,19 bejaht aber eine „Direktwirkung von Kommanditistenbeschlüssen“ dergestalt, dass die Kommanditisten „der GmbH und damit ihrem Geschäftsführer unmittelbar Weisungen erteilen und ihn auch, bezogen auf seine Verantwortlichkeit gegenüber der Kommanditgesellschaft, mit direkter Wirkung entlasten“ können.20 Das erscheint zwar widersprüchlich, ist aber im Ergebnis vernünftig. Fraglich ist nur, ob es sich bei dem von den Kommanditisten ausgeübten Weisungsrecht um das GmbH-rechtliche Weisungsrecht handelt, das ausnahmsweise nicht von der GmbH-Gesellschafterversammlung, sondern von den Kommanditisten der KG ausgeübt wird. Es leuchtet mehr ein, dass die Kommanditisten (oder der von ihnen eingesetzte Beirat oder Gesellschafterausschuss der KG) durch solche Beschlüsse ihre im Gesellschaftsvertrag der KG begründeten, also personengesellschaftsrechtlichen Einflussrechte direkt gegenüber dem Geschäftsführer der GmbH ausüben. Ob man diese „Direktwirkung“ nach GmbH-Recht oder KG-Recht begründet, kann in der Sache einen erheblichen Unterschied machen. Denn die Rechte zur Einflussnahme auf die Geschäftsführung stehen dem betreffenden Organ der KG mit dem Inhalt zu, wie sie im Gesellschaftsvertrag der KG ausgeformt sind. Der Gesellschaftsvertrag kann ein umfassendes oder ein beschränktes oder auch gar kein Weisungsrecht vorsehen und sich z.B. auf einen Katalog von Zustimmungsvorbehalten beschränken. Nur von den so gestalteten Einflussrechten kann das zuständige KG-Organ Gebrauch machen, nicht dagegen von dem gegenständlich umfassenden Weisungsrecht des GmbH-Rechts.

19 Karsten Schmidt in FS Röhricht, 2005,  S.  511,  531  f.; anders später Karsten Schmidt in FS H.P. Westermann, 2008, S. 1425, 1441 ff. 20 Karsten Schmidt in FS Röhricht S. 511, 532. S. auch Karsten Schmidt, JZ 2008, 425, 432 und Karsten Schmidt in Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2014, § 46 Rz. 119.

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3. Auskunftspflicht gegenüber den Gesellschaftern Im Fall der beteiligungsidentischen GmbH & Co. KG nimmt die Rechtsprechung an, dass die Gesellschafter in ihrer Eigenschaft als Gesellschafter der GmbH ein umfassendes Auskunftsrecht nach der zwingenden Vorschrift des § 51a GmbHG besitzen, und zwar nicht nur über eigene Angelegenheiten der GmbH sondern über die Gesamtheit der von der GmbH besorgten Angelegenheiten der KG.21 In der Einheitsgesellschaft, in der die Gesellschafter ausschließlich Kommanditisten der KG und nicht zugleich Gesellschafter der GmbH sind, besitzen sie dagegen nach herrschender Meinung nicht das umfassende Auskunftsrecht nach § 51a GmbHG, sondern ihr Informationsrecht bestimmt sich nach § 166 HGB und ggf. einer einschränkenden oder erweiternden Regelung im Gesellschaftsvertrag der KG.22 Das für die Ausübung der Stimmrechte aus den GmbH-Anteilen zuständige Organ der KG kann sich im Fall der Einheitsgesellschaft zwar per Weisungsbeschluss alle gewünschten Informationen von der Geschäftsführung der GmbH beschaffen, aber das ist nicht gleichbedeutend mit einem entsprechend weiten individuellen Informationsrecht des einzelnen Gesellschafters. Die Rechtsprechung sollte sich auf eine einheitliche Linie für beide Formen der GmbH & Co. KG verständigen. Es ist ungereimt, die Reichweite des individuellen Informationsrechts der Kommanditisten unterschiedlich zu bestimmen, je nachdem, ob es sich um eine beteiligungsidentische GmbH & Co. KG oder eine Einheitsgesellschaft handelt.23 In beiden Fällen sollte die Reichweite der Informationsrechte der Gesellschafter nach dem für ihre Rechte und Pflichten maßgeblichen Recht bestimmt werden, und das ist in erster Linie der Gesellschaftsvertrag der KG und sekundär das dispositive Recht des HGB, nicht aber das Recht der GmbH. Es leuchtet nicht ein, dass im Fall der beteiligungsidentischen GmbH & Co. KG die formale Zwischenschaltung der GmbH den Gesellschaftern einen Zuwachs an individuellen Rechten bescheren soll; entscheidend muss sein, welche Rechte ihnen nach dem Gesellschaftsvertrag der KG als Kommanditisten zustehen, denn das ist die im Verständnis der Beteiligten dominante Rechtsstellung. 4. Wettbewerbsverbot Dem Geschäftsführer der Komplementär-GmbH ist es untersagt, im Geschäftszweig der KG für eigene Rechnung oder für Rechnung Dritter Wettbewerb zu betreiben. Darüber besteht allseits Einigkeit, und Einigkeit besteht auch insofern, als ein un­ mittelbar eigener Unterlassungsanspruch der KG gegenüber dem Geschäftsführer der Komplementär-GmbH angenommen wird. Wie dies begründet werden kann, darüber besteht allerdings Uneinigkeit. Denkbar ist eine Drittwirkung des im Verhältnis zwischen dem Geschäftsführer und der Komplementär-GmbH aufgrund des Anstel21 BGH v. 11.7.1988 – II ZR 346, 87, WM 1988, 1447;OLG Hamm v. 6.2.1986 – 8 W 52/85, NJW 1986, 1693; w.Nachw. bei Binz/Sorg, GmbH & Co. KG, § 5 Rz. 122. 22 OLG Celle v. 14.3.2017 – 9 W 18/17, ZIP 2017, 1761. 23 Vgl. die Kritik von Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 56 IV 1d) S. 1646 („widerspruchsvoll“) und Otte, Der Konzern 2016, 477, 481 („willkürlich“).

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lungsvertrags oder schon allein aufgrund der Organstellung geltenden Wettbewerbsverbots zugunsten der KG; denkbar ist aber auch umgekehrt eine Drittwirkung des im Verhältnis zwischen der Komplementär-GmbH und der KG bestehenden Wettbewerbsverbots zulasten des Geschäftsführers. Beide Wege werden in der Rechtsprechung und im Schrifttum vertreten, ohne dass sich bisher eine einheitliche Linie für die Behandlung aller in Betracht kommenden gesellschaftsrechtlichen Konstellationen feststellen ließe, nämlich gleichermaßen für die GmbH & Co. KG, die AG & Co. KG, die GmbH & Co. KGaA und die AG & Co. KGaA. Zur GmbH & Co. KG nimmt der BGH an, dass der Anstellungsvertrag, wenn er mit der GmbH abgeschlossen wurde, Schutzwirkung für die KG entfaltet und die KG somit, wenn ihr der Geschäftsführer der GmbH in Verletzung seiner anstellungsvertraglichen Nebenpflichten einen Schaden zufügt, einen unmittelbaren Ersatzanspruch gegen den Geschäftsführer besitzt.24 Aber auch für den umgekehrten Weg, nämlich eine Erstreckung des der GmbH obliegenden Wettbewerbsverbots aus § 112 HGB auf den Geschäftsführer, finden sich Stimmen in Rechtsprechung und Schrifttum.25 Man könnte meinen, im Ergebnis sei es gleichgültig, welchen Weg man wählt, aber bei näherem Hinsehen zeigen sich erhebliche Unterschiede. Besonders deutlich wird dies bei einer AG & Co. KG, weil das Wettbewerbsverbot des AG-Vorstandsmitglieds aus § 88 AktG einen anderen Schutzbereich hat als das auf § 112 HGB gestützte Wettbewerbsverbot. Aber auch bei der GmbH & Co. KG ergeben sich erhebliche Unterschiede, je nachdem, wie man die direkte Bindung des Geschäftsführers gegenüber der KG begründet. Die Unterschiede betreffen, wie an anderer Stelle ausgeführt,26 insbesondere die Befreiungskompetenz und das Eintrittsrecht der verletzten Gesellschaft. Zu einem einheitlichen Schutzkonzept gelangt man nur, wenn man sowohl für die GmbH & Co. KG als auch die AG & Co. KG das Wettbewerbsverbot personengesellschaftsrechtlich, also aus § 112 HGB herleitet. Unmittelbar ist zwar nur die Komplementär-GmbH aus § 112 HGB gebunden, aber bei dem Thema Wettbewerbsverbot spricht viel für eine „Direktwirkung“ der KG-rechtlichen Bindung der Komplementär-GmbH auf die Rechtsstellung des GmbH-Geschäftsführers gegenüber der KG. Wenn es allgemein als notwendig und richtig angesehen wird, dass der Geschäftsführer einem unmittelbaren Wettbewerbsverbot gegenüber der KG unterliegt, ist es nur konsequent, ihn ebenso zu behandeln wie den unmittelbaren Geschäftsführer (i.e. geschäftsführenden Gesellschafter) der KG. 5. Haftung Der BGH bejaht in ständiger Rechtsprechung eine unmittelbare Haftung des GmbH-­ Geschäftsführers gegenüber der KG analog § 43 Abs. 2 GmbHG und begründet dies mit einer Schutzwirkung des zwischen der GmbH und dem Geschäftsführer beste24 BGH  v.  12.11.1979  – II  ZR  174/77,  BGHZ  75,  321; BGH  v.  24.3.1980  – II  ZR  213/77, BGHZ 76, 326, 337 f. 25 OLG Köln v. 10.1.2008 – 18 U 1/07, NZG 2009, 306, 307; w. Nachw. bei Hoffmann-Becking, ZHR 175 (2011), 597, 600 Fn. 8. 26 Hoffmann-Becking, ZHR 175 (2011), 597, 602.

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henden Anstellungsvertrags zugunsten der KG. 27 Inzwischen hat er entschieden, dass auch ohne Anstellungsvertrag schon allein die Organstellung des Geschäftsführers Schutzwirkungen zugunsten der KG entfaltet und eine Haftung des Geschäftsführers gegenüber der KG analog § 43 Abs. 2 GmbHG rechtfertigt.28 Offen war bislang die Frage, wer den Ersatzanspruch der KG gegen den GmbH-Geschäftsführer geltend machen kann. Von einem Fremdgeschäftsführer der GmbH ist nicht zu erwarten, dass er Ansprüche der KG gegen sich selbst geltend macht. Deshalb wird im Schrifttum verbreitet vertreten, dass die Kommanditisten der KG in der Lage sein sollten, den Schadensersatzanspruch der KG im Sinne einer actio pro societate geltend zu machen.29 Der BGH hat diesen Weg in einer Entscheidung von Ende 2017 zurückgewiesen: 30 Das anerkannte Instrument der actio pro socio ermögliche nur die Geltendmachung gegen einen Mitgesellschafter, hier also die GmbH, nicht aber gegen den Geschäftsführer der GmbH, der aus Sicht der KG nicht Mitgesellschafter sondern Dritter sei. Für einen unmittelbaren Durchgriff der Kommanditisten auf den Geschäftsführer bestehe kein Bedürfnis, denn die Kommanditisten seien in der Lage, den Ersatzanspruch der KG gegen die GmbH im Wege der actio pro socio geltend zu machen und aus dem Titel gegen die GmbH in den Ersatzanspruch der GmbH gegen ihren Geschäftsführer zu vollstrecken. Der Weg, auf den der BGH die Kommanditisten verweist, ist nicht nur umständlich, sondern es ist auch widersprüchlich, wenn der BGH materiellrechtlich über die Anwendung von §  43 GmbHG einen unmittelbaren Durchgriff der KG auf den Geschäftsführer bejaht, den Geschäftsführer der GmbH also wie einen Geschäftsführer der KG behandelt, bei der prozessualen Durchsetzung dieses Anspruchs aber einen Durchgriff ablehnt und den Geschäftsführer wie einen außenstehenden Dritten behandelt.31 Darüber hinausgehend fragt sich, ob der unmittelbare Anspruch der KG gegen den Geschäftsführer materiellrechtlich nicht passender nach HGB begründet werden sollte, nämlich analog der Haftung des geschäftsführenden Gesellschafters einer KG bei pflichtwidriger Geschäftsführung. Folgt man diesem Ansatz, ist es nur konsequent, auch prozessual den Weg für die Geltendmachung durch die Kommanditisten im Wege der actio pro socio zu eröffnen. 6. Fazit In der typischen GmbH & Co. KG dominiert das Personengesellschaftsrecht: Die Rechte und Pflichten der Gesellschafter, und dazu gehören insbesondere die Rechte und Pflichten in Bezug auf die Geschäftsführung der Gesellschaft, werden vorrangig im Gesellschaftsvertrag der KG geregelt. Die Zwischenschaltung der GmbH zwischen 27 BGH v. 12.11.1979 – II ZR 174/77, BGHZ 75, 321; BGH v. 25.2.2002 – II ZR 236/00, DB 2002, 1150; im Ansatz auch BGH v. 19.12.2017 – II ZR 255/16, ZIP 2018, 276, 277. 28 BGH v. 18.6.2013 – II ZR 86/11, BGHZ 197, 304. 29 Nachw. in BGH v. 19.12.2017 – II ZR 255/16, ZIP 2018, 276, 277. 30 BGH v. 19.12.2017 – II ZR 255/16, ZIP 2018, 276. 31 Vgl. die treffende Kritik von Karsten Schmidt, JZ 2018, 365; Mock, ZGR 2018, 796, 807 f.; Bochmann, GmbHR 2018, 289 ff., dort auch zum tatsächlichen Hintergrund des entschiedenen Falls.

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die Gesellschafter der KG und den Geschäftsführer der GmbH ist nur formaler Natur und soll nach dem Verständnis der Beteiligten nicht maßgeblich sein für die wechselseitigen Rechte und Pflichten. Dem trägt die Praxis zunehmend insofern Rechnung, als der Anstellungsvertrag des Geschäftsführers nicht mit der GmbH sondern unmittelbar mit der KG abgeschlossen wird. In allen hier angesprochen Aspekten der Rechtsstellung des Geschäftsführers, nämlich seiner Weisungsbindung, seinen Auskunftspflichten, seinem Wettbewerbsverbot und schließlich auch seiner Haftung definiert die herrschende Meinung die Rechtsstellung des Geschäftsführers dagegen trotz der gewollten Dominanz des Personengesellschaftsrechts vorrangig nach dem GmbH-­ Recht. Dabei sollte es nicht bleiben. Notwendig ist ein Wechsel der Perspektive – weg von der GmbH, hin zur KG.

IV. „Handelsgesellschaft auf Einlagen“ Eine Gruppe prominenter Gesellschaftsrechtler, die sich in einem „Arbeitskreis GmbH-Reform“ verbunden hatten,32 schlug im Jahr 1971 vor, durch Ergänzung des HGB die neue Rechtsform einer „Handelsgesellschaft auf Einlagen“ einzuführen.33 Die Handelsgesellschaft auf Einlagen war als Ergänzung der beiden vorhandenen Personengesellschaftsformen OHG und KG konzipiert; eine GmbH & Co. KG ohne natürlichen Vollhafter sollte nach Einführung der Handelsgesellschaft auf Einlagen nicht mehr zulässig sein. Für die neue Gesellschaftsform war vorgesehen, dass sie einen oder mehrere Geschäftsführer hat, die natürliche Personen sein müssen, jedoch nicht Gesellschafter zu sein brauchen. Bestellung und Anstellung des oder der Geschäftsführer sollte durch die Gesellschafterversammlung erfolgen. Die unbeschränkte persönliche Haftung eines Gesellschafters oder Geschäftsführers sollte nicht erforderlich sein. Als Ausgleich für die fehlende persönliche Haftung sah der Vorschlag vor, dass die Gesellschafter neben der persönlichen Kommanditanlage ein im Vertrag festgesetztes Mindestgesellschaftskapital („Garantieeinlage“) als Gesamtschuldner aufbringen müssen. Der Vorschlag wurde zwar von führenden Praktikern des Gesellschaftsrechts unterstützt,34 fand aber beim Gesetzgeber keinen Anklang und galt schon nach kurzer Zeit als gescheitert.35 Wäre der Vorschlag Gesetz geworden, bestände kein Bedarf mehr für die typische Gestaltung der GmbH & Co. KG, und vor allem würden alle vorstehend genannten Fragen zur Rechtsstellung des Geschäftsführers rein personengesellschaftsrechtlich beantwortet: Der Geschäftsführer würde von den Personengesellschaftern bestellt und erhielte einen Anstellungsvertrag mit der Personengesellschaft, er unterläge den Weisungen und Zustimmungsvorbehalten der Gesellschafter, die Informationsrechte der Gesellschafter gegenüber dem Geschäftsführer würden sich 32 Der Arbeitskreis bestand aus Götz Hueck, Marcus Lutter, Hans-Joachim Mertens, Eckard Rehbinder, Peter Ulmer, Herbert Wiedemann und Wolfgang Zöllner. 33 Arbeitskreis GmbH-Reform, Thesen und Vorschläge zur GmbH-Reform Band I, 1971. 34 Barz, NJW 1972, 465; Schilling, DB 1972, 1. 35 Vgl. Schilling in FS Barz, 1974, S. 67; Karsten Schmidt, GmbHR 1984, 272, 274.

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nach § 118 HGB oder den davon abweichenden Regelungen im Gesellschaftsvertrag richten, sein Wettbewerbsverbot ergäbe sich aus § 112 HGB, und die interne Haftung des Geschäftsführers würde sich nach seinem durch die Bestellung und Anstellung bestimmten Rechtsverhältnis zur KG richten. Wenn man dagegen sieht, welche kautelarjuristischen Bemühungen erforderlich sind, um eine typische GmbH & Co. KG rechtssicher zu gestalten, und welche Ungewissheiten insbesondere wegen der hybriden Rechtsstellung des Geschäftsführers zwischen GmbH und KG verbleiben, ist es bedauerlich, dass der Reformvorschlag so rasch ad acta gelegt und der Faden nicht weiter gesponnen wurde, wenn auch vielleicht nicht mit dem Ziel einer Ersetzung der GmbH & Co. KG, wie sie dem Arbeitskreis vorstrebte, aber doch als ein Gestaltungsangebot an die Praxis. Jedenfalls greift die Kritik von Karsten Schmidt an dem Vorschlag des Arbeitskreises zu kurz, wenn er ihm vorhält, er hätte sich darin erschöpft, „das akademisch Unbefriedigende einer gewachsenen Gestaltungspraxis zu beheben“, und der Gesetzgeber habe sich mit Recht „für eine solche Schönheitsreparatur“ nicht hergegeben.36

36 Karsten Schmidt in FS Röhricht, 2005, S. 511, 527.

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Verlässliche und vertrauenswürdige CSR-Berichterstattung Inhaltsübersicht I. Verlässlichkeit der Unternehmens­ informationen

4. Der Aufsichtsrat: der zentrale Verlässlichkeitsgarant

II. Adressaten-bezogene Funktionen der CSR-Berichterstattung 1. Anleger-bezogene Funktionen 2. Gläubiger-bezogene Funktion 3. Abnehmer-bezogene Funktion 4. Umfeld-bezogene Funktionen

IV. Zur Garantiefunktion der DPR/BaFin 1. Die Grundlagen der Prüfstellen-Nachprüfung 2. Gesteigerte Nachprüfungs-Notwendigkeit

I II. Verlässlichkeit der CSR-Berichterstattung 1. Vertrauensbedürftige CSR-Informationen 2. Die Gewährleistungsfunktion der ­Überwachungsstellen 3. Zur Rolle des Abschlussprüfers

V. Drei Folgefragen 1. Zur Prüfungsintensität des Aufsichtsrats/ Prüfungsausschusses 2. Der frei ausgestaltbare Prüfungsauftrag 3. Zur Publikation des sachverständigen Prüfungsergebnisses

I. Verlässlichkeit der Unternehmensinformationen Für das gute Funktionieren der Wirtschaft im Europäischen Binnenmarkt samt der mitgliedstaatlichen ist eine verlässliche Rechnungslegung der Unternehmen ebenso unverzichtbar wie für eine funktionierende Globalwirtschaft. Verlässliche Rechnungslegung und funktionierende Gesamtwirtschaft sind eng miteinander verknüpft.1 Von dieser Erkenntnis hat sich der europäische Gesetzgeber bei der großen Reform der Abschlussprüfung 2014 im Gefolge der Finanzmarktkrise 2008 leiten lassen und durch eine Vielzahl unterschiedlicher Maßnahmen für durchgreifende Verbesserungen im Bereich der Rechnungslegung sorgen wollen: von der Auswahl und Bestellung des Abschlussprüfers über die Kontrolle seiner Unabhängigkeit und der Ordnungsmäßigkeit seiner Prüfungsarbeit durch den Prüfungsausschuss bis hin zur staatlichen Aufsicht über das Abschlussprüferwesen – dies vor allem bei den Unternehmen von öffentlichem Interesse.2 Die Publizitätsadressaten sollen auf die Rechnungslegung und auf die Verlässlichkeit der in ihr enthaltenen finanzwirtschaftlichen Informatio-

1 S. dazu die Begründungskaskade in Erwägungsgründen 1, 5, 30 zur Abschlussprüfungsverordnung vom 16. April 2014, VO Nr. 537/2014, ABl. EU vom 27. Mai 2014, L 158/77. 2 Also den als Nachfrager an den Kapitalmärkten auftretenden Kapitalgesellschaften sowie den Unternehmen der Kredit- und der Versicherungswirtschaft (Artt. 2 Nr. 1/1 Abs. 1 der Bilanzrichtlinie vom 26. Juni 2013, RL 2013/34/EU, i.d.F. der CSR-RL vom 22. Oktober 2014, RL 2014/95/EU).

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nen vertrauen dürfen,3 damit sie als Anleger oder Gläubiger den rechnungslegungspflichtigen Unternehmen Finanzmittel zur Verfügung stellen, langfristige Geschäftsbeziehungen mit ihnen als Zulieferer oder Abnehmer eingehen und pflegen oder sich in die Dienste eines solchen Unternehmens stellen. Den Kranz dieser finanzwirtschaftlichen Informationen hat der europäische Ge­ setzgeber unlängst mit der CSR-Richtlinie nachdrücklich um nichtfinanzielle In­ formationen erweitert.4 Der Konzeption des europäischen folgend hat der deutsche Gesetzgeber das Pflichtenprogramm zu den nichtfinanziellen Informationen ins überkommene Bilanzrecht eingestellt (§§ 289b ff, 315b ff HGB),5 so dass sich für die nichtfinanzielle Rechnungslegung der zu ihr verpflichteten Unternehmen ebenfalls die Frage nach den Publizitätsadressaten, den Funktionen dieser Rechnungslegung sowie nach möglichen Mechanismen stellt, über deren Einsatz die Verlässlichkeit auch der nichtfinanziellen Informationen sichergestellt wird. Namentlich der letzten Frage soll mit den nachfolgenden Notizen nachgegangen werden. Gewidmet sind diese Notizen Ulrich Seibert zu seinem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst im Bundesjustizministerium. Als Referatsleiter hat er bemerkenswert umfangreich, intensiv und andauernd den Kontakt mit den Repräsentanten der Wissenschaft zum beiderseitigen Vorteil gepflegt. Dafür möchte auch ich ihm herzlich in der Hoffnung danken, dass seine Vorliebe für die schönen Künste ihm doch noch ein wenig Zeit lässt, um das Gespräch zum Unternehmensrecht in all´ seinen Facetten fortzuführen.

II. Adressaten-bezogene Funktionen der CSR-Berichterstattung Die unterschiedlichen Funktionen der Rechnungslegung6 bestimmen sich nach ihren Adressaten und danach, zu welchen Zwecken die Adressaten die in die Rechnungslegung eingebetteten Informationen sollen verwenden können. Auf diese Weise sind die Dokumentations-, die Rechenschafts-7 und die Ausschüttungsbemessungsfunktion 3 Zentrales Anliegen der Abschlussprüfungsreform 2014 war es, das Vertrauen der Publizitätsadressaten in die Verlässlichkeit der Rechnungslegung und ihrer Prüfung wieder herzustellen (Erwägungsgründe 1 und 5 der Abschlussprüfungsverordnung, oben Fn. 1). 4 Artt. 19a/29a der Bilanzrichtlinie (oben Fn.  2); dazu Mock in Hachmeister/Kahle/Mock/ Schüppen, Bilanzrecht. Kommentar, 2018, §  289b HGB Rz.  14  ff.; Mock, ZIP 2017, 1195; Lutter/Bayer/J. Schmidt, Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, 6. Aufl. 2018, Ziff. 23.37 ff.; Winkeljohann/Schäfer in BeckBilKomm., 11. Aufl. 2018, § 289b HGB Rz. 1 f. 5 Damit hat sich der deutsche Gesetzgeber dem Vorschlag (Hommelhoff in FS v. Hoyningen-Huene, 2014, S. 144) versagt, die Vorgaben der Richtlinie primär im Aktien- und sonstigen Gesellschaftsrecht umzusetzen (dem Gesetzgeber zustimmend u.a. Fleischer, AG 2017, 509, 522; Schön, ZHR 180 (2018), 279, 283; Roth-Mingram, NZG 2015, 1341, 1342; Spießhofer in VGR (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2016, 2017, S. 61, 70). 6 Hierzu u.a. Baetge/Kirsch/Thiele, Bilanzen, 14.  Aufl. 2017, S.  93  ff.; Brinkmann, Zweck­ adäquanz der Rechnungslegung nach IFRS, 2006, S. 23 ff., 38 f.; Kleindiek in MünchKomm. Bilanzrecht, 3. Aufl. 2013, § 242 HGB Rz. 4 ff. 7 Speziell zur Rechenschaftsfunktion der Rechnungslegung Kleindiek, ZGR 1998, 466, 467; Kühnberger, DStR 2018, 755, 757 f.

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herausgearbeitet worden. Anhand dieser adressaten-orientierten Einzelfunktionen sind nun auch die CSR-Berichterstattung und ihre nichtfinanziellen Informationspakete vom Belang-Konzept (§ 289c Abs. 3 Nr. 1 HGB) bis hin zu den Konzept-Ergebnissen (§ 289c Abs. 3 Nr. 2 HGB) auszumessen. 1. Anleger-bezogene Funktionen Mit Blick auf die Kapitalanleger dienen ebenfalls die nichtfinanziellen Informationen der Rechenschaft: Die Eigenkapitalinvestoren sollen wissen, ob und für welche Belange neben den finanzwirtschaftlichen ihre Finanzbeiträge genutzt werden sollen und genutzt worden sind. Diese Informationen sind für die Anleger in entgegengesetzten Richtungen bedeutsam: Investoren, die ausschließlich an der Steigerung des finanziellen Unternehmenswerts und an möglichst hohen Ausschüttungen interessiert sind, erfahren, dass ihre Erwartungen durch den Aufwand für jene nichtfinanziellen Belange gedämpft werden, deren Umsetzung das Unternehmen auf seine Fahnen geschrieben und deshalb nicht nach § 289c Abs. 4 HGB „abgewählt“8 hat. Ein solches Unternehmen präsentiert sich umgekehrt jenen Kapitalanlegern und Vermögensverwaltern, die bewusst in auch Umwelt-, Sozial- und Governance-bezogene, also in ESG-Aktivitäten9 investieren wollen,10 als attraktives Zielobjekt. Daher fungieren die nichtfinanziellen Informationen in der Rechnungslegung über die Rechenschaft hinaus als Entscheidungsgrundlage für die Kapitalanleger. Um diese Informationen verlässlich darbieten zu können, müssen ihre vielfältigen Grundlagen im Unternehmen hinreichend dokumentiert werden. Mit all’ diesen Funktionen schreibt somit die CSR-Berichterstattung die finanzwirtschaftliche Rechnungslegung in den Bereich des Nichtfinanziellen hinein unverändert fort. Allein die Gewinnermittlungs- und Ausschüttungsbemessungsfunktion sprechen die nichtfinanziellen Informationen bloß indirekt an: Die mit den Belangen und ihrer Umsetzung verbundenen Aufwendungen können kurzfristig geringere, allerdings in der CSR-Berichterstattung nicht näher ausgemessene Gewinne erwarten lassen. 2. Gläubiger-bezogene Funktion Dieser letzte Aspekt hat ebenfalls für die Gesellschaftsgläubiger als Informations­ adressaten Bedeutung. Die korrekte Erfüllung ihrer Zahlungsansprüche hängt zunächst und vor allem davon ab, in welchem Umfang ihre Schuldnerin Erträge erwirt 8 Aber sogar solche Anleger nehmen nichtfinanzielle Informationen (z.B. die Zahl der Arbeitsunfälle) in den Blick, weil auch hieraus auf die Qualität der Unternehmensführung rückgeschlossen werden kann. 9 Environmental, social and governance issues; dazu Parmentier, EuZW 2018, 53, 59 mit Verweis auf den Zwischenbericht der High-Level-Expert Group on Sustainable Finance; s. auch Wieben, WPg 2018, 788. 10 Vermögensverwalter berichten von der ausdrücklichen Vorgabe mancher Treugeber, ausschließlich oder im Schwerpunkt ESG-Aktivitäten zu finanzieren; s. auch Gutsche/Gratwohl/Fauser, IRZ 2015, 455, 456; Gutsche/Gratwohl/Fauser /Schulz, ZfU 2017, 332, 333; Häfner/Kiesel/Wirthmann, ZfU 2017, 299; Siemons, ZGR 2018, 316, 330.

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schaftet und wofür diese die Erträge verwendet. Belange-Aufwendungen11 können sich auf die Fähigkeit des Schuldnerunternehmens auswirken, seinen Verbindlich­ keiten korrekt nachzukommen. Deshalb werden die Gläubiger bereits bei der möglichen Begründung ihrer Forderung, erst recht aber während derer Existenz schon im eigenen Interesse mit Sorgfalt ebenfalls die nichtfinanziellen Informationen des Schuldnerunternehmens daraufhin zu würdigen haben, ob und inwieweit dereinst die Befriedigung ihres Zahlungs- oder sonstigen Leistungsanspruchs (auch wegen unzureichender Unternehmensführung) gefährdet sein könnte. Eine aus der CSR-Berichterstattung ersichtliche allzu großzügige Berücksichtigung von Sozialbelangen etwa könnte Gläubiger zu Reaktionen von der Zinserhöhung über eine Nachbesicherung bis hin zur außerordentlichen Kündigung veranlassen. Für die Zahlungs- und sonstigen Gläubiger haben die nichtfinanziellen Informationen somit letztlich die Funktion von Entscheidungsgrundlagen. 3. Abnehmer-bezogene Funktion Für die Abnehmer des Unternehmens, seien sie Nutzer seines Endprodukts oder Verwender von Vormaterial, fungieren die nichtfinanziellen Informationen in gleicher Weise als Entscheidungsgrundlage. So mag es dem Endnutzer keineswegs gleichgültig sein, unter welchen Bedingungen das Unternehmen, das ihm seine Produkte anbietet, diese in Billiglohnländern hat herstellen lassen: Nicht alle Mütter kaufen ihren Kindern Turnschuhe, die in Kinderarbeit produziert worden sind. Und Vormate­ riallieferanten, die erklärtermaßen (und tatsächlich) Umwelt-, Sozial- und Arbeitnehmerbelange respektieren, konfrontieren ihre Abnehmer nicht mit der Gefahr, mit ihren Produkten wegen schwerwiegender Verstöße gegen solche Belange in der Lieferkette12 medial hochgeputscht in Verruf zu geraten. Das fließt in die Entscheidungsfindung von Abnehmern und Geschäftspartnern des Unternehmens ein. 4. Umfeld-bezogene Funktionen Bleiben die Zivilgesellschaft und das Unternehmens-Umfeld als Adressaten der CSR-Berichterstattung.13 Ihnen schuldet das Unternehmen schwerlich Rechenschaft über seine nichtfinanziellen Leistungen oder gar Fehlleistungen. Ebenso wenig grün11 Also Aufwand, der den in § 289c Abs. 2 HGB aufgelisteten und weiteren Belangen zugutekommen soll; ein weiterer Belang ist nach dem Regulierungsprogramm der EU-Kommission der Klimaschutz (dazu Lanfermann, BB 2018, 1643, 1647). 12 Hierzu Begr. RegE CSR-UG, BT-Drucks. 18/9982, S. 50; Merkt in Baumbach/Hopt, Handelsgesetzbuch, 38. Aufl. 2018, § 289c Rz. 12 f.; Mock in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht. Kommentar, §  289c HGB Rz.  59  ff.; Winkeljohann/Schäfer in BeckBilKomm., 11. Aufl. 2018, § 289c HGB Rz. 48/65 f.; eingehend Rühmkorf, ZGR 2018, 410. 13 Der deutsche Gesetzgeber hat die Sozialbelange aus Art. 19a Abs. 1 Untabs. 1 der Bilanzrichtlinie (Fn. 2), Anregungen aus Erwägungsgrund 7 der CSR-Richtlinie (Fn. 2) aufgreifend, dahin in § 289c Abs. 2 Nr. 3 HGB konkretisiert, sie umfassten beispielsweise Angaben zum Dialog auf kommunaler oder regionaler Ebene oder Maßnahmen des Unternehmens, um den Schutz oder die Entwicklung lokaler Gemeinschaften sicher zu stellen, speziell hierzu u.a. Mock, ZIP 2017, 1195, 1196; Seibt, DB 2016, 2707, 2708 f.

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den Entscheidungen im Unternehmens-Umfeld (etwa in der politischen Gemeinde der Betriebsstätte) oder in der Zivilgesellschaft, in der allgemeinen Öffentlichkeit auf der ESG-Konformität des Unternehmens und seines Verhaltens. Ihnen gegenüber verfolgt das europäische und in seiner Umsetzung auch das deutsche Recht einen anderen zusätzlichen Zweck mit der nichtfinanziellen Berichterstattung: Die zu ihr verpflichteten Unternehmen sollen dahin geleitet, sollen dazu angeregt werden, auch die in §  289c Abs.  2 HGB genannten Umwelt-, Arbeitnehmer-, Sozial- und Menschenrechtsbelange etc. im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten zu verfolgen. Mit Blick auf die Zivilgesellschaft und das Unternehmens-Umfeld ist die CSR-Berichterstattung mithin auf die Anreiz- und Steuerungsfunktion der Rechnungslegung14 hin ausgerichtet. Gesellschaft und Umfeld sollen über die nichtfinanziellen Leistungen (oder Fehlleistungen) des Unternehmens informiert, sollen für diese interessiert werden, um sie zum Gegenstand allgemeiner öffentlicher Erörterung zu machen. Es geht um die ESG-Reputation des Unternehmens,15 deren Gewinn oder Verlust. Vornehmlich auf diesen Wirkmechanismus setzen der europäische und die mitgliedstaatlichen Gesetzgeber, um die von ihnen ausdrücklich benannten (und ggf. weitere, § 289c Abs. 2 HGB: zumindest) Belange via Anregung und Steuerung möglichst weitgehend verfolgen und verwirklichen zu lassen (arg. § 289c Abs. 3 Nr. 2/Abs. 4 HGB).16

III. Verlässlichkeit der CSR-Berichterstattung 1. Vertrauensbedürftige CSR-Informationen Ob sich freilich die Funktionen der CSR-Berichterstattung so, wie in Richtlinie und Gesetz angelegt, effektiv entfalten können, hängt wesentlich mit davon ab, ob die ­Adressaten der nichtfinanziellen Informationen auf diese vertrauen können. Das gilt für die Rechenschafts-, Entscheidungs- und Bemessungsfunktion der CSR-Berichterstattung ebenso wie für ihre Anreiz- und Steuerungsfunktion. Deshalb müssen die nichtfinanziellen Informationen, die das Unternehmen publiziert, nach Umfang und Inhalt zutreffen, müssen jene für die Informationsadressaten verlässlich sein. Allein verlässliche Informationen verdienen Vertrauen. Damit stellt sich die Frage, ob und mit welchen Mitteln das Recht die Verlässlichkeit der CSR-Berichterstattung sicherstellen will. Für die finanzwirtschaftliche Rechnungslegung in der deutschen Ak­ 14 S.  Begr. RegE CSR-UG, BT-Drucks. 18/9982, S.  26: „Durch die neuen Vorgaben für die Berichterstattung kann mittelbar auch das Handeln der Unternehmen beeinflusst und ein Anreiz geschaffen werden, nichtfinanziellen Belangen …. stärkeres Gewicht in der Unternehmensführung beizumessen“; vgl. auch Krajewski, ZGR 2018, 271, 278 f. sowie den Bericht über die empirischen Erhebungen auf diesem Feld von Williams in Gordon/Ringe (eds), Corporate Law and Governance, Oxford, 2018, p. 634, 646 ff. 15 Dazu Eufinger, EuZW 2015, 424; Mock, ZIP 2017, 1195, 1196; Seibt, DB 2016, 2707, 2708 f. Sie kann sich auch in der Attraktivität der Aktien niederschlagen; denn nach dem Eindruck mancher Vermögensberater haben Aktien von Unternehmen mit guten ESG-Werten ein besseres Chancen-/Risiko-Profil. 16 Diesen Trend nimmt die neueste EU-Initiative „Sustainable Finance“ (zu ihr Lanfermann, BB 2018, 1643; s. auch Parmentier, EuZW 2018, 53, 59) auf und verstärkt ihn.

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tiengesellschaft übernehmen diese Aufgabe der Aufsichtsrat mit der Prüfung dieser Rechnungslegung (§ 171 Abs. 1 AktG),17 darin maßgeblich unterstützt durch den Abschlussprüfer, der dem Aufsichtsrat im Prüfungsbericht über das Ergebnis seiner Rechnungslegungsprüfung berichtet (§ 321 HGB), aber zugleich den externen Publizitätsadressaten über den Bestätigungsvermerk (§ 322 HGB).18 Gewährleisten diese Prüfstellen nach dem Gesetzesplan die Verlässlichkeit der nichtfinanziellen Informationen in gleicher Weise wie die der finanzwirtschaftlichen? 2. Die Gewährleistungsfunktion der Überwachungsstellen Schon nach europäischem Recht soll das gesellschaftsinterne Überwachungsorgan, nach unionalem Konzept also der Prüfungsausschuss (Art.  39 der Abschlussprüfungs-Richtlinie), die Verlässlichkeit ebenfalls der CSR-Berichterstattung garantieren. Das folgt aus den Vorgaben der CSR-Richtlinie: zum einen aus der, dass die nichtfinanzielle Rechnungslegung als Teil der Lageberichterstattung konzipiert ist. Diese materiellrechtliche Zuordnung verliert jene selbst dann nicht, wenn das Unternehmen von der Möglichkeit Gebrauch macht, einen gesonderten nichtfinanziellen Bericht außerhalb des Lageberichts zu erstellen.19 Zum anderen und vor allem folgt die Garantiefunktion der Überwachungsstelle, in Deutschland mithin die des Aufsichtsrats, aus der expliziten Prüfvorgabe der CSR-Richtlinie in Artt. 33 Abs. 1/19a Abs. 4 der Bilanzrichtlinie. Diese europarechtlichen Vorgaben hat der deutsche Gesetzgeber getreulich in das überkommene Aktiengesetz eingefügt und umgesetzt: Für Gesellschaften, deren Vorstand den Lagebericht um eine nichtfinanzielle Erklärung nach § 289b Abs. 1 Satz 1 HGB erweitert hat, ergibt sich die Pflicht, die CSR-Berichterstattung zu prüfen, bereits aus dem Prüfungsauftrag des § 171 Abs. 1 Satz 1 AktG, der sich auf den Lagebericht erstreckt und somit in CSR-berichterstattungspflichtigen Unternehmen konsequent auf den Lagebericht in seiner erweiterten Form. Sollte sich der Vorstand dagegen für einen gesonderten nichtfinanziellen Bericht außerhalb des Lageberichts (§ 289b Abs. 3 HGB) entschieden haben, so ist dieser gesonderte Bericht nach der ausdrücklichen (aber eigentlich selbstverständlichen) Anordnung des §  171 Abs.  1 Satz 4 AktG ebenfalls vom Aufsichtsrat zu prüfen. Folgerichtig hat dieser der Hauptversammlung auch über seine Prüfung der CSR-Berichterstattung im Prüfungsbericht nach § 171 Abs. 2 Satz 1 AktG Rechenschaft abzulegen. Mit alledem agiert der Aufsichtsrat nach europäischem und deutschem Gesetzesplan als Garant verlässlicher Informationen auch zum Nichtfinanziellen. 17 Zu Sinn und Zweck der Rechnungslegungs-Prüfung durch den Aufsichtsrat Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 171 Rz. 1; Waclawik in Hölters, AktG, 3. Aufl. 2017, § 171 Rz. 1. 18 Zum Verlässlichkeitsbeitrag des Abschlussprüfers Ebke in MünchKomm. HGB, § 322 HGB Rz. 2 f.; Lehwald, DStR 2000, 259. 19 Zu diesem Darstellungswahlrecht s. auch Mock, ZIP 2017, 1195, 1200; von welchen Erwägungen zu seiner Einführung in Art. 19a Abs. 4 Bilanzrichtlinie (Fn. 2) sich der europäische Gesetzgeber hat leiten lassen, liegt im Dunkeln; zu möglichen Begründungsansätzen Kumm/Woodtli, Der Konzern 2006, 218, 226 f.

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3. Zur Rolle des Abschlussprüfers Anders hingegen der Abschlussprüfer. Ihm hatte bereits die CSR-Richtlinie lediglich  die Prüfung auferlegt, ob die geforderte nichtfinanzielle Rechnungslegung er­ stattet worden ist, nicht jedoch ihre inhaltliche Richtigkeit (Art. 34 Abs. 3 der Bilanzrichtlinie). Wenn auch der europäische Gesetzgeber für diese stark eingegrenzte Prüfungsaufgabe keine plausible Begründung beigebracht hat,20 so lässt sich seine Zurückhaltung dennoch nachvollziehen: Die Belange von der Umwelt bis zur Korruptionsbekämpfung sind sämtlich so weit vom überkommenen Aufgabenfeld der Abschlussprüfer, von der Prüfung der finanzwirtschaftlichen Rechnungslegung entfernt, dass der europäische Gesetzgeber nicht ohne weiteres deren Befähigung unterstellen durfte, ebenfalls die nichtfinanziellen Informationen aus eigenem Sachverstand und aus eigener Erfahrung heraus mit der gebotenen Verantwortlichkeit zu prüfen. Deshalb tat der europäische Gesetzgeber gut daran, zunächst die Resultate aus der tatsächlichen Prüfungspraxis abzuwarten, um daraus später ggf. die gebotenen Schlüsse zu ziehen. Denn die von Gesetzes wegen eingeschränkte Aufgabe des Abschlussprüfers sollte es den CSR-berichterstattungspflichtigen Unternehmen keineswegs verwehren, ihre Rechnungslegung freiwillig auch ihrem Inhalt nach sachverständig überprüfen zu lassen. Für den nach § 171 AktG zur Prüfung der CSR-Berichterstattung aufgerufenen Aufsichtsrat ergab sich die Möglichkeit freiwilliger Zusatzprüfung bereits aus § 111 Abs. 2 AktG: seine sachverständige Unterstützung. Dennoch hat der Rechtsausschuss des Bundestages in § 111 Abs. 2 Satz 4 AktG einen ausdrücklichen Hinweis für angezeigt gehalten: Dem Aufsichtsrat bleibt es unbenommen, die nichtfinanzielle Erklärung innerhalb des Lageberichts oder den gesonderten nichtfinanziellen Bericht auch inhaltlich extern überprüfen zu lassen. Auf diese Weise, so die Ausschussbegründung, solle der Aufsichtsrat in die Lage versetzt werden, seine eigene Pflicht zur Prüfung der nichtfinanziellen Berichterstattung (§  171 AktG) sachgerecht zu erfüllen.21 Bemerkenswert ist diese inhaltliche Zusatzprüfung auf den Abschlussprüfer des Unternehmens zugeschnitten. Das folgt aus dem „darüber hinaus“ in Satz 4 und seinem Rückverweis auf Satz 3 des § 111 Abs. 2 AktG sowie aus der Ausschussbegründung. Aber diese Gesetzesformulierung verwehrt es dem Aufsichtsrat mitnichten, sich durch andere als den Abschlussprüfer sachverständig unterstützen zu lassen, wenn er, der Aufsichtsrat, dies im Interesse effektiver Hilfestellung für angezeigt hält. Diese Freiheit muss dem Überwachungsorgan schon deshalb verbleiben, weil dies mit einer Vielzahl von CSR-Aufsichtsratspflichten jenseits der Abschlussprüfung belegt ist22 und daher die nichtfinanziellen Belange und deren konkrete Rolle und Bedeutung im eigenen 20 Erwägungsgrund 16 der CSR-Richtlinie 2014/95/EU wiederholt lediglich den Text des Art. 34 Abs. 3 der Bilanzrichtlinie 2013/34/EU. 21 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz, BTDrucks. 18/11450, S. 47. 22 Dabei kann im praktischen Ergebnis dahingestellt bleiben, ob es sich um neue Organpflichten handelt (so Hommelhoff, NZG 2017, 1361, 1364 ff.; Hommelhoff, BOARD 2018, 70 f.) oder lediglich um die Ausweitung und Konkretisierung überkommener Pflichten (so Bachmann, ZGR 2018, 231, 261).

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Unternehmen selbst einschätzen kann oder im Verlaufe der Zeit wird einschätzen können.23 Aus § 111 Abs. 2 Satz 4 AktG lässt sich mithin nicht herleiten, dem Aufsichtsrat habe die Freiheit beschnitten werden sollen, sich nach § 111 Abs. 2 AktG durch Nichtabschlussprüfer sachverständig unterstützen zu lassen. Als Verlässlichkeitsgarant ist der Abschlussprüfer demnach erst dann berufen, wenn er mit der inhaltlichen Überprüfung der CSR-Berichterstattung beauftragt wird. Das hat der deutsche Gesetzgeber sinnfällig zum Ausdruck gebracht: Wenn die nichtfinanzielle Erklärung oder der gesonderte nichtfinanzielle Bericht inhaltlich überprüft werden, so muss die Beurteilung des Prüfungsergebnisses öffentlich zugänglich gemacht werden  – und zwar in gleicher Weise wie die Erklärung oder der Bericht (§ 289b Abs. 4 HGB). Mit der Formulierung „Beurteilung des Prüfungsergebnisses“ hat der Rechtsausschuss bewusst die Brücke hinüber zum Bestätigungsvermerk des § 322 HGB geschlagen24 und somit zu dessen Vertrauens-stiftender Wirkung bei den Adressaten der Rechnungslegung. Incidenter hat der deutsche Gesetzgeber demnach über die Veröffentlichungspflicht die inhaltliche Überprüfung der CSR-Berichterstattung mit ihrer Verlässlichkeit verknüpft. 4. Der Aufsichtsrat: der zentrale Verlässlichkeitsgarant Hinsichtlich der Verlässlichkeit der nichtfinanziellen Informationen und hinsichtlich ihrer Vertrauenswürdigkeit fällt im deutschen System der Corporate Governance25 nach allem dem Aufsichtsrat die zentrale Rolle zu. In Umsetzung des europäischen Rechts ist er mit seiner gesetzlich zugewiesenen Aufgabe, auch die CSR-Berichterstattung zu prüfen, nicht bloß ihr einzig zwingend vorgegebener Verlässlichkeitsgarant, sondern darüber hinaus ist er jene Stelle, die darüber entscheidet, ob neben ihr noch ein weiterer Garant für Verlässlichkeit und Vertrauenswürdigkeit der nichtfinanziellen Informationen in Funktion treten soll. Oder anders formuliert: Nach geltendem Recht ist die Verlässlichkeit der CSR-Berichterstattung ganz dem Aufsichtsrat (und in diesem zunächst zumeist dessen Prüfungsausschuss, § 107 Abs. 3 Satz 2 AktG) überantwortet.26 Das erstaunt; hatte doch der europäische Gesetzgeber 2014 nahezu zeitgleich im Rahmen der großen Abschlussprüfungsreform die herausragende Stellung unterstrichen, die speziell dem Abschlussprüfer für die Verlässlichkeit der (finanzwirtschaftlichen) Rechnungslegung und damit letzten Endes für das Funktionieren der Kapitalmärkte und der Gesamtwirtschaft zukommt (oben I).27 Sollte der Unionsgesetzgeber die CSR-Berichterstattung in Wahrheit doch nicht so ernst genommen haben? Das ist 23 Vom Aufbau eigener Kenntnisse für die Prüfung der nichtfinanziellen Berichterstattung geht auch der Rechtsausschuss aus (Beschlussempfehlung zu Art. 1 Nummer 4, BT-Drucks. 18/11450, S. 45. 24 Beschlussempfehlung zu Art. 2 Nummer 1, BT-Drucks. 18/11450, S. 46. 25 Zur spezifisch deutschen Ausprägung der Corporate Governance u.a. Hopt/Leyens, ECFR 2004, 135, 139 ff. 26 So auch Velte, AG 2018, 266. 27 S. die Nachweise in Fn. 1.

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angesichts des Engagements, das namentlich die EU-Kommission dem Parlament nachfolgend in CSR-Fragen entfaltet hat,28 nicht anzunehmen. Die Erklärung für den momentanen Verzicht auf den Abschlussprüfer als gesetzlichen Verlässlichkeitsgaranten der CSR-Berichterstattung wird man vielmehr, wie schon (oben III 3 anfangs) dargelegt, in der Unsicherheit zu finden haben, wie die nichtfinanziellen Informationen ihrem Inhalt nach überprüft werden sollen und ob der Abschlussprüfer der dafür geeignete Sachverständige ist. Mithin mag der momentane Verzicht nur ein vorläufiger sein, wenn auch die jüngsten Äußerungen der EU-Kommission zur rechtspolitischen Fortschreibung der CSR-Berichterstattung29 keine Aktivitäten erkennen lassen, diese sachverständiger Pflichtprüfung zu unterstellen.

IV. Zur Garantiefunktion der DPR/BaFin In der aktuellen Diskussion zu den nichtfinanziellen Informationen führt der momentane Verzicht auf den Abschlussprüfer als gesetzlichen Verlässlichkeitsgaranten zu einer Folgefrage: Hat die Deutsche Prüfstelle Rechnungslegung (DPR) die nichtfinanziellen Erklärungen und gesonderten Berichte der hierzu verpflichteten Unternehmen ihrem Inhalt nach aus besonderem Anlass oder per Stichproben nach § 342b Abs. 2 Satz 3 HGB zu prüfen? Das wird verbreitet mit dem Argument abgelehnt, die DPR habe allein nachzuprüfen, was ein Abschlussprüfer habe prüfen müssen.30 Da dieser jedoch nicht zur Prüfung der CSR-Berichterstattung von Gesetzes wegen verpflichtet sei, käme auch keine DPR-Prüfung in Betracht. Dem ist zu widersprechen: 1. Die Grundlagen der Prüfstellen-Nachprüfung Zwar hat der Gesetzgeber das Aufgabenfeld der DPR (und der BaFin) nicht aus Anlass der CSR-Richtlinientransformation in § 342b Abs. 2 Satz 1 HGB ausdrücklich so erweitert, wie er dies in § 171 Abs. 1 Satz 4 AktG für den gesonderten nichtfinanziellen Bericht getan hat. Das aber verschlägt nichts; denn die Prüfpflicht der DPR folgt schlicht aus der Tatsache, dass die CSR-Berichterstattung integraler Bestandteil des Lageberichts ist31 und diese materielle Qualifizierung auch nicht dadurch verliert, dass die nichtfinanziellen Informationen in einem gesonderten Bericht (§ 289b Abs. 3 HGB) dargeboten werden. Vielmehr zeigen die §§ 289b Abs. 4 HGB/171 Abs. 1 Satz 4 AktG mit ihrer Gleichstellung von Erklärung und Bericht den Willen des Gesetzgebers: Aus der jeweiligen Form der CSR-Berichterstattung sollen keine unterschiedli28 S. die CSR-Mitteilung der Kommission Eine neue EU-Strategie (2011-2014) für die soziale Verantwortung der Unternehmen (CSR), KOM (2011) 681 endg. (25.10.2011); dazu Müller-Michaels/Ringel, AG 2011, 101. 29 S. Fitness check on the EU framework for public reporting by companies, https://ec.europa.eu/ info/law/better-regulation/initiatives/ares-2018-744988.en. 30 So Hennrichs, ZGR 2018, 206, 224; Mock in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht. Kommentar, § 289b HGB Rz. 71/§ 289c HGB Rz. 79; Seibt, DB 2016, 2707, 2715. 31 Weshalb die in den Lagebericht integrierte CSR-Berichterstattung automatisch der Prüfung durch den Aufsichtsrat nach § 171 Abs. 1 Satz 1 AktG unterliegt.

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chen Prüfpflichten hergeleitet werden. Ebensowenig lässt sich aus den Gesetzesmaterialien etwas für die These gewinnen, die CSR-Berichterstattung unterliege nicht der DPR-Nachprüfung. Zwar nennt der Bundestags-Rechtsausschuss im Zusammenhang mit dem Enforcement der §§ 342b HGB, 37n WpHG die Abschlussprüfung, aber bloß hinsichtlich des gleichen Prüfmaßstabes, nicht dagegen hinsichtlich des Gegenstandes der Prüfung.32 Im Gegenteil belegt diese Textstelle: Nach der Vorstellung des Ausschusses unterfällt die CSR-Berichterstattung ebenfalls der Nachprüfung durch DPR und BaFin. Das ist auch richtig so: Ziel des Enforcement ist die gesetzestreue Rechnungslegung, nicht die ordnungsmäßige Abschlussprüfung. Diese wird bloß reflexiv betroffen; deshalb hat der Abschlussprüfer im Enforcement-Verfahren keine eigenständige Rechtsposition. Das steht im Einklang mit dem europäischen Recht. Es zielt auf die Durchsetzung der Rechnungslegungsvorschriften ab.33 2. Gesteigerte Nachprüfungs-Notwendigkeit Gerade bei der CSR-Berichterstattung ist die Mitwirkung von DPR und BaFin unverzichtbar. Ihre Aufgabe ist es, eine gesetzesgetreue Rechnungslegung im konkreten Einzelfall, aber auch insgesamt effektiv durchzusetzen.34 Dies Erfordernis stellt sich bei der finanzwirtschaftlichen Rechnungslegung ebenso wie bei der CSR-Berichterstattung; bei ihr überdies in gesteigertem Maße, da die nichtfinanziellen Erklärungen und Berichte schon wegen der verschiedenen Rahmenwerke, die diesen Informationsinstrumenten zugrunde gelegt werden können (§ 289d HGB), von hoher Individualität geprägt sind und daher manche Unternehmen verleitet sein könnten, diese Freiräume für ein inhaltloses „green washing“ zu nutzen. Diese im Gesetz angelegte Individualität wird die DPR intensiv herausfordern und nur personalaufwendig zu bewältigen sein.35 Das aber liefert keinen Grund, auf eine DPR-/BaFin-Nachprüfung der CSR-Berichterstattung vollständig zu verzichten. Schon ihre drohende Möglichkeit stärkt die Position des prüfungspflichtigen Aufsichtsrats gegenüber dem berichtspflichtigen Vorstand, der in Erwartung einer nicht ausgeschlossenen DPR-Nachprüfung zu gesetzesgetreuer CSR-Berichterstattung motiviert wird. In eben dieser Weise hält die mögliche Nachprüfung zugleich den Aufsichtsrat zu ordnungsgemäßer Prüfung an. Nach allem fungieren somit ebenfalls die DPR und die BaFin im Envorcementsystem als Garanten für die Verlässlichkeit der CSR-Berichterstattung hinter dem Aufsichtsrat zu dessen Verstärkung.

32 Beschlussempfehlung zu Art. 1 Nummer 12, BT-Drucks. 18/11450, S. 46. 33 Dazu näher Hommelhoff/Gundel, BB 2014, 811, 812 f. 34 Begr. RegE BilKoG, BT-Drucks. 15/3421, S. 11 ff.; Grottel in BeckBilKomm., 11. Aufl. 2018, § 342b HGB Rz. 1; Mock in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht. Kommentar, § 342b HGB Rz. 2 f.; s. auch Hommelhoff in Großkomm. HGB, 5. Aufl. 2012, § 342b Rz. 5. 35 Zutreffender Hinweis von Hennrichs, ZGR 2018, 206, 225.

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V. Drei Folgefragen Zum Abschluss noch einige Bemerkungen zu drei Einzelfragen, die mit der Prüfung der CSR-Berichterstattung verbunden sind. 1. Zur Prüfungsintensität des Aufsichtsrats/Prüfungsausschusses Für die Frage, mit welcher Intensität der Aufsichtsrat die nichtfinanziellen Informa­ tionen nach §  171 Abs.  1 Satz 1/4 AktG zu prüfen hat, scheint dessen Position als einzig zwingende Stelle bedeutsam zu sein, die diese Informationen im berichtspflichtigen Unternehmen kontinuierlich kontrolliert (oben III 4). Daraus könnte man den Schluss herleiten wollen, der Aufsichtsrat müsse die CSR-Berichterstattung mit eben der Intensität und nach eben den Maßstäben prüfen, die dem Abschlussprüfer für die Prüfung der finanzwirtschaftlichen Rechnungslegung vorgegeben sind.36 Dem ist jedoch zu widersprechen. Auf den Abschlussprüfer als Garanten einer verlässlichen CSR-Berichterstattung haben der europäische und der deutsche Gesetzgeber vorerst, wie dargelegt, verzichtet. Dieser Verzicht darf und kann nicht auf dem Weg über ein gesteigertes Pflichtenprogramm für die Überwachungsstelle, für den Aufsichtsrat kompensiert werden. Daher haben Prüfungsausschuss und Gesamtaufsichtsrat die nichtinformationellen Informationen innerhalb des Lageberichts oder den gesonderten Bericht (§  289b Abs. 3 HGB) mit eben der Intensität und nach eben jenen Maßstäben zu prüfen, mit denen sie den Lagebericht insgesamt zu prüfen haben. Für die Aufsichtsratsprüfung des Lageberichts mitsamt seinen finanzwirtschaftlichen und nichtfinanziellen Informationen gilt ein einheitlicher Prüfungsmaßstab, nicht mehr, aber auch nicht weniger.37 Deshalb wäre, entgegen einer verbreiteten Ansicht im Schrifttum,38 eine bloße Plausibilitätskontrolle, die sich in aufmerksamer Gegenlese der CSR-Berichterstattung durch die Mitglieder des Prüfungsausschusses erschöpft, gewiss unzureichend.39 Anderes mag für den Gesamtaufsichtsrat gelten, wenn ihm sein Prüfungsausschuss nach Vorprüfung der nichtfinanziellen Informationen einen hinreichend aussagekräftigen Bericht als Grundlage der Plausibilitätskontrolle im Plenum erstattet hat. 2. Der frei ausgestaltbare Prüfungsauftrag Zur CSR-Prüfung können sich Prüfungsausschuss und/oder Gesamtaufsichtsrat sachverständig beraten lassen (§ 111 Abs. 2 Satz 2/4 AktG). Für den Prüfungsauftrag zur Unterstützung gilt uneingeschränkte Privatautonomie: Die Überwachungsstellen 36 So Kirsch/Huter, WPg 2017, 1017, 1021 ff.; Naumann/Siegel, WPg 2017, 1170. 37 Zutreffend Velte, AG 2018, 266, 271; Gundel, WPg 2018, 108, 110 ff. 38 Z.B. Pellens, Audit Committee Quarterly 2017, CSR extra, S. 28, 31; Hennrichs, NZG 2017, 841, 845 ff. 39 Überzeugend präzisierend Hennrichs, ZGR 2018, 206, 223: kritisches Lesen, aktives Fragen, Einbringen der besonderen Erfahrungen und Kenntnisse; s. auch Gundel, WPg 2018, 108, 112.

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sind frei darin, ob sie sich unterstützen lassen wollen, durch wen, zu welchen der CSR-Belange, mit welcher Intensität und wie lange: einmalig oder kontinuierlich. Frei sind sie aber auch darin, ob sie zu bestimmten Belangen den einen Sachverständigen beauftragen wollen und zu anderen Belangen einen anderen. Das wird bei den weit spreizenden Unterschieden zwischen Umweltbelangen einerseits sowie Bekämpfung von Bestechung und Korruption andererseits nicht selten angezeigt sein. Eingeschränkt sind Prüfungsausschuss und Aufsichtsrat schließlich nicht hinsichtlich der Person des Sachverständigen und seiner Qualifikation: Sie brauchen weder einen Wirtschaftsprüfer zu beauftragen, noch gar den Abschlussprüfer ihres Unternehmens. Sollten sie dies doch tun, so sind sie mitnichten gehalten, den Abschlussprüfer mit einer Vollprüfung der CSR-Berichterstattung über ihre ganze Breite zu mandatieren; auch hier können sich die Überwachungsstellen auf Einzelfragen konzentrieren, von denen sie überzeugt sind, sachverständige Unterstützung zu benötigen. Indes – dieser Entscheidungsfreiraum besteht dort nicht, wo der Aufsichtsrat außerstande ist, die nichtfinanziellen Informationen selbst zu überprüfen. Dann muss er sich sachverständig unterstützen lassen, um seiner Verpflichtung zu sorgfältiger Überwachung (§§ 116, 93 AktG) nachkommen zu können.40 3. Zur Publikation des sachverständigen Prüfungsergebnisses Nach § 289b Abs. 4 HGB ist im Fall externer Prüfung die Beurteilung des Prüfungsergebnisses öffentlich zugänglich zu machen. Gilt das für jede sachverständige Un­ terstützung schlechthin oder lediglich dann, wenn der Abschlussprüfer des be­ richtspflichtigen Unternehmens die CSR-Berichterstattung in ihrer vollen Breite unterstützend geprüft hat? Die Frage ist, da diese Publizitätspflicht ohne europarechtliche Vorgabe eingeführt wurde,41 allein auf dem Boden des deutschen Rechts in zwei Stufen zu beantworten  – zuerst zur Person des Sachverständigen und sodann zum Umfang der Unterstützung. Eine Publikation gemäß § 289b Abs. 4 HGB kommt nur dann in Betracht, wenn die Person des zur Unterstützung mandatierten Sachverständigen zur Abschlussprüfung befähigt ist. Das folgt zum einen aus den Verknüpfungen zwischen §  289b Abs.  3 HGB mit § 111 Abs. 2 Satz 4 AktG und mit § 111 Abs. 2 Satz 3 AktG sowie aus Sinn und Zweck dieser besonderen Publizitätspflicht. Zu veröffentlichen ist die Ergebnisbeurteilung einer Prüfung, die Aufsichtsrat (oder Prüfungsausschuss) nach §  111 Abs. 2 Satz 4 AktG beauftragt haben, nicht nach § 111 Abs. 2 Satz 2 AktG. Der Auftragnehmer muss demnach ein besonders ausgewiesener Sachverständiger sein – ein Abschlussprüfer, wie aus dem „darüber hinaus“ in Satz 4 mit seinem Rückverweis auf die Beauftragung des Abschlussprüfers nach Satz 3 folgt. Bloß die Ergebnisbeurteilung eines solch´ besonders ausgewiesenen Sachverständigen wird Sinn und Zweck der Publizitätspflicht nach § 289b Abs. 4 HGB gerecht. Die externe inhaltliche Überprüfung der nichtfinanziellen Informationen könne, so die Begründung zum Regie40 Zutr. Gundel, WPg 2018, 108, 113. 41 Dazu Begr. RegE CSR-UG zu § 289b Abs. 4 HGB, BT-Drucks. 18/9982, S. 46.

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Verlässliche und vertrauenswürdige CSR-Berichterstattung

rungsentwurf des CSR-Umsetzungsgesetzes,42 das Vertrauen (der Berichtsadressaten) in diese Informationen erhöhen; daher müsse das Prüfungsurteil öffentlich zugänglich gemacht werden. Der zusätzlich beauftragte Prüfer wird damit zum Verlässlichkeitsgaranten neben dem Aufsichtsrat. Im System der rechtlich abgesicherten Verlässlichkeit und Vertrauenswürdigkeit kann das aber allein ein Prüfer mit ausgewiesener Expertise sein, der auf der Grundlage eines normierten Handlungsprogramms unter staatlicher Berufsaufsicht tätig wird. Dies ist in aller Regel der bestellte Abschlussprüfer des berichtspflichtigen Unternehmens, kann aber auch ein anderer zur Abschlussprüfung befähigter Prüfer sein. Andere nach § 111 Abs. 2 Satz 2 AktG berufene Sachverständige verdienen einen solchen Ausweis ihrer Vertrauenswürdigkeit im Rahmen der CSR-Berichterstattung nicht.43 Bleibt die Frage, ob nur eine Vollprüfung der nichtfinanziellen Informationen zur Publizitätspflicht nach § 289b Abs. 4 HGB führt oder auch schon die Prüfung einzelner Bestandteile der CSR-Berichterstattung durch den zur Abschlussprüfung Befähigten. Letzteres ist anzunehmen. Denn die Verlässlichkeit oder Vertrauenswürdigkeit einer nichtfinanziellen Information hängt nicht davon ab, ob neben ihr noch weitere Informationen geprüft worden sind. Allerdings muss die nur begrenzte Prüfung klar und eindeutig für die Informationsadressaten im Zusammenhang mit der gesamten CSR-Berichterstattung erkennbar sein. Dementsprechend hat der Prüfer die Beurteilung seines Prüfungsergebnisses auszuformulieren.

42 Begr. RegE, BT-Drucks. 18/9982, S. 46. 43 A.A. Begr. RegE CSR-UG, BT-Drucks. 18/9982, S.  46; Winkeljohann/Schäfer in BeckBilKomm., 11.  Aufl. 2018, §  289b HGB Rz.  60; so wohl auch Mock in Hachmeister/Kahle/ Mock/Schüppen, Bilanzrecht. Kommentar, § 289b HGB Rz. 63.

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Walter Homolka

Der allmächtige Gott und das Böse

Gerade an den Hohen Feiertagen tritt mir das Bild, das unsere Tradition von Gott zeichnet, in ganz besonderer Weise ins Bewusstsein. So zum Beispiel an Rosch Haschana, dem Neujahrstag, an dem ein allliebender und allmächtiger Gott unsere Sünden richtet. Doch wenn ein solcher Gott die Menschen nach seinem Bilde schuf, wie können diese Menschen dann Böses tun? Warum lässt Gott das zu? Ist Gott wirklich allliebend und allmächtig? Wenn ja, wie kann er das Böse zulassen, das wir in der Schoa gesehen haben? Was ist das überhaupt für ein Gott? Nach Auschwitz sollten wir alle uns fragen: Wie kann ein allliebender und allmächtiger Gott das Böse zulassen? Ich komme, wenn ich in den westlichen Randbezirken Berlins mit ihren vielen Alleen spazieren gehe, oft an der Villa am Großen Wannsee 56-58 vorbei. Dort berief SS-­ Obergruppenführer Reinhard Heydrich am 20. Januar 1942 eine Konferenz ein, auf der er die ‚Endlösung’ vorstellte – den Plan, die Juden aus ganz Europa zusammenzutreiben und in Vernichtungslager im Generalgouvernement (dem besetzten Teil Polens) zu schicken, wo sie umgebracht werden sollten. Die Konferenz wurde abgehalten, um sich die Unterstützung der Leiter der verschiedenen Behörden zu sichern, die für die Umsetzung des Plans zuständig sein sollten: des Ministers des Auswärtigen Amtes, des Justizministers, des Innenministers und der Leiter einiger weiterer Ministerien. Auch Vertreter der Schutzstaffel (SS) nahmen teil. Die Unterlagen über dieses Treffen, die erhalten blieben, sind eine Lektüre des Schreckens. Hier wird Massenmord reduziert auf verwaltungstechnische Effizienz und behördliche Zusammenarbeit. Der Leser des Protokolls wird mit einem alles Begreifen übersteigenden Bösen konfrontiert – das als rein organisatorisches Problem dargestellt wird. Die teilnehmenden Beamten, die sich mit den Verwaltungsdetails befassten, erhoben an keiner Stelle persönliche moralische Einwände und ließen nicht das geringste Zögern angesichts dessen, was von ihnen verlangt wurde, erkennen. Wie kann Gottes Güte und Allmacht angesichts der Existenz eines solchen abgrundtief Bösen gerechtfertigt werden? Der jüdische Philosoph Hans Jonas hat in seiner im Jahr 1984 gehaltenen Vorlesung mit dem Titel „Der Gottesbegriff nach Auschwitz“ die These von einem Gott aufgestellt, der mitleidet und sich sorgt, jedoch nicht allmächtig ist.1 Ich muss gestehen, dass mich diese Lösung nicht so recht zufriedenstellt. Für mich gleicht ein Gott, der 1 Hans Jonas, „The Concept of God after Auschwitz: A Jewish Voice”, The Journal of Religion, 67:1, Januar 1987, 1-13.

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mit den Menschen leidet, ihren Schmerz und ihr Schicksal jedoch nicht lindern will oder kann, einer Großvaterfigur, bei der wir uns allenfalls Trost holen, der uns jedoch nicht helfen kann. Ist dieser Gott, der an eine tragische Gestalt wie König Lear erinnert, der Gott, den wir in unserer Liturgie verkündigen? Nein, auf gar keinen Fall. Die Christen begegnen dem Leiden mit der Vorstellung eines leidenden Gottes. Nach der trinitarischen Lehre ist Jesus der deus revelatus, der offenbarte Gott. Ihm steht der deus absconditus, der verborgene, nicht offenbarte Aspekt des Göttlichen, gegenüber. Gott der Vater fühlt mit dem göttlichen Sohn: „Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben“ (Joh. 3,16). Auf diese Weise wird das Leiden der Weg zur Erlösung. Gott hat freiwillig auf seine Macht verzichtet, das Leiden aufzuheben, und hat stattdessen seinen eigenen, leidenden Sohn gesandt, der das Leiden als den Weg ins ewige Leben offenbart hat. Aus jüdischer Sicht ist die Vorstellung eines allgütigen, nicht aber allmächtigen Gottes schwieriger. Aus diesem Grund möchte ich einen alternativen Gedankengang vorstellen, der sich auf die Schöpfungslehre stützt und als „Verteidigung des freien Willens“ bezeichnet wird. Ein zentrales Element jüdischer Theologie ist die Lehre, dass Gott die Menschen nach seinem Bild erschaffen hat. Daraus folgt, dass wir einen freien Willen haben und zwischen Gut und Böse wählen können. In diesem Punkt war das Judentum im Laufe der gesamten Geschichte stets völlig eindeutig: Das Gute in uns ist eine Folge der Tatsache, dass wir nach dem Bild Gottes geschaffen sind (s. Gen. 1,27 und 5,1). Einer der bedeutendsten Rabbis, Rabbi Akiwa, schreibt: „Die Menschen sind geliebt, weil sie nach dem Bild Gottes erschaffen sind. Dass sie nach dem Bild Gottes erschaffen sind, offenbart eine besondere Liebe – wie es heißt: ‚Denn Gott hat die Menschen nach dem göttlichen Bild erschaffen‘“.2 Und was ist mit dem Bösen? Woher kommt das Böse? Zur Beantwortung dieser Frage werfen wir zunächst einen Blick auf die Anfänge der jüdischen Literatur. Ben Sirach (2. Jahrhundert v.u.Z.) war ein Landedelmann, dessen Buch mit Spruchweisheiten nie Eingang in die jüdische Bibel gefunden hat, der den Rabbinen aber dennoch bestens bekannt war und als authentische Quelle jüdischer Weisheit akzeptiert wurde. Sein Buch ist in mehreren antiken Sprachen überliefert, darunter auch in Hebräisch, wobei es sich allerdings um eine Übersetzung handelt. Nach Ben Sirach hat Gott die Menschen „nach seinem eigenen Bild“ geschaffen. Er gab ihnen Verstand und Einsicht und hat ihnen den Unterschied zwischen Gut und Böse gezeigt. Nachdem er den Menschen geschaffen hatte, ließ er ihm die Entscheidung, zwischen beiden zu wählen.3 Folglich tragen die Menschen für Ben Sirach selbst die Verantwortung für ihr Handeln, doch in diesem Fall verlangt der „böse“ Gegenspieler des „guten“ Triebs nach 2 Pirke Awot 3,14. 3 Ben Sirach 17, 3. 6-7; 15:14.

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Der allmächtige Gott und das Böse

einer Erklärung. Das rabbinische Judentum hat diese Erklärung kurz und knapp geliefert: Wie Gott den guten Trieb (Jezer hatow) geschaffen hat, so hat er auch den bösen Trieb (Jezer hara) geschaffen: damit die Menschen die Möglichkeit – und zugleich die Verantwortung – haben, zwischen beiden zu wählen. Das Substantiv Jezer stammt von dem Verb jazar, „bilden“, und bezeichnet so etwas wie „einen grundlegenden Aspekt der menschlichen Natur“ oder „eine grundlegende menschliche Disposition“. Damit stellt sich natürlich die Frage, wie ein guter Gott einen bösen Trieb erschaffen kann. Die überraschende Antwort lautet, dass der böse Trieb zumindest zu einem großen Teil und seiner Bezeichnung zum Trotz nicht grundlegend böse ist.4 Nach Ben Sirach hat Gott dem Menschen die Entscheidung gelassen. In der griechischen Übersetzung von Ben Sirach lautet das Wort für „Wahl“ diabole, lateinisch diabolus – damit sind wir bei dem Wort „diabolisch“, „teuflisch“, und bei der christlichen Erklärung des Bösen als „Teufelswerk“. Doch so muss Ben Sirach es nicht zwangsläufig gemeint haben. Die hebräische Übersetzung verwendet für „Entscheidung“ das Wort „Jezer“ – wie es auch die Rabbinen tun. Wenn nun alle Werke Gottes gut sind, kann sogar der Jezer hara nicht ausschließlich und per se böse sein – eine Tatsache, an der der Midrasch im Kommentar zur Erschaffung des Menschen denn auch keinen Zweifel lässt. Laut der Bibel war der Schöpfungsakt „sehr gut“ (Gen 1,31). Die Rabbinen verstehen das pleonastische (d. h. rein logisch eigentlich überflüssige) Wörtchen „und“ in Bezug auf die beiden menschlichen Triebe (gut und böse) als Hinweis darauf, dass das Urteil „sehr gut“ sich auf beide bezieht. Dazu wird erklärt: „Kann also der böse Trieb sehr gut sein? Das wäre erstaunlich! Doch wenn es den bösen Trieb nicht gäbe, könnte kein Mensch ein Haus bauen, eine Frau nehmen und Kinder zeugen; deshalb hat Salomo gesagt: „Ich sah alles Mühen an und alles geschickte Tun. Da ist nur Neid des einen auf den andern“ (Pred 4,4).5 Dieser durchaus erhellende Text macht deutlich, dass der Jezer hara ein Sammelbegriff für alles Tun mit dem Ziel der Selbsterhaltung oder des Vergnügens und der Macht ist, aber auch für den Wunsch nach Besitz, sozialem Ansehen und so weiter. Diese Impulse sind nicht an sich böse. Im Gegenteil, sie sind gut insofern, als sie biologisch nützlich sind. Doch sie sind extrem mächtig und wenn sie nicht durch ein lebendiges Gewissen kontrolliert werden, können sie uns rasch dazu verleiten, die Gerechtigkeit aus dem Auge zu verlieren und die Bedürfnisse anderer zu missachten oder den Mitmenschen sogar Schaden zuzufügen. In dieser Hinsicht – weil er uns so häufig verleitet, Unrecht zu tun – kann der Jezer hara tatsächlich als böse verstanden werden. Doch das muss er nicht zwangsläufig sein: Die psychische Energie, für die er steht, kann auch zum Guten genutzt werden. Deshalb schließt Ben Sirach: „Er hat niemandem geboten, gottlos zu sein, und keinem erlaubt zu sündigen.“ 6

4 Ben Sirach 15,11-20. 5 Ber.Rab. 9:7. 6 Ben Sirach 15:20.

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Der Mensch kann den Jezer hara beherrschen. „Wer ist mächtig?“, fragt Ben Soma in der Mischna. „Der, der seinen Jezer (bösen Trieb) beherrscht“.7 Die Schwierigkeit liegt freilich – einfach gesagt – darin, wie man den guten Trieb pflegt und stärkt, damit er die nötige Kontrolle ausüben kann. Hans Jonas hat die Möglichkeit solchen menschlichen Bemühens mit der kabbalistischen Vorstellung des Zimzum erklärt, dem Akt der Selbstbeschränkung, in dem Gott die göttliche Gegenwart zurücknahm, um Raum für die Existenz der Welt zu schaffen. Im „Verzicht auf seine eigene Unverletzlichkeit“ hat Gott die Existenz der Welt zugelassen. Nach diesem Akt der völligen Selbstentäußerung und Selbsthingabe hat Gott der Welt nun nichts weiter zu geben. Jonas schreibt: „Jetzt ist es am Menschen, ihm (i.e. Gott) zu geben.“8 Ein anderer jüdischer Philosoph, Emmanuel Levinas, der in der Zeit des National­ sozialismus selbst in deutscher Kriegsgefangenschaft war, bezeichnete die Theodizee überhaupt als blasphemisch, weil jede Theorie, die das Böse erklärt oder rechtfertigt, zwangsläufig zum „Ursprung aller Amoral“ wird. Statt Gott angesichts des Bösen zu rechtfertigen, schreibt er, sollten wir selbst ein gottesfürchtiges Leben führen; statt fruchtlos darüber zu spekulieren, ob Gott im Holocaust gegenwärtig war oder nicht, müssen wir eine Welt aufbauen, in der das Gute überwiegt. Im September 2008 schreckte der Nobelpreisgewinner Elie Wiesel seine Zuhörer bei einem Empfang des Holocaust Educational Trust mit der Aussage auf: „Ich war dabei, als Gott im Konzentrationslager vor Gericht gestellt wurde.“ Als die Rabbiner Jona­ than Romain und Dan Cohn-Sherbock diese Aussage in Zweifel zogen, antwortete Wiesel: „Woher sollten sie wissen, was geschehen ist? Ich war dabei, nicht sie. Es war in einer Nacht in Auschwitz. Wir waren nur zu dritt. Am Ende der Gerichtsverhandlung gebrauchten sie das Wort chajew – und nicht das Wort „schuldig“. Chajew bedeutet: ‚Er schuldet uns etwas.’ Dann gingen wir beten“. Wir Juden sind bekannt dafür, dass wir immer wieder mit Gott streiten. Es ist ein Teil des Bundes, dass Gott uns etwas schuldet. Aber auch wir sind Gott etwas schuldig. Deshalb wenden wir uns, nachdem wir uns mit der göttlichen Majestät angelegt haben, pflichtschuldig dem Gebet zu, als dem Opfer unseres Herzens. Danach gehen wir wieder an die Arbeit, eine bessere Welt zu schaffen.

7 Pirke Awot 4, 1-2. 8 Jonas, The Concept of God, 12.

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Der neue UK Corporate Governance Code 2018 – mit Denkanstößen für die Reform des Deutschen Corporate Governance Kodex Inhaltsübersicht I. The UK Corporate Governance Code 2018 und sein Umfeld 1. Vom Cadbury Code zum UK Corporate Governance Code 2. Die Reformen des neuen UK Corporate Governance Code vom 16.7.2018 a) Vorarbeiten b) Struktur, Grundsätze und Vorschriften c) Inhalt: Fünf Bereiche d) Durchsetzung mittels comply or ­explain 3. Die vorgeschlagenen Corporate ­Governance-Grundsätze für große ­private ­Gesellschaften (Wates Principles) 4. Zu den für den 1.1.2019 geplanten gesellschaftsrechtlichen Vorschriften und den Reformen des Takeover Code vom 8.1.2018 5. Internationale Ausstrahlung und Brexit

b) Deutsche und internationale Kodex-­ Erfahrungen 2. Aufteilung der Verantwortlichkeiten a) Kernpunkte im UK Code b) Deutsche und internationale Kodex-­ Erfahrungen 3. Zusammensetzung des board, Nachfolge und Evaluierung a) Kernpunkte im UK Code b) Deutsche und internationale Kodex-­ Erfahrungen 4. Prüfung, Risiko und Interne Kontrolle a) Kernpunkte im UK Code b) Deutsche und internationale Kodex-­ Erfahrungen 5. Vergütung a) Kernpunkte im UK Code b) Deutsche und internationale Kodex-­ Erfahrungen

II. Die fünf Bereiche des UK Corporate ­Governance Code 2018 im Lichte der deutschen und internationalen ­Corporate Governance Code-Bewegung 1. Führung durch den board und Ziel der Gesellschaft a) Kernpunkte im UK Code 2018

III. Denkanstöße für die Diskussion über die Reform des Deutschen Corporate Governance Kodex 1. Adressatenkreis, Struktur, Allgemeines 2. Inhalt 3. Durchsetzung

* Der Beitrag ist Ulrich Seibert zum 65. Geburtstag gewidmet, dem langjährigen Gesprächspartner, dem ich in mancherlei Hinsicht verbunden bin. Dem Beitrag ist eine Kolumne zum UK Corporate Governance Code vorangegangen: „Vorbild für den Kodex“, Handelsblatt, 31.7.2018, Nr. 145, S. 13. Der von der Redaktion geänderte Titel lautet richtig: „Denkanstöße für den Kodex“. Für Hinweise danke ich Herrn Nonnenmacher und Frau Weber-Rey sowie den Herren Leyens, Strenger und v. Werder. Der Entwurf des neuen DCGK lag mir bei Abfassung des Beitrags noch nicht vor.

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I. The UK Corporate Governance Code 2018 und sein Umfeld 1. Vom Cadbury Code zum UK Corporate Governance Code Alle modernen Corporate Governance Codes gehen auf die Cadbury Commission aus dem Jahre 1992 zurück, in dem Corporate Governance klassisch als „the system by which companies are directed and controlled“ definiert ist.1 Der Combined Code on Corporate Governance stammt von dem Cadbury Committee und ist später unter der Ägide des (non-governmental) Financial Reporting Council (FRC) mit neuem Namen als „The UK Corporate Governance Code” im Juni 2010 publiziert worden.2 Eine neue Fassung wurde vom Financial Reporting Council im April 2016 veröffentlicht.3 2. Die Reformen des neuen UK Corporate Governance Code vom 16.7.2018 a) Vorarbeiten Auf der Basis eines Grünbuchs vom 29.11.20164 und in der Antwort auf die Stellungnahmen dazu vom 29.8.2017 (sogenanntes Response Document)5 stellte die Regierung des Vereinigten Königreichs 12 Reformen zur Corporate Governance in Aus1 Cadbury, Report of the Committee on the Financial Aspects of Corporate Governance, London, December 1992. Die US-amerikanischen Corporate Governance Principles sind zwei Jahre jünger: American Law Institute, Principles of Corporate Governance, Philadelphia 1994.  Zur Entwicklung und zum internationalen Stand um 2010 Hopt, Vergleichende ­Corporate Governance, ZHR 175 (2011), 444; Hopt, Comparative Corporate Governance: The State of the Art and International Regulation, The American Journal of Comparative Law LIX (2011) 1. Die Studie der Autorité des Marchés Financiers AMF, Comparative study: corporate governance codes in 10 European countries, 30.3.2016, vgl. dort p. 12, ist hinsichtlich der verglichenen Corporate Governance Codes leider nicht auf dem Laufenden. Aktueller, aber mit nur fünf Ländern und nur unter dem Blickwinkel der Reform des belgischen Code Allen & Overy, Corporate Governance, Comparative Study, 13.7.2017.  Zahlreiche ­Corporate Governance Codes, allerdings nicht immer aktuell, finden sich auf der homepage des European Corporate Governance Institute (ECGI). 2 Nachweise bei Hopt, ZHR 175 (2011), 444, 455.  Zur Vorgeschichte des Combined Code Cadbury, Corporate Governance and Chairmanship: a Personal View, Oxford 2002. Erläuterungen zu dem Combined Code Financial Reporting Council, Guidance on Board Effectiveness, March 2011.  3 Financial Reporting Council, The UK Corporate Governance Code, April 2016. 4 The UK Government, Department for Business, Energy & Industrial Strategy, Corporate governance reform, Green Paper, November 2016. In dem Fragenkatalog geht es vor allem um drei Bereiche: Vergütung, Stärkung der Stimme der Arbeitnehmerschaft (employee), Kunden und weiterer stakeholder und Corporate governance in großen, privaten Unternehmen, ebenda p. 13 et seq. Ganz im Vordergrund stehen Vergütungsfragen. Das Grünbuch geht weit über das hinaus, was im UK Corporate Governance Code geregelt wird, und ist Basis für eine Gesellschaftsrechtsreform, dazu unten I 4. Ausführliche statistische Daten finden sich in Appendix C, p. 55 et seq. 5 Corporate Governance Reform – The Government response to the green paper consultation, August 2017.

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Der neue UK Corporate Governance Code 2018

sicht und beauftragte den Financial Reporting Council, seinerseits eine öffentliche Befragung über seine Vorschläge zur Reform der UK Corporate Governance Code durchzuführen, die dann am 5.12.2017 begonnen wurde.6 Die finale Fassung des UK Corporate Governance Code samt zugehörigen Dokumenten datiert vom 16.7.2018.7 Der UK Corporate Governance Code gilt für die Bilanzperioden ab oder nach dem 1.1.2019.8 Zu beachten ist dabei, dass der UK Corporate Governance Code nur einen Teil des UK Corporate Governance-Systems darstellt, dazu gehören auch eine Reihe bindender Gesetze9 und Verordnungen sowie nicht bindende Empfehlungen und Guidance10 mit jeweiligen Unterschieden je nach Gesellschaftstyp. b) Struktur, Grundsätze und Vorschriften Der UK Corporate Governance Code 2018 ist in Struktur und Benennungen völlig neu.11 Die Leitidee war: „shorter and sharper“.12 Der neue UK Code hat statt 32 wie der UK Code 2016 nur 15 Seiten. Eine wichtige Neuerung ist, dass die Dreifachgliederung des UK Code 2016 in Main principles, Supporting Principles and Provisions vereinfacht worden ist. Nunmehr gibt es nur noch (high-level) Principles und ausführlichere Provisions. Auch die Zahl der Principles ist auf 18 (A-R) und der Provisions auf 41 (alle durchgezählt) reduziert worden. Nicht allen Principles (im Folgenden: Grundsätze) entspricht eine direkt zugeordnete Provision (im Folgenden: Vorschriften13).

6 Financial Reporting Council, Proposed Revisions to the UK Corporate Governance Code, December 2017, mit drei Anhängen: Appendix A  – Revised UK Corporate Governance Code; Appendix B – Revised Guidance on Board Effectiveness; Appendix C – Summary of Changes from 2016 UK Corporate Governance Code. Die Guidance in Appendix B soll nur Hilfe bei der Anwendung des UK Code bieten, ohne etwas vorzuschreiben, und dem Board Denkanstöße bieten, ebenda No. 1 und 2. 7 Financial Reporting Council, The UK Corporate Governance Code, July 2018, und drei weitere Dokumente: Guidance on Board Effectiveness, July 2018; Feedback Statement, Consulting on a revised UK Corporate Governance Code, July 2018; Feedback Statement, Annex – Code changes since the December 2017 Consultation, July 2018; Revised UK Corporate Governance Code 2018 highlights, und Beischreiben: A UK Corporate Governance Code that is fit for the future. Die Guidance soll nur Hilfe bei der Anwendung des UK Code bieten, ohne etwas vorzuschreiben, und dem Board Denkanstöße bieten, ebenda No. 1 und 2. Das Handbuch des Financial Reporting Council wird derzeit überarbeitet. Auch kurze Einführung in podcast:  https://frc.org.uk/news/july-2018/podcast-in-conversation-with-­ david-styles-ca. 8 UK Code 2018, Introduction, p. 3 Application. 9 Insbesondere der UK Companies Act 2006, der teils für alle UK Gesellschaften gilt, teils nur für bestimmte Gesellschaftstypen wie börsennotierte Gesellschaften. 10 Financial Reporting Council, Guidance 2018 (Fn. 7). 11 Ein Appendix (Fn. 7) stellt die Änderungen des UK Code 2018 gegenüber dem Vorschlag von 2017 (Fn. 6) zusammen. 12 Feedback Statement Consulting 2018 (Fn. 7) p. 2. 13 Im Folgenden als Vorschriften bezeichnet, obwohl keine Gesetzesvorschriften, sondern nicht bindend.

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c) Inhalt: Fünf Bereiche Der UK Corporate Governance Code 2016 nannte fünf main principles: A. Leader­ ship, B. Effectiveness, C. Accountability, D. Remuneration und E. Relations with shareholders. Der UK Code 2018 ist in die folgenden fünf Bereiche gegliedert: 1. Board leadership and company purpose, 2. Division of responsibilities, 3. Composition, succession and evaluation, 4. Audit, risk and internal control und 5. Remuneration. Diese werden unter II näher erörtert, wobei eine Auswahl unter der deutschen Corporate Governance-Perspektive getroffen werden wird. Leitthemata sind Vertrauen, Transparenz und Integrität im Wirtschaftsleben zum Nutzen der Gesellschaft (society) insgesamt.14 Flexibilität ist ein besonderes Anliegen des Financial Reporting Council.15 d) Durchsetzung mittels comply or explain Die Durchsetzung des UK Corporate Governance Code durch das comply or explain-­ Erfordernis beruht bisher nicht auf Gesetz, sondern auf den Börsenzulassungsbedingungen für den Premium-Standard,16 soll aber künftig gesetzlich verankert werden.17 Zu berichten ist, wie die Vorschriften im Lichte der Grundsätze angewendet worden sind. Dabei kommt es auf die Qualität der Erklärung an. Der besondere Hinweis da­ rauf, dass es auf die Befolgung der Grundsätze ankommt, liegt an der auch in England teilweise eingerissenen Befolgung nur des Wortlauts und des bloßen Abhakens (boiler­ plate reporting, box ticking).18 Bei Muttergesellschaften mit einem premium listing soll der board eine angemessene Zusammenarbeit in der Gruppe sicherstellen, damit er den Governance-Verpflichtungen unter dem UK Code effektiv nachkommen kann.19 Auch die Anleger selbst und ihre Berater sind gefragt und sollen dabei mitwirken.20 3. Die vorgeschlagenen Corporate Governance-Grundsätze für große private Gesellschaften (Wates Principles) Der UK Corporate Governance Code erfasst nur UK Gesellschaften mit einem premium listing,21 einerlei ob sie im Vereinigten Königreich oder anderswo gegründet sind.22 14 So der Chairman des Financial Reporting Council Sir Win Bischoff, Beischreiben (Fn. 7). Das Feedback Statement Consulting 2018 (Fn. 7) 2.1 beklagt „declining trust in big business”. 15 Podcast (Fn. 7). 16 Listing Rule 9.8.6 (5); Financial Reporting Council, Proposed Revisions (Fn. 6) Nos. 15 and 16. 17 Unten I 4. 18 UK Code 2018, Introduction p. 2; Feedback Statement Consulting 2018 (Fn. 7) p. 2. 19 UK Code 2018, Introduction p. 2. Dieser praktisch besonders wichtige Passus ist gegenüber dem Vorschlag vom Dezember 2017 neu. 20 UK Code 2018, p. 2; Feedback Statement Consulting 2018 (Fn. 7) p. 2. 21 Auffällig ist die Streichung des Passus im Dezember-Vorschlag: „Other listed or unlisted companies may wish to adopt it in whole or in part.“ 22 UK Code 2018, Introduction p. 3. In einem eigenen Passus ebenda sind wegen eventueller Besonderheiten extern gemanagte Investmentgesellschaften angesprochen. Vgl. auch UK

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Der neue UK Corporate Governance Code 2018

Angestoßen durch das Grünbuch der Regierung vom November 201623 und das Response Document24 soll ein eigener Kodex für große private Gesellschaften mit neuen Berichtspflichten geschaffen werden. Das entspricht der wachsenden Be­deutung dieser Gesellschaften und verschiedenen großen Zusammenbrüchen unter diesen. Wenn dieser Kodex kommt, sind erhebliche Folgen für viele große private Gesellschaften im Vereinigten Königreich einschließlich der Tochtergesellschaften von multinationalen Konzernen sowie von Portfoliogesellschaften von privaten equity funds zu erwarten. Der Financial Reporting Council hat dazu am 13.6.2018 eine öffentliche Befragung zu den neuen Corporate Governance-Grundsätzen eröffnet (sogenannte Wates Principles).25 Die endgültige Version ist für Dezember 2018 geplant. Vorgeschlagen werden sechs Grundsätze: 1. Ziel der Gesellschaft, 2. Zusammensetzung des board, 3. Verantwortlichkeiten, 4. Chancen und Risiko, 5. Vergütung und 6.  Stakeholders. Nach dem ersten Grundsatz soll ein effektiver board das Ziel der Gesellschaft fördern und dabei sicherstellen, dass die Werte, Strategie und Unternehmenskultur mit diesem Ziel übereinstimmen. Der board soll einen effektiven Vorsitz haben und so zusammengesetzt sein, dass eine Balance von Fähigkeiten, Background, Erfahrung und Wissen besteht, wozu auch Diversität gehört. Die Vergütung der Direktoren und des senior management sollte auf den nachhaltigen langfristigen Erfolg der Gesellschaft bezogen sind und die Vergütung und Umstände anderswo in der Gesellschaft (company) berücksichtigen. Für viele Gesellschaften ist ihr größerer ­wesentlicher Stakeholder ihre Arbeitnehmerschaft. Wie beim UK Corporate Gover­ nance Kodex sollen diese Grundsätze freiwillig sein, aber einer Berichtspflicht nach dem „apply and explain“-Prinzip unterliegen.26 4. Zu den für den 1.1.2019 geplanten gesellschaftsrechtlichen Vorschriften und den Reformen des Takeover Code vom 8.1.2018 Der UK Corporate Governance Code wird vom Financial Reporting Council überzeugend nicht isolierend betrachtet, sondern stets im Zusammenspiel mit dem Aktienrecht, den Börsenzulassungsbedingungen und anderen Selbstregulierungs-Kodizes

Code 2016 (Fn.  3), Governance and the Code para 6: „applies to all companies with a ­Premium listing of equity shares regardless of whether they are incorporated in the UK or elsewhere“. Vgl. auch Section 385 of the Companies Act 2006: Quoted and unquoted companies. 23 Oben Fn. 4, 3.1.-3.20, p. 43 et seq. 24 Oben Fn. 5, p. 40. 25 Financial Reporting Council, The Wates Corporate Governance Principles for Large Pri­ vate Companies, June 2018. Dazu auch The Investment Association, Antwort auf das Grünbuch vom 17.2.2017, p. 27 et seq. 26 Dazu ausführlich unter Betonung großer Flexibilität (kein one-size-fits-all approach) und mit Aufzeigen verschiedener Umsetzungsmöglichkeiten, z.B. Berufung eines dafür zuständigen unabhängigen Direktors in den board oder Beauftragung eines externen Beraters oder Bildung eines unabhängigen Beratungsausschusses, Wates Principles (Fn. 25) 14 -20, p. 5 et seq.

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wie etwa dem UK Stewardship Code27 und dem geänderten UK Takeover Code vom 8.1.201828 zu nennen. Die (gesetzlichen und außerrechtlichen) Vorschriften für Übernahmen gehören zur Corporate Governance und ergänzen als wichtigste externe Corporate Governance die unternehmensinterne Corporate Governance.29 Vor allem aber gehört zur Corporate Governance Gesetzesrecht. Die Regierung hat, wie schon im Grünbuch 2016 angekündigt, eine Reform zum Companies Act 2006 vorgeschlagen: The Companies (Miscellaneous Reporting) Regulations 201830 mit einer ganzen Reihe von Änderungen und Berichtspflichten, die nach Arbeitnehmerschaft, Umsatz und Gesamtaktiva der Gesellschaften differenzieren. Unter anderem muss der Strategiebericht einer (nicht nur mittelgroßen)31 Gesellschaft für das Finanzjahr eine Erklärung (sogenanntes section 172(1) statement) darüber enthalten, wie die Direktoren sich bei der Erfüllung ihrer Pflichten nach section 172 zu den Vorgaben in section 172(1)(a) bis (f)32 verhalten haben. Mit dieser Änderung will die Regierung der verbreiteten Kritik Rechnung tragen, dass sich durch den enlightened shareholder value approach am status quo ante nicht viel geändert hat, ohne aber über die bloße Transparenzregelung hinaus weiteres bindendes Gesetzesrecht einführen zu wollen. Ausführlich geregelt ist deshalb auch, was der Bericht der Direktoren für das Finanzjahr zum „Engagement with employees, suppliers, customers and others“ enthalten muss. Bemerkenswert ist eine Schutzklausel für Fälle, dass die Offenlegung für die Interessen der Gesellschaft ernsthafte Nachteile mit sich bringen würde. Zum neuen „statement of corporate governance arrangements“ gibt es eine spezielle Definition, was Corporate Governance in diesem Zusammenhang bedeutet, und es wird 27 Feedback Statement Consulting 2018 (Fn. 7) 1.19. Zur Fortentwicklung des UK Steward­ ship Code 2012 ist eine einführende öffentliche Befragung über dessen künftige Ausrichtung angeschlossen, Financial Reporting Council, Proposed Revisions (Fn. 6), p. 18 et seq. Dieser soll nach einer Befragung im Herbst 2018 im Frühjahr 2019 neu gefasst werden, Podcast (Fn. 7). 28 The Takeover Panel, Asset Sales and Other Matters, Response Statement by the Code Committee of the Panel Following the Consultation on PCP 2017/1, RS 2017/1, 11 December 2017. Auch Response Statement 2017/2: Statements of Intention and Related Matters, RS 2017/2, 11 December 2017. Änderungen des Takeover Code zum 8.1.2018. Vgl. Habersack, Verhinderungsverbot und Pflichtangebotsregel – Eckpfeiler des europäischen Übernahmerechts, ZHR 181 (2017), 603; Hopt, Europäisches Übernahmerecht, 2013.  29 Hopt, Europäisches Übernahmerecht, 2013, S. 11 ff., 84 ff.: „Externe Corporate Governance durch den Markt über Unternehmenskontrolle“, mit ausführlichen Nachweisen aus der ökonomischen Literatur. 30 Draft Statutory Instruments, 2018 No. Companies, The Companies (Miscellaneous Re­ porting) Regulations 2018. Diese Regulations ändern die Berichtspflichten aus Part 15 des Company Act 2016 und die Large and Medium-Sized Companies and Groups (Accounts and Reports) Regulations 2008, vgl. die Explanatory Note am Ende des Entwurfs, p. 19. 31 Weitere größenmäßige und andere Abstufungen und Ausnahmen finden sich in dem Entwurf. 32 Section 172 Companies Act: „promote the success of the company for the benefit of its members as a whole, and in doing so have regard (amongst other matters) to …”. Es folgen sechs nähere Auflistungen betreffend Arbeitnehmer, Lieferanten, Kunden und andere; die Interessen der Gläubiger werden dabei nicht genannt, vielmehr wird auf den gesetzlichen Gläubigerschutz, also namentlich durch Insolvenzrecht, hingewiesen.

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dabei das comply or explain-Erfordernis gesetzlich verankert.33 Für den directors‘ ­remuneration report von börsennotierten Gesellschaften werden sehr detailliert Informationen über die pay ratio in Form von pay ratios tables vorgeschrieben und verschiedene pay ratios-Methoden zur Wahl gestellt. Die Reform soll für die Geschäftsjahre ab oder nach dem 1.1.2019 gelten, also mit Berichten ab 2020. 5. Internationale Ausstrahlung und Brexit Die Erfahrungen mit dem UK Corporate Governance Code seit 1992 haben die Governance-Standards erhöht, Vertrauen in die Aktienmärkte gefördert und die einheimischen und Auslandsinvestitionen unterstützt und sind insgesamt so positiv, dass dieser Selbstregulierungsansatz international weithin übernommen worden ist.34 Der Cadbury Code gilt als die „Speerspitze der modernen Corporate Governance-Bewegung“.35 Der neue UK Code 2018 trägt den Weiterentwicklungen, national und international, Rechnung und steht auch unter dem Eindruck bestimmter Missbräuche und der internationalen stakeholder-Bewegung. Schon bisher war die Befolgungsquote bemerkenswert. Von den FSTE 350 Gesellschaften haben 66 Prozent nach ihren Aussagen alle Vorschriften befolgt, während 95 Prozent alle bis auf eine oder zwei Vorschriften befolgt haben.36 Es steht zu erwarten, dass es auch künftig dabei und bei der internationalen Vorbildfunktion der Corporate Governance im Vereinigten Königreich bleibt und dass der Brexit daran nichts ändern wird.37

II. Die fünf Bereiche des UK Corporate Governance Code 2018 im Lichte der deutschen und internationalen Corporate Governance Code-Bewegung 1. Führung durch den board und Ziel der Gesellschaft a) Kernpunkte im UK Code 2018 Unter den fünf Grundsätzen A-E zu Section 1: Board leadership and company pur­ pose, ist der zentrale und erstgenannte: „A successful company is led by an effective 33 The Companies (Miscellaneous Reporting) Regulations 2018 (Fn. 30), section 26, anwendbar für alle Gesellschaften mit mehr als 2.000 Arbeitnehmern und/oder einem Umsatz von mehr als 200 Mio. Pfund und einer Bilanz von mehr als 2 Mrd. Pfund, section 23 (3). 34 Financial Reporting Council, Proposed Revisions (Fn. 6), Executive Summary p. 1. Laut Podcast (Fn. 7) ist der Code „critical to the UK economy”. Vgl. auch die Sammlung internationaler Kodizes auf der homepage des European Corporate Governance Institute (ECGI). 35 Hopt, ZHR 175 (2011), 444, 448. Auch Financial Reporting Council (Fn. 6), Executive Summary p. 1: „The UK’s approach has been copied and adapted by other major economies.” 36 Ausführlich Financial Reporting Council, Proposed Revisions (Fn. 6) No. 12. 37 In welcher Weise die bisherigen offiziellen und inoffiziellen Kontakte der englischen, deutschen und kontinentaleuropäischen Kapitalmarktaufsichtsbehörden und Finanzministerien und der Selbstregulierungsinstitutionen wie z.B. Financial Reporting Council und Deutsche Corporate Governance Kodex-Kommission weitergehen werden, bleibt abzuwarten. Würden sie abbrechen oder wesentlich abnehmen, wäre die deutsche und kontinentaleuropäische Seite die eigentlich Leidtragende.

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and entrepreneurial board, whose role is to promote the long-term sustainable success of the company, generating value for shareholders and contributing to wider society.“38 In den folgenden Grundsätzen geht es unter anderem die Ziele, Wert, Strategie und Kultur der Gesellschaft, um kluge und effektive Kontrollen, welche Risikoabschätzung und Risikomanagement ermöglichen und um die effektive Zusammenarbeit (engagement) mit Aktionären und Stakeholdern. Besonders angesprochen sind die workforce policies and practices. Die Arbeitnehmerschaft (workforce)39 soll alle Bedenken, die sie hat, ansprechen können. In den nachfolgenden Provisions geht es um Langfristigkeit und Nachhaltigkeit, Unternehmenskultur,40 den Investorendialog des Vorsitzenden des board und der Ausschussvorsitzenden in ihren Zuständigkeitsbereichen,41 ein Hinweisgeber- bzw whistle­ blowing-System (wenn von der Arbeitnehmerschaft gewünscht, anonym),42 eine Erklärung im Jahresbericht über die Anwendung des enlightened shareholder value approach,43 und die Interessenkonflikte.44 Eine eigene Vorschrift betrifft Abstimmungen mit 20 Prozent oder mehr der Stimmen gegen die Beschlussvorlage.45 Die Gesellschaft soll umgehend erklären, wie sie sich mit den Aktionären in Verbindung setzen 38 UK Code 2018 Section 1 Principle A. 39 Der unscharfe Begriff der „workforce” statt „employees“ ist absichtlich gewählt, um auch andere als direkte Arbeitnehmer zu erfassen, etwa Leiharbeitnehmer (agency workers) und solche, die der Gesellschaft Dienstleistungen als self-employed contractors erbringen, Financial Reporting Council, Proposed Revisions (Fn. 6) No. 32 und 33. Das geht zurück auf die Taylor Review (Good Work, The Taylor Review of Modern Working Practices, July 2017), Liste zu den atypischen Beschäftigungsverhältnissen, p. 24 et seq., 93 et seq., sowie auf laufende Verfahren über den Arbeitnehmerstatus von Uber-Fahrern und anderen „gig economy“-Arbeitern, Cleary Gottlieb, FRC Consults on Significant Revisions to the UK Corporate Governance Code, 5.1.2018, p. 2. 40 UK Code 2018 Provision 2 sowie Guidance 2018 (Fn. 7) Nos 21-26 Monitoring culture mit Fragen für den board. Dazu auch Financial Reporting Council, Proposed Revisions (Fn. 6) p. 2 et seq. im Anschluss an den Bericht des Financial Reporting Council über Corporate culture and the role of boards (Culture Report), 2016, sowie Provisions Nos. 39 und 40. 41 UK Code 2018 Provision 3 betreffend shareholder engagement lautet: „In addition to ­formal general meetings, the chair should seek regular engagement with major shareholders in order to understand their views on governance and performance against the strategy. Committee chairs should seek engagement with shareholders on significant matters related to their areas of responsibility. The chair should ensure that the board as a whole has a clear understanding of the views of the shareholders.” Dazu die Guidance 2018 (Fn. 7) Nos. 35-39; dem Vorsitzenden des board kommt dabei eine Hauptrolle zu, ebenda No. 39.  42 UK Code 2018 Provision 6 und Financial Reporting Council, Proposed Revisions (Fn. 6) Nos. 41 und 42. Die Einschränkungen im UK Code 2016 auf die Zuständigkeit des Prüfungsausschusses und auf Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit der Finanzberichterstattung und anderen Angelegenheiten werden aufgehoben. 43 UK Code 2018 Provision 5. Zu Section 172 Companies Act oben Fn. 32 und I 4. In der Einleitung zum UK Code 2018, p. 2 wird betont, dass nichts in dem Code an dieser Bestimmung etwas ändert oder zu deren Auslegung herangezogen werden soll. 44 UK Code 2018 Provision 7, einschließlich der aus bedeutenden Aktienpaketen resultierenden Interessenkonflikte. 45 UK Code 2018 Provision 4. Dafür hat The Investment Association ein eigenes öffentliches Register mit ausführlichen Angaben geschaffen, näher auf der homepage der Investment

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wird, um dieses Abstimmungsergebnis zu verstehen, und auch darüber anschließend und im nächsten Jahresbericht berichten. b) Deutsche und internationale Kodex-Erfahrungen Der Fokus auf den board bzw. auf Vorstand und Aufsichtsrat46 entspricht der internationalen Entwicklung und Diskussion in den Wirtschafts- und Rechtswissenschaften.47 Allgemeiner anerkannt ist heute, dass es selbst bei einer Shareholder-Zielsetzung nicht auf eine kurzfristige, sondern eine Langfristausrichtung ankommt.48 Auch bei einer Stakeholder-Zielsetzung sind die Beziehungen zu den Aktionären eine Kernaufgabe. Dazu gehört der laufende Kontakt mit wichtigen Aktionären und der Investorendialog, auch von non-executive directors.49 Aus deutscher und internationaler Sicht ist besonders wichtig die Hinwendung auch im Vereinigten Königreich zu einem „wider stakeholder focus“.50 Dieselbe Bewegung ist in Deutschland, Frankreich, der Europäischen Union und anderen europäischen Ländern zu beobachten.51 Während in Deutschland und in der Europäischen Union sich diese Bewegung bisher noch im Wesentlichen in Transparenz und Berichtsvorschriften erschöpft, geht sie in Frankreich und anderen Ländern mit Verhaltens- und Association. Dazu ausführlich mit Angaben aus der Abstimmungspraxis Financial Reporting Council, Proposed Revisions (Fn. 6) No. 35 et seq. 46 Zum ein- und zum zweistufigen System und dem Wahlrecht zwischen beiden für die SE und rechtsvergleichend weithin auch sonst Hopt, ZHR 175 (2011), 444, 466 ff. Dazu, dass der Unterschied zu beachten, aber nicht überzubewerten ist, zutreffend Becker/v. Werder, AG 2016, 761, 775. 47 Dazu Davies/Hopt/Nowak/van Solinge, eds., Corporate Governance Boards in Law and Practice, A Comparative Analysis in Europe, Oxford 2013; Hirt, AG 2017, 715; Wymeersch, Journal of Corporate Law Studies 17 (2017), 253; Hopt, ZHR 175 (2011), 444, 465 ff. Zuletzt das ökonomische literature review paper von Adams, Boards, and the Directors Who Sit on Them, Finance Working Paper No 515/2017, http://ssrn.com/abstract_id=3002219.  48 Zur kontroversen Diskussion um die Unternehmensziele im deutschen Recht Hüffer/Koch, Aktiengesetz, 13. Aufl. 2018, § 76 Rz. 28 ff. sowie Rz. 34: auf jeden Fall muss der Vorstand für den Bestand des Unternehmens und damit für dauerhafte Rentabilität sorgen. 49 Feedback Statement Consulting 2018 (Fn. 7) No. 22. Zum Investorendialog Hirt/Hopt/Mattheus, AG 2016, 725, Koch, AG 2017, 129 und rechtsvergleichend Hopt, The Dialogue be­ tween the Chairman of the Board and Investors – The Practice in the UK, the Netherlands and Germany and the Future of the German Corporate Governance Code under the New Chairman, Revue Trimestrielle de Droit Financier (RTDF) 2017, 97.  50 Sehr weitgehend Financial Reporting Council, Proposed Revisions (Fn. 6), Executive Summary p. 1: „the workforce, customers, suppliers and wider stakeholders“. Vorsichtiger im Hinblick auf die angekündigte Gesetzgebung (unten I 5) UK Code 2018 Provision 5: „The board should understand the views of the company’s other key stakeholders.” Sowie ­Guidance 2018 (Fn.  7), No. 7: The Code „promotes a more inclusive approach to stake­ holder engagement …”. Rechtsvergleichend Hopt, ZHR 175 (2011), 444, 476 ff. 51 Ausführliche Berichte dazu aus dem ZGR-Symposium 2018 in Heft 2/3 ZGR 2018, 203521; Fleischer/Kalss/Vogt, Hrsg., Corporate Social Responsiblity, 2018; Spießhofer, Responsible Enterprise, 2018. Zur den gesetzlichen Unternehmenszielbestimmungen im Aktienrecht rechtsvergleichend Fleischer, ZGR 2017, 411.

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Haftungsvorschriften für die Gesellschaften, die Konzerne und die Organe weit da­ rüber hinaus. Was die Arbeitnehmerschaft angeht, nimmt der UK Code 2018 die von der Regierung zur Wahl gestellten drei Optionen in den Code auf, im Folgenden wegen der Bedeutung im englischen Wortlaut: „For engagement with the workforce, one or a combination of the following methods should be used: a director appointed from the workforce; a formal workforce advisory panel; or a designated non-executive director.“52 Bemerkenswert ist beides, der Schritt auf mehr Einfluss der Arbeitnehmer, aber auch die weit größere Flexibilität im Vergleich namentlich mit der deutschen Mitbestimmung im Aufsichtsrat. Das Ergebnis der Befragung der Regierung auf ihr Grünbuch53 war eindeutig: Flexibilität für die einzelnen Gesellschaft den richtige Option oder eine Kombination aus ihnen zu wählen: „(N)o single approach would be suitable for all.“54 Damit soll nicht das deutsche Mitbestimmungssystem55 in Frage gestellt, aber an den Ruf nach mehr Flexibilität wie für die Europäische Gesellschaft oder bei Verschmelzungen erinnert werden.56 Zu Recht wird auch der Unternehmenskultur nicht nur wie meist bei der Corporate Governance von Finanzinstituten,57 sondern allgemeiner eine besondere Bedeutung zugewiesen.58 Die boards sollen eine Unternehmenskultur schaffen, welche Werte der Gesellschaft mit ihrer Strategie verbindet und es unternimmt, diese Werte langfristig zu erhalten. 2. Aufteilung der Verantwortlichkeiten a) Kernpunkte im UK Code Die vier Grundsätze F-I zur Aufteilung der (Organ-)Verantwortlichkeiten betreffen den Vorsitzenden des board (chair), den board selbst, die non-executive directors und 52 UK Code 2018 Provision 5 section 2. Die ursprüngliche Ankündigung der Regierung vom Juni 2016, eine zwingende Vertretung von Verbraucher- und Arbeitnehmervertretern in den boards vorzusehen, wurde in dem Grünbuch (Fn. 4) fallen gelassen. 53 Oben Fn. 4. 54 Financial Reporting Council, Proposed Revision (Fn. 6) No. 27 mit Nachweis. 55 Dazu soeben ausführlich Oetker in Großkommentar zum Aktiengesetz, 5.  Aufl., Bd. 6 (2018): Unternehmensmitbestimmung. 56 Zur aktuellen Reformdiskussion Oetker, ebenda, Mitbestimmungsrecht, Vorbemerkungen Rz. 25 ff.; zu Unternehmensmitbestimmung und Effizienz (Corporate Governance), ebenda, Rz. 47 ff. 57 Basel Committee on Banking Supervision, Guidelines, Corporate governance principles for banks, July 2015, Principle 1: Board’s overall responsibilities, No. 29 et seq.: Corporate culture and values. Zuletzt Financial Stability Board (FSB), Strenghtening Governance Frameworks to Mitigate Misconduct Risk: A Tookit for Firms and Supervisors, 20.4.2018, p. 8-21: Mitigating cultural drivers of misconduct, Table 1: Key cultural drivers of misconduct. 58 Dazu mit ausführlichen Praxishinweisen für den board die Guidance 2018 (Fn. 7) Nos. 21-26, mit einer Liste von Quellen für Informationen zur Unternehmenskultur, ebenda No. 23. Noch aufschlussreicher ist die Liste von Anzeichen für ein Problem mit der Unternehmenskultur, Proposed Guidance 2017 (Fn. 7) No. 40 Figure 2: Tell-tale signs of a culture problem.

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den board mit Unterstützung des company secretary.59 Eine besondere Verantwortung hat der Vorsitzende des board, namentlich auch dafür, dass die Direktoren eine zutreffende, rechtszeitige und klare Information erhalten. Für den board kommt es auf eine angemessene Verbindung von executive und non-executive directors an. Diese letzteren sollen genügend Zeit für ihre Aufgaben haben.60 Die Vorschriften regeln, dass der Vorsitzende des board bei seiner Ernennung unabhängig sein sollte,61 der weitergehende Vorschlag , dass das auch während seiner Amtszeit gelten sollte, stellte sich als zu kontrovers heraus. Die Rollen des Vorsitzenden des board und des chief executive sollen getrennt sein. Der CEO soll nicht Vorsitzender des board derselben Gesellschaft (nicht der Gruppe) werden; falls der board das ausnahmsweise doch vorschlägt, sollen vor der Ernennung wesentliche Aktionäre (major shareholders) befragt werden. Umstände, die gegen eine Unabhängigkeit sprechen oder sprechen können (likely to impair, or could appear to impair), werden in sieben Fallgruppen nicht abschließend näher beschrieben.62 Der board soll im Jahresbericht jeden non-executive namentlich benennen, den er für unabhängig ansieht. Wenn dies entgegen der Liste geschieht, soll eine klare Erklärung dafür gegeben werden. Der ursprüngliche Vorschlag konnte sich nicht durchsetzen: In einem solchen Fall wäre nur eine Abweichung von dem UK Code 2018 möglich gewesen, über die hätte berichtet und die hätte erklärt werden müssen. Die unabhängigen, non-executive directors sollen mindestens die Hälfte ausmachen, aber nur ausschließlich des Vorsitzenden des board,63 wobei es für die Unhängigkeit wiederum auf die Ansicht des board ankommt. Die herausgehobene Rolle des senior independent director ist die eines sounding board für den Vorsitzenden des board und eines Mittlers für die übrigen directors und die Aktionäre.64 Die non-executives sollen sich mindestens einmal jährlich unter Leitung des senior independent directors ohne den Vorsitzenden des board treffen, um über dessen Leistung zu sprechen. Die non-executive directors haben eine vorrangige Rolle bei der Ernennung und Entlassung der executive directors.65 Empfohlen werden Sitzungen der non-executive directors ohne die executives. Vollzeitdirektoren sollen nicht mehr als eine Stellung als non-executive in einer FTSF

59 Ausführliche Praxishinweise zu den jeweiligen Rollen in der Guidance 2018 (Fn. 7) Nos. 6185. 60 Erst im UK Code 2018 Principle H. 61 UK Code 2018 Provision 9 sentence 1. 62 UK Code 2018 Provision 10. Dabei wird für Arbeitnehmer der Gesellschaft oder der Gruppe ein Fünfjahreszeitraum gewählt, für andere Fälle ein Dreijahreszeitraum. Als nicht unabhängig gilt, wer einen signifikanten Aktionär repräsentiert. Nicht unabhängig ist auch, wer mehr als neun Jahre im Amt war; dazu noch unten II 3 a. 63 UK Code 2018 Provision 11. Im Vorschlag war noch eine Mehrheit der independent non-­ executive directors „einschließlich des Vorsitzenden des board“ vorgesehen. Diese strengen Vorgaben hätten nicht nur für die FTSE 350-Gesellschaften, sondern auch für kleinere Gesellschaften gelten sollen, ausführliche Begründung in Financial Reporting Council (Fn. 6) No. 46 et seq. 64 UK Code 2018 Provision 12; Guidance 2018 (Fn. 7) Nos. 66-68. 65 UK Code 2018 Provision 13.

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100-Gesellschaft oder ein anderes wesentliches Amt übernehmen (overboarding).66 Eine besondere Stellung hat der Gesellschaftssekretär.67 b) Deutsche und internationale Kodex-Erfahrungen Aus deutscher Sicht ist besonders die Behandlung der Unabhängigkeit von board-Mitgliedern beachtenswert, dies umso mehr, als der UK Code sich ja an den einstufigen board wendet. Die Ämtertrennung für Vorstands- und Aufsichtsratsvorsitzender ist für ein two tier-System selbstverständlich, nicht dagegen die Mehrheit von unabhängigen Organmitgliedern im board (ausschließlich des Vorsitzenden des board; zu den Ausschüssen unten II 3). Die Unabhängigkeit68 wird als wichtig angesehen, aber anders als lange Zeit in der internationalen Diskussion zu Recht nicht überbewertet.69 Interessant ist immerhin, dass die bisher am wenigsten befolgte Vorschrift im UK Code 2016 diejenige war, dass (außer für kleinere Gesellschaften) mindestens die Hälfte des board aus durch den board als unabhängig beurteilten non-executive directors bestehen sollte.70 Der UK Code 2018 hat eben deswegen die Vorschriften zur Unabhängigkeit zu Recht detaillierter ausgestaltet, wie das international auch in den meisten anderen Codes der Fall ist und voraussichtlich auch bei der Reform des Deutschen Corporate Governance Code der Fall sein wird, weil man um eine wenngleich unverbindliche Liste von Kriterien oder zumindest Anhaltspunkten auf der Ebene der Empfehlungen trotz allen Widerstandes letztlich nicht herumkommen wird. Dass fehlende Unabhängigkeit von einem Großaktionär dabei ein Kriterium ist, sollte selbstverständlich sein. Die Einrichtung eines lead director71 oder senior independent director72 und eines Gesellschaftssekretärs ist in Deutschland bislang nicht vorgesehen. 3. Zusammensetzung des board, Nachfolge und Evaluierung a) Kernpunkte im UK Code Die drei Grundsätze J-L regeln die Zusammensetzung des board, die Nachfolge und die Evaluierung. Besonderer Wert wird auf das Ernennungsverfahren und eine effek-

66 UK Code 2018 Provision 15 sentence 4. 67 UK Code 2018 Provision 16: company secretary; Guidance 2018 (Fn. 7) Nos. 79-85. 68 M. Roth, Unabhängige Aufsichtsratsmitglieder, ZHR 175 (2011), 605. Zu den Interessenkonflikten umfassend Kumpan, Der Interessenkonflikt im deutschen Privatrecht, 2014. 69 Näher sogleich unten II 3 b und Hopt, ZHR 175 (2011), 444, 472 ff., 475 ff. 70 B.1.2 UK Corporate Governance Code 2016, dies laut Financial Reporting Council, Pro­ posed Revisions (Fn. 6) No. 13. Auch die nächsten drei am wenigsten befolgten Vorschriften betrafen die Unabhängigkeit des Vorsitzenden des board und der Mitglieder des Vergütungsausschusses und des Prüfungsausschusses. 71 Hopt/Roth in Großkommentar zum Aktiengesetz, 5. Aufl. 2019, § 100 Rz. 198. 72 Hopt/Roth in Großkommentar zum Aktiengesetz, 5. Aufl. 2019, § 100 Rz. 198, zu einem Sprecher unabhängiger Aufsichtsratsmitglieder ebenda Rz. 199 f.

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tive Nachfolgeplanung73 für den board und senior management74 gelegt. Dabei kommt es auf Verdienst und objektive Kriterien sowie innerhalb derselben75 auf Diversität76 (für beide, den board und für senior management) als ein Mittel unter anderem gegen „group think“ an.77 Der board und seine Ausschüsse sollen so zusammengesetzt sein, dass eine Balance von Fähigkeiten, Erfahrung und Wissen besteht.78 Wichtig die eine regelmäßige Evaluierung des board und jedes einzelnen Mitglieds.79 Nach den Vorschriften soll die Mehrheit des Nominierungsausschusses aus unabhängigen non-executive directors bestehen.80 Der Prüfungsausschuss und nunmehr auch der Vergütungsausschuss sollen dagegen komplett mit Unabhängigen besetzt werden, bei einer Mitgliederzahl von mindestens drei, bei kleineren Gesellschaften zwei.81 Vorgesehen ist seit 2010 eine jährliche Wiederwahl, was ursprünglich kontrovers war, aber heute mehr oder weniger akzeptiert ist.82 Kontrovers war die Neunjahresgrenze für den Vorsitzenden des Board, sie ist jetzt grundsätzlich beibehalten, aber gelockert worden.83 Der UK Code empfiehlt für Gesellschaften eine extern unterstützte Evaluierung, für FTSE 350-Gesellschaften mindestens alle drei Jahre.84 73 Ausführliche Hinweise in Guidance 2018 (Fn. 7) Nos. 97-101. 74 Zur Definition von senior management: „the executive committee or the first layer of management below board level, including the company secretary”. 75 Dies ist eine wichtige Verdeutlichung und Abschwächung gegenüber dem Vorschlag (Fn. 6). 76 UK Code 2018 Principle J sentence 2: „diversity of gender, social and ethnic backgrounds, cognitive and personal strengths“. Der Financial Reporting Council, Proposed Revision (Fn. 6) No. 58 beruft sich auf “clear evidence”, dass Diversität eine positive Auswirkung auf die Leistung hat. Hintergrund waren die Hampton-Alexander Review FTSE Women Leaders, Improving gender balance in FTSE Leadership, November 2017, und die The Parker Review, A Report into the Ethnic Diversity of Boards, 12 October 2017. Vgl. in ersterer Review die Tabelle Internationaler Vergleich, p. 31: danach an der Spitze Frankreich mit 39,8 % Frauen in den CAC-40-Gesellschaften, gefolgt von Norwegen, Schweden und Finnland; UK liegt bei 27,7 % bei den FTSE 100-Gesellschaften, Deutschland bei 26 % im DAX 30. Die letztere Review sieht „clear business reasons for increasing ethnic diversity on UK Boards“ , p. 7, 33 et seq., aber klagt: „disproportionately law”, p. 6. 77 Im Jahresbericht soll über die policy zur diversity berichtet werden und auch über die Diversität nach Geschlechtern beim senior management (zu dessen Definition oben Fn. 74). 78 UK Code 2018 Principle K sentence 1.  79 UK Code 2018, Principle L und Provisions 21 und 22. Ausführliche praktische Hinweise gibt die Guidance 2018 (Fn. 7) No. 106 et seq., nicht bindende und nicht abschließende Kriterienliste in No. 113.  80 UK Code 2018 Provision 17 sentence 2. 81 UK Code 2018 Provision 24 und 32. 82 Feedback Statement Consulting 2018 (Fn. 7) 2.32. 83 UK Code 2018 Provision 19.  Dazu Feedback Statement Consulting 2018 (Fn.  7) p. 1213. Eine Umfrage der Financial Times hat von Konsequenzen der Neunjahresgrenze für die Vorsitzenden von beinahe einem Fünftel der FTSE 100 und FTSE 250 Gesellschaften ­gesprochen. Cleary Gottlieb, FRC Consults on Significant Revisions to the UK Corporate Governance Code, 5.1.2018, p. 4. 84 In UK Code Provision 21 heißt es anders als noch im Vorschlag nur: “The chair should consider”.

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b) Deutsche und internationale Kodex-Erfahrungen Spätestens seit der Finanzkrise ist nicht nur für Finanzinstitute, sondern allgemeiner für die Corporate Governance anerkannt, dass das Unabhängigkeitserfordernis für den board und seine Mitglieder, so wesentlich es gerade auch in Deutschland ist, nicht alleinseligmachend ist, sondern dass es auch auf Sachkunde, Wissen und Erfahrung und ankommt, je nachdem und jedenfalls bei Finanzinstituten sogar noch mehr.85 Die Forderung nach mehr Diversität im Verwaltungs- bzw. Aufsichtsrat ist mittlerweile allgemein anerkannt,86 wenngleich die konkreten Anforderungen an die Zahlenverhältnisse noch stark variieren. Zutreffend wird auch der Fokus allein auf Frauen und Männer zugunsten einer allgemeiner diversifizierenden Zusammensetzung verschoben. Dass in den Grundsätzen eine Diversität nach Alter und Internationalität nicht besonders angesprochen wird, ist überraschend. Bemerkenswert ist, dass sich die Forderung nach Diversität über den board hinaus auch auf das senior management erstreckt und dass dazu sogar im Jahresbericht eigens berichtet werden muss.87 Nur zustimmen kann man, wenn gesagt wird: „The boardroom should not necessarily be a comfortable place. Challenge, as well as teamwork, is an essential feature.”88 Dazu gehört anders als bisher in Deutschland jedenfalls alle drei Jahre auch eine externe Evaluierung, wegen des Aufwands aber nicht unbedingt für mittlere und kleinere Unternehmen.89 4. Prüfung, Risiko und Interne Kontrolle a) Kernpunkte im UK Code Die drei Grundsätze M-O zielen auf die Sicherung der Unabhängigkeit und Effektivität der internen und externen Kontrolle, nennen Anforderungen an die Berichterstat85 Hopt, ZHR 175 (2011), 444, 475 ff.; Davies/Hopt/Nowak in Davies/Hopt/Nowak/van Solinge, eds., Corporate Governance Boards in Law and Practice, A Comparative Analysis in Eu­ rope, Oxford 2013, p. 3 at 28 et seq., 34 et seq. Für die Corporate Governance von Finanzinstitute Hopt, ZGR 2017, 438, 451 f.; bei Finanzinstituten bestehen eine zusätzliche Staatsaufsicht und weitergehende gesetzliche Vorschriften und aufsichtsrechtliche Vorgaben- und Durchsetzungsmöglichkeiten. 86 Das Financial Reporting Council, Proposed Revisions (Fn. 6) No. 58 beruft sich wegen der aus Diversität folgenden besseren Finanzergebnisse auf McKinsey and Company, Diversity Matters, 2015 und dies., Women Matter, 2007.  Zahlenverhältnisse aus der UK-Praxis, Nos. 62 und 63. Zur Geschlechterquote § 96 Abs. 2 und 3 AktG, dazu Hüffer/Koch, Aktiengesetz, 13. Aufl. 2018, § 96 Rz. 13 ff. und ausführlich Hopt/Roth in Großkommentar zum Aktiengesetz, 5. Aufl. 2019, § 96 Rz. 83-148. 87 UK Code 2018 Provision 23 subsection 4 bezüglich der gender balance im senior management, schon oben Fn. 77. Auch Financial Reporting Council (Fn. 6), Executive Summary p.  1, dies im Anschluss an die Reports der Hampton-Alexander Review und der Parker Review. 88 So die Guidance in Appendix B (Fn. 6) No. 13. 89 Hopt, Der Deutsche Corporate Governance Kodex: Grundlagen und Praxisfragen, FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 563, 584.

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tung des board und heben das Risikomanagement und das System der internen Kontrolle hervor.90 Die Vorschriften verlangen einen Prüfungsausschuss aus unabhängigen non-execu­ tive directors, bei mindestens drei Mitgliedern, bei kleineren Gesellschaften zwei.91 Der Vorsitzende des board soll nicht dazu gehören. Mindestens ein Ausschussmitglied soll aktuelle und relevante finanzielle Erfahrung haben. Die Hauptaufgaben des Prüfungsausschusses und der Inhalt des Jahresberichts werden im Einzelnen ausgeführt. Eine besondere Aufgabe des board ist die Überwachung des Risikomanagements und des Systems der internen Kontrolle der Gesellschaft. b) Deutsche und internationale Kodex-Erfahrungen Der Bereich Prüfung, Risiko und Interne Kontrolle ist im Vergleich zu dem UK Code 201692 inhaltlich wenig verändert;93 dass im UK Code der Risikoausschuss nicht auftaucht, wird damit begründet, dass die Bildung eines Risikoausschusses oder anderen Maßnahmen im Ermessen des board liege.94 Es besteht damit kein Anlass, auch hier rechtsvergleichend auszuholen,95 zumal insoweit ein besonders enger Zusammenhang mit gesetzlichen und regulatorischen Vorschriften besteht. 5. Vergütung a) Kernpunkte im UK Code Drei Grundsätze P-R regeln die Vergütung, gefolgt von nicht weniger als zehn ausführlichen Vorschriften. Das soll hier nicht im Einzelnen ausgeführt werden. Wichtig ist, dass die Vergütungs-Policy und -Praxis so beschaffen sein sollen, dass sie die Strategie der Gesellschaft unterstützen und auf einen langfristigen nachhaltigen Erfolg der Gesellschaft ausgerichteten sind.96

90 Für den gesamten Bereich gibt es eine spezielle Guidance des Financial Reporting Council. Kurz auch Proposed Revisions B (Fn. 6) p. 15 No. 75 et seq. zu Risk and internal controls, wo im Anschluss an Grant Thornton berichtet wird, dass „51 per cent of FTSE 350 com­ panies gave little or no insight into their long-term resilience.“ 91 UK Code 2018, Provision 24 sentence 1. 92 Dort Section C: Accountability. 93 Feedback Statement Consulting 2018 (Fn. 7) 2.72 wegen der schon 2014 und 2016 erfolgten Reformen; formal ist die Section allerdings ganz umgestellt, dazu Appendix C (Fn. 6), p. 10 et seq. Im UK Code 2018 finden sich allerdings verschiedene Änderungen Code changes since the December 2017 Consultation (Fn. 7) Section 4. 94 Feedback Statement Consulting 2018 (Fn. 7) p. 17. 95 Rechtsvergleichender Überblick bei Hopt, ZHR 175 (2011), 444, 489  ff. Zum Risikoausschuss bei Kreditinstituten § 25d Abs. 8 KWG. Zur besonderen Bedeutung von Risikomanagement und Compliance Mülbert/Wilhelm, ZHR 178 (2014), 502; Berenbrok, Risikomanagement im Aktienrecht (mit bank- und versicherungsrechtlichen Grundlagen), 2016. 96 UK Code 2018, Principle P sentence 1.

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Nach den Vorschriften soll der Vergütungsausschuss97 aus unabhängigen non-exe­ cutive directors bestehen, bei mindestens drei Mitgliedern, bei kleineren Gesellschaften zwei. Der Vorsitzende des board sollte nicht Vorsitzender des Vergütungsausschusses sein und kann auch nur bloßes Mitglied sein, wenn er bei seiner Ernennung unabhängig ist. Der Vorsitzende sollte vor seiner Wahl mindestens 12 Monate Mitglied eines Vergütungsausschusses gewesen sein, was den gewachsenen fachlichen Anforderungen an sachgerechte Vergütungsentscheidungen Rechnung trägt. Die Vergütung der non-executive directors sollte keine Aktienoptionen oder andere erfolgsbezogene Elemente enthalten. Bei der Vergütung kommt es auf eine Langzeitperspektive an. Unter normalen Umständen sollten die vesting und holding-Perioden mindestens fünf Jahre betragen. Zur Behandlung für die Zeit nach dem Ausscheiden soll der Vergütungsausschuss eine formelle Policy entwickeln.98 Die Vergütungssysteme sollen Raum für Ermessen lassen, um rein formal gefundene Ergebnisse zu korrigieren; sie sollen auch claw back-Bestimmungen enthalten.99 Nur das eigentliche Gehalt soll pensionsfähig sein. Die Beträge für die Pension von executive directors sollten zu denen für die Arbeitnehmerschaft (workforce) ins Verhältnis gesetzt werden (aligned).100 b) Deutsche und internationale Kodex-Erfahrungen Bemerkenswert ist im Vergleich mit der deutschen Rechtslage101 die selbständigere Rolle des Vergütungsausschusses, der eine wichtige „delegated responsibility“ und „reasonable discretion“ hat.102 Im Übrigen kommt der UK Code in diesem wohl komplexesten Problemkreis103 ebenso wie der DCGK unter 5.4 mit verhältnismäßig we­ nigen Vorgaben aus, dies jedenfalls im Vergleich zum Finanzsektor mit Regelungen bis in die letzten Details.104 Bemerkenswert ist die Empfehlung, im Jahresbericht ausführlicher zu der Arbeit des Vergütungsausschusses zu berichten, und zwar näher zu sieben im Einzelnen ausgeführten Fragen, darunter „reasons why the remuneration is appropriate using internal and external measures, including pay ratios and pay gaps“.105

97 UK Code 2018, Provision 32 und 33. 98 UK Code 2018, Provision 36 sentence 3. 99 UK Code 2018, Provision 37 sentence 2. 100 UK Code 2018, Provision 38. 101 § 107 Abs. 3 Satz 4 i.V.m. § 87 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 und 2 AktG; Hopt/Roth in Großkommentar zum Aktiengesetz, 5. Aufl. 2019, § 107 Rz. 579 ff. 102 UK Code 2018, Provision 33; dazu Feedback Statement Consulting 2018 (Fn. 7) p. 21. 103 Exzellenter Überblick in Edmans/Gabaix/Jenter, Executive Compensation: A Survey of Theory and Evidence, ECGI Finance Working Paper No. 514/2017.  104 Näher Binder/Glos/Riepe, Hrsg., Handbuch Bankenaufsicht, 2018, § 12 mit 160 Randziffern. 105 UK Code 2018 Provision 41.

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III. Denkanstöße für die Diskussion über die Reform des Deutschen Corporate Governance Kodex106 Die in jüngster Zeit vermehrt zu hörenden Warnungen vor angelsächsischen Einflüssen und Kritik an der Kapitalmarktorientierung des Kodex107 zeugen von wenig Verständnis für die internationale Kodexbewegung. Die deutschen DAX-Gesellschaften sind schon heute zu einem erheblichen Teil in den Händen einer internationalen ­Anlegerschaft, und die großen ausländischen institutionellen Anleger sind auch in Deutschland tätig. Hier nationale Befindlichkeiten zu beschwören und real und mental Verteidigungswälle zu bauen, ist keine „splendid“ isolation, sondern eine ganz kurzsichtige Strategie, auch wenn die Besonderheiten des deutschen Kapitalmarkts und der deutschen Wirtschaft selbstverständlich beachtet werden müssen.108 Auch die Kritik an der Zusammensetzung der Kodex-Kommission – sie sei zu akademisch und nicht repräsentativ für die deutsche Wirtschaft109 – ist in ersterer Hinsicht unzutreffend und in letzterer jedenfalls, solange der DCGK sich in erster Linie an börsennotierte Gesellschaften wendet, neben der Sache. Aus internationaler Sicht (praktisch und theoretisch) geradezu abwegig ist die Forderung nach Abschaffung des DCGK.110 Überzeugend ist demgegenüber die gesamtheitliche Betrachtung der Corporate Governance von Aktiengesetz und Kodex wie im Vereinigten Königreich, statt wie hierzulande nicht selten einen Graben zwischen Recht und Selbstregelung aufzutun. 1. Adressatenkreis, Struktur, Allgemeines Der Adressatenkreis sollte bleiben wie bisher, also in erster Linie börsennotierte Gesellschaften und Gesellschaften mit Kapitalmarktzugang im Sinne von § 161 Abs. 1 Satz 2 AktG. Eine bloße Anregung an die nicht kapitalmarktorientierten Gesellschaf106 Im Folgenden werden nur einige Punkte herausgegriffen, ohne dass damit andere für nicht wichtig oder diskutabel erklärt werden sollen. So wird man beispielsweise über ein Register, in dem die Abstimmungsminderheiten festgehalten werden, oder über die flexiblere Behandlung der Arbeitnehmerinteressen und -mitbestimmung nachdenken müssen. Zur deutschen Kodex-Reformdiskussion Bachmann in Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder, Deutscher Corporate Governance Kodex, 7. Aufl. 2018, Rz. 85 ff. 107 Berichtend Fockenbrock, Kodex in der Selbstfindung, Handelsblatt 2.7.2018 Nr. 124 S. 18 f. 108 Zur Konvergenz und den verbleibenden Divergenzen im Gesellschaftsrecht am Beispiel von Verwaltungsrat und Vorstand und Aufsichtsrat Davies/Hopt in Davies/Hopt/Nowak/ van Solinge, eds., Corporate Governance Boards in Law and Practice, A Comparative Analysis in Europe, Oxford 2013, p. 4 et seq., 105 et seq. 109 Auch dazu berichtend Fockenbrock (Fn. 106). Was für Gefahren eine allzu große Nähe von Corporate Governance- und anderen Kommissionen mit sich bringen kann, zeigt nachdrücklich die derzeitige Diskussion im Vereinigten Königreich im Zusammenhang mit dem dortigen Financial Reporting Council, dazu Bericht FT Series. The Big Flaw, Close ties of auditors and watchdogs draw fire, Financial Times (International Ed.), August 21, 2018, p. 3. 110 Richtig der Vorsitzende der DCGK-Kommission Nonnenmacher auf der Corporate Governance Konferenz in Berlin 21./22.6.2017 unter Bezugnahme auf Hopt, Weiterentwickeln statt abschaffen, Geht der Deutsche Corporate Governance Kodex zu weit? FAZ Nr. 39, 15.2.2012, S. 19.

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ten, den Kodex zu beachten,111 genügt nicht. Jedenfalls für große private Gesellschaften ist zu überlegen, ob konkretere Empfehlungen und Anregungen angezeigt sind, sei es kürzer im DCGK oder ausführlicher in einem eigenen Kodex. Wichtig ist dabei allerdings zu sehen, dass sich bei Familienunternehmen andere Fragen stellen als bei börsennotierten112 und bei Rückgriff auf den DCGK große Vorsicht geboten ist. Überlegungswert ist weiterhin die Aufstellung eines speziellen Kodexwerks für Banken und anderen Finanzinstitute.113 Wie im UK Code sollte der DCGK „kürzer und präziser“ werden. Nur das Wesentliche gehört in den Kodex. Die zusammenfassende Wiederholung von Gesetzestext aus dem Aktiengesetz bläht den DCGK auf und führt zu missverständlichen Vereinfachungen.114 Die Aufteilung wie im UK Code in allgemeine Grundsätze und nähere Ausformungen wäre eine sehr zu überlegende Option. Insgesamt wäre weniger (formal nicht inhaltlich) mehr und größere Flexibilität wäre ein Gewinn. Die Einteilung nach Bereichen, fünf oder eine andere Zahl, wie im UK Code empfiehlt sich für den DCGK nicht. Der entscheidende Unterschied zu Deutschland ist die andere Stellung und Arbeitsweise des Financial Reporting Council (FRC), der auch Ansprechpartner für die Unternehmen ist. Wenn sich Unternehmen ohne eine ausführliche Guidance und ohne die Möglichkeit einer laufenden Kontaktnahme wie bei FRC nur an dem Wortlaut des Kodex festhalten können, ist die bisherige Gliederung nach Organen und dem, was ihnen empfohlen oder wozu sie angeregt werden, bei weitem benutzerfreundlicher, aussagekräftiger und überprüfbarer.115 Sich gerade hier nach den vermeintlichen internationalen Vorbildern zu richten, sonst aber auf deutsche Eigenständigkeit zu pochen, wäre weniger stimmig. Dem Vernehmen nach wird sich die Regierungskommission allerdings gerade hier von dem bisherigen DCGK verabschieden wollen und den DCGK umschreiben. Ob das überzeugend gelingen wird, bleibt abzuwarten. 111 So Präambel XIII 2 DCGK. 112 Dazu Fleischer, Die geschlossene Kapitalgesellschaft im Rechtsvergleich – Vorüberlegungen zu einer internationalen Entwicklungs- und Ideengeschichte, ZGR 2016, 36. Vgl. auch Governance Kodex für Familien-Unternehmen, 2015. 113 Hopt, A Plea for a Bankers‘ Code of Conduct, in Kenadjian/Dombret, eds., Getting the Culture and the Ethics Right, Towards a New Age of Responsibility in Banking and Fi­ nance, 2016, 75; ders., Für einen Bankenkodex, Handelsblatt 4.8.2015 Nr. 147 S. 13. 114 Das hat bereits der Vorsitzende der DCGK-Kommission Nonnenmacher zu Recht in Aussicht gestellt, WPg 2018, 709, 711. Vgl. auch Hopt, Der Deutsche Corporate Governance Kodex: Grundlagen und Praxisfragen, FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 563, 578 ff.: „großflächige Verschlankung“. Kürzer heißt aber nicht notwendigerweise weniger streng, vgl. den Vergleich des DCGK mit dem (früheren) britischen und anderen Kodizes durch Becker/v. Werder, AG 2016, 761. 115 Ebenso Strenger, 25 Jahre gelebte Governance, in dieser FS, S. 903 unter III. Einen ganz neuen Kodex, brauchen wir das wirklich? Im Übrigen kennt auch der UK Corporate Governance Code 2018 in seinem zweiten Bereich, Division of Responsi­bilities, selbst eine Einteilung nach Organen, oben II 2. Vgl. demgegenüber Nonnenmacher, WPg 2018, 709, 711: Aufbau, „der sich an den einzelnen Funktionen der Leitung und Überwachung der Unternehmen orientiert.“

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2. Inhalt Was inhaltlich aus dem UK Code116 für die deutsche Diskussion festgehalten werden sollte, ergibt sich aus den Ausführungen oben II zu den fünf Bereichen des UK Code 2018 im Lichte der deutschen und internationalen Corporate Governance-Bewegung. Auf die drei Problemkreise der Unabhängigkeit,117 der Diversität118 und der Vergütung,119 unter denen sich die Regierungskommission bei der Reform des DCGK, wie zu hören, besonders der Unabhängigkeit und der Vergütung zuwenden will, sei jedoch besonders hingewiesen. Was die Unabhängigkeit angeht, führt kein Weg vorbei an einer Liste mit konkreten Indikatoren für fehlende Unabhängigkeit, wobei es allerdings dabei bleiben sollte, dass letztlich der Aufsichtsrat entscheidet, wer als unabhängig angesehen wird, bei Abweichung von der Indikatorenliste mit Begründung. Auch wird man angesichts der deutschen Mitbestimmung am Begriff des kontollierenden Aktionärs festhalten, die angelsächsische Lösung schon mit einem zehnprozentigen Großaktionär passt für Deutschland nicht, was bei entsprechender Vermittlung auch die internationalen institutionellen Investoren und Stimmrechtsberater einsehen werden. Angesichts mancherlei Skepsis in Deutschland ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass nicht unabhängige Aufsichtsratsmitglieder keinesfalls solche einer zweiten Klasse sind.120 Bei der Vergütung wird man um schärfere, präzisere Anforderungen nicht herumkommen, sonst geht die Praxis in den Hauptversammlung am Kodex vorbei. Am Investorendialog sollte so, wie bisher formuliert, festgehalten werden. Eine jährliche Evaluation, alle drei Jahre unter Heranziehung eines außenstehenden Experten, ist internationaler Standard. Falls der reformierte DCGK von der Ausrichtung an den Organen abrücken sollte, um einen weniger juristischen Ansatz zu wählen, stellt sich die Frage, ob nicht wie im UK Code121 oder ausführlicher die Anleger selbst und ihre Berater angesprochen werden sollten.122 Zu diskutieren bleibt, was besser in das Gesetz oder in andere Kodizes gehört. Ersteres ist eine wichtige Grundsatzfrage zwischen (zwingendem) Recht und Selbstregulierung, Letzteres ist mehr eine Formalfrage.123 116 Zusammenfassend Financial Reporting Council (Fn. 6) No. 9: „The revised Principles and Provisions address the elements of governance most important to board effectiveness and corporate purpose, including a new focus on stakeholders, integrity and corporate culture, diversity and how the overall governance of the company contributes to its long-term success“. 117 Dazu schon oben II 2 a und b, 3 a und b. 118 Dazu schon oben II 3 a und b. 119 Dazu schon oben II 5. Es bleibt abzuwarten, ob Regierungskommission sich von den Vorschlägen des Arbeiskreises, Leitlinien für eine nachhaltige Vorstandsvergütung, Design – Darstellung – Dialog, Juli 2018 (Initiatoren und Koordinatoren Hirt und Kramarsch), beeindrucken lassen oder eigene, schärfere, präzisere Empfehlungen aussprechen wird. 120 Zutreffend Nonnenmacher, WPg 2018, 709, 711. 121 Oben I 2 d am Ende. 122 Hopt, Der Deutsche Corporate Governance Kodex: Grundlagen und Praxisfragen, FS Hoffmann-Becking, 2013, S.  563, 584  f.; Leyens, Informationsintermediäre des Kapitalmarkts, 2017. 123 Vgl. die Aufnahme von Berichtspflichten in Gesetzesnormen und von Teilen der Übernahmevorschriften in den Takeover Code im Vereinigten Königreich (oben I 4).

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3. Durchsetzung Die Durchsetzung durch den comply or explain-Mechanismus, wie europarechtlich vorgezeigt, hat sich im Großen und Ganzen bewährt, auch wenn es wie immer eine ganze Anzahl von Ausreißern gibt.124 Die Anforderungen an die Erklärungen sollten nicht überzogen werden. Gegenüber Überführungen von Kodex-Inhalten in Gesetzesnormen, zumal zwingende, ist Zurückhaltung geboten. Das in der Literatur, insbesondere der akademischen englischen, verbreitete Misstrauen gegenüber Selbstregulierung125 ist, wenn diese sinnvoll gehandhabt wird, nicht gerechtfertigt, jedenfalls nicht generell außerhalb des Bank- und Finanzsektors. Der neue DCGK ist für 2019 angekündigt, dies zeitlich abgestimmt mit der Aktienrechtsnovelle zur Aktionärsrechterichtlinie. Das ist sinnvoll, auch für das Konsultationsverfahren. Dass der Entwurf des neuen DCGK, da er voraussichtlich strenger sein wird, auf Kritik stoßen wird, lässt sich schon jetzt absehen. Die Kritik wird sicher in dem einen oder anderen Punkt berechtigt sein und vielleicht sogar zu Änderungen führen. Entscheidend ist aber zu sehen, dass die DCGK-Kommission die Meinungsführerschaft in Sachen Corporate Governance nicht länger den internationalen institutionellen Investoren und Stimmrechtsberatern überlassen darf, sondern selbstbewusst mit einem Kodex auftritt, der international vermittelbar ist und zugleich den deutschen Besonderheiten wie etwa der Mitbestimmung Rechnung trägt. Zu hoffen ist, dass dann eine Neufassung gefunden wird, die nicht jedes Jahr wie zumeist bisher, wenngleich auch nicht vielleicht nur alle fünf Jahre,126 überarbeitet werden muss.

124 Näher bei Strenger (Fn. 115). Zum comply or explain-Mechanismus umfassend Leyens in Großkommentar zum Aktiengesetz, 5. Aufl. 2018, § 161; Leyens, Comply or Explain im Europäischen Privatrecht, ZEuP 2016, 388. 125 Zu den Chancen der Selbstregulierung mit Unterscheidung nach Bindungsmustern Leyens, Selbstbindungen an untergesetzliche Verhaltensregeln: Gesetz, Vertrag, Verband, Publizität und Aufsichtsrecht, AcP 216 (2015), 611. 126 Vgl. Nonnenmacher, WPg 2018, 709, 712.

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Zur Vervielfältigung des Rechts des Aktionärs zur Teilnahme an der Hauptversammlung Inhaltsübersicht I. Einführung II. Das Teilnahmerecht des Aktionärs und die Befugnis zur Vertreterbestellung im Ausgangspunkt 1. Die Mitgliedschaft als Grundlage der Teilnahmebefugnis 2. Stellvertretung in der Hauptversammlung 3. Weiterverweisung III. Zur Frage der Vervielfältigung des ­Teilnahmerechts bei einem auf eine Aktie beschränkten Aktienbesitz 1. Die Handhabung in der Praxis 2. Keine verdrängende Vollmacht im ­deutschen Recht 3. Zur Frage einer gleichzeitigen Teilnahme des Aktionärs und seines Stellvertreters a) Ausgangspunkt b) Meinungsstand und Diskussion c) Zwischenergebnis 4. Zur Teilnahme mehrerer Stellvertreter eines Aktionärs

a) Problemstellung und -eingrenzung b) Zur Teilnahme mehrerer allein­ vertretungsbefugter Stellvertreter c) Zur Teilnahme mehrerer gesamt­ vertretungsbefugter Stellvertreter 5. Zu den Konsequenzen, wenn der ­Aktionär keine natürliche Person ist a) Ausgangspunkt und Fragestellung b) Juristische Person c) Personengesellschaften und Rechts­ gemeinschaften IV. Zur Frage der Vervielfältigung des Teilnahmerechts bei einem mehrere Aktien umfassenden Anteilsbesitz 1. Problemstellung 2. Meinungsstand 3. Stellungnahme V. Zum Sonderfall der Aufteilung des ­Aktienbesitzes auf mehrere Aktiendepots VI. Ergebnisse

I. Einführung Mit dem ARUG1 ist das Recht zur Teilnahme an der Hauptversammlung und die Vertretung des Aktionärs durch Bevollmächtigte in der Hauptversammlung neu geregelt worden, und zwar in Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie2 und mit dem darin erklärten Ziel, die Ausübung des Stimmrechts durch Aktionäre zu erleichtern und die Regularien zur Bestellung von Stimmrechtsvertretern in der Hauptversammlung

1 Gesetz zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie (ARUG) vom 30.7.2009 (BGBl. I 2009, 2479). 2 Richtlinie 2007/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 über die Ausübung bestimmter Rechte von Aktionären in börsennotierten Gesellschaften, ABl. Nr. L 184/17 vom 14.7.2007 (nachfolgend „Aktionärsrechte-RL“).

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zu vereinfachen.3 Obwohl sich in der praktischen Handhabung der gesetzlichen Regelungen in der Praxis ein in allen wesentlichen Punkten funktionierender modus vivendi etabliert hat, verbleiben eine Reihe von offenen Zweifelsfragen. Namentlich stellt sich die in der Literatur nach wie vor streitig diskutierte Frage, ob, und wenn ja, inwieweit, ein Aktionär mehr als eine Eintrittskarte zur Hauptversammlung verlangen und so sein Teilnahmerecht „vervielfältigen“ kann, etwa durch die Einschaltung von rechtsgeschäftlich bestellten Vertretern. Die dem geschätzten Jubilar, dessen besondere Expertise und bemerkenswerter Langmut bei der nicht selten mühsamen Umsetzung europäischer Rechtsvorgaben größten Respekt verdient, gewidmeten nachfolgenden Ausführungen unternehmen den Versuch einer Bestandsaufnahme und Beantwortung.

II. Das Teilnahmerecht des Aktionärs und die Befugnis zur Vertreterbestellung im Ausgangspunkt 1. Die Mitgliedschaft als Grundlage der Teilnahmebefugnis Nach § 118 Abs. 1 Satz 1 AktG üben die Aktionäre ihre Rechte in der Hauptversammlung aus. Hieraus wird, das ist unstreitig, das Recht der Aktionäre auf Teilnahme an der Hauptversammlung abgeleitet,4 weil andernfalls die Rechtsausübung, insbesondere auch die Ausübung des Rede- und Auskunftsrechts, des Antragsrechts sowie des Stimmrechts (vorbehaltlich der Briefwahl und der Stimmabgabe über das Internet oder andere elektronische Medien) nicht möglich wäre. Sofern der Aktionär die Teilnahmevoraussetzungen erfüllt (bei Namensaktion im Regelfall Eintragung im Aktienregister und rechtzeitige Anmeldung, bei Inhaberaktien Nachweis des Anteilsbesitzes durch Bestätigung des depotführenden Instituts zum „record date“ und rechtzeitige Anmeldung), wird ihm die Teilnahme an der Hauptversammlung gestattet, indem ihm bei börsennotierten Gesellschaften zu diesem Zweck eine Eintrittskarte zur Hauptversammlung ausgestellt wird. Ihre Rechtsgrundlage findet das Teilnahmerecht in der Mitgliedschaft des Aktionärs, wobei der nachfolgend zu behandelnde Meinungsstreit im Kern darin wurzelt, ob dabei die Person des Aktionärs oder aber die (einzelne) Aktie im Vordergrund steht, das Teilnahmerecht also lediglich ein auf die Person bezogenes Hilfsrecht ist oder aber aus dem mit der jeweiligen Aktie verbunden Stimmrecht abzuleiten ist.5

3 Der Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie über die Ausübung der Stimmrechte durch Aktionäre vom 5.1.2006 (2005/0265 (COD)) stellt im Anschluss an den Aktionsplan zur Modernisierung des Gesellschaftsrechts und zur Corporate Governance in der Europä­ ischen Union vor allem auf die Erleichterung der Stimmrechtsvertretung durch Aktionäre im Ausland ab, s. Begründung unter 1., 1.1 und 1.2 (4); die Bestimmungen gelten aber naturgemäß auch für die Stimmrechtsvertretung von Aktionären mit Sitz im Inland. 4 Vgl. zum Meinungsstreit nur Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 118 Rz. 24 f. einerseits, Spindler in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 118 Rz. 31 andererseits. 5 Für Ersteres Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 53a Rz. 7, § 134 Rz. 27; für Letzteres dezidiert Spindler in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3.  Aufl. 2015, §  134 Rz.  60: da jede Aktie das

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Recht des Aktionärs zur Teilnahme an der Hauptversammlung

2. Stellvertretung in der Hauptversammlung Weil die in der Hauptversammlung auszuübenden Aktionärsrechte keinen höchstpersönlichen Charakter haben, ist anerkannt, dass das Teilnahmerecht des Aktionärs nicht notwendig von ihm in eigener Person ausgeübt werden muss, sondern Stellvertretung zulässig ist.6 § 134 Abs. 3 Satz 1 AktG bestätigt dies ausdrücklich für die Ausübung des Stimmrechts und setzt dabei die Teilnahmebefugnis des Stimmrechtsvertreters notwendig voraus. Will der Aktionär einen anderen mit der Ausübung seiner Stimmrechte in der Hauptversammlung bevollmächtigen, bedarf die Erteilung der Vollmacht (ebenso wie deren Widerruf und der Nachweis der Bevollmächtigung gegenüber der Gesellschaft) nach § 134 Abs. 3 Satz 3 AktG der Textform. Von der im Gesetz vorgesehenen Möglichkeit, hiervon in der Satzung oder aufgrund Satzungsermächtigung in der Einladung Erleichterungen vorzusehen, wird in der Praxis soweit ersichtlich nur selten Gebrauch gemacht.7 Die Bevollmächtigung erfolgt entweder schon bei der Anmeldung zur Hauptversammlung, indem die Eintrittskarte von vornherein für den als Vertreter in der Hauptversammlung bestimmten Dritten beantragt wird, oder aber nach Ausstellung der Eintrittskarte für den Aktionär durch Verwendung eines ihm zu diesem Zweck zur Verfügung gestellten Formulars. 3. Weiterverweisung Für die weitere Erörterung, welche Konsequenzen die Bevollmächtigung eines Dritten für das Teilnahmerecht des Aktionärs selbst hat, und inwieweit die Bevollmächtigung mehrerer Vertreter zu einer Vervielfältigung des Teilnahmerechts führen kann, erscheint es sachgerecht, zunächst (unter III.) von dem Grundfall auszugehen, dass der Aktionär über lediglich eine einzige Aktie verfügt, die – wie bei Stückaktien gemäß § 134 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 8 Abs. 3 Satz 2 AktG zwingend und bei Nennbetrags­aktien aufgrund der inzwischen üblichen Einteilung des Grundkapitals in Aktien mit gleichen Nennbeträgen der Regelfall – in der Hauptversammlung eine Stimme vermittelt.8 Ausgehend hiervon ist alsdann unter IV zu fragen, ob und wenn ja welche Konsequenzen sich für die Stellvertretung in der Hauptversammlung ergeben, wenn der Aktionär über mehrere Aktien verfügt, bevor unter V. auf den Sonderfall der Verteilung des Aktienbesitzes auf mehrere Wertpapierdepots einzugehen ist, für den die Aktionärsrechte-RL eine Sonderregelung enthält, die im AktG freilich nicht reflektiert ist. Stimmrecht vermittele, könne für jede Aktie auch (zumindest) ein Vertreter bestellt werden; wohl auch Mülbert in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2017, § 118 Rz. 73. 6 Vgl. nur Butzke, Die Hauptversammlung der AG, 5. Aufl. 2011, Abschn. C Rz. 12; Hüffer/ Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 118 Rz. 26. 7 Verbreitet wird für die börsennotierte Gesellschaft unter Hinweis auf Art. 11 Abs. 2 Aktionärsrechte-RL sogar von der Unzulässigkeit entsprechender Erleichterungen ausgegangen, s. nur Götze, NZG 2010, 93, 95. 8 Die wegen § 12 Abs. 2 AktG spätestens seit dem KonTraG1998 (Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich vom 27.4.1998, BGBl. I 1998, 786) im Aussterben begriffene Figur der Aktie mit Mehrstimmrecht kann im vorliegenden Kontext ausgeklammert bleiben; die nachfolgend entwickelten Grundsätze würden wegen der Einheitlichkeit der Mitgliedschaft aber auch für Aktien mit Mehrstimmrecht gelten.

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III. Zur Frage der Vervielfältigung des Teilnahmerechts bei einem auf eine Aktie beschränkten Aktienbesitz 1. Die Handhabung in der Praxis Bestellt der Aktionär für einen von ihm bevollmächtigten Vertreter eine Eintrittskarte, enthalten die in der Praxis verbreiteten Formulartexte der Gesellschaften, die zu ihrer Hauptversammlung einladen, häufig den Hinweis, dass eine dem Aktionär bereits zugesandte Eintrittskarte oder eine von ihm selbst im Online-Service generierte Eintrittskarte mit Ausstellung der für den Bevollmächtigten bestimmten Eintrittskarte storniert wird.9 Dem liegt ersichtlich die Annahme zugrunde, dass sich der Aktionär entscheiden muss, ob er selbst oder ob sein Vertreter an der Hauptversammlung teilnehmen soll, während die gleichzeitige Teilnahme des Aktionärs und seines Stellvertreters ausscheidet. Im Hinblick auf die Kosten und die logistischen Herausforderungen einer Hauptversammlung, die umso größer sind, je höher die Zahl der Hauptversammlungsteilnehmer ist,10 ist dies eine aus Sicht der Gesellschaften ohne weiteres nachvollziehbare und prima vista legitime Perspektive. Inwieweit sie auch auf gesichertem rechtlichen Grund steht, ist zu prüfen. 2. Keine verdrängende Vollmacht im deutschen Recht Die sich im Ausgangspunkt stellende Frage, ob die Bevollmächtigung eines Dritten zur Teilnahme an der Hauptversammlung dazu führt, dass die eigene Berechtigung des Aktionärs zur Teilnahme und zur Ausübung seines Stimmrechts verdrängt wird, das Teilnahmerechts also gleichsam von dem Aktionär als Rechtsträger auf den von ihm Bevollmächtigten übergeht, wird im Schrifttum übereinstimmend verneint. Zur Begründung wird mit Recht darauf hingewiesen, dass die Rechtsfigur der verdrängenden Vollmacht von der deutschen Rechtsordnung nicht anerkannt wird.11 Der Vollmachtgeber tritt aufgrund der Bevollmächtigung keine eigenen Rechte an den Vollmachtnehmer ab, sondern erweitert durch die Einsetzung eines Bevollmächtigten lediglich seinen eigenen Wirkungskreis. Trotz erteilter Vollmacht bleibt der Vollmacht gebende Aktionär deshalb unverändert und uneingeschränkt Rechtsinhaber und damit auch weiterhin zur Teilnahme an der Hauptversammlung und zur Ausübung des Stimmrechts befugt.12 Die Ausübung seines trotz Vollmachtserteilung fortbestehenden Teilnahmerechts setzt also nicht voraus, dass der Aktionär zunächst die von ihm erteilte Vollmacht widerruft. Deshalb ist es im vorliegenden Zusammenhang auch irrelevant, dass der 9 Davon unberührt bleibt die Handhabung vieler Gesellschaften, in bestimmten Fällen, namentlich bei Ehegattendepots, dem Wunsch nach Ausstellung von zwei oder mehr Eintrittskarten zur Hauptversammlung, je nach Lage des Einzelfalles, nachzukommen. 10 Dazu eindrücklich M. Junge in FS Röhricht, 2005, S. 277, 278 f. 11 Dazu grundsätzlich und mit weit. Nachw. Maier-Reimer in Erman, BGB, 15.  Aufl 2017, § 167 Rz. 1; zum Verstoß einer unwiderruflich verdrängenden Stimmrechtsvollmacht gegen das Abspaltungsverbot s. Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 134 Rz. 21.  12 Vgl. eingeh. dazu Kiefner/Friebel, NZG 2011, 887 f.

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Recht des Aktionärs zur Teilnahme an der Hauptversammlung

Widerruf einer erteilten Stimmrechtsvollmacht nach § 134 Abs. 3 Satz 3 AktG nicht formlos, namentlich nicht lediglich konkludent, erfolgen kann, sondern der Textform bedarf. Das Formerfordernis für die Erteilung der Stimmrechtsvollmacht und ihres Widerrufs dient Transparenzzwecken und dem Schutz der Gesellschaft vor Rechtsunsicherheit, gibt aber nichts für die Annahme her, der Gesetzgeber habe mit dem Textformerfordernis für die Stimmrechtsvollmacht eine die Rechtsposition des vollmachtgebenden Aktionärs überlagernde, verdrängende Vollmacht etablieren wollen.13 3. Zur Frage einer gleichzeitigen Teilnahme des Aktionärs und seines Stellvertreters a) Ausgangspunkt Von dem Befund, dass es im deutschen Recht keine verdrängende Vollmacht gibt, ist aber die hier interessierende Frage zu sondern, ob der Bevollmächtigte auch gleichzeitig mit dem Aktionär die ihm kraft Bevollmächtigung zur Ausübung überlassenen Rechte in Anspruch nehmen kann mit der Folge, dass es im Ergebnis zu einer Rechtsverdopplung kommt. Für das dem Stimmrechtsvertreter zur Ausübung überlassene Stimmrecht ist die Antwort klar: es kann keine Vervielfältigung des Stimmrechts geben, sondern die mit der Aktie verbundene eine Stimme kann in der Hauptversammlung nur einmal abgegeben werden. Maßgeblich ist im Kollisionsfall insoweit die zeitliche Priorität. Hat der Bevollmächtigte die Stimme bereits abgegeben, ist das Stimmrecht verbraucht, der Aktionär kann nicht nochmals abstimmen, und umgekehrt. b) Meinungsstand und Diskussion Was das Teilnahmerecht anbelangt, wird die Frage in der Literatur uneinheitlich behandelt; einschlägige Rechtsprechung liegt soweit ersichtlich nicht vor. Nach beachtlichen Stimmen in der Literatur soll der Aktionär in eigener Person trotz Einschaltung eines Vertreters ebenfalls teilnahmeberechtigt bleiben, womit erkennbar nicht lediglich der oben (2.) angesprochene Grundsatz wiederholt wird, dass es im deutschen Recht keine verdrängende Vollmacht gibt, sondern vielmehr weitergehend gemeint ist, dass sowohl der Aktionär als auch der von ihm Bevollmächtigte gleichzeitig an der Hauptversammlung teilnehmen dürfen, sodass es im Ergebnis zu einer Verdopplung des Teilnahmerechts kommt.14 Nach dieser Auffassung soll also ein Aktionär, der in Begleitung einer weiteren Person, etwa eines Beistands oder Beraters, an der Hauptversammlung teilnehmen will, dem Dritten durch Bevollmächtigung ein abgeleitetes Teilnahmerecht verschaffen können und auf diese Weise in der Lage sein,

13 Zutr. Kiefner/Friebel, NZG 2011, 887, 880. 14 Vgl. Mülbert in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2017, § 118 Rz. 73; Bärwaldt in Semler/Volhard/ Reichert (Hrsg.), Arbeitshandbuch für die Hauptversammlung, 4. Aufl. 2018, § 8 Rz. 42; im Ergebnis auch Butzke, Die Hauptversammlung der AG, 5. Aufl. 2011, Abschn. C Rz. 15 mit Fn. 21; wohl auch M. Junge in FS Röhricht, 2005, S. 277, 283.

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die gemeinsame Teilnahme auch gegen den Willen der Gesellschaft bzw. des Versammlungsleiters ermöglichen können. Freilich ist bei den Vertretern dieser Auffassung nicht ganz klar, ob dies auch dann gelten soll, wenn der Aktionär – wie in der hier zunächst erörterten Fallkonstellation – überhaupt nur über eine einzige Aktie verfügt, oder ob für die für zulässig gehaltene Vervielfältigung des Teilnahmerechts auch ein Aktienbesitz in zumindest entsprechender Anzahl vorausgesetzt wird. Offensichtlich soll es dabei aber nicht auf die Anzahl der gehaltenen Aktien ankommen. Das Vorstehende soll nach diesen Stimmen nämlich unabhängig davon gelten, ob der Aktionär die Bevollmächtigung lediglich für einen Teil seiner Aktien oder aber für seinen gesamten Aktienbestand erklärt.15 Wenn aber die Bevollmächtigung eines Dritten mit der Rechtsausübung aus allen von dem Aktionär gehaltenen Aktien nichts an dem Fortbestehen des (gleichzeitig ausübbaren) Teilnahmerechts des Aktionärs selbst ändern soll, kann folgerichtig auch nichts anderes für den Fall gelten, dass der Aktionär überhaupt nur über eine einzige Aktie verfügt. Eine tragfähige Begründung für diese Auffassung ist indessen nicht ersichtlich. Das Gesetz selbst gibt für ihre Unterstützung nichts her. Auch aus der Nichtanerkennung der verdrängenden Vollmacht im deutschen Recht folgt, wie gezeigt, für die Frage der gleichzeitigen Teilnahme an der Hauptversammlung im Sinne einer Verdopplung der Rechtsausübung nichts. Mülbert16 scheint anzunehmen, dass das Teilnahmerecht von dem Stimmrecht getrennt werden kann und demgemäß der Aktionär entweder sein Teilnahmerecht einem Dritten zur stellvertretenden Ausübung überlassen, gleich­ zeitig das Stimmrecht aber bei sich behalten kann, und umgekehrt, und dass weiter, damit auch in diesem Fall das Stimmrecht ausgeübt werden kann, dem Stimmrechts­ inhaber ein abgeleitetes Teilnahmerecht zukommt, das alsdann neben das Teilnahmerecht der Aktionärs selbst tritt. Sollte Mülbert aaO so zu verstehen sein, würde dies indessen der Einheitlichkeit der Mitgliedschaft widersprechen und das Abspaltungsverbot berühren. Richtig erscheint demgegenüber, dass das aus einer Aktie vermittelte Teilnahmerecht ebenso wie das Stimmrecht nur einmal ausgeübt werden kann.17 Es ist auch und insbesondere überhaupt kein Grund dafür ersichtlich, der es rechtfertigen könnte, zur sachgerechten Rechtsausübung aus der Aktie einer Verdopplung des Teilnahmerechts das Wort zu reden. Die Belange der Gesellschaft, die Anzahl der an der Hauptversammlung teilnehmenden Personen zu begrenzen, sprechen klar dagegen. Sofern die Komplexität der Beschlussgegenstände oder besondere Umstände in der Person des Aktionärs die Begleitung durch einen Beistand als erforderlich erscheinen lassen, ist diesem Anlie15 Deutlich Mülbert in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2017, § 118 Rz. 73: „Trotz Einschaltung eines Vertreters … bleibt der Aktionär selbst ebenfalls teilnahmeberechtigt. Das gilt unabhängig davon, ob er diese Gestaltungen lediglich für einen Teil seiner Aktien oder seinen gesamten Aktienbestand vereinbart.“ 16 Mülbert in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2017, § 118 Rz. 73; wohl auch M. Junge in FS Röhricht, 2005, S. 277, 283 f. 17 Richtig und mit überzeugender Begründung Kiefner/Friebel, NZG 2011, 887, 889. 

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gen im Rahmen der Treupflicht und nach dem pflichtgemäßen Ermessen des Versammlungsleiters durch Ausstellung einer Gästekarte Rechnung zu tragen. Die Entscheidung des Gesetzgebers, der Gesellschaft nach Maßgabe von § 134 Abs. 3 Satz 2 AktG die Zurückweisung von mehreren Stimmrechtsvertretern bis auf einen zu gestatten, bestätigt das Vorstehende. Zwar ist § 134 Abs. 3 Satz 2 AktG in diesem Fall nicht unmittelbar einschlägig, weil der Aktionär in der hier behandelten Konstella­ tion gerade nicht mehrere Bevollmächtigte bestellt hat, sondern nur einen. Nicht fern liegt aber eine entsprechende Anwendung des Zurückweisungsrechts der Gesellschaft, wenn der Aktionär und gleichzeitig sein Stellvertreter an der Hauptversammlung teilnehmen wollen. Denn die Wertung des Gesetzes ist ja, dass eine Vervielfältigung des Teilnahmerechts ausgeschlossen werden und die Gesellschaft in die Lage versetzt werden soll, sich vor der gleichzeitigen Anwesenheit von mehr als einer Person für einen Aktienbesitz zu schützen. Zu folgen ist deshalb der Auffassung, nach der das Teilnahmerecht auch durch Einschaltung eines Bevollmächtigten nicht vervielfältigt werden kann; vielmehr hat die Einschaltung eines Bevollmächtigten insofern „verdrängende“ Wirkung, als dass bei Teilnahme des Bevollmächtigten der Aktionär nicht gleichzeitig an der Hauptversammlung teilnehmen kann, und umgekehrt.18 Maßgeblich ist insoweit wie bei der Stimmrechtsausübung das Prioritätsprinzip. Ist der Aktionär in der Hauptversammlung bereits anwesend, muss dem Stimmrechtsvertreter kein Zugang mehr gewährt werden, und umgekehrt. Der Aktionär ist, sofern er anstelle seines bereits anwesenden Vertreters Zugang zur Hauptversammlung erlangen will, darauf verwiesen, die erteilte Vollmacht zunächst zu widerrufen. c) Zwischenergebnis Jedenfalls dann, wenn der Aktionär überhaupt nur über eine Aktie verfügt, ist danach dem Aktionär die Entscheidung auferlegt, ob er entweder selbst oder aber sein Vertreter für ihn an der Hauptversammlung teilnehmen soll. Eine gleichzeitige Teilnahme des Aktionärs und seines Vertreters ist demgegenüber ausgeschlossen.19 Dass es dem Versammlungsleiter unbenommen ist, im Rahmen seines pflichtgemäßen Ermessens sowohl dem Aktionär als auch seinem Stimmrechtsvertreter die Teilnahme an der 18 Vgl. Hoffmann in Spindler/Stilz, AktG, 3. Aufl. 2015, § 118 Rz. 14; Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 118 Rz. 60; Kiefner/Friebel, NZG 2011, 889; Ziemons/Binnewies in Handbuch Aktiengesellschaft, 79. Lieferung Stand 2018, Rz. 10.52; offenkundig auch Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 134 Rz. 27 mit dem dezidierten Hinweis darauf, dass das Teilnahmerecht als bloßes Hilfsrecht auf die Person und nicht auf die Aktie bezogen ist, freilich in Auseinandersetzung mit der Frage, ob der Aktionär mehrere Bevollmächtigte bestellen kann; im Ergebnis auch Großfeld/Spennemann, AG 1979, 128, 130 f., die die Frage freilich im Kontext der Vertretung einer juristischen Person als Aktionär durch mehrere Organvertreter diskutieren (dazu noch unten). 19 Vgl. in diesem Sinne und überzeugend Hoffmann in Spindler/Stilz, AktG, 3.  Aufl. 2015, § 118 Rz.14: „Grundsätzlich kann die Vertretung nicht zu einer Erhöhung der Teilnehmerzahl führen. Die Teilnahme des Vertreters schließt also einerseits das eigene Teilnahmerecht des

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Hauptversammlungsleiter zu gestatten, bleibt unberührt, ein Rechtsanspruch hierauf besteht jedenfalls nicht. 4. Zur Teilnahme mehrerer Stellvertreter eines Aktionärs a) Problemstellung und -eingrenzung Nach allgemeinem Vollmachtsrecht ist es ohne weiteres möglich, dass der Vollmachtgeber in seinem Rechtskreis auch mehrere Bevollmächtige nebeneinander mit dem Recht zur Stellvertretung ausstattet.20 Für die Stimmrechtsvollmacht gilt im Ausgangspunkt nichts anderes. Dabei ist zwischen der Erteilung von Einzelvollmachten einerseits (nachfolgend b)) und der Erteilung von Gesamtvollmacht an mehrere nur gemeinsam handlungsbefugte Bevollmächtigte (sodann unter c)) zu unterscheiden. Was das Verhältnis dieser mehreren Stimmrechtsvertreter zum vollmachtgebenden Aktionär anbelangt, ist im Hinblick auf die Hauptversammlung eine gleichzeitige Teilnahme von Vollmachtgeber und Bevollmächtigtem aus denselben Gründen ausgeschlossen, wie schon oben (unter 3.) zur Bestellung eines Vertreters ausgeführt. Jedenfalls bei Besitz von nur einer Aktie muss der Aktionär entscheiden, ob er selbst an der Hauptversammlung teilnehmen oder aber sich in ihr vertreten lassen will. Eine Vervielfältigung des Teilnahmerechts ist insoweit nicht begründbar. Fraglich ist nach dem vorstehend Ausgeführten nur, was für die gleichzeitige Teilnahme der mehreren Bevollmächtigten an der Hauptversammlung gilt. b) Zur Teilnahme mehrerer alleinvertretungsbefugter Stellvertreter Die Befugnis, mehrere Stellvertreter für die Ausübung des Stimmrechts zu bestellen, folgt aus den allgemeinen Grundsätzen des Rechts der Stellvertretung. Die Aktionärsrechte-RL muss hierfür, wie dies gelegentlich geschieht, nicht bemüht werden. Schon vor dem ARUG war anerkannt, dass die Gesellschaft jedenfalls auf der Grundlage einer entsprechenden Satzungsbestimmung nur einen Vertreter zur Hauptversammlung zulassen musste, wenn der Aktionär mehrere Dritte zu seiner Vertretung bevollmächtigt hatte. Die Bevollmächtigung mehrere Dritter mit der Befugnis, in der Hauptversammlung das Stimmrecht für den Aktionär ausüben zu können, ist auch von praktischer Relevanz in den Fällen, in denen der Aktionär die Vertretung seiner Stimme in der Hauptversammlung unbedingt sicherstellen und deshalb Vorsorge für den Fall treffen will, dass ein von ihm benannte Stimmrechtsvertreter ausfällt oder verhindert ist.

Aktionärs aus, andererseits kann er auch nicht mehrere Vertreter zur Teilnahme legitimieren (§ 134 Abs. 3 Satz 2 AktG). Letzteres gilt auch bei Besitz mehrerer Aktien, da diese nur ein einziges Mitgliedschaftsverhältnis begründen und damit auch nur ein einziges Teilnahmerecht. … Ansonsten lässt sich eine Vervielfältigung des Teilnahmerechts nur durch die treuhänderische Vollrechtsübertragung oder die Legitimationszession bezüglich einzelner Aktien erreichen.“ 20 Vgl. nur Rieckers in Spindler/Stilz, AktG, 3. Aufl. 2015, § 134 Rz. 64 m. weit. Nachw.

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Von der ohne weiteres zu bejahenden Frage, ob der Aktionär befugt ist, mehrere Stimmrechtsvertreter zu bestellen, ist indessen diejenige zu sondern, ob sich hieraus auch ein gegenüber der Gesellschaft durchsetzbares Recht dieser mehreren Stimmrechtsvertreter zur Teilnahme an der Hauptversammlung ergibt. Diese Frage hat das ARUG zugunsten der Gesellschaften, sich vor einer Vervielfältigung der Zahl der Teilnahmeberechtigten durch Einschaltung von Stimmrechtsvertretern zu schützen, entschieden. § 134 Abs. 3 Satz 2 AktG in der Fassung nach dem ARUG sieht nämlich ein Zurückweisungsrecht der Gesellschaft in Fällen der Mehrfachvertretung vor. Danach kann die Gesellschaft, wenn der Aktionär mehrere Bevollmächtigte bestellt, einen oder mehrere weitere Bevollmächtigte zurückweisen. Sie muss, wenn sie von der Zurückweisungsbefugnis Gebrauch macht, also nur einen Bevollmächtigten je Aktionär zur Hauptversammlung zulassen.21 Ein weitergehender Anspruch auf eine Präsenz mehrerer Stimmrechtsvertreter in der Hauptversammlung besteht nicht. Die verschiedentlich anzutreffende Feststellung, dass ARUG habe die Zulässigkeit der Mehrfachvertretung anerkannt, ist demgegenüber zumindest missverständlich. Dass die Mehrfachvertretung zulässig ist, folgt aus allgemeinen Grundsätzen des Vollmachtsrechts. Die davon zu sondernde Frage des Rechts zur Teilnahme an der Hauptversammlung hat der Gesetzgeber dahin entschieden, dass ein gegen die Gesellschaft durchsetzbarer Rechtsanspruch nur auf Vertretung durch einen Stimmrechtsvertreter besteht. Ob die Gesellschaft von der Befugnis zur Zurückweisung nach § 134 Abs. 3 Satz 2 AktG Gebrauch macht oder nicht, steht in ihrem Ermessen. Sie muss dabei allerdings den Gleichbehandlungsgrundsatz beachten. Darüber hinaus wird im Schrifttum für bestimmte Sonderfälle auf die Einschränkung des Zurückweisungsrechts aufgrund der Treupflicht verwiesen.22 Der Treupflichtgedanke dürfte auch der Aussage von Koch zugrunde liegen, bei Ausübung des Zurückweisungsrechts sei auf berechtigte Belange der Aktionäre Rücksicht zu nehmen. Erfordere die sachgerechte Vertretung wegen der Eigenart der Beschlussgegenstände zum Beispiel die Begleitung durch einen Anwalt und Wirtschaftsprüfer, so sollten beide zugelassen werden.23 Richtigerweise folgt die im Einzelfall anzunehmende Verpflichtung der Gesellschaft, einen Beistand zuzulassen, indessen nicht aus einer Einschränkung des Zurückweisungsrechts, sondern aus der Treupflicht, dem Aktionär im Sonderfall die Begleitung durch einen Dritten zu gestatten, um ihm die sachgerechte Wahrnehmung seiner Rechte zu ermöglichen. c) Zur Teilnahme mehrerer gesamtvertretungsbefugter Stellvertreter Fraglich ist, was gilt, wenn der Aktionär zwei oder mehr Personen Gesamtvollmacht erteilt mit der Maßgabe, dass sie nur gemeinsam zur Stimmrechtsvertretung bevollmächtigt sind. Dem Gesetz ist eine hierauf zielende Differenzierung nicht zu entneh21 Vgl. dazu nur Arnold in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 134 Rz. 48. 22 Vgl. Bayer/Sarakinis, NZG 2018, 56, 565 f. (AG dürfe nicht willkürlich alle bis auf den für sie „günstigsten” Vertreter zurückweisen). 23 Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 134 Rz. 27.

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men, es stellt lediglich auf die Anzahl der Stimmrechtsvertreter ab, ohne hinsichtlich der Art der ihnen erteilten Vollmacht zu unterscheiden. § 134 Abs. 3 Satz 2 AktG ist deshalb auch in diesem Fall einschlägig: die Gesellschaft muss nur einen der mehreren Stimmrechtsvertreter zu ihrer Hauptversammlung zulassen. In diesem Fall muss deshalb der eine Bevollmächtigte dem anderen Untervollmacht erteilen, damit der Aktionär bei der Stimmabgabe wirksam vertreten werden kann.24 5. Zu den Konsequenzen, wenn der Aktionär keine natürliche Person ist a) Ausgangspunkt und Fragestellung Die vorstehenden Ausführungen treffen keine Unterscheidung danach, ob der Vollmacht erteilende Aktionär eine natürliche Person ist oder etwa eine juristische Person, die durch ihre organschaftlichen Vertreter handelt. Eine juristische Person, die, vertreten durch ihr Vertretungsorgan, einen Dritten mit der Wahrnehmung ihrer Aktionärsrechte in der Hauptversammlung ermächtigt hat, kann deshalb ebenso wie der Aktionär, der natürliche Person ist, nicht gleichzeitig mit ihrem Vertreter an der Hauptversammlung teilnehmen, und von mehreren rechtsgeschäftlich bestellten Stimmrechtsvertretern der juristischen Person muss nur einer zu Hauptversammlung zugelassen werden. Fraglich ist aber, ob sich aus dem Vorstehenden auch Konsequenzen für die Teilnahme der juristischen Person oder Personengemeinschaft und die Zahl der für sie zur Hauptversammlung zuzulassenden organschaftlichen Vertreter ergeben. b) Juristische Person Anders als die natürliche Person erlangt die juristische Person Handlungsfähigkeit erst und nur mithilfe ihrer gesetzlichen Vertreter. Ihre Mitgliedschaftsrechte ausüben und an der Hauptversammlung teilnehmen kann die juristische Person deshalb nur, indem ihre organschaftlichen Vertreter an der Hauptversammlung teilnehmen oder einen Dritten zur Vertretung der Gesellschaft bevollmächtigen. Für die Einordnung in die hier behandelte Problematik ist zunächst wesentlich, dass das Handeln der organschaftlichen bzw. gesetzlichen Vertreter in vertretungsberechtigter Zahl kein Fall der Bevollmächtigung ist; die gesetzlichen Vertreter der juristischen Person bedürfen mit anderen Worten keiner Vollmacht, sondern leiten ihre Vertretungsbefugnis aus ihrer Organstellung ab. Eine zugunsten der juristischen Person ausgestellte Eintrittskarte können die organschaftlichen Vertreter deshalb nutzen, wobei sie gegebenenfalls ihre Vertretungsbefugnis durch Vorlage eines Handelsregisterauszugs nachzuweisen haben.25 24 Überzeugend Arnold in MünchKomm. AktG, 4.  Aufl. 2018, §  134 Rz.  50; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 134 Rz. 27; Rieckers in Spindler/Stilz, AktG, 3. Aufl. 2015, § 134 Rz. 64. 25 Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 118 Rz. 60; Butzke, Die Hauptversammlung der AG, 5. Aufl. 2011, Abschn. C Rz. 13; Arnold in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 134 Rz. 68.

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Insoweit stellt sich auch nicht die Frage, ob die Gesellschaft befugt ist, mehrere für die Gesellschaft auftretende gesetzliche Vertreter nach § 134 Abs. 3 Satz 2 AktG zurückzuweisen. Die Norm ist schon nicht einschlägig, weil sie sich nur auf die rechtsgeschäftlich erteilte Vollmacht bezieht.26 Soweit in der Literatur die Auffassung vertreten wird, die Gesellschaft könne mehrere organschaftliche Vertreter bis auf einen auch im Falle einer Gesamtvertretungsbefugnis zurückweisen, sodass, wie bei der rechtsgeschäftlich erteilten Gesamtvollmacht, auch beim Handeln mehrerer gesamtvertretungsbefugter Organvertreter einer juristischen Person diese einem von ihnen Untervollmacht erteilen müssten, damit dieser für die Gesellschaft an der Hauptversammlung teilnehmen kann,27 ist dem nicht zu folgen. Allerdings dürfte eine entsprechende Anwendung des Zurückweisungsrechts dann in Betracht kommen, wenn mehr als die erforderliche Anzahl an gesetzlichen Vertretern an der Hauptversammlung teilnehmen möchten, also etwa, wenn bei einer Aktiengesellschaft mit der gesetzlichen Regelvertretung durch zwei Vorstandsmitglieder im Falle eines vielköpfigen Vorstands mehr als zwei oder gar sämtliche Vorstandsmitglieder an der Hauptversammlung teilnehmen wollen. Richtigerweise ist dann die Gesellschaft befugt, die juristische Person als Aktionärin darauf zu verweisen, in der Hauptversammlung lediglich durch gesetzliche Vertreter in der nach Maßgabe von Gesetz und Satzung erforderlichen Zahl präsent zu sein.28 Von der Vertretung durch die gesetzlichen Vertreter zu sondern ist der Fall, dass die juristische Person, vertreten durch ihr Vertretungsorgan, durch Rechtsgeschäft Stimmrechtsvertreter zur Teilnahme an der Hauptversammlung bevollmächtigt. Dann ist wie bei der natürlichen Person § 134 Abs. 3 Satz 2 AktG und das dort bestimmte Zurückweisungsrecht ohne weiteres einschlägig. c) Personengesellschaften und Rechtsgemeinschaften Ist eine als selbständiger Rechtsträger anerkannte Personengesellschaft (OHG, KG, Außen-GbR, Partnerschaftsgesellschaft, diesen als Rechtsform sui generis gleichgestellt auch die Vor-Kapitalgesellschaft) oder ein nichtrechtsfähiger Verein Aktionär, gilt das unter b) zur juristischen Person Ausgeführte entsprechend. Demgegenüber gilt bei Bruchteilsgemeinschaften ebenso wie bei Erben- und Gütergemeinschaften im Ausgangspunkt § 69 AktG; diese sind darauf verwiesen, die Rechte aus der Aktie durch einen gemeinsamen Vertreter ausüben zu lassen. Hierunter fällt auch das häufig anzutreffende Gemeinschaftsdepot von Ehegatten. Bestellen die Mitglieder solcher Rechtsgemeinschaften, was zulässig ist, mehrere Personen, ist §  134 Abs.  3 Satz 2 26 Arnold in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 118 Rz. 60. 27 Arnold in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 134 Rz. 50, nach dem die Gesellschaft befugt sein soll, von mehreren gesamtvertretungsbefugte organschaftliche Vertreter einer juristischen Person nur einen zuzulassen. 28 So im Ergebnis auch Butzke, Die Hauptversammlung der AG, 5.  Aufl. 2011, Abschn. C Rz.  13, freilich ohne Begründung: „Mehrere einzelvertretungsberechtigte Organmitglieder muss die Gesellschaft nicht gleichzeitig zulassen.“; im Ergebnis auch Hoffmann in Spindler/ Stilz, AktG, 3. Aufl. 2015, § 118 Rz. 14. 

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AktG einschlägig mit der Folge, dass die Gesellschaft nur einen von diesen zur Hauptversammlung zulassen muss.29 Dann besteht, wie in den oben behandelten Konstellationen, die Notwendigkeit, einen der mehreren gemeinsamen Vertreter im Wege der Untervollmacht alleinige Handlungsfähigkeit zu verschaffen, um die Rechte aus der Aktie in der Hauptversammlung wahrnehmen zu können.

IV. Zur Frage der Vervielfältigung des Teilnahmerechts bei einem mehrere Aktien umfassenden Anteilsbesitz 1. Problemstellung Fraglich ist, ob sich an den unter III. gefundenen Ergebnissen etwas ändert, wenn der Aktionär nicht über lediglich eine, sondern über mehrere Aktien verfügt. Wenn man, wie von einigen Stimmen in der Literatur angenommen, angesichts der kapitalistischen Struktur der Aktiengesellschaft die einzelne Aktie als Bezugspunkt der Aktionärsrechte und namentlich auch des Teilnahmerechts ausmacht könnte sich hieraus auf eine Vervielfältigung des Teilnahmerechts nach Maßgabe der von dem Aktionär gehalten Aktienanzahl schließen lassen. Begreift man das Teilnahmerecht als personenbezogenes Hilfsrecht, ergibt sich demgegenüber keine relevante Abweichung zu den Ausführungen unter II. 2. Meinungsstand Nach der Auffassung, die die einzelne Aktie als Bezugspunkt des Stimm- und Teilnahmerechts ausmacht, soll der Aktionär für jede einzelne von ihm gehaltene Aktie einen anderen Vertreter bestellen können.30 Zur Begründung verweisen diese Stimmen insbesondere darauf, dass das Stimmrecht aus den einem Aktionär gehörenden Aktien uneinheitlich ausgeübt werden könne. Nach der Gegenauffassung ist der Aktionär wegen der Einheitlichkeit seiner Mitgliedschaft grundsätzlich nicht befugt, die Vertretungsbefugnis auf einzelne Aktien zu beziehen mit der Folge, dass sich die Zahl der zur Teilnahme an der Hauptversammlung zuzulassenden Bevollmächtigten entsprechend erhöhen kann.31 Die Aktionärsrechte-RL geht ersichtlich von dem Aktionär und nicht von der einzelnen Aktie als Bezugspunkt aus, denn nach Art. 10 Abs. 2, 2. Unterabs. Satz 2 können die Mitgliedstaaten „die Zahl der Personen begrenzen, die ein Aktionär je Hauptversammlung als Vertreter bestellen darf.“

29 Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 69 Rz. 4; Bezzenberger in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 69 Rz. 7. 30 Vgl. Spindler in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 118 Rz. 31, § 134 Rz. 60 m. weit. Nachw. in Fn. 203; Ziemons in Handbuch Aktiengesellschaft, Stand 66. Lieferung 7.2014, Rz. 10.522; Heckelmann, AcP 170 (1970), 306, 330 f. 31 Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 118 Rz. 60 mit Darstellung zur Entwicklung des Diskussionsstandes; im Ausgangspunkt auch Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl 2018, § 118 Rz. 25, § 134 Rz. 27; Hoffmann in Spindler/Stilz, AktG, 3. Aufl. 2015, § 118 Rz. 14.

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3. Stellungnahme Es ist zutreffend, dass der Aktionär seine Stimmen aus mehreren Aktien nicht einheitlich ausüben muss, sondern für die eine Aktie mit Ja und für die andere mit Nein und sich für die dritte der Stimme enthalten kann. Das belegt schon der Fall, dass sich der Aktionär etwa nur für einen Teil seines Aktienbesitzes einer Stimmbindung unterwirft. Die Frage ist heute, soweit ersichtlich, auch nicht mehr streitig.32 Indessen folgt hieraus nichts für die hier interessierende Frage, ob der Aktionär mehrere Stimmrechtsvertreter für seinen Aktienbesitz bestellen darf und diesen alsdann die Teilnahme an der Hauptversammlung zu gestatten wäre. Mit der Möglichkeit der uneinheitlichen Stimmabgabe hat die Zahl der Stimmrechtsvertreter nämlich nichts zu tun, die uneinheitliche Stimmabgabe ist auch dem Aktionär selbst oder einem einzigen von ihm bestellten Stimmrechtsvertreter möglich; einer Aufteilung des Aktienbesitzes auf verschiedene Repräsentanten in der Hauptversammlung bedarf es hierfür nicht. Auch die These, der Aktionär müsse das Recht haben, einen Begleiter in die Hauptversammlung mitzubringen, verfängt nicht. Sofern dieses Recht im Einzelfall wegen der besonderen Umstände Anerkennung finden mag, kann es nicht von der Anzahl der von dem auf Begleitung angewiesenen Aktionär gehaltenen Aktien abhängen. Richtigerweise ist die Frage, ob besondere Belange die Begleitung durch einen Dritten in der Hauptversammlung erfordern, im Rahmen der Treupflichtbindung der Gesellschaft gegenüber dem Aktionär zu lösen, nicht aber über die Versuche, ein abgeleitetes Teilnahmerecht durch Übertragung des Stimmrechts im Rahmen einer Stimmrechtsvertretung zu lösen (dazu schon oben III.3.b)). Letztlich hat aber jedenfalls die Aktionärsrechte-RL die Frage zugunsten des Rechts der Gesellschaften entschieden, je Aktionär nur einen Vertreter zur Hauptversammlung zuzulassen, und sich damit gegen einen Anspruch des Aktionärs entschieden, von der Gesellschaft die Zulassung von mehr als einem Stimmrechtsvertreter zur Hauptversammlung verlangen zu können. In diesem engeren Sinne hatte es noch im Vorschlag der EU-Kommission für eine Aktionärsrechte-RL vom 5. Juni 2006 in Art. 10 Abs. 1 letzter Satz ausdrücklich geheißen: „Ein Aktionär kann lediglich eine Person pro Hauptversammlung zu seinem Stimmrechtsvertreter bestellen.“

Damit war, wie sich deutlich aus der Begründung ergibt, ein Vertreter für den jeweiligen gesamten Aktienbesitz des Aktionärs gemeint. Diese vorgeschlagene Begrenzung auf maximal einen Stimmrechtsvertreter ist allerdings auf Kritik gestoßen; u.a. hat sich der Handelsrechtsausschuss des DAV dazu wie folgt geäußert:33

32 Grundlegend Heckelmann, AcP 170 (1970), 306 ff.; für die aktuelle, ganz herrsch. Auffassung nur Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl 2018, § 133 Rz. 20 f. m. Nachw. 33 NZG 2016, 577, 578.

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Hans-Christoph Ihrig „Der Handelsrechtsausschuss hält das für eine Überregulierung. Aktionäre unterhalten nicht selten Depots bei mehreren Kreditinstituten und lassen sich dann in der Hauptversammlung entsprechend durch mehrere Institute vertreten; ein Grund, dies zu unterbinden, ist nicht ersichtlich ….“

In der vom europäischen Parlament schlussendlich verabschiedeten Fassung der Aktionärsrechte-RL ist diese Einschränkung dann nicht mehr enthalten, und im Regierungsentwurf zum ARUG (BT-Drucks. 16/11642, S.  329), mit dem die Aktionärsrechte-RL in das deutsche Recht umgesetzt worden ist, heißt es: „Die Neuregelung in (§ 134) Abs. 3 Satz 2 ermöglicht es, mehrere Bevollmächtigte zu benennen. Ein Verbot der Mehrfachvertretung wäre eine zu unflexible Regelung.“

Zugleich hat das ARUG aber von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, den Gesellschaften die Zurückweisung von mehr als einem Vertreter je Aktionär zu gestatten. Die Frage nach der Zulässigkeit einer Mehrfachvertretung hat der Gesetzgeber mit dem ARUG also dahin entschieden, dass der Aktionär zwar mehrere Stimmrechtsvertreter bestellen kann, indessen nur einem von ihnen Zugang zur Hauptversammlung zu gewähren ist, während ein weitergehender Anspruch des Aktionärs auf Hauptversammlungspräsenz nicht besteht.

V. Zum Sonderfall der Aufteilung des Aktienbesitzes auf mehrere Aktiendepots Eine praktisch wichtige Ausnahme von dem Grundsatz „höchstens ein Vertreter je Aktionär“ besteht allerdings in den Fällen, in denen der Aktionär seinen Aktienbestand auf zwei oder mehr Wertpapierdepots verteilt hat. Wie sich aus der Aktionärsrechte-RL ergibt, darf die Gesellschaft von der Zurückweisungsbefugnis dann keinen Gebrauch machen, wenn der Aktionär mehrere Aktiendepots unterhält und einen Vertreter je Depotbestand bevollmächtigt. Das ergibt sich aus Art. 10 Abs. 2 der Aktionärsrechte-RL. Dort ist in Unterabsatz 2 Satz 1 zwar zunächst bestimmt, dass die Mitgliedstaaten die Zahl der Personen begrenzen können, die ein Aktionär je Hauptversammlung als Vertreter bestellen darf. Von dieser Begrenzungsmöglichkeit hat das ARUG mit der Neufassung von § 134 Abs. 3 Satz 2 AktG Gebrauch gemacht, indem es ein entsprechendes Zurückweisungsrecht der Gesellschaft eröffnet hat. Allerdings heißt es in der Richtlinie im Folgesatz dann einschränkend: „Hält ein Aktionär Aktien einer Gesellschaft in mehr als einem Wertpapierdepot, so hindert eine solche Begrenzung den Aktionär jedoch nicht daran, für die in jedem einzelnen Wertpapierdepot gehaltenen Aktien jeweils einen eigenen Vertreter für jede Hauptversammlung zu bestellen.“

Diese Rückausnahme in der Richtlinie (auch bei Beschränkung der Zahl der Vertreter mindestens ein Vertreter je Wertpapierdepot) ist in § 134 Abs. 3 Satz 2 AktG nicht reflektiert und in den Gesetzesmaterialien zum ARUG finden sich dazu auch keine Ausführungen. Auch in der Kommentarliteratur wird bei der Befassung mit dem Zurückweisungsrecht auf die Besonderheit bei mehreren Aktiendepots verbreitet nicht 422

Recht des Aktionärs zur Teilnahme an der Hauptversammlung

eingegangen; die insoweit in der Richtlinie enthaltene Rückausnahme bleibt unerwähnt.34 Das überrascht, weil angesichts des klaren Wortlauts der Richtlinie richtigerweise davon auszugehen ist, dass das Zurückweisungsrecht der Gesellschaft seine Grenze dann findet, wenn der Aktionär mehrere Aktiendepots unterhält und für jeden Depotbestand einen anderen Stimmrechtsvertreter bestellt.35 Insoweit ist § 134 Abs. 3 Satz 2 AktG richtlinienkonform einschränkend auszulegen. Allenfalls zu erwägen wäre eine einschränkende Auslegung dahin, dass die Aktionärsrechte-RL aaO lediglich die Bevollmächtigung des jeweils depotführenden Kreditinstituts gemeint hat, nicht aber die Bevollmächtigung sonstiger Dritter.36 In der Richtlinie selbst kommt eine solche Einschränkung indessen nicht zum Ausdruck, und auch die vorgenannten Literaturstimmen beschränken den Grundsatz „ein Vertreter je Wertpapierdepot“ nicht in diesem Sinne. Danach mag zwar das Depotstimmrecht der Banken der Anlass für die Richtlinienbestimmung gewesen sein, eine Beschränkung der Befugnis des Aktionärs, je Depot einen anderen Vertreter als das depotführende Institut bestellen zu können, wird belastbar aber damit nicht begründet werden können. Auch eine juristische Person und sonst als selbständiger Rechtsträger anerkannte Personengemeinschaft kann sich auf Art. 10 Abs. 2 Unterabsatz 2 Satz 2 der Aktionärsrechte-RL berufen mit der Folge, dass sie bei Verteilung ihres Aktienbesitzes auf mehrere Wertpapierdepots eine entsprechende Anzahl von Eintrittskarten verlangen kann, um alsdann jeweils einen anderen rechtsgeschäftlichen Bevollmächtigten für den jeweiligen Depotbestand zu bestellen. Gründe, die hiergegen sprechen, sind nicht ersichtlich. Insbesondere differenziert die Aktionärsrechte-RL nicht zwischen natürlichen und juristischen Personen als Aktionär der Gesellschaft, sondern bestimmt in Art. 2 lit b) als „Aktionär“ im Sinne der Richtlinie ausdrücklich die „natürliche oder juristische Person, die nach dem anwendbaren Recht als Aktionär anerkannt ist“.

34 Ohne Ausführungen dazu etwa die Kommentierungen bei Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 118 Rz. 60; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 134 Rz. 27; Bärwaldt in Semler/Volhard/Reichert (Hrsg.), Arbeitshandbuch für die Hauptversammlung, 4.  Aufl. 2018, § 8 Rz. 37; Herrler in Grigoleit, AktG, 2013, § 118 Rz. 38; Tröger in KölnKomm. AktG 3. Aufl. 2017, § 134 Rz. 169, 172. 35 Insoweit m.E. zutreffend Ziemons in Handbuch Aktiengesellschaft, Stand 66.  Lieferung 7.2014, Rz.  10.526: „Die Neuregelung setzt die Vorgaben der Aktionärsrechterichtlinie nur unzureichend um. Zum einen verlangt Art. 10 Abs. 2 UAbs. 2 der Richtlinie, dass ein Aktionär, der seine Aktien in mehreren Depots verwahrt, für die Aktien eines jeden Depots jeweils einen Vertreter bestellen können muss.“; so auch Spindler in K. Schmidt/Lutter, AktG, § 118 Rz. 31 bei Fn. 96; Noack in FS Westermann, 2008, S. 1202, 1212: „…pro „Wertpapierdepot“ ist aber ein Vertreter möglich“; Ochmann, Die Aktionärsrechterichtlinie. Auswirkungen, 2009, S. 154 f. 36 S. auch oben die Begründung zur Kritik des Handelsrechtsausschusses an dem Vorschlag der Kommission, je Aktionär nur einen Vertreter für den gesamten Aktienbestand des Aktionärs zuzulassen.

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Die Aktionärsrechte-RL unterscheidet im Übrigen auch nicht zwischen Inhaber- und Namensaktien. Daraus ergibt sich für Gesellschaften mit Namensaktien das praktische Problem, dass sie nicht ohne weiteres Feststellung darüber treffen können, ob und inwieweit ein Aktionär seinen Aktienbesitz auf mehrere Wertpapierdepots verteilt hat. Aus dem Aktienregister ergeben sich hierauf nämlich keine Hinweise, der Aktienbestand wird einheitlich je Aktionär geführt. Man wird den Aktionär also da­ rauf verweisen können, darzulegen und im Zweifelsfall nachzuweisen, dass er seinen Aktienbesitz auf mehrere Depots verteilt hat, wenn er mehr als eine Eintrittskarte zur Teilnahme an der Hauptversammlung verlangt.

VI. Ergebnisse Nach allem sind folgende Ergebnisse festzuhalten: 1. Bestellt der Aktionär einen Vertreter, um für ihn das Stimmrecht in der Hauptversammlung auszuüben, ist ihm die Entscheidung auferlegt, ob er entweder selbst oder aber sein Vertreter für ihn an der Hauptversammlung teilnehmen soll. Ein Anspruch auf gleichzeitige Teilnahme des Aktionärs und seines Vertreters an der Hauptversammlung besteht nicht. 2. Bestellt der Aktionär mehrere Stimmrechtsvertreter, ist die Gesellschaft nach § 134 Abs. 3 Satz 2 AktG frei darin, von diesen alle bis auf einen von der Teilnahme an der Hauptversammlung auszuschließen. Das gilt unabhängig davon, ob der Aktionär Einzelvollmacht oder Gesamtvollmacht erteilt hat. 3. Ist der Aktionär eine juristische Person oder eine Personengemeinschaft, der eigenständige Rechtsträgerschaft zukommt, sind für diese deren organschaftlichen Vertreter zur Hauptversammlung zuzulassen, auch wenn Gesamtvertretungsbefugnis mehrerer besteht; das Zurückweisungsrecht nach § 134 Abs. 3 Satz 2 AktG ist nicht einschlägig. Dessen entsprechende Anwendung ist aber zu bejahen, wenn mehr organschaftliche Vertreter an der Hauptversammlung teilnehmen wollen, als nach Gesetz und Gesellschaftsvertrag des Aktionärs für die wirksame Vertretung in der Hauptversammlung erforderlich. 4. Das Vorstehende gilt unabhängig davon, ob der Aktionär nur über eine oder über mehrere Aktien verfügt. 5. Hat der Aktionär seinen Aktienbesitz auf mehrere Wertpapierdepots verteilt, kann er – abweichend von den vorstehenden Grundsätzen - für den Aktienbestand eines jeden von ihm unterhaltenen Wertpapierdepots einen anderen Vertreter bestellen. Nur insoweit ist eine Vervielfältigung des Rechts zur Teilnahme an der Hauptversammlung anzuerkennen. In § 134 Abs. 3 AktG sollte diese auf der Aktionärsrechte-RL beruhende Ausnahme von der Regel bei passender Gelegenheit ergänzt werden.

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Joachim Jahn

Wie der BGH einen Beauty Contest gewann … Inhaltsübersicht I. Einführung II. Neuregelungen 1. Öffentliche Übertragung

2. Presseräume 3. Archivierung III. Fazit

I. Einführung Gerichtsprozesse durften bis vor kurzem in Deutschland nicht gefilmt werden – weder zur Live-Übertragung noch zur späteren Ausstrahlung. Eine (begrenzte) Ausnahme gab es lediglich für das Bundesverfassungsgericht.1 Das in § 169 Satz 2 GVG a.F. normierte und nunmehr aufgelockerte Verbot, das gleichermaßen für Tonaufnahmen und damit das Radio galt,2 bestand allerdings keineswegs von „jeher“, sondern wurde erst in der jungen Bundesrepublik eingeführt.3 Hintergrund war u.a. die Befürchtung, Angeklagte würden noch vor ihrer Verurteilung „in einer oft unerträglichen Weise in das Scheinwerferlicht einer weiten Öffentlichkeit“ gezerrt und gleichsam an den Pranger gestellt.4 Diese „mittelbare Öffentlichkeit“ wird auch heutzutage im Presse- und Medienrecht als heikler eingestuft als die bloße „Saalöffentlichkeit“, die sich auf die physisch anwesenden Personen beschränkt.5 Einen verfassungsrechtlichen Anspruch von Fernsehanstalten auf Zugang von Kamerateams während laufender Verhandlungen der so genannten Fachgerichte haben die obersten Richter in Karlsruhe abgelehnt.6

1 § 17a Abs. 1 BVerfGG. 2 Gegenstand gesonderter Kontroversen ist die Zulässigkeit der Nutzung des Internet aus einer laufenden Verhandlung heraus, etwa durch Live-Bloggen und Twittern (vgl. Altenhain, NJW-Beilage zum 71. DJT, 2016, 37, 40). 3 BGBl. I 1964, 1067, 1080 mit Art. 11 des Gesetzes zur Änderung der StPO und des GVG (StPÄG); im Regierungsentwurf waren noch Ausnahmen vorgesehen (BT-Drucks. IV/178, S. 45 f.). 4 BT-Drucks. IV/178, S.  45  f.; Große Strafrechtskommission des DRB, 2013, 23  ff. (https:// www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/Service/StudienUntersuchungenFachbuecher/ Gutachten_StrafrechtskommissionRichterbund_%C2%A7169.pdf?__blob=publicationFile​ &v=3). In den USA spricht man insofern vom „Perp Walk“. 5 Selbst wenn Printmedien aus einer öffentlichen Verhandlung bloß zitieren wollen; vgl. Jahn, GRUR-Prax 2013, 204; Jahn, NJW 23/2013, 3 (Editorial). 6 BVerfG, NJW 1995, 184 (Honecker u.a.); bestätigt anlässlich des NSU-Prozesses (BeckRS 2013, 50235, dazu Jahn, GRUR-Prax 2013, 340).

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Dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit haben Bildberichterstatter bisher dadurch gerecht zu werden versucht, dass sie – ggf. unter Verpixelung des Gesichts etwa von Angeklagten auf Grund von presserechtlichen Erwägungen oder auch wegen sitzungspolizeilicher Verfügungen von Vorsitzenden – im Saal fotografiert und gefilmt haben, bevor und während das Gericht einzog; nicht mehr zulässig war dies jedoch nach Eröffnung der Sitzung. Um einen übergroßen Andrang an Fotografen und Kameraleuten zu vermeiden, wurde und wird in „prominenten“ Verfahren häufig eine Pool-Lösung angeordnet, bei der nur Vertreter ausgewählter Medien Zugang erhalten, ihr Bildmaterial aber anschließend mit der Konkurrenz teilen müssen. Zudem geben Pressesprecher von Gerichten und Staatsanwaltschaften (mitunter sogar in jeder Verhandlungspause) Statements vor laufenden Kameras ab und schaffen somit ein Mindestmaß an Transparenz; in aller Regel stellen parallel dazu Verteidiger gern die aus ihrer Sicht erforderliche Ausgewogenheit her.7 Nach längerer Diskussion hat die Große Koalition von CDU/CSU und SPD die Rechtslage nunmehr ein wenig aufgelockert: Das „Gesetz zur Erweiterung der Medienöffentlichkeit in Gerichtsverfahren und zur Verbesserung der Kommunikationshilfen für Sprach- und Hörbehinderte“ (EMöGG)8 wurde im Bundestag sogar einstimmig verabschiedet.9 Wie so oft wurden die Vorarbeiten für dieses Gesetz nicht nur maßgeblich im „Hause“ des Jubilars verfasst – der Telos der Reform fügt sich auch zu dessen eigener Berufspraxis, in schier zahllosen Redebeiträgen und Veröffentlichungen den aus seinem Ressort stammenden Initiativen und Vorlagen Gehör und Unterstützung zu verschaffen.

II. Neuregelungen Neben einem hier nicht zu vertiefenden Aspekt, der Menschen mit Sprach- und Hörbehinderungen zugutekommen soll, beinhaltet das EMöGG drei Neuerungen. Vo­ rausgegangen waren ein Prüfauftrag der 84.  Justizministerkonferenz (JuMiKo) auf ihrer Frühjahrskonferenz 201310 auf Initiative von Bayern und Sachsen und eine daraufhin eingerichtete Arbeitsgruppe.11 Deren Ergebnis mündete in einen Beschluss 7 Die damalige Pressesprecherin am OLG München hat es im NSU-Prozess zu einem beträchtlichen Bekanntheitsgrad bis hin zu einer Fotogalerie in Boulevardmedien gebracht (vgl. Jahn, NJW-aktuell 49/2916, 18 f.). 8 BGBl. I 2017, 3546; im Wesentlichen in Kraft getreten am 19.4.2017. 9 BT-Plenarprotokoll 18/240, 24636. Fun fact: Der späten Stunde halber wurden die Reden in der 2. und 3. Lesung lediglich zu Protokoll gegeben; ebenso wie schon bei der 1. Lesung (BT-Plenarprotokoll 18/209, 20979). 10 Mit dem Wunsch nach einer „zeitgemäßen Neufassung“ von § 169 GVG unter ausdrücklicher Ablehnung einer völligen Abschaffung (https://www.justiz.nrw.de/JM/jumiko/beschlu​ esse/2013/fruehjahrskonferenz13/TOP_II_18.pdf). 11 Der ausführliche Zwischenbericht von 2014 auch zur Anhörung von Praktikern und Sachverständigen ist abrufbar unter https://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF/ Zwischenbericht_Bund_Laender_Arbeitsgruppe_169GVG.pdf?__blob=publicationFile​ &v=1; der Abschlussbericht von 2015 findet sich unter https://www.bmjv.de/SharedDocs/

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86. JuMiKo, die auf ihrer Frühjahrskonferenz 2015 Lockerungen forderte12 und dabei bereits die drei späteren Reformpunkte konkret benannte.13 1. Öffentliche Übertragung Das für die breite Öffentlichkeit am ehesten erfahrbare – und dementsprechend im Vorfeld am kontroversesten diskutierte – Novum ist die Möglichkeit, Urteilsverkündungen der fünf obersten Bundesgerichte in Bild und Ton zu übertragen; und das sogar live.14 Die Entscheidung darüber, ob dies im konkreten Fall zugelassen wird, liegt im Ermessen des Gerichts; Rechtsmittel sind nicht zulässig. Die Begründung des Gesetzentwurfs geht allerdings davon aus, dass sich die Entscheidung an den vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Maßstäben messen lassen muss  – nämlich „insbesondere am Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit, dem Schutz der allgemeinen Persönlichkeitsrechte der Beteiligten, dem Anspruch auf ein faires Verfahren sowie der Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege“.15 In der Tat bieten alle Gerichtsbarkeiten – keineswegs nur die ordentliche im Strafrecht16 – vielfältigen Anlass, über Urteile von Bundesgerichten zu berichten, die durch ihre letztinstanzliche Auslegung die Rechtsprechung der Instanzgerichte vereinheitlichen und fortentwickeln. Damit gewinnen sie beträchtlichen Einfluss auf Leben und Wirtschaftsgeschehen vieler Bürger.17 Beträchtlichen Widerstand gab es allerdings im Downloads/DE/PDF/Abschlussbericht_Bund_Laender_Arbeitsgruppe_169GVG.pdf?__ blob=publicationFile&v=1. 12 http://www.jm.nrw.de/JM/jumiko/beschluesse/2015/fruehjahrskonferenz_15/TOP-II_16--Abschlussbericht-der-AG-Zeitgemaesse-Neufassung-des-_-169-GVG-_oA_.pdf. 13 Zur vorherigen Rechtslage umfassend von Coelln, AfP 2014, 193; aus Sicht eines Strafverteidigers Hamm, AfP 2014, 202. 14 § 169 Abs. 3 GVG. Ursprünglich war insbesondere an Strafverfahren gedacht worden (BTDrucks. 18/10144, S.  17), alsbald wurden aber alle fünf obersten Bundesgerichte (sowie erweiternd das BVerfG) erfasst (§ 17a BVerfG n.F., § 72 Abs. 6 ArbGG n.F., § 175 VwGO n.F., § 159 FGO n.F., § 209 SGG n.F., § 43 EGGVG n.F.). Dazu BT-Drucks. 18/10144, S. 20 f., 24 f. und 29 f. 15 BT-Drucks. 18/10144, S. 29. Reiches Anschauungsmaterial für die verfassungsrechtlichen Kriterien dürfte insbesondere eine Verfassungsbeschwerde des Privatsenders n-tv im Verfahren gegen Ex-Mitglieder des SED-Politbüros wegen Todesschüssen an der inner­ deutschen Grenze bieten (BVerfG, DÖV 2001, 596 [Urteil nebst Sondervoten] und zuvor NStZ 1996, 143 [Beschluss]); ebenso eine Verfassungsbeschwerde desselben Senders wegen des „Kruzifix-Verfahrens“ am Bundesverwaltungsgericht (BVerfG, NJW 1999, 1951 [Beschluss]). 16 Neben eher die Sensationslust befriedigenden Fällen wie Kannibalismus (zuletzt wieder BGH, NStZ 2016, 469) auch durchaus lebensnähere Fragen wie etwa, ob „Raserei“ im Straßenverkehr als Mord geahndet werden kann (BGH, NStZ 2018, 409). Vgl. ferner einen BVerfG-Beschluss zu einem Anti-Terrorverfahren am OLG München (Az.: 1 BvR 2022/16, https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2016/09/ rk20160909_1bvr202216.html; zur Vorgeschichte: 1 BvR 1534/16, BeckRS 2016, 49952). Im „Fall Schlecker“ BVerfG, MMR 2017, 740 mit Anm. Bernzen. 17 Man denke nur daran, wie lange die Herausbildung einer einheitlichen Auslegung der von der „Hartz IV“-Gesetzgebung eingeführten neuen Tatbestandsmerkmale im Sozialrecht

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Vorfeld aus den Reihen der obersten Bundesgerichte. So verfasste die Präsidentin des Bundesgerichtshofs, Bettina Limperg, in Absprache mit ihren vier Kollegen einen ablehnenden Brief an die damalige Vorsitzende des Bundestags-Rechtsausschusses;18 auch die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts, Ingrid Schmidt, sprach sich öffentlich gegen Fernsehübertragungen aus und warnte, in der Praxis werde dies zur häufigeren Ansetzung separater Verkündungstermine führen.19 Befürchtungen richteten sich etwa darauf, die Justiz könne mit aus dem Zusammenhang gerissenen Schnipseln in Satire-Shows lächerlich gemacht oder gar verhetzt werden. Nach Verabschiedung des Gesetzes haben Bundesgerichte denn auch prompt damit begonnen, ihren Richtern von kommerziellen Beratern ein Kameratraining angedeihen zu lassen.20 Auch galt – zumal zu Beginn der rechtspolitischen Diskussion – die Sorge einer generellen Einführung eines „Court TV“ in allen Instanzen. Instanzrichter äußerten ebenfalls erhebliche Bedenken, und das durchaus nicht nur mit Blick auf womöglich (so eines der perhorreszierten Szenarien) weinende Opferzeugen, sondern auch auf ihr eigenes Wohlbefinden.21 2. Presseräume Eine für Presseberichterstatter – und damit auch für deren Leser – segensreiche Neuerung betrifft die Option, bei mangelnden Platzkapazitäten im Saal den Ton der Verhandlung in einen anderen Raum im Gerichtsgebäude zu übertragen.22 Zwar war keineswegs eindeutig, aber entsprach doch der herrschenden Meinung, dass dies nicht bereits zuvor de lege lata zulässig gewesen wäre;23 gerade bei entsprechenden Mammutprozessen dürfte aber kein Gericht die damit verbundenen Revisionsrisiken auf sich genommen haben. Das Problem zeigte sich in aller Schärfe im NSU-Prozess gegen neonazistische Terroristen vor dem Oberlandesgericht München, wo die räumlichen Engpässe durch die große Zahl von Nebenklägern und deren Rechtsvertretern

benötigte; ebenso die Fülle zivilrechtlicher Fragen, die die breite Nutzung des Internet oder die heutigen Anschauungen zu Ehe und Geschlechterdiversität aufwerfen. 18 Lorenz, LTO v. 29.4.2017 (https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/bgh-praesidentin-in​ terview-kameras-gericht-justiz-oeffentlichkeit-medien-persoenlichkeitsrechte-limperg/). 19 Jahn, F.A.Z. v. 11.2.2016, 17. Inzwischen bedauert Schmidt freilich, dass nach aufwändigen und kostspieligen Schulungen und Vorbereitungen bislang kein einziger „O-Ton“ aus Verhandlungen an dem Erfurter Bundesgericht gesendet worden ist (Podolski, https://www.lto. de/recht/hintergruende/h/bag-bilanz-2018-schneller-weniger-eingaenge/). 20 Reissenberger, LTO v. 8.5.2018 (https://www.lto.de/recht/justiz/j/bgh-interview-kameras-​ mikrophone-gerichtssaal-oeffentliches-interesse/); die BGH-Präsidentin wünschte sich zunächst sogar nach dem Vorbild des Bundestags ein selbst produziertes Sendeangebot im Internet (Lorenz, LTO v. 29.4.2017, aaO). 21 Rath, Badische Zeitung v. 6.4.2017, zum 22.  Deutschen Richter- und Staatsanwältetag (http://www.badische-zeitung.de/deutschland-1/sollen-urteile-im-fernsehen-uebertragen-​ werden--135384698.html); Kaufmann/Tappert/Vetter, DRiZ 2017, 154, 156 f. 22 §  169 Abs.  1 GVG n.F. Für eine Ausweitung auf eine Bildübertragung Loubal/Hofmann, MMR 2016, 669, 672. 23 Zur Kontroverse in der Rechtsliteratur s. BT-Drucks. 18/10144, S. 11 und 13.

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zusätzlich verschärft wurden.24 Es tritt jedoch auch bei Kapitaldelikten sowie in Wirtschaftsstrafprozessen häufig auf25 – wenngleich wegen der begrenzten Ressourcen der Redaktionen zumeist nur zu Prozessbeginn und dann erst wieder zu den Schlussplädoyers sowie zur Urteilsverkündung. Die Anmietung eines größeren Saals, wie dies gelegentlich in Verwaltungsgerichtsverfahren oder (nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz) im „Telekom-Prozess“ im Interesse von Bürgern oder Geldanlegern geschehen ist, dürfte insbesondere in Terroristenprozessen aus Sicherheitsgründen kaum praktikabel sein.26 Eine Aufzeichnung oder Weiterverbreitung des gerichtsintern übertragenen Tons durch die dortigen Journalisten bleibt gem. § 169 Abs. 1 Satz 2 GVG verboten. Bedenken hinsichtlich etwaigen Fehlverhaltens scheinen unbegründet, zumal es den Gerichten freisteht, ein Akkreditierungsverfahren einzurichten und einen Justizwachtmeister in diesem separaten Arbeitsraum zu platzieren (zumal es sich bei dessen Schaffung ohnehin stets um eine Ermessensentscheidung des Gerichts handelt). Unter diesen Umständen dürfte es auch entbehrlich sein, dem Vorsitzenden eine un­ mittelbare Wahrnehmung auf das dortige Geschehen zu vermitteln, um notfalls sitzungspolizeiliche Maßnahmen ergreifen zu können.27 Eine Beeinträchtigung von Angeklagten oder Zeugen und ihrer Persönlichkeitsrechte ist unter diesen Umständen sogar weniger zu befürchten, als wenn die Journalisten im selben Saal säßen (wäre er denn größer dimensioniert), weil sie sich weder in deren Blickfeld befinden noch von deren etwaigen Geräuschentwicklungen etwas mitbekämen, wie sie in öffentlichen Hauptverhandlungen verbreitet sind (Laptop-Klappern auf der Pressebank, Husten und Niesen auch auf den allgemeinen Plätzen, Piepen von nicht ausgeschalteten Handies oder übersteuerten Hörgeräten, Drängeln durch eng bestuhlte Reihen zum Toilettengang oder zum aktuellen Auftritt eines Reporters für einen Live-Bericht vor dem Gebäude, Äußerungen von Unmut, Zustimmung oder Kommentaren durch Raunen, Seufzen, Tuscheln oder gar Zwischenrufe…). Nicht zu verkennen ist freilich, dass es sich hierbei um eine Notlösung handelt. Den Reportern fehlt die „Authentizität“ des Geschehens, sie sehen weder Mimik noch Gestik der Prozessbeteiligten.28 Zudem lehrt die Erfahrung des Verfassers, dass es selbst in Karlsruhe fest akkreditierten Rechtsjournalisten oft nicht gelingt, gemäß §  17a Abs.  1 Satz 2 BVerfGG in den Presseraum übertragene Stimmen konkreten 24 Zu den Streitigkeiten um die viel zu knappen Presseplätze s. Spiegel-Online v. 15.4.2013 (http://www.spiegel.de/panorama/justiz/nsu-prozess-oberlandesgericht-muenchen­a-­894375.html) sowie BVerfG, NJW 2013, 1293, das durch Erlass einer einstweiligen Anordnung (minimalinvasiv) korrigierend eingriff, und zwar zugunsten ausländischer Medienvertreter. Zusätzlich erschwert wurde die Raumsituation durch die Vielzahl anwesender Nebenkläger und -vertreter. 25 So etwa im Steuerstrafverfahren gegen den Fußballmanager und Wurstfabrikanten Ulrich Hoeneß (Jahn, F.A.Z. v. 31.10.2014, 1 und 21). 26 Zu einem eher anekdotischen Fall faz.net v. 29.7.2018 (http://www.faz.net/aktuell/gesell​ schaft/kriminalitaet/konstanz-mafia-prozess-findet-in-alter-kantine-statt-15713287.html​ ?GEPC=s5). 27 Von Cölln hält hier den Gerichtspräsidenten für zuständig (AfP 2016, 491, 493). 28 So eindringlich Hoeren, NJW 2017, 3339, 3340.

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Richtern oder gar Sachverständigen zuzuordnen.29 Immerhin wird dem berechtigten Informationsinteresse der Öffentlichkeit damit besser gedient, als wenn Journalisten, die überhaupt keinen Zutritt erhalten, sich in den Verhandlungspausen aus „zweiter Hand“ unterrichten lassen müssen.30 3. Archivierung Die Änderung von wohl geringster Praxisrelevanz kam für einen der seltenen31 Prozesse, auf die sie zugeschnitten ist, ohnehin zu spät:32 die Möglichkeit einer Ton-Dokumentation von „Verfahren von herausragender zeitgeschichtlichere Bedeutung für die Bundesrepublik Deutschland“.33 Als historisches Vorbild galten die „Auschwitz-­ Prozesse“, die 1963 am Landgericht Frankfurt a.M. begannen;34 entgegen der damaligen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und dem im Verlauf in Kraft getretenen § 169 Satz 2 GVG a.F. wurden große Teile der Hauptverhandlung zu „gerichtsinternen Zwecken“ auf Tonband aufgenommen. Erste Pläne der Bundesregierung zur Einführung von audio-visuellen Dokumentationen35 scheiterten am Widerstand im Bundestags-Rechtsausschuss.36 Die Zugänglichmachung künftiger Aufzeichnungen dieser Art unterliegt überdies ausgesprochen restriktiven Regelungen. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollen sie Historikern und damit der Nachwelt vorbehalten bleiben, weil nach deutschem Verständnis37 besonders sensible Persönlichkeitsrechte betroffen sind; aufbewahrt werden sollen sie im Bundes- oder einem Landesarchiv mit gesetzlichen Schutzfristen von 30 bzw. 60 Jahren nach Entstehung der Unterlagen vor der Möglichkeit zur Nutzung, frühestens jedoch zehn Jahre nach dem Tod aller Beteiligten.38 Für Strafverfahren dürfen sie gar nicht verwendet werden, auch nicht im betreffenden Instanzenzug. Die Entscheidung über ihre Anfertigung obliegt dem Gericht und ist nicht anfechtbar.

29 Kolportiert auch durch von Coelln, AfP 2016, 491, 493. 30 Was die Gefahr der Beeinflussung der öffentlichen Meinung (wenngleich wohl kaum, wie oft versprochen respektive befürchtet, der Justiz) durch die so genannte Litigation PR erhöht; vgl. Jahn, „Zwischen Erpressung und Dienst an der Gerechtigkeit“, in Boehme-Neßler (Hrsg.), „Die Öffentlichkeit als Richter?“, Baden-Baden, 2010, S. 11 ff. 31 Die wohl aus haushalterischen Gründen stets zur Angabe von Zahlen angehaltenen Ministerialbeamten rechnen mit einem Fall alle fünf Jahre (BT-Drucks. 18/10144, S. 3 und 24). 32 § 43 EGGVG. 33 § 169 Abs. 2 GVG n.F. 34 Düx in BMJ (Hrsg.), Die Rosenburg, 2013, S.  41  ff. (https://web.archive.org/web/201​50​ 213145323/http://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/Broschueren/DE/Die_Rosen​ burg_2_Symposium.pdf?__blob=publicationFile). 35 BR-Drucks. 492/16, S. 26. 36 Dessen Beschlussempfehlung keine nähere Begründung enthält (BT-Drucks. 18/12591, S. 5). 37 Anders die Praxis des „Court TV“ nicht nur in den USA. 38 § 11 Abs. 1 und 2 BArchG. Ausnahmemöglichkeiten etwa für wissenschaftliche Forschungen sieht § 12 BArchG vor; diese waren dem Bundesrat nicht „stählern“ genug und überdies zu zersplittert (BR-Drucks. 492/16, S. 3 f.). Ganz ähnlich bspw. § 7 ArchivG NRW.

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III. Fazit Der erste Fall, in dem das Filmen einer Urteilsverkündung nach den neuen Regeln zugelassen wurde, betraf einen Zivilrechtsstreit am BGH über Werbeblocker im Internet.39 Von der mündlichen Urteilsverkündung ausgestrahlt wurde in der Hauptausgabe der Tagesschau ein einziger Satz, der Rest war lediglich in der Mediathek des öffentlich-rechtlichen Kanals Phoenix abrufbar.40 Das Gericht hat auf seiner Webseite mit Terminankündigungen ein Ampelsystem eingerichtet, mit dem es kennzeichnet, ob Aufnahmen gestattet sind oder nicht (oder ob darüber noch nicht entschieden wurde). Die erste Live-Übertragung fand sodann ein Vierteljahr später auf Phoenix statt zu der Frage, ob die Mutter einer verstorbenen 14-Jährigen den Zugriff auf deren Facebook-Konto geerbt hatte, um nach Anhaltspunkten für einen Suizid suchen zu können.41 Die Vorsitzende des Vereins der in Karlsruhe akkreditierten Journalisten (JPK) – eine öffentlich-rechtliche Fernsehredakteurin – berichtete auf Twitter (offenbar erfreut), BGH-Präsidentin Limperg sei in einer Reaktion darauf von Zuschauern (ausgerechnet übrigens bei einem Empfang des Deutschen Juristinnenbundes) vor allem darauf angesprochen worden, „dass so viele hübsche Beisitzerinnen auf der Richterbank saßen“. So hat die Gesetzesreform immerhin dazu beigetragen, dass das oberste Zivil- und Strafgericht nun einen Beauty Contest bestanden hat – ein durchaus fragwürdiger Erfolg.42 Alles in allem zeigt sich damit eine relativ geringe Bedeutung dieser Reform, allerdings zugleich auch die Übersteigertheit mancher Befürchtungen. Sicher: Für die Medien- und für die Informationsfreiheit – und damit die Demokratie – ist die Transparenz von Rechtsprechung von erheblicher Bedeutung, ebenso wie für den Rechtsstaat.43 Die Justiz lebt von der Akzeptanz und dem Verständnis ihrer Urteile und dem Ver39 http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art​ =pm&sid=d491385e243e51342f31ead900a61e32&nr=82856&pos=0&anz=3. 40 Was freilich die Arbeit von Print- und Agenturjournalisten unterstützen kann. 41 http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh​ &Art=en&Datum=Aktuell&Sort=12288&nr=86032&pos=6&anz=532. 42 Für gezielt Suchende bietet dies immerhin mitunter die Möglichkeit zur Nachschau in der Mediathek z.B. der dritten ARD-Programme und des öffentlich-rechtlichen Gemeinschaftssenders Phoenix. 43 Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und 2, 20 Abs. 1 und 2 GG als Gegenpol zur „Geheimjustiz“ in manchen historischen Epochen und unter illiberalen Regimen. Vgl. Bernzen, MMR-aktuell 2019, 413940 (Rezension von Paschke, „Digitale Gerichtsöffentlichkeit“, Berlin 2018.  Der BFH hat sich eine neue Wort-Bild-Marke kreieren lassen und will seinen Internetauftritt (auch personell) verstärken (so dessen Präsident Mellinghoff im Beisein des Verf. auf seiner Jahrespressekonferenz 2019). Der Bundestags-Haushaltsausschuss hat im Rahmen des „Pakts für den Rechtsstaat“ den Bundesgerichten unerwartet (und offenbar auch unaufgefordert) zusätzliche Stellen für deren Medienarbeit bewilligt (dazu Barley, BT-Plenarprot. 19/65, 7429). Wie der BGH will daher auch das BVerwG einen nicht-richterlichen Pressesprecher einstellen (https://www.lto.de/recht/justiz/j/bverwg-jahrespressegespraech-belastung-asyl-­ infrastruktur-verfahren-nichtzulassungsbeschwerde-ausblick/) und hat am 26.3.2019 erstmals eine Urteilsverkündung live im TV (Gebühren für Polizeieinsätze bei Bundesligaspielen) übertragen lassen.

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trauen der Bevölkerung hierin. Angesichts gewandelter Nutzungsgewohnheiten (Smartphones und Tablets auf Schritt und Tritt vor Augen; soziale Netzwerke wie Twitter, Facebook oder Xing; Blogs; Livestreams von Events; Sprachassistenten wie Siri und Alexa) gilt heute mehr denn je das soziologische Diktum: „Alles, was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.“44 Doch darf der Effekt einer (zuvörderst von öffentlich-rechtlicher Seite geforderten)45 Fernsehberichterstattung nicht überschätzt werden: Juristensprache lässt sich nur schwer in die Laiensphäre transferieren, und selbst das durch Zwangsbeiträge finanzierte Fernsehen lässt in seinen Nachrichtensendungen kaum jemals einen Akteur (wie es leider auch bei politischer Berichterstattung zu beobachten ist) mit mehr als zwei, drei oder vier zusammenhängenden Sätzen zu Wort kommen. Das kann dann aber auch – oder sogar besser! – der jeweilige Pressesprecher eines Gerichts oder der vor Ort anwesende Reporter leisten, indem er den Urteilstenor erläutert und einordnet. Ein Textschnipsel aus dem Mund des verkündenden Richters ist hingegen bloßes Entertainment und illustrierender Zierrat. Eine möglichst breite und qualifizierte Berichterstattung über die Rechtsprechung dürfte freilich auch unter den Aspekten von Normbestärkung und (positiver wie negativer) Generalprävention wünschenswert sein. Selbst unter Akademikern sind Kenntnisse über Rechtslagen oft bemerkenswert gering oder gar unzutreffend. Bilder – zumal Bewegtbilder – wirken trotz ihrer erschreckend großen Manipulationsmöglichkeit (auch in Videos!46) auf Betrachter aus psychologischen Gründen überzeugender als Textaussagen (ein Thema, das durch die aus den USA herübergedrungene Debatte über „Fake News“ an bedauerlicher Relevanz gewonnen hat47) und können Inhalte daher besser vermitteln. Auch eine realistische Darstellung prozessualen Geschehens (und sei es nur der Urteilsverkündung) mag Fehlvorstellungen entgegenwirken, wie sie sich auch in Deutschland seit der Inflation von Gerichtsshows à la „Barbara Sa­ lesch“48 verbreitet haben und mitunter sogar Verhaltensweisen in realen Verhandlungen deformieren. Freilich ist die Reform mit ihren drei Elementen nur minimalinvasiv: Erfasst werden eben nicht Verhandlungen der unteren und mittleren Instanzen; und auch an den Bundesgerichten nicht die Verhandlung, sondern lediglich (ausgewählte) Urteilsverkündungen. Immerhin sind gerade diese Gerichte ganz besonders zur Fortbildung und Vereinheitlichung der Rechtsprechung berufen und in ihrer Arbeit daher von allgemeinem Interesse. Umgekehrt sind hier die Persönlichkeitsrechte von Angeklagten49 oder Klägern (schon wegen in der Regel fehlender Präsenz) sowie erst recht jene 44 Luhmann, „Die Realität der Massenmedien“, Wiesbaden 1996. 45 Bräutigam, DRiZ 2015, 378; hiergegen Jahn, DRiZ 2015, 379. 46 „Deepfakes“, s. https://de.wikipedia.org/wiki/Deepfake. 47 Vgl. BVerfG, BeckRS 2018, 15432 Rz. 80 (Rundfunkbeitrag). 48 In den USA ist dies die auch in deutschen Juristenkreisen nicht unbekannte „Judge Judy“, die freilich reale Fälle verhandelt. 49 Erste eingrenzende Vorgaben verfügte der 1.  BGH-Strafsenat vor der Verkündung eines Urteils in einem Steuerstrafverfahren im Umfeld der Deutschen Bank (http://juris.bundes​ gerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&sid=9418a​

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Wie der BGH einen Beauty Contest gewann …

von Zeugen (oder gar Opferzeugen) am wenigsten tangiert, zumal das Gericht stets für Teile der Verhandlung die Aufzeichnung sperren kann. Eine Beeinflussung des Aussageverhaltens (und damit eine Beeinträchtigung der Wahrheitsfindung) droht folglich ebenfalls nicht.50 Vorverurteilungen oder eine Erschwerung der Resozialisierung sind hier nicht bzw. kaum zu befürchten. Nicht zu vergessen ist überdies, dass auf europäischer Ebene neben der Meinungs-, Presse- und Informationsfreiheit51 und den Persönlichkeitsrechten Prozessbeteiligter52 auch ein (natürlich einschränkbares) Recht auf Öffentlichkeit eines eigenen Gerichtsverfahrens garantiert wird.53 Der Vergleich mit dem Ausland zeigt teilweise bereits weitergehende Öffnungen zugunsten der Medien.54 Die deutsche Reform stellt sich demgegenüber als – je nach Sichtweise – moderat und maßvoll55 oder aber als konservativ, vorsichtig, zurückhaltend und allenfalls ersten Schritt dar.56 Insofern ist mit einem Wiederaufleben der rechtspolitischen Diskussion zu rechnen, wenn die für das Jahr 2023 vorgesehene Evaluation stattfindet.57 Schauprozesse welcher Art auch immer sind jedenfalls nicht zu befürchten.

44f​99705c5d5db8d39564a62e58&nr=83534&pos=1&anz=2)  – bis hin zu der Maßgabe, „geräuscharme Kameras“ zu verwenden und Kameraschwenks nur auf die Richterbank zu richten. 50 Bemerkenswerte Bedenken zumindest gegen eine Ausweitung äußerte der Filmemacher und Jurist Bohm, Deutschlandfunk Kultur v. 12.7.2018 (https://www.deutschlandfunkkul​ tur.de/tv-uebertragung-von-gerichtsentscheidungen-wenn-das-urteil.1008.de.html?dram:​ article_id=422716). 51 Art. 10 Abs. 1 EMRK, Art. 11 Abs. 1 und 2 EU-GRCh. 52 Art. 8 Abs. 1 EMRK, Art. 7 EU-GRCh. 53 Art. 6 Abs. 1 Satz 2 EMRK, Art. 47 Abs. 2 Satz 1 EU-GRCh. 54 S. Zwischenbericht… (aaO), 11 ff. Der EGMR streamt seine Verhandlungen mittels einer festinstallierten Kamera, was Nahaufnahmen und Manipulationen (z.B. Porträts in der berüchtigten „Froschperspektive“) ausschließt (https://www.echr.coe.int/Pages/home.aspx?p​ =hearings&w=3692507_28032018&language=en&c=&py=2018). Der Londoner Supreme Court hält vollständige Videoaufzeichnungen seiner Verhandlungen auf seiner Webseite bereit, und dies sogar in wechselnden Kameraperspektiven (z.B. zum Brexit https://www. supremecourt.uk/watch/uksc-2018-0080/240718-am.html). 55 Durchaus „konservativ“ zeigte sich auch die Anwaltschaft in einer Befragung (Kilian, ­AnwBl 2018, 290, 291). 56 So trotz Hinweises auf Freislers propagandistisch ausgeschlachtete Verhandlungsführung am Volksgerichtshof Schrader, LTO v. 21.10.2017 („übervorsichtig“, „zaghaft“, „nach der Reform ist vor der Reform“), der dafür einen Lobbyismus der Richterschaft verantwortlich macht (https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/emoegg-verkuendet-gerichtsoeffentlich​ keit-bundesgerichte-kamera-gerichtssaal-kommentar/). Trentmann, MMR 2018, 441, 445 spricht von einem „Reförmchen“ und plädiert dafür, die „erlaubbare“ Medienöffentlichkeit auf untere Instanzen auszuweiten. 57 BT-Drucks. 18/10144, S. 26.

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Haftung für Einlagepflichten und Erwerb des Geschäftsanteils: das Verhältnis von § 16 Abs. 2 und § 22 Abs. 4 GmbHG Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Überschneidungsbereich von § 16 Abs. 2 und § 22 Abs. 1, 4 GmbHG 1. § 16 Abs. 2 GmbHG 2. § 22 Abs. 1, 4 GmbHG 3. Vergleich von § 16 Abs. 2 und § 22 Abs. 1, 4 GmbHG 4. Überschneidungsbereich

III. Anteilserwerb im Schnittfeld von § 16 Abs. 2 GmbHG und § 22 Abs. 1, 4 GmbHG 1. Kein Wahlrecht der Gesellschaft ­zwischen Anspruchs­grund­lagen 2. Zum Wahlrecht des Rechtsvorgängers a) Unzureichende Leistung b) Zureichende Leistung 3. Wahlrecht der Gesellschaft zwischen mehreren Schuldnern IV. Fazit

I. Einleitung Gesellschafter einer GmbH haften für die Verbindlichkeiten der GmbH nicht persönlich. Wirtschaftlich betrachtet beschränkt sich ihre Haftung auf die versprochene Einlage. Dieser Haftungsausschluss ist nach dem Konzept des deutschen GmbH-Rechts nur tragbar, weil das Stammkapital einen Haftungsfonds bildet, der von den Gesellschaftern aufzubringen ist (Kapitalaufbringung) und der gegen Zugriffe der Gesellschafter geschützt ist (Kapitalerhaltung). Das GmbHG sichert die tatsächliche Kapitalaufbringung durch eine ganze Reihe strenger Vorschriften, vgl. nur §§ 7 ff., 19 ff. GmbHG. Zu diesen gehören auch die Vorschriften über die Kaduzierung von Gesellschaftern, die ihre Einlageleistung nicht erbringen (§§ 21 ff. GmbHG). Nach diesen Vorschriften kann ein Gesellschafter bei verzögerter Einzahlung seinen Geschäftsanteil verlieren (§ 21 GmbHG), anschließend können seine Rechtsvorgänger in Haftung genommen werden (§ 22 GmbHG), die mit Zahlung den Geschäftsanteil erwerben (§ 22 Abs. 4 GmbHG). Daneben haftet im Falle des Erwerbs eines Geschäftsanteils der Erwerber  neben dem Veräußerer für rückständige Einlageverpflichtungen (§  16 Abs.  2 ­GmbHG). Ein Erwerb des Geschäftsanteils durch den zahlenden Veräußerer, der nicht mehr Inhaber des Anteils, sondern Rechtsvorgänger des Erwerbers ist, ist hingegen nicht vorgesehen. In dem Überschneidungsbereich von § 16 Abs. 2 GmbHG einerseits und § 22 Abs. 1, 4 GmbHG andererseits hängt es mithin von der Haftungsnorm ab, ob der zahlende Rechtsvorgänger den Geschäftsanteil erwirbt oder nicht. Die Behandlung dieser Situ435

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ation ist umstritten. Die herrschende Auffassung will der Gesellschaft ein Wahlrecht einräumen, ob sie nach § 16 Abs. 2 GmbHG vorgeht (dann kein Anteilserwerb durch den zahlenden Rechtsvorgänger) oder nach § 22 Abs. 1, 4 GmbHG (dann Anteilserwerb durch den zahlenden Rechtsvorgänger).1 Demgegenüber wird teilweise auch vertreten, dass der Rechtsvorgänger durch Tilgungsbestimmung entscheiden könne, auf welchen Anspruch er zahlt und es damit auch in der Hand habe, über den Erwerb des Anteils zu entscheiden.2 Diese Streitfrage soll im Folgenden näher betrachtet werden. Damit verbindet sich die Hoffnung, hiermit das Interesse des Jubilars als Kenner und Gestalter des Gesellschaftsrechts3 zu wecken.

II. Überschneidungsbereich von § 16 Abs. 2 und § 22 Abs. 1, 4 GmbHG Zunächst sollen § 16 Abs. 2 und § 22 Abs. 1, 4 GmbHG einzeln betrachtet und sodann einander gegenübergestellt werden. Anschließend lässt sich der Überschneidungsbereich der Vorschriften ermitteln. 1. § 16 Abs. 2 GmbHG §  16 Abs.  2 GmbHG regelt die Situation der Veräußerung des Geschäftsanteils. In diesem Fall gehen die mit dem Geschäftsanteil verbundenen Rechte und Pflichten auf den Erwerber über.4 Dieser haftet damit auch für gegenwärtig fällige und künftig fällig werdende Einlageverpflichtungen.5 Da dies aus Sicht der Gesellschaft einen Schuldnerwechsel bedeutet, aus dem sich Gefahren für die Kapitalaufbringung und -erhaltung ergeben können, greift das Gesetz im Interesse des Kapitalschutzes ein und ergänzt die Haftung des Erwerbers als des neuen Inhabers des Geschäftsanteils um 1 Bayer in Lutter/Hommelhoff, 19. Aufl. 2016, § 22 GmbHG Rz. 19; Ebbing in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, 3.  Aufl. 2017, §  22  GmbHG Rz.  77, 101  f.; Emmerich in Scholz, 12. Aufl. 2018, § 22 GmbHG Rz. 5; Müller in Ulmer/Habersack/Löbbe, 2. Aufl. 2013, § 22 GmbHG Rz.  6; ähnlich auch Altmeppen in Roth/Altmeppen, 8.  Aufl. 2015, §  22 GmbHG Rz. 10; Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff, 6. Aufl. 2017, § 22 GmbHG Rz. 4: pflichtgemäßes Ermessen des Geschäftsführers. 2 Fastrich in Baumbach/Hueck, 21. Aufl. 2017, § 22 GmbHG Rz. 2. 3 Für diesen Beitrag besonders hervorzuheben sind die direkte Mitarbeit des Jubilars als Ministerialrat im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz am Gesetz zur ­Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) v.  23.10.2008, BGBl.  I 2008,  2026, und die laufenden Beiträge zum Verfahrensstand, vgl. hierzu nur Seibert, ZIP 2006, 1157; Seibert/Decker, ZIP 2008, 1208; vgl. auch die Diskussionsbeiträge in Deutscher Juristentag, Verhandlungen des 66. Deutschen Juristentags, Stuttgart 2006, Bd. II/2, P153 ff., P265 f. 4 Altmeppen in Roth/Altmeppen, 8. Aufl. 2015, § 16 GmbHG Rz. 27; Heidinger in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 16 GmbHG Rz. 23; Seibt in Scholz, 12. Aufl. 2018, § 16 GmbHG Rz.  34  ff. Vgl. auch Gesetzentwurf v. 11.2.1892, betr. die Gesellschaften mit beschränkter Haftung, Reichstag, Aktenstück Nr. 660, S. 3739. 5 Altmeppen in Roth/Altmeppen, 8. Aufl. 2015, § 16 GmbHG Rz. 27; Seibt in Scholz, 12. Aufl. 2018, § 16 GmbHG Rz. 37 f.; Verse in Henssler/Strohn, 3. Aufl. 2016, § 16 GmbHG Rz. 15; Wilhelmi in BeckOK GmbHG, 34. Aufl. 2017, § 16 GmbHG Rz. 63.

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Haftung für Einlagepflichten und Erwerb des Geschäftsanteils

eine gesamtschuldnerische (Fort-)Haftung des Veräußerers:6 „Für Einlageverpflichtungen, die in dem Zeitpunkt rückständig sind, ab dem der Erwerber […] im Verhältnis zur Gesellschaft als Inhaber des Geschäftsanteils gilt, haftet der Erwerber neben dem Veräußerer.“ Die Haftung erstreckt sich dabei nach herrschender Auffassung über den auf rückständige Einlageverpflichtungen abstellenden Wortlaut hinaus – insofern in Anlehnung an den Wortlaut des § 16 Abs. 3 GmbHG a.F. – auf alle rückständigen mitgliedschaftlichen Leistungen, zu denen bspw. auch Verzugszinsen, Nebenleistungspflichten nach § 3 Abs. 2 GmbHG, Haftungen aus §§ 24, 31 Abs. 3 GmbHG, Haftung für Nachschüsse, die Differenzhaftung aus § 9 GmbHG etc. gehören.7 Dies verhindert, dass die Gesellschaft durch einen Schuldnerwechsel Nachteile erleidet, und schneidet einem Gesellschafter die Möglichkeit ab, sich seiner Haftung durch Veräußerung des Anteils zu entledigen. Freilich birgt dies auch ein Risiko für den Veräußerer, der mit seiner Forthaftung rechnen muss und im Verhältnis zur Gesellschaft das Risiko des internen Ausgleichs mit dem Erwerber trägt.8 Eine gesetzliche Regelung, die den Geschäftsanteil dem zahlenden Rechtsvorgänger zuweist und dieses Risiko abmildern würde, gibt es hier nicht. Aus Sicht der Gesellschaft ist das mit dem Veräußerungsvorgang verbundene Risiko für die Kapitalaufbringung (Schuldnerwechsel) durch die gesamtschuldnerische (Fort-)Haftung des Veräußerers kompensiert. Alle weiteren Fragen sind im Verhältnis zwischen Veräußerer und Erwerber zu klären und betreffen die Gesellschaft nicht. 2. § 22 Abs. 1, 4 GmbHG § 22 Abs. 1 GmbHG knüpft an den Fall an, dass ein Gesellschafter wegen Nichterbringung einer Einlageleistung nach § 21 GmbHG kaduziert wurde, d.h. „seines Geschäftsanteils und der geleisteten Teilzahlungen zugunsten der Gesellschaft [für] verlustig erklärt“ wurde (§ 21 Abs. 2 GmbHG). Die Kaduzierung an sich fördert die Kapitalaufbringung nicht, da sie der Gesellschaft keine Mittel zuführt, sondern nur einen säumigen Gesellschafter ausschließt. Sie öffnet aber den Weg für den Rückgriff auf die Rechtsvorgänger des Kaduzierten, die gemäß § 22 Abs. 1 GmbHG „für eine von dem ausgeschlossenen Gesellschafter nicht erfüllte Einlageverpflichtung“ haften. Zahlt der Rechtsvorgänger den rückständigen Betrag, so erwirbt er nach § 22 Abs. 4 GmbHG den Geschäftsanteil des ausgeschlossenen Gesellschafters. Das Gesetz kompensiert auf diese Weise zum einen die Verpflichtung des Nicht-Gesellschafters zur Erbringung der rückständigen Einlage. Dieser erhält als eine Art Gegenleistung den Geschäftsan6 Vgl. Gesetzentwurf v. 11.2.1892, betr. die Gesellschaften mit beschränkter Haftung, Reichstag, Aktenstück Nr. 660, S. 3739; Heidinger in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 16 GmbHG Rz.  22  f.; Löbbe in Ulmer/Habersack/Löbbe, 2.  Aufl. 2013, §  16 GmbHG Rz.  9; Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff, 6.  Aufl. 2017, §  16 GmbHG Rz.  3; Seibt in Scholz, 12. Aufl. 2018, § 16 GmbHG Rz. 51; Verse in Henssler/Strohn, 3. Aufl. 2016, § 16 GmbHG Rz. 15. 7 Allgemeine Meinung, Altmeppen in Roth/Altmeppen, 8. Aufl. 2015, § 16 GmbHG Rz. 28; Fastrich in Baumbach/Hueck, 21.  Aufl. 2017, §  16 GmbHG Rz.  22; Heidinger in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 16 GmbHG Rz. 214; Müller in Ulmer/Habersack/Löbbe, 2. Aufl. 2013, § 22 GmbHG Rz. 6; Wicke in Wicke, 3. Aufl. 2016, § 16 GmbHG Rz. 12. 8 BGH v. 14.3.1977 – II ZR 156/75, BGHZ 68, 191, 197 f. = NJW 1977, 1196, 1197.

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teil,9 was angesichts des Umstands, dass der ausgeschlossene Gesellschafter auch etwaiger Teilzahlungen für verlustig erklärt wird (§ 21 Abs. 2 S. 1 GmbHG), einen wirtschaftlichen Vorteil bedeuten kann, der die Zahlung der rückständigen Einlage übersteigt. Zum anderen sorgt das Gesetz auch dafür, dass der Geschäftsanteil nicht in der Hand der Gesellschaft bleibt und verschafft der Gesellschaft einen neuen Gesellschafter, der an die Stelle des Ausgeschlossenen tritt. Der neue Gesellschafter haftet damit auch für die weitere Kapitalaufbringung, d.h. er muss bei Fälligkeit weitere Einlageleistungen in Bezug auf seinen Geschäftsanteil leisten und ihn trifft u.U. die Ausfallhaftung nach § 24 GmbHG. Der Anteilserwerb kann für ihn damit auch negativ sein. 3. Vergleich von § 16 Abs. 2 und § 22 Abs. 1, 4 GmbHG § 16 Abs. 2 GmbHG regelt mithin den Fall der Veräußerung des Geschäftsanteils und trägt dafür Sorge, dass der Gesellschaft hierdurch kein Schaden entsteht. Diese sieht sich hinsichtlich der mit dem Geschäftsanteil verbundenen Einlage- und sonstigen Leistungspflichten einem Schuldnerwechsel ausgesetzt. Einen solchen muss sie nach allgemeinen Regeln nicht hinnehmen. Während §  415 Abs.  1 Satz  1 BGB für die Wirksamkeit einer zwischen dem Schuldner und einem Dritten vereinbarten Schuld­ übernahme die Genehmigung des Gläubigers verlangt, geht das GmbHG einen ­anderen Weg und lässt den bisherigen Schuldner, den Veräußerer, weiter haften.10 Insofern ist es auch folgerichtig, dass sich § 16 Abs. 2 GmbHG nicht nur auf Einlagepflichten im engeren Sinne bezieht, sondern weitergehend alle rückständigen, mit der Gesellschafterstellung verbundenen Leistungsverpflichtungen erfasst.11 Demgegenüber ist der Anwendungsbereich des §  22 Abs.  1 GmbHG auf Einlagepflichten im engeren Sinne beschränkt. Es geht nicht (auch) um die Handhabung eines Schuldnerwechsels, sondern um die Sicherstellung der Kapitalaufbringung. Aus diesem Grund werden sukzessive alle Rechtsvorgänger und nicht nur der unmittelbare Rechtsvorgänger des Kaduzierten in Haftung genommen.12 Dies erklärt auch, war 9 Vgl. Gesetzentwurf v. 11.2.1892, betr. die Gesellschaften mit beschränkter Haftung, Reichstag, Aktenstück Nr. 660, S. 3741; Emmerich in Scholz, 12. Aufl. 2018, § 22 GmbHG Rz. 2. 10 Eine Anteilsübertragung kann damit ohne Zustimmung der Gesellschaft stattfinden, wodurch die Verkehrsfähigkeit des Anteils gesteigert wird. 11 Soweit sich der Schuldnerwechsel im Hinblick auf künftig fällig werdende Einlageverpflichtungen als nachteilig erweist, steht die Kaduzierung zur Verfügung, s. sogleich bei Fn. 13 ff. 12 Freilich können bei einer sukzessiven Anteilsveräußerung auch bei § 16 Abs. 2 GmbHG mehrere Rechtsvorgänger haften. Ein Erstveräußerer wird nicht dadurch enthaftet, dass der Erwerber den Anteil als Zweitveräußerer an einen weiteren Erwerber weiterveräußert. Vgl. hierzu Altmeppen in Roth/Altmeppen, 8. Aufl. 2015, § 16 GmbHG Rz. 32; Ebbing in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, 3. Aufl. 2017, § 16 GmbHG Rz. 142; Löbbe in Ulmer/Habersack/Löbbe, 2.  Aufl. 2013, §  16 GmbHG Rz.  95; Seibt in Scholz, 12.  Aufl. 2018, §  16 GmbHG Rz. 53; s. auch Müller in Ulmer/Habersack/Löbbe, 2. Aufl. 2013, § 22 GmbHG Rz. 6; Schütz in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 22 GmbHG Rz. 12 [s. aber missverständlich Rz. 10]. Missverständlich in Richtung einer Haftung nur des unmittelbaren Rechtsvorgängers nach § 16 Abs. 2 GmbHG deutbar hingegen: Ebbing in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, 3.  Aufl. 2017, §  22 GmbHG Rz.  100; Schütz in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 22 GmbHG Rz. 10 [s. aber Rz. 11].

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Haftung für Einlagepflichten und Erwerb des Geschäftsanteils

um sich die Haftung nicht nur auf bei Veräußerung fällige Einlageverpflichtungen erstreckt, sondern auch später fällig werdende Einlageverpflichtungen erfasst.13 Es geht eben um die Kapitalaufbringung und die Haftung knüpft an das ursprüngliche Einlageversprechen an.14 § 16 Abs. 2 GmbHG erfasst hingegen nur solche rückständigen Leistungen, die im Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Veräußerung gegenüber der Gesellschaft rückständig sind. Hier geht es in erster Linie um den Schuldnerwechsel; dies aber gerade auch im Hinblick auf den Kapitalschutz.15 Im Hinblick auf die Kapitalaufbringung wird die Haftung für später fällig werdende Einlageverpflichtungen im Falle einer Veräußerung über § 22 Abs. 1 GmbHG sichergestellt. Einer Anwendung des § 16 Abs. 2 GmbHG bedarf es insofern an und für sich nicht.16 Sie stellt freilich die Forthaftung des Veräußerers unabhängig von einer Kaduzierung sicher. Im Hinblick auf den Anteilsübergang, der im Fall des § 22 Abs. 1, 4 GmbHG vorgesehen ist, nicht aber im Fall des § 16 Abs. 2 GmbHG, hat die unterschiedliche Regelung verschiedene Gründe. Zum einen ist der Anwendungsbereich des § 16 Abs. 2 GmbHG weiter und umfasst alle mit der Gesellschafterstellung verbundenen Pflichten, nicht nur die Einlagepflicht. Die Gesetzesbegründung zu § 22 Abs. 4 GmbHG knüpft den Anteilsübergang aber gerade an die Erfüllung der Einlagepflicht durch den Rechtsvorgänger.17 Zum anderen steht der Anteil nur im Fall des § 22 Abs. 4 GmbHG der Gesellschaft zu und kann ohne weiteres auf den zahlenden Rechtsvorgänger übergehen. Dies ist unproblematisch, da die Gesellschaft den Anteil ohne Gegenleistung erworben hat und aus eigenen Anteilen keine Rechte geltend machen kann.18 Sofern der Anteil hingegen nicht der Gesellschaft, sondern wie im Fall des §  16 Abs.  2 ­GmbHG einem Erwerber zusteht, würde die Anordnung eines gesetzlichen Anteilsübergangs in dieses Verhältnis eingreifen, ohne dass die Umstände des Einzelfalls, insbesondere die vertraglichen Vereinbarungen zwischen Veräußerer und Erwerber, berücksichtigt würden. Vor diesem Hintergrund ist die gesetzgeberische Entscheidung, im Fall des § 16 Abs. 2 GmbHG keinen Anteilsübergang vorzusehen, nachvollziehbar und keinesfalls eine planwidrige Regelungslücke. 13 S. auch oben in und bei Fn. 12. 14 Altmeppen in Roth/Altmeppen, 8.  Aufl. 2015, §  22 GmbHG Rz.  1; Ebbing in Michalski/ Heidinger/Leible/J. Schmidt, 3.  Aufl. 2017, §  22 GmbHG  Rz.  1; Emmerich in Scholz, 12. Aufl. 2018, § 22 GmbHG Rz. 1; Müller in Ulmer/Habersack/Löbbe, 2. Aufl. 2013, § 22 GmbHG Rz.  1; Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff, 6.  Aufl. 2017, §  22 GmbHG Rz.  1; Schütz in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 22 GmbHG Rz. 1. 15 Den Schuldnerwechsel betonen: Brandes in Bork/Schäfer, 3. Aufl. 2015, § 16 GmbHG Rz. 2; Verse in Henssler/Strohn, 3. Aufl. 2016, § 16 GmbHG Rz. 2. Die Kapitalaufbringung betont: Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff, 6. Aufl. 2017, § 16 GmbHG Rz. 3. Beide Zwecke gleichermaßen nennen: Heidinger in MünchKomm. GmbHG, 3.  Aufl. 2018, §  16 GmbHG Rz. 22; Löbbe in Ulmer/Habersack/Löbbe, 2. Aufl. 2013, § 16 GmbHG Rz. 9. 16 Dies gilt freilich nur hinsichtlich der Kapitalaufbringung („insofern“) und nicht soweit der Anwendungsbereich des § 16 Abs. 2 GmbHG weitergehend ist als derjenige des § 22 Abs. 1 GmbHG. 17 Vgl. Gesetzentwurf v. 11.2.1892, betr. die Gesellschaften mit beschränkter Haftung, Reichstag, Aktenstück Nr. 660, S. 3741. 18 Rechte aus eigenen Anteilen ruhen, s. nur BGH v. 30.1.1995 – II ZR 45/94, NJW 1995, 1027, 1028; Fastrich in Baumbach/Hueck, 21. Aufl. 2017, § 33 GmbHG Rz. 23.

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4. Überschneidungsbereich Lassen sich mithin die Regelungsbereiche des § 16 Abs. 2 GmbHG einerseits und des § 22 Abs. 1, 4 GmbHG andererseits gut voneinander abgrenzen, so gibt es doch einen Überschneidungsbereich, in dem beide Normen gleichzeitig zur Anwendung kommen. Soweit Einlagepflichten im engeren Sinne bereits zu dem Zeitpunkt rückständig sind, in dem der Erwerber nach § 16 Abs. 1 Satz 1 GmbHG im Verhältnis zur Gesellschaft als Inhaber des Geschäftsanteils gilt, ist nicht nur der Anwendungsbereich des § 16 Abs. 2 GmbHG eröffnet. Daneben greift, sofern der Erwerber aufgrund seiner rückständigen Einlageverpflichtung kaduziert wurde, auch § 22 Abs. 4 GmbHG ein. Damit stellt sich die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen es in diesen Fällen zu einem Anteilserwerb durch den zahlenden Rechtsvorgänger kommt.

III. Anteilserwerb im Schnittfeld von § 16 Abs. 2 GmbHG und § 22 Abs. 1, 4 GmbHG Diese Frage ist umstritten. Grundsätzlich sind drei verschiedene Lösungen denkbar: Die Gesellschaft hat ein Wahlrecht, auf welche Anspruchsgrundlage sie sich stützt (so die herrschende Auffassung, s. unten III.1.).19 Der zahlende Rechtsvorgänger hat ein Wahlrecht, auf welchen Anspruch er leistet (so die Mindermeinung, s. unten III.2.).20 Eine Zahlung bringt stets beide Ansprüche zum Erlöschen, so dass – bei vollständiger Zahlung – stets auch eine Zahlung auf den Anspruch aus § 22 Abs. 1 GmbHG mit der Folge des Anteilsübergangs nach Abs. 4 vorliegt (s. unten III.2.b)). Dabei ist im Rahmen jeder dieser Lösungen Raum für Differenzierungen, die sich etwa auch auf die Frage erstrecken können, ob die Ausübung des Wahlrechts der Gesellschaft (oder auch des Gesellschafters) Grenzen unterworfen ist. Schließlich ist noch die weitere Konstellation zu unterscheiden, dass die Gesellschaft nicht zwischen verschiedenen Anspruchsgrundlagen, sondern zwischen verschiedenen Schuldnern wählen kann (unten III.3.). 1. Kein Wahlrecht der Gesellschaft zwischen Anspruchs­grund­lagen Zunächst vermag die Lösung, dass der Gesellschaft ein Wahlrecht zwischen zwei gegenüber demselben Schuldner bestehenden Anspruchsgrundlagen zustehen soll, nicht zu überzeugen. Vorliegend geht es um die Situation, dass ein Anspruch der Gesellschaft auf Zahlung rückständiger Leistungen nach § 16 Abs. 2 GmbHG und gleich19 Altmeppen in Roth/Altmeppen, 8.  Aufl. 2015, §  22 GmbHG Rz.  10; Bayer in Lutter/ Hommelhoff, 19. Aufl. 2016, § 22 GmbHG Rz. 19; Ebbing in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, 3.  Aufl. 2017, §  22 GmbHG  Rz.  101; Emmerich in Scholz, 12.  Aufl. 2018, §  22 ­GmbHG Rz. 5; Müller in Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, 2. Aufl. 2013, § 22 GmbHG Rz. 6; Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff, 6. Aufl. 2017, § 22 GmbHG Rz. 4; Saenger in Saenger/Inhester, 3.  Aufl. 2016, §  22 GmbHG Rz.  2; Schütz in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 22 GmbHG Rz. 9 ff.; Verse in Henssler/Strohn, 3. Aufl. 2016, § 22 GmbHG Rz. 2. 20 Fastrich in Baumbach/Hueck, 21. Aufl. 2017, § 22 GmbHG Rz. 2.

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zeitig ein Anspruch der Gesellschaft auf Erbringung nicht erfüllter Einlageverpflichtungen aus § 22 Abs. 1 GmbHG besteht. Beide Ansprüche richten sich dabei gegen dieselbe Person,21 so dass eine Anspruchskonkurrenz vorliegt. Auszugehen ist dabei von einer echten Anspruchskonkurrenz.22 Aufgrund der unterschiedlichen Reichweite der Ansprüche nach §  16 GmbHG und §  22 GmbHG ist nämlich nicht anzunehmen, dass eine Norm die andere verdrängt. Auch für eine elektive Konkurrenz ist nichts ersichtlich, was im Übrigen auch der ganz herrschenden Meinung entspricht, welche die Normen für nebeneinander anwendbar hält.23 Liegt nun aber eine echte Anspruchskonkurrenz vor, so kann, soweit diese Ansprüche auf dasselbe Ziel gerichtet sind, nur einmal Zahlung verlangt werden. Mit der Erfüllung eines Anspruchs erlöschen daher insoweit auch die übrigen Ansprüche.24 Mit dieser Ausgangslage ist die Ansicht der herrschenden Meinung, die Gesellschaft könne sich im Überschneidungsbereich der Normen, d.h. in Bezug auf im Zeitpunkt der Eintragung des Erwerbers nach § 16 Abs. 1 GmbHG fällige Leistungen auf die Stammeinlage, auf die eine oder die andere Anspruchsgrundlage stützen, nicht vereinbar. Eine Zahlung des Rechtsvorgängers bringt beide Ansprüche zum Erlöschen und löst damit – vorausgesetzt, dass die Zahlung den vollen Betrag der Forderung nach § 22 Abs. 1 GmbHG umfasst – die Rechtsfolge des § 22 Abs. 4 GmbHG aus. Hierzu bedarf es keiner Zustimmung oder sonstigen weiteren Handlung der Gesellschaft.25 Konstruktiv ließe sich ein Wahlrecht nur begründen, wenn die Gesellschaft auf einen der beiden Ansprüche verzichtet. Nur so könnte sie dem Rechtsvorgänger die Möglichkeit nehmen, (auch) auf diesen Anspruch zu leisten. Allerdings ist der Gesellschaft ein Verzicht auf den Anspruch aus § 22 Abs. 1 GmbHG gar nicht möglich, da insofern § 19 Abs. 2 GmbHG gilt.26 Gleiches gilt für den Anspruch aus § 16 Abs. 2 GmbHG.27 Es lässt sich auch nicht argumentieren, dass ein Verzicht auf einen 21 Zu Mehrpersonenverhältnissen s. unten III.3. 22 Zu den Begrifflichkeiten s. Bachmann in MünchKomm. BGB, 7.  Aufl. 2016, §  241 BGB Rz. 35 ff. 23 S. die Nachweise oben in Fn. 19. 24 Bachmann in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2016, § 241 BGB Rz. 39; Wolf/Neuner, BGB AT, 11. Aufl. 2016, § 21 Rz. 5. Vgl. auch Müller in Ulmer/Habersack/Löbbe, 2. Aufl. 2013, § 22 GmbHG Rz. 6. 25 Zutreffend Fastrich in Baumbach/Hueck, 21. Aufl. 2017, § 22 GmbHG Rz. 2. 26 OLG Köln v. 23.1.1987 – 20 U 148/86, WM 1987, 537, 538 = GmbHR 1987, 478; Altmeppen in Roth/Altmeppen, 8.  Aufl. 2015, §  22 GmbHG Rz.  7; Bayer in Lutter/Hommelhoff, 19.  Aufl. 2016, §  22 GmbHG Rz.  3; Ebbing in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, 3. Aufl. 2017, § 22 GmbHG Rz. 71; Emmerich in Scholz, 12. Aufl. 2018, § 22 GmbHG Rz. 14; Fastrich in Baumbach/Hueck, 21. Aufl. 2017, § 22 GmbHG Rz. 8; Müller in Ulmer/Habersack/Löbbe, 2. Aufl. 2013, § 22 GmbHG Rz. 5, 41; Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff, 6. Aufl. 2017, § 22 GmbHG Rz. 23; Schwandtner in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 19 GmbHG Rz. 48; Verse in Henssler/Strohn, 3. Aufl. 2016, § 22 GmbHG Rz. 16. 27 Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff, 6. Aufl. 2017, § 19 GmbHG Rz. 36; Schwandtner in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 19 GmbHG Rz. 48; Ulmer/Casper in Ulmer/Habersack/Löbbe, 2. Aufl. 2013, § 19 GmbHG Rz. 44; Ziemons in BeckOK GmbHG, 34. Aufl. 2017, § 19 GmbHG Rz. 99.

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dieser Ansprüche, nicht aber auf beide Ansprüche mit § 19 Abs. 2 GmbHG vereinbar sei. Hiergegen spricht schon, dass die Ansprüche aus §§ 16 Abs. 2, 22 Abs. 1 GmbHG inhaltlich nicht deckungsgleich sind. Zudem ginge ein solches Argument ohnehin ins Leere. Ein einseitiger Verzicht ist nämlich nicht möglich. Hierzu bedürfte es einer vertraglichen Vereinbarung mit dem Schuldner (vgl. § 397 BGB), wozu dieser nicht zu seinem Nachteil bereit sein wird. Ein Wahlrecht der Gesellschaft scheidet damit aus. Dies ist auch in der Sache gerechtfertigt. Eine Wahl hat die Gesellschaft nämlich bereits mit ihrer Entscheidung, den säumigen Gesellschafter zu kaduzieren, ausgeübt. Mit dieser Entscheidung hat sie das Programm der §§ 21 ff. GmbHG in Lauf gesetzt. Dieses sieht nun aber vor, dass die Rechtsvorgänger des Ausgeschlossenen haften (§ 22 Abs. 1 GmbHG) und bei Zahlung den Geschäftsanteil erwerben (§ 22 Abs. 4 GmbHG). Dass die Gesellschaft den Geschäftsanteil endgültig behält, ist im Grundsatz nicht vorgesehen und wird nur dann hingenommen, wenn weder die Haftung des Rechtsvorgängers nach § 22 GmbHG noch die Versteigerung des Geschäftsanteils nach § 23 GmbHG zum Erfolg führen. Nur und erst dann soll der Geschäftsanteil der Gesellschaft endgültig als Eigentum anheimfallen.28 Mit dieser gesetzlichen Regelung ist eine Auslegung nicht vereinbar, die die Entscheidung darüber, ob der Geschäftsanteil wieder in dritte Hände gelangt und die Gesellschaft hierdurch einen neuen Gesellschafter erhält, in die Hände der Gesellschaft legt. 2. Zum Wahlrecht des Rechtsvorgängers Muss damit ein Wahlrecht der Gesellschaft ausscheiden, so stellt sich die Frage, ob dem zahlenden Rechtsvorgänger, dessen Haftung aus zwei Anspruchsgrundlagen folgt, ein Wahlrecht zukommen kann. Hierfür wird von der Mindermeinung angeführt, dass dieser im Wege der Tilgungsbestimmung nach §  366 BGB entscheiden könne, auf welchen Anspruch er zahle.29 a) Unzureichende Leistung Insofern ist zunächst festzuhalten, dass dies insoweit zutreffend ist, als die gezahlte Summe nicht ausreicht, um die Ansprüche nach § 16 Abs. 2 GmbHG und § 22 Abs. 1 GmbHG vollständig zu befriedigen. Reicht der gezahlte Betrag etwa aus, um die nicht erfüllte Einlageverpflichtung im Sinne des § 22 Abs. 1 GmbHG zu erbringen, genügt er jedoch nicht, um nach § 16 Abs. 2 GmbHG auch (alle) im Erwerbszeitpunkt rückständigen Leistungen zu erbringen,30 zu denen auch die nicht erfüllte Einlagever28 Altmeppen in Roth/Altmeppen, 8.  Aufl. 2015, §  23 GmbHG Rz.  20; Bayer in Lutter/ Hommelhoff, 19. Aufl. 2016, § 23 GmbHG Rz. 6; Fastrich in Baumbach/Hueck, 21. Aufl. 2017, § 23 GmbHG Rz. 6; Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff, 6. Aufl. 2017, § 23 GmbHG Rz. 36; Schütz in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 23 GmbHG Rz. 76. 29 Fastrich in Baumbach/Hueck, 21. Aufl. 2017, § 21 GmbHG Rz. 2. 30 S.  zu dem Beispiel auch Schütz in MünchKomm. GmbHG, 3.  Aufl. 2018, §  22 GmbHG Rz. 12.

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pflichtung im Sinne des § 22 Abs. 1 GmbHG gehört, so wird man eine Tilgungsbestimmung des Rechtsvorgängers zu akzeptieren haben. Dieser kann auf § 22 Abs. 1 GmbHG zahlen, wodurch er den Geschäftsanteil nach § 22 Abs. 4 GmbHG erwirbt und gleichzeitig den Anspruch aus §  16 Abs.  2 GmbHG teilweise zum Erlöschen bringt. Er kann aber auch auf § 16 Abs. 2 GmbHG zahlen. Dies kann in dem gebildeten Fall nur eine Teilzahlung sein, weil die Summe nicht ausreicht, um die Forderung aus § 16 Abs. 2 GmbHG ganz zu befriedigen. In dem Fall stellt sich die Frage, welche Auswirkungen dies auf § 22 Abs. 1 und Abs. 4 GmbHG hat. Dies hängt davon ab, wie die teilweise Zahlung auf § 16 Abs. 2 GmbHG aufzuteilen ist. Wurde durch diese Zahlung die Position der Forderung aus § 16 Abs. 2 GmbHG getilgt, die mit der nicht erfüllten Einlageleistung im Sinne des § 22 Abs. 1 GmbHG identisch ist, so erlischt nicht nur teilweise die Forderung aus § 16 Abs. 2 GmbHG, sondern auch vollständig die Forderung aus § 22 Abs. 1 GmbHG.31 In der Folge käme es dann zum Anteilserwerb nach § 22 Abs. 4 GmbHG. Wurden durch die Zahlung auf § 16 Abs. 2 GmbHG jedoch zunächst andere Positionen getilgt und nicht oder nur teilweise die Position, die mit der nicht erfüllten Einlageleistung im Sinne des § 22 Abs. 1 GmbHG identisch ist, so greift § 22 Abs. 4 GmbHG nicht ein. Vor diesem Hintergrund ist dem Rechtsvorgänger die Vornahme einer Tilgungsbestimmung zu gestatten, obwohl § 366 BGB an sich keine Anwendung findet, soweit eine Forderung aus mehreren Einzelpositionen besteht.32 Von diesem Grundsatz wird jedoch eine Ausnahme gemacht, wenn eine einheitliche Forderung aus prozessualen oder materiell-rechtlichen Gründen in mehrere selbständige Teilforderungen aufgespalten ist.33 Der Rechtsvorgänger kann also eine Tilgungsbestimmung treffen und durch eine Leistung auf § 16 Abs. 2 GmbHG unter gleichzeitiger Bestimmung, dass diese Leistung zunächst auf diejenigen Positionen des § 16 Abs. 2 GmbHG anzurechnen ist, die nicht mit der nicht erfüllten Einlageleistung im Sinne des § 22 Abs. 1 GmbHG identisch sind, das Eingreifen des § 22 Abs. 4 GmbHG verhindern. Genauso kann er entweder durch Leistung auf § 22 Abs. 1 GmbHG oder durch Leistung auf § 16 Abs. 2 GmbHG und die Bestimmung, dass die Leistung auf diejenigen Positionen des § 16 Abs. 2 GmbHG anzurechnen ist, die mit der nicht erfüllten Einlageleistung im Sinne des § 22 Abs. 1 GmbHG identisch sind, sicherstellen, dass § 22 Abs. 4 GmbHG Anwendung findet. Trifft der Rechtsvorgänger in dieser Situation keine Tilgungsbestimmung, so ist von einer Tilgung auszugehen, die zum Erwerb des Anteils durch den Rechtsvorgänger führt.34 Dies ist bei typisierter Betrachtungsweise für ihn vorteilhaft, so dass diese Regelung auch dem Rechtsgedanken des § 366 Abs. 2 BGB entspricht. 31 Dies setzt auch betragsmäßige Identität voraus, d.h. die Forderung aus § 22 Abs. 1 GmbHG darf sich in der Zwischenzeit nicht erhöht haben. 32 Fetzer in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2016, § 366 BGB Rz. 2. 33 Looschelders in BeckOGK, Stand 1.3.2018, § 366 BGB Rz. 26 ff. m.w.N. 34 Vgl. hierzu, ausgehend von einem Wahlrecht der Gesellschaft, Altmeppen in Roth/Altmeppen, 8. Aufl. 2015, § 22 GmbHG Rz. 10; Fastrich in Baumbach/Hueck, 21. Aufl. 2017, § 22 GmbHG Rz. 2, die bei fehlender Ausübung des Wahlrechts durch die Gesellschaft von einem Anteilserwerb ausgehen.

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Zudem berücksichtigt dies auch das Anliegen des Gesetzes, der Gesellschaft einen neuen Gesellschafter zu verschaffen. Dies ist auch in der Sache gerechtfertigt. Der Rechtsvorgänger hatte es selbst in der Hand, durch Vornahme einer Tilgungsbestimmung den Anteilserwerb zu vermeiden. Umgekehrt war die GmbH nicht gezwungen, den Weg der Kaduzierung zu beschreiten, und hatte es damit ebenfalls in der Hand, den Anteilserwerb zu vermeiden. b) Zureichende Leistung Reicht die Leistung des Rechtsvorgängers jedoch aus, um beide Ansprüche der Gesellschaft zu befriedigen, etwa wenn sich die Ansprüche aus § 16 Abs. 2 GmbHG und § 22 Abs. 1 GmbHG decken, so kommt eine Tilgungsbestimmung nicht in Betracht. Insofern fehlt es schon an der in § 366 Abs. 1 BGB aufgestellten Voraussetzung, dass „das von ihm Geleistete nicht zur Tilgung sämtlicher Schulden aus[reicht]“. Der zahlende Rechtsvorgänger hat durch die Zahlung eben sowohl seine Schuld nach § 16 Abs. 2 GmbHG als auch seine Schuld nach § 22 Abs. 1 GmbHG zum Erlöschen gebracht, was nach § 22 Abs. 4 GmbHG ohne weiteres zum Anteilserwerb führt. Eine Konstruktion, wonach der Rechtsvorgänger eine Bestimmung trifft, nur auf die Forderung aus § 16 Abs. 2 GmbHG zahlen zu wollen, wodurch die Forderung aus § 22 Abs. 1 GmbHG bestehen bleibe, so dass es nicht zum Anteilserwerb komme, erscheint demgegenüber nicht überzeugend. Sie kann nämlich nicht erklären, wieso die Forderung aus § 22 Abs. 1 GmbHG bestehen bleiben soll, da eine erneute Zahlung derselben Einlageleistung sicher nicht verlangt werden kann. Man müsste dann annehmen, dass die Forderung zwar weiterbestehe, ihr aber dauerhaft eine Einrede entgegenstehe. Eine solche – gekünstelte – Konstruktion wäre offensichtlich ausschließlich ergebnisgetrieben und hätte keine eigene Erklärungs- oder Überzeugungskraft. Auch in der Sache spricht letztlich nichts dagegen, dem Rechtsvorgänger kein Wahlrecht einzuräumen. Erstens entspricht es in aller Regel seinem Interesse, gegen Zahlung des rückständigen Betrags den Geschäftsanteil zu erhalten. Damit erhält er, was auch der historische Gesetzgeber betont hatte,35 einen Gegenwert für die von ihm erbrachte Leistung. Besonders profitabel ist dies dann, wenn der ausgeschlossene Gesellschafter oder ein vorrangig haftender Rechtsvorgänger bereits einen erheblichen Teil der Einlage geleistet hatte.36 35 Vgl. Gesetzentwurf v. 11.2.1892, betr. die Gesellschaften mit beschränkter Haftung, Reichstag, Aktenstück Nr. 660, S. 3741; s. auch Emmerich in Scholz, 12. Aufl. 2018, § 22 GmbHG Rz. 2. 36 Dies basiert freilich auf der Prämisse der herrschenden Meinung, wonach keine Regressoder Ausgleichsansprüche bestehen (Altmeppen in Roth/Altmeppen, 8.  Aufl. 2015, §  22 GmbHG Rz. 25; Ebbing in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, 3. Aufl. 2017, § 22 GmbHG Rz. 103 ff., 106; Emmerich in Scholz, 12. Aufl. 2018, § 22 GmbHG Rz. 12 ff.; Fastrich in Baumbach/Hueck, 21.  Aufl. 2017, §  22 GmbHG Rz.  10; Müller in Ulmer/Habersack/ Löbbe, 2. Aufl. 2013, § 22 GmbHG Rz. 56; Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff, 6. Aufl. 2017, § 22 GmbHG Rz. 24; Saenger in Saenger/Inhester, 3. Aufl. 2016, § 22 GmbHG Rz. 20; Schütz in MünchKomm. GmbHG, 3.  Aufl. 2018, §  22 GmbHG Rz.  78; Wicke in Wicke, 3.  Aufl. 2016, §  22 GmbHG Rz.  6), zutreffend ist; zweifelnd insofern Bayer in Lutter/

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Zweitens ist es dem Rechtsvorgänger auch bei einem etwaig entgegenstehenden Willen zumutbar, den Geschäftsanteil zu übernehmen. Ihm wird dieser nicht in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise aufgedrängt, sondern er erhält ihn, weil er zuvor einmal freiwillig eine Gesellschafterstellung übernommen hatte. Zudem ist seine Haftung zeitlich „auf die innerhalb der Frist von fünf Jahren auf die Einlageverpflichtung eingeforderten Leistungen beschränkt“ (§ 22 Abs. 3 GmbHG). Drittens entspricht es der gesetzlichen Konzeption, dass der Gesellschaft ein neuer Gesellschafter verschafft wird. Die §§ 21 ff. GmbHG zielen primär darauf ab, den säumigen und dann kaduzierten Gesellschafter durch einen neuen Gesellschafter zu ersetzen. Deutlich wird dies an der Abfolge von §§ 22 und 23 GmbHG sowie daran, dass ein Verbleiben des Geschäftsanteils in den Händen der Gesellschaft nur notgedrungen akzeptiert wird.37 Ein Wahlrecht des zahlenden Rechtsvorgängers ist mit dieser Konzeption nicht vereinbar. Der zahlende Rechtsvorgänger kann einen erneuten Anteilserwerb damit letztlich nicht vermeiden. Ihm verbleibt aber natürlich die Möglichkeit, sich des Anteils durch eine erneute Veräußerung zu entledigen. 3. Wahlrecht der Gesellschaft zwischen mehreren Schuldnern Zu betrachten ist schließlich noch eine weitere Situation, in der ein Wahlrecht der Gesellschaft in Betracht kommen kann. Es ist denkbar, dass neben einer sowohl aus § 16 Abs. 2 GmbHG und § 22 Abs. 1 GmbHG begründeten Haftung des Rechtsvorgängers des Kaduzierten noch die Haftung eines weiteren Rechtsvorgängers oder gar mehrerer weiterer Rechtsvorgänger aus § 16 Abs. 2 GmbHG begründet ist. Dies ist dann der Fall, wenn der Erwerber eines Geschäftsanteils, für den Einlageverpflichtungen rückständig sind, diesen weiterveräußert.38 Die herrschende Meinung nimmt auch in diesem Fall ein Wahlrecht der Gesellschaft an. Dieser stünde es frei, entweder den Kaduzierten oder aber einen weiteren Rechtsvorgänger nach § 16 Abs. 2 GmbHG in Anspruch zu nehmen.39 Dies ist zutreffend. Freilich handelt es sich hier nicht um ein Wahlrecht zwischen verschiedenen Anspruchsgrundlagen. Die Gesellschaft hat vielmehr die Wahl, welche von mehreren auf dieselbe Leistung haftenden Personen sie in Anspruch nehmen will. Entscheidet sich die Gesellschaft dafür, den Rechtsvorgänger des Kaduzierten in Anspruch zu nehmen, so gilt das zuvor Gesagte: der Gesellschaft kommt insofern kein Wahlrecht zwischen den beiden ihren Anspruch begründenden AnspruchsHommelhoff, 19. Aufl. 2016, § 22 GmbHG Rz. 17; für Regressansprüche des Zahlenden (nur) gegen seine i.R.d. §  22 Abs.  2 GmbHG vorrangig haftenden Nachfolger Verse in Henssler/Strohn, 3. Aufl. 2016, § 22 GmbHG Rz. 22a. 37 S. oben in und bei Fn. 28. 38 S. oben in und bei Fn. 12. 39 Müller in Ulmer/Habersack/Löbbe, 2. Aufl. 2013, § 22 GmbHG Rz. 6; Schütz in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 22 GmbHG Rz. 12; vgl. Ebbing in Michalski/Heidinger/ Leible/J. Schmidt, 3. Aufl. 2017, § 16 GmbHG Rz. 155.

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grundlagen zu. Auch der in Anspruch genommene Rechtsvorgänger hat grundsätzlich kein Wahlrecht. Eine ausreichende Leistung tilgt beide Ansprüche und führt damit zum Anteilserwerb. Lediglich wenn seine Leistung nicht zur Tilgung beider Ansprüche ausreicht, besteht ein Wahlrecht des zahlenden Rechtsvorgängers.40 Entscheidet sich die Gesellschaft hingegen, nicht den Rechtsvorgänger des Kaduzierten, sondern einen weiteren Rechtsvorgänger nach § 16 Abs. 2 GmbHG in Anspruch zu nehmen, so führt dessen Zahlung zwar zum Erlöschen auch der Ansprüche der Gesellschaft gegen den Rechtsvorgänger des Kaduzierten nach § 16 Abs. 2 GmbHG und § 22 Abs. 1 GmbHG. Schließlich kann die Gesellschaft die Leistung nur einmal verlangen. Es kommt jedoch nicht zum Anteilserwerb durch den Rechtsvorgänger des Kaduzierten, da nicht dieser, sondern ein Dritter auf eigene Schuld gezahlt hat.41 Insofern hat die Gesellschaft die Möglichkeit, über den Anteilserwerb zu entscheiden, und zwar nicht, indem sie zwischen zwei verschiedenen Anspruchsgrundlagen wählt, sondern indem sie zwischen zwei verschiedenen Schuldnern wählt. Damit hätte die Gesellschaft freilich die Möglichkeit, das Ziel der §§ 21 ff. GmbHG, der Gesellschaft einen neuen Gesellschafter zu verschaffen, zu umgehen. Ein Gebot, nach § 22 Abs. 1, 4 GmbHG vorzugehen, lässt sich bei unterschiedlichen Schuldnern allenfalls als Ermessensleitlinie aufstellen. Ein absoluter Vorrang des § 22 GmbHG mit Außenwirkung lässt sich jedoch nicht begründen, so dass die Gesellschaft in der Tat die Möglichkeit hat, den Anteilserwerb zu verhindern. Dies wird jedoch dadurch abgemildert, dass die Gesellschaft eine Zahlung durch den Rechtsvorgänger des Kaduzierten nach § 22 Abs. 1 GmbHG, welche in der Folge den Anteilserwerb nach § 22 Abs. 4 GmbHG auslöst, nicht verhindern kann. Insofern haben es der Rechtsvorgänger des Kaduzierten und der weitere Rechtsvorgänger in der Hand, den Anteilserwerb herbeizuführen, indem die Zahlung durch den Rechtsvorgänger des Kaduzierten geleistet wird. Zudem besteht die Möglichkeit, dass der weitere Rechtsvorgänger, der von der Gesellschaft nach § 16 Abs. 2 GmbHG in Anspruch genommen wird, nicht auf diese Forderung leistet, sondern als Dritter gemäß § 267 BGB auf die Forderung der Gesellschaft gegen den Rechtsvorgänger des Kaduzierten nach § 22 Abs. 1 GmbHG zahlt und damit den Anteilserwerb nach § 22 Abs. 4 GmbHG durch den Rechtsvorgänger des Kaduzierten bewirkt. Zwar ist die Anwendbarkeit des §  267 BGB umstritten. Dieser Streit bezieht sich auf die Frage, ob ein noch nicht haftender Rechtsvorgänger für einen zahlungsunfähigen Rechtsnachfolger die ausstehende Einlage gemäß § 267 BGB leisten kann, so dass dieser den Anteil erwirbt.42 Diskutiert wird, ob und unter ­welchen Voraussetzungen über § 267 BGB in die zwingende Regresskette nach § 22

40 S. oben III.1., III.2. 41 § 22 Abs. 4 GmbHG verlangt Zahlung durch den Rechtsvorgänger des Kaduzierten, vgl. Fastrich in Baumbach/Hueck, 21. Aufl. 2017, § 22 GmbHG Rz. 10; Schütz in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 22 GmbHG Rz. 62, 64. 42 S. Schütz in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 22 GmbHG Rz. 66 ff. m.w.N.

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GmbHG eingegriffen werden darf.43 Nach richtiger Ansicht findet § 267 BGB Anwendung, weil es nicht darauf ankommen kann, wie sich der Schuldner die nötigen Geldmittel verschafft.44 Das Interesse an der Kapitalaufbringung hat insofern Vorrang.45 Einem etwaigen gemeinsamen Interesse der Gesellschaft und des haftenden Rechtsvorgängers des Kaduzierten, einen Anteilserwerb durch letzteren zu vermeiden, kann durch § 267 Abs. 2 BGB Rechnung getragen werden, der die Ablehnung der Leistung durch den Gläubiger ermöglicht, wenn der Schuldner widerspricht. Eine Zahlung des nach §  16 Abs.  2 GmbHG in Anspruch genommenen weiteren Rechtsvorgängers als Dritter gemäß § 267 Abs. 1 Satz 1 BGB auf die Schuld des nach § 22 Abs. 1 GmbHG haftenden Rechtsvorgängers des Kaduzierten führt also zurück in den von der Gesellschaft durch die Kaduzierung angestoßenen Prozess der §§ 21 ff. GmbHG und sorgt im Einklang hiermit dafür, dass die Gesellschaft einen neuen Gesellschafter erhält. Für den nach § 16 Abs. 2 GmbHG in Anspruch genommenen weiteren Rechtsvorgänger ist dies auch wirtschaftlich sinnvoll, da er gegen den Erwerber des Anteils im Wege der Rückgriffskondiktion (§ 812 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. BGB) vorgehen kann.46 Insofern kann er in der Zwangsvollstreckung auch den von diesem erworbenen Anteil verwerten, ohne selbst Anteilsinhaber werden zu müssen. Dies kann wirtschaftlich sinnvoller sein als vertraglich gegen denjenigen vorzugehen, an den der Anteil von ihm veräußert wurde. Festzuhalten bleibt damit, dass ein Wahlrecht der Gesellschaft besteht, wenn neben einer sowohl aus § 16 Abs. 2 GmbHG und § 22 Abs. 1 GmbHG begründeten Haftung des Rechtsvorgängers des Kaduzierten noch die Haftung eines weiteren Rechtsvorgängers oder gar mehrerer weiterer Rechtsvorgänger aus § 16 Abs. 2 GmbHG begründet ist. Die Gesellschaft wählt dann nicht zwischen zwei Anspruchsgrundlagen, sondern zwischen zwei Schuldnern. Allerdings wird die damit verbundene Möglichkeit der Gesellschaft, über den Anteilserwerb nach § 22 Abs. 4 GmbHG zu entscheiden, dadurch deutlich abgeschwächt, dass sie eine Zahlung durch den Rechtsvorgänger des Kaduzierten auf die Forderung aus § 22 Abs. 1 GmbHG nicht verhindern kann und zudem die Möglichkeit besteht, dass der nach § 16 Abs. 2 GmbHG haftende wei43 Hiergegen Altmeppen in Roth/Altmeppen, 8.  Aufl. 2015, §  22 GmbHG Rz.  20; Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff, 6. Aufl. 2017, § 22 GmbHG Rz. 32; Schütz in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 22 GmbHG Rz. 66 ff. Dafür Emmerich in Scholz, 12. Aufl. 2018, § 22 GmbHG Rz. 19a; Fastrich in Baumbach/Hueck, 21. Aufl. 2017, § 22 GmbHG Rz. 10; Müller in Ulmer/Habersack/Löbbe, 2. Aufl. 2013, § 22 GmbHG Rz. 60; Wicke in Wicke, 3.  Aufl. 2016, §  22 GmbHG Rz.  4; eingeschränkt Bayer in Lutter/Hommelhoff, 19.  Aufl. 2016, § 22 GmbHG Rz. 13; Ebbing in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, 3. Aufl. 2017, § 22 GmbHG Rz. 84; Verse in Henssler/Strohn, 3. Aufl. 2016, § 22 GmbHG Rz. 18. 44 Müller in Ulmer/Habersack/Löbbe, 2. Aufl. 2013, § 22 GmbHG Rz. 60; s. auch Schütz in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 22 GmbHG Rz. 68. 45 Emmerich in Scholz, 12. Aufl. 2018, § 22 GmbHG Rz. 19a; Fastrich in Baumbach/Hueck, 21. Aufl. 2017, § 22 GmbHG Rz. 10; Müller in Ulmer/Habersack/Löbbe, 2. Aufl. 2013, § 22 GmbHG Rz.  60; s. auch Ebbing in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, 3.  Aufl. 2017, § 22 GmbHG Rz. 84. 46 Krüger in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2016, § 267 BGB Rz. 21; Schwab in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2017, § 812 BGB Rz. 372 ff.

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tere Rechtsvorgänger als Dritter gemäß §  267 Abs.  1 S.  1 BGB auf die Schuld des Rechtsvorgängers des Kaduzierten nach § 22 Abs. 1 GmbHG leistet. In beiden Fällen kommt es dann doch zum Anteilserwerb durch den Rechtsvorgänger des Kaduzierten nach § 22 Abs. 4 GmbHG.

IV. Fazit Festzuhalten ist damit, dass sich die Regelungsbereiche des § 16 Abs. 2 GmbHG und des § 22 Abs. 1, 4 GmbHG teilweise überschneiden. In diesen Fällen steht der Gesellschaft sowohl ein Anspruch aus § 16 Abs. 2 GmbHG als auch aus § 22 Abs. 1 GmbHG zu, wobei sich beide Ansprüche inhaltlich (teilweise) decken. Jedoch führt nur eine Zahlung auf den Anspruch aus § 22 Abs. 1 GmbHG zu einem Anteilserwerb des zahlenden Rechtsvorgängers nach §  22 Abs.  4 GmbHG. Es stellt sich somit die Frage, wann es in diesen Fällen zu einem Anteilserwerb durch den zahlenden Rechtsvorgänger kommt. Insofern gilt zunächst, dass der Gesellschaft entgegen der herrschenden Meinung kein Wahlrecht zwischen den verschiedenen Anspruchsgrundlagen zusteht. Sind beide Ansprüche gegenüber einem Rechtsvorgänger begründet, so führt dessen Zahlung auch zu einem Erlöschen beider Ansprüche und löst damit auch die Rechtsfolge des Anteilserwerbs nach § 22 Abs. 4 GmbHG aus. Sodann besteht auch kein Wahlrecht des Rechtsvorgängers, dessen Zahlung ausreicht, um beide Ansprüche vollständig zu befriedigen. Auch hier löst seine Zahlung die Rechtsfolge des Anteilserwerbs nach § 22 Abs. 4 GmbHG aus. Reicht die Zahlung des Rechtsvorgängers freilich nicht aus, um beide Ansprüche, d.h. sowohl den Anspruch aus § 16 Abs. 2 GmbHG als auch den Anspruch aus § 22 Abs. 1 GmbHG, zu befriedigen, so kann er im Wege der Tilgungsbestimmung festlegen, auf welchen Anspruch bzw. welche Teilpositionen seine Zahlung anzurechnen ist. Bestimmt er eine Anrechnung auf § 22 GmbHG und reicht seine Zahlung zur Erfüllung der gesamten Forderung aus § 22 Abs. 1 GmbHG aus, so kommt es zum Anteilserwerb nach § 22 Abs. 4 GmbHG. Bestimmt er hingegen eine Anrechnung auf § 16 Abs. 2 GmbHG und dabei zunächst auf die Positionen, die nicht mit der nicht erfüllten Einlageleistung im Sinne des § 22 Abs. 1 GmbHG identisch sind, so kann er das Eingreifen des § 22 Abs. 4 GmbHG verhindern. Fehlt es an einer Tilgungsbestimmung, so ist von einer Tilgung auszugehen, die zum Erwerb des Anteils durch den Rechtsvorgänger führt. Schließlich besteht ein Wahlrecht der Gesellschaft dann, wenn sie sich zwischen zwei Schuldnern (und nicht zwischen zwei Anspruchsgrundlagen) entscheiden muss, etwa wenn ihr weitere Rechtsvorgänger aus §  16 Abs.  2 GmbHG haften. Die weiteren Rechtsvorgänger haben freilich die Möglichkeit, gemäß §  267 Abs.  1 BGB auf die Schuld des Rechtsvorgängers des Kaduzierten nach § 22 Abs. 1 GmbHG zu leisten, wodurch dieser gemäß § 22 Abs. 4 GmbHG den Anteil erwirbt.

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25 Jahre Gesetz zur kleinen AG  – Rückschau und Würdigung Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Das Gesetz für kleine Aktiengesellschaften in der Entstehung 1. Der Problemlösungsauftrag: Verbesserung der Eigenkapitalausstattung für den Mittelstand 2. Die Antwort auf die Mittellösung ­zwischen GmbH und AG: Keine neue Rechtsform 3. Erleichterung der Kapitalbeschaffung als wesentlicher Deregulierungsbeitrag 4. Entschlackung des Aktienrechts als ­weiterer Deregulierungsbeitrag 5. Für ein Level Playing Field der Rechts­ formen: Die mitbestimmungsrechtliche Gleichstellung von AG und GmbH III. Die fortschreitende Ausdifferenzierung des Aktienrechts

1. Börsennotierung als geeigneter Anknüpfungspunkt? 2. Hinreichende sachliche Legitimierung der unterschiedlichen Regelungsregime? 3. Pointillismus als gesetzgeberische ­Methode? IV. Das Gesetz für kleine Aktiengesellschaften als Auftakt der Aktienrechtsreform in Permanenz V. Das wiederkehrende Webmuster der ­Seibertschen Reformgesetze 1. Das immer gleiche Grundrezept: Der Aufbau der Reformgesetze 2. Ein Genie der Gesetzesvermarktung VI. Das Gesetz für kleine Aktiengesellschaften als bleibender Beitrag zur Aktienrechtsmodernisierung

I. Einleitung Das Gesetz für kleine Aktiengesellschaften und zur Deregulierung des Aktienrechts vom 2. August 1994 liegt nunmehr ein Vierteljahrhundert zurück.1 Mit ihm wurden viele Regelungen eingeführt, die schon seit längerem zum aktienrechtlichen All­ gemeingut gehören. Zu nennen sei nur die Kapitalerhöhung mit vereinfachtem Bezugsrechtsausschluss gemäß § 186 Abs. 3 Satz 4 AktG – der bei Kapitalmaßnahmen heutzutage allgegenwärtige „Zehnprozenter“. Oder die Befreiung vom Beurkundungserfordernis der Niederschrift der Hauptversammlung in den Fällen des § 130 Abs. 1 Satz 3 AktG. Das Gesetz für kleine Aktiengesellschaften steht am Anfang einer ganzen Reihe von Reformgesetzen, in deren Folge schon bald von der „Aktienrechtsreform in Permanenz“ die – geflügelte – Rede sein wird.2 Es markiert nach dem Urteil kundiger Beobachter den Beginn einer – bis heute anhaltenden – Phase der inneren Reform des Aktienrechts, deren Quelle quasi von innen heraus gespeist wird, wäh1 BGBl. I 1994, 1961. 2 Der auf den Titel eines Beitrags von Zöllner AG 1994, 336, zurückgehende, aber keineswegs auf die Seibertschen Reformgesetze – die damals erst am Anfang standen – gemünzte Begriff dürfte mittlerweile als aktienrechtliches Allgemeingut gelten.

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rend die Reformschritte nach dem Inkrafttreten des Aktiengesetzes von 1965 bis dahin allein auf externe Ereignisse wie das Mitbestimmungsgesetz von 1976 zurückgingen.3 Dieses Urteil mag Anfang der 2000er Jahre ganz zutreffend gewesen sein. Aus heutiger Sicht lässt sich in der Rückschau sagen, dass dieses innere Reformstreben spätestens seit der ersten und mittlerweile geänderten Aktionärsrechterichtlinie4 immer wieder auch durch äußere Anlässe befeuert wurde. Aber die Feststellung beschreibt sehr zutreffend ein Phänomen, dessen Bedeutung für die Weiterentwicklung des deutschen Aktienrechts nicht hoch genug veranschlagt werden kann: Mit dem Gesetz für kleine Aktiengesellschaften hat sich der deutsche Gesetzgeber aus eigenem Antrieb heraus der  – behutsamen  – Modernisierung des Aktiengesetzes angenommen und der Motor dahinter war kein anderer als Ulrich Seibert. Nach dem Wikipedia-Eintrag des Jubilars trägt das Gesetz für kleine Aktiengesellschaften dessen Handschrift, wie so viele andere der folgenden Reformgesetze.5 Anlass genug, dieses erste aus der Feder des Jubilars stammende Reformgesetz wieder einmal genauer in den Blick zu nehmen und mit dem gehörigen zeitlichen Abstand seine Bedeutung für die Weiterentwicklung des modernen Aktienrechts in Deutschland zu untersuchen. Dabei soll auch beleuchtet werden, was sich aus dem Gesetz für kleine Aktiengesellschaften für das spätere Wirken des Jubilars ableiten lässt. In diesem Sinne steht zu hoffen, dass ein würdigender Rückblick auf das erste Gesetzesvorhaben, dem Ulrich Seibert so unverkennbar seinen Stempel aufgedrückt hat, sein wohlwollendes Interesse finden wird.

II. Das Gesetz für kleine Aktiengesellschaften in der Entstehung 1. Der Problemlösungsauftrag: Verbesserung der Eigenkapitalausstattung für den Mittelstand Am Beginn stand die Beobachtung, dass es dem deutschen Mittelstand mehrheitlich an einer adäquaten Eigenkapitalausstattung fehlte, die hinreichenden Schutz in wirtschaftlichen Notsituationen bot. Angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Lage Deutschlands Anfang der 1990er Jahre und der sich abzeichnenden Globalisierung rief das die Politik auf den Plan.6 Schnell wurde erkannt, dass dieses Phänomen auch einen rechtsformbezogenen Grund hatte. Denn die ganz überwiegend genutzte Rechtsform mittelständischer Unternehmen war und ist die GmbH. Deren durchschnittliche Eigenkapitalquote lag aber deutlich unter derjenigen von Aktiengesellschaften. Eine Erhöhung der Attraktivität der Rechtsform Aktiengesellschaft versprach eine Verbesserung der Eigenmittelsituation der Unternehmen. Indessen scheuten mittel3 K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 26 II 2 h, S. 764; Habersack/Schürnbrand in Bayer/Habersack (Hrsg.), Aktienrecht im Wandel, 2007, Bd. I S. 889, 894. 4 Richtlinie (EU) 2017/828 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Mai 2017 zur Änderung der Richtlinie 2007/36/EG im Hinblick auf die Förderung der langfristigen Mitwirkung der Aktionäre, einsehbar im Amtsblatt der Europäischen Union, L 132/1. 5 https://de.wikipedia.org/wiki/Ulrich_Seibert – zuletzt aufgerufen am 14.7.2018. 6 Seibert, AG 2015, 593, 594.

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ständische Unternehmen die Rechtsform der Aktiengesellschaft nicht ohne Grund: Sie ist bekanntenmaßen formstreng und die Beachtung der Formalitäten wird in der Praxis als Last empfunden. Außerdem lässt der Grundsatz der Satzungsstrenge wenig Raum für maßgeschneiderte Governance-Lösungen, wie sie im Mittelstand beliebt und weit verbreitet sind. Diese Flexibilität in der Satzungsgestaltung offeriert hingegen die GmbH, die nicht zuletzt deswegen zur mit Abstand populärsten Rechtsform mittelständischer Unternehmen avancierte. Mit diesen Vorteilen vor Augen kreisten anfänglich viele Gedanken um die Öffnung des Kapitalmarkts für weitere Rechtsformen neben AG und KGaA.7 Das erwies sich indessen als nicht praktikabel. 2. Die Antwort auf die Mittellösung zwischen GmbH und AG: Keine neue Rechtsform Damit stellte sich die Frage, wie man die Vorzüge beider Rechtsformen miteinander kombinieren und gewissermaßen einen Rechtsform-Zwitter aus AG und GmbH schaffen könnte. Und in der Tat entsprach das dem Grunde nach dem Vorschlag von Lutter und Albach, die sich – wenngleich unter Beibehaltung des Leitbildes der großen Aktiengesellschaft – für die Einführung gleich mehrerer eigenständiger Rechtsformausprägungen aussprachen, freilich unter Hinweis darauf, dass es sich jeweils um die gleiche Rechtsform Aktiengesellschaft handelt.8 Diese sollten als „Private AG“, „Offene AG“ und „Große AG“ die notwendige Differenzierung bieten, um die unterschiedlichen Bedürfnisse des Publikums abzudecken. Das beinhaltete eine deutliche Absage an Forderungen nach der Schaffung einer neuen alternativen Rechtsform. Und auch Ulrich Seibert hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er von der Schaffung einer neuen Rechtsform als Problemlösungsansatz nicht viel hält.9 Das Gesetz für kleine Aktiengesellschaften verfolgt denn auch nicht ganz überraschend einen anderen Weg. Anstatt eine weitere eigenständige Rechtsform zu erschaffen, wird eine Differenzierung herausgearbeitet, die sich zwar bereits abzeichnete, aber erst jetzt in den Stand einer gesetzlichen Gesamtkonzeption erhoben wird: Die Unterscheidung zwischen börsennotierter und nichtbörsennotierter Aktiengesellschaft. Und damit ist weit mehr erreicht als eine Zustandsbeschreibung. Mit der gesetzlich angelegten Weichenstellung lassen sich innerhalb derselben Rechtsform den verschiedenen Gesellschaftstypen unterschiedliche Regelungsregime zuordnen. Und davon wird im Gesetz für kleine Aktiengesellschaften auch gleich – wenn auch behutsam – Gebrauch gemacht. Neben der bereits erwähnten Lockerung der Beurkundungspflicht für die Niederschrift der Hauptversammlung in § 130 Abs. 1 Satz 3 AktG sind Erleichterungen bei der Einberufung der Hauptversammlung zu nennen. Auch wenn mit dem Gesetz für kleine Aktiengesellschaften noch keine Legaldefinition der börsennotierten AG eingeführt wurde – diese wurde bekanntlich erst mit dem KonTraG und der 7 Marsch-Barner in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 4.  Aufl. 2018, Rz. 1.2. 8 Lutter und Albach in Albach/Corte/Friedewald/Lutter/Richter, Deregulierung des Aktienrechts: Das Drei-Stufen-Modell, 1988, S. 33 ff. 9 Seibert in Seibert/Kiem/Schüppen, Handbuch der kleinen AG, 5. Aufl. 2008, Rz. 1.3.

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Regelung in § 3 Abs. 2 AktG nachgereicht – war der erste Schritt zur Anknüpfung an die Börsennotierung als Differenzierungsmerkmal gemacht. Und die Bedeutung dieses Schrittes für die weitere Entwicklung des Aktienrechts ist nicht zu unterschätzen: Weitsichtige Beobachter haben sie als zentrale Weichenstellung bezeichnet.10 Ausgebaut wird die Differenzierung zwischen börsennotierter und kleiner AG dann aber vor allem durch die nachfolgenden Reformgesetze. Und auch bei Ausblendung der spezifisch kapitalmarktrechtlichen Anforderungen an die Börsennotierung ist der zwischenzeitlich erreichte Differenzierungsgrad durchaus beachtlich.11 Gleichwohl hat sich hieraus keine eigenständige Rechtsform entwickelt: Sowohl der Regelungskern als auch die identitätsstiftenden, tragenden Prinzipien unterscheiden sich bei kleiner und bei börsennotierter AG nicht.12 Das ist keineswegs selbstverständlich, wie die lange währenden Bemühungen um eine Lockerung der Satzungsstrenge zeigen. Es hätte sicherlich nicht ferngelegen, der kleinen, nichtbörsennotierten AG punktuell Abweichungen vom gesetzlichen Regelungsmodell zu gestatten, um sie im Hinblick auf die Flexibilität der Satzungsgestaltung der GmbH anzunähern.13 Indessen hat der Gesetzgeber instinktsicher erkannt, dass das gesetzliche Regelungsmodell der AG mit seinen spezifischen Kapitalaufbringungs- und erhaltungsvorschriften, der Weisungsfreiheit des Vorstands und seiner daraus resultierenden Unabhängigkeit sowie der klaren Kompetenzordnung den Markenkern der Aktiengesellschaft ausmacht. Es ist das Gütesiegel, das der Rechtsform im Rechtsverkehr ihr hohes Ansehen sichert. Der Gesetzgeber hat daher auch völlig zu Recht allen Forderungen nach einer Aufweichung des Grundsatzes der Satzungsstrenge eine Absage erteilt. 3. Erleichterung der Kapitalbeschaffung als wesentlicher Deregulierungs­ beitrag Es entbehrt gewiss nicht einer gewissen Ironie, dass der entscheidende Deregulierungsbeitrag des Gesetzes für kleine Aktiengesellschaften nicht etwa der kleinen AG, sondern seinem börsennotierten Pendant zugutekam. Denn mit der Einführung des erleichterten Bezugsrechtsausschlusses bei einer Barkapitalerhöhung bis zu 10 % des Grundkapitals und einem den Börsenkurs nicht wesentlich unterschreitenden Ausgabebetrag gelang nicht weniger als ein Befreiungsschlag. Die in der Kali & Salz-Entscheidung14 aufgestellten Anforderungen an den Ausschluss des Bezugsrechts hatten die Praxis vor kaum überwindbare Hürden gestellt, was zunehmend die Eigenkapital10 Habersack/Schürnbrand in Bayer/Habersack (Hrsg.), Aktienrecht im Wandel, 2007, Bd. I S. 889, 894. 11 Auflistung bei Drescher in Spindler/Stilz, AktG, 3. Aufl. 2015, § 3 Rz. 3. 12 Gleichsinnig Marsch-Barner in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 4. Aufl. 2018, Rz. 1.46; C. Schäfer, NJW 2008, 2536, 2538; anders Drygala/Staake, ZIP 2013, 905, 911 f. (Zwei Rechtsformen der AG). 13 In diese Richtung zielten die Vorschläge von Bayer, Empfehlen sich besondere Regelungen für börsennotierte und geschlossene Gesellschaften?, Gutachten E, in Verhandlungen des 67. Deutschen Juristentages 2008, Band I, S. E 81 ff., die freilich auf dem Juristentag mehrheitlich keine Gefolgschaft gefunden haben. 14 BGH v. 13.3.1978 – II ZR 142/76, BGHZ 71, 40.

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versorgung der Unternehmen in Frage stellte. Dabei ging es insbesondere um die Dauer der Durchführung einer Kapitalmaßnahme. Was fehlte, war ein Durchführungsweg, mit dem die Kapitalbeschaffung sehr zügig abgeschlossen werden konnte, ohne über einen längeren Zeitraum Marktschwankungen ausgesetzt zu sein. Die Lösung lag in der Absenkung der Anforderungen an den Bezugsrechtsausschluss, weil der durch einen Bezugsrechtshandel ausgelöste Zeitaufwand das eigentliche Problem darstellte.15 Die Erleichterung des Bezugsrechtsausschlusses stützt sich dabei auf eine Ausschlussmechanik, die sich relativ leicht anwenden lässt und dem Emittenten den enormen Begründungsaufwand erspart, den ein Ausschluss des Bezugsrechts nach den Kali & Salz-Kriterien erfordert. Mit der anfangs vehement angefeindeten Neuerung16 hat sich die Anwendungspraxis schnell arrangiert. Heute zählt die 10  %-­Kapitalerhöhung mit vereinfachtem Bezugsrechtsausschluss zum klassischen Repertoire der Finanzierungsmaßnahmen. Steht nicht eine großvolumige Kapitalmaßnahme an, wird die Eigenkapitalzuführung nahezu ausschließlich im Wege der 10  %-Kapitalerhöhung aus dem genehmigten Kapital mit vereinfachtem Bezugsrechtsausschluss durchgeführt. Angesichts des großen Erfolgs in der Anwendungspraxis wirkt manche seinerzeit geäußerte Kritik im Rückblick als mit arg kleinem Karo gewebt. So ist es natürlich richtig, dass der vereinfachte Bezugsrechtsausschluss praktisch nur bei einer Kapitalerhöhung aus genehmigtem Kapital zum Tragen kommt. Die daran festgemachte Kritik, die Regelung hätte richtigerweise bei den Vorschriften zum genehmigten Kapital verortet sein müssen,17 ist sicherlich nicht ganz falsch, wird aber der enormen Bedeutung der Neuregelung für die Unternehmensfinanzierungspraxis nicht gerecht. Auch die verbliebenen Streitfragen rund um die Bemessung des maximal zulässigen Abschlags auf den Börsenkurs18 dürfen den Blick nicht dafür verstellen, dass sich die Regelung in der Praxis bewährt hat. Ferner ist der anfänglich geargwöhnte massive Missbrauch der Regelung19 ausgeblieben. Dazu hat maßgeblich die Rechtsprechung beigetragen, wonach die Ermächtigung im Rahmen des genehmigten Kapitals – also dem praktisch ausschließlichen Anwendungsfall – auf insgesamt 10 % begrenzt ist und mithin aus dem genehmigten Kapital nicht mehrfach Kapitalerhöhungen von bis zu 10 % des Grundkapitals unter den erleichterten Bedingungen durchgeführt werden können.20 Das hat im Schrifttum Zustimmung gefunden.21 In der Praxis hat sich außerdem im Anschluss an eine starke Schrifttumsmeinung die Anrechnung der Inanspruchnahme 15 Seibert in Seibert/Köster/Kiem, Die kleine AG, 3. Aufl. 1996, Rz. 190 ff. 16 S. nur die Kritik bei Zöllner, AG 1994, 336, 340 ff. (legale Benachteiligung der Aktionäre geht auf das Konto des Gesetzgebers), ders., AG  2002, 585, 591  f. (Regelung ermöglicht unglaubliche Missbräuche) und den Hinweis von Seibert, AG 2015, 593, 595, ersterer habe gedroht, die neue Regelung „wegkommentieren“ zu wollen. 17 Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 186 Rz. 39a; dagegen Seibert in Seibert/Köster/Kiem, Die kleine AG, 3. Aufl. 1996, Rz. 223. 18 Busch in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 4. Aufl. 2018, Rz. 42.90 f.; Seibt, CFL 2011, 74, 79 f.; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 186 Rz. 39c und 39d. 19 Zöllner, AG 2002, 585, 591 f. 20 OLG München v. 24.7.1996 – 7 U 6319/95, AG 1996, 518. 21 Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 203 Rz. 10a m.w.N.

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vergleichbarer Fälle des erleichterten Bezugsrechtsausschlusses durchgesetzt, wenn die Inanspruchnahme innerhalb des Zeitraums zwischen zwei Hauptversammlungen erfolgt.22 Insofern war die Einschätzung richtig, dass es einer expliziten Missbrauchsregelung nicht bedurfte, weil die Missbrauchskontrolle von der Rechtsprechung geleistet werden kann.23 4. Entschlackung des Aktienrechts als weiterer Deregulierungsbeitrag Die Ermöglichung der Einmanngründung steht beispielhaft dafür, dass mit dem Gesetz für kleine Aktiengesellschaften auch Normenballast über Bord geworfen wurde, dessen Sinnhaftigkeit schon seit längerem bezweifelt werden konnte. Doch was heute als Selbstverständlichkeit erscheinen mag, ließ sich damals nicht ohne erheblichen Begründungsaufwand herbeiführen.24 Denn es galt sowohl die europarechtlichen Vorgaben als auch die rechtsformspezifischen Gegebenheiten zu beachten.25 Hinzu kam die Anordnung der Sicherheitsleistung bei der Einmanngründung entsprechend der Regelung im GmbH-Recht, das bereits die Zulässigkeit der Einpersonen-GmbH kannte. Der Verzicht auf die Einreichung des Gründungsberichts bei der Industrieund Handelskammer fügt sich ebenfalls nahtlos in das Bestreben ein, den Normenbestand auszuforsten und überflüssig gewordene Vorschriften abzuschaffen. 5. Für ein Level Playing Field der Rechtsformen: Die mitbestimmungsrechtliche Gleichstellung von AG und GmbH Die politisch kontroverseste Regelung des Gesetzes für kleine Aktiengesellschaften betraf indessen ein Problem, ohne dessen Lösung das Gesetzesvorhaben sein Ziel nicht hätte erreichen können. Seibert wusste, dass die mitbestimmungsrechtliche Benachteiligung der AG gegenüber der GmbH beseitigt werden musste, wenn man die Attraktivität der Rechtsform AG erhöhen wollte.26 Diese Benachteiligung bestand darin, dass nach alter Rechtslage die AG stets, die GmbH aber erst ab mehr als 500 beschäftigten Arbeitnehmern der (Drittel-)Mitbestimmung unterlag. Lediglich für die Familien-AG sah das alte Recht eine Ausnahme vor. Dem lag die Fehlvorstellung des historischen Gesetzgebers zugrunde, bei Aktiengesellschaften handele es sich per se um große Unternehmen.27 Schon im Sinne eines in sich stimmigen Gesellschaftsrechts, das den im Wettbewerb zueinanderstehenden Rechtsformen ein Level Playing Field als Ordnungsrahmen bietet, war die Gleichstellung von AG und GmbH zwingend geboten. Indessen rühren

22 S. näher Seibt, CFL 2011, 74, 78. 23 Seibert in Seibert/Köster/Kiem, Die kleine AG, 3. Aufl. 1996, Rz. 216.  24 Seibert in Seibert/Köster/Kiem, Die kleine AG, 3. Aufl. 1996, Rz. 16 ff. 25 Seibert in Seibert/Köster/Kiem, Die kleine AG, 3. Aufl. 1996, Rz. 25 ff. 26 Seibert in Seibert/Köster/Kiem, Die kleine AG, 3. Aufl. 1996, Rz. 245. 27 Seibert in Seibert/Köster/Kiem, Die kleine AG, 3. Aufl. 1996, Rz. 247 f.

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Fragen der Mitbestimmung immer am Nerv bestimmter Kreise.28 Die ursprünglich vorgesehene vollständige Gleichstellung von AG und GmbH ließ sich dann auch nicht durchsetzen.29 Allein sie wäre wertungskonsistent gewesen. Herausgekommen ist bekanntlich ein politischer Kompromiss, der die Mitbestimmungsbeibehaltung für so genannte Alt-AGs – also solche, die vor dem 10. August 1994 bereits bestanden – vorsah. Seibert konnte offensichtlich damit leben, denn das Ziel des Gesetzesvorhabens – Steigerung der Attraktivität der Rechtsform Aktiengesellschaft – ließ sich damit nach wie vor erreichen.30

III. Die fortschreitende Ausdifferenzierung des Aktienrechts Mit dem Gesetz für kleine Aktiengesellschaften war der Anfang zur Ausdifferenzierung des einheitlichen Aktienrechts mit unterschiedlichen Regelungen für börsennotierte und nichtbörsennotierte AGs gemacht. Rückblickend stellen sich in diesem Zusammenhang mehrere Fragen: Ist die Börsennotierung überhaupt der geeignete Anknüpfungspunkt für die Ausdifferenzierung, wird mit der Ausdifferenzierung der zutreffende Regelungszweck verfolgt und hat sich das Vorgehen des Gesetzgebers bei der Ausdifferenzierung bewährt? 1. Börsennotierung als geeigneter Anknüpfungspunkt? Die Trennlinie zwischen den unterschiedlichen Regelungsregimen verläuft nach der im Gesetz für kleine Aktiengesellschaften getroffenen und bis heute beibehaltenen Entscheidung des deutschen Gesetzgebers zwischen börsennotierter und nichtbörsennotierter AG. Damit ist die Börsennotierung der AG das entscheidende Differenzierungskriterium. Es sind auch andere Anknüpfungspunkte ins Spiel gebracht worden. Seit der Einführung der Figur der kapitalmarktorientierten Kapitalgesellschaft in § 264d HGB, die auch in verschiedenen aktienrechtlichen Vorschriften ihren Niederschlag gefunden hat,31 stellt sich die Frage, ob nicht besser an diese Rechtsfigur anzuknüpfen wäre. Und in der Tat ist vorgeschlagen worden, die Grenzziehung dorthin zu verlagern.32 Das vermag indessen nicht zu überzeugen. Die Börsennotierung ist die klare, von jedermann rechtssicher festzustellende Grenze, die die geschlossene, kleine AG von der offenen AG mit anonymem Anlegerpublikum trennt. Diese Unterschei-

28 Instruktiv die Zitate bei Seibert in Seibert/Köster/Kiem, Die kleine AG, 3.  Aufl. 1996, Rz. 253 Fn. 336. 29 Seibert in Seibert/Köster/Kiem, Die kleine AG, 3. Aufl. 1996, Rz. 253 ff. 30 Seibert in Seibert/Köster/Kiem, Die kleine AG, 3. Aufl. 1996, Rz. 267: politisch gangbarer Ausweg. 31 §§ 100 Abs. 5, 107 Abs. 4, 124 Abs. 3 Satz 2 AktG. 32 C. Schäfer, NJW 2008, 2536, 2541 (um auch Börsenkandidaten miteinzubeziehen); ablehnend Bayer, Empfehlen sich besondere Regelungen für börsennotierte und geschlossene Gesellschaften?, Gutachten  E, in Verhandlungen des 67.  Deutschen Juristentages 2008, Band I, S. E 92 ff. (jeweils bezogen auf die befürwortete Lockerung der Satzungsstrenge).

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dung leuchtet auch sofort ein und erscheint schon deswegen als richtig gewählt.33 Demgegenüber ist das Konzept der kapitalmarktorientierten Kapitalgesellschaft nicht auf die Rechtsform der AG beschränkt. Auch dies spricht dagegen, für die Ausdifferenzierung an diese Rechtsfigur anzuknüpfen. 2. Hinreichende sachliche Legitimierung der unterschiedlichen Regelungsregime? Das ursprünglich vom Gesetzgeber mit der Ausdifferenzierung des Aktienrechts verfolgte Regelungsziel lag im Zusammenhang mit dem Gesetz für kleine Aktiengesellschaften offen zutage: die Rechtsform der AG sollte attraktiver werden, insbesondere für kleinere und mittlere Unternehmen, die klassischerweise der GmbH den Vorzug gaben. Deswegen sollten für die nichtbörsennotierte AG Erleichterungen geschaffen werden, die der börsennotierten AG vorenthalten sind. Bei den ersten Ausdifferenzierungsschritten waren die aus diesem Regelungsziel abgeleiteten Eingriffe in den Normenbestand selbsterklärend und unumstritten: Es handelte sich um Erleichterungen bei der Einberufung der Hauptversammlung und der Protokollierung ihrer Niederschrift. Die Besserstellung der kleinen AG gegenüber ihrer börsennotierten Schwester erschöpfte sich im Wesentlichen in der Lockerung von Formalitäten. Später betraf die Ausdifferenzierung indessen nicht mehr nur aktienrechtliche Formvorschriften, sondern zunehmend echte Sachnormen. Damit stellt sich die Frage nach der sachlichen Rechtfertigung für die Privilegierung der kleinen AG. Im Zusammenhang mit der Stärkung von Aktionärsrechten ist im Schrifttum denn auch kritisch hinterfragt worden, ob eine Unterscheidung zwischen kleiner und börsennotierter AG in der Sache gerechtfertigt ist.34 Anders gewendet: Ist eine Stärkung von Aktionärsrechten, deren Befolgung für die betroffene Gesellschaft naturgemäß eine Erschwernis bedeutet, allein schon deswegen von vornherein auf börsennotierte AGs zu beschränken? Gleiches gilt bei Geschlechterquote und (längerer) Verjährungsfrist für die Vorstandshaftung.35 Die Kritik übersieht indes, dass die angesprochenen Regelungen mit der Grundannahme verbunden sind, dass aufgrund des atomisierten Aktionariats eine wirkungsvolle Kontrolle der Unternehmensleitung nicht gewährleistet ist. Deswegen werden Aktionärsrechte gestärkt, wird die Verjährungsfrist für die Vorstandshaftung auf zehn Jahre verlängert. Die Privilegierung der kleinen AG rechtfertigt sich daraus, dass bei ihr diese Grundannahme eben nicht zum Tragen kommt. Zwar sagt der Typus der kleinen AG nichts über die Unternehmensgröße aus. Die kleine AG kann auch Trägerin eines Großunternehmens sein. Aber der Gesellschafterkreis ist immer ein überschaubarer. Darin liegt der entscheidende Unterschied zur börsennotierten AG.

33 Gleichsinnig Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 3 Rz. 5 (Differenzierung nach Kapitalmarktzugang ist griffig). 34 Förster, AG 2011, 362, 365. 35 Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 3 Rz. 5.

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Die Grundannahme des Gesetzgebers, dass die typische Eigentümerstruktur einer börsennotierten Gesellschaft mit einer Vielzahl von Aktionären zu Defiziten bei der Corporate Governance führen kann, ist nicht zu beanstanden. Gleiches gilt für die Annahme, dass solche Defizite bei der nichtbörsennotierten AG aufgrund ihres typischerweise anders zusammengesetzten Gesellschafterkreises nicht in gleicher Weise zu befürchten sind. Daraus ergibt sich die sachliche Rechtfertigung der Privilegierung der kleinen AG durch die Freistellung von bestimmten Sachnormen. Fraglich ist allein, ob dies auch bei rein gesellschaftspolitisch motivierten Regelungen wie der Geschlechterquote der Fall ist. Hier basiert die Anknüpfung an die Börsennotierung regelmäßig auf der Vorstellung, es handele sich dabei um große Unternehmen. Das ist nicht falsch, blendet aber aus, dass es sich auch beim Typus der kleinen AG um große Unternehmen handeln kann. Allerdings wird diesem Umstand dadurch Rechnung getragen, dass neben der Börsennotierung – als alternatives Aufgreifkriterium – auf die Mitbestimmungspflicht abgestellt wird. 3. Pointillismus als gesetzgeberische Methode? Carsten Schäfer hat das vom Gesetzgeber bei der Ausdifferenzierung des einheitlichen Aktienrechts gewählte Vorgehen trefflich als pointillistischen Ansatz bezeichnet.36 Gemeint ist damit das auf die Modifikation einzelner Normen zugeschnittene Konzept des Gesetzgebers, gleichbedeutend mit dem Absehen von einer breitflächigen Öffnung der kleinen AG für Abweichungen vom gesetzlichen Regelungsstandard. Die Ausdifferenzierung speist sich dabei zumeist aus Erleichterungen bzw. Regelungsausnahmen für die nichtbörsennotierte AG und Erschwerungen bzw. Regelungsanordnungen zulasten der börsennotierten AG.37 Man mag bemängeln, dass sich dieser Ansatz schwerlich auf ein einheitliches Konzept zurückführen lässt.38 Auch ist die Beobachtung sicher zutreffend, dass die Regelungen für die börsennotierte Gesellschaft kein geschlossenes Bild abgeben, da, ohne einem übergreifenden Regelungsansatz zu folgen, durchweg nur einzelne als reformbedürftig angesehene Aspekte angegangen wurden.39 Im Ergebnis aber folgt das einer logischen Konsequenz, lehnt man eine – wenn auch nur moderate – Lockerung der Satzungsstrenge zur Ausdifferenzierung des Aktienrechts ab. Welche einzelnen Normen dann – um im Bild zu bleiben – als weitere „Pünktchen“ gesetzt werden, um zu einem pointillistischen Gesamtkunstwerk eines ausdifferenzierten Aktienrechts zu kommen, bedarf jeweils einer sachlichen Rechtfertigung. Wie gesehen, ergibt sich diese regelmäßig aus dem Umstand, dass sich der Gesellschafterkreis der börsennotierten AG typischerweise von dem der kleinen AG unterscheidet.

36 C. Schäfer, NJW 2008, 2536, 2537. 37 Statt vieler Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 3 Rz. 5. 38 C. Schäfer, NJW 2008, 2536, 2538. 39 Habersack/Schürnbrand in Bayer/Habersack (Hrsg.), Aktienrecht im Wandel, 2007, Bd. I S. 889, 938.

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IV. Das Gesetz für kleine Aktiengesellschaften als Auftakt der Aktienrechtsreform in Permanenz Das Gesetz für kleine Aktiengesellschaften gab den Startschuss zu einer ganzen Serie von Reformgesetzen, mit denen das Aktienrecht punktuell und behutsam modernisiert wurde. Nur wenige haben sich damals vorstellen können, dass der Normenbestand des Aktiengesetzes von nun an alle paar Jahre durchgemustert und manche aus der Zeit gefallene Vorschrift angepasst oder gar ganz abgeschafft werden würde. In der Rückschau mutet das Ganze an, als habe ein Masterplan zur Modernisierung des Aktienrechts bestanden und das Gesetz für kleine Aktiengesellschaften bilde den Auftakt zu seiner Abarbeitung. Ob es diesen Masterplan im Kopf von Ulrich Seibert tatsächlich gegeben hat, ist nicht bekannt. Gleichgültig, ob planverfolgend oder den Umständen gehorchend, das Ergebnis scheint Seibert recht zu geben. Die Entscheidung, keine Komplettüberholung des Aktiengesetzes anzustreben, sondern anlassbezogen notwendige Reparaturen vorzunehmen, hat sich als richtig erwiesen. Karsten Schmidt hat in diesem Zusammenhang ganz zutreffend von einer Stafette von Einzelgesetzen gesprochen, die jedes für sich nicht den Titel einer Reform verdienten, aber in ihrer Summe jedoch zu einer Neugestaltung des Aktienrechts geführt haben.40 Ausgangspunkt für ein weiteres Reformgesetz war häufig die Notwendigkeit, die Vorgaben europäischer Richtlinien in nationales Recht umsetzen zu müssen. Oder aber aktuelle Entwicklungen im Wirtschaftsleben machten ein Einschreiten des Gesetzgebers erforderlich oder ein solches wurde im politischen Raum als notwendig angesehen. So war die vermehrte Anzahl von Unternehmenszusammenbrüchen Mitte der 1990iger Jahre bekanntlich der Auslöser für den Erlass des KonTraG. Dieser äußere Anlass bot dann Gelegenheit, mit der Modernisierung in kleinen Einzelschritten fortzufahren. Denn im Gewande der „Themen-Gesetze“ wurden regelmäßig auch Normen aus anderen Sachzusammenhängen auf den Prüfstand gestellt. Dabei lässt sich kein systematisch-stimmiges Muster ausmachen. Vielmehr sind es zumeist Einzelkorrekturen, die sich nicht einer übergeordneten Zielsetzung zuweisen lassen. Diese Methode einer eher beiläufigen Gesetzesmodernisierung hat sich indes als effizient erwiesen. Erhob sich Widerstand gegen eine vorgeschlagene Regelung, konnte der Vorschlag schnell wieder fallen gelassen werden, ohne das Gesetzesvorhaben in Gänze in Zeitverzug zu bringen oder gar gänzlich zu gefährden. Das ursprünglich als Aktienrechtsnovelle 2011 gedachte Reformgesetz kann als Beleg dafür gelten, dass es keineswegs selbstverständlich ist, dass ein aktienrechtliches Gesetzesvorhaben in einer überschaubaren Zeit verabschiedet werden kann: Die im Jahre 2010 begonnenen Arbeiten konnten erst im Jahr 2015 mit der Verabschiedung der Aktienrechtsnovelle 2016 abgeschlossen werden.41 Insgesamt lässt sich konstatieren, dass die fortwährende Reform des Aktienrechts der Rechtsform Aktiengesellschaft gut getan hat. Viele Reformschritte führten dazu, die 40 K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 26 II 2 h, S. 764. 41 Gesetz zur Änderung des Aktiengesetzes (Aktienrechtsnovelle 2016) vom 22.12.2015, BGBl. I 2015, 2565.

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deutsche AG an die Usancen und Erwartungen der internationalen Kapitalmärkte anzupassen.42 Auch die Regeln zur Unternehmensführung sind effizienter und wirkungsvoller geworden.43 Die Teilhaberechte der Aktionäre wurden gestärkt. Der Rechtsschutz gegen fehlerhafte Hauptversammlungsbeschlüsse wurde in Einzelschritten neu ausgerichtet. Die Transparenz über die Vorgänge in der AG wurde deutlich verbessert. Insgesamt präsentiert sich das deutsche Aktienrecht auch und gerade im internationalen Vergleich auf der Höhe der Zeit. Dabei profitiert die AG zudem von einer zeitgemäßen Kapitalmarktgesetzgebung. Sowohl die Beteiligungstransparenz als auch das moderne Übernahmerecht haben dazu beigetragen, die Akzeptanz der deutschen Aktiengesellschaft in internationalen Investorenkreisen zu erhöhen. Und es steht nicht zu erwarten, dass der Reformeifer erlahmt. Mit der Umsetzung der geänderten Aktionärsrechterichtlinie von 201744 in deutsches Recht wurde ein weiteres Reformgesetz auf den Weg gebracht, das ganz in der Tradition seiner Vorgänger steht.45 Allerdings gibt es einen Regelungskomplex, der eine grundlegende Reform und nicht nur vereinzelte Korrekturen verdient: Das aktienrechtliche Beschlussmängelrecht bedarf einer vollständigen Überarbeitung und einer gesamthaften Neuregelung aus einem Guss.46

V. Das wiederkehrende Webmuster der Seibertschen Reformgesetze 1. Das immer gleiche Grundrezept: Der Aufbau der Reformgesetze Im Gesetz für kleine Aktiengesellschaften lässt sich bereits Vieles entdecken, was später zum Markenzeichen und zu der unverkennbaren Handschrift der Seibertschen Reformgesetze werden sollte. Das beginnt beim Aufbau der Reformgesetze. Einem griffigen Titel folgt ein Sammelsurium verschiedenster Regelungen, die im Sachzusammenhang nur lose miteinander verbunden sind. Es geht ganz eindeutig um die punktuelle Weiterentwicklung des Aktienrechts, nicht um den großen Wurf. Dass es diese punktuellen Änderungen des geltenden Rechts in sich haben konnten, wie die partielle Korrektur der Kali  & Salz-Rechtsprechungsgrundsätze durch die Einführung des erleichterten Bezugsrechtsausschlusses mit dem Gesetz für kleine Aktienge42 Überblick bei Marsch-Barner in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 4. Aufl. 2018, Rz. 1.19 ff.; Habersack/Schürnbrand in Bayer/Habersack (Hrsg.), Aktienrecht im Wandel, 2007, Bd. I S. 889, 931 ff. 43 Überblick bei Marsch-Barner in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 4. Aufl. 2018, Rz. 1.10 ff.; Habersack/Schürnbrand in Bayer/Habersack (Hrsg.), Aktienrecht im Wandel, 2007, Bd. I S. 889, 907 ff. 44 Richtlinie (EU) 2017/828 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Mai 2017 zur Änderung der Richtlinie 2007/36/EG im Hinblick auf die Förderung der langfristigen Mitwirkung der Aktionäre, veröffentlicht im Amtsblatt der Europäischen Union, L 132/1. 45 Gesetzentwurf für das Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II), BT-Drucks. 156/19. 46 Vorschläge bei Arbeitskreis Beschlussmängelrecht, AG  2008, 617.  Koch, Gutachten zum 72. Deutschen Juristentag: „Empfiehlt sich eine Reform des Beschlussmängelrechts im Gesellschaftsrecht?“, 2018, S. F 1 ff.

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sellschaften, lag in der Natur der Sache. Dass die gesetzlichen Änderungen häufig en detail wirkten und die Zusammenstellung des Gesetzespakets mitunter beliebig erschien, störte Seibert wenig. Und dass sich darin möglicherweise auch Regelungen verbargen, die sich bei näherem Hinsehen kaum mit den – bisweilen reißerischen, in jedem Fall aber vermarktungstechnisch clever gewählten (siehe sogleich unten) – Gesetzestiteln inhaltlich in Einklang bringen ließen, war der für eine erfolgreiche Gesetzgebungsarbeit zu entrichtende Preis.47 2. Ein Genie der Gesetzesvermarktung Ulrich Seibert war sich der Wichtigkeit der Vermarktung seiner Gesetzesvorhaben stets bewusst.48 Es bedurfte zunächst eines Aufhängers, mit dem man dem Ganzen einen Namen geben konnte. Apropos Namen: War das Gesetz für kleine Aktiengesellschaften noch mit einer inhaltlich abgeleiteten Gesetzesüberschrift betitelt, gehörte es zur Seibertschen Eigenart, aus den technischen Gesetzesbezeichnungen Abkürzungen zu formen, die zu ganz eigenen Wortschöpfungen wurden. NaStraG und MoMiG, UMAG und KonTraG sind stille Zeugen. Und auch das Gesetz für kleine Aktiengesellschaften reiht sich ein in die Liste klug vermarkteter Gesetzesvorhaben. Mit der Begriffsschöpfung der kleinen AG hatte das Kind einen einprägsamen Namen, der haften blieb. Dass der Begriff der kleinen AG weder sehr präzise noch unmissverständlich war, spielte da keine Rolle.49 Und auch darüber, ob der Begriff Deregulierung passgenau das ausdrückt, was das Gesetzespaket von 1994 enthielt, kann man trefflich streiten.50 Aber mit dem Begriff der Deregulierung traf Seibert instinktsicher den damals vorherrschenden Zeitgeist. Man tut Ulrich Seibert sicher nicht Unrecht, wenn man einen Teil seines literarischen Wirkens dem Feld der Gesetzesvermarktung im weiteren Sinne zuordnet. Der Verfasser dieser Zeilen hatte die große Ehre und die nicht minder große Freude, zunächst als Mitautor und später auch als Mitherausgeber des Erläuterungswerks zum Gesetz für kleine Aktiengesellschaften mitzuwirken, aus dem später ein stattliches Handbuch wurde.51 Neben der Bereicherung des fachlichen Diskurses diente das Werk ganz sicherlich auch dem Ziel, die frohe Kunde von der kleinen AG „unter das Volk zu bringen“. Das große Interesse, das das Werk gefunden hat, lässt nur den Schluss zu, dass dies auch gelungen ist.

47 S.  die Kritik bei Hoffmann-Becking ZIP  1995, 1, 8: Regelung zum erleichterten Bezugsrechtsausschluss wird mit der irreführenden Überschrift „kleine AG“ präsentiert. 48 Einen tiefen Einblick gewährend Seibert in FS Wiedemann, 2002, S. 123, 125 ff. 49 S. die Erklärung, was die kleine AG ist und was sie nicht ist, bei Seibert in Seibert/Kiem/ Schüppen, Handbuch der kleinen AG, 5. Aufl. 2008, Rz. 1.3 ff. 50 Kritisch Hoffmann-Becking, ZIP 1995, 1, 8 (es geht gar nicht um Deregulierung). 51 Seibert, Die kleine AG, 1994; Seibert/Köster, Die kleine AG, 2. Aufl. 1995; Seibert/Köster/ Kiem, Die kleine AG, 3. Aufl. 1996; Seibert/Kiem, Handbuch der kleinen AG, 4. Aufl. 2000; Seibert/Kiem/Schüppen, Handbuch der kleinen AG, 5. Aufl. 2008.

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VI. Das Gesetz für kleine Aktiengesellschaften als bleibender Beitrag zur Aktienrechtsmodernisierung Was bleibt nun vom Gesetz für kleine Aktiengesellschaften? Mehr als man zunächst annehmen mag. Das beginnt mit der Anknüpfung an die Börsennotierung als Differenzierungskriterium für die Anwendung unterschiedlicher Regelungsregime. Die mit dem Gesetz für kleine Aktiengesellschaften eingeführte Unterscheidung wurde bis heute beibehalten und es nicht erkennbar, dass der deutsche Gesetzgeber in absehbarer Zeit von ihr abrücken wird. Wohl aber ist mit der Figur der kapitalmarktorientierten Kapitalgesellschaft ein alternatives Differenzierungskonzept am europäischen Regulierungshorizont aufgetaucht, das mit der vom deutschen Gesetzgeber gewählten Anknüpfung an die Börsennotierung der Aktiengesellschaft in Konkurrenz tritt. Und auch hier bestehen keine Anzeichen, dass der europäische Gesetzgeber an dem Begriff der kapitalmarktorientierten Kapitalgesellschaft nicht festhalten wollte. Damit ist zunächst die Frage aufgeworfen, ob zwei unterschiedliche Anknüpfungsmerkmale nebeneinander friktionsfrei existieren können. Das lässt sich leicht bejahen: Die beiden Differenzierungskonzepte kommen sich nicht ins Gehege. Wohl aber ist die Legaldefinition von Börsennotierung in § 3 Abs. 2 AktG zu überdenken. Sie erfasst den Handel im regulierten Markt, nicht aber den Freiverkehr.52 Angesichts der zunehmend stärkeren Regulierung des Freiverkehrs erscheint das nicht mehr zwingend.53 Fest verankert in der Unternehmensfinanzierungspraxis ist die Kapitalerhöhung aus genehmigtem Kapital mit vereinfachtem Bezugsrechtsausschluss. Sie ist aus der Welt deutscher Emittenten nicht mehr wegzudenken. Ihr Beitrag zu einem modernen Aktien- und Kapitalmarktrecht steht außer Zweifel. Aber auch andere mit dem Gesetz für kleine Aktiengesellschaften eingeführte Neuerungen haben bleibend zur Modernisierung des deutschen Aktienrechts beigetragen. So kann sich heutzutage keiner mehr ernsthaft eine Rückkehr zum Verbot der Einmanngründung vorstellen. Alles in allem kann es damit keinem Zweifel unterliegen, dass das Gesetz für kleine Aktiengesellschaften einen ganz wichtigen Beitrag zur Modernisierung des deutschen Aktienrechts geleistet hat. Nicht nur stand es am Anfang einer ganzen Serie von Reformgesetzen, sondern es enthält auch viele wichtige Neuerungen, die das Aktienrecht bis heute prägen. Mit der Einführung der Unterscheidung zwischen börsennotierter und nichtbörsennotierter AG gelang die Weichenstellung für eine Entwicklung, an deren Ende nach der Einschätzung profunder Kenner nicht weniger als die He­ rausbildung eines „Europäischen Börsengesellschaftsrechts“ stehen wird.54 Man kann das Gesetz für kleine Aktiengesellschaften daher auch als Geburtsstunde des Börsengesellschaftsrechts heutiger Prägung begreifen. 52 Statt aller Hüffer/Koch, AktG, 13.  Aufl. 2018, §  3 Rz.  6 unter Hinweis auf BT-Drucks. 13/9712, S. 12. 53 Gleichsinnig Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 3 Rz. 6 (rechtspolitisch nicht mehr selbstverständlich). 54 Habersack/Schürnbrand in Bayer/Habersack (Hrsg.), Aktienrecht im Wandel, 2007, Bd. I S. 889, 894.

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Die Gründungstheorie im Schatten der EuInsVO – ein juristischer Scheinriese Inhaltsübersicht I. Jim, Lukas und Tur Tur II. Anerkennung und Mobilität von ­Briefkastengesellschaften I II. Gläubigerschutz durch Insolvenzrecht 1. Grundlagen 2. Gesellschafterdarlehen 3. Insolvenzantrag und Insolvenz­ verschleppungshaftung a) Gläubigerschutz durch Insolvenzrecht b) Kollisionsrechtliche Qualifikation der Insolvenzantragspflicht anhand des Normzwecks

c) Qualifikation der Insolvenz­ verschleppungshaftung d) Vorgaben des EU-Rechts e) Zusammenfassung 4. Masseschmälerung und Insolvenz­ verursachung a) Masseschmälerung b) Insolvenzverursachung c) Auslandsrechtliche Organmitglieder als Haftungsadressaten 5. Abweisung mangels Masse 6. Auswirkungen der Insolvenzeröffnung auf die Gesellschaft IV. Fazit

I. Jim, Lukas und Tur Tur Wer den Jubilar etwas näher kennt, weiß, dass dieser den schönen Künsten nicht abhold ist, und dazu gehört bekanntlich auch die Belletristik. Gerade dort treffen wir gelegentlich auf Gestalten, die uns an Berufskollegen erinnern, ja manchmal sogar an Rechtsfiguren. Von solchen verblüffenden Ähnlichkeiten soll hier die Rede sein. Es geht um den Scheinriesen, eine literarische Figur aus dem 1960 erschienenen Kinderbuch Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer von Michael Ende. Mit Ende fühlt sich Verf. u.a. wegen der gemeinsamen Herkunft verbunden.1 In dem genannten Werk beschreibt Ende den Scheinriesen Tur Tur als einen friedlichen, empathischen, hilfsbereiten, einsamen Herrn, der nichts dafür kann, dass sich andere wegen seiner scheinbaren Größe vor ihm fürchten. Jim Lukas und Lukas der Lokomotivführer begegnen ihm in der Wüste „Ende der Welt“. Am Horizont erscheint eine riesige Gestalt, welche die Beiden bei erster Wahrnehmung verängstigt. Als sie der Gestalt aber immer näherkommen, erweist sich dieser „Riese“ als ein Mann von ganz gewöhnlicher Größe, der sich als „Herr Tur Tur“ vorstellt. Die juristischen Scheinriesen sind demgegenüber meist weniger sympathisch, belustigen uns aber dennoch gelegentlich aufgrund der Tatsache, dass sich bei ihnen die breitflächige Tatbestandsseite oft umgekehrt proportional zur Enge der damit verbundenen Rechtsfolgen verhält. Als Erstes 1 Michael Ende (1929-1995) stammt, wie Verf., aus Garmisch-Partenkirchen.

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fällt einem da natürlich der „Kaufmann“ des HGB ein, der auf der Tatbestandsseite seit vielen Jahrzehnten liebevoll von den Kommentatoren der §§ 1-7 HGB gepflegt wird.2 Die Rechtsfolgen der Kaufmannseigenschaft beschränken sich auf den in der Praxis kaum durchgesetzten Registerzwang (§ 14 HGB), das im Rechtsleben weitgehend durch das Markenrecht verdrängte Firmenrecht (§§ 17 ff. HGB), und ein paar eklektische Bestimmungen zum Vertrags-, Sachen- und Wertpapierrecht des Handelsverkehrs (§§ 343 ff. HGB). Im Gesellschaftskollisionsrecht begegnen wir einem Scheinriesen in Gestalt der vom BGH im Gefolge der „Centros“-Rechtsprechung des EuGH3 praktizierten Anknüpfung des Gesellschaftsstatuts an den Gründungsort des Gebildes, sofern dieser im EU-Ausland gelegen ist.4 Aus der Ferne erschien die neue Kollisionsregel zunächst tatsächlich von riesenhafter Gestalt: Erfasste sie doch nicht nur sämtliche EU-ausländischen Gesellschaften, sondern – wegen der Einheitlichkeit der Anknüpfung des Gesellschaftsstatuts – auch das gesamte auf diese Gebilde anwendbare Gesellschaftsrecht nach der bekannten Formel des BGH, wonach das Gesellschaftsstatut den gesamten  Lebenszyklus der Gesellschaft regelt („… wie sie entsteht, lebt und vergeht.“).5 Die Entwicklung seit dem Urteil „Cadbury Schweppes“ hat freilich gezeigt, dass in immer stärkerem Umfang schon auf der Tatbestandsseite wieder reale Anknüpfungsmerkmale die Oberhand zu gewinnen scheinen, ferner, dass auf der Rechtsfolgenseite vielfach der Gläubigerschutz über das Insolvenzstatut sichergestellt wird, welches ­bekanntlich nicht an den Satzungssitz anknüpft, sondern – im Gleichlauf zur gesellschaftskollisionsrechtlichen Sitztheorie!  – an die Hauptverwaltung der Gesellschaft (Art. 3 EuInsVO 2015).6 In diesem Sinne kann man durchaus feststellen, dass spätes2 Dazu in der gebotenen Breite statt aller Kindler in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn (Hrsg.), HGB, 4. Aufl. 2019, § 1 Rz. ff.; zur Entlarvung weiterer Scheinriesen s. Brinkmann/Luttmann, ZIP 2008, 901  ff. (Insolvenzanfechtung gegen Krankenkassen); von Haltern, EuR 2011, 512  ff. (kulturelles Europa); Schollmeyer, NZG 2018, 977  ff. (die „künstliche Gestaltung“ i.S.d. §  42 AO); Mörsdorf, EuZW 2019, 141  ff. (zur geplanten Richtlinie über grenzüberschreitende Umwandlungen). 3 EuGH ECLI:EU:C:1999:126 – Centros. 4 BGH v. 13.3.2003 – VII ZR 370/98, BGHZ 154, 185 – Überseering. 5 BGH v. 11.7.1957 – II ZR 318/55, BGHZ 25, 134, 144; Kindler in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2018, IntGesR Rz. 6. 6 EuGH ECLI:EU:C:2011:671 Ls. 3  – Interedil („Bei der Bestimmung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen einer Schuldnergesellschaft ist dem Ort der Hauptverwaltung dieser Gesellschaft […] der Vorzug zu geben.“) = NZI 2011, 990 mit Anm. Mankowski; EuGH ECLI:EU:C:2011:838 Rz. 32 – Rastelli = NZI 2012, 147 mit Anm. Mankowski; zuletzt EuGH ECLI:EU:C:2016:374 Rz.  34 = BeckRS 2016, 81277  – Leonmobili; dazu D. Paulus, Außervertragliche Gesellschafter- und Organwalterhaftung im Lichte des Unionskollisionsrechts, 2013, Rz. 417; Kindler in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2018, IntGesR Rz. 146, 422; zum Gleichlauf von COMI und Verwaltungssitz ferner Weller in FS Blaurock, 2013, S. 497, 506; M.-Ph. Weller/Harms/Rentsch/Thomale, ZGR 2015, 361, 369; Bayer/Schmidt, BB 2016, 1923, 1932; Fehrenbach, GPR 2016, 282, 284. Zuvor schon U. Huber in FS Gerhardt, 2004, S. 397, 405 f.; P. Huber, ZZP 114 (2001), 133, 141; Borges, ZIP 2004, 733, 737 („Synonym“); Vallender, KTS 2005, 286; Benedettelli, Riv. dir. int. priv. proc. 2004, 510; Eidenmüller, NJW 2004, 3455. 

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tens seit der Kornhaas-Entscheidung des EuGH die Gründungstheorie „zerbröselt“, weil die relevanten Institute der Gesellschafter- und Geschäftsleiterhaftung weithin nicht mehr gesellschaftsrechtlich qualifiziert werden.7 Wegbereiter dieser Entwicklung ist nicht zuletzt der Jubilar, dem die nachfolgenden Überlegungen in fachlicher und persönlicher Hochschätzung gewidmet sind.

II. Anerkennung und Mobilität von Briefkastengesellschaften Nähert man sich dem juristischen Scheinriesen „Gründungstheorie“ von der Tatbestandsseite her, so wird schnell deutlich, dass eine Gründungsanknüpfung durchaus nicht in allen Fallvarianten der Anerkennung und Mobilität von Gesellschaften in internationalen Sachverhalten geboten ist. So gilt die aus der Niederlassungsfreiheit abgeleitete Gründungsanknüpfung nur für Gesellschaften aus anderen EU-Mitgliedstaaten, nicht hingegen für in Drittstaaten inkorporierte Gesellschaften.8 Bei den nach dem Recht eines EU-Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaften ist anhand der vorliegenden Rechtsprechung sorgfältig zwischen der Gesellschaftsgründung und der Sitzverlegung zu unterscheiden, bei letzterer wiederum unter Beachtung verschiedener Varianten.9 Dass die Anerkennung von EU-Gesellschaften im Binnenmarkt nicht schrankenlos zu gewähren ist, wird auch aus dem jüngsten Regelungsvorschlag der Kommission zur Unternehmensmobilität deutlich („Company Law Package 2018“).10 Unter anderem stellt die Kommission hier eine Regelung für grenzüberschreitende Sitzverlegungen (Formwechsel) vor, und zwar im Rahmen einer Ergänzung der 2017 konsolidierten Richtlinie über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts (RL [EU] 2017/1132 = Gesellschaftsrechts-RL).11 Der im Vorschlag verwendete unscharfe Begriff der „grenz­ überschreitenden Umwandlung“ wird dahin spezifiziert, dass die „grenzüberschreitende Umwandlung“ einen Formwechsel der EU-Gesellschaft nach sich zieht, sie also die Rechtsform ablegt, die sie im Wegzugsstaat hatte, und im Zuzugsstaat eine neue Rechtsform annimmt.12 Die Gesellschaftsrechts-RL soll in ihrer vorgeschlagenen Neufassung lediglich die grenzüberschreitende Verlegung des Satzungssitzes regeln,

7 M.-Ph. Weller/Benz/Thomale, ZEuP 2017, 250, 280. 8 BGH v. 27.10.2008 – II ZR 158/06, BGHZ 178, 192 – Trabrennbahn. 9 Dazu Kindler in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2018, IntGesR Rz. 818 ff. 10 COM(2018) 241 final; der Rat der EU und das EU-Parlament haben am 13.3.2019 eine vorläufige Einigung zu diesem Richtlinienvorschlag erzielt, vgl. ZIP 2019, A 26. Überblick dazu bei Bormann/ Stelmaszczyk, ZIP 2019, 300 ff.; Knaier, GmbHR 2018, R148 ff.; ders., GmbHR 2018, 607 ff.; Wicke, DStR 2018, 2642 ff., 2703 ff.; J. Schmidt, Der Konzern 2018, 229 ff. 11 RL (EU) 2017/1132 v. 14.6.2017, ABl. L 169/46 v. 30.6.2017. 12 So die Erläuterung zu Art. 86b, COM(2018) 241 endg., S. 22.

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die mit einem Formwechsel einhergeht,13 nicht die grenzüberschreitende Verlegung des Verwaltungssitzes.14 Die EU-Kommission scheint es hier ernst zu meinen mit dem Gläubigerschutz, wie aus zwei bedeutsamen Einschränkungen der der Unternehmensmobilität deutlich wird. Zum einen steht das Verfahren nach der geplanten Ergänzung der Gesellschaftsrechts-RL nur Gesellschaften offen, für die kein Auflösungs-, Abwicklungs- oder Insolvenzverfahren eröffnet wurde oder andere Restrukturierungsmaßnahmen eingeleitet bzw. entsprechende Präventivmaßnahmen zur Vermeidung solcher Verfahren getroffen wurden (Art. 86c Abs. 2 Gesellschaftsrechts-RL-E). Auch wenn die Gesellschaft ihre Zahlungen vorläufig eingestellt hat, soll sie nicht an dem Verfahren teilnehmen können. So will man verhindern, dass ein grenzüberschreitender Formwechsel als (missbräuchliches) Sanierungsinstrument verwendet werden kann. Zum anderen entfällt die Rechtsformwahlfreiheit, wenn die grenzüberschreitende Sitzverlegung lediglich eine „künstliche Gestaltung“ (artificial arrangement) darstellt und einzig dazu dient, unrechtmäßige Steuervorteile zu erlangen oder die gesetzlichen oder vertraglichen Rechte der Arbeitnehmer, Gläubiger oder Minderheitsgesellschafter unrechtmäßig zu beschneiden (Art.  86c Abs.  3 Gesellschaftsrechts-RL-E). Der Kommissionsvorschlag greift hier die Rechtsprechung des EuGH auf. 15 In den Entscheidungen Centros, Inspire Art und Polbud hat der Gerichtshof bereits deutlich gemacht, dass die Berufung auf die Niederlassungsfreiheit ausgeschlossen ist, wenn im Einzelfall ein Missbrauch nachgewiesen wird.16 In der Entscheidung Cadbury Schweppes17 stellte der EuGH zudem klar, dass Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit insbesondere dann gerechtfertigt sein können, wenn der Mitgliedstaat durch seine Maßnahmen rein „künstliche Gestaltungen“ verhindern will. Die Verabschiedung des Art.  86c Gesellschaftsrechts-RL-E dürfte zu spürbaren Einschränkungen der Gründungsanknüpfung nicht nur im internationalen Umwandlungsrecht führen, jedenfalls wenn man die Missbrauchsklausel zutreffend im Sinne einer Gewährleistung der Sitzeinheit (Satzungssitz = Verwaltungssitz) versteht.18

13 So auch die Erläuterung zu Art. 86b, COM(2018) 241 endg., S. 22. Die Verlegung des Satzungssitzes kann ganz grundsätzlich rechtsformwahrend erfolgen oder mit einem Formwechsel einhergehen, vgl. Knaier, GmbHR 2018, 607, 618 m.w.N.; derzeit gestattet jedoch kein Mitgliedstaat der EU eine Satzungssitzverlegung ins Ausland unter Wahrung der Rechtsform, s. dazu Behme, Rechtsformwahrende Sitzverlegung, 2015, S. 9; Braun, Die Wegzugsfreiheit als Teil der Niederlassungsfreiheit, 2010, S. 222. Die Verlegung des Satzungssitzes innerhalb der EU geht daher auch stets mit einem Formwechsel einher, vgl. Janisch, Die grenzüberschreitende Sitzverlegung, 2015, S. 72; Leible in FS Roth, 2011, S. 447, 451. 14 Dazu ausführlich Knaier in Würzburger Notarhandbuch, 5.  Aufl. 2017, Teil  5 Kap.  6 Rz. 355 ff. 15 So die Erläuterung zu Art. 86c, COM(2018) 241 endg., S. 22 f.; Bormann/ Stelmaszczyk, ZIP 2019, 300, 306. 16 Vgl. EuGH ECLI:EU:C:1999:126 Rz. 25 – Centros; EuGH ECLI:EU:C:2003:512 Rz. 143 – Inspire Art; EuGH ECLI:EU:C:2017:191 Rz. 39, 60 – Polbud. 17 EuGH ECLI:EU:C:2006:544 Rz. 51 – Cadbury Schweppes; dazu Kindler, IPRax 2010, 272 ff. 18 Wicke, DStR 2018, 2703, 2704; zurückhaltend Teichmann, NZG 2019, 241, 247 f.

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III. Gläubigerschutz durch Insolvenzrecht 1. Grundlagen Nähert man sich dem juristischen Scheinriesen „Gründungstheorie“ von der Rechtsfolgenseite her, so schrumpft er ebenfalls immer schneller zusammen, je genauer man hinsieht. Dogmatisch gesprochen geht es um die Bestimmung des gesellschaftskolli­ sionsrechtlichen Verweisungsbegriffs im Wege der funktional-teleologischen Qualifikation.19 Als prominenteste Beispiele sind in einer Festschrift für Ulrich Seibert an erster Stelle naturgemäß die – im Zuge des von ihm verantworteten „Gesetz[es] zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen“ (MoMiG) in die Insolvenzordnung umgesiedelten  – Gläubigerschutzinstrumente des Nachrangs der Gesellschafterdarlehen in der Insolvenz (nachfolgend unter 2.) und der Insolvenzantragspflicht (nachfolgend unter 3.) zu nennen. Weitere qualifikationsbedürftige Rechtsfiguren sind (4.) die Masseschmälerung und Insolvenzverursachung (5.), die Insolvenzabweisung mangels Masse und (6.) die Auswirkungen der Insolvenz­ eröffnung auf die Gesellschaft. Die Rechtsprechungsentwicklung hat gezeigt, dass der kodifikatorische Regelungsort einzelner Gläubigerschutzinstrumente durchaus keine Bindungswirkung im Rahmen der kollisionsrechtlichen Qualifikation erzeugt, sondern allenfalls indiziell wirkt.20 Für Kollisionsrechtler ist das eine Binsenweisheit, für allein sachrechtlich arbeitende Rechtsanwender offenbar hingegen ein methodisches Problem.21 Maßgebend für die insolvenzrechtliche Qualifikation eines Rechtsinstituts ist nach dem Urteil des EuGH im Fall „Kornhaas“ die Abweichung von den allgemeinen Regeln des Zivil- und Handelsrechts und zwar wegen der Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft.22 2. Gesellschafterdarlehen Hat ein Gesellschafter der Gesellschaft ein Darlehen gewährt, so kann er den Anspruch auf Rückzahlung in der Insolvenz der Gesellschaft nach § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO nur als nachrangiger Insolvenzgläubiger geltend machen; ergänzend gilt § 44a InsO.23 Auf einen eigenkapitalersetzenden Charakter der Darlehensgewährung kommt es in19 Dazu zuletzt Korherr, Funktional-teleologische Qualifikation und Gläubigerschutz – Eine Untersuchung zur Anwendbarkeit insolvenznaher Gläubigerschutzinstrumente auf EU-­ Auslandsgesellschaften mit inländischem Verwaltungssitz, 2019 (im Erscheinen). 20 Zuletzt etwa EuGH ECLI:EU:C:2018:138  – Mahnkopf = MittbayNot 2081, 375 Rz.  40 m. Anm. Sakka: erbrechtliche Qualifikation von § 1371 BGB entgegen dessen Regelungsort im 4. Buch des BGB. 21 Kindler in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2018, IntGesR Rz. 653 f. 22 EuGH ECLI:EU:C:2015:806 Rz. 16 – Kornhaas; zu den einzelnen Qualifikationskriterien Kindler, EuZW 2016, 136, 137 f.; ferner Mansel/Thorn/Wagner, IPRax 2016, 1, 26 f.; Schall, ZIP 2016, 289; M.-Ph. Weller/Hübner, NJW 2016, 225; Swierczok, NZI 2016, 50 f.; Man­ kowski, NZG 2016, 281; Kindler in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2018, IntGesR Rz. 54. 23 In der Praxis bedeutet der Nachrang regelmäßig, dass der Gesellschafter mit seiner Forderung vollständig ausfällt.

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soweit seit dem MoMiG nicht mehr an.24 Zudem wurde der Anwendungsbereich des § 39 InsO im Zuge des MoMiG bewusst rechtsformneutral festgelegt, u.a. damit die Regelung auch auf entsprechende Auslandsgesellschaften Anwendung findet (z.B. die englische Limited mit COMI in Deutschland), wenn deren Insolvenz nach deutschem Recht abgewickelt wird (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 7 Abs. 1 EuInsVO).25 Nach § 135 InsO unterliegen ferner die Besicherung sowie die Befriedigung einer solchen Darlehensrückzahlungsforderung der Insolvenzanfechtung. Schon diese beiden – genuin insolvenzrechtlichen – Rechtsfolgen der Einstufung eines Gesellschafterdarlehens als eigenkapitalersetzend deuten auf eine insolvenzrechtliche Qualifikation hin,26 der sich auch BGH im Fall „PIN“ angeschlossen hat.27 Der Rang der Forderungen und die Anfechtbarkeit von Rechtshandlungen beurteilen sich – vorbehaltlich Art. 16 EuInsVO – nach dem Insolvenzstatut (Art. 7 Abs. 2 lit. i, m EuInsVO).28 Die Niederlassungsfreiheit nach dem AEUV steht einer insolvenzrechtlichen Qualifikation nicht entgegen.29 Selbst wenn man die Vorschriften über die Gesellschafterdarlehen in § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO, §§ 44a, 135 InsO gesellschaftsrechtlich qualifizieren wollte oder – trotz insolvenzrechtlicher Qualifikation – eine EU-rechtliche Rechtfertigung für erforderlich erachten wollte,30 so wäre eine Anwendung dieser Regeln auf die EU-ausländische Gesellschaft mit inländischem Verwaltungssitz gerechtfertigt, wenn es zu einem inländischen Insolvenzverfahren kommt.31 Denn die genannten 24 Vgl. zu den Gesellschafterdarlehen seit dem MoMiG (vom 23.10.2008, BGBl.  I 2008,  2026) Kindler, NJW 2008, 3249, 3253; grdl. Habersack/Huber, BB 2006, 1 ff. 25 So die Begr. RegE zum MoMiG in BT-Drucks. 16/6140, S. 56 f. 26 OLG Köln v. 28.9.2010  – 18 U 3/10, NZI 2010, 1001 mit Anm. Mankowski, NZI 2010, 1004;  Kindler, NJW 2008, 3249, 3253; Kühnle/Otto, IPRax 2009, 117, 118  f.; Koch in Staub, HGB, 5. Aufl. 2009, § 13d Rz. 41; weitere Nachw. bei Fehrenbach in Binder/Eichel (Hrsg.), Internatonale Dimensionen des Wirtschaftsrechts, 2013, S.  223, 226 Fn.  18; so auch die h.M. zum früheren Recht (§§  32a, 32b GmbHG a.F.): Kindler, Die Abgrenzung von Gesellschafts- und Insolvenzstatut, in Sonnenberger (Hrsg.), Vorschläge und Berichte zur Reform des europäischen und deutschen internationalen Gesellschaftsrechts, 2007, S. 497, 524 ff. (Referat vom 27.11.2004). 27 BGH v. 21.7.2011 − IX ZR 185/10, ZIP 2011, 1775 Rz. 14 ff. – PIN; dazu und zum Folgenden Kindler in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2018, Art. 7 EuInsVO Rz. 96 ff. ferner Bork, EWiR 2011, 643; Schall, NJW 2011, 3745; Teichmann, BB 2012, 18; Wedemann, IPRax 2012, 226; ferner OLG Naumburg v. 6.10.2010 – 5 U 73/10, ZIP 2011, 677 mit Aufsatz Schall, ZIP 2011, 2177. Für gesellschaftsrechtliche Qualifikation mit Anknüpfung an den Verwaltungssitz Altmeppen, IWRZ 2017, 107, 113.  28 Zutr. Mankowski, EWiR 2009, 215, 216, der – zutreffend – gerade auf diese Vorschriften abstellt. 29 Schall, ZIP 2016, 289, 293; näher Kindler in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2018, Art. 7 EuInsVO Rz. 97 ff. 30 Zur Entbehrlichkeit einer EU-rechtlichen Rechtfertigung bei insolvenzrechtlicher Qualifikation Kindler in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2018, Art. 7 EuInsVO Rz. 84 f. 31 Haas, NZI 2001, 10; Paulus, ZIP 2002, 729, 734; tendenziell auch Forsthoff, DB 2002, 2471, 2477; Eidenmüller, ZIP 2002, 2233, 2242 (unter dem Vorbehalt, dass das Gründungsrecht im Einzelfall keine vergleichbaren Regelungen kennt), dies befürwortet Eidenmüller (JZ 2004, 24 (28)) allerdings nur bei einer „offensichtlich unzureichenden Gesamtkonzeption“ der Regelung des Gründungsstatuts; ebenso dann Eidenmüller/Rehm, ZGR 2004, 159,

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Regeln diskriminieren nicht zwischen Gesellschaften in- und ausländischer Rechtsform; nach der hier vertretenen insolvenzrechtlichen Anknüpfung bzw. im Falle einer gesellschaftsrechtlichen Sonderanknüpfung an den tatsächlichen Verwaltungssitz kommt es allein auf die Eigenschaft als tatsächliche Inlandsgesellschaft an. Mit ihrer gläubigerschützenden Tendenz dienen die Regeln dem Allgemeininteresse i.S.d. Rechtfertigungslehre.32 Sie sind auch zur Erreichung des verfolgten Zieles geeignet, da sie – genau wie die Insolvenzverschleppungshaftung, die Haftung aus Masseschmälerung und die Insolvenzanfechtung – die Insolvenzquote der Gläubiger anheben, weil der eingezogene Betrag die Masse verstärkt.33 Die Bestimmungen über die Gesellschafterdarlehen sind zum Schutz der Gläubiger auch erforderlich. An der Erforderlichkeit fehlt es nur, wenn Gläubiger schon durch die Unternehmenspublizität geschützt sind und auch kein milderes Mittel zur Verfügung steht.34 Die Unternehmenspublizität versagt hier – anders als in den vom EuGH entschiedenen Fällen, in denen es um das gesetzliche Mindestkapital ging – indessen schon deshalb, weil die Gesellschafterdarlehen nicht aus dem Handelsregister ersichtlich sind.35 Das vom EuGH propagierte „Informationsmodell“36 kann hinsichtlich solcher Daten von vornherein nicht greifen, bei denen eine nicht behebbare Informationsasymmetrie besteht. Auch ist ein milderes Mittel nicht ersichtlich, um die Finanzierungsverantwortung der Gesellschafter im Interesse der Gläubigergesamtheit durchzusetzen. Im Hinblick auf das Mindestkapital hat der EuGH zwar schon in „Centros“ festgehalten, öffentliche Gläubiger könnten rechtlich die Möglichkeit erhalten, sich die erforderlichen Sicherheiten einräumen zu lassen.37 Diesen Gedanken hat der Generalanwalt im Fall „Inspire Art“ aufgegriffen und auf private Gläubiger erstreckt.38 Indessen besteht eine solche Möglichkeit im hier vorliegenden Zusammenhang gerade nicht mehr, da der-

181 f.; Kindler, NZG 2003, 1086, 1090; Ulmer, NJW 2004, 1201, 1207; ganz abl. z.B. Borges, ZIP 2004, 733, 743; H. F. Müller, NZG 2003, 414, 417. 32 So im Ergebnis auch Balthasar,RIW 2009, 221, 226  f.; vgl. die Anforderungen an die Rechtfertigung einer Beschränkung der Niederlassungsfreiheit in EuGH ECLI:EU:C:1999:126 Rz. 34 – Centros; EuGH ECLI:EU:C:2003:512 Rz. 133 – Inspire Art. 33 Zur grds. Eignung der Eigenkapitalersatzregeln als Instrument des Gläubigerschutzes vgl.  nur EuGH ECLI:EU:C:2003:450 Rz.  42-48  – Walcher; Eidenmüller, JZ 2004, 24, 28; zum insolvenzrechtlichen Charakter der Ansprüche aus Masseschmälerung OLG Jena v. 17.7.2013  − 2 U 815/12, NZI 2013, 807 mit Anm. Poetzgen, NZI 2013, 809 (Kornhaas), Abschlussentscheidung BGH v. 15.3.2016 – II ZR 119/14, NZG 2016, 550. 34 Näher Kindler in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2018, IntGesR Rz. 449 ff. 35 A.A. Eidenmüller/Rehm, ZGR 2004, 159, 181: „Die Sache [liegt] nicht anders als beim Mindestkapital“. 36 Grdl.  – und krit.  – hierzu W. H. Roth, ZGR 2000, 311, 331 ff.; Eidenmüller/Rehm, ZGR 2004, 159, 171 ff.; näher Kindler in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2018, IntGesR Rz. 9, 30, 118. 37 EuGH ECLI:EU:C:1999:126 Rz. 37 – Centros; näher Kindler in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2018, IntGesR Rz. 116, 454. 38 Schlussanträge vom 30.1.2003, NZG 2003, 262 Rz.  150.

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artige Maßnahmen regelmäßig der Insolvenzanfechtung unterliegen (im deutschen Recht §§ 129 ff. InsO). 3. Insolvenzantrag und Insolvenzverschleppungshaftung a) Gläubigerschutz durch Insolvenzrecht Sowohl zur Organhaftung wie auch – wegen der Erstreckung auf faktische Organe – zu einer Gesellschafterhaftung kann die Verletzung von Insolvenzantragspflichten führen. Diese Haftungstatbestände sind nicht auf Gesellschaften mit gleichlaufendem Insolvenz- und Gesellschaftsstatut beschränkt. Die Insolvenzantragspflicht erstreckt sich vielmehr auf Geschäftsleiter vergleichbarer ausländischer Gesellschaften.39 Spätestens seit dem MoMiG steht dies auch auf sachrechtlicher Ebene vor aller Augen.40 Nach § 15a InsO haben die Mitglieder des Vertretungsorgans einer juristischen Person – bei Führungslosigkeit auch die Aufsichtsratsmitglieder und/oder Gesellschafter – spätestens drei Wochen nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu beantragen; das Gleiche gilt, wenn sich eine Überschuldung der Gesellschaft ergibt. Wer gegen die Insolvenzantragspflicht verstößt, haftet den Gläubigern der Gesellschaft auf Ersatz des durch die Insolvenzverschleppung eingetretenen Schadens. Grundlage des Schadensersatzanspruchs ist § 823 Abs. 2 BGB, für dessen Zwecke § 15a InsO als Schutzgesetz angesehen wird.41 Dabei unterscheidet die Rechtsprechung zwischen Alt- und Neugläubigern, bei Letzteren wiederum zwischen vertraglichen und gesetzlichen Gläubigern: Altgläubiger sind solche, die bereits im Zeitpunkt der Insolvenzreife Anspruchsinhaber waren. Sie erhalten nur den Ersatz ihres sog. „Quotenschadens“, d.h. die Differenz zwischen der fiktiven Insolvenzquote bei rechtzeitiger Verfahrenseinleitung und der tatsächlich erhaltenen Quote.42 Nur die Altgläubiger erleiden einen derartigen Quotenschaden, weil der Schaden der Neugläubiger nicht auf der Masseverkürzung beruhen kann. Deshalb hat der Insolvenzverwalter die Schadensersatzleistung durch die Geschäftsführer hinsichtlich des Quotenschadens allein zu Gunsten der Altgläubiger 39 So schon LG Kiel v. 20.4.2006 – 10 S 44/05, NZG 2006, 672 = NZI 2006, 482 mit Anm. Mock, NZI 2006, 484; Brinkmann in Karsten Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, Art. 4 EuInsVO 2000 Rz. 12; Renner, Insolvenzverschleppungshaftung in internationalen Fällen, 2007; Heil, Insolvenzantragspflicht und Insolvenzverschleppungshaftung bei der Scheinauslandsgesellschaft in Deutschland, 2008; Huber in Lutter (Hrsg.), Europäische Auslandsgesellschaften in Deutschland, 2005, S.  307, 309, 334  f.; Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, 8. Aufl. 2015, Vor § 64 Rz. 13 f. 40 BT-Druck. 16/6140, S. 55: „[§ 15a InsO] betrifft folglich auch vergleichbare Auslandsgesellschaften, die ihren Verwaltungssitz und Betrieb im Inland haben und deutschem Insolvenzrecht unterfallen. Dadurch werden auch Schutzlücken vermieden.“; dazu Hirte in Uhlenbruck, 14. Aufl. 2015, § 15a InsO Rz. 2. 41 Vgl. in der neueren Rspr. BGH v. 27.4.2009 – II ZR 253/07, NZG 2009, 750 zu gesellschaftsrechtlichen Vorgängernormen des §  15a InsO; OLG Koblenz v. 6.  1.2015  – 4 U 598/14, ­GmbHR 2015, 582 mit Anm. Arens. 42 BGH v. 30.3.1998 – II ZR 146/96, BGHZ 138, 211.

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einzuziehen und insoweit eine Sondermasse zu deren Befriedigung zu bilden.43 Es handelt sich um einen Gesamtschaden i.S.v. § 92 InsO, den allein der Insolvenzverwalter geltend machen kann.44 Vertragliche Neugläubiger sind solche, die erst nach Insolvenzreife auf der Grundlage eines Vertragsverhältnisses hinzugekommen sind. Sie erhalten ihren gesamten sog. „Kontrahierungsschaden“ ersetzt, also z.B. den Selbstkostenpreis für den Lieferanten, der vorgeleistet hat, abzüglich einer etwaigen Insolvenzquote.45 Der Bundesgerichtshof stellt hierbei maßgeblich auf den Schutzzweck der Insolvenzantragspflicht ab, insolvente Kapitalgesellschaften vom Geschäftsverkehr fernzuhalten (Reinigungsfunktion). Weil dieser Zweck bei den vertraglichen Neugläubigern verfehlt wird, erlangen sie im Zeitpunkt ihres Vertrages mit der schon insolvenzreifen GmbH einen nicht werthaltigen Gegenanspruch für ihre Leistung.46 Bislang unentschieden ist, ob die Geschäftsführer auch gegenüber Neugläubigern gesetzlicher Ansprüche Schadensersatz schuldet.47 b) Kollisionsrechtliche Qualifikation der Insolvenzantragspflicht anhand des Normzwecks Die Insolvenzantragspflicht ist – auch bei Normierung in einem gesellschaftsrechtlichen Gesetz - nach der Rechtsprechung des EuGH insolvenzrechtlich zu qualifizieren, da es sich im weiteren Sinne um eine Eröffnungsvoraussetzung i.S.d. Art. 7 Abs. 2 Satz 2 EuInsVO handelt.48 Die Vorschrift des §  15a InsO verpflichtet nach ihrem Wortlaut die Geschäftsleitung von Unternehmen, bei denen bestimmte Insolvenzgründe vorliegen, ein Insolvenzverfahren zu beantragen. Auch dieser mehrfache Bezug auf Insolvenzverfahren im Wortlaut der Vorschrift deutet auf eine insolvenzrechtliche Zielsetzung hin.49 Dafür spricht wenigstens indiziell auch der systematische Standort in einem insolvenzrechtlichen Gesetz, wie der vom Jubilar im Zuge des MoMiG erarbeitete § 15a InsO.50 Für die Qualifikation kann die systematische Verortung 43 BGH v. 30.3.1998 – II ZR 146/96, BGHZ 138, 211, 215. 44 BGH v. 30.3.1998 – II ZR 146/96, BGHZ 138, 211, 215. 45 BGH v. 6.6.1994 – II ZR 292/91, BGHZ 126, 181. 46 BGH v. 6.6.1994 – II ZR 292/91, BGHZ 126, 181, 194 ff.; BGH v. 30.3.1998 – II ZR 146/96, BGHZ 138, 211; BGH v. 7.7.2003 – II ZR 241/02, NZG 2003, 923.  47 Offengelassen durch BGH v. 7.7.2003 – II ZR 241/02, NZG 2003, 923, 924; Haas/Kolmann/ Pauw in Gottwald (Hrsg.), Insolvenzrechts-Handbuch, 5. Aufl. 2015, § 92 Rz. 118 ff. 48 EuGH ECLI:EU:C:2015:806 Rz. 19 – Kornhaas; zust. Kindler, EuZW 2016, 136, 137 f.; Schall, ZIP 2016, 289, 293; Bayer/J. Schmidt, BB 2016, 1923, 1929, 1931; zuvor schon Kindler, Die Abgrenzung von Gesellschafts- und Insolvenzstatut, in Sonnenberger (Hrsg.), Vorschläge und Berichte zur Reform des europäischen und deutschen internationalen Gesellschaftsrechts, 2007, S. 497, 506 ff., 517 (Referat vom 27.11.2004); D. Paulus, Außervertragliche Gesellschafter- und Organwalterhaftung im Lichte des Unionskollisionsrechts, 2013, Rz. 498, 521 m.w.N. 49 Borges, ZIP 2004, 733, 739 m. Fn. 97. 50 Für die kodifikatorische Verlagerung der Insolvenzantragspflicht in die InsO schon Kindler, Die Abgrenzung von Gesellschafts- und Insolvenzstatut, in Sonnenberger (Hrsg.), Vorschläge und Berichte zur Reform des europäischen und deutschen internationalen Gesell-

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einer Vorschrift einen unterstützenden Hinweis liefern, wenngleich eine funktionelle Bewertung51 – wie gesagt (oben 1.) – hierdurch nicht ersetzt wird.52 Eine funktionelle Betrachtung ergibt als Normzweck der Insolvenzantragspflicht zum einen, insolvenzreife Gesellschaften vom Geschäftsverkehr fernzuhalten.53 Neue Gläubiger der Gesellschaft sollen davor bewahrt werden, mit einer überschuldeten oder zahlungsunfähigen Gesellschaft noch in Rechtsbeziehungen zu treten.54 Dies war bereits der Normzweck von Art. 240 Abs. 3 ADHGB, dem historischen Vorbild der heutigen Insolvenzantragspflicht.55 Ferner bezweckt die Insolvenzantragspflicht den Schutz der bereits vorhandenen Gläubiger vor einer Verringerung ihrer zu erwartenden Insolvenzquote.56 Denn die Erfahrung zeigt, dass eine überschuldete oder zahlungsunfähige Gesellschaft regelmäßig zu Lasten ihrer Gläubiger in der Ertragskurve weiter talwärts treibt, mit der Folge, dass das zur Befriedigung der Gläubiger vorgesehene Gesellschaftsvermögen (§  13 Abs.  2 GmbHG) immer weiter abnimmt und sich die Befriedigungsaussichten der Gläubiger weiter verschlechtern.57 Hinter der Insolvenzantragspflicht stehen mithin typisch insolvenzrechtliche Zielsetzungen. Im Hinblick auf Neugläubiger kommt die klassische Reinigungsfunktion des Insolvenzverfahrens zum Tragen: Lebensunfähige Unternehmen sollen aus der Wirtschaft ausscheiden, um nicht andere, gesunde Unternehmen mit in den Untergang zu reißen.58 Mit Recht betont man daher im Schrifttum die „überragende Bedeutung, die die öffentlich-rechtlich ausgestaltete, zwingende Antragspflicht für den Rechtsverkehr hat“.59 Im Hinblick auf Altgläubiger geht es um die bestmögliche Verwirklichung der Haftung der Schuldnergesellschaft: Die frühzeitige Insolvenzeröffnung soll einen

schaftsrechts, 2007, S.  497, 521 (Referat vom 27.11.2004); der Gesetzgeber des MoMiG wollte hierdurch Schutzlücken bei der Insolvenz von Auslandsgesellschaften vermeiden: Begr. RegE, BT-Drucks. 16/6140, 55 zum MoMiG vom 23.10.2008 (BGBl. I 2008, 2026). 51 Dazu von Hein in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2018, Einl. IPR Rz. 126 ff. 52 Allg. Haas, NZI 2001, 1, 10 (l. Sp.); vgl. im vorliegenden Zusammenhang Trunk, Interna­ tionales Insolvenzrecht, 1998, S. 104 f.; Paulus, ZIP 2002, 729, 734 (re. Sp.); H. F. Müller, NZG 2003, 414, 416; implizit auch Zimmer, NJW 2003, 3585, 3590 (li. Sp.); und schon Zimmer, IntGesR, 1996, S. 294 f. zur action en comblement du passif des frz. und belgischen Rechts; nicht berücksichtigt von Ulmer, NJW 2004, 1201, 1207 m. Fn. 60. 53 BGH v. 6.6.1994 – II ZR 292/91, BGHZ 126, 181, 194; BGH v. 30.3.1998 – II ZR 146/96, BGHZ 138, 211; BGH v. 7.7.2003 – II ZR 241/02, NZG 2003, 923; Kindler in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2018, Art. 7 EuInsVO Rz. 64. 54 BGH v. 7.7.2003 – II ZR 241/02, NZG 2003, 923. 55 Altmeppen, ZIP 2001, 2201 m. Fn. 2; Borges, ZIP 2004, 733, 738. Die Verortung im ADHGB beruhte auf dem historischen Zufall, dass bei dessen Feststellung (1861) keine Bundeskompetenz für das Insolvenzrecht bestand, Borges, ZIP 2004, 733, 738 f. 56 Altmeppen, ZIP 2001, 2201 f. 57 Altmeppen, ZIP 2001, 2201, allerdings mit Kritik zu dieser Betrachtungsweise. 58 Ebenso in der Sache Borges, ZIP 2004, 733, 739; Kindler in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2018, Art. 7 EuInsVO Rz. 65 ff. 59 Goette, DStR 1994, 1092, 1094, zu BGH v. 1.3.1993 – II ZR 61/92 und II ZR 81/94, NJW 1994, 2149.

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weiteren Schwund des Schuldnervermögens aufhalten und so den Altgläubigern eine möglichst hohe Insolvenzquote sichern.60 c) Qualifikation der Insolvenzverschleppungshaftung Die zivilrechtliche Insolvenzverschleppungshaftung der Antragsverpflichteten folgt nicht unmittelbar aus §  15a InsO, sondern ergibt sich erst im Zusammenspiel mit § 823 Abs. 2 BGB. Wie oben unter a) ausgeführt, ist § 15a InsO Schutzgesetz i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB. Der Haftungstatbestand ist mit der zutr. Rspr. des EuGH insolvenzrechtlich zu qualifizieren. Das Urteil „Kornhaas“ ist insoweit eindeutig, wenn es dort obiter heißt, dem Insolvenzstatut unterfielen die Regeln für die Bestimmung der zur Stellung des Antrags auf Eröffnung dieses Verfahrens verpflichteten Personen und die Folgen eines Verstoßes gegen diese Verpflichtung .61 Damit sind nicht nur die Strafbarkeit (§ 15a Abs. 4 und 5 InsO) und die sonstigen Rechtsfolgen der Antragspflichtverletzung62 gemeint, sondern auch die Haftung gegenüber den Gesellschaftsgläubigern. Abzulehnen ist die Auffassung, dass man es mit einer deliktischen Anspruchsgrundlage zu tun haben, bei deren Prüfung eine insolvenzrechtliche – nach anderer Ansicht: gesellschaftsrechtliche  – Vorfrage zu beantworten ist, nämlich die, ob tatbestandlich ein Verstoß gegen die Insolvenzantragspflicht vorliegt.63 Aus verschiedenen Gründen kann die deliktsrechtliche Qualifikation nicht überzeugen.64 Zum internationalen Verfahrensrecht ist anerkannt, dass auch Ansprüche aus allgemeinem Recht insolvenzrechtlichen Charakter haben können, wenn sich dies nach ihrem Gesamtgepräge aufdrängt.65 Derartige insolvenztypische Merkmale liegen hier – wenn man das EuGH-Urteil in der Sache „Gourdain“ zum Insolvenzrechtsvorbehalt des EuGVÜ66 heranzieht – gleich in mehrfacher Hinsicht vor. So liegt die Prozessführungsbefugnis für die Geltendmachung des Insolvenzverschleppungs60 So deutlich und mit Recht H. F. Müller, NZG 2003, 414, 416: „Mit den Antragspflichten soll erreicht werden, dass Verfahren bei insolventen Schuldnern mit beschränktem Haftungsfonds rechtzeitig eingeleitet werden“; und schon Trunk, Internationales Insolvenzrecht, 1998, S.  104  f.; Bayer, BB 2003, 2357, 2365; Zimmer, NJW 2003, 3585, 3589; Spindler in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, § 92 Rz. 3. 61 EuGH ECLI:EU:C:2015:806 Rz. 19 – Kornhaas; zust. Kindler, EuZW 2016, 136, 137 f.; näher Kindler in MünchKomm. BGB, 7.  Aufl. 2018, Art.  7 EuInsVO Rz.  69  ff.; für gesellschaftsrechtliche Qualifikation – aber bei Anknüpfung an den Schwerpunkt des unternehmerischen Handelns – der eigenständige Ansatz von Altmeppen, IWRZ 2017, 107, 111. 62 Dazu Klöhn in MünchKomm. InsO, 3. Aufl. 2013, § 15a Rz. 317 ff. 63 Zimmer, NJW 2003, 3585, 3590; Schanze/Jüttner, AG 2003, 661, 670 (deutsches Deliktsrecht in Kombination mit ausländischem Gesellschaftsrecht als Schutzgesetz). Das singu­ läre Urteil EuGH ECLI:EU:C:2013:490 – ÖFAB spricht nicht generell für eine deliktsrechtliche Qualifikation; spezifisch insolvenzrechtliche Pflichten hat der beklagte Geschäftsleiter dort nicht verletzt. Näher Freitag, ZIP 2014, 302  ff. 64 Huber in Lutter (Hrsg.), Europäische Auslandsgesellschaften in Deutschland,  2005, S.  307, 319 f. 65 Vgl. nochmals die Ausführungen des GA Reischel in dem Verfahren zur Geschäftsleiterhaftung nach frz. Recht, EuGH ECLI:EU:C:1979:49 – Gourdain. 66 EuGH ECLI:EU:C:1979:49 – Gourdain.

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schadens jedenfalls hinsichtlich der Altgläubiger beim Verwalter (§ 92 InsO – „Gesamtschaden“), und die Schadensersatzleistung ist zur Masse zu erbringen, nicht an einzelne Gläubiger. Daraus wird deutlich, dass die Insolvenzverschleppungshaftung lediglich ein Instrument zur Verwirklichung genuin insolvenzrechtlicher Zielsetzungen ist, d.h. ein Instrument zur Stärkung der Masse, um die Befriedigungsaussichten der Insolvenzgläubiger zu verbessern. Hinzu kommt, dass im Haftungsprozess über spezifisch insolvenzrechtliche Rechts- und Tatsachenfragen zu entscheiden ist, wie das Vorliegen und den Zeitpunkt der Insolvenzgründe i.S.d. §§ 17, 19 InsO, und Insolvenzverschleppungsstreitigkeiten können nicht ohne die Verfahrenseröffnung entstehen.67 All dies spricht – mit dem EuGH – für eine insolvenzrechtliche Qualifikation des Haftungstatbestandes insgesamt, jedenfalls aber – sofern man von deliktsrechtlicher Qualifikation ausgeht  – für eine akzessorische Anknüpfung an das Insolvenzstatut nach Art. 4 Abs. 3 Rom II-VO.68 Auch die Rechtsvergleichung zeigt, dass eine insolvenzrechtliche Qualifikation und Anknüpfung der Geschäftsleiterhaftung bei Fortführung insolvenzreifer Unternehmen gemeineuropäischem Verständnis entspricht.69 d) Vorgaben des EU-Rechts Bedeutsam ist ferner, dass die EuInsVO gegenüber der Brüssel Ia-VO eine lückenfüllende Rolle einnimmt (vgl. Art. 32 Abs. 2 EuInsVO). Da die action en comblement du passif bereits als insolvenzrechtlich im Sinne des Ausnahmetatbestands von Art.  1 Abs. 2 lit. b Brüssel Ia-VO eingestuft wurde,70 liegt es nahe, dieses Institut als Klage in einem dem eigentlichen Insolvenzverfahren besonders nahe stehenden Einzelverfahren i.S.d. Art. 32 Abs. 1 UAbs. 2 EuInsVO und Art. 6 Abs. 1 EuInsVO (Annexverfahren) anzusehen, so wie dies schon aus den Vorarbeiten zur EuInsVO hervorgeht.71 Hieraus wiederum ergibt sich zwanglos, die funktionsgleichen Haftungstatbestände in den übrigen Rechtsordnungen der EU-Mitgliedstaaten ebenfalls insolvenzrechtlich einzuordnen.72 Zudem liegt in der Anwendung des am inländischen Verwaltungssitz/COMI geltenden Rechts auf Geschäftsleiter EU-ausländischer Gesellschaften keine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit.73

67 Zu diesem Gedanken W. Lüke in FS Schütze, 1999, S. 467, 483; Haas, RabelsZ 77 (2013), 632, 635  f. 68 Höfling, Das englische internationale Gesellschaftsrecht, 2002, S.  267; Kuntz, NZI 2005, 424, 428 m.N. in Fn.  66; Eidenmüller in Eidenmüller (Hrsg.), Ausl. KapGes. § 9 Rz. 32; Eiden­müller, RabelsZ 70 (2006), 474, 497; Koch in Staub, HGB, 5. Aufl. 2009, §  13d Rz.  41. 69 Stellvertretend Kindler in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2018, Art. 7 EuInsVO Rz. 72 ff. (zum Vereinigten Königreich, Frankreich und Italien). 70 EuGH ECLI:EU:C:1979:49 – Gourdain; OLG Hamm v. 26.2.1993 – 20 W 3/93, RIW 1994, 62 – Gourdain. 71 Kindler/Wendland, RIW 2018, 245, 250; vgl. ferner Niggemann/Blenske, NZI 2003, 471, 478 m.w.N. 72 Näher Kindler in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2018, Art. 7 EuInsVO Rz. 83. 73 Näher Kindler in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2018, Art. 7 EuInsVO Rz. 84 ff.

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e) Zusammenfassung Auch Insolvenzantragsrecht und Insolvenzantragspflicht sowie eine etwaige Insolvenz­ verschleppungshaftung als Sanktion bei Verletzung dieser Pflicht unterliegen dem Recht am effektiven Verwaltungssitz als Insolvenzstatut, nicht dem Gesellschaftsstatut.74 Dies gilt unabhängig von deren systematischer Verortung in gesellschaftsrechtlichen, insolvenzrechtlichen oder allgemeinzivilrechtlichen Gesetzen im nationalen Recht. 4. Masseschmälerung und Insolvenzverursachung a) Masseschmälerung Bei funktional-teleologischer Betrachtung (oben 1.) ist ferner die Organhaftung aus dem Gesichtspunkt der Masseschmälerung im Vorfeld der Insolvenz (vgl. § 64 Satz 1 GmbHG, § 92 Abs. 2 AktG, § 99 Satz 1 GenG, § 130a Abs. 2 HGB) mit dem EuGH-­ Urteil „Kornhaas“ nicht gesellschaftsrechtlich, sondern insolvenzrechtlich zu quali­ fizieren.75 Das galt auch schon vor dem besagten Urteil.76 Anders liegt es nur bei der masselosen Insolvenz.77 Gegen eine gesellschaftsrechtliche Qualifikation der Haftung aus Masseschmälerung spricht schon, dass im Regelfall kein Schaden der Gesellschaft entsteht. Die verbotswidrigen Zahlungen dienen in der Regel der Erfüllung von ­Verbindlichkeiten der Gesellschaft und führen bei dieser nur zur Verkürzung der ­Bilanzsumme. Verringert wird nur die Insolvenzmasse in dem nachfolgenden Insolvenzverfahren, was zu einem Schaden allein der Insolvenzgläubiger führt.78 Für eine 74 EuGH ECLI:EU:C:2015:806 Rz. 18 f. – Kornhaas; näher Kindler, EuZW 2016, 136, 137 f.; Schall, ZIP 2016, 289, 293; vor dem MoMiG schon Kindler, Die Abgrenzung von Gesellschafts- und Insolvenzstatut, in Sonnenberger (Hrsg.), Vorschläge und Berichte zur Reform des europäischen und deutschen internationalen Gesellschaftsrechts, 2007, S. 497, 506 ff., 517 (Referat vom 27.11.2004); eingehend D. Paulus, Außervertragliche Gesellschafter- und Organwalterhaftung im Lichte des Unionskollisionsrechts, 2013, Rz. 498, 521; zum Folgenden auch Kindler in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2018, Art. 7 EuInsVO Rz. 58 ff. 75 EuGH ECLI:EU:C:2015:806 Rz. 21 – Kornhaas; zust. Kindler/Wendland, RIW 2018, 245, 250; Schall, ZIP 2016, 289; Bayer/J. Schmidt, BB 2016, 1923, 1929, 1931; Mankowski, NZG 2016, 281; Abschlussentscheidung: BGH v. 15.3.2016 – II ZR 119/14, NJW 2016, 2660 = NZI 2016, 461 mit Anm. Mock; näher Kindler in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2018, Art. 7 EuInsVO Rz. 87 ff. 76 KG v. 24.9.2009 – 8 U 250/08, NZG 2009, 1345 mit Anm. Commandeur, NZG 2009, 1345 = IPRax 2010, 449 mit Aufsatz Kindler; dazu auch Ringe/Willemsen, NZG 2010, 56; Haas, NZG 2010, 495, 496; vor dem MoMiG schon Kindler, Die Abgrenzung von Gesellschaftsund Insolvenzstatut, in Sonnenberger (Hrsg.), Vorschläge und Berichte zur Reform des europäischen und deutschen internationalen Gesellschaftsrechts, 2007, S. 497, 521 ff. (Referat vom 27.11.2004); ferner etwa Wachter in Römermann/Wachter, GmbH-Beratung nach dem MoMiG (GmbHR-Sonderheft Oktober 2008), 2008, 80, 86 f.; zum MoMiG vgl. Begr. RegE, BT-Drucks. 16/6140, S. 46 und dazu Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, 8. Aufl. 2015, § 64 Rz. 5, 34. 77 Kindler in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2018, IntGesR Rz. 631. 78 Zu diesem Gedankengang BGH v. 20.9.2010 – II ZR 78/09, BGHZ 187, 60 Rz.  14 – Doberlug.

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insolvenzrechtliche Qualifikation lässt sich anführen, dass diese Haftung vom Insolvenzverwalter geltend zu machen ist, ferner der auf Sicherung der Insolvenzmasse gerichtete Normzweck. Zudem verhindert die Organhaftung für Masseschmälerungen, dass durch eine Vorwegbefriedigung einzelner Gläubiger gegen den – gemeineuropäisch anerkannten – Grundsatz der gleichmäßigen Befriedigung aller Gläubiger verstoßen wird. Denn auf Grund der Masseschmälerung sinkt die Insolvenzquote der hierbei nicht bedienten Gläubiger entsprechend.79 Die Rückerstattung verbotener Zahlungen zur Masse stellt die Verteilungsgerechtigkeit unter den Gläubigern wieder her. Sie bewirkt die „Gleichbehandlung der Gläubiger am Vorabend der Insolvenzeröffnung“,80 indem sie die Vorwegbefriedigung einzelner Gläubiger schon durch ihre Vorfeldwirkung verhindern oder jedenfalls durch Wiederherstellung des Gesellschaftsvermögens (und damit der Insolvenzmasse) rückgängig machen. Damit bleibt die Insolvenzquote aller Gläubiger der Gesellschaft gewahrt. Genau wie die in diesen Fällen gleichzeitig gegebene Insolvenzanfechtung gegenüber dem Zahlungsempfänger verfolgt sie mit der Gläubigergleichbehandlung einen klassischen Insolvenzrechtszweck.81 Maßgeblich ist daher das Recht am COMI, d.h. am effektiven Verwaltungssitz der Gesellschaft.82 Hinzu kommt die Komplementärfunktion der EuInsVO gegenüber der Brüssel Ia-VO, welche ebenfalls eine insolvenzrechtliche Qualifikation der Restitutionsansprüche nach Masseschmälerung nahelegt. Für die Insolvenzanfechtung ordnet Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 2 lit. m EuInsVO die insolvenzrechtliche Qualifikation ausdrücklich an. Schon nach bisher herrschender Betrachtungsweise greift für Anfechtungsklagen des Insolvenzverwalters deshalb der Insolvenzrechtsvorbehalt in Art.  1 Abs.  2 lit. b Brüssel Ia-VO ein,83 und Art. 6 Abs. 1 EuInsVO bestätigt dies für die seit 26.6.2017 anwendbare Neufassung der EuInsVO eindeutig. Dafür spricht in der Sache, dass nur der Verwalter die Anfechtungsklage im Interesse der Gesamtheit der Insolvenzgläubiger erheben kann, und zwar mit dem Ziel, diesen unter Beachtung ihrer grundsätzlichen Gleichrangigkeit Befriedigung zu verschaffen; im Erfolgsfalle kommt das Ergebnis der Anfechtungsklage der Gesamtheit der Gläubiger durch Vermehrung der Masse zugute. Diese Gesichtspunkte treffen auf die Haftungsklage des Insolvenzverwalters gegen den Geschäftsführer wegen Masseschmälerung in gleicher Weise zu.84 In diese – gewollte – Regelungslücke der Brüssel Ia-VO stößt die EuInsVO. Hat das Organmitglied der Schuldnergesellschaft seinen Wohnsitz im Ausland, so besteht für den Insolvenzverwalter nach Art. 6 Abs. 1 EuInsVO – und früher analog „Deko Marty“85 – ein 79 BGH v. 8.1.2001  – II ZR 88/99, BGHZ 146, 264, 278 (Ls. 2); BGH v. 31.3.2003  – II ZR 150/02, NZG 2003, 582, 583. 80 Goette, DStR 2003, 887, 893. 81 Begr. RegE zum MoMiG, BT-Drucks. 16/6140,  S. 47; OLG Düsseldorf v. 18.12.2009 – 17 U 152/08, BeckRS 2010, 12145 Rz.  22 = IPRax 2011, 176 mit Aufsatz Wais, IPRax 2011, 138. 82 Zuletzt EuGH ECLI:EU:C:2016:374 Rz. 34 – Leonmobili, dazu oben Fn. 6. 83 BGH v. 11.1.1990  – IX ZR 27/89, NJW 1990, 990, 991 = IPRax 1991, 162; Kropholler/v. Hein, EurZPR, 9. Aufl. 2011, Art. 1 Rz. 35; zust. Haas, NZG 1999, 1148, 1152; a.A. Schlosser/Hess, EuGVO, 4. Aufl. 2015, Art.  1 Rz.  21e. 84 Haas, NZG 1999, 1148, 1152  m. Fn. 54 (m. Hinweis auf §  92 InsO). 85 EuGH ECLI:EU:C:2009:83 – Deko Marty.

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internationaler und örtlicher Klägergerichtsstand am Sitz des Insolvenzgerichts86 bzw. der Gesellschaft.87 b) Insolvenzverursachung Auch die Insolvenzverursachungshaftung (im deutschen Recht § 64 Satz 3 GmbHG, § 92 Abs. 2 AktG) unterliegt dem Insolvenzstatut. Hier geht es um die persönliche Haftung der Geschäftsleiter für Zahlungen an Gesellschafter, soweit diese erkennbar zur Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft führen mussten. Insoweit hat das MoMiG88 den „Solvenztest“ als liquiditätssichernde Ausschüttungssperre aus dem anglo-amerikanischen Recht übernommen.89 Die Gesetzesbegründung zum MoMiG sieht hierin zutreffend einen insolvenzrechtlichen Haftungstatbestand, der nach Art. 3 Abs. 1, 7 Abs.  1 und 2 EuInsVO grundsätzlich auch auf Auslandsgesellschaften anwendbar ist.90 Für eine insolvenzrechtliche Qualifikation spricht die im Verhältnis zur Insolvenzverschleppungshaftung (oben 3.) bloß zeitlich vorgelagerte Schutzfunktion; die Insolvenzmasse soll im Interesse der Gläubiger bewahrt werden. Den Aspekt der Verhinderung etwaiger Masseverkürzungen vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens hatte der EuGH im Fall Kornhaas als insolvenzrechtliches Qualifikationsmerkmal betont (zur Masseschmälerung).91 c) Auslandsrechtliche Organmitglieder als Haftungsadressaten Bei der Subsumtion einer „Limited“ unter das GmbHG und von deren „managing director“ unter den Begriff des Geschäftsführers i.S.d. Haftungstatbestände des § 64 GmbHG handelt es sich nicht um ein methodisch komplexes Analogieproblem, sondern schlicht um um Substitution.92 Nichts anderes gilt für die Haftung von Organmitgliedern ausländischer Aktiengesellschaften mit inländischem COMI nach § 92 Abs. 2 AktG. 5. Abweisung mangels Masse Ob Massearmut i.S.v. §  26 InsO vorliegt, hat das inländische Insolvenzgericht von Amts wegen (§ 5 InsO) festzustellen. Kann das Gericht nicht unter vertretbarem Auf86 Kindler in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2018, Art. 6 EuInsVO Rz. 4 ff.; Art. 32 EuInsVO Rz.  18; zust. für den Fall einer insolvenzrechtlichen Qualifikation OLG Karlsruhe v. 22.12.2009 – 13 U 102/09, NZG 2010, 509 Rz. 10–14 = IPRax 2011, 179 mit Aufsatz Wais, IPRax 2011, 138. 87 OLG Köln v. 9.6.2011 – 18 W 34/11, NZG 2012, 233, 234; Weller/Schulz, IPRax 2014, 336, 338 f. 88 Oben Fn. 23. 89 M.-Ph. Weller/Benz/Thomale, ZEuP 2017, 250, 280. 90 Kindler, EuZW 2016, 136, 139; ders. in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2018, Art. 7 EuInsVO Rz. 89; Schall, ZIP 2016, 289, 292; BT-Drucks. 16/6140,  S. 113. 91 Vgl. EuGH ECLI:EU:C:2015:806 Rz. 20 – Kornhaas. 92 Kindler in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2018, Art. 7 EuInsVO Rz. 90 m.w.N.; im Ergebnis auch Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, 8. Aufl. 2015, §  64 Rz.  5.

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wand positiv feststellen, dass das Vermögen einer Auslandsgesellschaft voraussichtlich die Kosten des Insolvenzverfahrens decken wird, so ist ein Beschluss über die Masselosigkeit ohne weiteres möglich.93 In diesen Fällen wird dann häufig eine Insolvenzverschleppungshaftung der Geschäftsleiter in Rede stehen, die ebenfalls insolvenzrechtlich zu qualifizieren ist und sich nach dem am effektiven Verwaltungssitz der Gesellschaft geltenden Recht beurteilt ( oben 3.).94 Automatische Folge der Abweisung des Eröffnungsantrags mangels Masse ist nach inländischem Recht die Auflösung der Gesellschaft (z.B. nach § 60 Abs. 1 Nr. 5 GmbHG). Diese Auflösungsfolge soll nach einigen Literaturstimmen gesellschaftsrechtlich zu qualifizieren sein, da ein Insolvenzverfahren gerade nicht stattfindet.95 Dem ist nicht zu folgen. Bei teleologisch-funktionaler Betrachtungsweise wird nämlich deutlich, dass das bei Insolvenzablehnung eingreifende gesellschaftsrechtliche Liquidationsverfahren ähnlich abläuft wie das insolvenzrechtliche Liquidationsverfahren. Besonders deutlich zeigt sich dies in dem für beide Verfahren geltenden Grundsatz, die Gläubiger vorrangig zu befriedigen und nur ein etwa verbleibendes Liquidationsguthaben unter die Gesellschafter zu verteilen (vgl. z.B. im deutschen Recht einerseits § 72 GmbHG andererseits als § 199 InsO). Noch stärker wiegt die Überlegung, dass die Auflösungsfolge Ausdruck der typischen „Reinigungsfunktion“ des Insolvenzrechts (oben 3. a) ist.96 6. Auswirkungen der Insolvenzeröffnung auf die Gesellschaft Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens führt nach inländischem Recht zur Auflösung der Gesellschaft (z.B. §  60 Abs.  1 Nr.  4 GmbHG). Wiederum gilt, dass diese Folge Ausdruck der Reinigungsfunktion des Insolvenzrechts (oben 3. a) ist und daher nach dem Insolvenzstatut zu beurteilen ist. Dafür spricht auch der Wortlaut des Art.  7 Abs. 1 EuInsVO: danach gilt für das Insolvenzverfahren und seine Wirkungen – hier: die Auflösung der Gesellschaft – das Insolvenzrecht des Staates der Verfahrenseröffnung. Ist Insolvenzstatut deutsches Recht, so überlagern die dort enthaltenen Auflösungsbestimmungen das ggf. anwendbare ausländische Gesellschaftsrecht.97 Auch die Frage, ob der Insolvenzverwalter die Aufgaben eines möglichen Liquidators wahrnehmen muss, richtet sich nach Art. 7 Abs. 2 lit. c EuInsVO nach der lex fori concursus. Diese Rechtsordnung überlagert daher anderslautende Vorschriften des Gesellschaftsstatuts.98 93 Kindler in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2018, Art. 7 EuInsVO Rz. 91 f. m.w.N. 94 Auf die tatsächliche Eröffnung eines Insolvenzverfahrens kommt es für die Qualifikation nicht an: Wansleben, EWS 2016, 72, 75; Thole, ZIP 2016, 1399, 1400. 95 Mock/Schildt in Hirte/Bücker (Hrsg.), Grenzüberschreitende Gesellschaften, 2006, § 16 Rz. 54; Uhlenbruck, ZIP 1996, 1641, 1647  ff. 96 BGH v. 8.10.1979 – II ZR 257/78, BGHZ 75, 178, 180; Koch in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 262 Rz. 51; wie hier i.E. Eidenmüller in Eidenmüller (Hrsg.), Ausl. KapGes. Im deutschen Recht, 2004, §  9 Rz.  38. 97 Kindler in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2018, Art. 7 EuInsVO Rz. 93 m.w.N. 98 Mock/Schildt in Hirte/Bücker (Hrsg.), Grenzüberschreitende Gesellschaften, 2006, § 16 Rz. 57.

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IV. Fazit Nicht jede großspurig auftretende Rechtsfigur entfaltet eine diesem Auftreten entsprechende Wirkung. Für die kollisionsrechtliche Gründungstheorie zur Bestimmung des Gesellschaftsstatuts gilt dies deshalb, weil sie in einer Reihe von Fallge­ staltungen ohnehin zurücktritt (oben II.), ferner im Hinblick auf den begrenzten Geltungsbereich des Gesellschaftsstatuts, der sich bei zutreffender funktional-teleologischer Qualifikation zahlreicher Gläubigerschutzinstrumente ergibt (III.). Der Gläubigerschutz unterliegt hier vielfach dem Insolvenzrecht und damit dem Recht am Verwaltungssitz der Gesellschaft, wie er in Artt. 3, 7 EuInsVO 2015 für die Bestimmung der internationalen Insolvenzeröffnungszuständigkeit und des Insolvenzstatuts verwendet wird. Dem Jubilar ist dafür zu danken, dass er durch seine Vorarbeiten zum MoMiG einen Beitrag zur Korrektur der kollisionsrechtlichen Fehlentwicklung geleistet hat, die der EuGH mit seinem „Centros“-Urteil eingeleitet hat.

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Die Ausdehnung des Freigabeverfahrens auf weitere Beschlussarten Inhaltsübersicht I. Einführung 1. Wirkungserfolge und fortdauernde Kritik 2. Neuere Ansätze zur systemkonformen Fortentwicklung des geltenden Rechts II. Der erste Schritt: Ausdehnung der ­Verhältnismäßigkeitsprüfung auf ­sonstige Beschlussarten 1. Der Seibert’sche Vorschlag und das ­Gutachten zum 72. Deutschen Juristentag 2. Gründe für die generelle Aufgabe der Einheitsfolge Beschlusskassation a) Allgemeine Erwägungen b) Zu erfassende Beschlüsse

I II. Der zweite Schritt: Bestandssicherung 1. Unterschiede als Folge einer Pfad­ abhängigkeit 2. Bestandssicherung als optionales ­Element innerhalb eines Einheits­ verfahrens 3. Zwischenergebnis I V. Die Abwägungselemente 1. Fortschreibung des geltenden Systems 2. Modifizierende Abänderung des ­geltenden Systems V. Ergebnis

I. Einführung 1. Wirkungserfolge und fortdauernde Kritik In der Mitte der 2000er Jahre war Ulrich Seibert mit gleich zwei gesellschaftsrechtlichen Großaufgaben konfrontiert. Zum einen galt es im Bereich des Aktienrechts, den räuberischen Aktionären den Garaus zu machen, zum anderen zeichnete sich ab, dass infolge der Rechtsprechung des EuGH zur Niederlassungsfreiheit von Gesellschaften1 die altehrwürdige Rechtsform der GmbH zunehmend an Boden gegenüber der englischen Limited verlor. Will man beurteilen, wie Ulrich Seibert diese Aufgaben bewältigt hat, dann sollte jedenfalls der Blick auf die Ergebnisse seines Wirkens beeindrucken: Innerhalb eines Zeitraums von 286 Tagen, der Spanne zwischen dem Erlass des Gesetzes zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen am 23. Oktober 2008 (MoMiG)2 und dem Erlass des Gesetzes zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie am 30. Juli 2009 (ARUG),3 wurden beide Probleme gelöst. Durch das MoMiG wurde die Wettbewerbsfähigkeit der GmbH in einem solchen Ausmaß wiederhergestellt, dass die anwaltliche Empfehlung zugunsten der Limited mittlerweile als haftungsbegründender Beratungsfehler angesehen wird.4 Durch das 1 Vgl. dazu den Überblick bei Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 1 AktG Rz. 42 ff. 2 BGBl. I 2008, 2026. 3 BGBl. I 2009, 2479. 4 Vgl. dazu C. Schäfer, ZIP 2011, 53.

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Inkrafttreten des ARUG wurden missbräuchliche Anfechtungsklagen, die man mehrere Jahrzehnte lang erfolglos bekämpft hatte, ganz weitgehend zurückgedrängt.5 Wer sich bewusst macht, in welchem schwierigen Spannungsfeld unterschiedlichster Interessengruppen diese Reformakte auszuarbeiten und einem politisch denkenden Gesetzgeber zu vermitteln waren, auf dessen Agenda das Wirtschaftsrecht sicher nicht immer an erster Stelle stand, dem müssen diese legislativen Kraftakte höchsten Respekt einflößen. Noch deutlich größer fällt dieser Respekt aus, wenn man weiß, mit welchen knappen personellen Ressourcen diese Aufgaben zu bewältigen waren.6 Und doch: Was hat er sich nicht alles anhören müssen. Seit dem Erlass des Gesetzes zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts am 22. September 2005 (UMAG),7 dem ersten Aufschlag, mit dem man versucht hatte, den räuberischen Aktionären das Handwerk zu legen, ist der Jubilar einem literarischen Dauerbeschuss ausgesetzt, der bis zum heutigen Tage anhält. Für Wolfgang Zöllner etwa reichte der Umfang eines Festschriftenbeitrags kaum aus, um seine gesamte Empörung darin unterzubringen. Er geißelte das neue Beschlussmängelrecht (noch in der Fassung des UMAG) als „Stück aus dem Tollhaus“, „Ungeheuerlichkeit“, „skandalös“, „ganz und gar unstimmig“ und attestierte den Gesetzesverfassern, sie entfernten sich von den Anforderungen eines Rechtsstaats.8 In etwas gedämpfterer Tonstärke qualifizierten andere den neuen Gesetzgebungsakt als „konzeptionelle Sackgasse“,9 „widersinnige Zumutung“,10 „Irrweg“11 und Verstoß gegen die Verfassung.12 Als überlegene Alternativlösungen wurden Ulrich Seibert fast im Monatsrhythmus neue Gestaltungsvorschläge unterbreitet, die sich allesamt in der Kritik am bestehenden System einig  waren, ansonsten aber nur wenig Gemeinsamkeiten aufwiesen.13 Stattdessen ­wurde ihm geraten, die Lösung in einem Anfechtungsquorum,14 einem gestaffelten Anfechtungsquorum,15 einer Zusammenführung von Anfechtungs- und Nichtigkeitstatbestand,16 einem umgekehrten Freigabeverfahren,17 einem Missbrauchstatbestand,18 einer Reform des Kostenrechts,19 einem Verbot von Vergleichsmehrwerten,20 5 Vgl. dazu Bayer/Hoffmann, AG 2017, R 155 ff. 6 Einen knappen Einblick in den personellen Unterbau, auf den Ulrich Seibert sich stützen konnte, gibt seine in vielerlei Hinsicht höchst aufschlussreiche Schilderung über die legislative Entwicklungsgeschichte der Geschlechterquote – vgl. dazu Seibert, NZG 2016, 16 ff. 7 BGBl. I 2005, 2802. 8 Zöllner in FS Westermann, 2008, S. 1631 ff. 9 Habersack/Stilz, ZGR 2010, 710, 714. 10 Stilz in FS Hommelhoff, 2012, S. 1181, 1190. 11 Nietsch, Das Freigabeverfahren, 2013, S. 547, 552. 12 Schwab in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 246a AktG Rz. 8. 13 Vgl. zu diesem Befund bereits J. Koch, Gutachten F zum 72. Deutschen Juristentag, 2018, F 11 f. 14 Vgl. statt vieler den Beschluss Nr. 15 des 67. Deutschen Juristentages, Bd. II/2, N 241. 15 Bayer/Fiebelkorn, ZIP 2012, 2181, 2187 ff. 16 Vgl. dazu Arbeitskreis Beschlussmängelrecht, AG 2008, 617, 620 f. 17 Vgl. statt vieler den Beschluss Nr. 16b des 67. Deutschen Juristentages, Bd. II/2, N 241. 18 Vgl. dazu etwa Martens/Martens, AG 2009, 173, 176 ff. 19 Vgl. dazu etwa Baums in FS Lutter, 2000, S. 283 ff. 20 Vgl. dazu etwa Baums/Drinhausen/Keinath, ZIP 2011, 2329, 2349 f.; D. Schwintowski, DB 2007, 2695, 2698 ff.; Madaus, ZZP 124 (2011), 191, 210 ff.

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einer Trennung von Freigabe und Bestandssicherung,21 im Schadensersatz für bösliche Klagen22 oder in einem Zulassungsverfahren für Rechtsanwälte23 zu suchen.24 Ulrich Seibert hat all diesen Ansinnen mit nüchtern-realpolitischem Blick seine politische Unterstützung und Fürsprache weitestgehend verweigert, was angesichts der Hypertrophie der Vorschläge, die ihn erreichte, kaum verwundern mag. Stattdessen hat er sich mit dem Einwand begnügt, dass das besonders drängende Problem der räuberischen Aktionäre gelöst sei und es sich für die verbleibenden Unstimmigkeiten nicht lohne, knappe gesetzgeberische Ressourcen einzusetzen, zumal ein überzeugendes rechtspolitisches Konzept zur Neuordnung des Beschlussmängelrechts bis heute nicht vorgelegt worden sei.25 Die letztgenannte Aussage hat er eindrucksvoll dadurch unterstrichen, dass er den elaboriertesten Vorschlag, der von einer besonders prominent besetzten Expertenrunde ausgearbeitet worden war26 und in Wissenschaft und Praxis die breiteste Zustimmung gefunden hatte, gemeinsam mit Constantin Hartmann außerordentlich kenntnisreich analysiert und seine (wenigen) Schwachstellen aufgewiesen hat.27 Auch wenn einzelne Bewertungen dieser Analyse möglicherweise etwas sehr kritisch ausgefallen sein mögen („erstaunlich geringes Innovationspotenzial“), so muss man doch attestieren, dass jeder der von Seibert genannten Kritikpunkte ins Schwarze getroffen hat. Gerade in diesem Beitrag erkennt man, mit welcher gedanklichen Tiefe sich der Jubilar in die Probleme des Beschlussmängelrechts hineingedacht hatte, weil nur profunde Kennerschaft es ermöglicht, in dieser Weise zu erkennen, welche Regelungsmechanismen aus dem geltenden Recht übernommen, umgeordnet, anders gefasst oder lediglich umetikettiert worden sind. Unter dem Strich hat er dem Vorschlag wohlwollend einige Meriten abgewinnen können, ihn aber in seinen zentralen Wertungen doch verworfen. 2. Neuere Ansätze zur systemkonformen Fortentwicklung des geltenden Rechts Gerade vor diesem Hintergrund jahrelanger Zurückhaltung ist es ein sehr beachtlicher Umstand, dass sich Ulrich Seibert im Kontext der wiederaufgeflammten Dis­ kussion im Gefolge des 72. Deutschen Juristentags neun Jahre nach seinem großen Reformakt doch noch einmal zu dieser Fragestellung zu Wort gemeldet und Reformperspektiven diskutiert hat. In einem Festschriftenbeitrag für Reinhard Marsch-Barner hat er sich gemeinsam mit Gerrit Bulgrin mit verschiedenen Vorschlägen zur Neufassung auseinandergesetzt, davon aber nur einen näher untersucht und sich zu Eigen gemacht.28 Gegenstand dieses Vorschlags ist die Ausdehnung des Freigabever21 Vgl. dazu Hirte in FS Meilicke, 2010, S. 201, 212 ff. 22 Dafür etwa Martens/Martens, AG 2009, 173, 178; Poelzig, DStR 2009, 1151, 1153 f. 23 Vgl. dazu Homeier, Berufskläger im Aktienrecht, 2016, S. 362 ff. 24 Diese Aufzählung ist von Vollständigkeit weit entfernt; ausführlichere Zusammenstellung neueren Datums bei Homeier, Berufskläger im Aktienrecht, 2016, S. 267 ff. 25 Vgl. etwa Seibert/Hartmann in FS Stilz, 2014, S. 585, 586; Seibert, Board 2015, 227, 229. 26 Arbeitskreis Beschlussmängelrecht, AG 2008, 617 ff. 27 Seibert/Hartmann in FS Stilz, 2014, S. 585, 593 ff. 28 Vgl. dazu Seibert/Bulgrin in FS Marsch-Barner, 2018, S. 525, 529 ff.

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fahrens auf die bislang nicht von § 246a Abs. 1 AktG erfassten Beschlussformen. Hier konzediert er Reformbedarf und setzt sich mit der Frage auseinander, auf welche Weise Abhilfe geschaffen werden kann. Entsprechend seiner bisherigen zurückhaltenden Linie und womöglich auch im Wissen um den in Fragen des Wirtschaftsrechts nicht überschäumenden Reformeifer des Gesetzgebers bemüht er sich um eine systemkonforme Lösung, die das bestehende System nicht revolutioniert, sondern sich minimal­ invasiv darin einfügt. Im Folgenden soll dieser Reformvorschlag auf seine Berechtigung, Plausibilität und Tragfähigkeit überprüft werden. Zwar hat der Verfasser dieses Beitrags im Gutachten zum 72. Deutschen Juristentag bereits einen eigenen und umfassenderen Vorschlag zur Reform des Beschlussmängelrechts unterbreitet, der in vielen Nebenpunkten weit über den chirurgischen Eingriff Seiberts hinausgeht, gerade deshalb aber auch einen sehr umfassenden Reformwillen des Gesetzgebers voraussetzt.29 Da dieser Reformwillen trotz einer knappen Andeutung im Koalitionsvertrag30 keinesfalls gewährleistet ist, lohnt es sich im besonderen Maße, das Gemälde des Beschlussmängelrechts auch noch einmal im Seibert’schen Stil zu Ende zu malen und zu überlegen, ob nicht auch schon eine solche zurückhaltende Korrektur verbleibende Missstände weitgehend auszuräumen vermag.

II. Der erste Schritt: Ausdehnung der Verhältnismäßigkeitsprüfung auf sonstige Beschlussarten 1. Der Seibert’sche Vorschlag und das Gutachten zum 72. Deutschen Juristentag Der Vorschlag, die Prinzipien des Freigabeverfahrens auf andere als die in §  246a Abs. 1 AktG genannten Beschlussarten auszudehnen, findet sich sowohl in dem genannten Beitrag Seiberts in der Festschrift für Reinhard Marsch-Barner als auch in dem vom Verfasser dieses Beitrags erstellten Gutachten zum 72. Deutschen Juristentag.31 Auf den ersten Blick scheinen diese beiden Vorschläge allerdings nicht viel mehr als die Überschrift gemeinsam zu haben, weil das gesamte Rechtsfolgenprogramm dann doch deutlich voneinander abweicht. Nach dem Vorschlag Seiberts soll das Freigabeverfahren in seiner jetzigen Form, namentlich also auch in der Aufteilung auf zwei getrennte Verfahrensarten, beibehalten werden und lediglich die Rechtsfolge für die nicht eintragungsbedürftigen Beschlüsse zu einem reinen Bestandssicherungsverfahren modifiziert werden.32 Im Gutachten zum 72. Deutschen Juristentag ist dagegen vorgesehen, dass die beiden Verfahrensstränge zu einem ein29 Vgl. speziell zu den nicht strukturändernden Beschlüssen J. Koch, Gutachten zum 72. DJT, 2018, F 44 ff. 30 Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom 7. Februar 2018 „Ein neuer Auf­b ruch für Europa – Eine neue Dynamik für Deutschland – Ein neuer Zusammenhalt für unser Land“ Rz. 6174. 31 J. Koch, Gutachten zum 72. DJT, 2018, F 44 ff. 32 Seibert/Bulgrin in FS Marsch-Barner, 2018, S. 525, 532 ff.

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heitlichen Verfahren zusammengeführt werden, das Gericht zwischen verschiedenen Sanktionsformen auswählen darf, speziell im Bereich der nicht eintragungsbedürftigen Beschlüsse damit aber keine Bestandssicherung einhergeht.33 Diese Unterschiede sind nicht zu bestreiten und sollen im Folgenden auch noch einmal näher beleuchtet und erläutert werden (unter III). Bevor man das tut, gilt es aber herauszustellen, dass letztlich doch beiden Vorschlägen eine gemeinsame Überzeugung zugrunde liegt. Dieser übereinstimmende Kern lautet, dass das aktienrechtliche Beschlussmängelrecht auch hinsichtlich der bislang noch nicht von §  246a Abs.  1 AktG erfassten Beschlussarten von der alternativlosen Einheitsfolge Beschlusskas­ sation, die das Beschlussmängelrecht bis zum UMAG 2005 kennzeichnete, abweichen sollte.34 Nach dem Gutachten zum 72. Deutschen Juristentag soll diese Folge explizit im Gesetz verankert werden, indem innerhalb eines einheitlichen Verfahrens dem Gericht die Möglichkeit eröffnet wird, aus Verhältnismäßigkeitserwägungen andere Rechtsfolgen als die Kassation ex tunc anzuordnen.35 Im Vorschlag Seiberts ist diese Wirkung etwas versteckt, bildet letztlich aber auch den Kern seines Vorschlags. Sie ist darin enthalten, dass das im Freigabeverfahren entscheidende Gericht auf der Grundlage von Verhältnismäßigkeitserwägungen eine Bestandssicherung anordnen soll, die sodann entsprechend dem bislang geltenden § 246a Abs. 4 Satz 2 AktG dazu führt, dass Mängel des Beschlusses seine Durchführung unberührt lassen. Daraus wird allgemein abgeleitet, dass das Gericht im Hauptsacheverfahren den Beschluss zwar weiterhin nach § 248 Abs. 1 AktG für nichtig erklären kann, er aber dennoch seine Wirksamkeit behält.36 Auch damit wird erreicht, dass das Gericht der Hauptsache den Beschluss zwar formal, nicht aber in der Sache aus der Welt schaffen kann. 2. Gründe für die generelle Aufgabe der Einheitsfolge Beschlusskassation a) Allgemeine Erwägungen Dieses rechtspolitische Anliegen wird heute von einem recht breiten Meinungsstrom im Schrifttum unterstützt.37 Es resultiert aus der Erkenntnis, dass die Reformakte der Jahre 2005 und 2009 vornehmlich von den in dieser Zeit bestehenden Missständen geprägt waren, die zumeist in einem Kampf um das Eintragungsverfahren kulminierten. Allerdings war man sich damals schon bewusst, dass mit der Eintragung allein nichts gewonnen war, sondern die Unternehmen auch in der Folgezeit Gewissheit 33 J. Koch, Gutachten zum 72. DJT, 2018, F 44 ff. 34 Vgl. zu diesem Grundgedanken bereits J. Koch, Gutachten zum 72. DJT, 2018, F 13 ff. 35 J. Koch, Gutachten zum 72. DJT, 2018, F 36 ff. 36 Zu Recht kritisch hinsichtlich dieser nicht recht aufeinander abgestimmten Anordnungen Habersack/Stilz, ZGR 2010, 710, 717 f. 37 Vgl. etwa Arbeitskreis Beschlussmängelrecht, AG 2008, 617, 624; Bayer/Fiebelkorn, ZIP 2012, 2181, 2190; Fiebelkorn, Die Reform der aktienrechtlichen Beschlussmängelklagen, 2013, S.  373  f.; Habersack/Stilz, ZGR 2010, 710, 722; J. Koch, Gutachten zum 72.  DJT, 2018, F 44 ff.; Veil, AG 2005, 567, 575; J. Vetter, AG 2008, 177, 191; jedenfalls für eine Ausdehnung auf sonstige eintragungsbedürftige Beschlüsse auch Hirte in FS Meilicke, 2010, S. 201, 212; ­Poelzig/Meixner, AG 2008, 196, 199; dagegen Baums/Drinhausen, ZIP 2008, 145, 154.

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haben mussten, dass die Bestandskraft des Beschlusses nicht aufgrund möglicherweise nur geringfügiger Verstöße in Frage gestellt werden konnte. Deshalb wurde die auf das Registerverfahren fokussierte Freigabeanordnung durch eine weiterreichende dauerhafte Bestandskraftanordnung flankiert.38 Schon in dieser Ausdehnung zeigt sich, dass die für das Beschlussmängelrecht ent­ wickelten Besonderheiten ihren Geltungsgrund eben nicht allein in der Eintragung finden. Die Entscheidung, ob das Gesetz eine Eintragung verlangt und daran eine konstitutive Wirkung knüpft, hat nichts damit zu tun, wie wichtig diese Maßnahme für die Gesellschaft ist, sondern allein damit, wie gefährlich sie für den Rechtsverkehr und möglicherweise auch für die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft sein kann. Wo diese Gefahren als besonders hoch bewertet werden, kommt dem Registergericht eine Kontrollfunktion zu,39 die dadurch gewährleistet wird, dass die Maßnahme erst dann wirksam wird, wenn das Gericht mit der Eintragung den Abschluss seiner Prüfung dokumentiert.40 Als Maßstab dafür, wie sehr die Gesellschaft auf die beschlossenen Maßnahmen angewiesen ist und welche Probleme aus einer etwaigen Rückabwicklung resultieren würden, eignet sich die Registereintragung deshalb nicht. Tatsächlich ist der Gedanke, dass gesellschaftsrechtliche Beschlüsse mit einer erhöhten Fehlerresistenz ausgestattet sein sollten, kein Spezifikum der eintragungsbedürftigen Beschlüsse, sondern ein Spezifikum des Aktienrechts, möglicherweise auch des gesamten Gesellschaftsrechts.41 Er findet seine Rechtfertigung in der besonderen Fehleranfälligkeit einer kollektiven Beschlussfassung und in dem weiterfressenden Charakter, den etwaige Fehler in dem sich stetig dynamisch fortentwickelnden Gefüge einer selbstständig im Rechtsverkehr auftretenden Gesellschaft annehmen können. Diese Spezifika wurden ausführlich an anderer Stelle dargestellt.42 Diese Schilderung soll hier nicht wiederholt werden, sondern es sei insofern auf die früheren Ausführungen verwiesen. b) Zu erfassende Beschlüsse aa) Eintragungsbedürftige Beschlüsse In ihrem Beitrag legen Seibert/Bulgrin ausführlich dar, bei welchen Beschlüssen sich eine solche erhöhte Fehlerresistenz in besonderem Maße aufdrängt. Als solche identifizieren sie zunächst diejenigen Beschlussformen, die ebenfalls eine konstitutive Eintragung voraussetzen, bislang aber noch nicht vom Freigabeverfahren erfasst 38 Auch Seibert sieht in dieser Bestandskraftanordnung den methodischen Hebel zu der von ihm befürworteten Ausdehnung auf andere Beschlussarten (Seibert/Bulgrin in FS Marsch-­ Barner, 2018, S. 525, 532 f.). 39 Vgl. dazu J. Koch in Staub, 5. Aufl. 2009, § 8 HGB Rz. 3; Krafka in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2016, § 8 HGB Rz. 8 ff.; Schaub in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, 3. Aufl. 2014, § 8 HGB Rz. 47 ff.; Ehrenberg in Ehrenbergs Handbuch des gesamten Handelsrechts, Band I, 1. Lieferung, 1926, S. 535 f.; Bokelmann, DStR 1991, 945, 947; Ulmer, ZRP 2000, 47, 49. 40 Vgl. zu dieser Funktion J. Koch in Staub, 5. Aufl. 2009, § 8 HGB Rz. 38. 41 Vgl. zu dieser Ausdehnung J. Koch, Gutachten zum 72. DJT, 2018, F 89 ff. 42 J. Koch, Gutachten zum 72. DJT, 2018, F 12 ff.

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sind.43 Dazu zählt insbesondere die einfache Satzungsänderung. Obwohl es sich bei der Satzungsänderung – anders als etwa bei einer Kapitalerhöhung – nicht um eine strukturändernde Maßnahme handelt, hat bereits Jochen Vetter im Jahr 2008 anschaulich dargelegt, welche Schwierigkeiten sich für eine Gesellschaft ergeben können, wenn ihre Eintragung durch eine Anfechtungsklage blockiert wird.44 So kann eine Änderung des Unternehmensgegenstands etwa erforderlich sein, um das Geschäftsfeld der Gesellschaft auszuweiten oder zu beschränken und auf dieser Grundlage eine konkrete Akquisitions- oder Desinvestitionsmöglichkeit zu nutzen.45 Wenn dafür  – wie in der Praxis häufig – nur ein enges Zeitfenster zur Verfügung steht, unterscheidet sich der daraus erwachsende Lästigkeitswert nicht von dem bei strukturändernden Maßnahmen. Weiterhin berichtet Vetter aus der Praxis, dass unter Branding-Gesichtspunkten auch einer Firmenänderung im Nachgang eines Unternehmenszusammenschlusses oder -zukaufs hohe Bedeutung und damit auch hohe Dringlichkeit zukommen kann.46 Als weitere eintragungsbedürftige Beschlussart nennen Seibert/Bulgrin Fortsetzungsbeschlüsse nach § 274 Abs. 1 und 4 AktG, deren Anfechtung laufende Sanierungsbemühungen torpedieren könne, weshalb auch sie angesichts der drohenden Insolvenzgefahr ein gesteigertes Erpressungspotential in sich bergen.47 bb) Nicht eintragungsbedürftige Beschlüsse Von den nicht eintragungsbedürftigen Maßnahmen nennen Seibert/Bulgrin als erstes die Holzmüller/Gelatine-Fälle.48 Hier wirkt sich ein fehlender oder wirksam angefochtener Hauptversammlungsbeschluss zwar nur im Innenverhältnis aus,49 kann aber – wie Seibert/Bulgrin zutreffend darlegen – über in der Praxis verbreitete Rücktrittsvorbehalte des Vertragspartners auch in das Außenverhältnis durchschlagen und eine Transaktion gefährden. Aus Sicht des Vorstands kann überdies auch die fehlende Zustimmung im Innenverhältnis abschreckende Wirkung haben, weil er sich damit möglicherweise Haftungsrisiken aussetzt. Vor diesem Hintergrund befürworten Seibert/Bulgrin die Einbeziehung auch solcher Beschlüsse in eine Bestandssicherung nach dem Modell eines modifizierten Freigabeverfahrens. Probleme sehen sie allein in der fehlenden tatbestandlichen Konturierung dieser Fallgruppe, die im gesetzlichen Zuständigkeitskatalog keinen klaren Anknüpfungspunkt findet. Sie schlagen deshalb vor, sämtliche in § 119 Abs. 2 AktG genannten Beschlüsse dem erweiterten Freigabeverfahren zu unterstellen. Das könnte das Problem in der Tat lösen, würde aber voraussetzen, dass die Holzmüller/Gelatine-Rechtsprechung auch weiterhin als Anwendungsfall dieser Vorschrift anzusehen ist. Das war im Holzmüller-Urteil noch so vorgesehen,50 ist auf der Grundlage der Gelatine-Rechtsprechung, die den Gel43 Vgl. zum Folgenden Seibert/Bulgrin in FS Marsch-Barner, 2018, S. 525, 531 f. 44 Vgl. zum Folgenden J. Vetter, AG 2008, 177, 191. 45 Seibert/Bulgrin in FS Marsch-Barner, 2018, S. 525, 531 f. 46 J. Vetter, AG 2008, 177, 191. 47 Seibert/Bulgrin in FS Marsch-Barner, 2018, S. 525, 532. 48 Vgl. zum Folgenden Seibert/Bulgrin in FS Marsch-Barner, 2018, S. 525, 533 f. 49 Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 119 AktG Rz. 26. 50 Vgl. BGH v. 25.2.1982 – II ZR 174/80, BGHZ 83, 122, 131 = NJW 1982, 1703.

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tungsgrund in einer offenen Rechtsfortbildung gefunden hat,51 aber nicht mehr gleichermaßen gesichert.52 Aus ähnlichen Erwägungen wie für die Holzmüller-Beschlüsse halten Seibert/Bulgrin auch für Beschlüsse nach § 179a AktG die Einbeziehung in § 246a Abs. 1 AktG für geboten.53 Als weiteren Anwendungsfall nennen Seibert/Bulgrin die Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern,54 für die im Schrifttum fast einhellig auf die großen Schwierigkeiten hingewiesen wird, die sich daraus ergeben, dass der BGH es in der IKB-Entscheidung abgelehnt hat, die Lehre vom fehlerhaften Organ pauschal auf den Aufsichtsrat zu übertragen.55 Gerade hier zeigt sich mit besonderer Deutlichkeit das Risiko eines weiterfressenden Mangels, weil Gegenstand des fehlerhaften Beschlusses in diesem Fall die Bestellung eines Organs ist, das sodann weitere Beschlüsse zu fassen hat, die allesamt von dem Ursprungsfehler infiziert werden können. Zu demselben Ergebnis gelangen Seibert/Bulgrin aus ähnlichen Gründen für die Wahl des Abschlussprüfers.56 Für Entlastungsbeschlüsse dagegen wird eine Ausdehnung des Freigabeverfahrens von ihnen verneint. Zwar könne auch ein Streit über die Entlastung die Vertrauensbasis für die Arbeit der Verwaltung empfindlich stören, doch überwiege der Nutzen, der mit der Kontrollfunktion einer Beschlussmängelklage einhergehe, an dieser Stelle Unannehmlichkeiten, die der Verwaltung entstehen können.57 cc) Ausdehnung auf sämtliche Beschlüsse der Hauptversammlung In der Gesamtschau ist Seibert/Bulgrin in jedem der von ihnen angesprochenen Punkte in der Begründung und im Ergebnis zuzustimmen. Man kann allerdings die Frage aufwerfen, ob es überhaupt sinnvoll ist, einzelne Beschlussarten zu identifizieren, bei denen der Lästigkeitswert und das daraus resultierende Missbrauchsrisiko besonders hoch sind.58 Seibert/Bulgrin sind an dieser Stelle möglicherweise deshalb zurückhaltend, weil sie auf der Rechtsfolgenseite zwei Schritte kombinieren und nicht allein eine Verhältnismäßigkeitsprüfung in Erwägung ziehen, sondern diese zugleich mit der Bestandssicherung verbinden (dazu im Folgenden unter III). Eine solche Bestandssicherung ist in der Tat nicht bei jeder Beschlussart zwingend erforderlich, was eine Beschränkung rechtfertigen kann. Schichtet man dagegen mit dem hier unter51 BGH v. 26.4.2004 – II ZR 155/02, BGHZ 159, 30, 41 ff. = NJW 2004, 1860. 52 Vgl. BGH v. 26.4.2004 – II ZR 155/02, BGHZ 159, 30, 41 ff. = NJW 2004, 1860: „weder aus § 119 Abs. 2 AktG noch aus einer Gesetzesanalogie herzuleiten“; vgl. dazu auch schon Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 119 AktG Rz. 18. 53 Seibert/Bulgrin in FS Marsch-Barner, 2018, S. 525, 534; vgl. dazu auch schon J. Vetter, AG 2008, 177, 191. 54 Seibert/Bulgrin in FS Marsch-Barner, 2018, S. 525, 534 f. 55 BGH v. 19.2.2013 – II ZR 56/1, BGHZ 196, 195 Rz. 17 ff. = NJW 2013, 1535; zu den kritischen Reaktionen im Schrifttum vgl. die Nachw. bei Hüffer/Koch, 13.  Aufl. 2018, §  101 AktG Rz. 21 f. 56 Seibert/Bulgrin in FS Marsch-Barner, 2018, S. 525, 535 f. 57 Seibert/Bulgrin in FS Marsch-Barner, 2018, S. 525, 536 f. 58 Verallgemeinernd stattdessen J. Koch, Gutachten zum 72.  Deutschen Juristentag, 2018, F 44 ff.

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breiteten Vorschlag die beiden Schritte voneinander ab, kann man bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung durchaus großzügiger sein. Jedenfalls der Gedanke, dass Hauptversammlungsbeschlüsse aufgrund des hohen logistischen Vorbereitungsaufwands besonders fehleranfällig sind,59 gilt unabhängig davon, was genau Gegenstand des Beschlusses ist. Aber auch hinsichtlich der besonderen Schwierigkeiten, die sich im Fall einer nachträglichen Rückabwicklung ergeben, fällt es schwer, in abstrakter Form und losgelöst vom konkreten Fallmaterial diejenigen Beschlussarten zu identifizieren, bei denen eine erhöhte Fehlerresistenz geboten sein kann.60 So kann sich ein fehlerhafter Zustimmungsbeschluss etwa bei einem Nachgründungsvertrag (§ 52 Abs. 1 AktG),61 bei außergewöhnlichen Geschäften einer KGaA (§ 278 Abs. 2 AktG i.V.m. § 164 HGB) oder zu Abwehrmaßnahmen gegen Übernahmeangebote (§ 33 Abs. 2 WpÜG) als ebenso folgenschwer erweisen wie bei einer Holzmüller-Maßnahme. Auch die Anfechtung einer Ermächtigung zum Erwerb eigener Aktien nach § 71 Abs. 1 Nr. 8 Satz 1 AktG wird in ihren Folgen an die Anfechtung mancher Strukturmaßnahme heranreichen.62 Die fehlerhafte Abberufung eines Aufsichtsratsmitglieds nach §  103 Abs.  1 AktG kann zu sehr ähnlichen Unsicherheiten über die korrekte Besetzung des Gesamtorgans führen wie die fehlerhafte Wahl eines neuen Mitglieds. Vor diesem Hintergrund ist zu konstatieren, dass mit der von Seibert/Bulgrin für einzelne Beschlüsse punktuell vorgeschlagenen Ausdehnung des Freigabeverfahrens zwar grundsätzlich schon viel gewonnen wäre, man aber dennoch auch erwägen kann, über diese Beschränkung noch hinauszugehen und auf sämtliche Beschlüsse der Hauptversammlung aufgrund der oben genannten gesellschaftsrechtlichen Eigenheiten einen spezifisch beschlussmängelrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz anzuwenden. Das würde dann zwar dazu führen, dass entgegen den durchgängig zustimmungswürdigen Ausführungen des Jubilars etwa auch ein Entlastungsbeschluss grundsätzlich von einer Verhältnismäßigkeitsprüfung erfasst wäre. Letztlich wäre das jedoch lediglich ein Unterschied in der Prüfungsfolge, nicht aber im Ergebnis. Wenn man sich bei der Ausgestaltung der Verhältnismäßigkeitsprüfung nämlich im Wesentlichen63 an der bisherigen Fassung des § 246a Abs. 2 Nr. 3 AktG orientiert, dann setzt die Abkehr von der Kassationsfolge auch weiterhin voraus, dass die Gesellschaft schwerwiegende Nachteile darlegt, die eine erhöhte Fehlerresistenz erforderlich machen. Aus den von Seibert/Bulgrin zutreffend dargelegten Gründen wird das beim Entlastungsbeschluss durchgängig nicht der Fall sein (dazu noch unter IV 1). Mit der fehlenden Entlastung gehen keinerlei Rechtsfolgen einher und aus einer bloßen Unruhe innerhalb der Gesellschaft kann kein wesentlicher Nachteil abgeleitet 59 Ausf. dazu J. Koch, Gutachten zum 72. Deutschen Juristentag, 2018, F 14 f. 60 Überblick über sämtliche von einer Hauptversammlung zu fassenden Beschlüsse bei Mülbert in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2017, § 119 AktG Rz. 22 ff. 61 Vgl. dazu auch J. Vetter, AG 2008, 177, 191. 62 Vgl. dazu auch Noack in FS Baums, 2017, S. 845, 850. Zu weiteren möglicherweise einzubeziehenden Beschlüssen vgl. J. Vetter, AG 2008, 177, 191. 63 Zu gegebenenfalls gebotenen Einschränkungen vgl. J. Koch, Gutachten zum 72. Deutschen Juristentag, 2018, F 27 ff.

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werden. Selbst eine Wiederholung der Hauptversammlung ist nicht erforderlich, weil angefochtene Entlastungsbeschlüsse nicht zwingend nachzuholen sind.64 Dieses Beispiel belegt, dass es nicht zwingend erforderlich ist, entsprechend dem Seibert’schen Ansatz diejenigen Beschlüsse zu identifizieren, bei denen die Gesellschaft besonders schwerwiegend von einer Aufhebung betroffen sein könnte. Vielmehr wird diese Filterfunktion dadurch erfüllt, dass die Tatbestandselemente der Verhältnismäßigkeitsprüfung als bewegliche Schranken gefasst sind, die automatisch dazu führen, dass bei schwerwiegenden Belastungen die Unverhältnismäßigkeit bejaht und bei nicht schwerwiegenden Belastungen verneint wird. Jedenfalls für die hier isoliert betrachtete Verhältnismäßigkeitsprüfung dürften deshalb die besseren Gründe dafür sprechen, den Kreis der erfassten Beschlüsse durchaus weiter zu ziehen.

III. Der zweite Schritt: Bestandssicherung 1. Unterschiede als Folge einer Pfadabhängigkeit Dass die beiden hier gegenübergestellten Konzepte von dem übereinstimmenden Kern der Verhältnismäßigkeitsprüfung ausgehen, in der weiteren Gestaltung dann aber doch recht unterschiedliche Züge annehmen, liegt darin begründet, dass Ulrich Seibert zwei Schritte geht, wohingegen das Gutachten zum 72. Deutschen Juristentag nach dem ersten Schritt stehen bleibt. Während im Gutachten dem Richter allein die Möglichkeit eröffnet wird, von der Beschlusskassation zugunsten anderer Rechtsfolgen abzusehen, wird im Seibert’schen Konzept schon im beschleunigten Freigabeverfahren eine bestandssichernde Bindung des Gerichts der Hauptsache angeordnet, die sodann auch im Rechtsmittelweg nicht mehr in Frage gestellt werden kann. Für eine solche bestandssichernde Wirkung sprechen gute Gründe, die unter Gliederungspunkt III 2 noch einmal gesondert dargestellt werden sollen. Sie ist darüber hinaus aber möglicherweise auch Folge einer gewissen Pfadabhängigkeit, die sich ergibt, wenn man versucht, nicht eintragungsbedürftige Beschlüsse in ein Modell einzugliedern, das in seinem originären Anwendungsbereich darauf abzielt, eine beschleunigte Eintragung zu bewirken. Das Freigabeverfahren ist vornehmlich als ein beschleunigtes Registerverfahren konzipiert, das eine rechtliche oder faktische Registersperre zügig beseitigen soll. Das Seibert’sche Modell knüpft aber an den zutreffenden Befund an, dass als Kollateralnutzen mit dieser Folge auch eine dauerhafte Bestandssicherung verknüpft ist, die für nicht eintragungsbedürftige Beschlüsse auch isoliert fortgeschrieben werden könnte.65 Wollte man auf die bestandssichernde Wirkung verzichten und sich mit einer bloßen Verhältnismäßigkeitsprüfung nach dem hier unterbreiteten Vorschlag begnügen, würde die gesamte Aufteilung auf zwei ­gesonderte Verfahrensstränge keinen Sinn mehr ergeben. Die beschleunigte Fest­ stellung durch das erste Gericht wäre nutz- und wirkungslos, wenn die im weiteren 64 Vgl. dazu Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 120 AktG Rz. 12a; Reger in Bürgers/Körber, 4. Aufl. 2017, § 120 AktG Rz. 18; Volhard/Weber, NZG 2003, 351, 352 f. 65 Vgl. zu dieser Anknüpfung Seibert/Bulgrin in FS Marsch-Barner, 2018, S. 525, 532 f.

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Verlauf entscheidenden Gerichte daran nicht gebunden wären. Will man also das Beschlussmängelrecht nur durch behutsame, minimalinvasive Eingriffe in das derzeit geltende Recht reformieren, dann kann das Verhältnismäßigkeitsprinzip nur gemeinsam mit der Bestandssicherung eingeführt werden. 2. Bestandssicherung als optionales Element innerhalb eines Einheitsverfahrens Innerhalb eines einheitlichen Verfahrens, wie es im Gutachten für den 72. Deutschen Juristentag konzipiert wurde,66 besteht diese Zwangsläufigkeit nicht. Hier ist es das Gericht der Hauptsache, das zwischen den unterschiedlichen Rechtsfolgen wählen kann. Eine vorangehende Bindung durch ein anderes Gericht kommt hier nicht in Betracht, weil nur ein Gericht mit dem Streit befasst ist. Dennoch ist es auch nach dieser Konzeption durchaus möglich, ein Element der Bestandssicherung ähnlich dem Seibert‘schen Modell optional hinzuzufügen. Es müssen lediglich zwei Elemente ergänzt werden, um die beiden Modelle anzugleichen: Zum einen müsste das Gericht angewiesen werden, die Entscheidung über die Bestandskraft mit bindender Wirkung für die abschließende Entscheidung zeitlich vorzuziehen, wenn sich das Verfahren länger hinzuziehen droht. Zum anderen müsste entsprechend § 246a Abs. 3 Satz 4 AktG die Unanfechtbarkeit des Beschlusses angeordnet werden. Diese beiden zusätzlich hinzuzufügenden Elemente sind ihrerseits noch einmal in der Weise miteinander verknüpft, dass die Anordnung eines Eilverfahrens nur dann sinnvoll erscheint, wenn zugleich auch Rechtsmittel ausgeschlossen werden. Den Unternehmen wäre nur wenig damit gedient, wenn ihnen das eine Gericht die dauerhafte Bestandskraft des Beschlusses signalisiert, ein anderes Gericht sie später aber wieder aufheben könnte.67 Anders als im Seibert‘schen Modell ist diese Folge der Bestandssicherung aber keine zwangsläufige Konsequenz der Einfügung in das bestehende System, sondern lediglich ein optionales Zusatzelement, auf das verzichtet werden könnte. Aus diesem Grund lohnt es sich darüber nachzudenken, ob es tatsächlich sinnvoll ist, auch für die nicht eintragungsbedürftigen Beschlüsse tatsächlich sowohl den Schritt der Verhältnismäßigkeitsprüfung als auch den Schritt der Bestandssicherung zu gehen oder ob die besseren Gründe nicht dafür sprechen, nach dem ersten Schritt stehen zu bleiben. Diese Frage lässt sich nicht in den Kategorien von richtig und falsch beantworten, sondern es können lediglich die argumentativen Gewichte benannt werden, die in die rechtspolitische Waagschale zu legen sind. Tut man dies, so spricht auf den ersten Blick durchaus viel für eine gesteigerte Bestandskraft. Zu den zentralen Begründungselementen, warum es einer Verhältnismäßigkeitsprüfung bedarf, gehört eben auch der Umstand, dass es in dem sich ständig dynamisch fortentwickelnden Organismus einer Gesellschaft ein gesteigertes Bedürfnis nach Rechtssicherheit gibt, das danach verlangt, dass über den dauerhaften Bestand einer Maßnahme möglichst schnell Ge-

66 J. Koch, Gutachten zum 72. Deutschen Juristentag, 2018, F 39 ff. 67 J. Koch, Gutachten zum 72. Deutschen Juristentag, 2018, F 43 f.

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wissheit besteht.68 Daran fehlt es, wenn die Gesellschaft sich die Rechtssicherheit erst über mehrere Instanzen erstreiten muss. Auf der anderen Seite kann aber natürlich auch nicht verkannt werden, dass der individuelle Rechtsschutz des Aktionärs durch eine im Eilverfahren erstrittene und nicht mehr im Rechtsweg zu kontrollierende Bestandskraft stark beeinträchtigt wird. Er muss nicht nur hinnehmen, dass er an Beschlüsse gegebenenfalls selbst dann gebunden sein kann, wenn diese auf rechtswidrige Art und Weise zustande kommen, sondern ihm wird zugleich auch noch die Darlegungslast für die ihm entstehenden überwiegenden Nachteile auferlegt und jedes Rechtsmittel abgeschnitten. Das ist eine Fülle an Zumutungen, die innerhalb des sonst geltenden Systems der Zivilprozessordnung doch erklärungsbedürftig ist. Bei Strukturmaßnahmen kann diese Erklärung in den großen Schwierigkeiten ihrer Rückabwicklung gefunden werden. Bei anderen Maßnahmen ist das jedoch nicht gleichermaßen der Fall. Zwar wird auch hier in vielen Fällen ein legitimes Interesse der Gesellschaft bestehen, dass möglichst schnell ein Zustand der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit herbeigeführt wird, um keine dauerhafte Unruhe in die Gesellschaft hineinzutragen, doch ist dies ein Bedürfnis, dass auch in vielen Sachverhaltskonstellationen jenseits des Aktienrechts auftreten wird, ohne dass die Zivilprozessordnung diesem Bedürfnis dadurch Rechnung trägt, dass der Rechtsschutz des Klägers verkürzt wird. Es kommt hinzu, dass mit der Bestandssicherung noch eine weitere eher verdeckte Folge einhergeht, die weit über die Abwägung von Schutzbelangen auf Seiten des klagenden Aktionärs und der beklagten Aktiengesellschaft hinausreicht. Die Rede ist von der durch die höchstrichterliche Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs abgesicherte Einheit der Aktienrechtsordnung, die in Gefahr gerät, je weiter man in Beschlussmängelstreitigkeiten den Rechtsweg zum Bundesgerichtshof abschneidet.69 Schon heute rankt sich um das Freigabeverfahren eine Reihe ungeklärter Streitfragen, die in einer unentschlossenen Pattsituation zwischen den Oberlandesgerichten stecken geblieben sind. Mit den Vorschlägen, die der Jubilar in der Festschrift für Reinhard Marsch-Barner und der Verfasser im Gutachten zum 72. Deutschen Juristentag unterbreitet haben, wird eine Verhältnismäßigkeitsprüfung zum überragenden Prinzip des aktienrechtlichen  – und nach den Vorstellungen des Verfassers  – auch des gesamten gesellschaftsrechtlichen Beschlussmängelrechts.70 Gerade vor dem Hintergrund dieser überragenden Relevanz ist es nicht unbedenklich, die nähere Konturierung seiner zentralen Tatbestandsmerkmale der vereinheitlichenden Wirkung einer höchstrichterlichen Rechtsprechung vollständig zu entziehen.

68 J. Koch, Gutachten zum 72. Deutschen Juristentag, 2018, F 14 ff. 69 Vgl. zu dieser Überlegung schon Noack/Zetzsche in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2017, § 246a AktG Rz. 175; J. Koch, Gutachten zum 72. Deutschen Juristentag, 2018, F 47 f. 70 Vgl. zu dieser letztgenannten Ausdehnung J. Koch, Gutachten zum 72. Deutschen Juristentag, 2018, F 89 ff.

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Die Ausdehnung des Freigabeverfahrens auf weitere Beschlussarten

3. Zwischenergebnis Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass bei der künftigen Neuausrichtung des Beschlussmängelrechts viel dafür spricht, auch andere als die in § 246a AktG genannten Beschlussarten einer besonderen beschlussmängelrechtlichen Verhältnismäßigkeitskontrolle zu unterwerfen. Das entspricht mittlerweile der deutlich herrschenden ­Meinung im Schrifttum, die durch den Jubilar im vergangenen Jahr einen zusätzlichen gewichtigen Fürsprecher gefunden hat. Eine noch offene Frage ist dagegen, ob man an diese Verhältnismäßigkeitsprüfung zugleich auch eine Bestandssicherungsfolge knüpft. Die Beantwortung dieser Frage hängt davon ab, ob man versucht, die Verhältnismäßigkeitsprüfung minimalinvasiv in das derzeitige Freigabesystem einzuordnen, oder ob man sich zu einer umfassenden Reform entschließt. Bei der erstgenannten Lösung ist die Verknüpfung mit einer Bestandssicherung verfahrenstechnisch alternativlos, bei der letztgenannten Lösung ist sie optional, was die Möglichkeit eröffnet, sie auf der rechtspolitischen Waagschale gegen widerstreitende Schutzbelange abzuwägen. Für die Flankierung spricht das legitime Interesse von Unternehmen an schneller Rechtssicherheit, dagegen sprechen der Gedanke des Aktionärsschutzes und das Interesse an einer höchstrichterlichen Vereinheitlichung der Rechtsprechung durch den Bundesgerichtshof. Welchen Belangen der Vorrang einzuräumen ist, ist eine politische Entscheidung, die letztlich der Gesetzgeber zu treffen hat.

IV. Die Abwägungselemente 1. Fortschreibung des geltenden Systems Die Frage, ob eintragungsbedürftige und nicht eintragungsbedürftige Beschlüsse einheitlich oder differenziert zu behandeln sind, setzt sich auch bei der Detailgestaltung einzelner Abwägungselemente auf der Tatbestandsebene fort. Nach dem von Seibert/ Bulgrin skizzierten Modell soll auch hier eine Vereinheitlichung in dem Sinne erfolgen, dass die bislang für das Freigabeverfahren geltenden Kriterien auf nicht eintragungsbedürftige Beschlüsse ausgedehnt werden.71 Auch für eine solche Handhabung spricht viel. Zum einen hat eine einheitliche Gestaltung einen gewissen Vereinfachungseffekt und verhindert, dass die Rechtsordnung am Ende so ausdifferenziert ist, dass sie zwar jedem Einzelfall Rechnung zu tragen sucht, dabei aber einen derartigen Komplexitätsgrad annimmt, dass sie niemand mehr versteht. Zum anderen ist auch nicht zu übersehen, dass einheitliche ­Kriterien nicht zwangsläufig zu einer einheitlichen Behandlung führen müssen, weil die Kriterien selbst in einer solchen Weise gefasst sind, dass sie unterschiedlichen Betroffenheits- und Eingriffsgraden durchaus Rechnung tragen können. Zur Veranschaulichung dieser abstrakt gefassten Aussage sei noch einmal das Beispiel des Entlastungsbeschlusses genannt: Auch wenn man einen Entlastungsbeschluss und einen Kapitalerhöhungsbeschluss an den einheitlichen Kriterien des §  246a Abs.  2 Nr.  3 AktG bemisst, dann wird trotz dieses übereinstimmenden Ausgangspunktes die Ab71 Vgl. dazu Seibert/Bulgrin in FS Marsch-Barner, 2018, S. 525, 532 ff.

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wägung doch im ersten Fall regelmäßig zugunsten des Aktionärs, im zweiten Fall regelmäßig zugunsten der Gesellschaft ausgehen, weil mit einer Entlastung eben – wie bereits oben dargestellt – zumeist keine schwerwiegenden Nachteile für die Gesellschaft verbunden sein werden. Auch insofern haben Seibert/Bulgrin also einen rechtspolitisch sehr gut gangbaren Weg zur Ausdehnung des Freigabeverfahrens auf nicht eintragungsbedürftige Beschlüsse aufgewiesen. Letztlich müsste allein der Bezugspunkt der Abwägung nach § 246a Abs. 2 Nr. 3 AktG ausgewechselt werden. Maßgeblich dürfte nicht sein, ob das alsbaldige Wirksamwerden des Hauptversammlungsbeschlusses vorrangig erscheint, sondern seine dauerhafte Bestandskraft.72 2. Modifizierende Abänderung des geltenden Systems Ist dieser Weg daher gut gangbar, so ist er doch auch nicht alternativlos. Bereits an anderer Stelle wurde ausführlich dargelegt, dass das vom Jubilar designte Freigabeverfahren schon bei den strukturändernden Beschlüssen von einer Schneidigkeit ist, die möglicherweise über das Ziel hinausschießt.73 Geringfügig beteiligte Aktionäre werden nach § 246a Abs. 2 Nr. 2 AktG von der Geltendmachung auch schwerster Mängel ausgeschlossen. Selbst unternehmerisch beteiligte Aktionäre können eine Freigabe nur verhindern, wenn sie darlegen, dass die individuellen Nachteile des Klägers die Nachteile der Gesellschaft deutlich überwiegen, was ihnen im Regelfall nicht möglich sein wird.74 Die von dieser Regel geltende Ausnahme für schwerwiegende Verstöße ist in den Gesetzesmaterialien auf derartige Extremfälle beschränkt worden,75 dass sie in der Praxis keine Rolle spielt. Bei der Neuordnung des Beschlussmängelrechts sollte generell noch einmal grundlegend überdacht werden, ob mit dieser Gestaltung tatsächlich ein sachgerechter Ausgleich zwischen den Interessen der Gesellschaft und den Interessen der dissentierenden Aktionäre gefunden wurde. Jedenfalls gilt es aber sehr gewissenhaft zu prüfen, ob diese Schärfe tatsächlich auch bei nicht strukturändernden Beschlüssen in gleicher Weise fortzuschreiben ist. Die Gründe, warum das geltende Beschlussmängelrecht mit dem Freigabeverfahren bestimmten aktienrechtlichen Beschlüssen eine erhöhte Fehlerresistenz zuschreibt, lassen sich nicht auf ein einheitliches Motiv zurückführen, sondern finden ihre Ursache in einem Motivbündel. Es setzt sich zusammen aus den besonderen Schwierigkeiten einer kollektiven Beschlussfassung und ihrer gesteigerten Fehleranfälligkeit, der besonderen Bedeutung, die einzelnen Beschlüssen für die Fortentwicklung der Gesellschaft zukommt, dem daraus resultierenden weiterfressenden Charakter etwaiger Fehlerfolgen, der hohen Missbrauchsanfälligkeit und den besonderen Schwierigkeiten bei der Rückabwicklung.76 72 So deshalb auch in der Tat Seibert/Bulgrin in FS Marsch-Barner, 2018, S. 525, 532. 73 Vgl. zum Folgenden J. Koch, Gutachten zum 72. Deutschen Juristentag, 2018, F 27 ff. 74 Vgl. Noack, NZG 2008, 441, 446. 75 RegBegr. ARUG, BT-Drucks. 16/11642, S.  41; Rechtsausschuss, BT-Drucks. 16/13098, S. 42: Geheimversammlung, Fehlen eines notariellen Protokolls, vorsätzliche Verstöße, Kapitalherabsetzung unter 50.000 Euro. 76 Vgl. dazu J. Koch, Gutachten zum 72. Deutschen Juristentag, 2018, F 12 ff.

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Die Ausdehnung des Freigabeverfahrens auf weitere Beschlussarten

Wenn man sich entschließt, die im Freigabeverfahren enthaltene Verhältnismäßigkeitsprüfung auf andere Beschlussarten auszudehnen, dann liegt dem die Überzeugung zugrunde, dass sich auch bei diesen Beschlüssen Einzelelemente aus diesem Motivbündel wiederfinden. Die großen Schwierigkeiten bei der Organisation einer kollektiven Willensbildung und die daraus resultierende Fehleranfälligkeit stellen sich etwa bei sämtlichen Beschlussarten gleich dar. Hinsichtlich der Missbrauchsanfälligkeit, des Blockade- und Erpressungspotentials können sich dagegen sehr abweichende Wertungen ergeben. Das geltende Recht zieht daraus die Schlussfolgerung, diese Beschlussarten überhaupt jeder Verhältnismäßigkeitsprüfung zu entziehen und das bislang geltende Alles-oder-Nichts-Prinzip hier fortgelten zu lassen.77 Ein Mittelweg zwischen dieser Gestaltung und der von Seibert/Bulgrin skizzierten vollständigen Angleichung könnte darin liegen, diesen Unterschieden bei der Ausgestaltung der Freigabekriterien Rechnung zu tragen.78 Das gilt insbesondere für solche Kriterien, die nicht darauf abzielen, bestimmte geringfügige Beschlussmängel dem Kassationsautomatismus zu entziehen, sondern darüber hinaus auch einem bestimmten Klägertypus die Klagemöglichkeit abzuschneiden.79 Dabei handelt es sich um ein besonderes Zugeständnis der Aktienrechtsordnung an das Phänomen räuberischer Aktionärsklagen, die hier nicht im gleichen Maße drohen. Vor diesem Hintergrund könnte es erwägenswert erscheinen, zumindest solche Abwägungsmechanismen, die allein dem hohen Missbrauchsrisiko geschuldet sind, bei nicht strukturändernden Beschlüssen nicht zur Anwendung gelangen zu lassen.

V. Ergebnis Das deutsche Beschlussmängelrecht existiert derzeit in zwei unterschiedlichen Fassungen. Das eine ist die Fassung des geltenden Rechts, die vom Jubilar in einer Weise entworfen wurde, die sich in den praktischen Ergebnissen außerordentlich segensreich ausgewirkt hat, sich aber auch in der näheren dogmatischen Analyse als tragfähig und in vielfältiger Hinsicht bahnbrechend erwiesen hat.80 Daneben gibt es eine zweite Fassung, die derzeit noch vornehmlich ein wissenschaftlicher Wunschtraum ist, als solcher in den vergangenen Jahren aber zumindest schon etwas konkretere Züge angenommen hat. Ob der Gesetzgeber sich dazu entschließen wird, diesen Wunschtraum durch die verbreitet geforderte „Jahrhundertreform“81 Realität werden zu lassen, bleibt indes ungewiss. Aus diesem Grund wird es auch weiterhin erforderlich sein, neben dem ganz großen Wurf auch Skizzen für eine „kleine Lösung“ zu entwerfen. Eine solche Skizze hat der Jubilar nach einem längeren Prozess des Wägens 77 Vgl. dazu schon J. Koch, Gutachten zum 72. Deutschen Juristentag, 2018, F 44. 78 Vgl. zum Folgenden schon J. Koch, Gutachten zum 72. Deutschen Juristentag, 2018, F 46. 79 Vgl. zu dieser Differenzierung zwischen beschluss- und klägerbezogenen Filtern J. Koch, Gutachten zum 72. Deutschen Juristentag, 2018, F 23 ff. 80 Zu den grundlegenden Weichenstellungen, die dem geltenden System auch für eine Neuordnung des Beschlussmängelrechts zu entnehmen sind, vgl. schon J. Koch, Gutachten zum 72. Deutschen Juristentag, 2018, F 12 ff. 81 Vgl. etwa Bayer/Möller, NZG 2018, 801.

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Jens Koch

und Abwartens vorgelegt, hat mit kenntnisreichem Blick die wohl akuteste Baustelle des geltenden Beschlussmängelrechts identifiziert und dazu einen Gestaltungsvorschlag unterbreitet, der sich gegenüber der derzeitigen Rechtslage als deutliche Verbesserung darstellen würde. Wenn der Gesetzgeber sich nur zu einer solchen Neufassung entschließen wollte, wäre für die Praxis schon viel gewonnen. Allenfalls bei der näheren tatbestandlichen Ausgestaltung der Freigabekriterien sollte über weitere ­Modifizierungen nachgedacht werden. Wenn sich die legislative Bereitschaft findet, die erforderlichen Eingriffe nicht auf das absolute Mindestmaß zu beschränken, wäre möglicherweise aber auch noch eine Detailgestaltung vorstellbar, mit der die widerstreitenden Interessen zu einem noch ausgewogeneren Ausgleich geführt werden könnten.

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Roland Köstler und Lasse Pütz

Die europäische Aktiengesellschaft (SE), Fakten und Probleme Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Empirische Entwicklung der SE III. Einzelne Probleme 1. Die Vorrats-SE 2. Fehlende Mehrstaatlichkeit

3. SE & Co. KG und SE & Co. KGaA 4. Nichteinbeziehung der Gewerkschaften 5. Alle Komponenten der Mitbestimmung 6. Erzberger II – Die Statusverfahren bei der SE IV. Fazit und Ausblick

I. Einleitung Das jahrzehntelange Wirken des Jubilars und seine Aufgabenstellung im Ministerium und eine Mitwirkung der Autoren an dieser Festschrift zu dem Thema SE, verwundern auf den ersten Blick. Die Autoren hatten häufig andere Rechtsauffassungen als der Jubilar.1 Aber wer im Themenfeld Corporate Governance unterwegs ist, kommt genauso wenig an Prof. Seibert vorbei, wie bei dem Thema der europäischen Ge­ sellschaft (SE). Das Wirken des Jubilars wird, auch wenn die SE nicht primär in seiner Zuständigkeit lag und liegt, doch auch von der Diskussion um diese beeinflusst. So gibt es durchaus seit längerem Stimmen, die die Wahlmöglichkeiten in der Unternehmensverfassung, wie sie bei der SE bestehen, sich allgemein für das deutsche ­Aktienrecht wünschen.2 Insofern gibt die SE mit dieser Möglichkeit Beispiele und Anregungen für die nationalen Rechtsformen. Und auch bei der Einführung der Geschlechterquote, die in gesellschaftsrechtlicher Hinsicht maßgeblich durch den Jubi­ lar „gestaltet“ wurde, waren die SE und ihre Besonderheiten ein nicht unwesentliches Thema.3 Angesichts der vielfältigen Autorenschaft und der Leser dieser Festschrift haben wir gerne die Gelegenheit ergriffen, auf diese Weise die langjährige Arbeit des Jubilars zu würdigen und daneben einen Beitrag zur Debatte um die Europäisierung des Unternehmensrechts beizusteuern. Denn wie schon der Jubilar 2015 feststellte, war es auch die Internationalisierung, die die Entwicklung des Aktengesetzes von 1990 an geprägt hat4 und sicherlich weiterhin prägen wird. 1 Vgl. nur: Fuchs/Köstler/Pütz, Handbuch zur Aufsichtsratswahl, 6. Aufl. 2016, Rz. 718. 2 Vgl. hierzu Beschluss Nr. 19 der Abteilung Wirtschaftsrecht des 69. Deutschen Juristentags in München 2012: „Der Gesetzgeber sollte allen Aktiengesellschaften wie schon der Europäischen Gesellschaft (SE) die Wahl zwischen der dualistischen und der monistischen Verfassung eröffnen.“ 3 Vgl. Seibert, NZG 2016, 16 ff. 4 Seibert, AG 2015, 593, 595.

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Roland Köstler und Lasse Pütz

II. Empirische Entwicklung der SE Bei der Einführung der SE im Jahr 2004 gab es eher skeptische Stimmen, ob die SE in Deutschland eine Erfolgsgeschichte haben würde, natürlich oft genug mit dem Hinweis auf die hier geltende Unternehmensmitbestimmung. Im Jahr 2018 – angesichts der über 3000 SE in Europa5 – wird umgekehrt diese Zahl herausgestellt, um zu unterstreichen, wie verbreitet die SE sei.6 Als nationale Korrespondenten einer Datenbank zur Erfassung der SE haben die Autoren in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Gewerkschaftsinstitut (ETUI) schon früh darauf hingewiesen, dass diese Gesamtzahl nur sehr begrenzte Aussagefähigkeit besitzt. Von Anfang tauchten arbeitnehmerlose und inaktive Gesellschaften auf. Daraus ergab sich zum einen ein Rechts­ problem (dazu II. 1.) und zum anderen eine empirische Fragestellung. So entschieden wir uns bereits im Jahr 2006, nicht zuletzt wegen verwandter Datenbanken, einen Schwellenwert von 5 Arbeitnehmern zu Grunde zu legen, ab dem wir eine SE als aktiv einstuften, und nannten diese SE dann Normale-SE.7 Neben der absoluten Zahl der SE war natürlich auch die Verteilung nach dualistischem und monistischem System in der Unternehmensverfassung für Deutschland von Interesse. Gab es doch gerade Anfang der Zweitausenderjahre die bereits erwähnten Rufe nach der Wahlmöglichkeit auch im deutschen Aktienrecht. Die erste Normale-SE in Deutschland war die Mensch und Maschine Software SE im Jahre 2006 (mit 350 Arbeitnehmern) und hier wurde zudem die Verwaltungsratsstruktur gewählt. Es folgten, wie die nachfolgende Zahlenreihe seit 20068 zeigt, zahlreiche weitere Normale-SE:

5 Gezählt von der Datenbank des Europäischen Gewerkschaftsinstituts ETUI http://ecdb. worker-­participation.eu/ Stand 31.12.2018: 3140. 6 Bayer/Schmidt, BB 2017, 2114. 7 Bei SE als Komplementär haben wir uns die Unternehmensverfassung angesehen und entsprechend eingeordnet. 8 S.  auch die Datenblätter der Hans-Böckler-Stiftung https://www.boeckler.de/34750.htm. Folgende Bereinigungen der Zahlen sind erfolgt: Für Deutschland gilt, dass die insolventen, die rückumgewandelten oder die, die ihren Sitz ins Ausland verlegten, bereinigt wurden. Für Europa geht es um die Entwicklung von leer bis Normal und umgekehrt.

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Die europäische Aktiengesellschaft (SE), Fakten und Probleme

Entwicklung der SE seit 2006 bis 2018 Datum

Total SE Normale-SE Normale-SE in Dualistische in EU in EU Deutschland Normale-SE in Deutschland

Monistische Normale-SE in Deutschland

31.12.2006

41

22

5

2

3

31.12.2007

109

58

17

10

7

31.12.2008

262

105

38

24

14

31.12.2009

413

146

54

35

19

1.9.2010

622

157

78

51

27

31.12.2010

605

187

73

49

24

1.6.2011

814

183

87

60

27

1.12.2011

989

197

92

64

28

1.3.2012

1113

210

95

65

30

1.6.2012

1286

213

100

70

30

2.10.2012

1426

223

106

74

32

1.1.2013

1601

234

115

80

35

1.7.2013

1865

252

124

87

37

1.1.2014

2052

284

135

95

40

1.10.2014

2234

316

147

100

47

1.7.2015

2399

346

170

117

53

31.12.2015

2472

385

185

124

61

1.7.2016

2574

416

202

132

70

31.12.2016

2670

451

230

150

80

1.7.2017

2827

462

243

156

87

31.12.2017

2943

526

289

186

103

1.7.2018

3051

553

307

196

111

31.12.2018

3140

590

324

206

118

499

Roland Köstler und Lasse Pütz

Es gab zum 31.12.2018, unter Berücksichtigung der oben aufgezeigten Voraussetzung, 324 Normale-SE in Deutschland, davon 206 mit einer dualistischen und 118 mit einer monistischen Unternehmensverfassung. Von diesen 324 Normalen-SE hatten 70 eine Aufsichtsratsbeteiligung der Arbeitnehmer,9 wobei es keine Gesellschaft mit Arbeitnehmerbeteiligung im Aufsichtsrat gab, die ein monistisches System aufwies.10 Nur 70 SE waren zum Stichtag börsennotiert. Abschließend zum empirischen Teil noch drei Anmerkungen: Es ist erstaunlich, wie viele Unternehmen mit wenigen Arbeitnehmern sich in SE ­umwandeln, ohne dass ein größeres Anwachsen in Richtung des Schwellenwerts von 500 Arbeitnehmer (§ 1 DrittelbG) zu erwarten ist. Die Motive sind unklar. Allerdings stand auch eine größere Zahl von Unternehmen vor der Umwandlung vor der Schwelle von 2000 Arbeitnehmern (§ 1 MitbestG). In diesen Fällen dürften die Motive klarer sein. Zumindest drängt sich stark der Verdacht der „Mitbestimmungsgestaltung“ auf,11 die die SE leider ermöglicht (dazu unter III.). Weiter gibt es immer wieder Unternehmen ohne jeden Auslandsbezug (dazu III. 2.), sicher mit der Zielsetzung, das Vorher-Nachher-Prinzip zum endgültigen Vermeiden der Arbeitnehmerbeteiligung in der Unternehmensverfassung zu nutzen. Große Konzerne nahmen in ihre KG an der Spitze eine SE als neuen Komplementär12 auf (meist unter Nutzung von Vorrats-SE). Auch hier scheint die Vermeidung der Unternehmensmitbestimmung,13 neben der Verringerung des Einflusses der Aktionäre bei der KGaA, ein zentraler Beweggrund zu sein. Mit Fresenius begann 2007 dieser „Trend“ zur Rechtsform der SE und Co. KGaA (Stand zum 31.12.2018: 1414). Mit der SE als Komplementär hat man ein freies Konzernlenkungs-Vehikel15 (zu beidem s. auch unten III. 3.). Zuletzt ist an dieser Stelle noch auf ein, bei der Erhebung der SE in Deutschland, wichtiges und leider immer wieder unerfreuliches Thema einzugehen. Die Erhebung ist äußerst umständlich. Schuld hieran sind die deutschen Handelsregister. Zwar kann man Online nach einzelnen Rechtsformen suchen,16 und es fallen schon aufgrund des Namens bestimmte Vorratsgesellschaften ins Auge (insb. Atrium und Blitz), aber da 9 S. zu den Einzelheiten das Datenblatt zum 31.12.2018 unter https://www.boeckler.de/pdf/ pb_mitbestimmung_se_2018_12.pdf. 10 Puma hatte im Frühjahr 2018 durch HV-Beschluss den Wechsel ins dualistische System vollzogen. Die Aktionärsrichtlinie ließ grüßen: Erhöhung des Free-Float bei Aktionären durch Kapitalmaßnahme des Hauptaktionärs war die Begründung für den Vorschlag des Verwaltungsrats. 11 Vgl. hierzu auch: Bayer, NJW 2016, 1930, 1932 f. 12 Z.B.: Gebr. Heinemann, Gegenbauer, Röchling, Rethmann, Kötter, Hellmann, Krieger, Nagel und Kärcher. 13 Dabei ist §  4 MitbestG so schlecht konstruiert, dass Kundige diese Art der „Mitbestimmungsgestaltung“ nicht „nötig“ hätten. 14 Beispielhaft: OBI, Bertelsmann, Aurelius, IMS Gea, Ströer, Ottobock. 15 S. dazu auch Fett/Stütz, NZG 2017, 1121. 16 Stand 30.6.2018: 553. 

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Die europäische Aktiengesellschaft (SE), Fakten und Probleme

neben gibt es zahlreiche Doppelzählungen beim Kauf von Vorratsgesellschaften, sowie aufgrund von Sitzverlegungen (auch im Inland). Auch werden insolvente SE im Register nicht für diese Zählung gelöscht. Zuletzt ist es auch schwierig, die SE-Vereinbarungen zu finden, da sie nicht besonders ausgewiesen werden. Entsprechend kann eine empirische Untersuchung nur wirklich aussagekräftig sein, wenn jede SE einzeln betrachtet wird.

III. Einzelne Probleme Die Rechtsform der SE unterliegt nicht originär dem deutschen Mitbestimmungsrecht (vgl. § 47 Abs. 1 Nr. 1 SEBG). Das eigentlich bei der Gründung einer SE durchzuführende Verhandlungsverfahren (s. hierzu auch nachfolgend unter 1. die Vorrats-­ SE) sowie die gesetzliche Auffangregelung mit dem sog. Vorher-Nachher-Prinzip sollen zwar das in der oder den beteiligten Gesellschaft(en) erreichte Mitbestimmungsniveau absichern. Allerdings bleibt das in der Beteiligungsvereinbarung verhandelte oder kraft Auffangregelung geltende Mitbestimmungsniveau (einschließlich  einer eventuellen Mitbestimmungsfreiheit) auch dann unverändert, wenn eine „deutsche“ SE nachfolgend die nach dem DrittelbG oder dem MitbestG maßgeblichen Schwellenwerte von 500 bzw. 2.000 Arbeitnehmer überschreitet. Dieser Umstand wird zumeist als „Zementierungseffekt“ oder auch als „Einfrieren“ bezeichnet.17 Daneben hat die Möglichkeit, in der Beteiligungsvereinbarung abweichende Regelungen zu den deutschen Gesetzen zur Unternehmensmitbestimmung zu treffen, einen nicht unerheblichen Reiz auf die Unternehmen. Die praktizierte Nichteinbeziehung der Gewerkschaften (s. hierzu unter III. 4.) oder zumindest die Reduzierung der gewerkschaftlichen Mandate im Aufsichtsrat (s. hierzu unter III. 5.), gibt den Unternehmen die Gelegenheit, das Machtgefüge der industriellen Beziehungen zu ihren Gunsten zu verschieben. Die Möglichkeit des Einfrierens der Unternehmensmitbestimmung sowie die Reduzierung des gewerkschaftlichen Einflusses sind wesentliche Aspekte der nachfolgenden Probleme, die sich in der mittlerweile über zehnjährigen Praxis herausgebildet haben: 1. Die Vorrats-SE Am 18.10.2005 teilte die FORATIS AG im Internet mit, dass die von ihr gegründete „Atrium Erste Europäische VV SE“ bereits im Handelsregister in Düsseldorf einge17 Der bezeichnete „Zementierungseffekt“ kann unstreitig in der Beteiligungsvereinbarung ausgeschlossen werden. Solche Vereinbarungen werden indes selten getroffen, da eine dahingehende Regelung nicht erzwungen werden kann. Ein anderer Weg wäre, dass beim Überschreiten der maßgeblichen Schwellenwerte sog. strukturellen Änderungen nach § 18 Abs. 3 SEBG, die geeignet sind, Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer zu mindern, vorlägen. Der Begriff der strukturellen Änderungen ist indes im Gesetz nicht näher definiert. Das rein organische Wachstum wird nach der herrschenden Ansicht jedoch nicht erfasst.

501

Roland Köstler und Lasse Pütz

tragen sei und zur sofortigen Lieferung bereit stehe.18 Ähnlich verhielt es sich mit einer „Blitz“ Vorratsgesellschaft, die in München eingetragen wurde. Vorratsge­ sellschaften waren im Gesellschaftsrecht nichts Neues. Aber angesichts des Art.  12 SE-VO, insbesondere Abs.  2 und 3 nahm man doch an, dass ohne Verhandlungen über eine Vereinbarung mit den Arbeitnehmern (oder dem dort vorgesehenen Wegfall der Anwendungsvoraussetzungen) keine SE eingetragen werden dürfte. Wofür sollte sonst die ausführliche Richtlinie zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer und dessen nationale Umsetzung über das SE-Beteiligungsgesetz, dem SEBG, erarbeitet worden sein? Gewappnet mit den Zoll-Pool Entscheidungen aus Hamburg,19 und einem Gutachten zu dieser Frage von Prof. Blanke wurde einer der Autoren gemäß § 142 FGG (heute § 395 FamFG) bei den Handelsregistergerichten in München (Blitz) und Düsseldorf (Atrium) vorstellig und „regte an“, die Unternehmen zu Verhandlungen aufzufordern und andernfalls diese von Amts wegen zu löschen. Beide Amtsgerichte wiesen mit knapper Begründung ab: Wo keine Arbeitnehmer seien, könne auch nicht verhandelt werden.20 Erst die Weigerung eines Registerrichters aus Duisburg einzutragen, führte zur Entscheidung des OLG Düsseldorf, bei Aktivierung der SE sei eine Nachholung des Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens durchzuführen.21 Dies ist nunmehr letztlich die herrschende Meinung22 und wird öfter so praktiziert. Fakt ist: 133 der 324 Normale-SE sind heute auf Vorrats-SE zurückzuführen.23 In­ sofern ist dies nicht mehr allein ein rechtswissenschaftliches Problem.24 Es mag ­dahinstehen, ob man bei der Aktivierung der Vorrats-SE § 18 SEBG analog – Wiederaufnahme der Verhandlungen – oder §§ 4 ff. SEBG – Einleitung von Verhand­lungen – anwendet, ohne ein aktives Tätigwerden der Registergerichte, wenn eine SE Betriebe aufnimmt und damit Arbeitnehmer beschäftigt (Übergang einer wirtschaftlichen Einheit auf die SE), wird man den vom SEBG vorgesehenen Schutz der Arbeitnehmer nicht sicherstellen können. Natürlich sind auch die Betriebsräte und Gewerkschaften gefragt. Der wissenschaftliche Diskurs über die Frage, über notwendige Arbeitnehmerzahlen zur Bildung eines besonderen Verhandlungsgremiums, hilft jedenfalls nicht weiter, wenn in der Praxis Verhandlungen nach einer Aktivierung aufgrund

18 Zitiert nach Blanke, Vorrats-SE ohne Arbeitnehmerbeteiligung, 2005, S. 10. 19 AG Hamburg v. 28.6.2005 – 66 AR 76/05 und LG Hamburg v. 30.9.2005 – 417 T 15/05 beide ZIP 2005, 2017 f. letztlich Amtslöschung. 20 AG Düsseldorf v. 16.1.2006 – HRB 52618, ZIP 2006, 287 und AG München v. 29.3.2006 – HRB 159649, ZIP 2006, 1300. 21 OLG Düsseldorf v. 30.3.2009 – 3 Wx /248/08, ZIP 2009, 918 f. 22 Umfassend hierzu: von der Höh, Die Vorrats-SE als Problem der Gesetzesumgehung und des Rechtsmissbrauchs, 2017, S. 156 ff. m.w.N. 23 In Tschechien sind die Zahlen noch höher und die Geschäfte damit auch noch größer, vgl. nur Rosenbohm, Verhandelte Mitbestimmung, 2013, S. 126 f. 24 Dazu ausführlich zuletzt von der Höh, Die Vorrats-SE als Problem der Gesetzesumgehung und des Rechtsmissbrauchs, 2017.

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unklarer Rechtslage nicht eingefordert werden.25 Eine besondere Problematik stellt in diesem Zusammenhang die Nutzung von Vorrats-SE als Komplementär bei der KG oder der KGaA dar (dazu unten III. 3.). 2. Fehlende Mehrstaatlichkeit Neben der arbeitnehmerlosen SE gibt es immer auch SE, die keine Arbeitnehmer im europäischen Ausland beschäftigen. In diesem Fall stellt sich die Frage, ob bei der Gründung dieser SE eine Verhandlung über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer erfolgen muss und ob ein SE-Betriebsrat überhaupt einzurichten ist. Gegen die entsprechenden Verhandlungen sowie die (ggf. gesetzliche) Implementierung eines SE-Betriebsrats wird, wie bei der Vorrats-SE, eine teleologische Reduktion von Art. 12 Abs. 2 SE-VO erwogen.26 Begründet wird dies unter anderem damit, dass es kein, aus mehreren Mitgliedstaaten bestehendes Besonderes Verhandlungsgremium (BVG) nach § 5 SEBG geben könne und es keine (grenzüberschreitenden) Angelegenheiten gäbe, für die dieser SE-Betriebsrat zuständig wäre.27 Die Verhandlungen über die Arbeitnehmerbeteiligung sollen in analoger Anwendung von § 18 Abs. 3 SEBG, ähnlich wie im Falle einer Aktivierung, dann nachgeholt werden, wenn nach der Gründung in mindestens zwei Mitgliedstaaten Arbeitnehmer beschäftigt werden.28 Diese Ansicht überzeugt indes nicht.29 Ein BVG kann auch ohne Vorliegen einer Mehrstaatlichkeit gebildet werden.30 In diesem Fall gehören diesem nur Mitglieder aus einem Mitgliedstaat an. Auch ist es nicht zwingend, dass die Kompetenz eines SE-Betriebsrats auf grenzüberschreitende Sachverhalte beschränkt ist. Vielmehr kann in einer Verhandlung auch vereinbart werden, dass rein nationale Sachverhalte in die Kompetenz des SE-Betriebsrats fallen. Entsprechend kann auch nicht von vornherein die Notwendigkeit eines SE-Betriebsrats verneint werden. Weiter zeigen die §§ 28 und 29 SEBG, dass der SE-Betriebsrat nicht allein auf grenzüberschreitende Sachverhalte beschränkt ist, sondern sich auch mit Angelegenheiten befasst, die die SE selbst be25 Dazu wurden wir auch von EU-Kommissionsbeamten befragt, die selbst über das Phänomen Vorrats-SE erstaunt waren. Zum Handverlesen der BVG-Mitglieder und § 43 SEBG vgl. Nagel in Nagel/Freis/Kleinsorge, 3. Aufl. 2018, GesR SE Rz. 17. 26 Vgl. nur Jacobs in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2017, § 3 SEBG Rz. 8 m.w.N.; a.A. Oetker in Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl. 2015, § 1 SEBG Rz. 24. 27 C. Schubert, RdA 2012, 146 ff. 28 Jacobs in MünchKomm. AktG, 4.  Aufl. 2017, §  3 SEBG Rz.  8 sowie Hohenstatt/Müller-­ Bonanni in Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2. Aufl. 2016, § 3 SEBG Rz. 14. 29 So auch Oetker in Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl. 2015, § 1 SEBG Rz. 24 sowie Sick in Düwell, BetrVG, 5. Aufl. 2018, Europäische Aktiengesellschaft (SE) und grenzüberschreitende Verschmelzung, Rz 8. 30 Oetker in Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl. 2015, § 1 SEBG Rz. 23 sowie umfassend hierzu: C. Schubert, RdA 2012, 146, 148 f., die allerdings, wie auch Hohenstatt/Müller-Bonanni in Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2. Aufl. 2016, § 3 SEBG Rz. 14, eine teleologische Reduktion vornimmt, wenn in den beteiligten Gesellschaften keine Mitbestimmung im Aufsichtsrat besteht und auch keine grenzüberschreitenden Angelegenheiten existieren.

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treffen.31 Daneben ist ein SE-Betriebsrat auch dann erforderlich, wenn später die Mehrstaatlichkeit eintritt. Eine dann aufgenommene Verhandlung würde dazu führen, dass die SE bis zum Abschluss dieser Verhandlungen keinen SE-Betriebsrat hätte, obwohl eine Mehrstaatlichkeit gegeben wäre. Aber selbst wenn eine teleologische Reduktion des Art. 12 SE-VO vorzunehmen wäre, würde hieraus die Rechtsfolge erwachsen, dass weiterhin die deutschen Mitbestimmungsgesetze (inkl. der Arbeitnehmerschwellen) gelten.32 Bei fehlender Mehrstaatlichkeit entfällt, auch zum Schutz der nationalen Mitbestimmungsgesetze, die Sperrwirkung gegenüber den deutschen Gesetzen zur Unternehmensmitbestimmung. Trotz der aufgezeigten Bedenken wurden und werden SE, die keinen Auslandsbezug aufweisen, gegründet, ohne Verhandlungen über die Beteiligung der Arbeitnehmer aufzunehmen. Beispiele hierfür sind die Mast-Jägermeister SE und die Lichtblick SE.33 3. SE & Co. KG und SE & Co. KGaA Ein in den letzten Jahren immer stärker anzutreffendes Phänomen ist der Einsatz der SE als Komplementärin in einer Kapitalgesellschaft & Co. KG34 (gegebenenfalls auch als KGaA35). Die Gründung erfolgt dabei entweder durch einen Formwechsel der vorherigen Komplementärgesellschaft, den Austausch der Komplementärgesellschaft durch eine Vorrats-SE oder die Verschmelzung der Komplementärgesellschaft auf eine Vorrats-SE.36 In den allermeisten Fällen hat dabei die Komplementär-SE keine oder nur wenige Arbeitnehmer. Auch hält die Komplementär-SE zumeist keine Kommanditanteile bzw. Aktien an der KG. Aus Sicht der Mitbestimmung kommt es in diesen Konstruktionen daher auf die Frage an, ob und wenn ja, unter welchen Vo­ raussetzungen, die Konzernarbeitnehmer der Komplementärgesellschaft zuzurechnen sind.37 Nur wenn eine Zurechnung erfolgt, ist die nach der herrschenden Meinung erforderliche Anzahl von Arbeitnehmern für die Aufnahme von Verhandlungen gegeben. Ausgangspunkt für die Frage ist Art. 2 c) SE-RL bzw. § 2 Abs. 3 SEBG im Zusammenhang mit Art. 3 Abs. 2 bis 7 EBR-RL und § 6 Abs. 2 bis 4 EBRG. Hiernach wird ein 31 Vgl. Oetker in Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2.  Aufl. 2015, §  1 SEBG Rz. 24 und Luke, NZA 2013, 941, 944. 32 Vgl. hierzu auch: Sick in Düwell, BetrVG, 5.  Aufl. 2018, Europäische Aktiengesellschaft (SE) und grenzüberschreitende Verschmelzung Rz. 8.  33 S. hierzu auch Rz. 20 bei Jacobs in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2017, § 3 SEBG. 34 S. hierzu auch Sigle in FS Hommelhoff, 2012, S. 1123 ff., der schreibt, dass es „sehr zu überlegen [ist], ob man sich, um die Arbeitnehmermitbestimmung zu vermeiden, für die Rechtsform der SE & Co. KG entscheiden will.“ 35 Bzgl. der Unternehmensmitbestimmung in der SE & Co. KGaA s. umfassend: A. Schubert, Unternehmensmitbestimmung in der SE & Co. KGaA, 2018. 36 A. Schubert, Unternehmensmitbestimmung in der SE & Co. KGaA, 2018, S. 113 ff.; Winter/ Marx/De Decker, NZA 2016, 334, 336. 37 S. auch: Winter/Marx/De Decker, NZA 2016, 334, 336.

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beherrschender Einfluss widerleglich vermutet, „wenn ein Unternehmen […] unmittelbar oder mittelbar 1. mehr als die Hälfte der Mitglieder des Verwaltungs-, Leitungs- oder Aufsichtsorgans des anderen Unternehmens bestellen kann oder 2. über die Mehrheit der mit den Anteilen am anderen Unternehmen verbundenen Stimmrechte verfügt oder 3. die Mehrheit des gezeichneten Kapitals dieses Unternehmens besitzt.“ Dagegen, dass ein solcher beherrschender Einfluss bei der Komplementär-SE vorläge, wird vorgebracht, dass die Komplementärin keinen beherrschenden Einfluss ausübe, weil sie als Leitungsorgan der KG die Geschäfte dieser gemäß §§ 116, 164 HGB im Wesentlichen nicht selbstständig und weisungsfrei führen könne.38 Im Ergebnis soll sie deshalb keinen maßgeblichen Einfluss auf die Geschäftsführung haben, auch wenn sie diese selbst führt.39 Auch diese Ansicht, dass eine Zurechnung der Arbeitnehmer bei der Komplementär-SE zumeist nicht möglich sei und keine Verhandlungen über die Mitbestimmung in der Komplementär-SE aufzunehmen wären, überzeugt nicht. Vielmehr liegt ein Fall einer strukturellen Änderung gemäß § 18 SEBG vor.40 In der Praxis handelt es sich bei einer SE & Co. KG (aA) um eine „geschickte“ Rechtsanwendung, zur Vermeidung oder Reduzierung der Mitbestimmung, wie sich auch aus der einschlägigen Literatur ergibt.41 Gerade eine solche „Mitbestimmungsumgehung“ sollte die SE indes nicht zulassen. Der Gesetzgeber hat im MitbestG aus gutem Grund §  4 MitbestG, wenn auch verunglückt, eingeführt. 4. Nichteinbeziehung der Gewerkschaften Ein weiteres Phänomen ist, dass bei der Gründung einer SE die im Unternehmen vertretenden Gewerkschaften nicht mit einbezogen werden oder dies zumindest ­versucht wird. Den Ursprung hat dieses, in der Praxis leider immer wieder anzutreffendes, Problem, darin, dass das SEBG eine Information der Gewerkschaften nicht 38 Winter/Marx/De Decker, NZA 2016, 334, 336. 39 Schließlich wird in der Literatur noch geraten, dass sich die Kommanditisten Zustimmungs- und Weisungsrechte gegenüber der Komplementär-SE vorbehalten, und so den beherrschenden Einfluss der Komplementär-SE (formal) ausschließen; vgl. hierzu: Winter/ Marx/De Decker, NZA 2016, 334, 336 f. 40 Überzeugend Oetker in Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2.  Aufl. 2015, §  18 SEBG Rz.  26; a.A. wohl Hohenstatt/Müller-Bonanni in Habersack/Drinhausen, SERecht, 2. Aufl. 2016, § 18 SEBG Rz. 15 sowie Winter/Marx/De Decker, NZA 2016, 334. 41 So schreiben beispielweise Winter/Marx/De Decker, NZA 2016, 334, 337: „Die SE & Co. KG ist eine attraktive Rechtsformalternative für große, bisher als GmbH & Co. KG verfasste Familienunternehmen. Dies gilt auch unter mitbestimmungsrechtlichen Aspekten […]. Durch einen Übergang zur SE & Co. KG kann man […] eine bisherige Mitbestimmungsfreiheit erhalten oder jedenfalls Größe und Zusammensetzung eines mitbestimmten Aufsichtsrats flexibler regeln.“

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vorsieht.42 Auch wenn in der Literatur aufgezeigt wird, dass das Unternehmen ein Eigeninteresse an der Beteiligung der Gewerkschaften und damit auch an der Information dieser über die bevorstehenden Verhandlungen ein gesteigertes Interesse haben sollte,43 findet diese, wie das Verfahren der Gewerkschaft ver.di gegen Zalando44 zeigt, oftmals nicht statt. Dieser Umstand sorgt dafür, dass den Gewerkschaften faktisch ihr Recht aus § 6 Abs. 3 SEBG, d.h. dass jedes dritte deutsche Mitglied des BVG ein Vertreter einer Gewerkschaft ist, vorenthalten wird. Dieser Zustand sollte durch den Gesetzgeber beseitigt werden. Daneben ist auch bei der derzeitigen Gesetzeslage in den Fällen, in denen das Unternehmen die Kenntnis oder zumindest Vermutung hat, dass in ihrem Unternehmen eine bestimmte Gewerkschaft vertreten ist, dem LAG Berlin-Brandenburg zuzustimmen, wenn es schreibt: „Eine Informationspflicht könnte […] in weiterer Konsequenz daraus zu folgern sein, dass Gewerkschaftsvertreter nach § 6 Abs. 2 SEBG zu Mitgliedern des BVG wählbar sind und unter bestimmten Voraussetzungen nach § 6 Abs. 3 SEBG sogar jedes dritte Mitglied des BVG ein Gewerkschaftsvertreter zu sein hat. Trotz dieser Vorgabe hat der Gesetzgeber von einer Informationsverpflichtung der Unternehmensleitung gegenüber den Gewerkschaften  – aus nachvollziehbaren Gründen  – Abstand genommen, anderenfalls diese nämlich gehalten gewesen wäre, Ermittlungen anzustellen, welche Gewerkschaften in den Betrieben vertreten sind, also von sich aus nach Gewerkschaftsmitgliedern in den Belegschaften zu forschen. Diese Problematik besteht aber nicht, soweit dem Unternehmen im Betrieb vertretene Gewerkschaften ohnehin bekannt sind. Bei dieser Sachlage spricht viel für eine Informationspflicht, wenn nach seinem § 1 Abs. 1 Satz 2 Ziel des SEBG ist, in einer SE die erworbenen Rechte der Arbeitnehmer auf Beteiligung an Unternehmensentscheidungen zu sichern, und nach § 1 Abs. 3 die Vorschriften des Gesetzes sowie die nach Absatz 2 zu treffende Beteiligungs- bzw. Mitbestimmungsvereinbarung so auszulegen sind, dass die Ziele der Europäischen Gemeinschaft, die Beteiligung der Arbeitnehmer in der SE sicherzustellen, gefördert werden.“45 5. Alle Komponenten der Mitbestimmung Betrachtet man die Entwicklung der SE, zeigt sich, dass bereits von Beginn an bei der Mitbestimmung im Aufsichtsrat der Sitz des leitenden Angestellten „weg verhandelt“ 42 Kleinsorge in Nagel/Freis/Kleinsorge, 3. Aufl. 2018, § 8 SEBG Rz. 6; Hohenstatt/Müller-Bonanni in Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2. Aufl. 2016, § 6 SEBG Rz. 6; Jacobs in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2017, § 6 SEBG Rz. 5; s. hierzu auch: Diskussionsbeitrag von Pütz bei Rautenstrauch, in Gesellschaftsrechtliche Vereinigung, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2012, 2013, S. 110; für eine Informationspflicht in bestimmten Fällen wohl LAG Berlin-Brandenburg v. 10.2.2017 – 6 TaBV 1585/16, juris, s. bzgl. der Interpretation der LAG Entscheidung auch Mückel/Götte, BB 2017, 1845. 43 Kleinsorge in Nagel/Freis/Kleinsorge, 3. Aufl. 2018, § 8 SEBG Rz. 6. 44 In der ersten Instanz: ArbG Berlin v. 30.6.2016 – 4 BV 12102/15, BeckRS 2016, 121102 sowie in der zweiten Instanz: LAG Berlin-Brandenburg v. 10.2.2017 – 6 TaBV 1585/16, juris, das im konkreten Fall hat dahinstehen lassen, ob eine Informationspflicht gegenüber in inländischen Betrieben vertretenen Gewerkschaften anzunehmen ist. 45 LAG Berlin-Brandenburg v. 10.2.2017 – 6 TaBV 1585/16, juris, Rz. 74.

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wurde (vgl. nur die Allianz SE oder die BASF SE). Seit einiger Zeit wird daneben versucht, sich durch die SE-Verhandlungen der festen Gewerkschaftssitze zu entledigen. Beispiele hierfür sind z.B. die ADAC SE oder die Delivery Hero SE, die einen paritätisch besetzten Aufsichtsrat, mit jeweils drei Anteileignern- und Arbeitnehmervertretern, haben, in dem keine Gewerkschaftsvertreter sitzen. Über die Frage, ob eine solche Vereinbarung überhaupt zulässig ist, besteht in der Literatur Streit.46 Dies gilt insbesondere bei der Fallgestaltung, dass eine AG in eine SE umgewandelt wird. Bei einer solchen Umwandlung sind Verhandlungen über eine SE-Beteiligungsvereinbarung zu führen, wobei nach § 21 Abs. 6 SEBG in der Vereinbarung „in Bezug auf alle Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung zumindest das gleiche Ausmaß gewährleistet werden“ muss, „das in der Gesellschaft besteht, die in eine SE umgewandelt werden soll“. Durch diese Regelung sollte die Mitbestimmung der Arbeitnehmer geschützt werden.47 In der Literatur ist die Bedeutung des in § 21 Abs. 6 SEBG genannten Begriffspaars „allen Komponenten“ umstritten. Zum Teil wird der dort normierte Schutz nur auf den verhältnismäßigen Anteil der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat bezogen. Eine an­ dere Ansicht sieht die Zusammensetzung der Arbeitnehmerbank als geschützte ­Komponente an.48 Das Arbeitsgericht Mannheim hat sich, in einem auf die SAP SE bezogenen Verfahren, indes erst unlängst gegen einen Bestandsschutz der Gewerkschaftssitze im Aufsichtsrat ausgesprochen.49 Diese Ansicht überzeugt nicht, es bleibt zu hoffen, dass die nächsten Instanzen die Entscheidung der ArbG graderücken. 6. Erzberger II – Die Statusverfahren bei der SE Der Kleinaktionär Erzberger hat in einer ersten Runde mehrere Statusverfahren nach §§ 98 ff. AktG betrieben, mit der Rechtsansicht, die deutschen Mitbestimmungsgesetze seien europarechtswidrig, da danach das aktive und passive Wahlrecht nur den, im Inland beschäftigten, Arbeitnehmern zustehe. Nachdem das LG Berlin dies nicht so sah, hatte das KG Berlin das Verfahren dem EuGH vorgelegt. Dieser hatte dann am 18.7.2017 entschieden, es liege kein Verstoß gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit vor.50 Das Kammergericht Berlin beendete dann letztinstanzlich das Verfahren TUI, indem der Beschluss des LG Berlin vom 1.6.2015 bestätigt wurde.51

46 Vgl. hierzu nur: Teichmann, Bestandsschutz für die Mitbestimmung bei Umwandlung in eine SE, abrufbar unter: https://www.boeckler.de/pdf/pb_europ_ag_teichmann.pdf sowie Teichmann, ZIP 2014, 1049. 47 Umfassend hierzu: Teichmann, ZIP 2014, 1049. 48 S. hierzu: Forst in Bergmann/Kiem/Mülbert/Verse/Wittig, 10 Jahre SE, 2015, S. 50, 71 ff.; Oetker in Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2.  Aufl. 2015, §  21 SEBG Rz. 58 ff.; Teichmann, ZIP 2014, 1049 ff. 49 ArbG Mannheim v. 7.12.2017 – 14 BV 13/16, BB 2018, 1655; LAG Baden-Württemberg v. 9.10.2018, GWR 2018, 448, ausf. ZIP 2018, 2414 ff. 50 EuGH v. 18.7.2017 – C-566/15, ZIP 2017, 1413. 51 KG v. 2.11.2017 – 14 W 89/15, NZG 2018, 458.

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Im Sommer 201752 begann Erzberger sodann eine neue, größere Welle von knapp 50 Statusverfahren. In den meisten dieser Verfahren war die zentrale Argumentation, dass die Auslandsmitarbeiter bei den Schwellenwerten mitzählen würden. Jedenfalls stehe eine andere Auslegung nicht mit dem Grundgesetz in Einklang.53 Bisther hat noch kein Gericht im Sinne des Antragstellers entschieden, selbst rechtskräftige zweitinstanzliche Beschlüsse des OLG Frankfurt liegen inzwischen vor.54 In den Kontext dieser Verfahren gehören aber auch 15 Auseinandersetzungen, die sich im Zusammenhang mit der SE abspielten,55 wobei zwei Verfahren besonders herauszuheben sind: Bei der Deutsche Wohnen wurde der Antrag beim LG Frankfurt wenige Tage vor der Eintragung der Umwandlung in die SE gestellt und bei der Delivery Hero AG war man dabei, das „Besondere Verhandlungsgremium“ nach dem SEBG zu bilden, als der Antrag auf ein Statusverfahren beim LG Berlin einging.56 Abgesehen von weiteren zwei Verfahren, bei denen es um den Streit, ob bei Umwandlung der Tendenzschutz des § 1 Abs. 4 MitbestG vorlag, ging,57 handelt es sich bei den meisten Verfahren nur um die, bereits oben aufgezeigte, Frage, ob die Auslandsmitarbeiter mitzuzählen sind.58 In den anderen Rechtsstreiten, die nicht die SE sondern eine AG bzw. GmbH betreffen, haben die Zivilgerichte bisher aus unserer Sicht zutreffend das Mitzählen abgelehnt. Bei den, die SE betreffenden, Verfahren kommt hinzu, dass in fast allen Fällen eine Vereinbarung abgeschlossen wurde.59 Die zentrale Rechtsfrage ist mithin in diesen Fällen, ob im Statusverfahren die Wirksamkeit der Beteiligungsvereinbarung überprüft werden kann, da dies eigentlich den Arbeits­ gerichten vorbehalten ist.60 Es muss bezweifelt werden, ob  – wie die Gegenansicht meint – das LG (hier konkret die Kammer für Handelssachen61) die sich stellenden 52 Soweit aus dem Bundesanzeiger ersichtlich, war das erste Verfahren gegen die Deutsche Wohnen AG gerichtet, die wenige Tage nach Eingang beim Gericht in eine SE umgewandelt wurde. 53 Ebenso in der Literatur Behme, AG 2018, 1 ff. dagegen z.B. Weber/Kiefner/Jobst, AG 2018, 140 ff.; Ott/Goette, NZG 2018, 281 ff. und Schockenhoff, Der AR 2018 , 50 ff. 54 S. nur OLG Frankfurt v. 25.5.2018 – 21 W 32/18, ZIP 2018, 1175 ff. 55 Chronologisch Deutsche Wohnen, Sixt, Aurelius, KWS Saat, Norma Group, GfT Technologies, Klöckner & Co., CompuGroup, Cancom, Pro SiebenSat 1, Fuchs Petrolub, OHB, Axel Springer, Nordex und HelloFresh. 56 Hier erfolgte am 9.3.2018 auf Antrag des Aktionärs und der beteiligten Gewerkschaft ein Beschluss, dass das MitbestG anzuwenden sei, alleine im Inland habe man unzweifelhaft mehr als 2000 Arbeitnehmer, LG Berlin v. 9.3.2018 – 102 O 72/17. Das Unternehmen hatte Beschwerde eingelegt, diese hat das Kammergericht mit Beschluss vom 27.7.2018 abgewiesen: die AG existiere nicht mehr, nach § 68 FamFG die Beschwerde daher unzulässig. 57 S. die Namensaufzählung in Fn. 55. Pro Sieben Abweisung LG München v. 26.6.2018 – 38 O 15760/17, ZIP 2018, 1546 ff. 58 Nach den abgerufenen Umwandlungsplänen waren, neben den oben bereits genannten Deutsche Wohnen sowie Delivery Hero, die sich bei Antragsstellung noch nicht in eine SE umgewandelt hatten, nur in zwei Fällen, nämlich der Sixt und der OHB SE, im Inland mehr als 2000 Arbeitnehmer vorhanden. 59 Aurelius SE scheidet hier aus, dort geht es aber auch um den Aufsichtsrat bei der KGaA. 60 So schon Wissman in FS Richardi, 2007, S. 841, 852. 61 Die Zusammensetzung ist anders und man hat den Eindruck, dass manche Entscheidung auch langsamer ergeht, gegenüber früher als eine normale Zivilkammer zuständig war.

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arbeitsrechtlichen Vorfragen selbst beurteilen darf.62 Folgt man dieser Ansicht, bleiben bei den 15 Verfahren des Herrn Erzberger, die eine SE betreffen, – neben Aurelius KGaA63 – nur die bezeichneten Verfahren gegen die Deutsche Wohnen AG/SE und Delivery Hero AG,64 die einer genaueren Betrachtung – bezogen auf ein Statusverfahren – bedürfen: Zunächst ist für beide Fälle, d.h. der Deutsche Wohnen AG/SE und der Delivery Hero AG/SE, festzuhalten, dass, solange ein Antrag gegen die „noch bestehende“ AG gestellt wird, dieser zulässig ist. Ihm fehlt keineswegs das Rechtsschutzbedürfnis, zumal, selbst wenn ein BVG gebildet ist, dieses ein halbes Jahr verhandeln und bei eindeutigen Fällen wie z.B. bei Delivery auch schnell durch das Gericht im Statusverfahren entschieden werden kann. Auch folgt aus der bloßen Aufnahme von Verhandlungen mit dem BVG noch nicht, dass tatsächlich später eine Umwandlung in eine SE erfolgt.65 Insoweit bedarf es noch weiter notwendiger Schritte, wie z.B. eines Hauptversammlungsbeschlusses. Weiter ist sodann auf die Auswirkungen des sog. Kontinuitätsprinzips aus § 96 Abs. 4 AktG einzugehen. Bei Deutsche Wohnen hat das LG Frankfurt66 gemeint, dass das Kontinuitätsprinzip des § 96 Abs. 4 AktG dazu führe, dass der, vorher ohne Arbeitnehmerbeteiligung, existierende Aufsichtsrat nun auch nach Umwandlung so bestehe. Zutreffend an dieser Ansicht ist, dass die Auflösung eines etwaigen Widerspruchs zwischen tatsächlicher Aufsichtsratzusammensetzung und von Gesetzes wegen vorgesehener (rechtmäßiger) Aufsichtsratsbildung in der Tat nur über das Statusver­ fahren erfolgen soll. Allerdings verkennt das Gericht dabei, dass es nach § 97 AktG die gesetzliche Pflicht des Vorstandes war, regelmäßig, also auch bei Einleitung der  Umwandlung, die Korrektheit der Zusammensetzung zu prüfen. Auch dient das Kontinuitätsprinzip nicht dem Einfrieren einer rechtswidrigen Aufsichtsratszusammensetzung über das Statusverfahren hinaus. Der Schutzgedanke des Vorher-Nachher-Prinzips, der die Regelungen zur SE durchzieht (Erwägungsgrund 18 der Richtlinie spricht von Sicherung erworbener Rechte) kann hier nicht in sein Gegenteil verkehrt werden. Die SE-Gründung darf nicht zu einem Windhund-Rennen67 um die Aufsichtsratszusammensetzung ausarten. Ansonsten müsste man vor Gericht 62 Henssler in Ulmer/Habersack/Henssler, § 1 SEBG Rz. 80 m.w.N. 63 Abweisung LG München am 1.6.2018. 64 Am 16.4.2018, d.h. nach Einleitung des Statusverfahrens, wurde mit dem BVG eine Vereinbarung abgeschlossen, nach der sich der Aufsichtsrat aus jeweils 3 Anteilseignern und Arbeitnehmern (ohne Gewerkschaftssitze) zusammensetzt. Am 6.6.2018 war die Hauptversammlung, nach der die SE-Umwandlung eingetragen werden soll, und am 13.7. erfolgte die Eintragung. 65 Auf Namensbeispiele wird hier verzichtet. 66 Beschwerde auch von der zuständigen Gewerkschaft eingelegt. Das OLG Frankfurt hat am 27.8.2018 das LG aufgehoben und zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen bzw. die Rechtsbeschwerde zum BGH zugelassen: ZIP 2018, 1874 ff.; zustimmend auch Kienast, DB 2018, 2487  f. Norma SE von derselben Kammer am 21.12.2017 abgewiesen, BeckRS 148953. Dort wäre aber vorher nicht einmal das DrittelbG maßgeblich gewesen. 67 Mückl/Götte, DB 2018, 1649 ff., 1652 schreiben von Wettlauf, und dass damit das Mitbestimmungsniveau letztlich vom Zufall abhängen könne.

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nur vortragen, man wolle sich alsbald in eine SE umwandeln und könne so das Statusverfahren beenden.68 Im Ergebnis hat daher ein Gericht, auch dann über ein Statusverfahren zu entscheiden, wenn ein solches Verfahren erst eingeleitet wird, wenn die Umwandlung in eine SE geplant ist oder sich sogar bereits in der Umsetzung befindet und Zweifel am mitbestimmungsrechtlichen Status bestehen.69

IV. Fazit und Ausblick Die SE ist, wie die Empirie zeigt, in Deutschland angekommen. Auch haben die vergangenen Jahre gezeigt, dass es keine Notwendigkeit einer monistischen Unternehmensverfassung bei der AG gibt. Große Unternehmen wählen zumeist das dualis­ tische System und kleinere Unternehmen haben mit der SE eine Möglichkeit ihre Corporate Governance auf ein monistisches System anzupassen.70 Allerdings gibt es auch nach deutlich mehr als 10 Jahren, zahlreiche Rechtsfragen, die einer Antwort durch die Gerichte, aber auch durch den Gesetzgeber bedürfen. Zu nennen wären hier die Normierung einer Informationspflicht der Unternehmensleitung gegenüber den, dem Unternehmen bekannten und im Betrieb vertretenen, Gewerkschaften. Auch wäre eine Konkretisierung des, einen Neuverhandlungsanspruchs nach § 18 Abs. 3 SEBG auslösenden, Tatbestandes sinnvoll, um den Schutz der Mitbestimmung zu gewährleisten. Denkbar wäre z.B. klarzustellen, dass der Eintritt einer SE in eine KG als Komplementär sowie ein bestimmtes Anwachsen der beschäftigten Arbeitnehmer eine strukturelle Änderung darstellt. Letzteres ließe sich durch eine Regelung im deutschen Recht, die eine, wie in Österreich schon vorgenommene, Konkretisierung des Begriffspaars der strukturellen Änderung, einführen.71

68 Es gab bereits einen praktischen Fall: HansOLG v. 4.7.2017 – 11 W 19/17, ZIP 2017, 1622 f. 69 S.  hierzu auch: Forst in Gaul/Ludwig/Forst, Europäisches Mitbestimmungerecht, 2015, Rz.  464 und 479; ders. in Bergmann/Kiem/Mülbert/Verse/Witting, 10 Jahre SE, 2015, S. 62 ff. (der allerdings für die Frage das Statusverfahren nach Gründung der SE für das falsche Verfahren hält); ders., Die Beteiligungsvereinbarung nach § 21 SEBG, 2010, S. 2; Jacobs in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2012, § 35 SEBG Rz. 25b; der Bundesgerichtshof ist im Übrigen kürzlich vom Kontinuitätsprinzip abgewichen, indem er in den „Segelanweisungen“ dem OLG aufgab, eigenständig zu prüfen, ob das Unternehmen dem DrittelbG unterlag oder nicht, BGH v. 17.4.2018 – II ZR 277/16, ZIP 2018, 1173 ff., 1174 Rz. 16. 70 S. hierzu auch: Diskussionsbeitrag von Pütz bei Rautenstrauch, in Gesellschaftsrechtliche Vereinigung, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2012, 2013, S. 110. 71 Denkbar und nach Ansicht der Autoren auch zulässig wäre der Tatbestand, dass eine wesentliche Erhöhung der Arbeitnehmerzahlen beim gleichzeitigen Überschreiten eines Schwellenwertes der deutschen Mitbestimmungsgesetze eine Neuverhandlungspflicht für die Arbeitnehmerbeteiligung in der SE auslöst.

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Rechtmäßiges Alternativverhalten bei Verletzung eines Zustimmungsvorbehalts des Aufsichtsrats Inhaltsübersicht I. Einführung II. Pflichtverletzung, Schaden und Kausalität III. Zweck des Gesetzes

IV. Unternehmerische Entscheidungen und Business Judgment Rule V. Hypothetische Zustimmung der Hauptversammlung

I. Einführung In der Praxis kommt es immer wieder vor, dass Vorstandsmitglieder einer Aktiengesellschaft Geschäfte tätigen, für die ihnen die nach § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG nötige Zustimmung des Aufsichtsrats fehlt. Gelegentlich wird das Zustimmungserfordernis übersehen, in anderen Fällen nimmt der Vorstand an, der Aufsichtsrat werde auch ohne förmliche Befassung einverstanden sein. Der Vorstand einer Immobiliengesellschaft etwa hatte die erforderliche Zustimmung für den Erwerb einer Beteiligung an einem Londoner Hochhaus bis zu einem bestimmten Höchstbetrag eingeholt, schaltete den Aufsichtsrat aber nicht erneut ein, als der Preis stieg, sondern überschritt den ihm gesetzten Preisrahmen mit der Erwägung, der Aufsichtsrat werde nichts dagegen haben. In dem kürzlich vom BGH entschiedenen Fall Schloss Eller1 hatte der Aufsichtsrat einer städtischen Aktiengesellschaft der Sanierung eines Schlossensembles mit Gesamtkosten von 3,9 Mio. Euro zugestimmt. Nachdem sich herausstellte, dass die voraussichtlichen Kosten sich auf 6,4 Mio. Euro belaufen würden und sowohl der Aufsichtsratsvorsitzende (Oberbürgermeister der Stadt) als auch der Vorstand davon ausgingen, dass die Durchführung des Vorhabens unter diesen Umständen „politisch nicht durchsetzbar“ war, kamen Vorstand und Aufsichtsratsvorsitzender überein, das Vorhaben ohne nochmalige Befassung des Aufsichtsrats in grundlegend veränderter Form durchzuführen. In diesen und anderen Fällen kam es später zu einer Inanspruchnahme des Vorstands auf Schadensersatz, wogegen sich der Vorstand darauf berief, bei rechtmäßigem Verhalten, d.h. bei Einschaltung des Aufsichtsrats, wäre der Schaden auch eingetreten, weil der Aufsichtsrat die Zustimmung erteilt hätte. In der rechtswissenschaftlichen Literatur hält eine verbreitete Auffassung diesen Einwand für unzulässig weil sonst der Schutzzweck der Kompetenzregeln unterlaufen werde,2 während andere Stimmen in der Literatur den Einwand rechtmäßigen Alter1 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, NZG 2018, 1189 = AG 2018, 841. 2 Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 93 Rz. 196; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3.  Aufl. 2010, §  93 Rz.  54  f.; Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5.  Aufl. 2015, §  93 Rz.  416; Bürgers in Bürgers/Körber, AktG, 4.  Aufl. 2017, §  93 Rz.  23; Paefgen, AG 2014, 554/565; Bayer/Illhardt, GmbHR 2011, 751/754 f.

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nativverhaltens auch bei Kompetenzverstößen des Vorstands zulassen.3 Der BGH hatte schon bei der GmbH und bei der GmbH & Co. KG den Einwand pflichtgemäßen Alternativverhaltens bei Verstößen gegen die gesellschaftsrechtliche Kompetenzordnung zugelassen.4 Dabei ging es um die fehlende Beschlussfassung der Gesellschafterversammlung in Situationen, in denen die Gesellschafter verpflichtet gewesen wären, den Beschluss zu fassen,5 oder in denen jedenfalls sämtliche Gesellschafter mit der Geschäftsführungsmaßnahme einverstanden waren.6 In der Schloss Eller-Entscheidung hat der BGH diese Rechtsprechung auf das Zustimmungserfordernis des §  111 Abs.  4 Satz 2 AktG übertragen. Dieses Zustimmungserfordernis weise keine Besonderheiten auf, die es verbieten würden, die Rechtsprechung zu GmbH und GmbH & Co. KG zu übertragen.7 Die Gegenmeinung überdehne den Schutzzweck des § 93 Abs. 2 AktG, der sich darauf beschränke, Schäden der Gesellschaft auszugleichen, die ihr durch die Pflichtverletzung ihrer Vorstandsmitglieder entstanden seien, und der Entstehung solcher Schäden durch eine Steuerung des Verhaltens der Vorstandsmit­glieder vorzubeugen. Würde man dem Vorstand den Einwand abschneiden, bei Anrufung des Aufsichtsrats hätte dieser seine Zustimmung erteilt, hätte das zur Folge, dass bei Verstößen gegen Kompetenzvorschriften ein in § 93 Abs. 2 AktG nicht ­angelegter Strafschadensersatz konstruiert und der Norm ein ihr nicht zukommender besonderer Sanktionscharakter zugemessen würde, obwohl nach zivilrechtlichen Haftungsgrundsätzen ein solcher Schadensersatzanspruch abzulehnen wäre. Die Sank­tionierung von Fehlverhalten des Vorstands sei in solchen Fällen Gegenstand der P ­ ersonalkompetenz des Aufsichtsrats.8 Den Vorstand treffe für den Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens allerdings die Darlegungs- und Beweislast. Es müsse von ihm der „sichere Nachweis“ erbracht werden, dass der Schaden auf jeden Fall eingetreten wäre. Die bloße Möglichkeit und selbst die Wahrscheinlichkeit, dass er auch bei pflichtgemäßem Verhalten entstanden wäre, genügten nicht.9 In den bisherigen Besprechungen des Schloss Eller-Urteils hat die Zulassung des Einwands rechtmäßigen Alternativverhaltens bei Verletzung eines Aufsichtsratsvorbehalts nach § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG allgemeine Zustimmung erfahren.10 Kritik richtet 3 So z.B. Hüffer/Koch, AktG, 13.  Aufl. 2018, §  93 Rz.  50, §  111 Rz.  49; Roth/Altmeppen, ­GmbHG, 9. Aufl. 2019, § 43 Rz. 106; ders. in FS K. Schmidt, 2009, S. 23/36 ff.; Wiesner in MünchHdb. AG, 4. Aufl. 2015, § 26 Rz. 22; Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 93 Rz. 216; ders., DStR 2009, 1204, 1208 f.; Seebach, AG 2012, 70/73; Haarmann in FS Marsch-Barner, 2018, S. 182, 197 ff. 4 BGH v. 11.12.2006 – II ZR 166/05, ZIP 2007, 268 Rz. 11 f., 14; BGH v. 21.7.2008 – II ZR 39/07, ZIP 2008, 1818 Rz. 19; BGH v. 18.6.2013 – II ZR 86/11, BGHZ 197, 304 Rz. 32 f. 5 So in den Fällen BGH v. 11.12.2006 – II ZR 166/05, ZIP 2007, 268 Rz. 11; BGH v. 21.7.2008 – II ZR 39/07, ZIP 2008, 1818 Rz. 19. 6 So im Fall BGH v. 18.6.2013 – II ZR 86/11, BGHZ 197, 304 Rz. 32 f. 7 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, NZG 2018, 1189 Rz. 43. 8 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, NZG 2018, 1189/1193. 9 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, NZG 2018, 1189/1193. 10 Priester, EWiR 2018, 645 f.; Holle/Mörsdorf, NJW 2018, 3555/3556 f.; Fleischer, DB 2018, 2619/2623; Wilsing/von der Linden, NZG 2018, 1416/1417; Schilka/Theusinger, AG 2019, 26/27  f.; Binz, Der Aufsichtsrat 2018, 169; Weißhaupt, ZIP 2019, 202, 204; zustimmend auch Palandt/Grüneberg, BGB, 78. Aufl. 2019, Vorb. v. § 249 Rz. 64.

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sich eher dagegen, dass die Entscheidung – insbesondere bei den Anforderungen an die Beweisführung – noch zu strenge Anforderungen formuliere.11 Dabei kommt allerdings die Frage zu kurz, wie es sich mit den Regeln über die Entscheidungsfindung im Aufsichtsrat und den Anforderungen der Business Judgment Rule vertragen soll, einer hypothetischen Aufsichtsratszustimmung Entlastungswirkung beizumessen.

II. Pflichtverletzung, Schaden und Kausalität 1. Der Vorstand, der eine Geschäftsführungsmaßnahme durchführt, ohne die dafür nach §  111 Abs.  4 Satz 2 AktG erforderliche Zustimmung des Aufsichtsrats einzu­ holen, verhält sich pflichtwidrig. Entsteht der Gesellschaft aus der Geschäftsführungsmaßnahme ein Schaden, ist er daher gemäß §  93 Abs.  2 AktG zum Ersatz dieses ­Schadens verpflichtet. Dabei kann die unterbliebene Einbeziehung des Aufsichtsrats – darauf sei hier nur kurz hingewiesen – nicht nur auf der Ebene der Pflichtwidrigkeit des Vorstandshandelns, sondern auch auf der Ebene des Schadens Bedeutung gewinnen. Für die Ermittlung des Schadens sind grundsätzlich §§  249  ff. BGB anwendbar.12 Die Frage ist aber, ob das auch bei kompetenzwidrigen Geschäftsführungsmaßnahmen gelten kann, etwa beim Erwerb einer Beteiligung ohne die erforderliche Zustimmung des Aufsichtsrats. Gilt dann die Differenzhypothese mit der Folge, dass es an einem Schaden fehlt, wenn die Beteiligung ihren Preis wert war? Oder rechtfertigt der Zweck der Zustimmungsregelung die Annahme eines normativen Schadens, auch wenn nach der Differenzhypothese ein Vermögensschaden nicht gegeben ist? In Literatur und Rechtsprechung ist diese Frage bislang nicht abschließend geklärt.13 Ihr soll hier nicht weiter nachgegangen werden. 2. Die Lehre vom pflichtgemäßen Alternativverhalten betrifft den Zurechnungszusammenhang zwischen Pflichtverletzung und Schaden und rechnet dem Schädiger Schäden, die auch bei rechtmäßigem Verhalten entstanden wären, nicht zu, da solche Schäden vom Schutzzweck der Haftungsnorm regelmäßig nicht erfasst sind. Die Beweislast für Pflichtverletzung, Schaden und Kausalität bleibt bei dem Geschädigten, der Schädiger hat dann darzulegen und zu beweisen, dass der Schaden auch bei rechtmäßigem Verhalten eingetreten wäre.14 Es ist deshalb im Ausgangspunkt zutreffend, wenn der Bundesgerichtshof den Einwand des Vorstandsmitglieds, dass der Aufsichtsrat der Geschäftsführungsmaßnahme zugestimmt hätte, wäre er gefragt worden, der Kategorie des rechtmäßigen Alternativverhaltens zuordnet und die volle Darlegungs- und Beweislast dem Vorstandsmitglied auferlegt. 11 So namentlich Wilsing/von der Linden, NZG 2018, 1416/1417 f.; Bachmann in VGR, Jahrestagung 2018, 2019, S. 27 (Diskussionsbeitrag zum Referat Drescher). 12 Vgl. dazu etwa OLG Düsseldorf v. 28.11.1996 – 6 U 11/95, AG 1997, 231/237; Hüffer/Koch, AktG, 13.  Aufl. 2018, §  93 Rz.  47; Spindler in MünchKomm. AktG, 5.  Aufl. 2019, §  93 Rz. 192 13 Vgl. dazu etwa OLG München v. 17.9.1999 – 23 U 1514/98, AG 2000, 426; KG v. 17.12.2004 – 14 U 226/03, GmbHR 2005, 477; ausführlich Fleischer, DStR 2009, 1204/1205 ff. 14 Palandt/Grüneberg, BGB, 78. Aufl. 2019, Vorb. v. § 249 Rz. 66.

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In der Literatur ist dagegen eingewandt worden, tatsächlich gehe es bei der Frage, wie der Aufsichtsrat entschieden hätte, nicht um rechtmäßiges Alternativverhalten, sondern um die haftungsbegründende Kausalität. Wäre der Schaden auch bei fehlender Pflichtverletzung – hier: Einbeziehung des Aufsichtsrats – entstanden, fehle es von vornherein am „kausalen Band zwischen haftungsbegründender Pflichtverletzung und Schaden“.15 Diese Meinung hätte, träfe sie zu, die Folge, dass die geschädigte Gesellschaft aufgrund ihrer Darlegungs- und Beweislast für die Kausalität der Pflichtverletzung nach den üblichen Regeln beweisen müsste, dass der Aufsichtsrat, wäre er gefragt worden, nicht zugestimmt hätte. Dass das nicht richtig sein kann, ist offenkundig und veranlasst die Autoren zu der Annahme, hier müsse nach dem Schutzzweck der verletzten Haftungsnorm ausnahmsweise trotz fehlender Kausalität gehaftet werden.16 Der Gedankenfehler dieser Überlegung liegt darin, die Pflichtwidrigkeit in der unterlassenen Einbeziehung des Aufsichtsrats zu sehen. Der eigentliche Pflichtenverstoß liegt aber nicht darin, dass der Vorstand den Aufsichtsrat nicht um Zustimmung gebeten hat, sondern die Pflichtverletzung besteht in der Durchführung der Geschäftsführungsmaßnahme, der der Aufsichtsrat nicht zugestimmt hatte. Dass diese Geschäftsführungsmaßnahme zu einem Schaden geführt hat, ist nach allgemeinen Regeln von der Gesellschaft zu beweisen, aber der Einwand, derselbe Schaden wäre auch bei Einbeziehung des Aufsichtsrats eingetreten, weil dieser zugestimmt hätte, ist der Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens.

III. Zweck des Gesetzes Der BGH stützt seine Auffassung, der Einwand pflichtgemäßen Alternativverhaltens bei unterlassener Einschaltung des Aufsichtsrats sei zulässig, auf die Erwägung, § 93 Abs.  2 AktG verfolge den Zweck, Schäden der Gesellschaft auszugleichen, die ihr durch die Pflichtverletzung ihrer Vorstandsmitglieder entstanden seien und bereits der Entstehung solcher Schäden durch eine Steuerung des Verhaltens der Vorstandsmitglieder vorzubeugen. Es handele sich um eine Schadensnorm, nicht um ein Sanktionsinstrument für die Verletzung innergesellschaftlicher Kompetenzvorschriften.17 Dieser Beschreibung des Schutzzwecks von § 93 Abs. 2 AktG wird man folgen können, auch wenn das Gesetz den Zweck des Schadensausgleichs keineswegs „lupenrein“ verfolgt. Vielmehr lässt das Gesetz in der Regelung des § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG, die für die D&O-Versicherung einen zwingenden Selbstbehalt des Vorstands vorschreibt, den Zweck des Schadensausgleichs gegenüber dem der Verhaltenssteuerung zurücktreten und nimmt in Kauf, dass die Gesellschaft sich gegen mangelnde Leistungsfähigkeit des Vorstands insoweit nicht durch Abschluss einer Versicherung schützen kann. Gleichwohl ist dem BGH zuzustimmen, dass es § 93 Abs. 2 AktG in erster Linie um Schadensvermeidung und -ausgleich geht.

15 Holle/Mörsdorf, NJW 2018, 3555/3557. 16 Holle/Mörsdorf, NJW 2018, 3555/3556 f. 17 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, NZG 2018, 1189 Rz. 44.

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Der Bundesgerichtshof greift aber zu kurz, wenn er allein auf den Schutzzweck des § 93 Abs. 2 AktG abstellt. In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und in der Literatur ist immerhin anerkannt, dass sich auch aus dem Schutzzweck der verletzten Norm ergeben kann, dass eine Berufung auf pflichtgemäßes Alternativverhalten nicht zulässig ist,18 wofür als Beispiel gerade auch die Verletzung grundlegender Verfahrensnormen genannt wird.19 Es kann deshalb nicht allein um den Zweck des § 93 Abs. 2 AktG gehen, sondern einzubeziehen ist auch die Funktion des § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG. In einer der Besprechungen der Schloss Eller-Entscheidung wird dieser Gesichtspunkt erkannt und mit Recht darauf hingewiesen, dass eine Haftungsnorm unter Umständen nicht allein der Schadensvermeidung dient, sondern weitere Zwecke verfolgt, und dass es zur Klärung dieser Frage bei Haftungstatbeständen wie § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG unumgänglich ist, den Zweck der konkret verletzten Pflicht zu ergründen.20 Die Autoren meinen jedoch, auch der Zustimmungsvorbehalt des Aufsichtsrats sei nur ein Instrument der Überwachung des Vorstands und diene wie die Überwachungsaufgabe insgesamt nur der Schadensabwendung.21 Das ist aber ein eher veraltetes Verständnis von der Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats und der Bedeutung des Zustimmungsvorbehalts. Die Überwachungsaufgabe dient keineswegs nur der Schadensabwendung, sondern Aufgabe des Aufsichtsrats ist nach modernem Verständnis auch und in erster Linie die Beratung des Vorstands bei unternehmerischen Entscheidungen mit dem Ziel, die im Unternehmensinteresse beste Entscheidung zu finden.22 Der ­Zustimmungsvorbehalt des Aufsichtsrats ist auch nicht bloß ein Instrument der Überwachung des Vorstands, sondern der Aufsichtsrat soll bei besonders wichtigen Maßnahmen mitentscheiden und insofern an der Geschäftsführung beteiligt sein.23 Vorstand und Aufsichtsrat gemeinsam treffen bei Entscheidungen nach § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG die erforderlichen Abwägungen, welche Maßnahme sie in Ausübung des ihnen gemeinsam zustehenden unternehmerischen Ermessensspielraums als im besten Interesse des Unternehmens liegend treffen wollen. Die Mitentscheidungskompetenz des Aufsichtsrats und die gesetzlichen Regeln über eine ordnungsgemäße Entscheidungsfindung im Aufsichtsrat müssen deshalb die Antwort auf die Frage geben, ob die Rechtsordnung es hinnehmen kann, dass der Ausfall des Entscheidungsbeitrags des Aufsichtsrats durch eine hypothetische Z ­ ustimmungserklärung ersetzt wird, die der Aufsichtsrat angeblich getroffen hätte, wenn er gefragt worden wäre.

18 Vgl. nur BGH v. 19.7.2016 – VI ZR 75/15, NJW 2016, 3523 Rz. 7; BGH v. 20.4.2017 – III ZR 470/16, VersR 2018, 31 Rz. 53; Palandt/Grüneberg, BGB, 78. Aufl. 2019, Vorb. v. § 249 Rz. 65 19 Palandt/Grüneberg, BGB, 78. Aufl. 2019, Vorb. v. § 249 Rz. 65 m.w.N. 20 Holle/Mörsdorf, NJW 2018, 3555/3557. 21 Holle/Mörsdorf, NJW 2018, 3555/3557. 22 BGH v. 25.3.1991 – II ZR 188/89, BGHZ 114, 127/130; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, §  111 Rz.  13; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6.  Aufl. 2014, Rz. 103. 23 Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 111 Rz. 13; Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 111 Rz. 114; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl. 2014, Rz. 112.

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IV. Unternehmerische Entscheidungen und Business Judgment Rule 1. Für die Beantwortung dieser Frage muss zunächst ins Auge gefasst werden, dass es bei den Zustimmungsvorbehalten des Aufsichtsrats in aller Regel um unternehmerische Entscheidungen geht, für die das Gesetz sowohl dem Vorstand als auch dem Aufsichtsrat mit der Business Judgment Rule einen unternehmerischen Handlungsspielraum einräumt (§§  93 Abs.  1 Satz 2, 116 Satz 1 AktG). Dahinter steht die Erkenntnis, dass unternehmerische Entscheidungen zukunftsgerichtete Entscheidungen unter Unsicherheit sind, bei denen das Gesetz das Ergebnis des Entscheidungsprozesses nicht vorgeben kann. Bei solchen Entscheidungen gibt es innerhalb eines weiten Ermessensbereichs kein Richtig und kein Falsch. Gesetzliche Regeln können innerhalb dieses Ermessensbereichs das Entscheidungsergebnis nicht steuern, sondern sie können nur dafür sorgen, dass die Entscheidung durch einen ordnungsgemäßen Entscheidungsprozess legitimiert ist. Dazu gehört die Beteiligung der zuständigen Organe, und dazu gehört, dass diese Organe ihre Entscheidung sorgfältig treffen. Das Gesetz räumt Vorstand und Aufsichtsrat deshalb mit der Business Judgment Rule einen weiten unternehmerischen Handlungsspielraum ein, verlangt dafür aber im Gegenzug eine sorgfältige Entscheidungsfindung. Auch die ex post gesehen falsche und schädliche Entscheidung ist rechtmäßig, wenn sie den verfahrensmäßigen Anforderungen des Gesetzes genügt. Dazu gehört nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG vor allem die Schaffung einer angemessenen Informationsbasis und die Pflicht zur persönlichen Urteilsbildung jedes einzelnen Aufsichtsratsmitglieds durch sorgfältige, allein am Wohl des Unternehmens ausgerichtete Abwägung der entscheidungsrelevanten Gesichtspunkte.24 2. Vor diesem Hintergrund ist zunächst klar, dass der Entscheidungsprozess des Vorstands, der den Aufsichtsrat pflichtwidrig nicht einbezieht, verfahrensfehlerhaft ist. Das hat jedenfalls zur Folge, dass der Vorstand sich nicht mehr auf die Business Judgment Rule berufen kann.25 Er konnte bei seiner Entscheidung nicht davon ausgehen, auf der Grundlage angemessener Informationen zu handeln, denn zu einem angemessenen Informationsbild hätte es auch gehört, sich Kenntnis von der Meinung des Aufsichtsrats zu verschaffen. Und ebenso wenig konnte der Vorstand davon ausgehen, zum Wohle der Gesellschaft zu handeln, wenn er die Verfahrensordnung der Ge­ sellschaft missachtet hat. Selbst wenn man für die unterlassene Einbeziehung des ­Aufsichtsrats den Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens zulässt, kann dieser Einwand nichts daran ändern, dass der Vorstand eine objektiv nachteilige Geschäftsführungsentscheidung getroffen hat, für die ihm der Schutz der Business Judgment Rule nicht zukommt. 24 BGH v. 18.6.2013 – II ZR 86/11, BGHZ 197, 304 Rz. 30; OLG Stuttgart v. 23.9.2012 – 20 U 3/11, ZIP 2012, 625 Rz. 165; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl. 2014, Rz. 887. 25 Im Ergebnis ebenso Seebach, AG 2012, 70/72 f., allerdings mit dem unzutreffenden Argument, es fehle bei Verletzung des Zustimmungsvorbehalts an einer unternehmerischen Entscheidung: die Geschäftsführungsmaßnahme, um deren Pflichtwidrigkeit es geht, bleibt auch dann eine unternehmerische Entscheidung, wenn ein Zustimmungsvorbehalt verletzt wird.

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3. Die eigentliche Frage ist aber, ob die Anforderungen an ein ordnungsgemäßes Entscheidungsverfahren es zulassen, eine Meinungsbildung des Aufsichtsrats, die gar nicht stattgefunden hat, durch eine hypothetische Aufsichtsratsentscheidung zu substituieren. Der BGH stellt diese Frage nicht. Er erörtert aber die Frage, ob der Wunsch des Alleinaktionärs die Vorstandshaftung ausschließen könne und lehnt das mit dem Argument ab, dass nach §  93 Abs.  4 Satz 1 AktG nur ein Beschluss der Hauptversammlung haftungsbefreiend wirke. Der Wunsch des Alleinaktionärs könne dem nicht gleichgestellt werden, weil sonst die Verfahrensvorschriften über die Beschlussfassung der Hauptversammlung unterlaufen würden.26 Ebenso hat der BGH es in ­einer früheren Entscheidung abgelehnt, den ohne die nach § 114 AktG nötige Zustimmung der Hauptversammlung abgeschlossenen Beratervertrag mit einem Aufsichtsratsmitglied mit dem Argument zu akzeptieren, dass die Hauptversammlung, wenn ihr der Vertrag zur Zustimmung vorgelegt worden wäre, diese erteilt hätte; auch das hat der BGH zu Recht mit dem Argument begründet, dass andernfalls die Mitwirkungsrechte der Minderheitsgesellschafter in unzulässiger Weise unterlaufen würden.27 Genau diese Frage stellt sich aber auch hier. Werden nicht die Vorschriften über die Beschlussfassung des Aufsichtsrats und die Mitwirkungsrechte aller Aufsichtsratsmitglieder unterlaufen, wenn man einem bloß hypothetischen Aufsichtsratsbeschluss, und wenn auch nur über die Rechtsfigur des rechtmäßigen Alternativverhaltens, rechtliche Bedeutung beimessen will? Der BGH betont zu Recht, dass dem Aufsichtsrat ein eigener unternehmerischer Handlungsspielraum im Rahmen der Business Judgment Rule zusteht, wenn er über die Erteilung der Einwilligung zu einem Geschäft entscheidet, für das ein unter­ nehmerischer Handlungsspielraum des Vorstands besteht.28 Wäre der Aufsichtsrat ordnungsgemäß einbezogen worden, hätte er sich, um den Anforderungen der Business Judgment Rule zu genügen, vollständig informieren und die für und gegen die vom Vorstand beabsichtigte Entscheidung sprechenden Gesichtspunkte ermitteln und gegeneinander abwägen müssen. In einem solchen Entscheidungsprozess hätten alle Aufsichtsratsmitglieder die Gelegenheit gehabt, entscheidungsrelevante Gesichtspunkte mit dem Vorstand zu diskutieren und untereinander Argumente für und gegen die Entscheidung auszutauschen. Ein solcher Entscheidungsprozess aber hat nicht stattgefunden und nachträgliche Erwägungen, wie der Aufsichtsrat wohl abgestimmt hätte, wenn er mit der Frage befasst worden wäre, können einen ordnungsgemäß durchgeführten Entscheidungsprozess nicht nachbilden. Deshalb kann es die Rechtsordnung gerade im Bereich der unternehmerischen Ermessensentscheidung, wo nur der ordnungsgemäße Entscheidungsprozess die Entscheidung legitimiert, grundsätzlich nicht akzeptieren, dass an die Stelle einer ordnungsgemäß herbeigeführten Entscheidung eine im Nachhinein ermittelte hypothetische Entscheidung treten soll. Besonders deutlich zeigt sich die Problematik in dem Hinweis des Bundesgerichtshofs, auch wenn keine Pflicht des Aufsichtsrats zur Zustimmung bestehe, sei es ja nicht ausgeschlossen, dass er die Zustimmung erteilen könne, ohne sich pflichtwidrig 26 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, NZG 2018, 1189 Rz. 30. 27 BGH v. 25.3.1991 – II ZR 188/89, BGHZ 114, 127/135. 28 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, NZG 2018, 1189 Rz. 50.

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zu verhalten und die Zustimmung vom unternehmerischen Handlungsspielraum des Aufsichtsrats gedeckt wäre.29 Vom unternehmerischen Handlungsspielraum des Aufsichtsrats kann die Zustimmung zu einer Geschäftsführungsmaßnahme aber nur ­gedeckt sein, wenn den Anforderungen der Business Judgment Rule genügt wird und ein ordnungsgemäßer Entscheidungsprozess stattfindet. Bloß hypothetische Entscheidungen genügen diesen Anforderungen nicht. Lässt man über die Rechtsfigur des rechtmäßigen Alternativverhaltens hypothetische Aufsichtsratsentscheidungen genügen, wirft man damit sämtliche Anforderungen des Gesetzes an einen ordnungsgemäßen Entscheidungsprozess über Bord. Noch deutlicher wird das, wenn der BGH es für den Einwand des rechtmäßigen Alternativverhaltens sogar genügen lassen will, dass der Aufsichtsrat bei Beachtung des § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG in die betreffende Maßnahme „mehrheitlich“ eingewilligt hätte.30 In seiner zur GmbH & Co. KG entgangenen Entscheidungen vom 18.  Juni 2013 hat der BGH die Berücksichtigung einer hypothetischen Entscheidung der Gesellschafterversammlung mit Recht davon abhängig gemacht, dass „sämtliche Gesellschafter“ mit dem Handeln einverstanden waren.31 Mehrheitsentscheidungen können nicht genügen, denn für sie ist es unverzichtbar, dass die überstimmte Minderheit beteiligt wird und ihre Argumente vorbringen kann. Aus eben diesem Grund hat der BGH in seiner Entscheidung vom 25. März 1991 das Argument zurückgewiesen, wäre der dort in Rede stehende Vertrag der Hauptversammlung vorgelegt worden, hätte diese die Zustimmung erteilt.32 Für Aufsichtsratsentscheidungen gilt nichts anderes. Beschlüsse des Aufsichtsrats, die Mitwirkungsrechte seiner Mitglieder verletzen, sind nichtig.33 Wie soll die Rechtsordnung es dann akzeptieren können, einer bloß hypothetischen Mehrheitsentscheidung des Aufsichtsrats Rechtswirkungen beizumessen? Man wird dem entgegenhalten, auch der BGH verlange den „sicheren Nachweis“,34 dass der Aufsichtsrat zugestimmt hätte. Das ist gewiss eine hohe Anforderung, und mancher sieht deshalb in der Zulassung dieses Einwandes eine probatio diabolica.35 Aber immerhin hält der BGH diesen Nachweis für denkbar und einer Beweisaufnahme zugänglich. Aber wie sollte dieser Beweis denn geführt werden? Jedenfalls lassen sich die oben formulierten Bedenken nicht ausräumen, indem man etwa die Aufsichtsratsmitglieder als Zeugen zu der Frage vernimmt, wie sie abgestimmt hätten.36 Das Ergebnis von Abwägungen, die man nicht angestellt hat, und von Erörterungen, die nicht geführt wurden, lässt sich nicht feststellen. Wer nicht weiß, welche Gesichts29 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17,NZG 2018, 1189 Rz. 53 f. 30 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, NZG 2018, 1189 Rz. 45 31 BGH v. 18.6.2013 – II ZR 86/11, BGHZ 197, 304 Rz. 33. 32 BGH v. 25.3.1991 – II ZR 188/89, BGHZ 114, 127/135. 33 BGH v. 17.5.1993 – II ZR 89/92, BGHZ 122, 342/351; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 108 Rz. 26 f. 34 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, NZG 2018, 1189 Rz. 45. 35 Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 93 Rz. 416; Fleischer, DStR 2009, 1204/1209. 36 So aber Binz, Der Aufsichtsrat 2018, 169, der eine Befragung jedes einzelnen Aufsichtsratsmitglieds nach seinem hypothetischen Abstimmungsverhalten durch das Gericht für erforderlich und ausreichend ansieht; noch großzügiger Weißhaupt, ZIP 2019, 202, 211.

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punkte die Kollegen im Aufsichtsrat in die Diskussion eingebracht hätten, kann auch nicht wissen, wie er selbst die Frage beurteilt hätte, die ihm nicht gestellt wurde. Er kann es jedenfalls dann nicht wissen, wenn er seiner Verpflichtung zu eigenverantwortlicher, alleine am Unternehmensinteresse orientierter Entscheidung unter sorgfältiger Information und Abwägung aller relevanten Gesichtspunkte hätte genügen wollen. Die Lebenswirklichkeit mag anders sein. Natürlich wird es Aufsichtsratsmitglieder geben, die immer mit ihrem „Lager“ stimmen, gegenläufige Argumente nicht sorgfältig abwägen und als Zeuge bekunden würden, sie hätten der Entscheidung mit Sicherheit zugestimmt, z.B. weil sie Vorlagen des Vorstands immer zustimmen, das Projekt überzeugend fanden oder der Alleinaktionär sich dafür ausgesprochen hatte. Aber recht besehen wären solche Aussagen ohne Beweiswert. Wer sich als Aufsichtsratsmitglied rechtmäßig verhalten und seine Meinung sorgfältig bilden will, kann nicht wissen, wie er am Ende eines Entscheidungsprozesses abgestimmt hätte, der nicht stattgefunden hat. Man wird all das auch nicht anders beurteilen können, wenn der Aufsichtsrat seine Meinungsbildung nachholt und im Nachhinein einen Genehmigungsbeschluss fasst.37 Dass die Zustimmung nach § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG grundsätzlich nur als Einwilligung erfolgen kann und eine spätere Genehmigung nicht genügt,38 mag dem noch nicht entgegenstehen. Denn das Einwilligungserfordernis hat zwar zur Folge, dass ein Genehmigungsbeschluss an der Pflichtwidrigkeit der ohne Einwilligung durchgeführten Geschäftsführungsmaßnahme des Vorstands nichts ändern kann, würde es aber wohl nicht denknotwendig ausschließen, einen solchen Beschluss auf der Ebene der Kausalität zu berücksichtigen und im Rahmen rechtmäßigen Alternativverhaltens als Nachweis dafür genügen zu lassen, dass der Aufsichtsrat bei rechtzeitiger Einbeziehung zugestimmt hätte. Für die Akzeptanz eines Genehmigungsbeschlusses mag auch sprechen, dass der Aufsichtsrat dabei jedenfalls den Entscheidungsprozess nachholen würde und man insoweit einer ordnungsgemäßen Meinungsbildung näher käme als bei dem Versuch, aus anderen Umständen abzuleiten, wie der Aufsichtsrat abgestimmt hätte, wenn er einbezogen worden wäre. Aussagekraft zu der Frage, wie der Aufsichtsrat bei rechtzeitiger Einbeziehung abgestimmt hätte, könnte ein solcher Geneh­ migungsbeschluss aber ohnehin nur haben, wenn die Zusammensetzung des Aufsichtsrats im Zeitpunkt des Genehmigungsbeschlusses noch unverändert wäre, hätte nur ein einziges Mitglied gewechselt, ließe die Meinungsbildung des neu besetzten Aufsichtsrats keinesfalls den Nachweis zu, dass auch der Aufsichtsrat in seiner da­ maligen Besetzung zugestimmt hätte. Aber selbst bei einem personell unveränderten Aufsichtsrat wäre eine Genehmigungsentscheidung zu einem Zeitpunkt, in dem der Vorstand längst vollendete Tatsachen geschaffen hat, qualitativ etwas anderes als die Meinungsbildung über eine Einwilligung vor Durchführung der Maßnahme. Im Nachhinein ist der Aufsichtsrat weniger frei als vorher, und die Bereitschaft, die Geschäftsführungsmaßnahme „abzusegnen“, nachdem sie nun einmal ergriffen wurde, wird unter Umständen größer sein als zu einem Zeitpunkt, in dem auf die Maßnahme noch Einfluss genommen werden konnte. Deshalb wird im Ergebnis wohl auch ein 37 So aber Weißhaupt, ZIP 2019, 202, 211. 38 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, NZG 2018, 1189 Rz. 16 f.

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Genehmigungsbeschluss nicht genügen können, um allein auf ihn den Nachweis stützen zu können, der Aufsichtsrat hätte bei Beachtung des Zustimmungsvorbehalts die Einwilligung erteilt. Damit bleiben für den Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens im Ergebnis nur Fälle übrig, in denen der Entscheidungsprozess des Aufsichtsrats vor Durchführung der Geschäftsführungsmaßnahme tatsächlich stattgefunden hat, die Meinungen im Aufsichtsrat ausgetauscht waren und es aus irgendeinem Grund an einer förmlichen Beschlussfassung gefehlt hat, die der Sache nach nur noch eine Formalie gewesen wäre. In solchen Fällen, in denen dem Interesse der Gesellschaft an einer ordnungsgemäßen Meinungsbildung ihrer Organe in der Sache genügt ist, lässt der Zweck der gesetzlichen Regeln über die Mitwirkung und Entscheidungsfindung des Aufsichtsrats es zu, über die Rechtsfigur des rechtmäßigen Alternativverhaltens einen hypothetischen Zustimmungsbeschluss zu berücksichtigen. In allen anderen Fällen ist es aus tatsächlichen Gründen ausgeschlossen, überhaupt sicher zu ermitteln, wie der Aufsichtsrat entschieden hätte, jedenfalls aber kann es aus rechtlichen Gründen nicht akzeptiert werden, einer hypothetischen Aufsichtsratsentscheidung Rechtswirkungen zuzumessen, obwohl eine Meinungsbildung des Aufsichtsrats gar nicht stattgefunden hat. 4. Einzelne Autoren versuchen, diesem Dilemma zu entgehen, indem sie für die Frage des rechtmäßigen Alternativverhaltens nicht die hypothetische Entscheidung des konkreten Aufsichtsrats heranziehen wollen, der nicht einbezogen wurde, sondern die fiktive Entscheidung eines verantwortungsvoll handelnden abstrakten Aufsichtsrats.39 Dem scheint der BGH, auch wenn er sich zu der Frage nicht ausdrücklich äußert, mit Recht nicht folgen, sondern auf die hypothetische Entscheidung des konkreten Aufsichtsrats abstellen zu wollen.40 Die Gegenauffassung ist weder mit allgemeinem Schadensrecht, noch mit den Anforderungen eines ordnungsgemäßen Entscheidungsprozesses vereinbar. Nach allgemeinem Schadensrecht bedeutet rechtmäßiges Alternativverhalten, den Schädiger haftungsfrei zu stellen, wenn derselbe Schaden auch bei rechtmäßigem Verhalten eingetreten wäre. Bei rechtmäßigem Verhalten des Vorstands hätte aber nicht ein fiktiver Aufsichtsrat um Zustimmung gebeten werden müssen, sondern der konkrete Aufsichtsrat des Unternehmens. So wenig sich die Entscheidung, die dieser getroffen hätte, durch eine hypothetische Entscheidung substituieren lässt, so wenig lässt sie sich durch die Entscheidung eines fiktiven, sorgfältig handelnden Aufsichtsrats ersetzen. Die Mitglieder des Aufsichtsrats haben ihre Aufgaben höchstpersönlich wahrzunehmen (§ 111 Abs. 6 AktG). Nur sie sind dazu durch das jeweilige Wahlorgan legitimiert. Gerade weil es sich um eine unternehmerische Entscheidung handelt, bei der das Gesetz einen weiten unternehmerischen Ermessensspielraum zubilligt, ist die Einhaltung des gesetzlich vorgesehenen Verfahrens 39 So etwa Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 93 Rz. 50; Fleischer, DStR 2009, 1204/1209; Koch in FS Köndgen, 2016, S. 329, 343 ff. 40 Vgl. BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, NZG 2018, 1189 Rz. 45, wo der Nachweis gefordert wird, dass „der Aufsichtsrat“ in die betreffende Maßnahme „mehrheitlich“ eingewilligt ­hätte; so auch das Entscheidungsverständnis von Wilsing/von der Linden, NZG 2018, 1416/1417.

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unabdingbar. Das kann weder durch eine hypothetische Entscheidung des amtierenden, noch gar durch eine fiktive Entscheidung eines abstrakten Aufsichtsrats ersetzt werden. 5. Der BGH spricht zwei äußere Grenzen an, denen der Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens auch nach seiner Meinung unterliegen soll. Die eine Grenze sei erreicht, wo die Einwilligung des Aufsichtsrats ex ante betrachtet pflichtwidrig gewesen wäre.41 Das versteht sich, worauf auch der BGH hinweist, allerdings von selbst, denn in diesem Fall ist die Geschäftsführungsmaßnahme des Vorstands aus sich selbst heraus pflichtwidrig, nicht erst wegen der fehlenden Zustimmung des Aufsichtsrats. In diesem Fall stellt sich die Frage, ob die fehlende Zustimmung nach den Regeln des rechtmäßigen Alternativverhaltens ersetzt werden kann, also gar nicht. Die andere Grenze will der BGH dort sehen, wo der Aufsichtsrat bei pflichtgemäßem Verhalten die Zustimmung hätte erteilen müssen. Das ist ein sehr theoretischer Fall, und schon der BGH selbst weist darauf hin, dass eine Zustimmungspflicht „nur selten bestehen“ werde.42 Wo sie aber tatsächlich bestehen sollte, wird man für diesen Sonderfall den Einwand des rechtmäßigen Alternativverhaltens zulassen müssen. Denn hier hat der Aufsichtsrat nichts mehr abzuwägen und zu entscheiden, sondern seine Zustimmung ist lediglich eine Formalität. Die vorstehenden Überlegungen, die es verbieten, eine fiktive unternehmerische Entscheidung des Aufsichtsrats im Rahmen rechtmäßigen Alternativverhaltens zu berücksichtigen, greifen nicht ein, wo keine unternehmerische Entscheidung zu treffen ist, sondern eine Zustimmungspflicht feststeht.

V. Hypothetische Zustimmung der Hauptversammlung Der Fall Schloss Eller gibt schließlich Anlass zu der Frage, ob, wenn nicht die Zustimmung des Aufsichtsrats, dann doch die Zustimmung der Hauptversammlung als rechtmäßiges Alternativverhalten in Betracht gezogen werden kann. Im Falle Schloss Eller handelte es sich um eine Gesellschaft mit einem Alleinaktionär, in anderen Fällen mag ein Mehrheitsaktionär vorhanden sein. Kann sich der Vorstand, der die Zustimmung des Aufsichtsrats pflichtwidrig nicht eingeholt oder aus anderen Gründen seine Pflichten verletzt hat, dann darauf berufen, wenn er die Geschäftsführungsmaßnahme gemäß § 119 Abs. 2 AktG der Hauptversammlung vorgelegt hätte, hätte diese haftungsbefreiend (§ 93 Abs. 4 Satz 1 AktG) zugestimmt? Der BGH hat sich in der Schloss Eller-Entscheidung mit der Frage befasst, ob die Einwilligung des Alleinaktionärs in das haftungsbegründende Geschäft die Haftung entfallen lasse. Er hat das mit der Erwägung verneint, eine formlose Zustimmung des Alleinaktionärs könne zur Haftungsentlastung nicht genügen, weil dies zu einer Umgehung des § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG und der zwingenden Verfahrensvorschriften über 41 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, NZG 2018, 1189 Rz. 51 f. 42 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, NZG 2018, 1189 Rz. 51 m.w.N.

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die Zustimmung der Hauptversammlung führen würde.43 Das schließt aber die Frage nicht aus, ob dem Vorstand dann nicht der Einwand offenstehen muss, wenn er die Maßnahme nach § 119 Abs. 2 AktG der Hauptversammlung vorgelegt, hätte diese die Zustimmung erteilt. Die Einholung der Zustimmung der Hauptversammlung stellt eine rechtmäßige Alternative zur Zustimmung des Aufsichtsrats dar, denn es entspricht der ganz herrschenden Meinung in der Literatur, dass eine Anrufung der Hauptversammlung nach § 119 Abs. 2 AktG den Zustimmungsvorbehalt nach § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG ausschaltet.44 Wenn der BGH eine hypothetische Zustimmungsentscheidung der Hauptversammlung nach § 119 Abs. 2 AktG nicht in Betracht gezogen hat, mag es am Sachvortrag des Beklagten oder daran gelegen haben, dass diese Alternative nach dem Willen der Parteien nicht in Betracht kam, da Vorstand und Oberbürgermeister sich anscheinend einig waren, eine Zustimmung zu den erhöhten Projektkosten sei „politisch nicht durchsetzbar“.45 Im Grundsatz ist der Einwand, bei Vorlage nach § 119 Abs. 2 AktG hätte die Hauptversammlung zugestimmt aber denkbar. Allerdings ist nach allgemeinen Grundsätzen des Schadensrechts Voraussetzung für den Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens, dass der Schädiger mit dem Alternativerhalten, auf das er sich beruft, denselben Erfolg tatsächlich herbeigeführt hätte, während die bloße Möglichkeit, ihn rechtmäßig herbeiführen zu können, nicht ausreicht.46 Deshalb genügt es z.B. im Amtshaftungsprozess wegen einer rechtswidrigen Verwaltungsmaßnahme nicht, dass der gleiche Erfolg auch durch eine rechtmäßige Entscheidung hätte herbeigeführt werden können, sondern darauf kann sich die Behörde nur berufen, wenn entweder eine Pflicht zu dem in Frage stehenden Alternativ­ verhalten bestand oder anhand der sonstigen Übung der Behörde feststeht, wie sie sich verhalten hätte.47 Deshalb würde es auch für die Berufung auf einen hypothetischen Hauptversammlungsbeschluss nach § 119 Abs. 2 AktG nicht genügen, nur auf die abstrakte Möglichkeit eines solchen Beschlusses hinzuweisen, sondern der Vorstand müsste darlegen und beweisen, dass er einen solchen Beschluss tatsächlich herbeigeführt hätte. Das wird in aller Regel nicht darzulegen sein, denn das „normale“ Verhalten eines Vorstands, der den Zustimmungsvorbehalt des Aufsichtsrats übersieht, ist es nicht, nach § 119 Abs. 2 AktG die Hauptversammlung anzurufen, sondern sich an den dafür zuständigen Aufsichtsrat zu halten.

43 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, NZG 2018, 1189 Rz. 29. 44 Mülbert in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2017, § 119 Rz. 194; Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 119 Rz. 24; Spindler in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 119 Rz. 19; Bungert, MünchHdb. AG, 4. Aufl. 2015, § 35 Rz. 19; einschränkend Dietz-Vellmer, NZG 2014, 721/724 f., der eine vorherige Vorlage an den Aufsichtsrat verlangt. 45 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, NZG 2018, 1189 Rz. 35. 46 BGH v. 20.4.2017 – III ZR 470/16, VersR 2018, 31 Rz. 53; BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, NZG 2018, 1189 Rz. 45; BGH v. 25.11.1992 – VIII ZR 170/91, BGHZ 120, 281/287. 47 Deutlich insbes. BGH v. 30.4.1959  – III ZR 4/58, NJW 1959, 1316/1317; vgl. auch die Nachw. in Fußnote 46.

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Es mag Ausnahmefälle geben, in denen das anders ist. Dann dürfte in einer Gesellschaft mit einem Alleinaktionär der Einwand eines hypothetischen Zustimmungsbeschlusses nach § 119 Abs. 2 AktG als rechtmäßiges Alternativverhalten zu akzeptieren sein. Denn der Alleinaktionär ist in seiner Willensbildung frei, braucht sich nicht mit anderen Auffassungen auseinanderzusetzen und kann auch im Nachhinein sagen, wie er abgestimmt hätte, wenn ihm die Entscheidung zur Beschlussfassung vorgelegt worden wäre. Gleiches wird gelten, wenn zwar kein Alleinaktionär vorhanden ist, aber der Nachweis erbracht wird, dass die Aktionäre einem Beschluss nach §  119 Abs. 2 AktG einstimmig zugestimmt hätten. Der Unterschied zum Aufsichtsrat, bei dem es weder möglich noch rechtlich akzeptabel wäre, einer hypothetischen Entscheidung Rechtsfolgen zuzumessen, liegt hier darin, dass für die Entscheidungsfindung der Hauptversammlung andere Maßstäbe gelten als für den Aufsichtsrat. Aktionäre sind in ihrem Stimmverhalten frei und können, wenn sie sich einig sind ebenso wie ein Alleinaktionär „grundsätzlich schalten und walten … wie es … beliebt“.48 Der Aktionär ist bei seiner Stimmrechtsausübung bis zur Grenze der mitgliedschaftlichen Treuepflicht nicht an Sorgfaltspflichten und nicht an das Interesse des Unternehmens gebunden, er muss sein Stimmrecht nicht höchstpersönlich ausüben, und er muss sich seine Meinung nicht auf der Basis angemessener Informationen und einer sorgfältigen Abwägung bilden. Deshalb lassen sich die vorstehenden Überlegungen, die die Berücksichtigung einer hypothetischen Entscheidung des Aufsichtsrats wegen der besonderen Anforderungen an dessen Entscheidungsfindung ausschließen, auf eine Entscheidung der Aktionäre nicht übertragen. Kann der Vorstand den sicheren Nachweis führen, dass er für die schadenstiftende Geschäftsführungsmaßnahme die einstimmige Zustimmung der Hauptversammlung nach § 119 Abs. 2 AktG erhalten hätte, ist es daher folgerichtig, dem Nachweis dieses rechtmäßigen Alternativverhaltens enthaftende Wirkung beizumessen. Man kann sich allenfalls fragen, ob dieses Ergebnis in Widerspruch dazu steht, dass die Gesellschaft auch mit Zustimmung der Hauptversammlung erst drei Jahre nach Entstehung des Anspruchs auf Ersatzansprüche verzichten kann (§ 93 Abs. 4 Satz 3 AktG). Das dürfte jedoch nicht anzunehmen sein. Denn § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG setzt einen Schadensersatzanspruch voraus, während ein solcher im Falle des rechtmäßigen Alternativverhaltens gar nicht erst zur Entstehung gelangt. Nicht akzeptieren können wird man demgegenüber den Einwand, wäre die Hauptversammlung nach § 119 Abs. 2 AktG um Zustimmung gebeten worden, wäre ein solcher Beschluss zwar nicht einstimmig, wohl aber mehrheitlich zustande gekommen. Durch die Akzeptanz hypothetischer Hauptversammlungsbeschlüsse darf die Mitwirkungskompetenz der Minderheitsaktionäre nicht unterlaufen werden. Diese haben Anspruch darauf, dass eine Hauptversammlung durchgeführt, ihre Fragen be-

48 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, NZG 2018, 1189 Rz. 35.

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antwortet und ihnen Diskussionsbeiträge ermöglicht werden. Selbst bei einem tatsächlich gefassten Hauptversammlungsbeschluss, der Partizipationsrechte der Aktionäre in relevanter Weise verletzt, ändert sich nach den Grundsätzen der Relevanztheorie49 an dessen Nichtigkeit oder Anfechtbarkeit nichts, nur weil sicher ist, dass die Mehrheit den Beschluss ohne den Fehler in gleicher Weise gefasst hätte. Erst recht kann ein bloß hypothetischer Hauptversammlungsbeschluss unter Ausschaltung von Minderheitsrechten nicht akzeptiert werden.

49 Vgl. dazu nur BGH v. 18.10.2004 – II ZR 250/02, BGHZ 160, 385/391 f.; Hüffer/Schäfer in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 243 Rz. 31 f.

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Vorüberlegungen zur Reformbedürftigkeit des deutschen Wertpapierbegriffs aus Anlass von „initial coin offerings“ Inhaltsübersicht I. „ICO“ und „token“ II. Die Fragestellung III. Europarechtliche Vorgaben 1. Phänomenologie und Ähnlichkeits­ vergleich 2. Handelbare Kategorie a) Kategorie von Wertpapieren (­analytisch-definitorisch) b) Handelbarkeit auf dem Kapitalmarkt (phänomenologisch) c) Offenheit des europäischen Gesetz­ gebers für funktionale Ausnahmen? 3. Spezielle Wertpapierdefinitionen

IV. Der deutsche Wertpapierbegriff 1. Die Begriffskaskade des § 2 Abs. 1 WpHG a) „Übertragbarkeit“ als Handelbarkeit auf Kapitalmärkten b) Vergleichbarkeit nur mit Aktien? c) Standardisierung 2. § 2 Nr. 1 WpPG 3. § 1 Abs. 11 Satz 1 KWG 4. § 2 Abs. 2 WpÜG 5. §§ 193, 284 KAGB V. Token als Anlass und Testfall VI. Fazit: Reformbedürftigkeit des deutschen Wertpapierbegriffs?

Einen Beitrag zu einer Festschrift verfassen zu dürfen, ist stets nicht nur Ehre und besondere Freude, sondern beinhaltet die Herausforderung, ein den Jubilar jedenfalls nicht langweilendes sujet zu finden. Bei Ulrich Seibert ist das nicht schwierig – sein Interessenspektrum ist weit und die Gesetze, die seine Handschrift tragen, sind zahlreich, reichen sie doch vom Aktien- über das GmbH-, das Register- und Partnerschaftsgesellschaftsrecht bis zur Finanzmarktstabilisierung. So besteht Grund zur Hoffnung, dass er ein rechtspolitisches Thema, wie es nämlich um die Reformbedürftigkeit des deutschen Wertpapierbegriffs steht, als Geburtstagsgabe akzeptieren wird.

I. „ICO“ und „token“ Der Begriff ICO (oder: Initial Coin Offering, zunehmend auch „STO“ – „security token offering“) muss heute nicht mehr erklärt werden.1 Die an das IPO (Initial Public ­Offering) erinnernde Terminologie betrifft ganz unterschiedliche Formen der Kapitalaufnahme über das Internet außerhalb des herkömmlichen Prospekt- und Regis­ trierungsregimes. Beteiligt sind zunächst einmal zwei Gruppen von Akteuren: die Kapitalsucher und die Investoren. Typisch für die Kapitalsucher ist der Aufbau einer 1 Anders noch in Beiträgen aus den Jahren 2017/2018 bei Hacker/Thomale, ECFR 2018, 645, 652  ff.; Hoche/Lerp in Kunschke/Schaffelhuber (Hrsg.), FinTech, 2018, S.  223  ff.; Langen­ bucher, AcP 218 (2018), 383; Klöhn/Parhofer/Resas, ZBB 2018, 89; Zickgraf, AG 2018, 293.

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virtuellen Entität und deren Öffnung für Investoren, regelmäßig über das Internet.2 Bisweilen finden sich zusätzlich trust-ähnliche Strukturen, in welchen eingehendes Kapital, sei es Fiat- oder virtuelles Geld, gehalten wird.3 Investoren werden über private und/oder öffentliche Verkaufsplattformen angesprochen.4 Die Preisfindung erfolgt, abweichend von einem IPO, derzeit nicht über bookbuilding Verfahren, sondern als einfaches, unbedingtes Angebot, bisweilen kombiniert mit der verbilligten Ausgabe erster Tranchen. Für ihr Kapital erhalten die Investoren eine Gegenleistung, die verknappend meist als „token“ bezeichnet wird. Die Bandbreite derzeit angebotener token ist erheblich. Theo­ retisch entspricht sie derjenigen überhaupt denkbarer privater Vereinbarungen: alles was Personen einander versprechen können, lässt sich durch ein token repräsentieren.5 So verkörpern derzeit currency token Spielarten virtueller Währungen.6 Utility token ermöglichen die Inanspruchnahme bestimmter (im Regelfall: virtuell angebotener) Dienst- oder Werkleistungen. Dabei kann es sich um Cloud-Speicherplatz ebenso handeln wie um Nutzungsrechte an Software, Werbemöglichkeiten oder Ähnliches.7 Erinnern utility token phänomenologisch auf den ersten Blick an Produkte und der zugehörige Erwerbsvorgang an eine Konsumentscheidung, stehen andere token dem Erwerb von Rechten im Rahmen einer Investitionsentscheidung näher. Als equity, rights oder auch profit token werden Spielarten von token bezeichnet, die solche Rechte nachbilden, die üblicherweise einem Gesellschafter zustehen. Ein rights token mag dem Inhaber beispielsweise die Teilnahme an Abstimmungsentscheidungen ermöglichen. Der einem profit token zugrundeliegende smart contract könnte dafür sorgen, dass im Anschluss an eine solche Abstimmungsentscheidung automatisiert ein bestimmter Prozentsatz eingegangener Gewinne an die Geldgeber ausgeschüttet wird. Als equity token ließe sich dann die Bündelung mehrerer derartiger Charakteristika bezeichnen, die in ihrer Gesamtheit an die elektronische Nachbildung der Stellung eines persönlich haftenden Gesellschafters oder eines Aktionärs erinnert. Ohne Weiteres vorstellbar ist neben profit token auch ein debt token. Diesem würde ein smart contract zugrunde liegen, der eine periodisch wiederkehrende Zahlung bewirkt. Als investment token könnte man ein token ansprechen, welches die Stellung eines kapitalmäßig beteiligten Gesellschafters nachbildet. Zwischen sämtlichen angesprochenen token sind Mischformen denkbar. Ein häufig zitiertes Beispiel für eine 2 Man denke an The DAO, den ersten ICO, der auch außerhalb der Technik-Szene Beachtung fand. 3 Ein Beispiel hierfür ist der Tezos ICO, bei dem die eingeworbenen Gelder durch eine Stiftung nach schweizerischem Recht verwaltet werden. 4 S.  Rohr/Wright, Blockchain-Based Token Sales, Initial Coin Offerings, and the Democra­ tization of Public Capital Markets, Cardozo Legal Studies Research Paper No. 527, https:// ssrn.com/abstract=3048104. 5 Übersicht bei Hoche/Lerp in Kunschke/Schaffelhuber (Hrsg.), FinTech, 2018, S. 223 f.; Zickgraf, AG 2018, 293, 295 ff. 6 Z.B. Bitcoin, Bitcoin Cash, Ether, Dash. 7 Z.B. Filecoin; TON (Telegram).

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derartige Mischform bilden currency token. Sie mögen als produktähnlich wahrgenommen werden, wenn sie in einem Videospiel oder für eine Dienstleistung zum Einsatz kommen. An ein Investment erinnern sie, sofern der Erwerb in der Hoffnung auf eine Wertsteigerung und damit als Spekulationsobjekt erfolgt. Noch deutlicher wird der Mischcharakter, wenn das erworbene token einerseits der Kapitalaufbringung für ein überhaupt erst zu entwickelndes currency token dient, andererseits aber Vorkaufsrechte an der geplanten virtuellen Währung vereinbart werden.

II. Die Fragestellung Bereits dieser knappe Überblick über verschiedene Arten von token zeigt, dass die sich entwickelnde Terminologie und Charakterisierung im Fluss ist. Es überrascht deshalb nicht, dass der regulatorische Zugriff der Wertpapieraufsicht global betrachtet ganz unterschiedliche Wege geht.8 Manche Behörden subsumieren in einer Art Alles-oder-nichts-Lösung token möglichst umfassend unter einen breit gefassten Wertpapierbegriff, um ein einheitliches Regime zum Einsatz bringen zu können.9 Andere lehnen jede Verallgemeinerung ab und arbeiten sich schrittweise entlang der Besonderheiten jedes Einzelfalles voran.10 Noch andere versuchen sich an ersten Kategorisierungen.11 Gerichtliche Entscheidungen stehen bislang noch aus und zwar sowohl zu börsen- und wertpapierrechtlichen Fragen als auch zu vertrags- und verbraucherschutzrechtlichen Problemen, die sich insbesondere bei den produktähnlichen token zusätzlich stellen können. Für den Gesetzgeber, dem unser Jubilar seine Dienste zur Verfügung stellt, wirft diese noch undeutliche Entwicklung die Frage auf, ob die Zeit für einen ordnenden Zugriff bereits reif ist oder eine tastende Haltung nachhaltigere Ergebnisse verspricht. Die nachfolgenden Ausführungen stellen eine Vorüberlegung zu den sich bei diesem Anlass stellenden Fragen an, nämlich die Reformbedürftigkeit des deutschen Wertpapierbegriffs. 8 Überblick bei Hoche/Lerp in Kunschke/Schaffelhuber (Hrsg.), FinTech, 2018, S. 223, 229 f. 9 Z.B. China: People’s Bank of China, http://www.pbc.gov.cn/english/130721/3377816/index. html, Südkorea, https://www.reuters.com/article/us-southkorea-bitcoin/south-korea-bans-­ all-forms-of-initial-coin-offerings-idUSKCN1C408N (wobei das Verbot 2018 wieder teilweise zurückgenommen wurde, http://www.koreatimes.co.kr/www/tech/2018/05/​133_24​ 8349.html); in abgeschwächter Form auch USA: SEC, Release No. 10445 vom 11.12.2017, https://www.sec.gov/litigation/admin/2017/33-10445.pdf. 10 Z.B. Deutschland: BaFin, Hinweisschreiben WA 11 -QB 4100-2017/0010; UK: FCA, Distributed Ledger Technology, Feedback Statement on Discussion Paper 17/03, https://www.fca. org.uk/publication/feedback/fs17-04.pdf, S. 28 f.; (noch) Frankreich: Loi PACTE, https:// www.actualitesdudroit.fr/browse/tech-droit/blockchain/14290/initial-coin-offering-ico-ce-­ que-prevoit-le-projet-de-loi-pacte. 11 Z.B. Japan: Danwerth, ZVglRW 117 (2018), 117; Schweiz: FINMA, Wegleitung für Unterstellungsanfragen betreffend Initial Coin Offerings (ICOs), https://www.finma.ch/de/~/ media/finma/dokumente/dokumentencenter/myfinma/1bewilligung/fintech/wegleitung-­ ico.​pdf?la=de.

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III. Europarechtliche Vorgaben Wir haben bereits gesagt, dass die Vielfalt angebotener token Raum für ganz unterschiedliche Regulierungsstrategien bietet. Der europarechtliche Wertpapierbegriff selbst steckt noch in seinen dogmatischen Kinderschuhen, einschlägige Gerichtsentscheidungen fehlen bislang ebenso wie zupackende, gar internationale Kommentierungen. Mit der Abarbeitung einschlägiger Fälle sind derzeit vor allem die Regulierungsbehörden befasst. Ist dieser Zustand der Rechtssicherheit zweifellos abträglich, bietet sich doch die Chance eines gerade auf neue Marktentwicklungen zugeschnittenen Regelungsgerüsts, die in einigen Rechtsordnungen bereits ergriffen wurde.12 Der europarechtliche Wertpapierbegriff lässt sich am besten anhand von Art. 4 Abs. 1 Nr. 44 MiFID II erschließen. Die Vorschrift darf als eine Art europarechtliche Basisdefinition bezeichnet werden, die von zahlreichen sekundärrechtlichen Normen in Bezug genommen wird. Wichtigstes Beispiel hierfür sind die Art. 2 Abs. 1 lit. a der Prospektrichtlinie13 sowie Art. 2 lit. a der Prospektverordnung 2017.14 Ansatzpunkt ist der Begriff des „übertragbaren Wertpapiers“:15 Für die Zwecke dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck […] 44. „übertragbare Wertpapiere“ die Kategorien von Wertpapieren, die auf dem Kapitalmarkt gehandelt werden können, mit Ausnahme von Zahlungsinstrumenten, wie a) Aktien und andere, Aktien oder Anteilen an Gesellschaften, Personengesellschaften oder anderen Rechtspersönlichkeiten gleichzustellende Wertpapiere sowie Aktienzertifikate; b) Schuldverschreibungen oder andere verbriefte Schuldtitel, einschließlich Zertifikaten (Hinterlegungsscheinen) für solche Wertpapiere; c) alle sonstigen Wertpapiere, die zum Kauf oder Verkauf solcher Wertpapiere berechtigen oder zu einer Barzahlung führen, die anhand von übertragbaren Wertpapieren, Währungen, Zinssätzen oder -erträgen, Waren oder anderen Indizes oder Messgrößen bestimmt wird

Auf diese Definition nimmt auch die Marktmissbrauchsverordnung16 Bezug, allerdings mit einer etwas umständlicheren Verweiskette. Die MMVO stellt bekanntlich 12 Z.B. Frankreich: Loi PACTE, https://www.actualitesdudroit.fr/browse/tech-droit/block​chain/​ 14290/initial-coin-offering-ico-ce-que-prevoit-le-projet-de-loi-pacte; Schweiz: ­ FINMA, Wegleitung für Unterstellungsanfragen betreffend Initial Coin Offerings (ICOs), https:// www.finma.ch/de/~/media/finma/dokumente/dokumentencenter/myfinma/1bewilligung/ fintech/wegleitung-ico.pdf?la=de. 13 von Kopp-Colomb/J. Schneider in Assmann/Schlitt/von Kopp-Colomb, 3.  Aufl. 2017, §  2 WpPG Rz. 8; Heidelbach in Schwark/Zimmer, KMRK, 4. Aufl. 2010, § 2 WpPG Rz. 4. 14 Verordnung (EU) 2017/1129 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14.6.2017, ABl. EU Nr. L 168, S. 12. 15 Richtlinie 2014/65/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15.5.2014, ABl. EU Nr. L 173, S. 349. 16 Verordnung (EU) 596/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.4.2014, ABl. EU Nr. L 173, S. 1, zuletzt geändert durch Verordnung (EU) 2016/1033 vom 23.6.2016, ABl. EU Nr. L 175, S. 1.

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den Begriff des Finanzinstruments in den Mittelpunkt ihrer Regelungsordnung. Art. 3 Abs. 1 Nr. 1 MMVO referenziert für dessen Definition Art. 4 Abs. 1 Nr. 15 MiFID II, Annex I Abschnitt C. Hiernach fallen unter den Oberbegriff des Finanzinstruments unter anderem17 „übertragbare Wertpapiere“. Deren Definition richtet sich wiederum nach Art. 4 Abs. 1 Nr. 44 MiFID II. 1. Phänomenologie und Ähnlichkeitsvergleich Auffällig ist, dass die europarechtliche Definition des Wertpapiers weder analytisch-definitorisch vorgeht18 noch sich, wie das US-Recht,19 einem funktionalen Ansatz öffnet. An die Stelle einer Definition tritt zunächst einmal reine Phänomenologie.20 Benannt werden in Art.  4 Abs.  1 Nr.  44 lit.  a, b und c MiFID II jeweils ein paradigmatischer Fall, nämlich „Aktien“, „Schuldverschreibungen“ und „Wertpapiere, die zum Kauf oder Verkauf solcher Wertpapiere berechtigen“. Hieran schließt sich für die in lit. a angesprochenen Aktien ein Ähnlichkeitsvergleich. Erfasst werden Instrumente, die einem Unternehmensanteil „gleichzustellen“ sind. Anders als einige deutsche Kapitalmarktgesetze21 begrenzt die europarechtliche Vorgabe den Ähnlichkeitsvergleich nicht auf Aktien. Als Wertpapier qualifizieren sich vielmehr sämtliche Unternehmensanteile, auch wenn diese einem Anteil an einer Personengesellschaft oder einer anderen Rechtspersönlichkeit ähnlich sind. Unbenannt bleibt freilich das tertium comparationis. Ob für den Ähnlichkeitsvergleich etwa die Verkörperung des  Residualinteresses, die Gewähr einiger (oder umfassender)22 Mitgliedschaftsund/oder Vermögens-23 oder sonstiger gesellschaftsrechtlicher oder schuldrechtli17 Hinzu treten Geldmarktinstrumente, Fondsanteile, Derivate, derivative Instrumente für den Transfer von Kreditrisiken, finanzielle Differenzgeschäfte und Emissionszertifikate, s. Annex I, Abschnitt C (2)-(11), der Begriff des Finanzinstruments ist also weiter, Hopt/ Kumpan in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 5. Aufl. 2017, § 107 Rz. 22. 18 Hierzu unten III.2.a). 19 Hierzu vergleichend Hacker/Thomale, ECFR 2018, 645, 659  f.; Hoche/Lerp in Kunschke/ Schaffelhuber (Hrsg.), FinTech, 2018, S. 223, 231 ff.; Klöhn/Parhofer/Resas, ZBB 2018, 89, 97  f.; Langenbucher, RTDF 2/3 2018, 40  ff.; dies. in Allen/Faia/Haliassos/Langenbucher (Hrsg.), Capital Markets Union and Beyond, 2019. 20 „Typologische Aufzählung“: Fuchs in Fuchs, 2. Aufl. 2016, § 2 WpHG Rz. 9 (der die MiFID als typologisch, das WpHG hingegen als „dogmatisch klarer“ (Rz. 9) einordnet, hierzu unten Fn. 46); Klöhn in Klöhn, MMVO, 2018, Art. 2 Rz. 8, dort auch zur (anderen Zwecken dienenden) Definition in IAS (International Accounting Standard) 39, der 2014 durch IFRS (International Financial Reporting Standard) 9 (anwendbar ab 2018) ersetzt wurde. 21 S. unten IV. 22 In diese Richtung einige der Antworten auf die Befragung der AMF, AMF summary, 2018/02/22, http://www.amf-france.org/technique/multimedia?docId=workspace://Spaces​ Store/a9e0ae85-f015-4beb-92d2-ece78819d4da_en_1.1_rendition, S.  5 unter Verweis auf fehlende Rechtspositionen mit Blick auf Beteiligung am Liquidationserlös oder Aktionärsrechte mit Blick auf die Tagesordnung einer Hauptversammlung oder Anwesenheitsrechte bei einer Hauptversammlung. 23 Die beiden genannten Merkmale halten Klöhn/Parhofer/Resas, ZBB 2018, 89, 101 im ersten Zugriff für entscheidend (dann aber „Transplantation“ des US-amerikanischen „Howey“-​ Tests, s. unten VI.).

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cher Rechte,24 die Handelbarkeit, oder das Potential einer Wertsteigerung entscheidend ist, bleibt offen.25 Das ist unter anderem deshalb misslich, weil bereits der Begriff der „Aktie“ europarechtlich nicht definiert ist.26 Noch einsilbiger verhält sich der europäische Gesetzgeber mit Blick auf die in lit. b angesprochenen debt Instrumente. Hier bilden Schuldverschreibungen das Paradigma und es fallen solche Instrumente unter den Ähnlichkeitsvergleich, bei denen es sich um „andere verbriefte Schuldtitel“ (engl.: „other forms of securitised debt“; frz.: „autres titres de créance“; ital.: „altri titoli di debito“) handelt. Immerhin lässt sich dem Sprachenvergleich entnehmen, dass mit der „Verbriefung“ des Schuldtitels nicht die Herstellung einer Urkunde gemeint sein kann. Erfasst sind deshalb nach ganz herrschender Meinung insbesondere auch die Wertrechte der öffentlichen Hand.27 Wie bereits in lit. a fehlt aber ein tertium comparationis, bleibt also im Dunkeln, in welcher Hinsicht der Ähnlichkeitsvergleich stattfinden soll und welche Charakteristika des Papiers hierfür entscheidend sein sollen. In lit. c wird schließlich vollständig auf einen Ähnlichkeitsvergleich verzichtet. Diskutabel ist der vereinzelt vorgebrachte Vorschlag, die in lit. a bis c aufgezählten Wertpapiere als reine Regelbeispiele zu verstehen, die der Einordnung anderer Papiere gegenüber vollständig offen sind.28 Mit dem Wortlaut ist diese Auslegung zwar vereinbar. Begriffsleitend wäre dann freilich nur die „Handelbarkeit auf dem Kapitalmarkt“29 und der Rechtsanwender bliebe in der Sache auf die Konkretisierung durch Gerichte verwiesen, die noch immer ohne tertium comparationis auszukommen hätten. 2. Handelbare Kategorie Für die weitere Konkretisierung des europarechtlichen Wertpapierbegriffs ergeben sich aus dem Wortlaut des Art. 4 Abs. 1 Nr. 44 MiFID II vor allem zwei definitorische Komponenten: die Handelbarkeit und die Zugehörigkeit zu einer „Kategorie“ von Wertpapieren.30 Nicht erfasst sind Zahlungsinstrumente.

24 So die BaFin, Hinweisschreiben WA 11 -QB 4100-2017/0010. 25 Allgemein für „funktionale Vergleichbarkeit“ mit den aufgeführten Regelbeispielen Zickgraf, AG 2018, 293, 302. 26 Veil in Veil, European Capital Markets Law, 2. Aufl. 2017, S. 117. 27 Fuchs in Fuchs, 2.  Aufl. 2016, §  2 WpHG Rz.  11; Hopt/Kumpan in Schimansky/Bunte/ Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 5. Aufl. 2017, § 107 Rz. 23: Schuldbuchforderungen mit Verbriefung durch eine Registereintragung. 28 Roth in KölnKomm. WpHG, 2. Aufl. 2014, § 2 WpHG Rz. 42.; a.A. Klöhn/Parhofer/Resas, ZBB 2018, 89, 100; Spindler, WM 2018, 2109, 2112; Weitnauer, BKR 2018, 231, 233; Zickgraf, AG 2018, 293, 302; auch Blockchain Bundesverband, Regulierung von Token, 6.4.2018, https://www.bundesblock.de/wp-content/uploads/2019/01/180406-Token-Regulation-­ Paper-Version-2.0-deutsch_clean_14.00.pdf, S. 16 Nr. 3.1.1.5. 29 Hierzu sogleich III.2.b). 30 Zum deutschen Recht s. unten IV.1. 

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a) Kategorie von Wertpapieren (analytisch-definitorisch31) Der Normtext der Richtlinie spricht von „Kategorien von Wertpapieren“ (engl.: „classes“ of securities, frz.: „catégories“ de titres négociables, ital.: „categorie“ di valori). Der Begriff findet sich erneut in Art. 35 MiFID-DVO.32 Zieht die ganz herrschende Meinung die zuletzt genannte Vorschrift zu Recht zur Konkretisierung des Begriffs der „Kategorie“ heran, ist dem doch ein caveat voranzustellen. Art. 35 MiFID-DVO konkretisiert nicht den Wertpapierbegriff des Art. 4 Abs. 1 Nr. 44 MiFID II, sondern Art. 40 Abs. 1 MiFID I (entspricht Art. 51 Abs. 1, Unterabsatz 2 MiFID II). In dieser Norm geht es um die Zulassung von Finanzinstrumenten an einem geregelten Markt. Hierfür werden unterschiedliche Voraussetzungen aufgestellt, nämlich die Klarheit und Transparenz von Zulassungsregeln und die Gewährleistung einer fairen, ordnungsgemäßen und effizienten Handelsmöglichkeit. Für übertragbare Wertpapiere wird außerdem im Grundsatz die „freie“ Handelbarkeit verlangt, wenn diese an einem geregelten Markt zugelassen werden sollen. In diesem Zusammenhang betrifft Art. 35 der MiFID-DVO die Frage, wann von „freier“ Handelbarkeit gesprochen werden kann: (1) Übertragbare Wertpapiere gelten dann als im Sinne von Artikel 40 Absatz 1 der Richtlinie 2004/39/EG frei handelbar, wenn sie zwischen den Parteien eines Geschäfts gehandelt und anschließend übertragen werden können und wenn alle Wertpapiere innerhalb der gleichen Kategorie wie das besagte Wertpapier fungibel sind.

Liest man mit der deutschen Kommentarliteratur die Art. 35 MiFID-DVO und Art. 4 Abs. 1 Nr. 44 MiFID II zusammen, um auf diese Weise eine analytisch-definitorische Klärung der „Kategorie“ zu erhalten, lässt sich ableiten, dass eine „Kategorie“ offenbar  aus untereinander fungiblen, also austauschbaren, Papieren besteht. Das setzt wiederum voraus, dass das einzelne Papier durch abstrakt-generelle Merkmale charakterisiert ist.33 Bedeutungsgleich wird von einem „standardisierbaren“ Papier gesprochen.34 Individualisierte Finanzierungsvereinbarungen, die „spezielle Kundenwünsche […] hinsichtlich Laufzeit, Volumen und Basispreis“35 enthalten, sind folglich

31 Vgl. Schurz, Einführung in die Wissenschaftstheorie, 4. Aufl. 2006, S. 79, 85: der Wahrheitsgehalt analytischer Definitionen im Sinne der Wissenschaftstheorie folgt „allein aus der Bedeutung ihrer Begriffe, unabhängig von der faktischen Beschaffenheit der Welt“ (S. 85 f.). Dabei zeichnen sich analytisch-definitorische Begriffe dadurch aus, dass deren Wahrheitsgehalt an sog. Bedeutungskonventionen (hierzu Fn. 33) gebunden ist. Im Unterschied zu analytisch-logischen Sätzen folgt ihr Wahrheitsgehalt also nicht bereits aus deren logischer Form (zu diesen a.a.O. S. 83-85). 32 Verordnung (EG) Nr. 1287/2006 der Kommission vom 10.8.2006, ABl. EU Nr. L 241, S. 1. 33 Hierin liegt die „Bedeutungskonvention“ des Begriffs i.S.v. Fn. 31. Da es sich um eine normative Festsetzung des Gesetzgebers handelt, kann diese allerdings (insofern abweichend vom üblichen wissenschaftstheoretischen Begriff der Philosophie) nicht als „empirisch adäquat“ oder „inadäquat“ bezeichnet werden, vgl. hierzu Schurz, Einführung in die Wissenschaftstheorie, 4. Aufl. 2006, S. 86 f. 34 BT-Drucks. 16/4028, S. 54; Klöhn in Klöhn, MMVO, 2018, Art. 2 Rz. 19; s. außerdem unten IV.I.c). 35 BT-Drucks. 16/4028, S. 54.

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auszuscheiden. „Standardisiert“ ist als nicht-individualisiert zu begreifen.36 Fehlt die Standardisierung, so die zugrunde liegende Überlegung, wird meist auch die Handelbarkeit fehlen, weil ein individualisiertes Papier nicht ohne Weiteres auf einem Ka­ pitalmarkt angeboten werden kann. Für die Zwecke der Art.  40 MiFID I, Art.  35 ­MiFID-DVO leuchtet das ein, denn jedenfalls wenn es um die Zulassung zu einem geregelten Markt geht, steht die reibungslose Funktionsweise dieses Marktplatzes im Vordergrund. Ob die Standardisierung auch außerhalb dieses Kontexts zwingende Voraussetzung einer „Kategorie“ von Wertpapieren ist, steht damit allerdings nicht fest.37 b) Handelbarkeit auf dem Kapitalmarkt (phänomenologisch) Was man unter dem Kapitalmarkt zu verstehen hat, auf dem ein Papier handelbar sein muss, definiert der europäische Gesetzgeber nicht weiter.38 Die Kommission versteht den Begriff erneut phänomenologisch,39 wenn sie in einer Q&A Liste angibt, der Begriff sei „weit“ und umfasse jeden Kontext, in welchem Angebot und Nachfrage nach Wertpapieren aufeinandertreffen.40 Die deutsche Kommentarliteratur zieht überwiegend den Begriff des „Handelsplatzes“ aus Art. 4 Abs. 1 Nr. 24 MiFID II heran.41 Auch diese Norm enthält freilich keine Definition. Stattdessen findet sich dort eine Aufzählung derzeit gängiger Marktplätze, nämlich den geregelten Markt, die MTFs und die OTFs.42 Ob auch andere Märkte ganz generell oder jedenfalls für bestimmte gesetzgeberische teloi hierunter fallen können, bleibt unsicher. Die BaFin hält es für ausreichend, dass tokens zumindest abstrakt-generell auf dem geregelten Markt gehandelt werden könnten, auch wenn dies derzeit nicht der Fall ist.43 c) Offenheit des europäischen Gesetzgebers für funktionale Ausnahmen? Dass der europäische Gesetzgeber einer funktionalen Präzisierung seiner Definitionen jedenfalls nicht völlig ablehnend gegenübersteht, erhellt aber ein erneuter Blick auf die Art. 40 MiFID I, Art. 35 MiFID-DVO. Aus den dort vorgezeichneten teleologischen Überlegungen hat der europäische Gesetzgeber nämlich einen Ausnahmetatbestand abgeleitet. Sind die Abläufe an einem geregelten Markt ausnahmsweise nicht 36 Hoche/Lerp in Kunschke/Schaffelhuber (Hrsg.), FinTech, 2018, S. 221, 236. 37 S. unten V. 38 Hacker/Thomale, ECFR 2018, 645, 665; Seiler/Geier in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 5. Aufl. 2017, Vor § 104 Rz. 2. 39 S. oben III.1. 40 EU-Kommission, Your questions on MiFID, no. 115, http://ec.europa.eu/internal_market/ securities/docs/isd/questions/questions_en.pdf. 41 Klöhn in Klöhn, MMVO, 2018, Art. 2 Rz. 11; a.A. Zickgraf, AG 2018, 293, 301. 42 Vgl. im englischen text „capital market“ (Nr. 44) und „trading venue“ (Nr. 24) sowie im französischen Text „marché des capitaux“ (Nr. 44) und „plate-forme de négociation“ (Nr. 24). 43 Vgl, BaFin, Merkblatt – Hinweise zu Finanzinstrumenten nach § 1 Abs. 11 Sätze 1 bis 3 KWG, 20.12.2011, https://www.bafin.de/SharedDocs/Veroeffentlichungen/DE/Merkblatt/ mb_111220_finanzinstrumente.html.

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gestört, obgleich dort gehandelte Papiere nicht frei übertragen werden können, greift Art. 35 Abs. 2 MiFID-DVO: (2) Übertragbare Wertpapiere, die nicht uneingeschränkt übertragen werden können, gelten nicht als frei handelbar, es sei denn, diese Einschränkung beeinträchtigt voraussichtlich nicht die Funktionsweise des Marktes.

Auch „nicht uneingeschränkt“ übertragbare Wertpapiere können also offenbar im Sinne des Art. 40 MiFID I „frei handelbar“ sein. Die Zulassung zu einem geregelten Markt ist dann möglich, wenn die Marktabläufe durch die eingeschränkte Handelbarkeit voraussichtlich nicht beeinträchtigt werden. 3. Spezielle Wertpapierdefinitionen Neben der Basisdefinition der MiFID kennt das europäische Recht noch weitere Wertpapierbegriffe, die sich jeweils auf spezifische Einzelfragen beziehen. Soweit es um die Zulässigkeit von Rückkaufprogrammen und Stabilisierungsmaßnahmen nach Art. 5 MMVO geht, definiert Art. 3 Abs. 2a MMVO ein in den Genuss bestimmter Privilegierungen kommendes Wertpapier als i) Aktien und andere Wertpapiere, die Aktien entsprechen; ii) Schuldverschreibungen und sonstige verbriefte Schuldtitel oder iii) verbriefte Schuldtitel, die in Aktien oder andere Wertpapiere, die Aktien entsprechen, umgewandelt bzw. gegen diese eingetauscht werden können.

Um den Anlagenbestand eines Organismus für gemeinsame Anlagen in Wertpapiere zu fassen und dessen zulässige Anlagestrategien regulatorisch einzufangen, definiert Art. 2 Abs. 1 lit. n der OGAW-Richtlinie44 Wertpapiere als i) Aktien und andere, Aktien gleichwertige Wertpapiere („Aktien“) ii) Schuldverschreibungen und sonstige verbriefte Schuldtitel („Schuldtitel“) iii) alle anderen marktfähigen Wertpapiere, die zum Erwerb von Wertpapieren im Sinne dieser Richtlinie durch Zeichnung oder Austausch berechtigen.

Dass mit diesen auf partielle Sachverhalte zugeschnittenen Definitionen keine da­ rüber hinausgreifende Ausstrahlungswirkung begründet werden soll, hält Erwägungsgrund (35) der OGAW-Richtlinie ausdrücklich fest. Der Wertpapierbegriff der MiFID bleibt damit der europarechtliche Dreh- und Angelpunkt.

IV. Der deutsche Wertpapierbegriff Den europarechtlichen Wertpapierbegriff setzt das deutsche Recht in unterschiedlichen Gesetzen um. Dabei ist unstreitig, dass im kapitalmarktrechtlichen Zusammen44 Richtlinie 2009/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.7.2009, ABl. EU Nr. L 302, S. 32.

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hang der zivil- und wertpapierrechtliche Begriff des verbrieften Rechts, welches nur bei Innehabung der Urkunde ausgeübt werden kann, nicht einschlägig ist.45 Stattdessen formulieren die § 2 Abs. 1 WpHG, § 2 Nr. 1 WpPG, § 2 Abs. 2 WpÜG, § 1 Abs. 11 KWG, §§ 193, 284 KAGB einen eigenständigen Wertpapierbegriff. Die beschriebene, im Kern phänomenologische Herangehensweise des europäischen behält der deutsche Gesetzgeber bei,46 allerdings sind die Wertpapierdefinitionen der einzelnen Gesetze nicht vollständig kongruent.47 1. Die Begriffskaskade des § 2 Abs. 1 WpHG Anders als die europarechtliche Vorgabe setzt §  2 Abs.  1 WpHG nicht am Begriff „übertragbares Wertpapier“, sondern gleichsam einen Schritt früher, am Begriff „Wertpapier“ an. Klarstellend findet sich zunächst der Hinweis, dass es sich auch dann um Wertpapiere handeln kann, „wenn keine Urkunden über sie ausgestellt sind“.48 Sodann spricht der deutsche Gesetzgeber als „Wertpapiere im Sinne dieses Gesetzes“ nur diejenigen „Gattungen“ von Wertpapieren an, die „übertragbar“ und „ihrer Art nach auf Finanzmärkten handelbar“ sind.49 a) „Übertragbarkeit“ als Handelbarkeit auf Kapitalmärkten Durch diesen definitorischen „Schlenker“ wird die Interpretation der deutschen Norm unnötig kompliziert. Europarechtlich bedeutet „übertragbar“ nämlich: auf Kapitalmärkten handelbar und zugehörig zu einer Kategorie, ausgenommen sind nur Zahlungsinstrumente.50 Das WpHG verzichtet demgegenüber auf eine eigene Defi­ nition der Übertragbarkeit. Stattdessen formuliert § 2 Abs. 1 WpHG drei unterschiedliche Mengen. Die größte Extension hat die Menge aller Wertpapiere. Eine erste ­Teilmenge hiervon sind die Gattungen übertragbarer Wertpapiere. Hiervon bilden wiederum diejenigen übertragbaren Wertpapiere eine zweite Teilmenge, welche ihrer Art nach auf den Finanzmärkten handelbar sind. Das WpHG kennt somit eine komplementäre Teilmenge an Wertpapieren, die zwar übertragbar, aber nicht auf Finanzmärkten handelbar sind. Dem Europarecht ist eine derartige Teilmenge fremd. Die beschriebene Begriffskaskade führt dazu, dass unter dem WpHG zunächst zu fragen ist, ob es sich überhaupt um ein übertragbares Wertpapier im Sinne der ersten 45 Heidelbach in Schwark/Zimmer, KMRK, 4. Aufl. 2010, § 2 WpPG Rz. 3. 46 A.A. Fuchs in Fuchs, 2. Aufl. 2016, § 2 WpHG Rz. 9-10, der in den Kriterien „Standardisierung, Übertragbarkeit und marktmäßige Handelbarkeit“ (a.a.O. Rz.  10) einen dogmatischen Mehrwert des WpHG gegenüber der Richtlinie erblickt. Die Standardisierung leitet Fuchs allerdings aus der Bezugnahme auf „Gattungen“ ab, die ihrerseits auf den europarechtlichen Begriff der „Kategorie“ zurückgeht (s. oben III.2.a). Die „Übertragbarkeit“ findet sich in der Richtlinie, s. oben III., ebenso die „Handelbarkeit“. Dem deutschen Gesetzgeber dürfte deshalb nicht an einer eigenständigen Systematisierung gelegen haben. 47 Kumpan in Schwark/Zimmer, KMRK, 4. Aufl. 2010, § 2 WpHG Rz. 5. 48 Fuchs in Fuchs, 2. Aufl. 2016, § 2 WpHG Rz. 11 f. 49 BT-Drucks. 16/4028, S. 53. 50 S. oben III.

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Teilmenge handelt.51 Erst im nächsten Schritt gelangt man dann zur Überlegung, ob Handelbarkeit auf einem Finanzmarkt gegeben ist. In der Tat finden sich in der deutschen Kommentarliteratur eingehende Diskussionen über die Schädlichkeit bestimmter Übertragungshindernisse.52 So sollen etwa notarielle Formerfordernisse oder die Notwendigkeit einer schriftlichen Zessionserklärung disqualifizieren.53 Für unschädlich hält man demgegenüber beispielsweise Lock-up-Vereinbarungen oder die Vinkulierung von Namensaktien, bei welchen die Übertragung gemäß § 68 Abs. 2 AktG an die Notwendigkeit einer Zustimmung der Gesellschaft gebunden ist.54 Als maßgeblich für die jeweils zu treffende Entscheidung liest man von Topoi wie der „Zirkulationsfähigkeit“, der „zügigen Abwicklung im Handel“ oder der Existenz einer „Börsenzulassung“.55 Schon daraus erhellt, dass die europarechtlich vorgeformte Ausrichtung an der Handelbarkeit nahe liegt und sich in den phänomenologischen Rahmen gut einfügt. So überrascht es denn nicht, wenn ein erheblicher Teil der deutschen Kommentarliteratur diese terminologischen Überlegungen umgeht, indem die Übertragbarkeit und die Handelbarkeit schlicht als synonym begriffen werden.56 b) Vergleichbarkeit nur mit Aktien? § 2 Abs. 1 WpHG weicht noch in anderer Hinsicht von Art. 4 Abs. 1 Nr. 44 MiFID II ab. Als Regelbeispiel führt § 2 Abs. 1 Nr. 1 WpHG zunächst Aktien auf. Nr. 2 der Vorschrift benennt andere Unternehmensanteile, dies allerdings mit dem Zusatz soweit sie Aktien vergleichbar sind. Art. 4 Abs. 1 Nr. 44 MiFID II57 fasst den Ähnlichkeitsvergleich, wie soeben berichtet,58 weiter. Angesprochen sind zwar auch dort zunächst 51 Vor dem Hintergrund dieser definitorischen Komplikation leuchtet auch das besondere Interesse ein, welches im deutschen Schrifttum Art.  35 MiFID-DVO entgegengebracht wird (s. oben III 2 a). 52 Fuchs in Fuchs, 2. Aufl. 2016, § 2 WpHG Rz. 15. 53 Fuchs in Fuchs, 2.  Aufl. 2016, §  2 WpHG Rz.  15; Kumpan in Schwark/Zimmer, KMRK, 4. Aufl. 2010, § 2 WpHG Rz. 10. 54 BT-Drucks. 16/4028, S. 54; Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, 7. Aufl. 2019, § 2 WpHG Rz. 13; Klöhn in Klöhn, MMVO, 2018, Art. 2 Rz. 15 f.; vorsichtiger Kumpan in Schwark/Zimmer, KMRK, 4. Aufl. 2010, § 2 WpHG Rz. 10; für WpPG ebenso Heidelbach in Schwark/Zimmer, KMRK, 4. Aufl. 2010, § 2 WpPG Rz. 5. 55 Fuchs in Fuchs, 2. Aufl. 2016, § 2 WpHG Rz. 15. 56 Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, 7. Aufl. 2019, § 2 WpHG Rz. 14 („Das Merkmal der Übertragbarkeit eines Wertpapiers geht mithin in dem selektiveren der Handelbarkeit auf “); Fuchs in Fuchs, 2. Aufl. 2016, § 2 WpHG Rz. 16 („Handelbarkeit nimmt [die Einzelkriterien der Standardisierbarkeit und Übertragbarkeit] gewissermaßen in sich auf “); Hoche/Lerp in Kunschke/Schaffelhuber (Hrsg.), FinTech, 2018, S. 223, 233 („geht in dem Tatbestandsmerkmal der „Handelbarkeit auf dem Kapitalmarkt“ auf “); Klöhn in Klöhn, MMVO, 2018, Art. 2 Rz. 11 Fn. 17 („Übertragbarkeit vollständig im Merkmal der Handelbarkeit enthalten“); Kumpan in Schwark/Zimmer, KMRK, 4. Aufl. 2010, § 2 WpHG Rz. 11 („dem Merkmal der Übertragbarkeit kommt neben dem Merkmal der Handelbarkeit nur eingeschränkt Bedeutung zu“). 57 Wortgleich Art. 4 Abs. 1 Nr. 18 MiFID I. 58 S. oben III.1.

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Aktien. Weiter werden aber Wertpapiere erfasst, die „Aktien oder Anteilen an Gesellschaften, Personengesellschaften oder anderen Rechtspersönlichkeiten“ gleichzustellen sind. Die Vergleichbarkeit nur mit Aktien fand sich noch in der Wertpapierdienstleistungsrichtlinie 93/22/EWG,59 deren Art. 1 Nr. 4 „Wertpapiere“ unter anderem als „Aktien und andere, Aktien gleichzustellende Wertpapiere“ definiert hatte. Der deutsche Gesetzgeber mag diesen Vergleichsmaßstab vor Augen gehabt haben als er d ­ avon ausging, ein Anlagewert müsse Aktien vergleichbar sein.60 Für den gesetzgeberischen Schluss, es sei „zumindest eine Verkörperung in einer Art und Weise“ erforderlich, „die eine Anwendung der Vorschriften über den gutgläubigen Erwerb möglich macht“,61 bestand aber bereits nach Erlass der MiFID I kein Anlass mehr.62 Hieraus folgt auch zwanglos die Antwort auf die im deutschen Schrifttum umstrittene Frage, ob die Handelbarkeit auf Kapitalmärkten die Möglichkeit gutgläubigen Erwerbs des betreffenden Wertpapiers voraussetzt.63 Das ist zu verneinen, denn sowohl Art. 4 Abs. 1 Nr. 18a MiFID I als auch Art. 4 Abs. 1 Nr. 44 lit. a MiFID II stellen auf die Vergleichbarkeit mit Aktien oder mit Anteilen an Gesellschaften, Personengesellschaften oder anderen Rechtspersönlichkeiten ab. Damit erfasst eine europarechtskonforme Lesart der Vorschrift auch Wertpapiere, die durch Zession erworben werden, bei denen mithin ein gutgläubiger Erwerb mit Blick gerade auf eine Verkörperung des Papiers nicht möglich ist. c) Standardisierung Wir haben weiter oben schon gesehen, dass sekundärrechtlich „Kategorien“ von Wertpapieren angesprochen werden und hieraus der Verzicht auf individualisierte Vereinbarungen abgeleitet wird.64 Das WpHG spricht statt von „Kategorien“ von „Gattungen“, dass es dabei aber ebenfalls um Standardisierung gehen soll, hat der Gesetzgeber ausdrücklich klargestellt.65 Die Kommentarliteratur betont zu Recht, dass hiermit die erforderlichen Kriterien zur Beurteilung, wann von Standardisierung gesprochen werden kann, noch nicht explizit benannt sind.66 Auch für das deutsche Recht tritt der weiter oben beklagte Mangel an einem tertium comparationis hervor.67 59 Richtlinie 93/22/EWG des Rates vom 10.5.1993, ABl. EU Nr. L 141, S. 27; vgl. Ritz/Zeising in Just/Voß/Ritz/Zeising, 2009, § 2 WpPG, Rz. 16. 60 BT-Drucks. 16/4028, S. 54. 61 BT-Drucks. 16/4028, S. 54. 62 Die Folgen des Fehlens eines tertium comparationis zeigen sich übrigens auch hier. Selbst wenn man den Ähnlichkeitsvergleich nämlich auf Aktien beschränken wollte, steht keineswegs fest, dass die Ähnlichkeit gerade mit Blick auf die Verkörperung und die Ermöglichung eines gutgläubigen Erwerbs bestehen muss. 63 Dafür Kumpan in Schwark/Zimmer, KMRK, 4. Aufl. 2010, § 2 WpHG Rz. 9; unentschieden Fuchs in Fuchs, 2.  Aufl. 2016, §  2 WpHG Rz.18; Hoche/Lerp in Kunschke/Schaffelhuber (Hrsg.), FinTech, 2018, S. 221, 234; ablehnend Klöhn in Klöhn, MMVO, 2018, Art. 2 Rz. 17; Zickgraf, AG 2018, 293, 301. 64 S. oben III.2.a; Kumpan in Schwark/Zimmer, KMRK, 4. Aufl. 2010, § 2 WpHG Rz. 7. 65 BT-Drucks. 16/4028, S. 54. 66 Fuchs in Fuchs, 2. Aufl. 2016, § 2 WpHG Rz. 14. 67 S. oben III.1.

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2. § 2 Nr. 1 WpPG Die Definition des deutschen prospektrechtlichen Wertpapierbegriffs orientiert sich, wie auch das WpHG, am in der MiFiD vorgeprägten Begriff.68 Dabei enthält das WpPG dieselbe Begriffskaskade wie das WpHG: Aus der Klasse aller Wertpapiere, bildet das WpPG die Teilmenge übertragbarer Wertpapiere und von diesen wiederum die Teilmenge an einem Markt handelbarer Wertpapiere. Anders als das WpHG stellt das WpPG im Normtext nicht ausdrücklich klar, dass das Fehlen einer Urkunde unschädlich ist, ein entsprechender Hinweis findet sich aber in den Gesetzesmaterialien.69 Auch fehlt im Text eine Bezugnahme auf die „Kategorien“ oder „Gattungen“ von Wertpapieren, in der Gesetzesbegründung wird diese aber nachgeliefert.70 Näher am Richtlinientext als das WpHG bewegt sich § 2 Nr. 1 lit. a WpPG, wenn dort nicht nur auf die Vergleichbarkeit mit Aktien abgestellt wird,71 sondern alle diejenigen Wertpapiere erfasst werden, die „Aktien oder Anteilen an Kapitalgesellschaften oder anderen juristischen Personen vergleichbar sind“. Die „Personengesellschaften“ oder „anderen Rechtspersönlichkeiten“ der MiFiD erfasst der Wortlaut des WpPG hingegen nicht.72 Die Prospektverordnung,73 die in ihren wesentlichen Teilen ab 21. Juli 2019 gilt, verweist in Art. 2 lit. a für die Definition des Wertpapiers auf Art. 4 Abs. 1 Nr. 44 MiFID II. Spätestens ab diesem Zeitpunkt besteht somit vollständiger Gleichklang der Definitionen im Prospektrecht. 3. § 1 Abs. 11 Satz 1 KWG § 1 Abs. 11 Satz 1 KWG enthält seit 2013 keine Definition des Wertpapiers mehr,74 sondern nur noch die des „Finanzinstruments“, einen Oberbegriff, unter den neben dem Wertpapier noch weitere Finanzinstrumente fallen.75 Zu den im WpHG und im WpPG als Wertpapier adressierten Instrumenten zählen zunächst die in § 1 Abs. 11 Satz 1 Nr. 1 KWG aufgezählten Papiere. Das sind Aktien, aber auch „andere Anteile an in- oder ausländischen juristischen Personen, Personengesellschaften und sonsti68 BT-Drucks. 15/4999, S. 28; R. Müller in Müller, 2. Online-Auflage, 2017, § 2 WpPG Rz. 2. 69 BT-Drucks. 15/4999, S. 28; s. auch Hoche/Lerp in Kunschke/Schaffelhuber (Hrsg.), FinTech, 2018, S. 223, 233. 70 BT-Drucks. 15/4999, S.  28; Heidelbach in Schwark/Zimmer, KMRK, 4.  Aufl. 2010, §  2 WpPG Rz. 5; R. Müller in Müller, 2. Online-Auflage, 2017, § 2 WpPG Rz. 2. 71 S. soeben unter 1.b). 72 Heidelbach in Schwark/Zimmer, KMRK, 4. Aufl. 2010, § 2 WpPG Rz.5; R. Müller in Müller, 2. Online-Auflage, 2017, § 2 WpPG Rz. 2; Volhard/Wilkens, DB 2006, 2051, 2054; a.A.: Ritz/ Zeising in Just/Voß/Ritz/Zeising, 2009, § 2 WpPG Rz. 12; von Kopp-Colomb/J. Schneider in Assmann/Schlitt/von Kopp-Colomb, 3. Aufl. 2017, § 2 WpPG Rz. 11. 73 Verordnung (EU) 2017/1129 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14.6.2017, ABl. EU Nr. L 168, S. 12.  74 Art. 18 AIFM-UmsetzungsG vom 4.7.2013, BGBl. I 2013, 1981; krit. zur Systematik Schäfer in Boos/Fischer/Schulte-Mattler, 5. Aufl. 2016, § 1 KWG Rz. 277. 75 S. oben Fn. 74. 

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gen Unternehmen, soweit sie Aktien vergleichbar sind, sowie Hinterlegungsscheine, die Aktien oder Aktien vergleichbare Anteile vertreten“. Auch das KWG stellt zwar im Text nicht ausdrücklich klar, dass die Verbriefung des Papiers nicht erforderlich ist, setzt das aber voraus.76 Anders als das WpHG und das WpPG benennt das KWG ausdrücklich auch die Anteile an Personengesellschaften sowie an „sonstigen Unternehmen“.77 Vergleichsmaßstab ist freilich, insofern enger als Art. 4 Abs. 1 Nr. 44 MiFID II, wieder die Aktie. Gegenstand eingehender Diskussion war dies in Deutschland mit Blick auf Anteile an Investment-Personengesellschaften.78 Diese unterfallen heute dem KAGB. Ob es sich im Einzelfall um Papiere im Sinne von § 1 Abs. 11 Satz 1 Nr. 1 KWG handeln kann, ist deshalb von wenig praktischer Relevanz, weil § 1 Abs. 11 Satz 1 Nr. 5 KWG die Anteile im Sinne des § 1 KAGB ausdrücklich aufführt. §  1 Abs.  11 Satz 1 Nr.  3 KWG erfasst debt Instrumente, nämlich „Schuldtitel, ins­ besondere Genussscheine, Inhaberschuldverschreibungen, Orderschuldverschreibungen und diesen Schuldtiteln vergleichbare Rechte, die ihrer Art nach auf den ­Kapitalmärkten handelbar sind, mit Ausnahme von Zahlungsinstrumenten, sowie Hinterlegungsscheine, die diese Schuldtitel vertreten“. Derivate fallen unter Satz 1 Nr. 8, Satz 3 der Vorschrift. 4. § 2 Abs. 2 WpÜG Wesentlich enger liest sich naturgemäß die Definition des auf Kontrollerwerb und Unternehmensübernahmen zugeschnittenen §  2 Abs.  2 WpÜG.79 Wertpapiere im Sinne des WpÜG sind „Aktien, mit diesen vergleichbare Wertpapiere und Zertifikate, die Aktien vertreten [sowie] andere Wertpapiere, die den Erwerb von Aktien, mit diesen vergleichbaren Wertpapieren oder Zertifikaten, die Aktien vertreten, zum Gegenstand haben“.

Im Einklang mit § 2 Abs. 1 WpHG, aber abweichend vom WpPG, wird klargestellt, dass die Urkundenqualität für das betreffende Papier unerheblich ist. Auf die Übertragbarkeit eines Papiers geht § 2 WpÜG hingegen nicht ein. 5. §§ 193, 284 KAGB Der Wertpapierbegriff findet sich schließlich im Investmentrecht des KAGB bei der Regelung der zulässigen Anlagepolitik von OGAWs und Spezial-AIFs gemäß §§ 193, 284 KAGB. Dabei fehlt es allerdings an einer Definition, der Begriff wird zugleich in  Bezug genommen und definitorisch vorausgesetzt. Zu Recht legt die deutsche 76 Schäfer in Boos/Fischer/Schulte-Mattler, 5. Aufl. 2016, § 1 KWG Rz. 279. 77 Schäfer in Boos/Fischer/Schulte-Mattler, 5.  Aufl. 2016, §  1 KWG Rz.  280, dort auch zur 2007 geführten Diskussion über die Subsumtion von Anteilen an geschlossenen Fonds unter den Begriff des Finanzinstruments. 78 Schäfer in Boos/Fischer/Schulte-Mattler, 5. Aufl. 2016, § 1 KWG Rz. 281. 79 Kumpan in Schwark/Zimmer, KMRK, 4. Aufl. 2010, § 2 WpHG Rz. 5.

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Reformbedürftigkeit des deutschen Wertpapierbegriffs

Kommentarliteratur § 193 KAGB vor dem Hintergrund von Art. 2 Abs. 1 lit. n der OGAW-Richtlinie aus.80 Für § 284 KAGB orientiert man sich noch am – inzwischen außer Kraft getretenen – InvG.81

V. Token als Anlass und Testfall Die Einordnung der ICO-token in den Kontext des deutschen Wertpapierbegriffs bildete den Anlass für die hier angestellten Überlegungen, die auf eine Reform der heutigen Definition zielen. Dabei soll weniger die Subsumierbarkeit sämtlicher derzeit gängiger token-Varianten unter den Wertpapierbegriff interessieren als die methodologische Frage, auf welche Weise das deutsche Recht sich dieser Aufgabe nähert. Greift man das Merkmal der „Übertragbarkeit“ heraus,82 ist eindeutig, dass sich mit Blick auf token hieraus jedenfalls entnehmen lässt, dass (nur diejenigen) token, bei welchen die Weitergabe an einen Dritten technisch nicht möglich ist, keine übertragbaren Wertpapiere sein können.83 Einig ist man sich auch, dass jedenfalls reine currency token als „Zahlungsinstrument“ nicht unter den Wertpapierbegriff zu fassen sein dürften.84 Die BaFin hat currency token unter dem KWG als Rechnungseinheit eingeordnet. Eine erste Gerichtsentscheidung hat dem freilich widersprochen85 und dafür in der Literatur breite Zustimmung erfahren.86 Selbst wenn man der Ansicht der BaFin folgen wollte, ist unklar, ob hiermit Mischformen von token adäquat erfasst sind, die – heute oder später – möglicherweise zu Zahlungszwecken einsetzbar sind.

80 von Rom in Baur/Tappen, Investmentgesetze, 3. Aufl. 2016, § 193 KAGB Rz. 5: „eigener investmentrechtlicher Wertpapierbegriff “; Hartrott in Weitnauer/Boxberger/Anders, 2. Aufl. 2017, § 193 KAGB Rz. 13; vgl. auch Weitnauer, BKR 2018, 231, 234. 81 Zingler in Baur/Tappen, Investmentgesetze, 3. Aufl. 2016, § 284 KAGB Rz. 10; Blockchain Bundesverband, Regulierung von Token, 6.4.2018, https://www.bundesblock.de/wp-cont​ ent/uploads/2019/01/180406-Token-Regulation-Paper-Version-2.0-deutsch_clean_14.00. pdf, S. 18. 82 S. oben IV.1a. 83 Blockchain Bundesverband, Regulierung von Token, 6.4.2018, https://www.bundesblock. de/wp-content/uploads/2019/01/180406-Token-Regulation-Paper-Version-2.0-deutsch_ clean_14.00.pdf, S. 13 Nr. 3.1.1.1.; Hacker/Thomale, ECFR 2018, 645, 663 f.; Zickgraf, AG 2018, 293, 299. 84 BaFin, Hinweisschreiben WA 11 -QB 4100-2017/0010 S. 2; Hacker/Thomale, ECFR 2018, 645, 678 ff.; Weitnauer, BKR 2018, 231, 233; Zickgraf, AG 2018, 293, 306 f. 85 BaFin Hinweisschreiben, WA 11 -QB 4100-2017/0010 S. 4; Schwennicke in Schwennicke/ Auerbach, § 1 KWG Rz. 249; a.A. KG v. 25.9.2018, ZIP 2018, 2015 zu „bitcoins“; kritisch bereits Auffenberg, NVwZ 2015, 1184 ff. 86 Büch, EWiR 2018, 705; Beck/König, EuZW 2019, 42, 46; Froitzheim, BKR 2018, 473, 476 ff.; Klöhn/Parhofer, ZIP 2018, 2093, 2096 ff.; Lehmann, NJW 2018, 3734, 3737; jedenfalls für die strafrechtliche Beurteilung: Patz, MMR 2018, 828, 830 ff.

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Dass token auf dem Kapitalmarkt handelbar sind, nimmt die im Entstehen begriffene herrschende Meinung an.87 Stellt man hierfür mit der überwiegenden deutschen Literatur auf Art. 4 Abs. 1 Nr. 24 MiFID II ab,88 kommt es darauf an, ob sich der Vertrieb über „Kryptobörsen“, aber auch andere Formen des (Direkt-)Vertriebes über das Internet als geregelter Markt, MTF oder OTF begreifen lassen, vgl. Art. 4 Abs. 1 Nr. 2123 MiFID II. Die weiter gefasste Definition der EU-Kommission89 erlaubt das genannte Ergebnis bereits, sofern überhaupt derartiger Handel stattfindet und er sich nicht als Produkt- oder Konsumgütervertrieb bezeichnen lassen muss.90 Auch hier ist nicht klar, ob diese im Kern phänomenologisch ausgerichtete Überlegung Mischformen von token gerecht wird. Dieselbe definitorische Unschärfe beeinträchtigt außerdem die Einordnung von utility token.91 Über die Frage, ob token hinreichend standardisierbar sind, herrscht derzeit keine Einigkeit. Wer für entscheidend hält, dass eine emittentenübergreifende Standardisierung besteht,92 wird das häufig ablehnen.93 Wer dafür eintritt, eine Standardisierung durch einen einzigen Emittenten genüge, dürfte die Standardisierbarkeit für den Regelfall bejahen.94 Ähnliches bringen diejenigen vor, die von einer „functional perspective“ aus argumentieren.95 Ob es sich bei einem token um ein Wertpapier im Sinne der deutschen Definition handelt, hängt weiter vom Ergebnis des Ähnlichkeitsvergleichs ab.96 Entscheidend wird deshalb – beispielsweise für ein equity token97 – sein, ob den mit diesem verbundenen Transaktionen der Handel mit einem Anteil an einer Rechtspersönlichkeit ­zugrunde liegt. Für ein debt token98 wäre zu überlegen, ob von einem „anderen ver87 BaFin Hinweisschreiben, WA 11 -QB 4100-2017/0010 S. 2; Blockchain Bundesverband, Regulierung von Token, 6.4.2018, https://www.bundesblock.de/wp-content/uploads/2019/​ 01/180406-Token-Regulation-Paper-Version-2.0-deutsch_clean_14.00.pdf, S. 13 Nr. 3.1.1.1.; 3.1.1.2.1; Hacker/Thomale, ECFR 2018, 645, 665 f.; Hoche/Lerp in Kunschke/Schaffelhuber (Hrsg.), FinTech, 2018, S. 223, 235; Zickgraf, AG 2018, 293, 301. 88 S. oben III.2.b). 89 S. oben III.2.b). 90 S. die ebenfalls weite Begriffsbildung bei Hacker/Thomale, ECFR 2018, 645, 665. 91 Wertpapiereigenschaft ablehnend: Weitnauer, BKR 2018, 231, 233; im Grundsatz bejahend, dann für den Einzelfall differenzierend Zickgraf, AG 2018, 293, 304 f. („objektiv eher als Investment anzusehen […] oder eher als Kauf einer Ware bzw. Dienstleistung einzuordnen“); Wertpapiereigenschaft bejahend Hacker/Thomale, ECFR 2018, 645, 681  ff., wenn empirisch betrachtet die Mehrzahl der Investoren mit Gewinnerzielungsabsicht handelt und der Emittent das hätte wissen müssen. 92 Heidelbach in Schwark/Zimmer, KMRK, 4. Aufl. 2010, § 2 WpPG Rz. 5; Ritz/Zeising in Just/ Voß/Ritz/Zeising, 2009, § 2 WpPG Rz. 19 ff., 40; Maas in Assmann/Schlitt/von Kopp-Co​ lomb, 3. Aufl. 2017, § 1 VermAnlG Rz. 35; Sester, ZBB 2008, 369, 375, 378 f.: „standardisierte Asset-Klasse“; Voß, BKR 2007, 45, 51 ff., 53. 93 Unentschieden Hoche/Lerp in Kunschke/Schaffelhuber (Hrsg.), FinTech, 2018, S. 223, 236. 94 Zickgraf, AG 2018, 293, 300. 95 Hacker/Thomale, ECFR 2018, 645, 667. 96 S. oben IV.1.b). 97 S. oben I. 98 S. oben I.

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Reformbedürftigkeit des deutschen Wertpapierbegriffs

brieften Schuldtitel“ gesprochen werden kann. Utility token lassen sich von dieser beschreibend-katalogisierenden Definition häufig schlechter einfangen, sofern sie Rechte auf ein Produkt oder eine Dienstleistung, nicht hingegen auf eine Geldzahlung99 verkörpern. Besonders deutlich wird hier zuletzt die Bedeutung des Bezugsobjekts des Ähnlichkeitsvergleichs. Geht es nämlich um die Frage, inwieweit ein token der Stellung eines Aktionärs gleicht, wird häufig anders zu werten sein als wenn Maßstab der Anteil an einer LLC, partnership100 oder einem anderen Unternehmensanteil101 ist, oder es noch allgemeiner auf die Verkörperung von Rechten im token ankommen soll.102

VI. Fazit: Reformbedürftigkeit des deutschen Wertpapierbegriffs? Die Leistungsfähigkeit einer gesetzlichen Definition zeigt sich unter anderem daran, wie sie mit Innovationen zurechtkommt. Phänomenologische Definitionen haben es in dieser Hinsicht naturgemäß zunächst einmal schwer, weil sie Bestehendes beschreiben. Neues können sie nur dann adäquat einfangen, wenn sie eine überzeugende Basis für einen Ähnlichkeitsvergleich bieten. Hier wurde eine erste Schwachstelle des deutschen Wertpapierbegriffs deutlich, wenn § 2 Abs. 1 Nr. 2 WpHG, abweichend von den europarechtlichen Vorgaben, nur auf Ähnlichkeit mit Aktien Bezug nimmt. Mit der europarechtlichen Vorgabe gemein hat die deutsche Definition eine zweite Schwachstelle, nämlich den Mangel an klaren tertia comparationis. Der Testfall token illustriert eine Binsenweisheit der Logik: zwei Gegenstände gleichen und unterscheiden sich in einer unendlichen Menge von Kriterien. Entscheidend für einen Ähnlichkeitsvergleich ist folglich, ob sich diese in relevanter Hinsicht ähneln.103 Genau hierfür verweisen der deutsche wie der europäische Gesetzgeber den Rechtsanwender aber derzeit auf die eigene Intuition. Analytische Definitionen tun sich in dieser Hinsicht etwas leichter, soweit sie den Anspruch erheben können, ihr Bezugsobjekt auf angemessener Abstraktionsebene beschrieben zu haben. Ein Ansatz hierzu fand sich im Begriff der „Gattung“ bzw. „Kategorie“ von Wertpapieren, die allgemein als Standardisierbarkeit verstanden wird.104 Derzeit handelt es sich hierbei aber nur um einen einigermaßen isolierten analytischen Definitionsbaustein, dessen Potential weiter auszuschöpfen wäre.

99 S. hierzu die Bestandsaufnahme der AMF zum französischen Recht (Wertpapier als auf eine Geldzahlung gerichtet), Public consultation on Initial Coin Offerings S. 7 f. 100 Hacker/Thomale, ECFR 2018, 645, 668, 671 ff. 101 Zickgraf, AG 2018, 293, 303. 102 BaFin, Hinweisschreiben WA 11 -QB 4100-2017/0010 S. 2: „Gesellschafterrechte, schuld­ rechtliche Ansprüche, oder hiermit vergleichbare Ansprüche“; Weitnauer, BKR 2018, 231, 233. 103 Higgins, „The empty eloquence of fools“: Rhetoric in Classical Greece, Gleeson/Higgins, Rediscovering Rhetoric, 2008, S. 26 ff. 104 S. oben IV.1.c).

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Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass sich zahlreiche Stellungnahmen in der Literatur an funktionale Definitionen, insbesondere den US-amerikanischen ­Howey-Test, anlehnen wollen.105 Deren Vorteil liegt in ihrer Innovationsoffenheit. Ihre Herausforderung besteht darin, die in den Blick genommene Funktion zu isolieren und trennscharf in einer subsumierbaren Definition abzubilden.106 Weder die europarechtliche Vorgabe noch die deutsche Umsetzung lassen sich derzeit als funktional ausgerichtete Definition beschreiben, sieht man von der, in anderem Kontext stehenden, Ausnahmebestimmung des Art. 35 Abs. 2 MiFID-DVO ab. Die aufgezählten Schwachstellen betreffen fast durchgängig die europarechtliche ebenso wie die deutsche Definition des Wertpapiers. Für die mögliche Reformbedürftigkeit des deutschen Wertpapierbegriffs lassen sich daraus unterschiedliche Schlüsse ziehen. Eine „große Lösung“ hätte sich mit den konzeptionellen Grundlagen des Wertpapierbegriffs zu beschäftigen und eine Basisdefinition auszuarbeiten. Nahe­ liegend wäre es, diese mit Ausnahmeregelungen für bestimmte Bereiche, etwa das Übernahme- oder das Marktmissbrauchsrecht, zu versehen. Ob sich eine deutsche Vorreiterrolle in einem europarechtlich dicht regulierten Gebiet empfiehlt, ist eine Frage gesetzgeberischer Kosten-/Nutzenabwägung. Eine „kleine Lösung“ würde auf Schwachstellen gerade der deutschen Regulierung fokussieren. Hierzu zählt die nicht durchgängig geglückte Abstimmung des Ähnlichkeitsvergleichs in unterschiedlichen Umsetzungsgesetzen107 mit den sekundärrechtlichen Vorgaben in der MiFID II, die verbliebenen Unklarheiten über die Bedeutung des gutgläubigen Erwerbs für die Wertpapiereigenschaft108 und zuletzt das Fehlen einer Abstimmung der Wertpapierdefinition über die genannten fünf Gesetze.109 Ob das Haus des Jubilars geneigt ist, sich dieser Aufgabe anzunehmen, wird die Zukunft zeigen.

105 Vgl. (unter Berufung auf Erwägungsgrund (8) MiFID II) Klöhn/Parhofer/Resas, ZBB 2018, 89, 101 („Grundsätze […] können und sollen deshalb in das europäische Recht transplantiert werden“); Hacker/Thomale, ECFR 2018, 645, 682 f.; ähnlich auch Zickgraf, AG 2018, 293, 305 f. 106 Hierzu Langenbucher, RTDF 2/3 2018, 40, 42 ff. 107 S. oben IV.1.a) und b). 108 S. oben IV.1.b). 109 S. oben IV.1-5.

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Das Widerspruchsrecht der GmbH-Geschäftsführer untereinander Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Einvernehmliches Handeln bei Gesamtgeschäftsführung III. Abbedingung des Prinzips der Gesamtgeschäftsführung IV. Widerspruchsrecht beim Abweichen vom Prinzip der Gesamtgeschäftsführung 1. Bestandsaufnahme 2. Im Einzelnen: Das Widerspruchsrecht der GmbH-Geschäftsführer untereinander

a) Was beinhaltet das Widerspruchsrecht? b) Widerspruchsbefugnis c) Gegenstand des Widerspruchsrechts d) Art und Weise der Ausübung e) Folgen des Suspensiveffekts f) Abdingbarkeit des Widerspruchsrechts? V. Ergebnis

„An allem Unfug, der passiert, sind nicht etwa nur die schuld, die ihn tun, sondern auch die, die ihn nicht verhindern“ (Erich Kästner). Dies gilt auch im Recht der GmbH: Ist zwischen den Geschäftsführern Arbeitsteilung verabredet, haben sie einander zu überwachen. Des Weiteren sind sie verpflichtet einzugreifen, sobald sich Anhaltspunkte ergeben, dass der zuständige Geschäftsführer die Geschäfte nicht ordnungsgemäß führt. Kommen sie dem nicht nach, verletzen sie ihrerseits ihre Organpflichten. Hier soll der Frage nachgegangen werden, wie sie eingreifen können, denn anders als das Personengesellschaftsrecht kennt das GmbH-Gesetz kein Widerspruchsrecht der Geschäftsführer untereinander.

I. Einleitung Eine GmbH muss einen oder mehrere Geschäftsführer haben, so § 6 Abs. 1 GmbHG. Ihm oder ihnen obliegt die Führung der Gesellschaft nach Maßgabe der Satzung und der von der Gesellschafterversammlung gefassten Beschlüsse und Weisungen. Die entsprechende Befugnis ergibt sich – ohne explizite Anordnung – aus der vom Gesetzgeber gewählten Amtsbezeichnung sowie aus dem Zusammenspiel zahlreicher Normen der GmbH, allen voran §  35 Abs.  1 Satz 1 und §  37 Abs.  1 GmbHG. Die Geschäftsführung umfasst sämtliche Maßnahmen, die erforderlich sind, um den Unternehmensgegenstand mit den zur Verfügung stehenden personellen, sachlichen und finanziellen Ressourcen nach den Grundsätzen ordnungsgemäßer Geschäftsleitung zu verwirklichen.1 1 Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 37 Rz. 3.

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Oftmals liegt die Geschäftsführung einer GmbH in den Händen mehrerer Geschäftsführer. Nun wird der Mensch unter den Bedingungen des arbeitsteiligen Zusammenwirkens im Betrieb zu einem Risikofaktor;2 dem hat die Unternehmensorganisation Rechnung zu tragen. Angesprochen ist damit die Corporate Governance der GmbH, diese „hat den Menschen zum Gegenstand, an allen Schaltstellen unseres Corporate-­ Governance-Systems sitzen Menschen“.3 Anders als die Überschrift des dritten Abschnittes des GmbHG (§§ 35 bis 52 GmbHG) „Vertretung und Geschäftsführung“ vermuten lässt, enthält das GmbHG jedoch nur äußerst rudimentäre Regelungen über die Geschäftsführung. Dem GmbHG fehlen den §§ 76 Abs. 1, 77 und 82 Abs. 2 AktG sowie den §§ 114 bis 116 HGB und §§ 709 bis 715 BGB vergleichbare Regelungen zu Inhalt, Umfang und Ausgestaltung und insbesondere zur inneren Ordnung der Geschäftsführung. Namentlich kennt das ­Personengesellschaftsrecht ein Widerspruchsrecht der Geschäftsführer untereinander. Für die Gesellschaft bürgerlichen Rechts findet es sich in § 711 BGB, für die offene Handelsgesellschaft in §  115 Abs.  1 Halbsatz 2 HGB; letzteres gilt gemäß §  161 Abs. 2 HGB auch für die Kommanditgesellschaft. Im Recht der GmbH ist ein Widerspruchsrecht für GmbH-Geschäftsführer demgegenüber nicht explizit geregelt; es soll hier untersucht werden. Auch wenn Ulrich Seibert betont, dass die seit Anfang der 1990er Jahre laufende Corporate-Governance-Debatte und die zahlreichen gesetzgeberischen Aktivitäten in Deutschland nur zufällig mit seiner Übernahme des Referats für Gesellschaftsrecht im Bundesjustizministerium im Jahr 1992 zusammenfiel,4 wird niemand seine maßgebliche Rolle hieran in Zweifel ziehen. Verfasser hofft daher, dass die nachfolgenden Überlegungen zur Corporate Governance der GmbH auf das wohlwollende Interesse des Jubilars stoßen.

II. Einvernehmliches Handeln bei Gesamtgeschäftsführung Besteht die Geschäftsführung einer GmbH aus mehreren Personen, so steht die Geschäftsführungsbefugnis allen Geschäftsführern gemeinsam zu, wenn nichts anderes im Gesellschaftsvertrag geregelt ist. Ausdrücklich ist dies nicht im Gesetz angeordnet; die Gesamtgeschäftsführungsbefugnis wird teils aus § 35 Abs. 2 GmbHG abgeleitet,5 teils mit einer analogen Anwendung von § 77 Abs. 1 Satz 1 AktG begründet.6 2 So – nahezu wörtlich – BGH, Urteil vom 13. April 1994 – II ZR 16/93, BGHZ 125, 366, 373. 3 Seibert, AG 2002, 417, 419. 4 Seibert, AG 2015, 593, 594. 5 Baukelmann in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 6. Aufl. 2017, § 37 Rz. 16; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 37 Rz. 3; Paefgen in Ulmer/Habersack/Löbbe, Großkomm. zum GmbHG, 2. Aufl. 2014, § 35 Rn. 170. 6 Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, 8. Aufl. 2015, § 37 Rn. 33; Buck-Heeb in Gehrlein/ Born/Simon, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 37 Rz. 24; Diekmann in Münchener Handbuch GesR, Bd. 3 – GmbH, 5. Aufl. 2018, § 44 Rz. 78; Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider in ­Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2014, § 37 Rz. 25.

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Das Widerspruchsrecht der GmbH-Geschäftsführer untereinander

Bei der Gesamtgeschäftsführung obliegt die Unternehmensleitung als Gesamtaufgabe der Geschäftsführung als Gremium, also allen Geschäftsführern gemeinsam. Jedes einzelne Organmitglied muss der fraglichen Maßnahme (ausdrücklich oder konkludent) zustimmen; Stimmenthaltungen entfalten daher dieselbe Wirkung wie eine Neinstimme.7 Hieraus folgt, dass jeder Geschäftsführer ein Vetorecht hat, da er der fraglichen Maßnahme seine Zustimmung verweigern kann.8 Im gesetzlichen Regelfall hat also jeder Geschäftsführer ein Veto- oder Widerspruchsrecht gegen eine Geschäftsführungsmaßnahme.

III. Abbedingung des Prinzips der Gesamtgeschäftsführung Das Prinzip der Gesamtgeschäftsführung ist dispositiv, die Gesellschafter können die Organisation im Gesellschaftsvertrag oder im Beschlusswege (namentlich in einer Geschäftsordnung) durch Aufteilung der Arbeit und damit der Verantwortung auf die einzelnen Organmitglieder modifizieren.9 Und tatsächlich wird es häufig – jedenfalls ab einer gewissen Unternehmensgröße – aus Gründen der Praktikabilität und Vereinfachung von Entscheidungsabläufen abbedungen. Dahinter steht zum einen der Gedanke begrenzter Leitungs- und Überwachungskapazitäten, zum anderen der Effi­ zienzgewinn durch die Spezialisierung des jeweiligen Zuständigen.10 Bei drei oder mehreren Geschäftsführern ist die Gesamtgeschäftsführung „mit einem hohen Zeitund Kraftverlust verbunden und als organisatorische Fehlkonstruktion zu betrachten, die den Interessen der Gesellschaft widerspricht“.11 In der Satzung können sämtliche erdenkliche Mischformen von Einzel- und Gesamtgeschäftsführung angeordnet werden. Einzelnen Geschäftsführern kann Einzelgeschäftsführungsbefugnis verliehen werden, wohingegen andere Geschäftsführer nur zusammen mit einem oder mehreren anderen Geschäftsführern handeln dürfen.12 Beispielsweise kann angeordnet werden, dass Geschäftsführungsmaßnahmen immer von zwei Geschäftsführern gemeinsam beschlossen werden müssen; dies führt dann zu einem echten Vier-Augen-Prinzip.13 7 Gehrlein/Witt/Vollmer, GmbH-Recht in der Praxis, 3.  Aufl. 2015, Kap. 5 Rz.  18; Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider in Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2014, § 37 Rz. 26. 8 Diekmann in Münchener Handbuch GesR, Bd. 3 – GmbH, 5. Aufl. 2018, § 44 Rz. 78; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 37 Rz. 28; Gehrlein, WM 2018, 1865, 1870 f.; E. Vetter in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, Rz. 22.7. 9 Buck-Heeb, BB 2019, 584, 585; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl. 2017, § 37 Rz. 29. 10 Lutter in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, Rz. 1.11; ähnlich BGH, Urteil vom 6. November 2018 – II ZR 11/17, NZG 2019, 225 Rz. 15. 11 Höhn, Die Geschäftsleitung der GmbH, 2. Aufl. 1995, S. 17. 12 Gehrlein/Witt/Voll­mer, GmbH-Recht in der Praxis, 3.  Aufl. 2015, Kap. 5 Rz.  18; Stucke, in:  Hauschild/Kallrath/Wachter, Notarhandbuch Gesellschaft- und Unternehmensrecht, 2. Aufl. 2017, § 16 Rz. 437; Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider in Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2014, § 37 Rz. 29. 13 Hauschka, AG 2004, 461, 467; Emde in FS Uwe H. Schneider, 2011, S. 295, 302 zu Risikoentscheidungen von Kreditinstituten bis zu einer bestimmten Größe.

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Geläufig ist ferner, die Geschäftsführungsaufgaben arbeitsteilig auf die einzelnen Geschäftsführer zu verteilen. Dabei wird mehreren oder allen Geschäftsführern ein bestimmter Geschäftsbereich zugewiesen, für den sie dann allein zuständig sind.14 Die Zuordnung eines Geschäftsbereichs an einen Geschäftsführer bedeutet in aller Regel, dass er innerhalb des ihm zugeordneten Bereichs einzelgeschäftsführungsbefugt ist.15 Er kann und darf die für seinen Geschäftsbereich zu treffenden Maßnahmen grundsätzlich allein vornehmen. Außenwirkung kommt der Aufteilung nicht zu, § 37 Abs. 2 GmbHG. Die Zuständigkeit für die Regelung der Geschäftsverteilung liegt vorrangig in den Händen der Gesellschafter.16 Ihnen steht es dabei grundsätzlich frei, ob, wo und wie sie eine Geschäftsverteilung regeln wollen. Denkbar ist eine entsprechende Regelung im Gesellschaftsvertrag oder durch einfachen Gesellschafterbeschluss, ad hoc oder – was zweckmäßig erscheint – in einer Geschäftsordnung für die Geschäftsführer. Wollen die Gesellschafter selbst keine entsprechende Entscheidung treffen, können sich die Geschäftsführer selbst eine Geschäftsordnung geben, sofern die Satzung oder ein Gesellschafterbeschluss nichts Gegenteiliges anordnen.17 Eine wirksame Geschäftsverteilung bedarf nicht zwingend einer schriftlichen Dokumentation.18 Von der Gesamtverantwortung und Allzuständigkeit der Geschäftsführer kann eine Ressortverteilung einen einzelnen Geschäftsführer nicht entbinden.19 Die Aufteilung der Geschäfte führt zu einer Veränderung der Pflichten und des Sorgfaltsstandards unter den Geschäftsleiterkollegen dahingehend, dass der Pflichtenstandard bei den Nicht-Ressortzuständigen auf Informations- und Kontrollpflichten absinkt, während sich dieser Standard in der Person des Zuständigen verdichtet.20 Die Ressortbildung beinhaltet demnach eine Aufteilung in eine unmittelbar verwaltende und eine mehr beaufsichtigende Tätigkeit; eine vollständige Lösung eines Aufgabenbereichs vom

14 Zur Ressortbildung als „erprobte Enthaftungsstrategie“ Bachmann, Gutachten E zum 70.  DJT, 2014, S.  E 42; ferner Buck-Heeb, BB 2019, 584, 586; Lutter in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, Rz. 1.11; Medicus, GmbHR 1998, 9, 15. 15 Baukelmann in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 6. Aufl. 2017, § 37 Rz. 38; G. Roth, ZGR 1985, 265, 267; ebenso zur AG Spindler in Münchener Komm. zum AktG, 4. Aufl. 2014, § 77 Rz. 55. 16 Zur Geschäftsverteilung Bachmann, Gutachten E zum 70. DJT, 2014, S. E 42: „horizontale Delegation“; Emde in FS Uwe H. Schneider, 2011, S. 295, 306 ff.; Uwe H. Schneider in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, Rz. 2.38 ff. 17 Lenz in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 37 Rz. 30 und 34; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl. 2017, § 37 Rz. 29. 18 BGH, Urteil vom 6. November 2018 – II ZR 11/17, NZG 2019, 225; strenger Höhn, Die Geschäftsleitung der GmbH, 2. Aufl. 1995, S. 17; Uwe. H. Schneider in Lutter/Ulmer/Zöllner, Festschrift 100 Jahre GmbHG, 1992, S. 473, 483 f. 19 Drescher, Die Haftung des GmbH-Geschäftsführers, 7. Aufl. 2013, Rz. 297; Fleischer, ZIP 2009, 1397, 1399. 20 Lutter in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, Rz. 1.11; Uwe H. Schneider in Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2014, § 43 Rz. 38 f.

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Das Widerspruchsrecht der GmbH-Geschäftsführer untereinander

Kollegialorgan und seiner einzelnen Mitglieder ist nicht möglich.21 Auch die Pflicht zu einem kollegialen Zusammenwirken bleibt bestehen.22 – Auf all dies ist zurückzukommen.

IV. Widerspruchsrecht beim Abweichen vom Prinzip der Gesamtgeschäftsführung Im gesetzlichen Grundfall der Gesamtgeschäftsführung bedarf jede Geschäftsführungsmaßnahme der Zustimmung aller Geschäftsleiter, woraus sich ein Vetorecht jedes einzelnen Geschäftsführers ergibt. Wird vom Prinzip der Gesamtgeschäftsführung abgewichen, stellt sich die Frage, ob ein Geschäftsführer einer Geschäftsführungsentscheidung eines anderen Geschäftsführers widersprechen kann. 1. Bestandsaufnahme Der BGH bejahte im Fall zweier einzelgeschäftsführungsbefugter Geschäftsführer ein Widerspruchsrecht. Nach seiner Auffassung müssen alle Maßnahmen unterbleiben, „die der eine vornehmen will, während der andere widerspricht. Das folgt aus dem Rechtsgedanken, der in § 115 HGB seinen Niederschlag gefunden hat.“23 Auch in der Literatur ist das Widerspruchsrecht weitgehend anerkannt.24 Die Begründungsansätze differieren: Teils wird kurz und knapp auf  §  115 HGB verwiesen, der ähnlich,25 entsprechend26 oder analog27 auf die Geschäftsführer einer GmbH Anwendung fin-

21 Baukelmann in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 6.  Aufl. 2017, §  37 Rz.  38; BuckHeeb, BB 2019, 584, 588; Diekmann in Münchener Handbuch GesR, Bd. 3 – GmbH, 5. Aufl. 2018, § 44 Rz. 85; Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, 2014, § 16 Rz. 412. 22 Uwe H. Schneider in Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2014, § 43 Rz. 140; zum Kollegialprinzip ferner Paefgen in Ulmer/Habersack/Löbbe, Großkomm. zum GmbHG, 2. Aufl. 2014, § 35 Rz. 181; Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 6. Aufl. 2015, § 42 Rz. 84. 23 BGH, Urteil vom 25. Februar 1965 – II ZR 287/63, WM 1965, 422, 424 (insoweit in BGHZ 43, 261 nicht abgedruckt); zustimmend Henze/Born, GmbH-Recht  – Höchstrichterliche Rechtsprechung, 2013, Rz. 1334; unklar demgegenüber OLG Karlsruhe, Urteil vom. 4. Mai 1999 – 8 U 153/97, NZG 2000, 264, 266 zum Widerspruchrecht bei Gesamtgeschäftsführung, bei der ja per se ein Vetorecht besteht (s. vorstehend II.). 24 Ablehnend nur Höhn, Die Geschäftsleitung der GmbH, 2. Aufl. 1995, S. 53 sowie 60. 25 Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, 8.  Aufl. 2015, §  37 Rz.  34; auch G. Roth, ZGR 1985, 265, 267 („in Anlehnung an das OHG-Recht“) und Paefgen in Ulmer/Habersack/ Löbbe, Großkomm. zum GmbHG, 2. Aufl. 2014, § 35 Rz. 182 („Nach dem Rechtsgedanken des § 115 Abs. 1 HGB“). 26 Goette, Die GmbH, 2. Aufl. 2002, § 8 Rz. 52. 27 Buck-Heeb in Gehrlein/Born/Simon, GmbHG, 3.  Aufl. 2017, §  37 Rz.  27; Diekmann in Münchener Handbuch GesR, Bd. 3 – GmbH, 5. Aufl. 2018, § 44 Rz. 90; Leuering/Dorn­ hegge, NZG 2010, 13, 15; Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider in Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2014, § 37 Rz. 30; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl. 2017, § 37 Rz. 30.

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den soll. Andere Autoren leiten das Widerspruchsrecht – meist ohne jede Bezugnahme auf § 115 HGB – aus dem Prinzip der Gesamtverantwortung ab.28 2. Im Einzelnen: Das Widerspruchsrecht der GmbH-Geschäftsführer untereinander Der Umstand, dass das Widerspruchsrecht im Personengesellschaftsrecht seit alters her gesetzlich angeordnet ist,29 hat dort eine stark ausdifferenzierte Kommentarliteratur hervorgebracht. Im GmbH-Recht ist dies anders, dort ist der Widerspruch eher ein Instrument der Praxis. Nachfolgend soll versucht werden, dem Widerspruchsrecht der GmbH-Geschäftsführer untereinander aus allgemeinen GmbH-rechtlichen Grundsätzen, aber auch durch einen Blick in das Personengesellschaftsrecht schärfere Konturen zu geben. a) Was beinhaltet das Widerspruchsrecht? Muss eine Geschäftsführungsmaßnahme – abweichend vom gesetzlichen Regelfall – nicht von allen Geschäftsführern gemeinsam vorgenommen werden, trifft den oder die nicht zuständigen Geschäftsführer dennoch eine Überwachungs- und ggf. auch Interventionspflicht. Besonders anschaulich ist dies im Fall der Ressortbildung: Ist ein bestimmter Geschäftsbereich einem Geschäftsführer zur alleinigen Befassung zugeteilt, trifft die Mitgeschäftsführer die Pflicht, pflichtwidrigen Handlungen des Ressort­ zuständigen aktiv entgegenzutreten. Hierfür haben die übrigen Geschäftsführer eine ressortgrenzenüberschreitende Informations- und Überwachungsverantwortung.30 Sie sind gezwungen einzugreifen, sobald sich Anhaltspunkte ergeben, dass der zuständige Geschäftsführer die Geschäfte nicht ordnungsgemäß führt.31 Kommen sie dem nicht nach, verletzen sie – ganz im Sinne des Eingangs wiedergegebenen Zitats von Erich Kästner32 – ihrerseits ihre Organpflichten.33

28 Lenz in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 37 Rz. 33; Miller in Meyer-Landrut/Miller/Niehus, GmbHG, 1987, §§ 35 bis 38 Rz. 80; Seibt in Münchener Anwaltshandbuch GmbH-Recht, 4. Aufl. 2019, § 2 Rz. 156; Uwe. H. Schneider in Lutter/ Ulmer/Zöllner, Festschrift 100 Jahre GmbHG, 1992, S. 473, 481; Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider in Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2014, § 37 Rz. 32. 29 Vorläufernorm von § 115 HGB war Art. 100 ADHGB; zur Normgeschichte Weygand, AcP 158 (1958/59), 150, 151 f. 30 Uwe H. Schneider in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, Rz. 2.40. 31 BGH, Urteil vom 20.3.1986  – II ZR 114/85, NJW-RR 1986, 1293, 1294; Fleck, GmbHR 1974, 224, 225; Gehrlein, WM 2018, 1865, 1870; zu den unterschiedlich strengen Ansätzen in Lit. und Rspr. Bachmann, Gutachten E zum 70. DJT, 2014, S. E 42. 32 Das fliegende Klassenzimmer, Kap. 7; s. zu Kästner als dem (nach eigener Aussage) „einzigen ‚Verbrannten‘, der nicht emigriert war“ Weidermann, Das Buch der verbrannten Bücher, 2008, S. 172 f. 33 BGH, Urteil vom 28.4.2015 – II ZR 63/14, NZG 2015, 792 Rz. 27; Drescher, WM-Sonderbeilage Nr. 2/2018, S. 3.

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Aus dieser Gesamtverantwortung aller Geschäftsführer,34 aber auch aus ihrer Verpflichtung zur kollegialen Zusammenarbeit und auf das Unternehmensinteresse folgt ein Interventions-35 resp. Widerspruchsrecht mit dem Inhalt, dass jeder Geschäftsführer verlangen kann, dass sich das Geschäftsführungsgremium mit der angegriffenen Maßnahme eines Mitgeschäftsführers befasst36 (Kollegialbefassungseffekt); bis dahin hat sie zu unterbleiben37 (Suspensiveffekt). Dem Gremium obliegt es sodann, eine Entscheidung darüber zu treffen, ob die in Rede stehende Maßnahme ausgeführt wird oder zu unterbleiben hat.38 Der Widerspruch eines Geschäftsführers kann sich auch auf die Herbeiführung des Suspensiv­effekts beschränken, indem er verlangt, dass die anstehende Maßnahme eines Mitgeschäftsführers unterbleibt.39 In diesem Fall kann auch der Widerspruchs­ empfänger und jeder weitere Mitgeschäftsführer die angegriffene Maßnahme dem Geschäftsführungsgremium zur Entscheidung vorlegen. Welchen Inhalt der Widerspruch hat, ist nach allgemeinen Regeln im Wege der Auslegung zu ermitteln. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Geschäftsführer lediglich erklärt, dass er einer Maßnahme widerspreche. In aller Regel wird er mit dieser Aussage lediglich den Suspensiveffekt herbeiführen wollen. Weiter kann jeder Geschäftsführer die fragliche Maßnahme auch der weisungsbefugten Gesellschafterversammlung zur Entscheidung vorlegen; insbesondere in einer zweigliedrigen GmbH kann es naheliegen, das Geschäftsführungsgremium zu überspringen.

34 So zutreffend die oben in Fußn. 28 Genannten. 35 Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 37 Rz. 32 verwendet diesen Begriff anstelle des „Widerspruchsrechts“; Paefgen in Ulmer/Habersack/Löbbe, Großkomm. zum GmbHG, 2. Aufl. 2014, § 35 Rz. 182 verwendet beide Begriffe synonym. 36 Im Erg. ebenso Uwe. H. Schneider in Lutter/Ulmer/Zöllner, Festschrift 100 Jahre GmbHG, 1992, S. 473, 483; Diekmann in Münchener Handbuch GesR, Bd. 3 – GmbH, 5. Aufl. 2018, § 44 Rz. 80; ferner – als Rechtsfolge des Widerspruchs – Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, 8. Aufl. 2015, § 37 Rz. 34; Buck-Heeb in Gehrlein/Born/Simon GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 37 Rz. 31; Lenz in Michalski/Hei­dinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 37 Rz. 33. 37 Zum Suspensiveffekt allg. BGH, Urteil vom 25. Februar 1965 – II ZR 287/63, WM 1965, 422, 424 (insoweit in BGHZ 43, 261 nicht abgedruckt); Buck-Heeb in Gehrlein/Born/Simon GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 37 Rz. 31; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 37 Rz. 32; Lenz in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 37 Rz. 33; Paefgen in Ulmer/Habersack/Löbbe, Großkomm. zum GmbHG, 2. Aufl. 2014, § 35 Rz. 182. 38 Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, 8. Aufl. 2015, § 37 Rz. 34; Buck-Heeb in Gehrlein/ Born/Simon GmbHG, 3.  Aufl. 2017, §  37 Rz.  31; Lenz in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 37 Rz. 33. 39 Ähnlich wohl Baukelmann in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 6.  Aufl. 2017, §  37 Rz. 45, wonach das Widerspruchsrecht ein aliud gegenüber dem Recht jedes Geschäftsführers ist, verlangen zu können, dass sich alle Geschäftsführer mit einer Maßnahme befassen.

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b) Widerspruchsbefugnis Dem Grunde nach steht das Widerspruchsrecht den Geschäftsführern zu. Aber wann genau ist ein Geschäftsführer seinen Kollegen gegenüber widerspruchsbefugt? aa) Ressortübergreifendes Widerspruchsrecht Im Recht der Personengesellschaft unterliegt das Widerspruchsrecht als Teil der Geschäftsführung40 den Grenzen, denen die Befugnis zur Geschäftsführung unterliegt: Gibt es innerhalb der Geschäftsführung eine Ressortverteilung, sodass einzelne oder mehrere Geschäftsführer nur für einen Teilbereich geschäftsführungsbefugt sind, so erstreckt sich das jeweilige Widerspruchsrecht ausschließlich auf eben diesen Teilbereich.41 Demgegenüber entspricht es in der GmbH- und auch aktienrechtlichen Literatur der einhelligen Auffassung, dass die Geschäftsleiter untereinander gerade ein ressortübergreifendes Widerspruchsrecht haben.42 Die Geschäftsführer haben einander über Ressortgrenzen hinweg zu überwachen und sind verpflichtet einzugreifen, „wenn sich Anhaltspunkte ergeben, dass der zuständige Geschäftsführer in seinem Arbeitsbereich die Geschäfte nicht ordnungsgemäß führt“.43 In diesem Fall erstarkt das Widerspruchsrecht zur Widerspruchspflicht.44 bb) Widerspruchsbefugnis jedes einzelnen Geschäftsführers Im Personengesellschaftsrecht besteht außerdem Einigkeit darüber, dass aus der Akzessorietät des Widerspruchsrechts zur Geschäftsführungsbefugnis noch eine weitere Beschränkung folgt: Besteht keine Einzelgeschäftsführungsbefugnis, sondern sind immer nur zwei (oder mehr) Geschäftsführer gemeinsam geschäftsführungsbefugt, können sie auch nur gemeinsam widersprechen.45 Ein Widerspruchsrecht des nicht 40 So Rawert in Münchener Komm. zum HGB, 4. Aufl. 2016, § 115 Rz. 11; Lieder in Oetker, HGB, 5. Aufl. 2017, § 115 Rz. 6. 41 Rawert in Münchener Komm. zum HGB, 4. Aufl. 2016, § 115 Rz. 12; Drescher in Ebenroth/ Boujong/Joost/Strohn, HGB, 3. Aufl. 2014, § 115 Rz. 7; Lieder in Oetker, HGB, 5. Aufl. 2017, § 115 Rz. 6. 42 BGH, Urteil vom 20.3.1986 – II ZR 114/85, NJW-RR 1986, 1293, 194; Bachmann, Gutachten E zum 70.  DJT, 2014, S.  E 42; Fleck, GmbHR 1974, 224, 225; Kleindiek in Lutter/ Hommelhoff, GmbHG, 19.  Aufl. 2016, §  37 Rz.  32; Lenz in Michalski/Heidinger/Leible/​ J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 37 Rz. 33; Uwe. H. Schneider in Lutter/Ulmer/Zöllner, Festschrift 100 Jahre GmbHG, 1992, S. 473, 481; ders. in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, Rz. 2.40; zur AG Seyfarth, Vorstandsrecht, 2016, § 2 Rz. 53; Spindler in Münchener Komm. zum AktG, 5. Aufl. 2019, § 77 Rz. 58.  43 BGH, Urteil vom 8. Juli 1985 – II ZR 198/84, NJW 1986, 54, 55; BGH, Urteil vom 20. März 1986 – II ZR 114/85, NJW-RR 1986, 1293; BGH, Urteil vom 15.10.1996 – VI ZR 319/95, NJW 1997, 130, 132. 44 Teichmann, Compliance, 2014, Rz. 211; Hülsmann, GmbHR 2019, 209, 213. 45 Zur OHG: Roth in Baumbach/Hopt, HGB, 38. Aufl. 2018, § 115 Rz. 2; Drescher in Eben­ roth/Boujong/ Joost/Strohn, HGB, 3. Aufl. 2014, § 115 Rz. 7; zur GbR: Schäfer in Münche-

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zur Einzelgeschäftsführung befugten Geschäftsführers besteht in dieser Konstellation nicht, er kann also dem Vorhaben eines Geschäftsführerkollegen nicht wirksam widersprechen.46 Auch im GmbH-Recht findet sich mancherorts die Formulierung, dass den Geschäftsführern ein Widerspruchsrecht „im Fall der Einzelgeschäftsführungsbefugnis“ zusteht.47 Ob damit lediglich eine Abgrenzung zur Gesamtvertretung, bei der sich ein Vetorecht aus dem Zustimmungserfordernis aller ergibt,48 erfolgen oder aber tatsächlich einem lediglich gesamtgeschäftsführungsbefugten Geschäftsführer die Widerspruchsbefugnis abgesprochen werden soll, ist unklar. Richtigerweise ist dieses Recht jedem einzelnen Geschäftsführer zuzusprechen, und zwar unabhängig davon, ob er einzel- oder nur gemeinsam mit einem weiteren Geschäftsführer geschäftsführungsbefugt ist. Jedem Geschäftsführer obliegt aufgrund seiner Generalverantwortung und Allzuständigkeit49 eine Pflicht zur Überwachung der Mitgeschäftsführer, die ihn „zwingt einzugreifen, wenn sich Anhaltspunkte ergeben, dass der zuständige Geschäftsführer in seinem Arbeitsbereich die Geschäfte nicht ordnungsgemäß führt“.50 Wem die Rechtsordnung diese Interventionspflicht auferlegt, muss sie auch das notwendige Interventionsinstrumentarium an die Hand geben. Aus der Gesamtverantwortung aller Geschäftsführer, der Ausrichtung ihres Handelns auf das Unternehmensinteresse sowie aus der Verpflichtung zu einem kollegialen Zusammenwirken folgt daher nicht nur das Widerspruchsrecht dem Grunde nach, sondern auch, dass stets jeder einzelne Geschäftsführer widersprechen kann, also berechtigt ist zu verlangen, dass sich alle Geschäftsführer gemeinsam als Geschäftsführungsgremium mit der angegriffenen Maßnahme eines Mitgeschäftsführers befassen und sie bis dahin zu unterbleiben hat. Gestützt wird dieses Ergebnis auch durch ein argumentum a maiore ad minus: Wer befugt ist zu verlangen, dass sich das oberste Organ der Gesellschaft mit einer Geschäftsführungsmaßnahme befasst, muss auch verlangen können, dass sich zunächst das Geschäftsführungsgremium, dem er angehört, mit der Maßnahme befasst. Nach allgemeiner Meinung ist jeder einzelne Geschäftsführer zur Einberufung der Gesellschafterversammlung berechtigt, auch wenn er lediglich gesamtgeschäftsführungsner Komm. zum BGB, 7.  Aufl. 2017, §  711  Rz.  7; Servatius in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2016, § 711 BGB Rz. 2. 46 Rawert in Münchener Komm. zum HGB, 4. Aufl. 2016, § 115 Rz. 11. 47 Henze/Born, GmbH-Recht – Höchstrichterliche Rechtsprechung, 2013, Rz. 1334; vgl. auch § 21 öGmbHG: „Ist nach dem Gesellschaftsvertrage jeder Geschäftsführer für sich allein zur Geschäftsführung berufen, so muß, wenn einer unter ihnen gegen die Vornahme einer zur Geschäftsführung gehörenden Handlung Widerspruch erhebt, dieselbe unterbleiben, es sei denn, daß der Gesellschaftsvertrag etwas anderes bestimmt.“ 48 Oben II. 49 Drescher, Die Haftung des GmbH-Geschäftsführer, 7.  Aufl. 2013, Rz.  297; Teichmann, Compliance, 2014, Rz. 208. 50 BGH, Urteil vom 8. Juli 1985 – II ZR 198/84, NJW 1986, 54, 55; BGH, Urteil vom 20. März 1986 – II ZR 114/85, NJW-RR 1986, 1293; BGH, Urteil vom 15.10.1996 – VI ZR 319/95, NJW 1997, 130, 132.

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und gesamtvertretungsbefugt ist.51 Auf diesem Wege kann jeder Geschäftsführer eine von einem Mitgeschäftsführer beabsichtigte Maßnahme der Kontrolle der weisungsbefugten Gesellschafterversammlung unterwerfen. Da es sich hierbei (jenseits der zweigliedrigen GmbH mit zwei geschäftsführenden Gesellschaftern) um die ultima ratio handelt, die ein zukünftiges kollegiales Zusammenwirken innerhalb der Geschäftsführung gefährden kann, ist als Minus hierzu jedem Geschäftsführer das Recht zuzubilligen, zunächst eine geschäftsführungsinterne Diskussion und Beschlussfassung über die fragliche Maßnahme herbeizuführen, die bis dahin zu unterbleiben hat. Umgekehrt wäre es wenig überzeugend, einem Geschäftsführer, der „lediglich“ gemeinsam mit einem weiteren geschäftsführungsbefugt ist, ein eigenes Widerspruchsrecht abzusprechen: Würde man den Geschäftsführer allein auf sein Recht verweisen, eine Gesellschafterversammlung einzuberufen, wird die fragliche Maßnahme bereits umgesetzt sein, bis diese zusammentritt. Er müsste einer ggf. rechtswidrigen, die Gesellschaft vielleicht sogar schädigenden Maßnahme tatenlos zusehen, wenn er keinen Mitgeschäftsführer findet, der mit ihm gemeinsam widerspricht. Insbesondere in einer dreiköpfigen Geschäftsführung, in der jeweils zwei Geschäftsführer gemeinsam geschäftsführungsbefugt sind, könnten einem Geschäftsführer dauerhaft die Hände gebunden sein. Unter dem Aspekt seiner persönlichen Haftung könnte er tatsächlich die Hände in den Schoß legen: er hätte mit einer Remonstration zunächst einmal alles in seiner Macht Stehende getan.52 cc) Keine Widerspruchsbefugnis im Fall eines Interessenkonfliktes Im Personengesellschaftsrecht ist nicht widerspruchsbefugt, wer wegen eines Interessenkonfliktes im Einzelfall von der Geschäftsführungsbefugnis ausgeschlossen ist.53 Das ist unmittelbar einleuchtend und sollte auch so im GmbH-Recht gehandhabt werden. Schwieriger ist die Frage zu beantworten, wann solch ein Interessenkonflikt vorliegt. Man wird differenzieren müssen: Ist einer von zwei Geschäftsführern analog §§ 34, 28 Abs. 1 BGB von einer Mitwirkung an einer Geschäftsführungsentscheidung ausgeschlossen,54 kann er keine Kollegialentscheidung verlangen, weil er hieran ohnehin nicht mitwirken dürfte. Allerdings wird man ihm das Recht zusprechen müssen, eine Maßnahme zu suspendieren, damit er die Entscheidung der Gesellschafterversammlung herbeiführen kann, es sei denn, er trifft auch dort nur auf seinen Mitgeschäftsführer und unterliegt wiederum einem Stimmverbot. 51 BGH, Beschluss vom 24. März 2016 – IX ZB 32/15, NZG 2016, 552 Rz. 29; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl. 2017, § 49 Rz. 3. 52 Zu den Anforderungen im einzelnen OLG Saarbrücken, Urteil vom 22. Januar 2014 – 2 U 69/13, NZG 2014, 343, 344. 53 Schäfer in Münchener Komm. zum BGB, 7. Aufl. 2017, § 711 Rz. 2; Schöne in BeckOK BGB, 46. Ed. 2018, § 711 Rz. 11; Servatius in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2016, § 711 BGB Rz. 2, 3. 54 Zur entsprechenden Anwendung von §§ 34 BGB, 28 Abs. 1 BGB auf die mehrköpfige Geschäftsführung s. Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 77 Rz. 8.

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Verfügt die Gesellschaft über mehr als zwei Geschäftsführer, ist auch derjenige Geschäftsführer, der analog §§ 34, 28 Abs. 1 BGB von einer Mitwirkung an der fraglichen Geschäftsführungsentscheidung ausgeschlossen ist, widerspruchsbefugt, weil er so eine Befassung des gesamten Geschäftsführergremiums herbeiführen kann. dd) Verbot des rechtsmissbräuchlichen Widerspruchs Da die Geschäftsführer im Innenverhältnis zu einem kollegialen Zusammenwirken und dem Unternehmensinteresse verpflichtet sind, haben sie ihr wechselseitiges Widerspruchsrecht nur bei Vorliegen eines sachlichen Grundes in vernünftiger Weise auszuüben.55 Gestützt wird dieses Ergebnis durch die in §§ 226, 242 BGB enthaltenen Rechtsgrundsätze, die im gesamten Privatrecht Geltung beanspruchen.56 c) Gegenstand des Widerspruchsrechts Gegenstand des Widerspruchs kann nur eine bevorstehende Maßnahme der Geschäftsführung sein;57 eine bereits durchgeführte Maßnahme kann nicht mehr suspendiert werden. Erfolgt der Widerspruch zu spät, geht er ins Leere. Ebenfalls nicht Gegenstand des Widerspruchs kann der Widerspruch eines anderen Mitgeschäftsführers sein.58 Bei der Geschäftsführungsmaßnahme muss es sich – wie im Recht der Personengesellschaft – um eine konkrete Einzelmaßnahme handeln.59 Zwar ist ein Widerspruch auch gegen eine Reihe zusammenhängender Einzelentscheidungen oder einen bestimmten Geschäftsplan zulässig, ein pauschaler Widerspruch gegen sämtliche Maßnahmen hingegen nicht.60 Dieser würde de facto zu einer Entziehung der Geschäftsführungsbefugnis führen.61

55 Stephan/Tieves in Münchener Komm. zum GmbHG, 2. Aufl. 2016, § 37 Rz. 82. 56 Grothe in Münchener Komm. zum BGB, 8. Aufl. 2018, § 226 Rz. 2; Schubert in Münchener Komm. zum BGB, 8. Aufl. 2019, § 242 Rz. 2. 57 Finckh in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2016, § 115 HGB Rz. 12; Lieder in Oetker, HGB, 5. Aufl. 2017, § 115 Rz. 7. 58 Klimke in BeckOK HGB, 21. Ed. 2018, § 115 Rz. 7. 59 Rawert in Münchener Komm. zum HGB, 4. Aufl. 2016, § 115 Rz. 17; Drescher in Ebenroth/ Boujong/Joost/Strohn, HGB, 3. Aufl. 2014, § 115 Rz. 9; Finckh in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 3.  Aufl. 2016, §  115  HGB  Rz.  13; Lieder in Oetker, HGB, 5.  Aufl. 2017, § 115 Rz. 7. 60 Rawert in Münchener Komm. zum HGB, 4. Aufl. 2016, § 115 Rz. 17, 18; Roth in Baumbach/ Hopt, HGB, 38. Aufl. 2018, § 115 Rz. 2; Drescher in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 3.  Aufl. 2014, §  115  Rz.  9; Finckh in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 3.  Aufl. 2016, § 115 HGB Rz. 13, 14; Lieder in Oetker, HGB, 5. Aufl. 2017, § 115 Rz. 7; Klimke in BeckOK HGB, 21. Ed. 2018, § 115 Rz. 9. 61 Rawert in Münchener Komm. zum HGB, 4. Aufl. 2016, § 115 Rz. 17; Roth in Baumbach/ Hopt, HGB, 38. Aufl. 2018, § 115 Rz. 2; Drescher in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 3. Aufl. 2014, § 115 Rz. 9; Lieder in Oetker, HGB, 5. Aufl. 2017, § 115 Rz. 7.

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An den Grad der Konkretisierung der Maßnahme dürfen keine überspitzten Anforderungen gestellt werden. Nicht erforderlich ist, dass der (oder die) Mitgeschäftsführer bereits eine Geschäftsführungsmaßnahme beschlossen haben. Ist eine künftige Geschäftsführungsmaßnahme eines Mitgeschäftsführers in ihren Konturen erkennbar, kann ihr widersprochen werden. d) Art und Weise der Ausübung Als empfangsbedürftige Willenserklärung wird der Widerspruch wirksam, wenn er dem Geschäftsführer zugegangen ist, gegen dessen Vorhaben er gerichtet ist.62 Seine Erhebung bedarf keiner besonderen Form. Ausreichend ist sogar eine konkludente Erklärung, wenn also deutlich wird, dass der Widersprechende mit der geplanten Handlung nicht einverstanden ist.63 Nach heute ganz herrschender Meinung im Personengesellschaftsrecht muss der Widerspruch, da er im Rahmen ordnungsgemäßer Geschäftsführung ausgeübt werden muss, auch begründet werden.64 Uneinigkeit besteht hingegen bei der Frage, welche Konsequenzen das Fehlen einer Begründung nach sich zieht. So wird zum Teil vertreten, dass der Widerspruch zwar grundsätzlich zu begründen, ohne Begründung jedoch nicht unbeachtlich sei, es sei denn, er wurde treuwidrig erklärt.65 Andere vertreten, eine fehlende Begründung führe dazu, dass der Widerspruch rechtsmissbräuchlich und unbeachtlich sei.66 Im Recht der GmbH wird man aus der Pflicht zum kollegialen Zusammenwirken einen Begründungszwang ableiten dürfen. Allerdings sollte man nicht so weit gehen, einen nicht begründeten Widerspruch für unbeachtlich zu halten. Dem Geschäftsführer muss es möglich sein, zunächst seinen Kollegen mitzuteilen, dass er einer Maßnahme widerspricht; die notwendige Begründung ist dann unverzüglich nachzuholen. So ist den einzelnen Geschäftsführern die Möglichkeit eröffnet, ggf. auch einmal „die Notbremse zu ziehen“. Ein einmal eingelegter Widerspruch kann zurückgenommen werden, so nach einem klärenden Gespräch zwischen dem widersprechenden Geschäftsführer und dem Widerspruchsempfänger. In diesem Fall wird die Realisierung der geplanten Maßnahme wieder zulässig.67

62 Rawert in Münchener Komm. zum HGB, 4. Aufl. 2016, § 115 Rz. 19; Drescher in Ebenroth/ Boujong/Joost/Strohn, HGB, 3. Aufl. 2014, § 115 Rz. 14. 63 Rawert in Münchener Komm. zum HGB, 4. Aufl. 2016, § 115 Rz. 19; Roth in Baumbach/ Hopt, HGB, 38. Aufl. 2018, § 115 Rz. 2. 64 Rawert in Münchener Komm. zum HGB, 4. Aufl. 2016, § 115 Rz. 23; Roth in Baumbach/ Hopt, HGB, 38. Aufl. 2018, § 115 Rz. 2; Drescher in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 3. Aufl. 2014, § 115 Rz. 14. 65 Roth in Baumbach/Hopt, HGB, 38. Aufl. 2018, § 115 Rz. 2. 66 Drescher in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 3. Aufl. 2014, § 115 Rz. 14. 67 Rawert in Münchener Komm. zum HGB, 4. Aufl. 2016, § 115 Rz. 21.

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Das Widerspruchsrecht der GmbH-Geschäftsführer untereinander

e) Folgen des Suspensiveffekts Ein berechtigter Widerspruch führt zu einer Blockade der betroffenen Geschäftsführungsmaßnahme. Wird sie dennoch ausgeführt, verletzt der Geschäftsführer seine Geschäftsführungspflichten.68 Ein erhobener Widerspruch wendet sich dabei gegen das rechtliche Dürfen im Innenverhältnis, entfaltet jedoch keine Rechtswirkung auf das rechtliche Können im ­Außenverhältnis und ist somit im Verhältnis zu Dritten unerheblich, §  37 Abs.  2 ­GmbHG. Ist ein Vorhaben trotz Widerspruchs realisiert worden, bleibt es folglich im Außenverhältnis wirksam.69 Hat der Geschäftspartner von der Überschreitung des rechtlichen Dürfens des Geschäftsführers Kenntnis, stellt sich die Frage, ob hier die Regeln über den Missbrauch der Vertretungsmacht eingreifen.70 Unproblematisch ist dies im Fall eines kollusiven ­Zusammenwirkens des Geschäftsführers mit dem Geschäftspartner. Demgegenüber wird in allen anderen Fällen allein die Mitteilung des Widerspruchs gegenüber dem Geschäftspartner für eine solche Kenntnis regelmäßig nicht ausreichend sein. Denn das würde dazu führen, dass das Risiko einer Beurteilung des Widerspruchs einen außenstehenden Dritten trifft, dem es kaum möglich sein wird, eine entsprechende Beurteilung vorzunehmen;71 dieses Ergebnis würde der Wertung des § 37 Abs. 2 GmbHG widersprechen. Aus demselben Grund sind dem Vertragspartner erst recht keine Nachforschungspflichten aufzuerlegen. f) Abdingbarkeit des Widerspruchsrechts? Regelmäßig wird vertreten, dass das Widerspruchsrecht der Geschäftsführer im ­Gesellschaftsvertrag abbedungen werden kann. Dem kann nicht vollumfänglich gefolgt werden: Im Fall der Aufgabenverteilung hat jeder Geschäftsführer „eine Über­ wachungspflicht, die sie zwingt einzugreifen, wenn sich Anhaltspunkte ergeben, dass der zuständige Geschäftsführer in seinem Arbeitsbereich die Geschäfte nicht ordnungsgemäß führt“.72 Diese Pflicht kann nicht in der Satzung abbedungen werden. Ebenfalls nicht abdingbar ist die sich hieraus sowie aus der Pflicht zum kollegialen Zusammenwirken und der Ausrichtung jedes Geschäftsleiterhandelns auf das Unternehmensinteresse ergebende Befugnis, dass eine Entscheidung eines Mitgeschäftsführers im Geschäftsleitungsgremium erörtert und über sie Beschluss gefasst wird. 68 Rawert in Münchener Komm. zum HGB, 4. Aufl. 2016, § 115 Rz. 28. 69 Allg. hierzu BGH, Urteil vom 19.12.2017 – II ZR 255/16, NZG 2018, 221; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 10 II 2. (S. 256 ff.). 70 Finckh in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2016, § 115 HGB Rz. 29; Rawert in Münchener Komm. zum HGB, 4. Aufl. 2016, § 115 Rz. 30.  71 Finckh in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2016, § 115 Rz. 29; Rawert in Münchener Komm. zum HGB, 4. Aufl. 2016, § 115 Rz. 30; Drescher in Ebenroth/Boujong/Joost/ Strohn, HGB, 3. Aufl. 2014, § 115 Rz. 23. 72 BGH, Urteil vom 20. März 1986 – II ZR 114/85, NJW-RR 1986, 1293; BGH, Urteil vom 8. Juli 1985 – II ZR 198/84, NJW 1986, 54.

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Dieter Leuering

Einzig abdingbarer Baustein des Widerspruchsrechts ist der Suspensiveffekt des Widerspruchs, also dass die Umsetzung der fraglichen Maßnahme bis zur Entscheidung des Geschäftsleitungsgremiums nicht erfolgen darf. Es ist anerkannt, dass z.B. einem Sprecher der Geschäftsführung das Recht zum Stichentscheid, ein Vetorecht oder auch ein positives Alleinentscheidungsrecht zugesprochen werden kann.73 Der Ausschluss des Suspensiveffekts ist in der Sache ein positives Alleinentscheidungsrecht für den jeweils zuständigen Geschäftsführer.

V. Ergebnis 1. Aus der Gesamtverantwortung aller Geschäftsführer für eine ordnungsgemäße Geschäftsführung, aber auch aus ihrer Verpflichtung zur kollegialen Zusammenarbeit und auf das Unternehmensinteresse folgt ein Widerspruchsrecht des Inhalts, dass jeder Geschäftsführer verlangen kann, dass sich das Geschäftsführungsgremium mit der angegriffenen Maßnahme eines Mitgeschäftsführers befasst (Kollegialbefassungseffekt); bis dahin hat sie zu unterbleiben (Suspensiveffekt). Dem Gremium obliegt es zu entscheiden, ob die in Rede stehende Maßnahme ausgeführt wird oder zu unterbleiben hat. 2. Der Widerspruch eines Geschäftsführers kann sich auch auf die Herbeiführung des Suspensiveffekts beschränken. In diesem Fall kann jeder Mitgeschäftsführer einschließlich des Widerspruchsempfängers die angegriffene Maßnahme dem Geschäftsführungsgremium zur Entscheidung vorlegen. 3.  Dieses Widerspruchsrecht besteht ressortübergreifend. Es steht jedem einzelnen Geschäftsführer zu, und zwar auch, wenn er nur gemeinsam mit einem weiteren Geschäftsführer geschäftsführungsbefugt ist. 4. Wer einem Interessenkonflikt unterliegt, ist nicht widerspruchsbefugt. Ein rechtsmissbräuchlich erklärter Widerspruch ist unbeachtlich. 5. Gegenstand des Widerspruchs kann nur eine bevorstehende konkrete Einzelmaßnahme der Geschäftsführung sein. Auch noch nicht beschlossenen, künftigen Geschäftsführungsmaßnahmen kann widersprochen werden, wenn sie hinreichend konkret sind. 6. Ein Widerspruch wird wirksam, wenn er dem Geschäftsführer zugegangen ist, gegen dessen Vorhaben er gerichtet ist. Er ist grundsätzlich zu begründen, wobei ein unbegründeter Widerspruch allerdings nicht von vornherein unbeachtlich ist. 7. Der Suspensiveffekt des Widerspruchsrechts kann in der Satzung abbedungen werden, nicht jedoch das Recht zu verlangen, dass sich alle Geschäftsführer als Gremium mit der angegriffenen Maßnahme eines Mitgeschäftsführers befassen (Kollegialbefassungseffekt). 73 Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider in Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2014, § 37 Rz. 25.

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Detlef Liebs

Junior Philosophus zur Justiz im spätrömischen Reich

Um 360 n. Chr. verfasste Junior Philosophus eine Darstellung der ganzen Welt und der Völker (Expositio totius mundi et gentium) in 68 oft sehr kurzen Kapiteln; ansonsten ist von ihm nichts bekannt.1 Wie dem schmalen Werk zu entnehmen ist, stammte der Autor offenbar aus Syrien. Seine Lateinkenntnisse waren dürftig; vermutlich war Griechisch seine Muttersprache. Von Beruf scheint er Kaufmann gewesen zu sein, der vor allem mit Textilien handelte.2 Zu jeder der 61 behandelten Städte, hauptsächlich Städte des Ostens, allein 20 in Syrien, hebt er ihre besonderen Vorzüge hervor.3 Stets beschreibt er heidnische Bräuche und Tempel, während er die auch damals schon vorhandenen christlichen Sehenswürdigkeiten verschweigt; gleichwohl verrät sein Text Vertrautheit mit dem Christentum.4 Der Eindruck drängt sich auf, Junior sei unter christlichen Kaisern Christ gewesen, unter Julian dem Abtrünnigen jedoch auch seinerseits abtrünnig geworden, weshalb er Verwurzelung im Heidentum um so mehr betonte. Dazu passt auch der Beiname Philosophus, den er sich wohl selbst gab; der Text lässt keinerlei höhere Bildung erkennen. Um so willkommener sind seine unverstellten Urteile über damalige Zustände. Den hochgeschätzten Jubilar wird besonders Juniors Urteil über die Justiz seiner Zeit interessieren. Für einen Kaufmann ist eine zuverlässig arbeitende Justiz wichtig.5 1 Die einzige bekannte Handschrift der Expositio ist verschollen, doch ist eine Abschrift erhalten, die 1628 gedruckt wurde. Der Anfang mit Angabe des Verfassers fehlte seit je; das Ex­ plicit nennt aber das Werk: Expositio totius mundi et gentium. Eine spätere Bearbeitung, erhalten in drei Handschriften des 11., 12. und 14. Jh., glättete das unbeholfene und vulgäre Latein der Expositio und fügte christliche Elemente ein; diese Bearbeitung beginnt mit den Worten: Incipit liber Junioris Philosophi in quo continetur totius mundi descriptio. Viele bezweifeln die Angabe zum Verfasser, aber ohne stichhaltigen Grund; zutreffend J. R. Martindale, Art. Iunior 2, in Prosopography of the Later Roman Empire I, Cambridge 1971, 486; A. Demandt, Die Spätantike, 2. Aufl. München 2007, 27; u. Peter L. Schmidt in Handbuch der lateinischen Literatur der Antike VI, München (im Druck). Ausgabe mit Übersetzung ins Französische und Kommentar: Jean Rougé, Expositio totius mundi et gentium. Introduction, texte critique, traduction, notes et commentaire = Sources chrétiennes 124, Paris 1966; Übersetzung ins Deutsche (oft unbefriedigend) und Kommentar: H.-J. Drexhage u. R. Gamber, Die Expositio totius mundi et gentium, in Münstersche Beiträge zur Antiken Handelsgeschichte 2, 1983, 3–41.  2 Dazu bes. T. Grüll, Expositio totius mundi et gentium. A peculiar work on the commerce of Roman Empire from the mid-fourth century – compiled by a Syrian textile dealer?, in Studies in Economic and Social History of the Ancient Near East in Memory of Péter Vargyas, Budapest 2014, 629–642. 3 Genauer dazu Grüll, Expositio 634. 4 Grüll, Expositio 637–639. 5 Das bestätigen Juniors ungefähre Zeitgenossen Augustin (Nachweise bei D. Liebs, Die Juris­ prudenz im spätantiken Italien, Berlin 1987, 65); und Ammian, Res gestae 27, 7, 2. 

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Detlef Liebs

An drei Stellen der Expositio kommt die Justiz im Reich zur Sprache: bei Rom, dem ägyptischen Alexandrien und Beirut, das damals zu Syrien gehörte. Zu Rom heißt es unter anderem:6 Habet autem et senatum maximum virorum divitum, quos si per singulos probare volueris, invenies omnes iudices aut factos aut facturos esse aut potentes quidem, nolentes autem ­propter suorum frui cum securitate velle. Es hat aber auch einen sehr großen Senat reicher Männer, bei denen man, wenn man sie einzeln prüfen wollte, feststellen würde, dass sie alle hohe Richter entweder waren oder sein werden oder dazu zwar in der Lage wären, es aber ablehnen, weil sie ihren Besitz in Sicherheit genießen wollen.7

Iudices, damals hohe Richter und zugleich obere Verwaltungsbehörden, insbesondere als Provinzgouverneure, waren regelmäßig Senatoren, deren Reichtum in der Spät­ antike oft unermesslich war.8 Junior geißelte, dass die spätantiken Senatoren vielfach nicht bereit waren, viel Zeit im Staatsdienst zu verbringen; oft begnügten sie sich mit wenigen Jahren, gerade so vielen, wie für die Aufrechterhaltung des Senatorenstatus unerlässlich war.9 Sie zogen es vor, ihren Besitz zu genießen und wohl auch zu vermehren. Mit cum securitate wird Junior nicht nur gemeint haben, dass im Staatsdienst Gefahren lauern konnten, auch für Leib und Leben, sondern dass man sich damit auch der Gefahr einer Anklage wegen Amtsmissbrauchs aussetzte. Das widerfuhr in der Spätantike mit ihrem absolutistischen Regiment verhältnismäßig vielen Magistraten und Militärs, auch aufgrund von Verleumdungen.10 In seiner besonders ausführlichen Beschreibung des ägyptischen Alexandrien, die sich über vier Kapitel erstreckt, sagt Junior zu Beginn des letzten:11 Iam et civitatem iudicibus bene regentem invenies; in contemptu semen12 solus populus ­ lexandriae: iudices enim in illa civitate cum timore et tremore intrant, populi iustitiam A timentes; ad eos enim ignis et lapidum emissio ad peccantes iudices non tardat. 6 Expositio 55, S. 9.  7 Unbefriedigend insoweit die Übersetzung von Drexhage u. Gamber, Die Expositio 32. 8 Dazu etwa Demandt, Die Spätantike 338–340. Ein höheres Staatsamt hatte man regelmäßig nur wenige Jahre lang inne, oft nur ein einziges. 9 Demandt, Die Spätantike 340 f. 10 S. etwa Firmicus Maternus, Mathesis 3, 5, 8 u. 10; Ammian, Res gestae 26, 10, 14 (allgemein) u. 15, 3–14. Zu den zahllosen, in ihrer Menge von Hilflosigkeit zeugenden Kaisergesetzen gegen Korruption in der Beamtenschaft K. L. Noethlichs, Beamtentum und Dienstvergehen. Zur Staatsverwaltung in der Spätantike, Wiesbaden 1981. Die Anklagen waren nicht selten umstritten, s. zum Fall des Silvanus Ammian, Res gestae 15, 5; zu den Ratsherren mehrerer Städte Ammian, ebenda 27, 7, 6 f.; zu Memmius Vitrasius Orfitus D. Liebs, Hofjuristen der römischen Kaiser bis Justinian, München 2010, 99–101; zum Stadtpräfekten von Konstantinopel Theodotus qui et Colocynthius einerseits Prokop, Anekdota 9, 35–42; andererseits Malalas, Chronographia 17, 12. 11 Expositio 37, S. 1; eigene Übersetzung. 12 So die Handschrift nach dem Zeugnis des Drucks der Abschrift, was zu den verschiedensten Emendationen führte; doch kann m.E. auch dem Überlieferten ein Sinn abgewonnen werden, wie unbeholfen auch immer er zum Ausdruck kommt.

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Junior Philosophus zur Justiz im spätrömischen Reich Schließlich entdeckt man auch, dass die Stadt mit den Richtern gut zurechtkommt; was die Bereitschaft betrifft, (sc. der öffentlichen Gewalt) zu trotzen, so ist das Volk von Alexandrien einmalig: die Richter betreten die Stadt nämlich mit Furcht und Zittern, weil sie die Justiz des Volkes fürchten; bei ihnen zögert man nämlich nicht, auf pflichtvergessene Richter Feuer und Steine zu schleudern.

Das Volk in Alexandrien ist zu Lynchjustiz bereit, wenn Richter peccantes waren, also ihre Pflichten grob verletzten; die iudices, hier der Präfekt und andere hohe Beamte, wurden aus der Reichshauptstadt entsandt und stets nach wenigen Amtsjahren ausgewechselt. Das Schicksal Hypatias wenige Jahrzehnte später13 hätte danach jederzeit auch kaiserliche Beamte dort treffen können; die Bevölkerung von Alexandrien war für derartige Ausschreitungen berüchtigt, besonders in der Spätantike.14 Junior rühmte diese Neigung; für ihn war Lynchjustiz ein willkommenes Korrektiv der kaiserlichen Justiz und Verwaltung, deren Vertretern er misstraute, der Volksjustiz dagegen nicht. Das kurze Kapitel über Beirut lautet wie folgt:15 Post istam (sc. Tyrum) Berytus, civitas valde deliciosa et auditoria legum habens per quam omnia judicia Romanorum . Inde enim viri docti in omnem orbem terrarum adsident judicibus et scientes leges custodiunt provincias, quibus mittuntur legum ordinationes. Nach dieser (sc. der Stadt Tyrus) Beirut, eine äußerst liebliche Stadt, die auch über Hörsäle für die Rechtkunde verfügt; sie alle Gerichte der Römer. Denn die gelehrten Männer von dort sitzen auf der ganzen Welt an der Seite der Richter, und weil sie das Recht kennen, wachen sie über die Provinzen; sie sind es, mit deren Hilfe die Gesetzesbefehle (sc. im Reich) verbreitet werden.

Von dieser Stadt rühmt Junior kurz ihre Schönheit und ausführlicher die Ausbildungsstätten für Juristen dort. Sie kämen dem ganzen Reich zugute, weil die dort Ausgebildeten als Beisitzer der Richter weltweit segensreich wirken. Bei keiner anderen Stadt kommen Rechtsunterricht und Juristen zur Sprache, obwohl die meisten anderen Städte ausführlicher als Beirut behandelt sind; nicht einmal im viel ausführlicheren Kapitel über Rom,16 wo die Juristenausbildung ihre alte Heimstatt hatte und noch immer gepflegt wurde.17 Außerdem sagt Junior, es seien die juristisch ausge­ bildeten Beisitzer, welche die Gesetzesbefehle im Reich verbreiten. Mit legum ordi­ nationes meint er wohl – zumindest hauptsächlich – Kaisergesetze. Konkret bedeutet das, dass die Beisitzer über aktuelle Rechtsliteratur, insbesondere Gesetzessammlungen verfügten, die Richter selbst nicht; letztlich würden die Beisitzer dafür sorgen, dass überall das aktuell geltende Recht angewandt wurde. 13 Dazu etwa Tassilo Schmitt, Überlegungen zum Mord an Hypatia, vorgetragen am 12. Juli 2014 in Freiburg i. Br., bisher unveröffentlicht; u. Edward J. Watts, Hypatia. The Life and Legend of an Ancient Philosopher, Oxford 2017,107–120, bes. 113 ff. 14 Nachweise bei Watts, Hypatia 115 f. 15 Expositio 25. < > kennzeichnet Ergänzung des Texts der Expositio aus der Descriptio; eigene Übersetzung. 16 Expositio 55, S. 3–10. 17 Liebs, Italien 55–61, 81–94 u. 150–162.

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Detlef Liebs

In der Tat hatte jeder hohe Richter, genauer: jeder mit Rechtsprechung befasste hohe Beamte einen von der öffentlichen Hand fest besoldeten assessor, mag die Hauptaufgabe des rechtsprechenden Beamten auch die Polizei in der Hauptstadt (praefectus vigilum), die Lebensmittelversorgung dort (praefectus annonae), Verwaltung kaiserlicher Güter in den verschiedenen Provinzen, z.B. der procurator Augusti patrimoni provinciae Narbonensis, oder auch ein militärisches Kommando gewesen sein; die Reichspräfekten und der Kaiser hatten mehrere assessores. Der Oberbeamte konnte ihn frei wählen und ebenso frei entlassen, wobei er allerdings auf die öffentliche Meinung in seinem Amtsbezirk Rücksicht nehmen musste; die Bevölkerung ruhig zu halten, sie ihren Geschäften nachgehen und Steuern zahlen zu lassen, war seine Hauptaufgabe. Wenn möglich, engagierte er einen Juristen als Assessor. In der Spätantike lebten fast alle Einwohner nach römischem Recht und war die Jurisdiktion als Teil der kaiserlichen und kommunalen Zivil- und zum Teil auch der Militärverwaltung stark ausgebaut worden. Der Bedarf an ausgebildeten Juristen war groß, größer als die Zahl der für das Anfängeramt einer Assessur zur Verfügung stehenden Absolventen der anspruchsvollen Rechtsschulen. Die Assessoren waren eine Autorität in Rechtsfragen, an deren Auskunft sich der Richter hielt;18 er konnte sie nicht ohne Weiteres übergehen. Und während Junior den iudices grundsätzlich misstraute, zeichnete er die Assessoren als integer. Offenbar beruhte das auf seinen Erfahrungen mit dem Rechtswesen im Reich; andere Quellen bestätigen es.19 Die Assessoren waren regelmäßig Juristen; und nach römischem Selbstverständnis durften Juristen sich nicht einseitig für ausschließlich persönliche Interessen einspannen lassen,20 heute keineswegs selbstverständlich. Die iudices dagegen leiteten gleichzeitig die Zivil- bzw. gegebenenfalls Militärverwaltung und waren – bis auf Ausnahmen – keine Juristen, sondern zum Befehlen und frei zu reden erzogen; sie verfolgten eine Laufbahn als politische Beamte und waren auf weitere Beförderung bedacht, dadurch stärker in Beziehungen mit den Mächtigen verstrickt. Und insofern die Assessur ein Anfängeramt, die Assessoren gewöhnlich jung waren, war, was ihre Lehrer ihnen mitgegeben hatten, deren Juristenethos21 noch ungebrochen.

18 Dig. 1, 22, 1 (aus Paulus, De officio adsessorum); 2, 2, 2 (aus Paulus, Ad edictum III); ­Ammian, Res gestae 23, 6, 82.  19 S. zum Fall des Alypius Augustin, Confessiones 6, 10. 20 Näher dazu D. Liebs, Der Beruf des Juristen in der Spätantike, in Atti dell’Accademia Romanistica Costantiniana XXIII (Neapel, 2019), 141–182, bes. 154–162. 21 S. etwa aus dem frühen 2., frühen und späten 3., rezipiert im frühen 6. Jh. Dig. 1, 1, 1 pr. § 1 (aus Ulpian, Institutiones I, im pr. auf Celsus Bezug nehmend) und 1, 1, 10 (aus Ulpian III wohl aus dem späten 3. Jh., D. Liebs in Handbuch der lateinischen Literatur der Antike V, München 1989, 67 f.), u. dazu etwa D. Nörr, Iurisperitus sacerdos, in D. Nörr, Historiae iuris antiqui II, Goldbach 2003, 851–868 (zuerst 1973); u. W. Waldstein, Vera philosophia, Neapel 2013 (zuerst 1967–2011); und aus dem mittleren 6. Jh. Julian von Konstantinopel, bes. seine sog. Scholien zu seinem Novellenauszug, u. dazu Liebs, Italien (Fn. 5), 223–234, bes. 230 u. 234; und sein Dictatum de consiliariis, dazu Liebs, ebenda 235–244, bes. 244.

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Marc Löbbe

Verhältnis von § 130 OWiG und Organisationspflichten des Vorstands und der Geschäftsführung nach §§ 93 AktG, 43 GmbHG Inhaltsübersicht I. Einleitung und Themenabgrenzung II. Die gesellschaftsrechtliche Compliance-­ Verantwortung des Vorstands und der Geschäftsführung 1. Rechtsgrundlage 2. Ermessensspielraum und Business Judgement Rule III. Teleologie der Compliance-Verantwortung im Ordnungswidrigkeiten- und im Gesellschaftsrecht 1. Relevanz einer teleologischen Standortbestimmung 2. Normzweck des § 130 OWiG 3. Telos der gesellschaftsrechtlichen ­Compliance-(Organisations-)Pflicht 4. Rechtsnatur der Compliance-Verant­ wortung, unternehmerischer Ermessenspielraum und Zumutbarkeitsschranken

IV. Zivilrechtsakzessorietät des Strafrechts: Der Fall „Mannesmann“ 1. Aktienrechtliche Konkretisierung der Vermögensbetreuungspflicht 2. Gesellschaftsrechtsakzessorietät des Strafrechts V. Rangverhältnis zwischen der Compliance-­ Verantwortung im Ordnungswidrig­ keiten- und im Gesellschaftsrecht 1. Asymmetrische Akzessorietät des ­Ordnungswidrigkeitenrechts 2. Praktische Konsequenzen 3. Konzernweite Ausdehnung der ­Aufsichtspflichten nach § 130 OWiG VI. Resümee und Ausblick

I. Einleitung und Themenabgrenzung Wer sich in der heutigen Zeit mit Organhaftung aus gesellschaftsrechtlicher Perspektive befasst, kommt sehr schnell auch mit Fragen einer ordnungswidrigkeitenrechtlichen oder strafrechtlichen Verantwortung der Organmitglieder in Berührung. Erweisen sich unternehmerische Entscheidungen als falsch und entsteht der Gesellschaft dadurch ein Schaden, wird häufig nicht nur der Vorwurf der Verletzung von aktienrechtlichen Sorgfaltspflichten durch die Organmitglieder erhoben. Vielmehr werden sie nicht selten auch Gegenstand strafrechtlicher Ermittlungen, insbesondere wegen des Verdachts der Untreue. Kommt es zu Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten durch Mitarbeiter des Unternehmens, stellt sich die Frage einer Verantwortlichkeit der Geschäftsleitungs- oder Aufsichtsorgane wegen Verletzung ihrer Organisationsund Aufsichtspflichten nicht nur aus gesellschaftsrechtlicher Perspektive, sondern auch unter dem Gesichtspunkt des §  130 OWiG.1 Aber auch umgekehrt muss der 1 Hinzu kommt eine allgemein zu beobachtende Tendenz des Gesetzgebers, Verstöße gegen kapitalmarktrechtliche und aufsichtsrechtliche Vorschriften oder Normen des Bilanzrechts

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Marc Löbbe

Aufsichtsrat, wenn gegen das Unternehmen eine Geldbuße nach § 30 OWiG verhängt wird, nach den Grundsätzen der ARAG/Garmenbeck-Entscheidung des BGH2 prüfen, ob und inwieweit amtierende Vorstandsmitglieder dafür zivilrechtlich verantwortlich sind und die Gesellschaft nach § 93 Abs. 2 AktG auf Schadensersatz haften.3 Dies gilt insbesondere, aber nicht nur dann, wenn die Geldbuße mit dem Vorwurf einer Aufsichtspflichtverletzung nach § 130 OWiG verbunden ist. Daher verwundert es nicht, dass man sich in der gesellschaftsrechtlichen Beratungspraxis sowohl bei der Beratung im Vorfeld wichtiger unternehmerischer Entscheidungen als auch bei der nachträglichen Aufarbeitung von Fehlentwicklungen oder Missständen im Unternehmen nicht nur mit den zivilrechtlichen Aspekten der Organhaftung, sondern auch mit straf- und ordnungswidrigkeitenrechtlichen Fragestellungen konfrontiert sieht. Umso erstaunlicher ist es, dass das Verhältnis von Gesellschaftsrecht einerseits und Straf- bzw. Ordungswidrigkeitenrecht andererseits im Bereich der Organhaftung noch weitgehend ungeklärt ist.4 Dies gilt insbesondere für das Verhältnis der die Organe gesellschaftsrechtlich treffenden Organisationspflichten aus §§ 93 AktG, 43 GmbHG einerseits zu den Aufsichts- und Organisationspflichten nach § 130 OWiG andererseits, deren Verletzung das Ordnungswidrigkeitenrecht sowohl gegenüber dem Organmitglied als auch gegenüber dem Unternehmen (§ 30 OWiG) mit einer Geldbuße sanktioniert. Diesem Thema soll der Beitrag zu Ehren des Jubilars gewidmet sein, der als Leiter des Referats Gesellschaftsrecht, Corporate Governance und Unternehmensverfassung im Bundesministerium für Justiz sich auch immer wieder mit Fragen der Organhaftung befasst hat. Zunächst wird ein kurzer Überblick über den gegenwärtigen Diskussionsstand zur Compliance-Verantwortung des Vorstands und der Geschäftsführer im Gesellschaftsrecht gegeben (vgl. II.). In einem zweiten Schritt soll das Telos der Compliance-Verantwortung im Ordnungswidrigkeitenrecht einerseits und im Gesellschaftsrecht andererseits vor dem Hintergrund des Grundsatzes der „Einheit der Rechtsordnung“ näher beleuchtet werden (vgl. III.). Im Anschluss wird die Entscheidung des BGH in Sachen „Mannesmann“ mit in den Blick genommen, in der sich der III. Strafsenat im Hinblick auf den Straftatbestand der Untreue (§ 266 StGB) mit dem Verhältnis zwischen Zivil- bzw. Gesellschaftsrecht und Strafrecht befasst hat (vgl. IV.). Vor diesem Hintergrund soll schließlich das Verhältnis von gesellschaftsrechtlichen Organisa­ in jüngerer Zeit zunehmend durch Geldbußen zu sanktionieren. Nur beispielhaft seien in diesem Zusammenhang etwa die Verschärfung der aufsichtsrechtlichen Bestimmungen für Kreditinstitute im Zuge der Aufarbeitung der Finanzkrise und des Kapitalmarktrechts durch die Marktmissbrauchsverordnung sowie des Gesellschafts- und Bilanzrechts durch das AReG erwähnt. 2 BGH v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244 ff. 3 In der Literatur wird dabei vornehmlich im Zusammenhang mit kartellrechtlichen Geldbußen die Frage diskutiert, ob und inwieweit diese gegenüber Organmitgliedern regressierbar sind. Dieser Frage soll im Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht nachgegangen werden. 4 Vielfach ist es noch nicht einmal Gegenstand einer breiteren oder vertieften rechtswissenschaftlichen Diskussion. Erst in der jüngeren Vergangenheit hat ein Austausch zwischen den beiden unterschiedlichen Fachrichtungen stattgefunden, etwa auf dem ZGR-Symposium 2016, vgl. ZGR 2016, 185 ff.

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§ 130 OWiG und Organisationspflichten

tionspflichten von Vorstand und Geschäftsführung nach §§  93 AktG, 43 GmbHG und den Aufsichts- und Organisationspflichten des § 130 OWiG bestimmt werden (vgl. V.).5

II. Die gesellschaftsrechtliche Compliance-Verantwortung des Vorstands und der Geschäftsführung 1. Rechtsgrundlage Die umfangreiche Diskussion in der Rechtswissenschaft um die Rechtsgrundlage und Voraussetzungen der Compliance-Verantwortung des Vorstands und der Geschäftsführung im Gesellschaftsrecht6 kann an dieser Stelle nur sehr verkürzt wiedergeben werden. Sie wird in erster Linie im Aktienrecht geführt, kann jedoch ohne weiteres auch auf die GmbH übertragen werden.7 Ein Teil der aktienrechtlichen Literatur leitet die aktienrechtliche Compliance-Pflichten und damit auch die korrespondierenden Organisationspflichten aus § 130 OWiG ab bzw. befürwortet eine Gesamtanalogie zu spezialgesetzlich geregelten Compliance-Pflichten aus dem öffentlichen Recht oder bank-, wertpapier- und versicherungsrechtlichen Vorschriften (§ 52b BImSchG, § 25a KWG, § 80 WpHG).8 Wer dieser Ansicht folgt, für den ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen den Aufsichts- und Organisationspflichten aus §  130 OWiG und der aktienrechtlichen Compliance-Pflicht des Vorstands leicht zu beantworten. Ergibt sich bereits die Compliance-Verantwortung des Vorstands aus Rechtsnormen außerhalb des Aktienrechts, sind auch die Anforderungen an eine ordnungsgemäße Aufsicht bzw. Organisation des Unternehmens durch den Vorstand aus den jeweiligen Rechtsnormen abzuleiten, und die aktienrechtliche Sorgfaltspflicht des §  93 AktG sanktioniert diese als Rechtsverletzung lediglich durch eine Schadensersatzpflicht unmittelbar gegenüber der Gesellschaft (§ 93 Abs. 2 AktG). Die These von der (Gesamt-) Analogie findet heute im gesellschaftsrechtlichen Schrifttum allerdings nur noch wenig Zuspruch. Die heute ganz h.M. im Aktienrecht leitet die Compliance-Verantwortung des Vorstands vielmehr zutreffender Weise aus dessen allgemeiner Leitungsverantwortung nach §§ 76 Abs. 1, 93 Abs. 1 AktG ab und 5 Die gesellschaftsrechtlichen Organisationspflichten von Vorstand und Geschäftsführung können weit über die Compliance-Organisation im engeren Sinne hinausreichen. So können abhängig von Größe und Struktur des Unternehmens eine unzureichend organisierte interne Revision oder ein defizitäres Controlling für Vorstand und Geschäftsführung ebenso Haftungsgefahren aus Organhaftung begründen wie eine mangelhafte Compliance Organisation, vgl. Wiesner in MünchHB des GesR, Bd. 4, 4. Aufl. 2015, § 25 Rz. 8 ff.; Fleischer in Spindler/Stilz, 3. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 56.  6 Vgl. nur Harbarth, ZHR 179 (2015), 136  ff.; Reichert in FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 943 ff.; Reichert/Ott, NZG 2014, 241 ff. 7 Vgl. Ziemons in Michalski/Heidinger/Leible/Schmidt, 3. Aufl. 2017, § 43 GmbHG Rz. 174 ff.; Paefgen in Ulmer/Habersack/Löbbe, 2. Aufl. 2014, § 43 GmbHG Rz. 54 ff. (allerdings mit Bedenken gegenüber einer pauschalen Anwendung aktienrechtlicher Grundsätze). 8 U. H. Schneider, ZIP 2003, 645, 649; ders., ZGR 1996, 225, 230.

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sieht in ihr eine genuin aktienrechtliche bzw. gesellschaftsrechtliche Pflicht.9 Dies gilt insbesondere für deren organisationsrechtliche Komponente, die den Vorstand nicht nur zu eigenen rechtmäßigen Verhalten verpflichtet (sog. Legalitätspflicht), sondern ihm aufgibt, eine Organisation zu schaffen, Rechtsverstöße durch das Unternehmen und seine Mitarbeiter zu verhindern.10 In der neuen Compliance-Diskussion haben sich hierfür die Begriffe Legalitätskontroll- oder Legalitätsdurchsetzungspflicht eingebürgert. Im Kern geht es jedoch um eine Organisationspflicht des Vorstands. Damit ist indes die Frage nach dem Verhältnis der aktienrechtlichen Compliance-­ (Organisations)-Pflicht zu den Aufsichts- und Organisationspflichten nach §  130 OWiG noch nicht beantwortet. Denkbar ist, dass die straf- bzw. ordnungswidrigkeitenrechtlichen Compliance-(Organisations-)Pflichten und diejenigen aus dem Gesellschaftsrecht nach §§  93 AktG, 43 GmbHG selbstständig nebeneinanderstehen. Alternativ könnten diese nach einheitlichen rechtlichen Maßstäben zu bestimmen sein, wobei sich dann die Folgefrage stellen würde, ob die aktienrechtlichen Organisationsanforderungen denjenigen des § 130 OWiG folgen oder umgekehrt. 2. Ermessensspielraum und Business Judgement Rule Ein zentrales Problem der aktienrechtlichen Compliance-Beratung ist die Frage, in welchem Umfang dem Vorstand bzw. der Geschäftsführung ein Ermessen bei der Einrichtung einer Compliance-Organisation zukommt. Damit ist die Frage der ­Anwendbarkeit der Business Judgement Rule angesprochen. Da ausweislich der Begründung zum UMAG §  93 Abs.  1 Satz 2 AktG nicht auf „rechtlich gebundene ­Entscheidungen“ anwendbar sein soll,11 könnte man in Betracht ziehen, alle die ­Compliance-Organisation betreffenden Maßnahmen als nicht von der Business Judge­ ment Rule erfasst anzusehen, da „Compliance“ gerade der Rechtsdurchsetzung dient. Richtigerweise wird man jedoch zumindest in Bezug auf das „Wie“ der Compliance-­ Organisation, also in Bezug auf die Auswahl der in Betracht kommenden Maßnahmen (Compliance-Hotline, Schulungen, Compliance-Beauftragter usw.), die Anwendbarkeit der Business Judgement Rule bejahen müssen.12 Völlig freie Hand hat der Vorstand bzw. die Geschäftsführung deshalb nicht, denn evident untaugliche Maßnahmen genügen nicht den Anforderungen der Business Judgement Rule. Zudem muss der Vorstand bzw. die Geschäftsführung ihre Entscheidung über die Ausgestaltung der Compliance-Organisation und die erforderlichen 9 Vgl. Fleischer in Spindler/Stilz, 3. Aufl. 2015, § 91 AktG Rz. 50; Fleischer, AG 2003, 291, 298; ders., BB 2008, 1070, 1072; Harbarth, ZHR 179 (2015), 136, 144 f.; Bachmann in VGR 2007, 2008, S. 65, 73 f.; Bürkle, BB 2007, 1797, 1799; Campos Nave/Bonenberger, BB 2008, 734; Immenga in FS Schwark, 2009, S. 199, 202; Lutter in FS Goette, 2011, S. 289, 291; Mertens/ Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 91 AktG Rz. 35; Verse, ZHR 175 (2011), 401, 404; Winter in FS Hüffer, 2010, S. 1103, 1104. 10 Vgl. Fleischer, CCZ 2008, 1, 2; Harbarth, ZHR 179 (2015), 136, 146 f. 11 BT-Drucks. 15/5092, S. 11.  12 Die Anwendbarkeit des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auch auf das „Ob“ befürwortend: Harbarth, ZHR 179 (2015), 136, 153. 

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Compliance-Maßnahmen auf einer angemessenen Informationsgrundlage treffen. Das Geschäftsleitungsorgan hat bei der Aufsetzung und Fortentwicklung der Com­ pliance-Organisation seines Unternehmens insbesondere den Grad der Anfälligkeit seines Unternehmens für Rechtsverstöße, das regulatorische Umfeld und den Rang der bedrohten Rechtsgüter im Rahmen einer umfassenden Risikoanalyse zu analysieren und die erwiesene Wirksamkeit bzw. Unwirksamkeit der einzelnen Compliance-­ Programme und -Maßnahmen in Betracht zu ziehen.13

III. Teleologie der Compliance-Verantwortung im Ordnungs­ widrigkeiten- und im Gesellschaftsrecht Wer den Versuch unternimmt, die gesellschaftsrechtlichen sowie die straf- bzw. ordnungswidrigkeitenrechtlichen Compliance-(Organisations)-Pflichten des Vorstands zueinander in Beziehung zu setzen, kommt an dem Grundsatz der „Einheit der Rechtsordnung“ nicht vorbei. Dieser Grundsatz ist in der Praxis indes keineswegs so einfach zu handhaben wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Daher muss sein Anwendungsbereich zunächst einmal genauer bestimmt werden muss. 1. Relevanz einer teleologischen Standortbestimmung Eine Rechtsordnung, die so fragmentiert ist, dass der Rechtsanwender ihr keine sinnvolle Handlungsanweisung mehr entnehmen kann, stellt sich selbst in Frage.14 Weder das Gesellschaftsrecht noch das Straf- bzw. Ordnungswidrigkeitenrecht dürfen das zulassen. Im straf- und staatsrechtlichen Schrifttum gibt es zwar erhebliche Vorbehalte gegenüber dem als konturenlos empfundenen Einheitsbegriff.15 Soweit damit allerdings die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung bezeichnet werden soll, teilt man die Einschätzung, dass es sich hierbei um ein Fundamentalprinzip der Rechtsordnung handelt.16 Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Hochentwickelte Rechtsordnungen zeichnen sich durch einen hohen Differenzierungsgrad aus. Sie verfügen über privat-, straf- und öffentlich-rechtliche Teilrechtsordnungen, die jeweils noch weitere Binnendifferenzierung aufweisen.17 So ist es keineswegs ungewöhnlich, dass straf- und öffentlich-rechtlichen Rechtsbegriffen ein anderes Verständnis zugrunde liegt als dem Zivilrecht. Man denke etwa an den zivilrechtlichen Eigentumsbegriff, der sich nicht mit demjenigen deckt, der der Eigentumsgarantie des Art.  14 GG zugrunde liegt.18

13 Vgl. Harbarth, ZHR 179 (2015), 136, 153. 14 Vgl. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl. 1983, S. 16 ff. 15 Vgl. VVDStRL 50 (1991), S. 205, 293, 298, 303 f. 16 So u.a. Ossenbühl in VVDStRL 50 (1991), S. 302.  17 Vgl. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 399 ff. 18 Bruckner in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2017, § 903 BGB Rz. 4 ff.

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Eine unbeschränkte Autonomie ist den Teilrechtsordnungen allerdings nicht zugedacht. Insbesondere kann die formale Zuordnung eines Rechtssatzes zu einer anderen Teilrechtsordnung nicht ausschlaggebend sein, um dem Verdikt der Widersprüchlichkeit zu entgehen. Um festzustellen, ob divergierende Anforderungen im Bereich ein und desselben Lebenssachverhaltes als widersprüchlich zu qualifizieren sind, bedarf es inhaltlicher Maßstäbe, d.h. es kommt auf die Zielsetzung der jeweiligen Rechtssätze an.19 Dienen sie unterschiedlichen legislativen Zwecken, ist der Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung nicht berührt, selbst wenn sich die Anwendungsbereiche der jeweiligen Vorschriften decken.20 2. Normzweck des § 130 OWiG Um das Verhältnis von gesellschaftsrechtlichen Compliance-(Organisations-)Pflichten und solchen nach § 130 OWiG zu bestimmen, ist demnach in einem ersten Schritt zu prüfen, welchem Telos die beiden Teilrechtsordnungen im Bereich Compliance verpflichtet sind. § 130 OWiG will sicherstellen, dass in Betrieben und Unternehmen Vorkehrungen gegen die Begehung betriebsbezogener Straftaten bzw. Ordnungs­ widrigkeiten getroffen werden. Er beruht auf dem Gedanken, dass der Inhaber wirtschaftlich tätiger Verbände bzw. deren Geschäftsleitungsorgan verpflichtet sind, Normverstößen aus dem Unternehmen entgegenzuwirken.21 So soll dabei den Gefahren des arbeitsteiligen Zusammenwirkens im Unternehmen Rechnung getragen werden.22 Von den bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu beachtenden Besonderheiten abgesehen hat die Aufsichtspflicht nach § 130 OWiG vornehmlich öffentliche Interessen im Blick.23 3. Telos der gesellschaftsrechtlichen Compliance-(Organisations-)Pflicht Der Sinn und Zweck der gesellschaftsrechtlichen Compliance-Verantwortung des Vorstands bzw. der Geschäftsführung lässt sich weniger eindeutig bestimmen. Als Teil des Privatrechts steht das Gesellschaftsrecht im Dienst der privaten Akteure, die sich einer Kapital- oder Personengesellschaft zur Durchsetzung ihrer Interessen bedienen. Folglich sind auch die gesellschaftsrechtlichen Organe auf das Unternehmens­ 19 Vgl. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 253, 401 f. 20 Die mit Blick auf das Postulat „Einheit der Rechtsordnung“ zu berücksichtigenden Unterschiede in Wertung und Zielsetzung der jeweiligen Teilrechtsordnungen betonen auch P.  Kirchhof, Unterschiedliche Rechtswidrigkeiten in einer einheitlichen Rechtsordnung, 1978, S. 32 ff.; Wieacker in Ausgewählte Schriften, Bd. 2, 1983, S. 121, 133.  21 Rogall in KarlsruherKomm. OWiG, 5. Aufl. 2018, § 130 OWiG Rz. 1.  22 Vgl. Graf in BeckOK, 20. Ed., Stand: 1.10.2018, § 130 AktG Rz. 4 ff.; Rogall in KarlsruherKomm. OWiG, 5. Aufl. 2018, § 130 OWiG Rz. 2 f. 23 Im Ordungswidrigkeitenrecht ist im Einzelnen umstritten, ob geschütztes Rechtsgut die „Ordnung im Betrieb“ i.S. eines staatlichen Ordnungsinteresses (insbes. BGH v. 13.4.1994 – II ZR 16/93, BGHZ 125, 366, 373) oder die von den einzelnen betriebsbezogenen Vorschriften des Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts geschützten Rechtsgüter sind. Zum Streitstand Graf in BeckOK, 20. Ed., Stand: 1.10.2018, § 130 AktG Rz. 8 ff.; Rogall in KarlsruherKomm. OWiG, 5. Aufl. 2018, § 130 OWiG Rz. 14 ff.

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interesse und nicht auf das Gemeinwohl oder auf staatspolitische Ziele verpflichtet.24Allerdings findet die Ausrichtung auf das Unternehmensinteresse im Rahmen der Legalitätspflicht insoweit eine bedeutsame Einschränkung, als dass das deutsche Gesellschaftsrecht keine „nützlichen“ Rechtsverstöße bzw. Pflichtverletzungen der Organmitglieder kennt, d.h. ein Rechtsverstoß des Vorstands bzw. der Geschäftsführung stellt auch dann eine Sorgfaltspflichtverletzung gegenüber der Gesellschaft nach §§ 93 AktG, 43 GmbHG dar, wenn dieser (vermeintlich) im Unternehmensinteresse liegt.25 Nicht anderes kann für die aus §§ 93 AktG, 43 GmbHG abzuleitende Com­pliance(Organisations-)Pflicht des Geschäftsleitungsorgans gelten, da die h.M. die Com­ pliance-Verantwortung des Vorstands bzw. der Geschäftsführung als eine Aus­prägung oder „Verlängerung“ der für organunmittelbares Verhalten anerkannten Legalitätspflicht begreift.26 Würde man das anders sehen, wäre ein Raum für „nützliche Pflichtverletzungen“ eröffnet. Sollte in bestimmten Konstellationen sich aus Unterneh­ mensperspektive das Tolerieren rechtswidriger Handlungen als für die Gesellschaft „nützlich“ darstellen, müsste man konsequenterweise dem Vorstand bzw. der Geschäftsführung das Recht zubilligen, untätig zu bleiben. Das wiederum hätte die merkwürdige Konsequenz, dass die strikte Bindung an Recht und Gesetz nur gelten würde, soweit der Vorstand bzw. die Geschäftsführung persönlich handelte, und diese sich der ihnen durch die Legalitätspflicht auferlegten Bindungen durch schlichte Delegation von Aufgaben entledigen könnten.27 Damit ist letztlich der gleiche Normzweck berührt wie im Rahmen des § 130 OWiG. Beide Normen wollen Rechtsverletzungen aus dem Unternehmen heraus bzw. durch Mitarbeiter des Unternehmens verhindern und sanktionieren deshalb den Vorstand bzw. die Geschäftsführung, wenn diese keine hinreichenden organisatorischen Vorkehrungen zur Verhinderung von Rechtsverstößen getroffen haben.28 Dabei sanktioniert die aktienrechtliche Legalitätspflicht solche Organisations- und Aufsichtspflichtverletzungen im Innenverhältnis gegenüber der Gesellschaft durch Schadens­ ersatzansprüche (§§ 93 Abs. 2 AktG, 43 Abs. 2 GmbHG). Demgegenüber führt ein Verstoß gegen § 130 OWiG zu einer Geldbuße für das Organmitglied, das seine Aufsichts- bzw. Organisationspflichten verletzt hat. Eine Geldbuße kann über § 30 OWiG 24 Einen umfassenden Überblick über die Diskussion der letzten Jahrzehnte bietet Fleischer in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 76 AktG Rz. 63 ff. 25 BGH v. 13.9.2010  – 1 StR 220/09, NJW 2011, 88, 92; Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 107; Fleischer in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 43 GmbHG Rz. 43.  26 Verse, ZHR 175 (2011), 401, 404; Harbarth, ZHR 179 (2015), 136, 146 f.; Goette, ZHR 175 (2011), 388, 391 f.; Reichert in FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 943, 945; Bicker, AG 2012, 542, 543. 27 Harbarth, ZHR 179 (2015), 136, 146.  28 § 130 OWiG knüpft insoweit zwar unmittelbar an den Betriebs- bzw. Unternehmensinhaber an. § 9 OWiG ermöglicht jedoch die Erstreckung auf die gesetzlichen Vertreter und Organe, die die Aufsichts- und Kontrollpflichten im Unternehmen letztlich ausüben vgl. Rogall in KarlsruherKomm. OWiG, 5. Aufl. 2018, § 130 OWiG Rz. 26.

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auch gegen die Gesellschaft selbst verhängt werden.29 Teilweise wird deshalb in der Literatur auch zwischen der Legalitätspflicht im Innenverhältnis aus § 93 AktG und der Legalitätspflicht im Außenverhältnis nach §  130 OWiG unterschieden.30 Dies ­ändert indes nichts daran, dass jedenfalls im Ausgangspunkt das gleiche Telos verfolgt wird. Im Ergebnis dient die Pflicht zur Einrichtung einer funktionsfähigen Compliance-­Organisation im Ordnungswidrigkeiten- und im Gesellschaftsrecht somit dem gleichen Normzweck, der Verhinderung von Rechtsverstößen durch das Unternehmen und seine Mitarbeiter im Rahmen einer arbeitsteiligen Unternehmensorganisation. Damit stellt sich die Frage nach der Einheit der Rechtsordnung. 4. Rechtsnatur der Compliance-Verantwortung, unternehmerischer Ermessenspielraum und Zumutbarkeitsschranken Die Rechtsnatur der gesellschaftsrechtlichen Legalitätspflicht wird selten erörtert. Auch wenn ihr Anwendungsbereich im Privatrecht liegt, sprengt sie dessen ausschließlich auf die Interessen der privaten Akteure bezogenen Rahmen. Dies ergibt sich bereits daraus, dass anders das Verbot „nützlicher“ Rechtsverstöße31 nicht zu erklären wäre. Dies gilt sowohl im Hinblick auf die die Organmitglieder unmittelbar treffende Legalitätspflicht als auch für deren organisationsrechtliche Komponente. Daran wird deutlich, dass die in §§ 93 Abs. 1 AktG, 43 Abs. 1 GmbHG verankerte gesellschaftsrechtliche Legalitätspflicht durch öffentlich-rechtliche Bindungen überlagert wird. Der Umstand, dass eine öffentlich-rechtliche Bindung besteht, bedeutet indes nicht, dass der Vorstand bzw. die Geschäftsführung beim Aufbau einer Compliance-Organisation auf die begrenzten Ressourcen eines Unternehmens keine Rücksicht nehmen darf. Vielmehr gehört die Ressourcenbeschränkung zu den zentralen Faktoren bei Entscheidungen über den Aufbau einer Compliance-Organisation. Denn kein Unternehmen wird in der Lage sein, alle nur denkbaren widerrechtlichen Handlungen zu unterbinden und alle denkbaren Schutzmechanismen – seien sie auch noch so kostspielig  – für alle nur denkbaren Konstellationen zu implementieren.32 Notwendig ist stets eine Gewichtung der zur Verfügung stehenden Mittel im Verhältnis sowohl zur konkreten Wahrscheinlichkeit eines Verstoßes als auch zum Gewicht der bedrohten Rechtsgüter. Bei den oben skizierten gesellschaftsrechtlichen Anforderungen an eine Compliance-Organisation33 wurde die Ressourcenbeschränkung bereits berücksichtigt. Der unternehmerische Entscheidungsspielraum der Unternehmensführung in Gestalt der Business Judgement Rule in Bezug auf das „Wie“ und die 29 Rogall in KarlsruherKomm. OWiG, 5. Aufl. 2018, § 130 OWiG Rz. 6. 30 Vgl. Harbarth, ZHR 179 (2015), 136, 139 ff.; Seibt, NZG 2015, 1097, 1100. 31 Dazu BGH v. 13.9.2010 – 1 StR 220/09, NJW 2011, 88, 92 Rz. 37; BGH v. 27.8.2010 – 2 StR 111/09, NZG 2010, 1190, 1192; Bicker, AG 2014, 8, 11; Fleischer in Spindler/Stilz, 3. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 36; Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 99; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3.  Aufl. 2010, §  93 AktG Rz.  71; Thole, ZHR 173 (2009), 504, 512 ff. 32 Harbarth, ZHR 179 (2015), 136, 149 f. 33 Vgl. auch Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 187 f.; Fleischer in Spindler/Stilz, 3. Aufl. 2015, § 91 AktG Rz. 53 ff.; Harbarth, ZHR 179 (2015), 136, 150 ff.

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Ausgestaltung der Compliance-Organisation ist die praktische Folge dieser Beschränkung. Im Ordnungswidrigkeitenrecht gilt insoweit nicht anderes. Hier ist zwar nicht von einer Regulierung der Legalitätsdurchsetzungspflicht durch das Unternehmensinte­ resse oder einem unternehmerischen Ermessensspielraum im Hinblick auf die Ausgestaltung der Compliance-Organisation die Rede, doch in der Sache wird den gleichen Aspekten im Rahmen der Zumutbarkeitsprüfung Rechnung getragen.34 Dass auch im Rahmen von §  130 OWiG nur zumutbare Aufsichtsmaßnahmen verlangt werden können, wird aus dem Tatbestandsmerkmal der „gehörigen Aufsicht“ abgeleitet.35 So ist in der Rechtsprechung zu § 130 OWiG anerkannt, dass „die Aufsichtsmaßnahmen … grundsätzlich zumutbar und praktisch durchführbar sein [müssen].“36 Es liefe auf eine Ausschaltung des in § 130 Abs. 1 Satz 2 OWiG bestehenden Delegationsrechts hinaus, wenn die Unternehmensleitung jede Handlung der Mitarbeiter höchstpersönlich überwachen müsste. Verlangt werden kann auch hier lediglich, dass organisatorische Vorkehrungen getroffen werden, die sicherstellen und die betrauten Personen in die Lage versetzen sollen, den gesetzlichen Pflichten nach­ zukommen.37 Daher muss auch im Rahmen von §  130 OWiG bei der Frage nach der „Zumutbarkeit“ der von Vorstand und Geschäftsführung geschuldeten Aufsichtsmaßnahmen und den Anforderungen an die Compliance-Organisation das dem ­Geschäftsleistungsorgan insoweit zustehende unternehmerische Ermessen beachtet werden.

IV. Zivilrechtsakzessorietät des Strafrechts: Der Fall „Mannesmann“ Vor dem Hintergrund der gleichgerichteten Regelungszwecke von § 130 OWiG und der gesellschaftsrechtlichen Compliance-(Organisations-)Pflicht der Geschäftsleitungsorgane nach §§ 93 AktG, 43 GmbHG erscheint eine Vereinheitlichung der gesellschaftsrechtlichen und der ordnungswidrigkeitenrechtlichen Anforderungen an eine ordnungsgemäße Compliance-Organisation angezeigt. Bevor jedoch der Frage nachgegangen werden soll, ob das Gesellschafts- oder das Ordnungswidrigkeitenrecht den primären Anknüpfungspunkt für eine Pflichtenkonkretisierung bildet, empfiehlt sich ein kurzer Rückblick auf das Urteil des Bundesgerichtshofs in Sachen „Mannesmann“ vom 21. Dezember 2005.38 Auch diese Entscheidung befasst sich mit dem Verhältnis von Strafrecht und Gesellschaftsrecht auf dem Gebiet der Organhaftung.

34 Eingehend Rogall in KarlsruherKomm. OWiG, 5. Aufl. 2018, § 130 OWiG Rz. 51 f. 35 Rogall in KarlsruherKomm. OWiG, 5. Aufl. 2018, § 130 OWiG Rz. 51; Otto, Jura 1998, 414; Kiesel, BB 2012, 1190, 1193  ff. 36 OLG Düsseldorf v. 12.11.1998 – 2 Ss OWi 385/98, NStZ-RR 1999, 151, 151. 37 OLG Düsseldorf v. 12.11.1998 – 2 Ss OWi 385/98, NStZ-RR 1999, 151, 151. 38 BGH v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04, BGHSt 50, 331 ff. = NJW 2006, 522 ff.

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1. Aktienrechtliche Konkretisierung der Vermögensbetreuungspflicht In dem zugrundeliegenden Fall waren die Mitglieder des Aufsichtsratsausschusses für Vorstandsangelegenheiten der Mannesmann AG angeklagt, im Rahmen der Übernahme der Mannesmann AG durch Vodafone durch Zuerkennung kompensations­ loser Anerkennungsprämien in Millionenhöhe Untreue zu Lasten von Mannesmann begangen zu haben. Das Landgericht hatte auf Freispruch erkannt,39 doch der III. Strafsenat des BGH beurteilte die Rechtslage anders und hob die Freisprüche wieder auf: Es liege eine treupflichtwidrige Schädigung im Sinne des § 266 Abs. 1 StGB vor, wenn der Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft für eine dienstvertraglich geschuldete Leistung einem Vorstandsmitglied nachträglich eine zuvor im Dienstvertrag nicht vereinbarte Sonderzahlung bewillige, die ausschließlich belohnenden Charakter habe und dem Unternehmen keinen zukunftsbezogenen Nutzen bringe.40 2. Gesellschaftsrechtsakzessorietät des Strafrechts Die Entscheidung des BGH von 2005 betrifft zwei auch für die hier zu untersuchende Problematik relevante Aspekte: Zum einen nimmt der Strafsenat, wenn er den ­­Umfang der Vermögensbetreuungspflicht im Sinne des §  266 Abs.  1 StGB definiert, ganz selbstverständlich Bezug auf das aktienrechtliche Pflichtenprogramm und stellt ­dabei  fest, dass eine Verletzung der strafrechtlichen Vermögensbetreuungspflicht immer zunächst eine Verletzung der aktienrechtlichen Pflichten des Organmitglieds voraussetzt.41 Zum anderen beansprucht er für sich ebenso selbstverständlich, den aktienrechtlichen Handlungsrahmen selbst zu bestimmen. So wendete sich der III.  Strafsenat in seiner Entscheidung gegen die bis zum damaligen Zeitpunkt ganz herrschende Literurmeinung im aktienrechtlichen Schrifttum. Danach war eine freiwillige Sonderzahlung zur Belohnung einer in der Vergangenheit erbrachten besonderen Leistung – unabhängig von einer Anreizwirkung oder einem sonstigen für die Gesellschaft eintretenden Vorteil – zulässig, wenn nur die Gesamtvergütung des Begünstigten den Grundsätzen über die Höhe der Bezüge der Vorstandsmitglieder nach § 87 Abs. 1 Satz 1 AktG entspreche.42 Dem Vorgehen des BGH im „Mannesmann-Urteil“ liegt die Unterscheidung zwischen einer inhaltlichen und einer institutionellen Dimension der strafrechtlich-gesellschaftsrechtlichen Verknüpfung in §  266 Abs.  1 StGB zu Grunde. Die Gesellschaftsrechtsakzessorietät des Untreuetatbestandes bedeutet demnach nicht, dass allein „das Gesellschaftsrecht“ – d.h. die gesellschaftsrechtliche Rechtsprechung und Literatur – zur Auslegung der einschlägigen aktienrechtlichen Normen berufen ist. Es gibt insoweit keine Deutungshoheit des Gesellschaftsrechts oder eine Bindung der Strafgerichte an die zivilgerichtliche Rechtsprechung.43 Zwar ist die Aussage richtig, 39 LG Düsseldorf v. 22.7.2004 – XIV 5/03, NJW 2004, 3275. 40 BGH v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04, NJW 2006, 522, 524 ff. 41 Diese Linie hat der BGH auch in jüngerer Zeit im „HSH Nordbank“-Urteil erst wieder bestätigt BGH v. 12.10.2016 – 5 StR 134/15, NZG 2017, 116, 117 f. 42 BGH v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04, NJW 2006, 522 Rz. 20. 43 Rönnau, NStZ 2006, 218, 220; a.A. Dierlamm, StraFo 2005, 397, 400 ff.

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dass für den strafrechtlichen Untreuetatbestand die gesellschaftsrechtlichen Pflichten des Vorstandsmitglieds bzw. des Geschäftsführers maßgeblich sind. Jedoch gilt keineswegs der Satz, dass dies auch zur Folge habe, dass die Auffassungen der „Gesellschaftsrechtler“ für das Strafrecht verbindlich seien.44 Auf die Weise kann es vorkommen, dass Strafgerichte gesellschaftsrechtliche Normen anders auslegen als die Zivilgerichte und das gesellschaftsrechtliche Schrifttum.45

V. Rangverhältnis zwischen der Compliance-Verantwortung im Ordnungswidrigkeiten- und im Gesellschaftsrecht 1. Asymmetrische Akzessorietät des Ordnungswidrigkeitenrechts Das Rangverhältnis zwischen §  130 OWiG und den im Aktienrecht diskutierten Compliance-Anforderungen findet bislang erstaunlich wenig Beachtung, obwohl die Frage eigentlich auf der Hand liegt, ob nicht auch die Organisations- und Überwachungspflicht i.S.d. § 130 OWiG – genau wie die Vermögensbetreuungspflicht gemäß § 266 Abs. 1 StGB – im Ausgangspunkt gesellschaftsrechtlich determiniert ist. Zwar werden in der gesellschaftsrechtlichen Kommentarliteratur immer wieder auch Entscheidungen von Strafgerichten zu § 130 OWiG zitiert.46 Nähere Ausführungen zum grundsätzlichen Verhältnis der gesellschaftsrechtlichen Organisationspflichten des Vorstands bzw. der Geschäftsführung zu den Anforderungen des § 130 OWiG finden sich dort jedoch nicht. Die Kommentierungen zu § 130 OWiG gehen umgekehrt üblicherweise auf die im Aktienrecht entwickelten Kontroll- und Organisationspflichten nicht oder nur am Rande ein47 und leiten die Anforderungen an eine pflichtgemäße Aufsicht und Unternehmensorganisation autonom aus § 130 OWiG ab ohne Bezugnahme auf das gesellschaftsrechtliche Schrifttum oder die Rechtsprechung der Zivilsenate zu § 93 AktG oder § 43 GmbHG. Gegenwärtig herrscht insoweit also eher ein gegenseitiges Desinteresse der beiden Professionen vor – mit der Folge, dass rechtsgebietsspezifische Lösungen ohne Einbeziehung der Vorgaben anderer Teilrechtsordnungen entwickelt werden. Für die betroffenen Unternehmen und ihre Organmitglieder ist dies ein wenig befriedigender Zustand, da dadurch die Gefahr besteht, dass an sie – was die Aufsicht und Organisation ihres Unternehmens anbetrifft – in straf- bzw. ordnungswidrigkeitenrechtlicher und in gesellschaftsrechtlicher Hinsicht unterschiedliche oder gar einander widersprechende Anforderungen gestellt werden. In Bezug auf § 266 StGB ist auf 44 Samson in VGR 2004, 2005, S. 109, 112. 45 Soweit Rechtsfragen von den Zivil- und Strafsenaten des BGH unterschiedlich beurteilt werden, gibt es nach § 132 GVG zwar die Möglichkeit, zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung den Vereinigten Großen Senat anzurufen. Von dieser Möglichkeit wird allerdings in der Praxis nur sehr zurückhaltend Gebrauch gemacht. 46 Z.B. Fleischer in Spindler/Stilz, 3. Aufl. 2015, § 91 AktG Rz. 60.  47 Z.B. Graf in BeckOK, 20. Ed., Stand: 1.10.2018, § 130 AktG Rz. 59 ff.; Rogall in KarlsruherKomm. OWiG, 5. Aufl. 2018, § 130 OWiG Rz. 40 ff.; Bohnert/Krenberger/Krumm, 5. Aufl. 2018, § 130 OWiG Rz. 16 ff.  

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Grundlage der vorstehend dargestellten „Mannesmann“-Rechtsprechung heute all­ gemein anerkannt, dass ein Verhalten, das im Zivilrecht erlaubt ist, nicht zu einem strafrechtlichen Verbot führen kann, während das, was im Zivilrecht verboten ist, gleichwohl ohne Strafe bleiben kann, etwa weil noch andere Möglichkeiten der Sanktionierung zur Verfügung stehen oder zusätzliche Voraussetzungen im Hinblick auf die Schwere der Sanktion zu fordern sind (sog. „asymmetrische Akzessorietät“).48 In der „HSH Nordbank“-Entscheidung hat der V. Strafsenat des BGH diese Rechtsprechung im Grundsatz nochmals bestätigt und dahingehend konkretisiert, dass jedenfalls dann, wenn die in § 93 Abs. 1 AktG normierten Grenzen unternehmerischen Ermessens überschritten sind, die Verletzung gesellschaftsrechtlicher Pflichten als so gravierend einzustufen ist, dass sie zugleich eine Pflichtwidrigkeit im Sinne von § 266 StGB begründet.49 Im Fall der Compliance-(Organisations-)Pflichten liegt zumindest auf den ersten Blick eine andere Sichtweise nahe: Man könnte § 130 OWiG schlicht zum Kreis derjenigen Normen zählen, die der Vorstand bzw. die Geschäftsführung im Rahmen ihrer aus §§ 93 Abs. 1 AktG, 43 Abs. 1 GmbHG abzuleitenden Legalitätspflicht zu beachten haben. Verstoßen sie gegen §  130 OWiG, läge darin zugleich ein zu einem Schadensersatzanspruch gegenüber der Gesellschaft führender Rechtsverstoß nach § 93 Abs. 2 AktG bzw. § 43 Abs. 2 GmbHG. Eine solche Sichtweise würde indes nicht überzeugen. Die Frage nach der ordnungsgemäßen Unternehmensorganisation reichen weit über den straf- bzw. ordnungswidrigkeitenrechtlichen Rahmen und damit den Anwendungsbereich des § 130 OWiG hinaus. Die Organisationspflichten des Vorstands bzw. der Geschäftsführung haben ihren Ursprung in ihrer Leitungs- bzw. Geschäftsführungsaufgabe und ihren gesellschaftsrechtlichen Sorgfaltspflichten gegenüber der Gesellschaft.50 Dies gilt auch für die Compliance-Organisation und zwar ungeachtet des Umstandes, dass sich die Compliance-(Organisations-)Pflicht des Vorstands bzw. der Geschäftsführung – wie sich an dem Verbot nützlicher Pflichtverletzungen zeigt  – nicht allein am Unter­ nehmensinteresse orientiert, sondern öffentlich rechtlich überlagert wird (vgl. III.3.). Zudem reichen die gesellschaftsrechtlichen Organisationspflichten weit über die Compliance-Organisation im engeren Sinne hinaus. So können auch andere organisatorische Maßnahmen des Vorstands bzw. der Geschäftsführung wie beispielsweise 48 Vgl. Dierlamm in MünchKomm. StGB, 3. Aufl. 2019 § 266 StGB Rz. 173. 49 BGH v. 12.10.2016 – 5 StR 134/15, NZG 2017, 116. Ob dieser These des BGH wirklich in dieser Pauschalität zu folgen ist, darf mit Blick auf die in der zivilrechtlichen Rechtsprechung und gesellschaftsrechtlichen Literatur zum Teil sehr hohen Anforderungen an den an Vorstandsmitglieder gestellten Sorgfaltsmaßstab des § 93 Abs. 1 AktG bezweifelt werden. Dem kann jedoch im Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht näher nachgegangen werden. 50 Vgl. Fleischer in Spindler/Stilz, 3. Aufl. 2015, § 91 AktG Rz. 50; Fleischer, AG 2003, 291, 298; ders., BB 2008, 1070, 1072; Harbarth, ZHR 179 (2015), 136, 144 f.; Bachmann in VGR 2007, 2008, S. 65, 73 f.; Bürkle, BB 2007, 1797, 1799; Campos Nave/Bonenberger, BB 2008, 734; Immenga in FS Schwark, 2009, S. 199, 202; Lutter in FS Goette, 2011, S. 289, 291; Mertens/ Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 91 AktG Rz. 35; Verse, ZHR 175 (2011), 401, 404; Winter in FS Hüffer, 2010, S. 1103, 1104.

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die Einrichtung einer funktionsfähigen internen Revision – abhängig von der Größe des betroffenen Unternehmens – für die vom Vorstand nach § 130 OWiG zu ergreifenden Aufsichtsmaßnahmen Bedeutung haben.51 Das Gesellschaftsrecht erscheint daher insoweit als die sachnähere Materie, die den Ausgangspunkt für die Organisationspflichten im Unternehmen bildet. Auch wäre es nur schwer mit dem Postulat der Einheit der Rechtsordnung in Einklang zu bringen, wenn der Vorstand bzw. die Geschäftsführung im Rahmen der allgemeinen gesellschaftsrechtlich geforderten Compliance-Organisation noch einmal eine spezielle Organisation zur Einhaltung seiner Pflichten nach § 130 OWiG schaffen müsste. Eine solche zusätzliche Binnenorganisation des Unternehmens zur Verhinderung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten liefe nicht nur den praktischen Bedürfnissen der Unternehmen zuwider. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass dann gegebenenfalls auch andere Teilrechtsordnungen solche spezielle, über die allgemeine Compliance-Organisation hinausgehende Binnenorganisation verlangen könnten. Vielmehr könnte mit einer solch zersplitterten, den unterschiedlichen Anforderungen verschiedener Teilrechtsordnungen Rechnung tragenden Compliance-Organisation Rechtsverstößen durch das Unternehmen und seine Mitarbeiter kaum effektiv vorgebeugt werden, was dem Normzweck sowohl von § 130 OWiG als auch den gesellschaftsrechtlichen Organisationspflichten aus §§ 93 AktG, 43 GmbHG zuwider­ liefe. Auch der „ultima Ratio“-Gedanke des Strafrechts52 spricht dafür, dass die Anforderungen des § 130 OWiG an eine ordnungsgemäße Unternehmensorganisation nicht über die gesellschaftsrechtlichen Organisationspflichten des Vorstands bzw. der Geschäftsführung hinausgehen sollten. Zwar ist dieser nicht ohne weiteres auf das Ordnungswidrigkeitenrecht übertragbar ist, weil der Sanktionscharakter der Geldbuße nicht das gleiche Unwerturteil wie eine staatliche Strafe enthält.53 Dennoch erschiene es wertungswidersprüchlich, wenn der Staat eine zivil- bzw. gesellschaftsrechtlich jedenfalls grundsätzlich zulässige Unternehmensorganisation als Ordnungswidrigkeit mit einer Geldbuße ahnden würde. Daher muss auch für das Verhältnis von aktienrechtlicher Compliance-Pflicht nach §§ 93 Abs. 1 AktG, 43 GmbHG und § 130 OWiG das gelten, was im Rahmen von § 266 StGB inzwischen allgemein anerkannt ist: Was zivilrechtlich erlaubt ist, kann ordnungswidrigkeitenrechtlich nicht verboten sein. Ist der Vorstand oder die Geschäftsführung den gesellschaftsrechtlichen Aufsichtsund Organisationspflichten nachgekommen, können sie nicht gleichzeitig gegen § 130 OWiG verstoßen. Es gilt also auch insoweit eine asymmetrische Akzessorietät des Ordnungswidrigkeitenrechts. Das Ordnungswidrigkeitenrecht kann im Rahmen von § 130 OWiG zwar durchaus geringere Anforderungen an die vom Vorstand bzw. 51 Zum Verhältnis von § 130 OWiG und interner Revision vgl. Obermayr in Hauschka/Moosmayer/Lösler, Corporate Compliance, 3. Aufl. 2016, § 44 Rz. 140 f. 52 Vgl. nur BVerfG v. 26.2.2008 – 2 BvR 392/07, NJW 2008, 1137, 1138; BVerfG v. 28.5.1993 – 2 BvF 2/90, NJW 1993, 1751, 1754.  53 Vgl. BVerfG v. 14.10.1958 – 1 BvR 510/52, BVerfGE 8, 197, 207; BVerfG v. 16.7.1969 – 2 BvL 2/69, BVerfGE 27, 18, 28 ff.

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der Geschäftsführung zu fordernden Aufsichtsmaßnahmen bzw. an die Unternehmensorganisation stellen als das Gesellschaftsrecht. Es kann jedoch insoweit nicht über die gesellschaftsrechtlichen Pflichten des Vorstands oder der Geschäftsführung hinausgehen. Was an Aufsichtsmaßnahmen im Sinne des § 130 OWiG erforderlich ist, kann nicht mehr sein, als wozu der Vorstand und die Geschäftsführung nach §§ 93 Abs. 1 AktG, 43 Abs. 1 GmbHG verpflichtet sind. Dem steht auch nicht entgegen, dass es sich bei der gesellschaftsrechtlichen Com­ pliance-(Organisations-)Pflicht um eine Pflicht gegenüber der Gesellschaft im Innenverhältnis und bei den Aufsichts- und Organisationspflichten des § 130 OWiG um Pflichten im Außenverhältnis gegenüber der Allgemeinheit handelt.54 Insoweit ist die Ausgangslage zwar eine etwas andere als beim Verhältnis der gesellschaftsrechtlichen Vermögensbetreuungspflicht des Vorstands nach § 93 AktG und den strafbewehrten Pflichten des § 266 StGB, die beide unmittelbar das Vermögen der Gesellschaft im Innenverhältnis schützen.55 Dies ändert indes nichts daran, dass auch § 130 OWiG und die gesellschaftsrechtliche Compliance-(Organisations-)Pflicht  – wie oben im Einzelnen dargelegt (vgl. III. 2 und 3) – einen gleichgelagerten Normzweck verfolgen. Auch die gesellschaftsrechtliche Compliance-(Organisations-)Pflicht nach §§  93 AktG, 43 GmbHG ist trotz ihres privatrechtlichen Ursprungs öffentlich-rechtlich überlagert (vgl. III. 4). Eine Differenzierung zwischen Compliance-(Organisations-) Pflicht im Innen- und Außenverhältnis erschiene mit Blick auf daraus abzuleitende Schlussfolgerungen für das Verhältnis von gesellschaftsrechtlichen Organisationspflichten und den Anforderungen des § 130 OWiG überdies schon deshalb künstlich, weil jeder Rechtsverstoß des Vorstands bzw. der Geschäftsführung gegen § 130 OWiG im Außenverhältnis zu einer Schadensersatzpflicht nach §§ 93 Abs. 2 AktG, 43 Abs. 2 GmbHG führen und damit auf das Innenverhältnis durchschlagen würde. Auch der Umstand, dass der Anwendungsbereich des §  130 OWiG sich nicht auf ­Organmitglieder beschränkt, sondern u.U. auch Aufsichtspflichtverletzungen von Mitarbeitern unterhalb der Vorstands- und Geschäftsführungsebene erfasst,56 spricht nicht gegen die These von der asymmetrischen Akzessorietät des Ordnungswidrigkeitenrechts im Rahmen des § 130 OWiG. Sie besagt lediglich, dass, soweit Organpflichten und die von Vorstand bzw. Geschäftsführung geschuldete Unternehmensorganisation betroffen sind, ein Verstoß gegen § 130 OWiG durch ein Vorstands- bzw. Geschäftsführungsmitglied nicht vorliegen kann, wenn dieses seine gesellschaftsrechtlichen Pflichten nach §§  93 Abs.  1 AktG, 43 Abs.  1 GmbHG erfüllt hat. Dies schließt nicht aus, dass ein Mitarbeiter unterhalb der Vorstands- bzw. Geschäftsführungsebene seine Aufsichtspflichten nach § 130 OWiG verletzt hat.57 54 Vgl. Harbarth, ZHR 179 (2015), 136, 139 ff.; Hüffer in FS Roth, 2011, S. 299, 303. 55 Dierlamm in MünchKomm. StGB, 3. Aufl. 2019, § 266 StGB Rz. 1.  56 Graf in BeckOK, 20. Ed., Stand: 1.10.2018, § 130 AktG Rz. 36 f.; Rogall in KarlsruherKomm. OWiG, 5. Aufl. 2018, § 130 OWiG Rz. 33 ff. 57 Ob auch für Mitarbeiter unterhalb der Organebene im Rahmen von § 130 OWiG eine Zivilrechtsakzessorietät des Ordnungswidrigkeitenrechts im Hinblick auf deren aus dem Anstellungsvertrag folgenden Aufsichts- und Organisationspflichten gilt, kann im Rahmen dieses Beitrags nicht geklärt werden. Dies gilt nicht zuletzt auch angesichts des Umstandes,

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Schließlich lässt sich der hier vertretenen Auffassung von der asymmetrischen Ak­ zessorietät des Ordnungswidrigkeitenrechts auch nicht entgegenhalten, dass für bestimmte Unternehmen etwa Kreditinstitute, Wertpapierdienstleistungsunternehmen oder Versicherungsunternehmen spezielle aufsichtsrechtliche Organisationsanfor­ derungen gelten, die über die allgemeinen gesellschaftsrechtlichen Organisationspflichten hinausgehen (§§ 25a KWG, 80 WpHG, 23 f. VAG).58 Insoweit stellt das Aufsichtsrecht als Teilrechtsordnung für regulierte Unternehmen eines bestimmten Wirtschaftsbereichs besondere (zusätzliche) Organisationsanforderungen, die die allgemeinen gesellschaftsrechtlichen Organisationspflichten überlagern. Sie verfolgen in der Regel einen weitergehenden eigenständigen regulatorischen Normzweck, der über den der allgemeinen gesellschaftsrechtlichen Compliance-(Organisations-) Pflicht hinausgeht und betreffen nur Unternehmen in dem jeweiligen regulierten Bereich. Demgegenüber gilt § 130 OWiG für alle Unternehmen unabhängig davon, ob sie einem bestimmten besonders regulierten Wirtschaftssektor zuzuordnen sind.59 2. Praktische Konsequenzen Was bedeutet dies nun für das Verhältnis von § 130 OWiG und der gesellschaftsrechtlichen Compliance-(Organisations-)Pflicht in der Praxis? Aufgrund der asymmetrischen Akzessorietät des Ordnungswidrigkeitenrechts muss ein Strafgericht bzw. eine den Bußgeldbescheid verhängende Behörde daher – ebenso wie im Rahmen des Untreuetatbestandes des § 266 StGB – zunächst einen Verstoß gegen § 93 AktG bzw. § 43 GmbHG feststellen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Bußgeldbescheid gegen ein Vorstands- bzw. Geschäftsführungsmitglied verhängt werden soll bzw. eine Aufsichtspflichtverletzung eines Organmitgliedes die Anknüpfungstat für die Verhängung einer Geldbuße gegen das Unternehmen nach § 30 OWiG bilden soll. Ob und inwieweit von den Strafgerichten im Rahmen von § 130 OWiG für eine Aufsichtsbzw. Organisationspflichtverletzung darüber hinausgehende Anforderungen gestellt werden als durch das Gesellschaftsrecht nach §§ 93 AktG, 43 GmbHG, ist eine Frage des Ordnungswidrigkeitenrechts. Sie ist durch den Grundsatz der asymmetrischen Akzessorietät nicht vorgegeben. Haben der Vorstand bzw. die Geschäftsführung ihre gesellschaftsrechtlichen Compliance-(Organisations-)Pflichten erfüllt, scheidet eine Aufsichtspflichtverletzung der Organmitglieder nach § 130 OWiG hingegen aus.

dass die Diskussion um die aus dem Anstellungsvertrag folgenden Aufsichts- und Organisationspflichten von (leitenden) Mitarbeitern im arbeitsrechtlichen Schrifttum erst am Anfang steht; vgl. Sandmann, Die Haftung von Arbeitnehmern, Geschäftsführern und leitenden Angestellten, 2001, S. 537. 58 Vgl. hierzu und zur Diskussion um eine mögliche Ausstrahlungswirkung dieser Vorgaben auf das allgemeine Aktienrecht Dreher, ZGR 2010, 496 ff.; Weber-Rey, ZGR 2010, 543 ff.; Binder, ZGR 2015, 667 ff. 59 Ob und inwieweit die asymmetrische Akzessorietät des Ordnungswidrigkeitenrechts im Rahmen von § 130 OWiG bei regulierten Unternehmen „nur“ für die gesellschaftsrechtlichen Compliance-(Organisation-)Pflichten gilt oder ob insoweit an den weitergehenden regulatorischen Organisationsanforderungen anzuknüpfen ist, kann im Rahmen dieses Beitrags nicht behandelt werden.

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Eine Verurteilung eines Vorstands- bzw. Geschäftsführungsmitglieds nach §  130 OWiG bzw. der Erlass eines darauf gestützten Bußgeldbescheids gegen ein Organmitglied bedeuten nicht zwangsläufig, dass das Vorstands- bzw. das Geschäftsführungsmitglied der Gesellschaft für einen sich daraus ergebenen Schaden (z.B. in Form eines gegen die Gesellschaft nach § 30 OWiG verhängtes Bußgeld) nach §§ 93 Abs. 2 AktG, 43 Abs. 2 GmbHG haftet. Dies gilt unabhängig von der in der Literatur umstrittenen Frage, ob und inwieweit ein gegen die Gesellschaft verhängtes Bußgeld gegen die verantwortlichen Organmitglieder regressierbar ist.60 Zwar setzt ein Verstoß gegen § 130 OWiG aufgrund der asymmetrischen Akzessorietät des Ordnungswidrigkeitenrechts immer voraus, dass das betreffende Mitglied des Vorstands bzw. der Geschäfts­führung gegen seine gesellschaftsrechtlichen Compliance-(Organisation-) Pflichten verstoßen hat. Die Zivilgerichte sind jedoch insoweit ebenso wenig an die Entscheidungen der Strafgerichte bzw. einer den Bußgeldbescheid verhängenden Behörde gebunden wie dies umgekehrt der Fall ist. Allerdings stellt die Verhängung einer Geldbuße gegen ein Organmitglied nach § 130 OWiG ein starkes Indiz für eine Verletzung der Sorgfaltspflichten gegenüber der Gesellschaft nach §§ 93 AktG, 43 GmbHG dar.61 Daher wird der Aufsichtsrat nach den Grundsätzen der ARAG/Garmenbeck-Entscheidung62 spätestens ab diesem Zeitpunkt gehalten sein, etwaige Schadensersatzansprüche gegen das Vorstandsmitglied zu prüfen.63 Umgekehrt bedeutet die Verneinung einer Aufsichtspflichtverletzung nach §  130 OWiG nicht, dass Schadensersatzansprüche gegen das Organmitglied ausgeschlossen sind. Unabhängig davon, dass die Zivilgerichte an die Entscheidungen der Strafgerichte bzw. der zuständigen Behörden nicht gebunden sind, kann nach dem Grundsatz der asymmetrischen Akzessorietät des Ordnungswidrigkeitenrechts ein Verstoß gegen die gesellschaftsrechtliche Compliance-(Organisation-)Pflicht auch dann vorliegen, wenn die Voraussetzungen des § 130 OWiG nicht erfüllt sind. 3. Konzernweite Ausdehnung der Aufsichtspflichten nach § 130 OWiG Geht man von einer asymmetrischen Akzessorietät des Ordnungswidrigkeitenrechts im Bereich des § 130 OWiG aus, muss dies auch für die in der Literatur umstrittene und von der Rechtsprechung bislang noch nicht abschließend geklärte Frage gelten, ob die Aufsichtspflichten nach §  130 OWiG konzernweit gelten. Diese Frage kann nicht anders beantwortet werden als die in der gesellschaftsrechtlichen Literatur

60 Vgl. BAG v. 29.6.2017 – 8 AZR 189/15, NJW 2018, 184 ff.; Ackermann, NZKart 2018, 1 ff.; Bunte, NJW 2018, 123 ff.; Bayreuther, NZA 2015, 1239 ff.; Fleischer, DB 2014, 345 ff. 61 Dies wäre im Übrigen auch dann der Fall, wenn man der hier vertretenen Theorie von der asymmetrischen Akzessorietät des Ordnungswidrigkeitenrechts nicht folgen würde, weil dann § 130 OWiG eine Rechtsverletzung des Vorstands- bzw. Geschäftsführungsmitglieds im Außenverhältnis darstellen würde, die gleichzeitig eine Pflichtverletzung im Innenverhältnis nach §§ 93 AktG, 43 GmbHG nach sich ziehen würde. 62 BGH v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244 ff. 63 In der Praxis werden solche Prüfungspflichten regelmäßig bereits deutlich früher ausgelöst, sobald der Aufsichtsrat Anhaltspunkte für ein mögliches Organisationsverschulden hat.

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ebenfalls umstrittene Frage nach einer konzernweiten Compliance-Pflicht des Muttervorstands im Unternehmensverbund.64 Teilweise wird im gesellschaftsrechtlichen Schrifttum eine konzernweite Ausdehnung der Compliance-(Organisations-)Pflicht des Vorstands bzw. der Geschäftsführung im Konzern verneint.65 Wer dieser Auffassung folgt, muss aufgrund der asymmetrischen Akzessorietät des Ordnungswidrigkeitenrechts auch eine konzernweite Ausdehnung der Aufsichts- und Organisationspflichten des § 130 OWiG ablehnen. Demgegenüber begegnet die Anwendung des § 130 OWiG auf das Verhältnis von Mutter- und Tochtergesellschaft keinen durchgreifenden Bedenken, wenn man davon ausgeht, dass den Vorstand bzw. die Geschäftsführung der Obergesellschaft konzernweite Organisations- und Kontrollpflichten treffen.66 Diese umfassen nach herrschender Meinung im gesellschaftsrechtlichen Schrifttum als Ausfluss der konzernweiten Legalitätspflicht auch die Pflicht zum Aufbau einer konzernweiten „Compliance“-Organisation.67 Der Umstand, dass diese Pflichten gegenüber der eigenen Gesellschaft und nicht gegenüber der Tochtergesellschaft68 oder gar der Allgemeinheit bestehen, schließt die Anwendbarkeit des § 130 OWiG nicht aus, sondern bedeutet lediglich, dass der Geschäftsleitung der Obergesellschaft bei der Ausgestaltung der Compliance-Organisation ein weites unternehmerisches Ermessen zusteht.69 Daraus folgt auch, dass es keine rechtlichen Vorgaben gibt, ob ein Konzern zentral oder dezentral zu führen ist. Die vom Gesetzgeber getroffene Wertentscheidung für die Zulässigkeit dezentraler Konzernstrukturen, wie sie u.a. in den §§ 311 ff. AktG zum Ausdruck kommt, darf nicht dadurch konterkariert werden, dass die Aufsichtspflichten des Mutterunternehmens nach § 130 OWiG überspannt werden.70 Verfügt der Konzern über eine ordnungsgemäß funktionierende verbundweite Compliance-­ Organisation ist für die Verhängung einer Geldbuße gegen das Mutterunternehmen wegen einer Aufsichtspflichtverletzung auch nach § 130 i.V.m. § 30 OWiG grundsätzlich kein Raum. Das konzernweite Compliance-System muss nicht zentralistisch organisiert sein.71 Vielmehr kann das Geschäftsleitungsorgan der Konzernobergesell64 Zum Folgenden bereits Löbbe, ZHR 177 (2013), 518, 543 ff. 65 Eingehend zu der Problematik Koch, AG 2009, 564 ff. (mit Darstellung des Streitstandes). 66 Grundlegend Hommelhoff, Die Konzernleitungspflicht, 1982, S. 182; vgl. mit Abweichungen im Detail: Götz, ZGR 1998, 524, 530; Spindler, WM 2008, 905, 906; Löbbe, Unternehmenskontrolle im Konzern, 2003, S. 78 m.w.N. 67 Fleischer, CCZ 2008, 1, 4  ff.; U.H. Schneider/S.H. Schneider, ZIP 2007, 2061; Bürkle, BB 2007, 1797, 1799; Dreher, ZWeR 2004, 86, 101 ff.; Immenga in FS Schwark, 2009, S. 199, 204; Lösler, NZG 2005, 104, 105 ff.; Casper in Bankrechtstag 2008 S. 139, 170 f.; a.A. Koch, WM 2009, 1013, 1015 ff. 68 So die heute ganz herrschende Meinung: Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-KonzernR, 8. Aufl. 2016, § 311 AktG Rz. 10; Koppensteiner in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2004, § 311 AktG Rz. 52; Fleischer in Spindler/Stilz, 3. Aufl. 2015 § 76 AktG Rz. 90; Löbbe, Unternehmenskontrolle im Konzern, 2003, S.  96  ff. jeweils m.w.N.; a.A. U.H. Schneider, ZHR 143 (1979), 485, 506 ff.; ders., BB 1981, 249, 256 ff. 69 Löbbe, ZHR 177 (2018), 518, 545.  70 So zu Recht Koch, AG 2009, 564, 573 sowie ders., ZHR 171 (2007), 554, 573 ff. 71 Vgl. Fleischer, CCZ 2018, 1, 3, 6. 

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schaft seinen Aufsichtspflichten nach § 130 OWiG auch durch die Einrichtung einer dezentral organisierten Compliance-Organisation nachkommen. Es muss sich im Rahmen seiner Pflicht zur konzernweiten Unternehmenskontrolle jedoch regelmäßig von der Funktionsfähigkeit des Compliance-Systems überzeugen und für die notwendige Verzahnung und einen hinreichenden Informationsaustausch der dezentral organisierten Compliance-Abteilungen im Konzern sorgen. Auf die Einzelheiten kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Entscheidend ist, dass bei Konzernsachverhalten die Auslegung von § 130 OWiG sich an den Inhalten und Wertungen zu orientieren hat, die das Konzernrecht vorgibt.

VI. Resümee und Ausblick Zusammenfassend lässt sich feststellen: Im Rahmen der Organhaftung sind Gesellschaftsrecht einerseits und Straf- bzw. Ordnungswidrigkeitenrecht andererseits eng miteinander verzahnt. Dabei sind noch viele Fragen des Verhältnisses der unterschiedlichen Materien, die sich mit den gleichen oder jedenfalls ähnlich gelagerten Problemkreisen befassen, ungeklärt. Dies macht einen verstärkten Austausch der beiden Fachrichtungen erforderlich. Die im Rahmen dieses Beitrags vertretene These, das im Bereich der Untreue anerkannte Konzept der asymmetrischen Akzessorietät auf das Verhältnis der aktienrechtlichen (Compliance)-Organisationspflicht zum Tatbestand der Aufsichtspflichtverletzung nach § 130 OWiG zu übertragen, kann hier nur einen Anfang bilden. Unterschiedliche oder gar sich widersprechende Anforderungen an Organmitglieder im Bereich der Compliance-Organisation sind zur Wahrung der Einheit der Rechtsordnung sowie im Interesse der Unternehmenspraxis – soweit wie möglich – zu vermeiden. Dies gilt insbesondere auch im Hinblick auf die derzeit geführte Diskussion um ein Unternehmenssanktionsrecht, dessen Einführung der Koalitionsvertrag vorsieht.72

72 Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD für die 19.  Legislaturperiode vom 12.3.2018, Z. 5895-5914.

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Räuberische Anleihegläubiger – Ein Vorschlag de lege ferenda Inhaltsübersicht I. Einleitung 1. Neues Schuldverschreibungsrecht a) Anwendungsbereich b) Befugnisse der Mehrheit 2. Übernahme des aktienrechtlichen ­Beschlussmängelrechts II. Grundzüge der Regelung 1. Anfechtung mit Kassationswirkung 2. Vollzugssperre 3. Nichtige Beschlüsse? 4. Freigabeverfahren 5. Unvergleichbarkeit der Lage a) Rechtfertigung im Aktienrecht b) Unterschiede im Schuldverschreibungsrecht c) Opposition von Frankfurter ­Gerichten 6. Bisherige Reformvorschläge III. Eigener Vorschlag: Anderer Ansatz – an der Wurzel 1. Notwendigkeit einer Rechtskontrolle

2. Kategorische Strukturverschiedenheit zur Aktiengesellschaft a) Verbandsstruktur der Aktien­ gesellschaft b) Individuelle Schuldverhältnisse durch Schuldverschreibungen c) Kein Sachzwang zur Einheitlichkeit d) Bruchteilseigentum durch Sammelverwahrung 3. Mögliche und ratsame Differenzierung a) Relative Wirksamkeit oder Unwirksamkeit b) Vereinbarkeit mit dem Zweck der ­kollektiven Bindung c) Umsetzung d) Rückwirkender Vollzug e) Sonderkategorie nichtiger Beschlüsse? 4. Gesamtbewertung IV. Fazit

I. Einleitung 1. Neues Schuldverschreibungsrecht Durch das Gesetz über Schuldverschreibungen aus Gesamtemissionen (Schuldverschreibungsgesetz – SchVG) vom 31. Juli 2009 (BGBl. I 2009, 2512) wurde der Mehrheit der Gläubiger aus Schuldverschreibungen einer Gesamtemission die Möglichkeit eingeräumt, gegen den Willen der Minderheit Beschlüsse, insbesondere betreffend die Änderung der für die Schuldverschreibungen geltenden Bedingungen (Anleihebedingungen), aber auch betreffend die Bestellung eines gemeinsamen Vertreters mit kollektiver Bindungswirkung für und gegen alle, auch die widersprechenden, Anleihegläubiger zu fassen. Im Grundsatz war eine solche Möglichkeit auch bereits nach dem bis zum Inkrafttreten des Schuldverschreibungsgesetztes geltenden „Gesetz betreffend die gemeinsamen Rechte der Besitzer von Schuldverschreibungen“ vom 4. Dezember 1899 gegeben. Dieses alte Schuldverschreibungsgesetz war aber praktisch bedeutungslos, „totes Recht“, aus zwei Gründen: Es galt nur für im Inland aus579

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gestellte Schuldverschreibungen inländischer Emittenten und nicht für Schuldverschreibungen der (inländischen) öffentlichen Hand. Da deutsche Unternehmen aus steuerlichen Gründen Schuldverschreibungen in aller Regel nicht unmittelbar, sondern über ausländische Finanzierungstöchter begeben, hatte das alte Schuldverschreibungsgesetz schon wegen der Beschränkung auf die Schuldverschreibungen inländischer Emittenten praktisch keinen Anwendungsbereich. Zudem waren die Beschlüsse, die die Gläubiger mehrheitlich mit bindender Wirkung für alle fassen konnten, inhaltlich stark beschränkt. a) Anwendungsbereich Das (neue) Schuldverschreibungsgesetz brachte insoweit wesentliche Änderungen. Es gilt für alle „nach deutschem Recht begebenen inhaltsgleichen Schuldverschreibungen aus Gesamtemissionen“ (§ 1 Abs. 1 SchVG). Die h.M. bezieht die Worte „nach deutschem Recht“ – entgegen dem Wortlaut – nicht auf den Begebungsakt, sondern auf den Inhalt der Schuldverschreibungen,1 weshalb das Schuldverschreibungsgesetz immer und nur anwendbar ist, wenn die Anleihebedingungen deutschem Recht unterliegen. Daraus ergab sich die Frage, ob die Anwendbarkeit voraussetzt, dass ausschließlich deutsches Recht auf die Anleihebedingungen anwendbar ist. Im Fall einer Nachranganleihe, die (insbesondere wegen der Verbindung zwischen Nachrangigkeit und Insolvenzrecht) bei allgemeiner Geltung deutschen Rechts vorsah, dass für die Voraussetzungen und Wirkungen des Nachrangs das (niederländische) Heimatrecht des Emittenten gelten solle, hat das Landgericht Frankfurt am Main die Anwendung des Schuldverschreibungsgesetzes mit der Begründung abgelehnt, die Begebung nach deutschem Recht setze uneingeschränkte Geltung des deutschen Rechts in jeder Hinsicht voraus.2 Das auf die Anleihebedingungen anwendbare Recht ist nach herrschender Meinung das maßgebliche, notwendig einheitliche, Wertpapierstatut.3 Bereits hieraus ergibt sich, dass die Auffassung des Landgerichts Frankfurt nicht richtig sein kann. Es muss deshalb darauf ankommen und genügen, dass für die Substanz oder für den Schwerpunkt der Anleihebedingungen deutsches Recht maßgeblich ist; die Geltung ausländischen Rechts für Teilaspekte ist daher unschädlich.4 Ebenso, wie selbstverständlich trotz allgemeiner Geltung deutschen Rechts für die Schuldverschreibungen insolvenzrechtlich das Heimatrecht (oder das Recht am Ort des Mittelpunkts der 1 Hartwig-Jacob in FraKomm. Schuldverschreibungsgesetz, 2013, § 1 Rz. 77; Artzinger-Bolten/ Wöckener in Hopt/Seibt (Hrsg.) Schuldverschreibungsrecht, 2017, § 1 SchVG Rz. 54 ff.; LG Frankfurt am Main v. 27.10.2011  – 3-05 O 60/11, ZIP 2011, 2306 (Pfleiderer) und v. 15.11.2011 – 3-05 O 45/11, BeckRS 2011, 26939. 2 LG Frankfurt am Main v. 27.10.2011 – 3-05 O 60/11, ZIP 2011, 2306 und v. 15.11.2011 – 3-05 O 45/11, BeckRS 2011, 26939. 3 Bliesener/Schneider in Langenbucher/Bliesener/Spindler (Hrsg.), Bankrechts-Kommentar 2. Aufl. 2016, 17. Kapitel, § 1 SchVG Rz. 5; Artzinger-Bolten/Wöckener (Fn. 1), § 1 SchVG Rz. 56; s. auch RG v. 14.11.1929 – IV 665/28, RGZ 126, 196, 206, allerdings nur zur Einheitlichkeit gegenüber allen Anleihegläubigern. 4 So die ganz herrschende Meinung – BGH v. 25.11.2005 – XI ZR 353/04, BGHZ 164, 361; Bliesener/Schneider (Fn. 3), § 1 SchVG Rz. 5; Artzinger-Bolten/Wöckener (Fn. 1), § 1 SchVG Rz. 56 ff.; Hartwig-Jacob (Fn. 1), § 1 SchVG Rz. 102 ff.

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hauptsächlichen Interessen (COMI)) des Schuldners und für etwaige dingliche Sicherheiten das Recht des Belegenheitorts maßgeblich bleibt, kann ohne Gefährdung der Anwendbarkeit des Gesetzes bezüglich des Nachrangs auf das maßgebliche In­ solvenzrecht verwiesen werden. Inwieweit ohne die Folge der Unanwendbarkeit des Schuldverschreibungsgesetzes für einzelne Teilaspekte oder Fragen ein anderes als das deutsche Recht für maßgeblich erklärt werden kann, ist hier nicht weiter zu behandeln. Praktisch relevant wird die Frage der Anwendbarkeit des Gesetzes im Wesentlichen nur für Schuldverschreibungen, die vor dem 5. August 2009 ausgegeben wurden (§ 24 Abs. 2 SchVG), und für seit dem 5. August 2009 begebene Schuldverschreibungen, wenn deren Bedingungen die Möglichkeit kollektiv bindender Mehrheitsbeschlüsse ausdrücklich vorsehen.5 b) Befugnisse der Mehrheit Die zweite wesentliche Änderung des Schuldverschreibungsgesetzes liegt in der starken Erweiterung dessen, was mit Mehrheit der Anleihegläubiger beschlossen werden kann. Mit dem Schuldverschreibungsgesetz sollte insbesondere die Möglichkeit gegeben werden, die Anleihebedingungen zu ändern, namentlich zur Ermöglichung einer finanziellen Sanierung eines in die Krise geratenen Schuldners. Mit dieser Möglichkeit trägt das Gesetz auch dem Anliegen der Group of Ten (G10), der es insbesondere um die Möglichkeit der Restrukturierung von Staatsschulden geht, Rechnung.6 Diesem Zweck dient auch die gegenüber dem alten Schuldverschreibungsgesetz stark erweiterte Möglichkeit, durch Bestellung eines gemeinsamen Vertreters der Anleihegläubiger die Geltendmachung von deren Rechten zu kanalisieren und dadurch (ähnlich wie in einem Insolvenzverfahren) Individualklagen einzelner Gläubiger zu verhindern.7 2. Übernahme des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts Wegen der Erweiterung der möglichen Beschlussinhalte kommt der Frage nach dem Rechtsschutz überstimmter Anleihegläubiger besondere Bedeutung zu. In der langen Entstehungsgeschichte des Schuldverschreibungsgesetzes nach (überwiegend un­ veröffentlichten) Vorentwürfen und Diskussionsentwürfen wurden erstmals im Re­ ferentenentwurf vom Mai 20088 Regelungen zum Rechtsschutz gegen Beschlüsse der Gläubigermehrheit vorgesehen. Entsprechende Regelungen waren in dem alten Schuldverschreibungsgesetz von 1899 nicht enthalten gewesen. Die zum Rechtsschutz in dem Referentenentwurf enthaltenen und – im Wesentlichen – unverändert in das Schuldverschreibungsgesetz übernommenen Vorschriften zum Rechtsschutz sind insbesondere hinsichtlich der Zuständigkeit und der Verfahrensgestaltung und, vor allem, hinsichtlich des sogenannten Freigabeverfahrens eng an die Vorschriften über 5 § 5 Abs. 1 SchVG. 6 BT-Drucks. 16/12814, S. 14. 7 § 7 Abs. 2 Satz 3 SchVG. 8 http://www.gesmat.bundesgerichtshof.de/gesetzesmaterialien/16_wp/schuldverschreibungsg/​ refe.pdf.

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den Rechtsschutz gegen fehlerhafte Hauptversammlungsbeschlüsse einer Aktiengesellschaft angelehnt und verweisen zum Teil ausdrücklich auf sie. Diese in ihrer heutigen Gestalt weitgehend von Ulrich Seibert formulierten9 Vorschriften des Aktiengesetzes haben ein im Aktienrecht seit gut 30 Jahren bekanntes Problem entschärft: das Problem sogenannter missbräuchlicher Anfechtungsklagen oder, wie man – früher häufiger – auch sagte: das Problem räuberischer Aktionäre oder räuberischer Anfechtungsklagen, deren Ziel darauf gerichtet ist, durch die Verzögerungswirkung auch unbegründeter Anfechtungsklagen ein Druckmittel, um nicht zu sagen: Erpressungspotential, gegenüber der Gesellschaft aufzubauen, das dann mit in der Sache ungerechtfertigten Vergleichen erledigt werden soll. Es ist reizvoll, in einer Ulrich Seibert gewidmeten Arbeit zu prüfen, ob das von ihm für das Aktienrecht gestaltete Regelungskonzept in einem ganz anderen Zusammenhang passt. In der Tat bestehen erhebliche Zweifel, ob diese Bestimmungen im Schuldverschreibungsrecht passen und ob mit ihnen das Ziel der Eindämmung der Klagen gegen Gläubigerbeschlüsse erreicht wird.10 Gegenstand und Grund dieser Zweifel sollen im Folgenden kurz zusammengefasst und im Anschluss daran ein anderer Weg zur Lösung des Problems vorgeschlagen werden.

II. Grundzüge der Regelung Das Schuldverschreibungsgesetz sieht zu dem Rechtsschutz Folgendes vor: 1. Anfechtung mit Kassationswirkung Wegen Verletzung des Gesetzes oder der Anleihebedingungen kann ein Beschluss der Gläubiger angefochten werden.11 Wie im Aktienrecht kann die Anfechtung nicht auf unwesentliche Informationsmängel oder technische Störungen beim Abstimmungsvorgang gestützt werden.12 Zur Anfechtungsbefugnis, zur Zuständigkeit und zum Verfahren enthält das Gesetz Vorschriften, die den entsprechenden Vorschriften des Aktiengesetzes nachgebildet sind, oder verweist unmittelbar auf sie.13 Die Klage ist gegen den Schuldner (Emittenten) zu richten.14 Darin liegt ein signifikanter Unterschied zu den Vorschriften des Aktiengesetzes, nach denen die Anfechtungsklage gegen die Gesellschaft zu richten ist,15 also gegen die juristische Person, deren Organ 9 Der Jubilar wird als „Vater des heutigen Beschlussmängelrechts“ bezeichnet; J. Koch, Gutachten zum 72. Deutschen Juristentag 2018, S. F 23. 10 Fundierte Kritik an der Übernahme der aktienrechtlichen Modelle bei Bliesener/Schneider (Fn. 3), § 20 SchVG Rz. 3 ff.; ferner Kiem in Hopt/Seibt (Hrsg.), Schuldverschreibungsrecht, 2017, § 20 SchVG Rz. 11 ff., jeweils m.w.N. Karsten Schmidt, ZGR 2011, 108, 133 f. spricht gar von einem „Handstreich“, mit dem das verbandsrechtliche Beschlussmängelrecht auf Gläubigergruppen übertragen worden sei. 11 § 20 Abs. 1 Satz 1 SchVG, entspricht § 243 Abs. 1 AktG. 12 § 20 Abs. 1 Satz 2 und 3 SchVG, entsprechend § 243 Abs. 3 Nr. 1 und Abs. 4 Satz 1 AktG. 13 § 20 Abs. 2 und 3 SchVG. 14 § 20 Abs. 3 Satz 2 SchVG. 15 § 246 Abs. 2 AktG; für die Nichtigkeitsklage § 249 AktG.

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den angegriffenen Beschluss gefasst hat. Die Gläubigerversammlung ist im Gegensatz hierzu kein Organ des Schuldners. Ein anderer Anfechtungsgegner als der Schuldner kommt aber nicht in Betracht, da die Gläubigerversammlung oder ihre Mehrheit ­weder rechtsfähig noch Organ eines anderen Rechtsträgers ist. Der Erfolg einer Anfechtungsklage trifft auch primär den Schuldner. Er ist daher fraglos der richtige Anfechtungsgegner. Dennoch ist die Funktionsverschiedenheit im Vergleich zu der aktienrechtlichen Anfechtungsklage bedeutsam. Darauf ist zurückzukommen. 2. Vollzugssperre In Stellungnahmen zum Referentenentwurf war vorgeschlagen worden, entsprechend § 241 Nr. 5 und § 248 AktG ausdrücklich vorzuschreiben, dass ein der Anfechtungsklage stattgebendes Urteil Gestaltungswirkung für und gegen alle Anleihegläubiger hat.16 Dieser Anregung ist der Gesetzgeber nicht gefolgt. Er erreicht aber in der Sache das gleiche Ziel durch ein Vollzugsverbot. Gemäß § 20 Abs. 3 Satz 4 SchVG darf vorbehaltlich einer Freigabeentscheidung der angefochtene Beschluss „vor einer rechtskräftigen Entscheidung des Gerichts“ nicht vollzogen werden. Nicht ausdrücklich geregelt – aber damit als selbstverständlich unterstellt – ist, dass ein Vollzug ebenfalls unzulässig ist, solange eine Anfechtungsklage noch möglich ist. Ebenfalls nicht ausdrücklich gesagt, aber als selbstverständlich unterstellt ist, dass eine erfolgreiche Anfechtungsklage ein dauerndes Vollzugsverbot bewirkt.17 Das entspricht in der Sache einer Registersperre, wie sie im Umwandlungsgesetz18 ausdrücklich vorgeschrieben ist. Für die Dauer des Vollzugsverbots darf auch ein durch Gläubigerbeschluss bestellter gemeinsamer Vertreter von der ihm erteilten Vollmacht oder Ermächtigung keinen Gebrauch machen.19 Der Zweck der Vorschriften über die Anfechtungsklage liegt weniger darin, einen Rechtsschutz zu eröffnen, als vielmehr darin, ihn in bestimmte Verfahrensweisen zu kanalisieren und insbesondere zeitlich an die enge Grenze der Anfechtungsfrist von einem Monat zu binden. Damit soll Rechtssicherheit erreicht werden.20 3. Nichtige Beschlüsse? Anders als das Aktiengesetz enthält das Schuldverschreibungsgesetz mit einer Ausnahme21 keine Vorschriften über die Nichtigkeit von (Gläubiger-)Beschlüssen. Dennoch wird vielfach vertreten, dass Gläubigerbeschlüsse auch nichtig sein können.22 16 Baums, ZBB 2009, 1,3. 17 BGH v. 1.7.2014 – II ZR 381/13, BGHZ 202, 7 Rz. 18. 18 § 16 Abs. 2 UmwG. 19 § 21 Abs. 2 SchVG. 20 Baums, ZBB 2009, 1, 3; Kiem (Fn. 10), § 20 SchVG Rz. 9 m.w.N. 21 Gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 SchVG ist ein Mehrheitsbeschluss, der nicht alle Gläubiger der­ selben Anleihe gleich behandelt, „unwirksam“, sofern nicht die benachteiligten Gläubiger ihrer Benachteiligung zustimmen. 22 BGH v. 1.7.2014 – II ZR 381/13, BGHZ 202, 7 Rz. 21 ff.; allgemein wegen eklatant schwerer Mängel Kiem (Fn. 10), § 20 SchVG Rz. 26 ff.; a.A. Bliesener/Schneider (Fn. 3), § 20 SchVG Rz. 12 insbesondere unter Hinweis auf das Fehlen entsprechender Vorschriften im Schuld-

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Für die nichtigen Beschlüsse soll die Anfechtungsfrist nicht gelten. Insoweit wird das Ziel, schnell Rechtssicherheit zu gewähren, also verfehlt. Das mag hinnehmbar sein, weil Beschlüsse nur wegen ganz besonders schwerwiegender Mängel nichtig sein sollen und die Initiatoren eines Gläubigerbeschlusses es ohne Weiteres in der Hand haben sollten, solche Mängel zu vermeiden. Dennoch verbleibt hier ein gewisses Maß an Rechtsunsicherheit, zumal deshalb, weil – anders als im Aktiengesetz – es keine Vorschriften über ein kanalisiertes (befristetes oder unbefristetes) Verfahren für die Geltendmachung und gegebenenfalls Feststellung der Nichtigkeit oder deren Heilung gibt. Wenn die Nichtigkeit nicht durch Anfechtungsklage geltend gemacht wird,23 könnte sie deshalb nur im Verhältnis zwischen dem Schuldner und einzelnen Anleihegläubigern festgestellt werden.24 4. Freigabeverfahren Sieht man von der Möglichkeit nichtiger Beschlüsse ab, so folgt das Gesetz hinsichtlich der Anfechtungsklagen, wie bemerkt, sehr eng dem Vorbild des Aktiengesetzes. Mit dem Vollzugsverbot wird jedem einzelnen Anleihegläubiger ein wirkungsmächtiges Mittel in die Hand gegeben, durch Anfechtungsklage den Vollzug von Gläu­ bigerbeschlüssen mindestens vorerst zu verhindern. Diese Möglichkeit für jeden ­einzelnen Anleihegläubiger, den Vollzug des Mehrheitsbeschlusses durch Klage zu blockieren, begründet die Gefahr eines Missbrauchs. Dieser Gefahr soll durch die Möglichkeit einer gerichtlichen Freigabe begegnet werden. Die maßgebliche Vorschrift lautet: „Vor einer rechtskräftigen Entscheidung des Gerichts darf der angefochtene Beschluss nicht vollzogen werden, es sei denn, das nach Satz 3 zuständige Gericht stellt auf Antrag des Schuldners nach Maßgabe des § 246a des Aktiengesetzes fest, dass die Erhebung der Klage dem Vollzug des angefochtenen Beschlusses nicht entgegensteht; § 246a Abs. 1 Satz 1, Abs. 2, 3 Satz 2, 3 und 6, Abs. 4 des Aktiengesetzes gilt entsprechend.“ (§ 20 Abs 3 Satz 4 SchVG).

Der durch Verweisung auf § 246a AktG eröffnete Weg zu einem Freigabeverfahren hat diese Gefahr jedoch nicht zu bannen vermocht.25 Die Regelung des § 20 Abs. 3 SchVG unterscheidet sich von § 246a AktG in einem wesentlichen Punkt. Während das aktienrechtliche Freigabeverfahren nur für Beschlüsse über Maßnahmen der Kapitalbeschaffung, der Kapitalherabsetzung, einen

verschreibungsgesetz und auf die andauernde Rechtsunsicherheit, die sich mangels eines (fristgebundenen) Verfahrens zur Feststellung der Nichtigkeit ergäbe; zweifelnd (außer bezüglich mangelnder Beurkundung oder Beschlussfeststellung und sonstiger unrealistischer Fälle) Maier-Reimer, NJW 2010, 1317, 1319. 23 Zur Einheitlichkeit des Streitgegenstandes einer Nichtigkeitsklage und einer Anfechtungsklage s. Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 246 AktG Rz. 12 f. 24 Kiem (Fn. 10), § 20 SchVG Rz. 9 m.w.N. 25 Kiem (Fn. 10), § 20 SchVG Rz. 15 mit (Fn. 43) Hinweis auf das „Fanal“ der Fälle Pfleiderer und Q-Cells; Bliesener/Schneider (Fn. 3), § 20 SchVG Rz. 6.

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Unternehmensvertrag, die Eingliederung oder den sog. Squeeze-Out gilt26 und entsprechende Regelungen für Umwandlungsbeschlüsse gelten,27 ist die Verweisung in § 20 Abs. 3 Satz 4 SchVG dahin zu verstehen, dass sie für jede Art von Gläubigerbeschlüssen gilt. Für die Voraussetzungen der Freigabe verweist das Schuldverschreibungsgesetz in vollem Umfang auf das Aktiengesetz. Die Freigabe erfolgt danach auf Antrag der Gesellschaft, wenn „1. die Klage unzulässig oder offensichtlich unbegründet ist, 2. der Kläger nicht binnen einer Woche … nachgewiesen hat, dass er seit Bekanntmachung der Einberufung einen anteiligen Betrag von mindestens 1000 Euro hält, oder 3.  das alsbaldige Wirksamwerden des Hauptversammlungsbeschlusses vorrangig erscheint, weil die vom Antragsteller dargelegten wesentlichen Nachteile für die Gesellschaft und ihre Aktionäre nach freier Überzeugung des Gerichts die Nachteile für den Antragsgegner überwiegen, es sei denn, es liegt eine besondere Schwere des Rechtsverstoßes vor.“

Die entsprechende Anwendung der Nr. 1 bereitet keine Schwierigkeiten. Nicht ganz so klar liegt die entsprechende Anwendung der Nr. 2, nach der es um einen anteiligen Betrag des Grundkapitals geht, was im Schuldverschreibungsrecht keine Entsprechung findet. Nach herrschender Meinung kommt es auf den Nennbetrag der gehaltenen Schuldverschreibungen an.28 5. Unvergleichbarkeit der Lage Der Kern der Vorschrift liegt aber in der Abwägungsklausel der Nr. 3. Diese ist insbesondere auch in Verbindung mit § 246a Abs. 4 AktG zu sehen, auf den das Schuldverschreibungsgesetz ebenfalls verweist. Erweist sich die Klage nach Freigabe als begründet, so lässt der festgestellte Mangel die Durchführung des Beschlusses unberührt. Die Gesellschaft ist jedoch dem klagenden Aktionär (dem Antragsgegner des Freigabeverfahrens) verschuldensunabhängig zum Schadensersatz verpflichtet. a) Rechtfertigung im Aktienrecht Die entsprechende Anwendung dieser Abwägungsklausel auf die Freigabe des Vollzugs von Gläubigerbeschlüssen bereitet Schwierigkeiten. Schon im Ausgangspunkt ist die Lage des Anleihegläubigers mit der des klagenden Aktionärs kaum vergleichbar. Als Mitglied nimmt der Aktionär nämlich proportional an den Vorteilen teil, die sich die Gesellschaft aus dem Vollzug des Hauptversammlungsbeschlusses verspricht, oder in der Ausdrucksweise des Gesetzes: Die Nachteile einer verzögerten Eintragung 26 § 246a Abs. 1 Satz 1, § 319 Abs. 6, § 327e Abs. 2 AktG; zu Überlegungen, den Anwendungsbereich zu erweitern, s. Seibert/Bulgrin in FS Marsch-Barner, 2018, S. 525 ff. 27 §16 Abs. 3 UmwG, auch in Verbindung mit § 125 und § 198 Abs. 3 UmwG. 28 Bliesener/Schneider (Fn. 3), § 20 SchVG Rz. 62; Kiem (Fn. 10), § 20 SchVG Rz. 171; gedacht werden könnte (z.B. mit Blick auf sog. Null-Coupon-Anleihen) auch an den Ausgabebetrag.

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treffen auch ihn. Das aktienrechtliche Freigabeverfahren gilt nur für Kapitalmaßnahmen und Unternehmensverträge sowie Strukturveränderungen (oder entsprechend nach dem Umwandlungsgesetz für Verschmelzungen, Spaltungen und Formwechsel). Wenn sich die Klage nach einer Freigabe als begründet erweist, wird ein Schaden des Aktionärs aus der Vollziehung solcher Beschlüsse in der Regel quantifizierbar sein, wenn etwa bei einer Kapitalerhöhung mit Bezugsrechtsausschluss die neuen Aktien unter Wert ausgebeben wurden oder bei einem Unternehmensvertrag den Minderheitsaktionären der beherrschten Gesellschaft ein überhöhter Ausgleich oder eine überhöhte Abfindung gemäß §§ 304, 305 AktG versprochen wird. Gleiches gilt, wenn bei Eingliederung oder Squeeze-Out den ausgeschlossenen Aktionären oder bei einer Verschmelzung oder Spaltung den Gesellschaftern der übertragenden Gesellschaft eine überhöhte Gegenleistung für den Verlust ihrer Beteiligung gewährt wird. Im umgekehrten Fall eines zu niedrigen Ausgleichs oder einer zu niedrigen Abfindung/Gegenleistung steht den betroffenen Gesellschaftern das Spruchverfahren zur Verfügung.29 b) Unterschiede im Schuldverschreibungsrecht All dies ist im Schuldverschreibungsgesetz anders. Soweit Änderungen von Anleihebedingungen nicht lediglich eher formale Punkte betreffen, wie etwa Zinstermine oder dergleichen, werden solche Beschlüsse, die formal die Position der Anleihegläubiger verschlechtern (wie insbesondere eine Verkürzung oder Stundung der Zahlungspflichten oder die Zwangsumwandlung in Eigenkapitalinstrumente) in der Regel nur gefasst, wenn damit die Insolvenz des Schuldners abgewendet werden soll. Grundsätzlich hat dann zwar auch in solchen Fällen der Anleihegläubiger einen Vorteil aus der Vollziehung, wenn durch sie die Insolvenz tatsächlich abgewendet wird und ohne die Änderung die Insolvenz tatsächlich eingetreten wäre. Ob dies aber der Fall ist, wird sich jedenfalls in vielen Fällen nicht mit hinreichender Sicherheit beurteilen lassen. Nur wenn dies tatsächlich der Fall ist, bringt der Beschluss (und damit auch sein alsbaldiger Vollzug) dem klagenden Gläubiger Vorteile,30 während er für den Schuldner ganz unabhängig von dem Aspekt einer Insolvenzabwendung in jedem Fall Vorteile bringt. Ist die Freigabe erfolgt, erweist sich die Klage nachträglich aber als begründet, so müsste für den Schadensersatzanspruch dargetan werden, wie sich die Sache weiterentwickelt hätte, wenn der Beschluss nicht vollzogen worden wäre. Für die Schlüssigkeit der Klage würde im Zweifel die nominale Minderung oder Veränderung der Gläubigerposition aufgrund des Beschlusses oder, im Falle einer Zwangsumwandlung von Schuldverschreibungen in Eigenkapital, der Vergleich zwischen der nominalen Position mit dem (wie immer ermittelten) Wert der Beteiligung am Eigenkapital, die er in Vollzug des Beschlusses erhalten hat, genügen. Der Schuldner müsste dann darlegen, dass er ohne den Vollzug in die Insolvenz gegangen wäre und wie hoch die Insolvenzquote gewesen wäre, wie auch den Zeitpunkt, zu dem die Insolvenzquote dann voraussichtlich gezahlt worden wäre. All dies müsste der zu29 S. nur § 304 Abs. 3, § 305 Abs. 5, § 320b Abs. 2, § 327f AktG sowie § 14 Abs. 2, § 15 UmwG jeweils i.V.m. § 1 SpruchG. 30 Zu solchen Vorteilen s. OLG Köln v. 13.1.2014 – 18 U 174/13, ZIP 2014, 268.

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ständige Richter gemäß §  287 ZPO schätzen.31 Diese verfahrensmäßige Beweiserleichterung ändert nichts daran, dass eine einigermaßen verlässliche Aussage kaum möglich sein wird. Die Unvergleichbarkeit der Lage des Schuldners mit derjenigen der Aktiengesellschaft, die eine Freigabe beantragt, ist mehrfach hervorgehoben und das Gesetz ist deshalb kritisiert worden.32 Auf einem ganz anderen Blatt steht und möglicherweise noch schwerer wiegt aber ein anderer Aspekt: Das Freigabeverfahren hat sich als unzureichend erwiesen, den damit verfolgten Zweck zu erreichen. In mehreren bekannt gewordenen Fällen hat sich das Freigabeverfahren so lange hingezögert, dass der Zweck der Insolvenzvermeidung verfehlt wurde.33 Das überrascht nicht. Gerade wenn der Schuldner zur Abwendung der Insolvenz eine Änderung der Bedingungen vorschlägt und die Gläubiger mit der erforderlichen Mehrheit beschließen, diesen Vorschlag anzunehmen, ist in aller Regel höchste Eile geboten. Ein Freigabebeschluss auch in dem einstufigen beschleunigten Verfahren34 kommt dann unter Umständen zu spät. In zwei bekannten Fällen scheiterte das Freigabeverfahren mit der Folge der Insolvenz des Schuldners bzw. seiner deutschen Muttergesellschaft, die die Anleihe garantiert hatte.35 c) Opposition von Frankfurter Gerichten In diesen Fällen, lag die lange Dauer (und im Ergebnis Erfolglosigkeit) des Freigabeverfahrens freilich auch an Widerständen der Frankfurter Instanzgerichte, das neue Schuldverschreibungsgesetz auf Altanleihen anzuwenden.36 Mittlerweile hat der Bundesgerichtshof insoweit Klarheit geschaffen: „Schon aus dem Wortlaut“ und ebenso aus der Zielsetzung des Schuldverschreibungsgesetzes folge, dass die Übergangsvorschrift des §  24 Abs.  2 SchVG unabhängig davon gilt, ob auf eine Altanleihe das Schuldverschreibungsgesetz 1899 anwendbar war und ob für sie nach den Anleihebedingungen Mehrheitsbeschlüsse vorgesehen waren.37 Das OLG Frankfurt am Main 31 S. im Rahmen der Abwägung die Überlegungen des OLG Köln v. 13.1.2014 – 18 U 174/13, ZIP 2014, 268, 269. 32 Friedl in FraKomm. Schuldverschreibungsgesetz, 2013, § 20 SchVG Rz. 91; Kiem (Fn. 10), § 20 SchVG Rz. 156 ff., 174; Bliesener/Schneider (Fn. 3), § 20 SchVG Rz. 2 ff., 62a; Maier-­ Reimer, NJW 2010, 1317, 1322. 33 S. die von Kiem (Fn. 10), § 20 SchVG Rz. 15 Fn. 43 als „Fanal“ bezeichneten Fälle Pfleiderer und Q-Cells. 34 § 246a Abs. 3 Satz 4 und 6 AktG i.V.m. § 20 Abs. 3 Satz 4 Halbs. 2 SchVG. 35 Zum Fall Pfleiderer s. K. Schmidt, ZIP 2012, 2085. 36 LG Frankfurt am Main v. 23.1.2012 – 3-05 O 142/11, ZIP 2012, 474 (Q-Cells); OLG Frankfurt am Main v. 27.3.2012 – 5 AktG 3/11, ZIP 2012, 7 (Pfleiderer); s. auch LG Frankfurt am Main v. 27.10.2011 – 3-05 O 60/11, ZIP 2011, 2306 und v. 15.11. 2011 – 3-5O45/11, BeckRS 2001, 26939 (beide i.S. Pfleiderer). 37 BGH v. 1.7.2014 – II ZR 381/13, BGHZ 202, 7 Rz. 9 ff.; BGH v. 2.12.2014 – II ZB 2/14, ZIP 2015, 473 Rz. 17 f. Trotz dieser deutlichen Kritik halten die Frankfurter Gerichte ihre – zur Insolvenz der Schuldner bzw. Garantinnen führenden – Entscheidungen für „gut begründet“. OLG Frankfurt am Main v. 19.10.2016 – 19 U 102-15, ZIP 2017, 187, 190; s. auch LG Frankfurt am Main v. 7.5.2017 – 2-32 O 102/13, ZIP 2015, 1358, 1361.

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hat auch für Anleihen, die nach Inkrafttreten des Schuldverschreibungsgesetzes be­ geben wurden, dessen Wirkung und die Wirkung von Mehrheitsbeschlüssen sachwidrig eingeschränkt.38 Auch Insoweit hat der BGH Klarheit geschaffen.39 6. Bisherige Reformvorschläge Wegen der Schwächen des Freigabeverfahrens für Gläubigerbeschlüsse wurde bereits im Gesetzgebungsverfahren vorgeschlagen, Mängeln des Beschlusses einer Gläubigerversammlung außer im Fall der Nichtigkeit nicht mit einem Kassationsurteil (wie im Falle der erfolgreichen aktienrechtlichen Anfechtungsklage) abzuhelfen, sondern durch ein Feststellungsurteil in Verbindung mit einem Anspruch auf Ersatz der durch den Beschluss verursachten Wertminderung.40 In dem Reformvorschlag eines aus Wissenschaftlern und Praktikern bestehenden „Arbeitskreises Reform des Schuldverschreibungsgesetzes“ wurde dieser Ansatz aufgegriffen und dahin erweitert, dass – wiederum mit der Ausnahme nichtiger Beschlüsse – die Ersatzpflicht nicht nur gegenüber dem Kläger, sondern gegenüber allen anfechtungsbefugten Gläubigern bestehen sollte.41 Der Gesetzgeber hat auch diesen Vorschlag aus dem Jahre 2014 ­bislang nicht aufgegriffen.42 Mit diesem Vorschlag würde gleichsam die Anfechtungsklage von vornherein auf das Ziel beschränkt, das bei einem erfolgreichen Freigabeverfahren erreicht wird, jedoch mit der Maßgabe, dass die Folgen allen bisher anfechtungsbefugten Gläubigern zugute käme. Die Schwäche dieses Reformvorschlags ist dieselbe, die bereits für das Freigabeverfahren oben angesprochen wurde: Es wird in einer Vielzahl, wenn nicht der Mehrzahl der Fälle praktisch nicht möglich sein, belastbar festzustellen, ob überhaupt ein Schaden eingetreten ist, und, wenn ja, wie hoch der Schaden ist. Jede Beweisführung dieser Art müsste sich zwangsläufig im Rahmen der Spekulation bewegen. Die Wertminderung kann auch nicht nach dem Kursverlauf börsennotierter Schuldverschreibungen bemessen werden. Denn der Kurs mag bereits als Folge der Einberufung der Versammlung eingebrochen sein – der Kursverlust ist dann nicht durch den Beschluss oder dessen Vollziehung verursacht. Es ist auch nicht sicher, dass der Wert der Schuldverschreibungen ohne die beschlossene Änderung ihrem Kurswert vor der Einberufung entspricht: Wenn die Einberufung zu einem Kurseinbruch führt, kann das auf der antizipierten („eskomptierten“) Erwartung einer entsprechenden Beschlussfassung, aber auch darauf beruhen, dass erst durch die Einberufung die Krisenlage des Schuldners bekannt wird. 38 OLG Frankfurt am Main v. 17.9.2014 – 1197/14, ZIP 2014, 2176; dazu Seibt/Schwarz, ZIP 2015, 401. Das OLG hat schon die Anleihebedingungen falsch gelesen, indem es den Unterschied zwischen einer Schuldenregelung der Schuldnerin mit „ihren Gläubigern“ (das sind alle Gläubiger) und einer Regelung mit „den Gläubigern“ (das sind die Gläubiger aus dieser Anleihe) verkennt. 39 BGH v. 8.12.2015 – XI ZR 488/14, BGHZ 208, 171 Rz. 16 ff.; dazu Florstedt, ZIP 2016, 645. 40 Baums, ZBB 2009, 1, 3; den Vorschlag wiederholte später ders., ZHR 177 (2013), 807, 815 f. 41 Arbeitskreis Reform des Schuldverschreibungsgesetzes, ZIP 2014, 845 – Änderungsvorschlag Nr. 10 (S. 848, 854 ff.). 42 Zu ähnlichen Vorschlägen zum Aktienrecht s. Arbeitskreis Beschlussmängelrecht, AG 2008, 617; zu einer Neuorientierung aufgrund einer kombiniert quantitativen und qualitativen Verhältnismäßigkeitsprüfung s. J. Koch (Fn. 9); dazu Bayer/Möller, NZG 2018, 801.

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Auch andere – nicht ausformulierte – Vorschläge zur Reform des § 20 SchVG43 sind auf die Beseitigung der Kassationswirkung einer erfolgreichen Anfechtungsklage zugunsten eines Anspruchs auf Wertersatz gerichtet. Ein weiterer Vorschlag geht allerdings einen anderen Weg.44 Danach soll im Falle eines rechtswidrigen Beschlusses Anspruch auf Rückerwerb der Schuldverschreibungen zum letzten Kurswert vor Einberufung der Gläubigerversammlung bestehen. Voraussetzung soll die Feststellung der Nichtigkeit aufgrund einer befristeten Nichtigkeitsklage oder der Rechtswidrigkeit aufgrund einer ebenfalls befristeten Feststellungsklage sein. Im Falle der Nichtigkeit soll der Anspruch allen, in den anderen Fällen nur denjenigen Gläubigern zustehen, die rechtzeitig Klage erhoben oder sich einer Klage angeschlossen haben. Dieser Vorschlag schießt über das Ziel hinaus, indem er den Schuldner mit einer vorzeitig fälligen Verbindlichkeit bedroht. Auf der anderen Seite wird eine Garantie (der Muttergesellschaft des Schuldners) eine solche Rücknahmepflicht nicht abdecken. Auch die Bemessung des Anspruchs nach dem letzten Kurswert vor der Einberufung der Gläubigerversammlung überzeugt nicht. Sie setzt eine Notierung der Anleihe vo­ raus – und diese Voraussetzung ist nicht immer erfüllt. Aber ganz unabhängig davon lässt sich aus den oben genannten Gründen die Wertminderung nicht zuverlässig nach dem Kurs beurteilen.

III. Eigener Vorschlag: Anderer Ansatz – an der Wurzel Die vorliegenden Reformvorschläge können deshalb nicht überzeugen. Das legt es nahe, über andere Wege zur Lösung des Problems nachzudenken. Die Reformvorschläge ziehen – soweit sie eine über die konkreten gesetzlichen Vorgaben hinausgehende Inhaltskontrolle nicht kategorisch ablehnen45 – nicht in Zweifel, dass es um ein ähnliches Problem wie im Aktienrecht geht, auch wenn die Angemessenheit der aktien-rechtlichen Lösungswege bestritten wird. Aber auch für das Aktienrecht werden grundlegende Änderungen vorgeschlagen.46 Diese vermeintliche Ähnlichkeit der Problemlage ist indessen zu bezweifeln. 1. Notwendigkeit einer Rechtskontrolle Die Notwendigkeit einer Kontrollmöglichkeit ergibt sich nach der Regierungsbegründung aufgrund der durch die kollektive Bindung (§ 4 SchVG) eingeschränkten Vertragsmacht des Einzelnen aus dem grundgesetzlichen Eigentumsschutzes. Die Kontrollmöglichkeit ergebe sich auch aus der Anlehnung des Verfahrens, d.h. des Beschlussverfahrens, an das Aktiengesetz und die aktienrechtliche Anfechtungsklage.47 Richtig ist sicher, dass es wegen der kollektiven Bindung einer richterlichen Kontroll43 S. z.B. Kiem (Fn. 10), § 20 SchVG Rz. 19 ff. 44 Moser, Missbrauchsgefahren durch opponierende Anleihegläubiger nach dem neuen Schuldverschreibungsgesetz, 2015, S. 387 ff.; Formulierungsvorschlag S. 405 ff. 45 Nachdrücklich so Bliesener/Schneider (Fn. 3), § 20 SchVG Rz. 22 ff. 46 S. die Nachweise (Fn. 42). 47 BT-Drucks. 16/12814, S. 25.

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möglichkeit der Mehrheitsbeschlüsse bedarf oder, anders gewendet, dass ohne richterliche Kotrollmöglichkeit die kollektive Bindung nicht zu rechtfertigen wäre – über die Art der Kontrollmöglichkeit ist damit jedoch noch nichts gesagt. Aus der Anlehnung des Beschlussverfahrens an die Regelung zur Durchführung von Hauptversammlung folgt jedenfalls nicht zwingend, dass die Kontrollmöglichkeit auch so ausgestaltet werden müsste wie im Aktienrecht. 2. Kategorische Strukturverschiedenheit zur Aktiengesellschaft Die Begründung des Erfordernisses einer Kontrollmöglichkeit aus der durch die kollektive Bindung bewirkten Einschränkung der Vertragsmacht des Einzelnen legt einen ganz anderen Ansatz für den Rechtsschutz des Einzelnen nahe. Die Möglichkeit einer richterlichen Kontrolle führt nämlich zu der Frage, warum die Mehrheit der (abstimmenden) Gläubiger, d.h. insbesondere die zustimmenden Gläubiger, über das Instrument der kollektiven Bindung gehindert sein sollen, mit dem Schuldner das zu vereinbaren, was sie für richtig halten. In diesem Punkt ist die Lage mit derjenigen einer Aktiengesellschaft gänzlich unvergleichbar. a) Verbandsstruktur der Aktiengesellschaft Die Hauptversammlung ist das Organ der Aktiengesellschaft. Ihre Beschlüsse betreffen entweder die Kapitalstruktur (z.B. Kapitalmaßnahmen) oder die Organisation (z.B. Aufsichtsratswahlen) der Gesellschaft oder deren – einem allgemeinen Gleichbehandlungsgebot unterliegenden48  – Verhalten gegenüber ihren Mitgliedern, wie etwa durch Dividendenausschüttungen. Insofern bindet der Hauptversammlungsbeschluss notwendig alle Aktionäre. Entsprechend kann der Beschluss auch nur gegenüber allen Aktionären wirksam oder gegenüber allen Aktionären unwirksam sein. Es ist undenkbar, dass z.B. die Wahl eines Aufsichtsrats oder eine Kapitalerhöhung im Verhältnis zu einem Aktionär wirksam ist, im Verhältnis zu einem anderen nicht. Auch im Falle nichtiger Beschlüsse ist deshalb eine Klage auf Feststellung der Nichtigkeit (außerhalb der besonderen Nichtigkeitsklage) durch einzelne Aktionäre nach zutreffender herrschender Meinung ausgeschlossen.49 b) Individuelle Schuldverhältnisse durch Schuldverschreibungen Die Schuldverschreibungen begründen demgegenüber individuelle schuldrechtliche Rechtsbeziehungen zwischen dem einzelnen Anleihegläubiger und dem Schuldner. Das Gleichbehandlungsgebot ist zwar in § 4 SchVG ausdrücklich normiert, es ist aber nicht von der Natur der Sache her geboten und im Übrigen auch unvollständig. Ein durch die Anleihebedingungen begründetes oder sonst nach zwingendem Recht bestehendes Kündigungsrecht kann jeder einzelne Anleihegläubiger für sich aus-

48 § 53a AktG. 49 Hüffer/Koch (Fn. 23), § 249 AktG Rz. 12.

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üben.50 Der Schuldner kann mit jedem einzelnen Gläubiger vereinbaren, ihm seine Schuldverschreibungen abzukaufen und ihn dadurch anders zu behandeln als die anderen Gläubiger. Einem Gleichbehandlungsgebot unterliegt der Schuldner (anders als die Aktiengesellschaft beim Erwerb eigener Aktien51) insoweit nicht. Vor allem aber: Das Gleichbehandlungsgebot des § 4 SchVG dient einem völlig anderen Zweck als das aktiengesetzliche Gleichbehandlungsgebot: es soll die Fungibilität der Wertpapiere sichern.52 c) Kein Sachzwang zur Einheitlichkeit Dieser Zweck des Gleichbehandlungsgebots schließt es nicht aus, dass der Schuldner mit dem einzelnen Gläubiger eine Vereinbarung trifft, wonach die Rechte aus der Schuldverschreibung zum Nachteil oder auch zum Vorteil dieses Gläubigers geändert werden. Eine solche Vereinbarung ist zwangsläufig personengebunden.53 Das ergibt sich für Inhaberschuldverschreibungen bereits aus § 796 BGB, im Übrigen aber auch aus der heute praktisch allein verwendeten Technik der Girosammelverwahrung einer Sammelurkunde (§ 9a DepotG) , die eine Rechtsnachfolge in einzelne – bestimmte – Schuldverschreibungen ausschließt. Zwar können Anleihebedingungen während der Laufzeit der Anleihe nach §  4 SchVG nur durch gleichlautenden Vertrag mit sämtlichen Gläubigern oder aufgrund eines Beschlusses gemäß §§ 5 ff. SchVG geändert werden. Richtig verstanden ist damit aber nur eine für alle geltende Änderung durch Änderung der sich aus dem Wertpapier ergebenden Rechte gemeint. Nach der Regierungsbegründung sollen dagegen auch zweiseitige Vereinbarungen zwischen dem Schuldner und einzelnen Gläubigern ausgeschlossen sein.54 Hierfür besteht indessen weder ein Grund, noch eine Legitimation. Im Rahmen einer Reform des Schuldverschreibungsrechts sollte dies klargestellt werden. d) Bruchteilseigentum durch Sammelverwahrung Der Annahme individueller Rechtsbeziehungen zwischen dem einzelnen Anleihegläubiger und dem Schuldner scheint die Tatsache zu widersprechen, dass nach der heute allgemein üblichen Methode der Girosammelverwahrung und Sammelverbriefung der Schuldverschreibungen kein einzelner Gläubiger Eigentümer oder Inhaber einzelner bestimmter Schuldverschreibungen ist. Die Lage ist insofern nicht anders als bei girosammelverwahrten Inhaberaktien. Trotz dieser verwahrungstechnischen sachenrechtlichen Lage werden die Inhaber von Miteigentumsanteilen an dem giro50 Zur Frage eines außerhalb der Anleihebedingungen bestehenden Kündigungsrechts aus wichtigem Grund s. Oulds in Hopt/Seibt (Hrsg.), Schuldverschreibungsrecht, 2017, Kap. 3 Rz. 3.90 ff. 51 § 71 Abs. 1 Nr. 8 Satz 3 i.V.m § 53a AktG. 52 BT-Drucks. 16/12814, S. 17. 53 Thole in Hopt/Seibt (Hrsg.), Schuldverschreibungsrecht, 2017, § 4 SchVG Rz. 33 ff.; s. auch Bliesener/Schneider (Fn. 3), § 4 SchVG Rz. 20; Friedl/Schmidtbleicher in FraKomm. Schuldverschreibungsgesetz, 2013, § 4 Rz. 9. 54 BT-Drucks. 16/128124, S. 17.

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sammelverwahrten Gesamtbestand behandelt, als wären sie Eigentümer/Inhaber ­einer entsprechenden Anzahl von Aktien und entsprechend Eigentümer einer entsprechenden Anzahl von Schuldverschreibungen. Das wird allgemein als so selbstverständlich empfunden, dass es kaum thematisiert wird. Insbesondere gilt für den Miteigentumsanteil an dem Girosammelbestand nicht etwa die Vorschrift des § 69 AktG betreffend das Miteigentum an (einzelnen) Aktien.55 Entsprechend steht jedem einzelnen Anleihegläubiger (d.h. Inhaber eines Miteigentumsanteils an dem Sammelbestand), wie bemerkt, das Recht zur Kündigung zu, wenn und soweit ein solches Recht in den Anleihebedingungen vorgesehen ist oder sich wegen Vorliegens eines wichtigen Grundes ergibt. 3. Mögliche und ratsame Differenzierung Aus diesem Befund folgt: Ein Mehrheitsbeschluss der Anleihegläubiger etwa zur Änderung der Anleihebedingungen oder zur Bestellung eines gemeinsamen Vertreters muss nicht zwingend entweder für und gegen alle Gläubiger dieser Anleihe wirksam oder für und gegen alle Gläubiger dieser Anleihe unwirksam sein. Eine Differenzierung ist möglich. Das Gesetz könnte bestimmen, dass der Beschluss unabhängig von einer Anfechtung und deren Erfolg für diejenigen Anleihegläubiger, die ihn nicht ­anfechten, wirksam ist und die Anfechtung nur die Schuldverschreibungen der klagenden Anleihegläubiger betrifft. Eine solche Regelung wird hiermit vorgeschlagen.56 Sie würde die aufgetretenen Probleme sachgerecht lösen. Die kollektive Bindung an Mehrheitsbeschlüsse ist eine Konstruktion zur Erreichung bestimmter Zwecke. Sie behandelt die Gläubiger derselben Anleihe in gewisser Hinsicht wie Mitglieder eines Verbands. Die Gesamtheit der Gläubiger ist aber kein Verband.57 Die Überzeichnung der verbandsartigen Regelung in § 20 SchVG läuft Gefahr, den Zweck der kollektiven Bindung zu gefährden. Sie sollte deshalb überdacht und eingeschränkt werden. a) Relative Wirksamkeit oder Unwirksamkeit Da es – anders für den Beschluss einer Hauptversammlung im Aktienrecht – keinen zwingenden Grund gibt, weshalb ursprünglich inhaltsgleiche Schuldverschreibungen verschiedener Gläubiger notwendig für die gesamte Laufzeit einer Anleihe inhaltsgleich bleiben müssten, bedarf es der Rechtfertigung, warum jedenfalls diejenigen Gläubiger, die mit einem Änderungsvorschlag des Schuldners einverstanden sind, nicht in der Lage sein sollten, für sich und ihre Rechtsnachfolger eine solche Änderung zu vereinbaren. Anders als im Aktienrecht geht es dabei eben nicht darum, ob die Mehrheit der Minderheit ihren Willen aufzwingen oder in Belange der Minder55 Hüffer/Koch (Fn.  23), §  69 AktG Rz.  2; zur Begründung s. Merkt in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 69 AktG Rz. 16. 56 In diese Richtung ging bereits der Vorschlag des Zivilrechtsauschusses des Deutschen Anwaltvereins Nr. 41/2008, S. 12 (abrufbar unter www.anwaltverein.de). 57 Nichts anderes bedeutet die Aussage von Bliesener/Schneider (Fn. 3), § 4 SchVG Rz. 4, das Kollektiv sei eine Rechtsform sui generis; ausführlich Thole (Fn. 53), § 4 SchVG Rz. 8 ff.; s. auch Friedl/Schmidtbleicher (Fn. 53), § 4 SchVG Rz. 15 ff.

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heit eingreifen kann. Eine solche Möglichkeit ergibt sich nur aus der in §§  4 und 5  SchVG vorgeschriebenen kollektiven Bindung aller an Mehrheitsbeschlüsse;58 sie ergibt sich also (anders als im Aktienrecht) nicht aus der Natur der Sache, sondern aus der positiven Gesetzesvorschrift. Damit steht sie zur Disposition des Gesetzgebers, der durch wohldosierte Einschränkung der kollektiven Bindung, sachgerechte Lösungen sicherstellen kann. Die Blockademöglichkeiten, die sich aus der Anfechtungsbefugnis nach geltendem Recht ergeben, bewirken sogar, dass eine (möglicherweise marginale) Minderheit die große Mehrheit der Anleihegläubiger daran hindern kann, ihr Recht auf privatautonome Gestaltung ihrer eigenen Rechtsverhältnisse nach ihren Vorstellungen wahrzunehmen. b) Vereinbarkeit mit dem Zweck der kollektiven Bindung Wenn die Möglichkeit einer relativen Wirksamkeit oder Unwirksamkeit von Gläubigerbeschlüssen erwogen wird, wird damit keineswegs das Anliegen des Schulverschreibungsgesetztes konterkariert, bindende Mehrheitsbeschlüsse zu fassen. Der Beschluss ist jedenfalls immer noch für all diejenigen wirksam und bindend, die an der Beschlussfassung nicht teilgenommen haben, wie auch für diejenigen, die vielleicht dagegen gestimmt haben, sich aber mit dem Beschlussergebnis abfinden und es nicht anfechten. Mit einer Differenzierung danach, dass der Beschluss für die einen wirksam ist, für die anderen (möglicherweise) nicht, entfällt allerdings die einheitliche Fungibilität der Schuldverschreibungen. Es bestehen dann  – solange die Unsicherheit besteht oder wenn die Unwirksamkeit für bestimmte Schuldverschreibungen feststeht – zwei Gattungen der Schuldverschreibungen aus ursprünglich derselben Anleihe: Die eine Gattung, für die der Beschluss wirksam ist, und die andere, für die er nicht (oder möglicherweise nicht) wirksam ist. Die Schuldverschreibungen derselben Gattung sind jeweils untereinander wiederum fungibel. c) Umsetzung Auch mit einem solchen Konzept bedarf es jedoch eines rechtlichen Rahmens, um Rechtssicherheit zu schaffen. Insbesondere ist eine Klagefrist (wie nach geltendem Recht) vorzusehen. Es sollte auch vorgesehen werden, dass sich andere Anleihegläubiger der Klage als Nebenintervenienten (nur) in bestimmter Frist anschließen können. Diese Fristen sollten eng bemessen sein. Wie nach geltendem Recht sollte ein Vollzugsverbot solange bestehen, wie die Klage und die Nebenintervention noch möglich ist. Nach Ablauf der Frist steht fest, für wessen, und damit für wie viele Schuldverschreibungen der Beschluss angegriffen wird. Auf dieser Grundlage kann dann das die Anleihe verbriefende Wertpapier technisch geteilt werden: 58 Die Möglichkeit einer Differenzierung sprechen Bliesener/Schneider (Fn. 3), § 20 SchVG Rz. 3 ff. und 22 ff. in ihrer Argumentation gegen die Übertragung des aktienrechtlichen Modells und Argumentation gegen eine allgemeine Inhaltskontrolle von Mehrheitsbeschlüssen nicht an.

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–– Für diejenigen Schuldverschreibungen, für welche eine Anfechtung nicht erfolgte, wird der Beschluss in der Form des § 21 SchVG vollzogen –– Für diejenigen Schuldverschreibungen, für die angefochten wurde, werden (in der Form einer neuen Sammelschuldverschreibung) neue Schuldverschreibungen mit dem unveränderten Text ausgegeben. Die beiden verschiedenen Gattungen der Schuldverschreibungen der ursprünglich identischen Anleihe sollten unterschiedliche Wertpapierkennnummern erhalten, sodass sie gesondert gehandelt werden können. Sind die Klagen erfolgreich, so verbleibt es bei der Teilung der Anleihe. Werden die Klagen insgesamt zurückgenommen oder abgewiesen, so kann die Anleihe wieder zusammengeführt werden. Wenn und soweit einzelne Kläger oder Nebeninterve­ nienten von dem Verfahren Abstand nehmen, können ihre Schuldverschreibungen von der einen Anleihe auf die andere „umgebucht“ werden. Dazu bedarf es keiner Neuausgabe von Urkunden. Es genügt nach der Technik von Höchstbetragsschuldverschreibungen (sogenannten „Bis-zu-Schuldverschreibungen“), den Bestand der wechselnden Schuldverschreibungen bei der einen Anleihe abzuschreiben und der anderen zuzuschreiben. d) Rückwirkender Vollzug Ergänzt werden könnte eine solche Regelung durch eine Bestimmung, dass nach Rücknahme oder rechtskräftiger Abweisung der Anfechtungsklage der Vollzug der Änderung mit Rückwirkung möglich ist. Betrifft der Beschluss die Bestellung eines gemeinsamen Vertreters oder dessen Aufgaben, so würde der rückwirkende Vollzug bedeuten, dass die von dem gemeinsamen Vertreter getroffenen Maßnahmen auch für die bis dahin von seiner Vertretung ausgenommenen Schuldverschreibungen gelten  – wie die Rückwirkung der Genehmigung des Handelns eines Vertreters ohne Vertretungsmacht.59 e) Sonderkategorie nichtiger Beschlüsse? Ob bei dieser Gestaltung neben der Regelung über anfechtbare Beschlüsse auch noch die Kategorie nichtiger Beschlüsse in Betracht zu ziehen ist, erscheint zweifelhaft. Sofern keine abschließenden Vorschriften über Nichtigkeitsgründe und befristete Nichtigkeitsklagen vorgesehen werden, sollte eine besondere Kategorie nichtiger Beschlüsse nicht anerkannt werden.60

59 §§ 177, 184 BGB. 60 So de lege lata Bliesener/Schneider (Fn. 3), § 20 SchVG Rz. 12; zur Notwendigkeit positiver Regelung auch bei Anerkennung der Kategorie nichtiger Beschlüsse de lege lata Kiem (Fn. 10), § 20 SchVG Rz. 21, 28 ff.

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4. Gesamtbewertung Der Vorteil einer Regelung nach diesem Konzept liegt gegenüber der geltenden Rechtslage in zwei Elementen: –– Das Vollzugsverbot ist von vorneherein zeitlich begrenzt und verlängert sich nicht im Falle der Erhebung einer Anfechtungsklage, bis eine Freigabeentscheidung erwirkt wird, oder gar auf Dauer; –– dadurch entfällt das enorme Druckpotential, das Einzelne nach geltender Rechtslage haben und das in hohem Maße missbrauchsanfällig ist. Ob mit einer solchen Regelung ein Druckpotential gänzlich vermieden werden kann, erscheint allerdings zweifelhaft. Auch wenn nur wegen eines marginalen Bruchteils der Gesamtanleihe eine Klage erhoben wird, kann die bloße Tatsache, dass einige wenige Schuldverschreibungen nicht geändert sind (und im Falle begründeter Anfechtungsklagen wegen der unveränderten Geltung der ursprünglichen Anleihe­ bedingen bei ihnen eine Pflichtverletzung oder eine vorzeitige Fälligkeit eintritt) möglicherweise aufgrund sog. Cross-Default Bestimmungen Auswirkungen auf die Kündbarkeit anderer Anleihen des Schuldners haben. Das ist jedoch eine Frage der Ausgestaltung oder Auslegung der Bedingungen der anderen Anleihen. Geht man davon aus, das es in der Regel um Sanierungsfälle geht, sollten nicht nur die Bedingungen einer einzelnen Anleihe, sondern aller mindestens funktional vergleichbaren Anleihen entsprechend geändert werden. Im Rahmen einer solchen Änderung auch bei anderen Anleihen können dann derartige „Cross-Default-Klauseln“ ebenfalls durch Bagatellausnahmen modifiziert werden.

IV. Fazit Aus dem Prinzip der kollektiven Bindung, dem Grundsatz der Gleichbehandlung der Anleihegläubiger und der Ähnlichkeit des Beschlussverfahrens mit dem Verfahren zur Vorbereitung und Durchführung von Hauptversammlungen einer Aktiengesellschaft hat der Gesetzgeber voreilig den Schluss gezogen, bezüglich des Rechtsschutzes gegen Beschlüsse lägen die Dinge ähnlich wie bezüglich der Rechtskontrolle von Hauptversammlungsbeschlüssen. Aufgrund dieses Fehlschlusses hat der Gesetzgeber das Kontrollverfahren einschließlich der Möglichkeiten eines Freigabeverfahrens weitgehend entsprechend den einschlägigen, von Ulrich Seibert gestalteten, Vorschriften des Aktiengesetzes – und in wesentlichen Teilen durch schlichte Verweisung auf diese – geregelt. Das ist weder zwingend, noch in der Durchführung überzeugend. Die für den Verband der Aktiengesellschaft getroffenen Regeln passen nicht für eine Menge paralleler individueller Schuldverhältnisse, auch wenn diese einer Mehrheitsentscheidung unterworfen sind. Überdies konnte das Freigabeverfahren nicht verhindern, dass der Vollzug von Gläubigerbeschlüssen zur Sanierung des Schuldners durch Anfechtungsklagen einiger weniger Gläubiger so lange blockiert wurde, dass es dann für die Insolvenzvermeidung zu spät war.

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Vorzugswürdig ist deshalb eine Gestaltung, die den einzelnen Anleihegläubigern Rechtsschutz gegen (möglicherweise) rechtswidrige Gläubigerbeschlüsse gewährt, die Rechtsfolgen (und die Verzögerungswirkung) von solchen Rechtsbehelfen aber auf die Schuldverschreibungen derjenigen Anleihegläubiger beschränkt, die tatsächlich die zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe einleiten. Das Ergebnis einer erfolgreichen Klage sollte dem Kläger nicht mehr und auch nichts anderes geben als die „natürliche“ Rechtsfolge: Der rechtswidrige Beschluss ist ihm gegenüber nicht wirksam. Das schuldrechtliche Verhältnis zwischen ihm und dem Schuldner bleibt durch den rechtswidrigen Beschluss unverändert. Eine solche Gestaltung wahrt die Rechte der Mehrheit ohne Nachteil für diejenigen, die – erfolgreich oder erfolglos – gegen die Beschlüsse vorgehen, gefährdet nicht das übergreifende Ziel des Schuldverschreibungsgesetzes, das Erfordernis einstimmiger Beschlüsse zu vermeiden, und ist rechtstechnisch ohne weiteres umsetzbar. Es nimmt Personen, die in dem Titel dieses Beitrags genannt sind, den Anreiz für willkürliche oder missbräuchliche Klagen, da ihnen das Druckpotential fehlt, das sie nach der geltenden Rechtslage haben.

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25 Jahre Aktienrechtsreform – insbesondere die digitale Evolution Inhaltsübersicht I. Was passiert, wenn nichts passiert? II. Deregulierung als Metakonzept III. Die erste Phase: hausgemacht IV. Die zweite Phase: EU V. Evaluation

VI. Die dritte Phase: „From Event to ­Process“ VII. Andere Organe VIII. Banknachweis und Dematerialisierung der Aktie IX. Ausblick

I. Was passiert, wenn nichts passiert? Wie wäre der folgende Sachverhalt zu beurteilen, wenn es die Aktienrechtsreformen seit 1994 nicht gegeben hätte? Eine Aktiengesellschaft lädt zur Hauptversammlung (HV) durch Zeitungsanzeigen in sogenannten Börsenpflichtblättern und im gedruckten Bundesanzeiger. Wer die HV besuchen will, hat seine Aktien vorzulegen oder bei einer Wertpapiersammelbank zu hinterlegen. Wer nicht persönlich zur HV kommen kann, findet allenfalls eine Vertretungsoption durch ein deutsches Kreditinstitut oder eine Aktionärsvereinigung. Unterlagen zur HV können im Geschäftsraum der Gesellschaft eingesehen oder postalisch angefordert werden. Über die Beschlüsse der HV kann man sich nur durch Zusendung der Niederschrift im Handelsregister unterrichten. Eine 10%-Kapitalerhöhung mit Ausschluss des Bezugsrechts wird durch eine Anfechtungsklage blockiert, denn das Registergericht wartet lieber den Ausgang des Prozesses in den höheren Instanzen ab. Wie wir Heutigen erkennen, wäre bei einem solchen altbackenen Zustand eine internationale Aktionärsbeteiligung so gut wie unmöglich und die Beschlussausführung bliebe bis zum Ende eines langen Rechtsstreits suspendiert. Die klassische Frage der Gesetzgebung „Was passiert, wenn nichts passiert?“ ist damit an sich geklärt. Vieles ist geschehen in dieser als „Aktienrechtsreform in Permanenz“1 wahrgenommenen Periode. Das Vierteljahrhundert beginnt mit dem Gesetz zur kleinen Aktiengesellschaft im Jahr 1994 und endet mit dem ARUG II im Sommer 2019. Insgesamt acht Wahlperioden des Deutschen Bundestages und drei Bundeskanzler lagen in dieser Zeit. Sie1 Zöllner, AG 1994, 336 (ein prophetisches Diktum, geäußert vor den Seibert`schen Reformgesetzen).

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ben Justizminister(innen)2 haben die Gesetzentwürfe verantwortet. Indessen: „Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?“ – wer hat die Entwürfe gefertigt? Diese rhetorische Frage beantwortet sich in dieser Festschrift selbst. Der Track-Record des Jubilars ist imponierend: Kleine AG und Deregulierung (1994),3 KonTraG (1998),4 NasTraG (2001),5 TransPuG (2002),6 UMAG (2005),7 ARUG I (2009)8 und ARUG II (2019),9 dazu die kleine AktG-Novelle (2016).10 Ferner die Handelsrechtsreform (1998),11 das EHUG (2006)12 und das MoMiG (2008)13 sowie rechnungslegungsrechtliche, kapitalmarktrechtliche und finanzmarktstabilisierende Gesetze mit aktienrechtlichem Einschlag. Hier soll es im Wesentlichen um die digitale Evolution im Aktienrecht gehen, die im Jahr 2001 startete. Durch viele der Gesetze zog sich – wie man jedenfalls rückblickend erkennt – der rote Faden, den Gesellschaften die Nutzung der neuen Kommunikationsmedien zügig zu ermöglichen. In den Worten des Jubilars: „Viele Fragen, die die Internationalisierung der Finanzmärkte aufwerfen, können nur mit Hilfe der neuen Medien beantwortet werden. Börsenparkett, Streifbandverwahrung, Aktienurkunden mit Stahlstichen, Coupon-Schneiden im Tresor, schriftliche Stimmrechtsvollmachten und Handelsregisterauszüge, Papier in jeder Form sind in globalen Wertpapiermärkten passé“.14 Hilfreich waren dabei die Empfehlungen der Regierungskommission Corporate Gover­nance, die dem Gegenstand „Informationstechnologie und Aktienrecht“ in ihrem Abschlussbericht 2001 ein ganzes Kapitel widmete.15 Das war es aber auch schon. 2 Frau Leutheusser-Schnarrenberger wurde zweimal in dieses Amt berufen (1992-1996 und 2009-2013). 3 Gesetz für kleine Aktiengesellschaften und zur Deregulierung des Aktienrechts, BGBl. I 1994, 1961.  4 Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG), BGBl. I 1998, 786. 5 Gesetz zur Namensaktie und zur Erleichterung der Stimmrechtsausübung (Namensaktiengesetz – NaStraG), BGBl. I 2001, 123. 6 Gesetz zur weiteren Reform des Aktien- und Bilanzrechts, zu Transparenz und Publizität (Transparenz- und Publizitätsgesetz), BGBl. I 2002, 2681. 7 Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG), BGBl. I 2005, 2802. 8 Gesetz zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie (ARUG), BGBl. I 2009, 2479. 9 Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II); RegE seit dem 20.3.2019. 10 Gesetz zur Änderung des Aktiengesetzes (Aktienrechtsnovelle 2016), BGBl. I 2015, 2565. 11 Gesetz zur Neuregelung des Kaufmanns- und Firmenrechts und zur Änderung anderer handels- und gesellschaftsrechtlicher Vorschriften (Handelsrechtsreformgesetz – HRefG), BGBl. I 1998, 1474.  12 Gesetz über elektronische Handelsregister und Genossenschaftsregister sowie das Unternehmensregister (EHUG), BGBl. I 2006, 2553. 13 Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG), BGBl. I 2008, 2026. 14 Seibert, AG 2015, 593, 595. 15 Bericht der Regierungskommission Corporate Governance, hrsg. v. Baums, 2001, Rz. 246 ff.

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Die Parteien-Rechtspolitik war an dem Thema ziemlich desinteressiert, und in der damaligen Rechtswissenschaft galt man damit als bunter Vogel.16 Die volle Aufmerksamkeit fanden die gravierenden Veränderungen der Unternehmensverfassung börsennotierter17 Aktiengesellschaften, fortan Corporate Governance genannt.18 Dazu gehörten der Shareholder-Value-Ansatz, die Mediatisierung der Aktionärsstellung,19 die Auflösung der sog. Deutschland-AG und vor allem die Internationalisierung der Aktionärsstruktur.20 Die (wie man heute sagen muss: erste Phase der) Digitalisierung wurde, wenn überhaupt, als mehr oder weniger angenehme Begleitmusik wahrgenommen.

II. Deregulierung als Metakonzept Das erste der hier interessierenden Gesetze war 1994 eingebettet in eine allgemeine Deregulierungswelle in den westlichen Ländern, die in den achtziger Jahren begann (heute schwingt das Pendel zurück!). Die sog. Donges-Kommission hatte anfangs der neunziger Jahre einen umfassenden Bericht zur Deregulierung vorgelegt,21 was dem Zeitgeist entsprach und von der Politik aufgegriffen wurde. Ein anderer Ökonom (Horst Albach) präsentierte 1988 unter maßgeblicher Beteiligung von Marcus Lutter eine Studie und legte einen „Entwurf zur Modifizierung des Aktienrechts im Hinblick auf personalistische Gesellschaftsstrukturen und einen erleichterten Börsenzugang“ vor.22 Auf dem Lämmerbuckel der Schwäbischen Alb wurde 1993 von seinerzeit füh-

16 Immerhin befasste sich das hochrangige ZHR-Symposion im Januar 2001 teilweise mit dem Gegenstand „Aktienrecht und Internet“ bzw. „Hauptversammlung und Internet“; s. Habersack, ZHR 165 (2001), 172 ff. und Riegger, ZHR 165 (2001), 204 ff.; aus der Frühzeit sei auf den Düsseldorfer Tagungsband „Unternehmensrecht und Internet“, 2001, (hrsg. von Noack/Spindler) hingewiesen; ferner Zetzsche (Hrsg.), Die virtuelle Hauptversammlung, 2002, mit zahlreichen Beiträgen zeitgenössischer Akteure. Zahlreiche Dissertationen erschienen in den Folgejahren zu der Thematik, sie faszinierte verständlicherweise junge Leute. Für einen Rückblick und eine Bestandsaufnahme aus heutiger Sicht s. Spindler, Gesellschaftsrecht und Digitalisierung, ZGR 2018, 17 ff.; von der Warte der späten neunziger Jahre Noack, Moderne Kommunikationsformen vor den Toren des Unternehmensrechts, ZGR 1998, 592 ff. 17 Ein Gesetzesbegriff seit dem KonTraG 1998 (Fn. 4), s. § 3 Abs. 2 AktG. 18 Zu den damals wahrgenommenen Veränderungen der „Systemkomponenten“ Seibert, AG 2002, 417, 418. 19 Einen Teilaspekt einprägsam und vielzitiert als „Pensionskassenkorporatismus“ bezeichnend U.H. Schneider, AG 1990, 317. 20 Eine Momentaufnahme habe ich seinerzeit mit „Entwicklungen im Aktienrecht 1999/2000“ zu geben versucht (DAI-Broschüre und hier: http://www.jura.hhu.de/dozenten/noack/for​ schung0/publikationen/entwicklungen-im-aktienrecht-19992000.html). 21 „Marktöffnung und Wettbewerb“  – Berichte der Deregulierungskommission 1990/1991, 1991. 22 Albach u.a., Deregulierung des Aktienrechts: Das Drei-Stufen-Modell. Ein Entwurf zur Modifizierung des Aktienrechts im Hinblick auf personalistische Gesellschaftsstrukturen und einen erleichterten Börsenzugang, 1988. 

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renden Aktienrechtlern ein diffuser „Reformbedarf im Aktienrecht“ ausgemacht.23 Die Rechtswissenschaft hat den vor einem Vierteljahrhundert in Gang gekommenen Reformprozess ansonsten kaum aktiv befördert, sondern rezipiert und kommentiert.24 Die akademische Gelehrsamkeit schien eher überrascht, was aus Bonn und später aus Berlin kam.25 Das Gesetz für kleine Aktiengesellschaften hieß im Folgetitel nicht von ungefähr „zur Deregulierung des Aktienrechts“.26 Nun wäre eine grundlegende Deregulierung die Streichung oder wenigstens Lockerung des § 23 Abs. 5 AktG gewesen. Die Norm war und ist umstritten bis zur Gegenwart.27 Doch dieser Einschnitt dürfte den Akteuren zu tiefgreifend, zu folgenreich vorgekommen sein. Das erste der Reformgesetze wollte nicht die Aktienwelt aus den Angeln heben, sondern einige alte Zöpfe abschneiden. In vielfacher Hinsicht ist es stilprägend für die vielen weiteren Gesetzesvorlagen geworden, die Ulrich Seibert als Referatsleiter entwarf.28 Man sollte sich die damalige Zeit um die Jahrtausendwende vor Augen führen, die durch die spektakuläre feindliche Übernahme von Mannesmann durch das Tele­ kommunikationsunternehmen Vodafone und in der Breite durch die Börsenhausse des Neuen Marktes geprägt war. Eine Technikeuphorie griff um sich, von einer „New  Economy“ wurde gesprochen  – bis sie kollabierte. Das Ende des „Irrational Exuberance“ (Robert Shiller) markierte den Beginn der hier vorgestellten digitalen Evolution.

III. Die erste Phase: hausgemacht Am Fall der internetgestützten Hauptversammlung sei gezeigt, wie sich die erste Phase der Digitalisierung ihre Bahn durch feine Gesetzgebung gebrochen hat. Vor einem Vierteljahrhundert war das (damals verbreitet so genannte) Word Wide Web stark im Kommen, gleichwohl wurde es regierungsoffiziell erst im Jahr 2013 als „Neuland“29 entdeckt. Diese Polit-Anekdote reizt nicht allein zum besserwisserischen Lächeln, sie macht vielmehr darauf aufmerksam, dass seinerzeit die große Politik daran kaum Interesse hatte. So blieb genügend Raum zur Gestaltung auf der sogenannten Arbeits­ ebene im Justizministerium. Die Nutzung dieses Freiraums erfolgte mit dem NaStraG30 im Jahr 2001. Das Gesetz – allerdings erst in der Fassung durch den offenbar gut be23 Reformbedarf im Aktienrecht, hrsg. v. Semler/Hommelhoff/Doralt/Druey, ZGR-Sonderheft 12, 1994. 24 S. die Habilitationsschrift von Escher-Weingart, Reform durch Deregulierung im Kapitalgesellschaftsrecht, 2001.  25 Zum „Unternehmensrecht in der Berliner Republik“ s. Thiessen, http://rg.rg.mpg.de/en/article_id/1093. 26 Fn. 3. 27 Kuntz, Gestaltung von Kapitalgesellschaften zwischen Freiheit und Zwang, 2016. 28 Dazu Kiem in dieser FS, S. 449. 29 Bundeskanzlerin Angela Merkel am 19.6.2013. 30 Fn. 5.

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ratenen Rechtsauschuss des Bundestages  – erweiterte den Kreis der Vertretungs­ personen beiläufig um eine entscheidende Stelle: den von der Gesellschaft selbst benannten Vertreter (heute § 134 Abs. 3 Satz 5 AktG).31 Und es stellte die Vollmacht satzungsdispositiv,32 weshalb auch eine via Internet/E-Mail erteilte Vertretungsmacht möglich wurde. Damit bildete das Stimmrechtsvertretermodell die Grundlage der virtuellen33 Hauptversammlung.34 Im Grunde war damit eine elektronische Stimm­ abgabe eingeführt, wenn auch rechtstechnisch der Umweg über eine Vertretung noch  erforderlich war. Kritik an dem Gesellschaftsvertreter flackerte kurz auf, weil schlechte Erfahrungen mit dem Verwaltungsstimmrecht der Weimarer Zeit beschworen wurden.35 Die Praxis der Gegenwart gibt, soweit ersichtlich, aber zu keiner Beanstandung irgendeinen Anlass. Dazu trägt gewiss bei, dass die Stimmrechtswahrnehmung durch den gesellschaftsbenannten Vertreter weisungsgebunden zu sein hat. Das Gesetz schweigt dazu,36 aber der Deutsche Corporate Governance Kodex nicht (Nr. 2.3.2). Überhaupt war es sehr förderlich, dass der Kodex von Anfang an empfahl, dass die Stimmrechtsvertretung „erleichtert“ werden soll und ein gesellschaftsbenannter Vertreter eingerichtet wird, verbunden mit der Anregung, „dieser sollte auch während der Hauptversammlung erreichbar sein.“ Best Practice war und ist demnach die Ermöglichung einer erleichterten Stimmabgabe via Vertretung. Dass der gesellschaftsbenannte Vertreter während der HV elektronisch erreichbar ist, ergibt nur Sinn, wenn der abwesende Aktionär diese HV verfolgen kann. Diese Komplettierung wurde ein Jahr später mit dem TransPuG37 erreicht. Schon vorher hatten mutige Aktiengesellschaften eine Audio-Video-Übertragung ihrer HV begonnen,38 erstaunlicherweise ohne sich Klagen einzuhandeln. Mit dem Gesetzessatz, „dass die Hauptversammlung in Ton und Bild übertragen werden darf “ wurde die Rechtsgrundlage nachgeliefert.39 Seither ist diese Übertragung bei größeren börsennotierten Gesellschaften weit verbreitet. Für alle werden die Reden von Vorstand und Auf-

31 Bunke, AG 2002, 57, 58 ff.; Noack, ZIP 2001, 57, 61; Habersack, ZHR 165 (2001), 172, 187; Bachmann, AG 2001, 635. 32 Bis zum NaStraG (2001) war Schriftform vorgeschrieben, seit dem ARUG I (2009) (Fn. 8) genügt Textform (§ 126b BGB). 33 Das Adjektiv ist nicht im bildungssprachlichen (Möglichkeits-)Sinne gemeint, sondern auf den Gebrauch in der IT-Branche (ein scheinbarer, nur logisch vorhandener Speicher) bezogen. 34 So der Aufsatztitel von Bunke in Zetzsche (Hrsg.), Die virtuelle Hauptversammlung, 2002, S. 21. 35 Zöllner in FS Peltzer, 2001, S. 661, 664 ff.; Kindler, NJW 2001, 1678, 1686 f. 36 Die h.M. entnimmt das Weisungserfordernis dem § 135 Abs. 3 Satz 3 AktG (bzw. § 135 Abs. 1 Satz 2 AktG a.F.) in analoger Anwendung; Arnold in MünchKomm.AktG, 4. Aufl. 2018, § 134 AktG Rz. 41 f.; Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 134 AktG Rz. 26b; Spindler in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 134 AktG Rz. 63; Noack, ZIP 2001, 57, 62; Hüther, AG 2001, 68, 71; Bunke, AG 2001, 57, 60 f.; a.A. Tröger in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2017, § 134 AktG Rz. 208; Rieckers in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 134 AktG Rz. 55 f. 37 Fn. 6. 38 Voran ging die Deutsche Telekom AG. 39 Seinerzeit § 118 Abs. 3 AktG, heute in etwas anderer Formulierung § 118 Abs. 4 AktG.

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sichtsrat zugänglich gemacht, aktionärsöffentlich meistens die Verhandlungen auf der HV. Auch das Einberufungs- und Informationsprozedere wurde schon früh vom zwingenden Papierversand befreit, der etwa bei der DaimlerChrysler-HV noch 18 Lastwagenladungen ausmachte.40 Die Satzung konnte seit dem NaStraG 200141 statt des sperrigen eingeschriebenen Briefes ein „anderes“ bestimmen (§ 121 Abs. 4 Satz 2 AktG), etwa die E-Mail-Einladung vorsehen. Diese Option haben inzwischen fast alle Gesellschaften mit Namensaktien genutzt. Gegenanträge und Wahlvorschläge (§§ 126, 127 AktG) sind seit 2002 „zugänglich zu machen“ (TransPuG 2002),42 also eine Internetpräsenz genügt fortan. Statt der Auslage notwendiger Dokumente (Jahresabschluss, Unternehmensvertrag) im praktisch unzugänglichen „Geschäftsraum der Gesellschaft“ reicht seit dem EHUG 200643 bzw. dem ARUG 2009,44 dass sie „über die Internetseite der Gesellschaft zugänglich sind“ (§§ 175 Abs. 2 Satz 4, 293f Abs. 3 AktG und §§ 62 Abs. 3 Satz 8, 63 Abs. 4 , 230 Abs. 2 Satz 4 UmwG). Für börsennotierte Gesellschaften ist überhaupt deren Internetseite seit dem ARUG 2009 zum zentralen Informationsmedium geworden (§  124a AktG). Wer sich über die DAX-Gesellschaften unterrichten will, findet heute durchweg gut gestaltete Investor-Relation-Seiten, nicht nur in der Hauptversammlungssaison. Doch nicht alles ist eitel Sonnenschein und in der Praxis gut angekommen. Die durch das UMAG 200545 ermöglichte Vorabbeauskunftung ist so sperrig wie dieses Wort geblieben. Nach § 131 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 AktG kann die Auskunft auf der HV verweigert werden, wenn die Auskunft auf der Internetseite der Gesellschaft sieben Tage lang zugänglich ist.46 Gedacht war eine FAQ-Liste, an eine Entlastung der HV von ellenlangen Fragekatalogen. Daraus ist nichts geworden. Zwar findet sich ab und zu eine solche Internetpräsentation, doch dieser allgemeine Rahmen reicht bei dezidierter Fragerei auf der HV nicht aus, um anfechtungssicher eine Auskunft mit dem Hinweis auf die Internetseite zu verweigern. Ein großer Flop ist das Aktionärsforum (§ 127a AktG). Dort ist so viel los wie auf dem Zentralfriedhof. Die Einführung mit dem UMAG 200547 wurde wie folgt begründet: „Verfahren zur Kontaktaufnahme zwischen den Aktionären unter Nutzung neuer Informationstechnologien sind ein sinnvolles Korrelat zum zunehmend breiten Streubesitz und einer fortschreitenden Internationalisierung der Aktionärsstruktur. Dies gilt insbesondere da, wo das Gesetz Schwellenwerte für die Ausübung von Aktionärs40 So wurde es von der Verantwortlichen dem Verfasser dieses Beitrags berichtet. 41 Fn. 5. 42 Fn. 6. 43 Fn. 12. 44 Fn. 8. 45 Fn. 7. 46 Dazu Kersting in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 131 AktG Rz. 398 ff. Zwei Jahre später nahm die Aktionärsrechte-Richtlinie (Richtlinie 2007/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.7.2007 über die Ausübung bestimmter Rechte von Aktionären in börsennotierten Gesellschaften, ABl. L 184 S. 17) diese Idee auf (Art. 9 Abs. 2 Unterabs. 2). 47 Fn. 7.

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rechten vorsieht.“ Die Regierungskommission Corporate Governance hatte ein solches Forum vorgeschlagen, dafür sollte die Internetseite der Gesellschaft genutzt werden.48 Ministerium, Regierung und schließlich das Parlament entschieden sich für die Internetseite des Bundesanzeigers als Plattform. Die Nutzung der Seite der Gesellschaft würde „zusätzliches Konfliktpotential schaffen“, auch bestehe „die Erwartung, dass das Aktionärsforum beim Bundesanzeiger als für jedermann leicht zugängliche Basis für die Kommunikation unter Aktionären von diesen angenommen und allgemein bekannt werden wird“.49 So ist es nicht gekommen. Weniger die Platzierung auf einer Bundesanzeiger-Seite dürfte dafür verantwortlich sein als vielmehr die Grundkonstruktion des Aktionärsforums. Es ist nämlich kein Forum im üblichen Sinne, auf welchem ein Meinungs- und Erfahrungsaustausch stattfindet. Vielmehr handelt es sich um eine Pinnwand, an welche bestimmte Aufrufe zum Mitmachen angebracht werden können. Diese eingeschränkte Funktionalität hat die Aktionäre nicht interessiert. Einige Aktionärsvereinigungen haben anfangs ihre Stimmenwerbung dort untergebracht, ganz vereinzelt finden sich sonstige Aufforderungen. In dieser Ausgestaltung ist das Aktionärsforum überflüssig und § 127a AktG kann wieder entfallen.

IV. Die zweite Phase: EU Eine zweite Etappe der internetgestützten HV wurde mit der ersten Aktionärsrechte-Richtlinie im Jahr 2007 eingeleitet.50 Sie brachte sowohl die elektronische Teilnahme an der HV (Art. 8) als auch durch die „Briefwahl“ (Art. 12) einen Paradigmenwechsel. Ihre Umsetzung erfolgte durch das (erste) ARUG im Jahr 2009.51 Bevor darauf eingegangen wird, sei darauf hingewiesen, dass diese wichtige Richtlinie nicht vom Himmel gefallen ist. Der Erfolg hat viele Väter, und einer davon ist unser Jubilar. Er hat im Jahr 2000 die Bundesjustizministerin Däubler-Gmelin veranlasst, an den EU-Kommissar Mario Monti zu schreiben, es sei doch im Binnenmarkt kein tragbarer Zustand, dass Aktionäre erhebliche Schwierigkeiten haben, ihre Rechte in Ak­ tiengesellschaften anderer Mitgliedstaaten auszuüben und dass die Hauptversammlungspräsenzen wegen des Fehlens der ausländischen Aktionäre weiter absinken. Diese grenzüberschreitende Problematik verlange nach einer Angleichung der gesellschaftsrechtlichen Regelungen der Mitgliedstaaten. In Folge dieser und weiterer Interventionen wurde die EU-Kommission mit Konferenzen und Konsultationen, mit Expertenkommissionen und Entwürfen aktiv. Sie hat Anfang des Jahres 2006 eine Richtlinie vorgeschlagen, die ohne große Kontroverse im 48 Baums (Hrsg.), Bericht der Regierungskommission, 2001, Rz. 131; zur Binnenkommunikation der Aktionäre Noack in Bayer/Habersack (Hrsg.), Aktienrecht im Wandel, Bd. II, 2007, S. 660 ff. 49 Begr. RegE zum UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 16. 50 Richtlinie 2007/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.7.2007 über die Ausübung bestimmter Rechte von Aktionären in börsennotierten Gesellschaften, ABl. L 184 S. 17. 51 Fn. 8.

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Juli 2007 das Amtsblatt zierte. Mit ihrem Vorstoß ging die Kommission also durch offene Türen. Für das deutsche Aktienrecht bedeutet die „Briefwahl“ eine einschneidende Veränderung. Das Präsenzprinzip der HV ist aufgegeben, da vorab eine gültige Stimmabgabe möglich ist. Die Aktionärsrechte-RL gibt den Mitgliedstaaten vor, ihren Aktionären die Möglichkeit einzuräumen, per Brief vor der Hauptversammlung abzustimmen. Wohlgemerkt: die Möglichkeit, nicht etwa wird die Briefwahl verpflichtend. Die Satzung oder der Vorstand kann vorsehen, dass die Stimmen schriftlich oder im Wege elektronischer Kommunikation abgegeben werden (§ 118 Abs. 2 AktG). Die Legaldefinition lautet „Briefwahl“, was zu eng erscheint, da es nicht nur um eine Wahl geht und auch kein herkömmlicher Brief gemeint ist. Besser formuliert das österreichische Aktiengesetz, das den Vorgang eine „Fernabstimmung“ nennt (§ 126 öAktG). Doch soll hier nicht gekrittelt, sondern der Blick auf den Kern gerichtet werden: Wenn alle oder jedenfalls die Mehrheit vorab abgestimmt haben, ist dann die HV als solche überflüssig? Sie wäre in diesem Fall nur der deklaratorische Schlussakt eines Geschehens, das in den Wochen zuvor stattgefunden hat. Bemerkenswerterweise hat der DCGK diese seit 10 Jahren bestehende Option der Briefwahl noch nicht aufgegriffen, weder als Anregung und erst recht nicht als Empfehlung. Die Stimmrechtsvertretung durch einen Gesellschaftsbenannten wird nach wie vor und allein empfohlen. Vermutlich ist man unsicher über die Einschätzung der grundsätzlichen Veränderung, die mit einer breitflächigen elektronischen Fernabstimmung einhergeht. Das (erste) ARUG52 hat in Umsetzung von Art. 8 der Aktionärsrechte-RL auch die Möglichkeit einer Teilnahme an der HV „ohne Anwesenheit an deren Ort“ vorgesehen (§ 118 Abs. 1 Satz 2 AktG). Diese Option geht weit über die bloße Stimmrechtsausübung hinaus. Das Gesetz ist sehr knifflig formuliert, um ein Stufenprogramm der elektronischen Teilhabe zu ermöglichen: „sämtliche oder einzelne Rechte“ können so ausgeübt werden, und das „ganz oder teilweise“. Horizontal und vertikal ist die Teilnahme „im Wege elektronischer Kommunikation“ also beschränkbar. Wenn auch Rede- und Fragerecht „ganz oder teilweise“ gewährt werden sollen, wird es ersichtlich schwierig. Weder ist das „teilweise“ geklärt53 noch der Modus einer vernünftigen Zuschaltung der u.U. zahlreichen Ortsabwesenden in eine Präsenz-HV. Doch sind diese Probleme im Laufe der Zeit lösbar. Das Angebot des europäischen und nationalen Gesetzgebers an die Aktiengesellschaften steht. Die ergänzte Aktionärsrechte-RL des Jahres 201754 bringt demgegenüber nichts wesentlich Neues für die internetgestützte Hauptversammlung. Die Richtlinie setzt auf eine Identifikation und demzufolge auch Information der Aktionäre (Art. 3a ff.). Mit 52 Fn. 8. 53 Tröger in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2019, § 118 AktG (im Erscheinen). 54 Richtlinie (EU) 2017/828 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17.5.2017 zur Änderung der Richtlinie 2007/36/EG im Hinblick auf die Förderung der langfristigen Mitwirkung der Aktionäre (ABl. L 132 S. 1).

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dem ARUG II55 wird diese Vorgabe im Jahr 2019 umgesetzt (§§ 67a ff. AktG). Eine digitale Kette soll via Intermediäre die Gesellschaften mit ihren Aktionären verbinden. Die solcherart adressierten Aktionäre können in die HV-Prozedur eingebunden werden, ihre Weisungen werden die Kette entlang an die Gesellschaft geleitet. Möglicherweise wird die Präsenzversammlung durch diese digitale Stimmabgabe weiter an Bedeutung verlieren.

V. Evaluation Die Reformen seit dem NaStraG56 haben bis auf wenige Ausnahmen durchweg positiv eingeschlagen und ein modernes HV-Recht entwickelt, das der Vorbereitung des Ereignisses (Einberufung, Information) als auch der Durchführung (Briefwahl, elektronische Teilnahme, Videoübertragung) zeitgemäße Optionen eröffnet. In der Praxis der börsennotierten Gesellschaften sind die Regelungen gut aufgenommen worden. Über das Gros der Aktiengesellschaften, die nicht börsennotiert sind, liegen keine verlässlichen Daten vor.57 Die Stimmabgabe über das Internet (Briefwahl bzw. gesellschaftsbenannter Vertreter) ermöglichen 25 DAX-Gesellschaften, wobei der späteste Zeitpunkt hierfür vielfältig differiert. 18 Gesellschaften erlauben die Stimmabgabe noch in der laufenden HV (mit unterschiedlichem Schluss), die anderen bestimmen Zeitpunkte am Vortag oder gar zum Anmeldeschluss.58 Im MDAX sieht es eher mau aus. Ein knappes Drittel immerhin ermöglicht die Briefwahl, ein Viertel der Gesellschaften in diesem Segment übertragen die HV (zumeist nur die Verwaltungsreden). Diese Variationsbreite, die sich zum Erscheinen dieses Beitrags schon wieder verändert haben dürfte, ist eine gute Sache. Denn es braucht in diesem Zusammenhang keine Gesetzesbefehle. Der Sinn der Übung besteht darin, dass die Gesellschaften ihre eigenen Wege finden. Dies zu „erleichtern“ war und ist ein Anliegen des Jubilars, das Wort fand mehrfach Eingang in die Gesetzesbegrifflichkeit. Bislang nicht angekommen ist die Option des §  118 Abs.  1 Satz 2 AktG. Nur zwei DAX30-Gesellschaften machen davon Gebrauch, und auch das in restriktiver Weise: Die SAP SE und die Munich Re AG beschränken die Online-Teilnahme auf die Stimmrechtsausübung. In der Einladung zur HV der SAP SE 2018 heißt es: „Im Wege der Online-Teilnahme können die Teilnehmer die gesamte Hauptversammlung in Bild und Ton über das Internet verfolgen, bei den Abstimmungen ihre Stimmen in Echtzeit abgeben und elektronisch das Teilnehmerverzeichnis der Hauptversammlung einsehen. Eine darüberhinausgehende Ausübung von Aktionärsrechten im Wege der Online-Teilnahme ist aus technischen und organisatorischen Gründen nicht möglich.“ Die Gründe dürften weniger in vorgeblichen „technischen und organisato55 Fn. 9. 56 Fn. 5. 57 Bestandsaufnahme bei von Holten/Bauernfein, AG 2018, 729 ff. 58 Bernhard Orlik, Geschäftsführer der Link Market Services GmbH danke ich sehr für die Auskunft (Stand August 2018).

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rischen“ Unzulänglichkeiten zu suchen sein als vielmehr in rechtlichen: Das Fragerecht einem kaum fassbaren Online-Aktionärskreis rund um die Welt einzuräumen, erscheint mit Blick auf § 131 AktG zu gewagt. Denn ob man das Fragerecht dann eben nur „teilweise“ hat (s. Wortlaut des § 118 Abs. 1 Satz 2 AktG), etwa ein striktes Fragenlimit mit einem Umfang wie im Twitter-Tweet, ist völlig offen. Ein tieferer Grund liegt darin, dass die Präsenz-HV als Tagesereignis mit einer Online-Beteiligung nicht gut harmoniert. Dieses Hybrid kombiniert Feuer und Wasser (unten VI.). Man stelle sich einmal die Alternativen zu der evolutionären, „pointillistischen“ Gesetzgebung59 vor. Die eine, dass bis zur Umsetzung der Aktionärsrechte-RL überhaupt keine der dargestellten Gesetzesänderungen erfolgt wäre, also „das moderne Zeug ignorieren“ als Motto gegolten hätte (wie es manche empfohlen haben). Dann hätte das (erste) ARUG60 wohl einen veritablen Praxisschock ausgelöst, wenn auf einmal dieses Neuland Internet in die gemütliche HV-Stube eingezogen wäre. So aber waren die wesentlichen Grundlagen für die internetgestützte HV schon Jahre vorher gelegt, die Richtlinienumsetzung erschien als deren konsequente Weiterführung. Die gegenteilige Alternative hätte darin bestanden, schon um die Jahrtausendwende alles auf einmal einzuführen. Ersichtlich hätte dieser Sieben-Meilen-Schritt die Handelnden und die Adressaten überfordert, ein so revolutionärer Antritt wäre sicher gescheitert. Alles hat und braucht seine Zeit – wie wahr. Die Verlagerung von Informationen, Mitteilungen, Unterlagen in das Internet (elek­ tronischer Bundesanzeiger, Internetseite der Gesellschaft) hat im letzten Jahrzehnt die durchaus berechtigte bange Frage aufgeworfen, ob damit nicht ein erheblicher Teil der Aktionäre ausgeschlossen werde. Wer keinen Internetzugang hat oder mit ihm nichts anzufangen weiß, ist in der Tat im Nachteil. Das böse Wort von einer Altersdiskriminierung machte zuweilen die Runde; die Aktionärsvereinigung DSW sorgte sich um ihre vorwiegend älteren Mitglieder. Ob der behauptete Gegensatz der digital nativen und der digital naiven Aktionäre wirklich bestand oder es sich vielmehr um einen fließenden Übergang handelte, sei dahingestellt. Das Gegenargument lautete, dass der HV auch fernbleiben müsse, wer ein Verkehrsmittel nicht nutzen kann oder will. Auf die persönliche Befindlichkeit und die (reale und digitale) Mobilität der Aktionäre kann das Gesetz nicht abstellen. Trocken bemerkt die Regierungsbegründung zum UMAG 2005,61 dass sich jedermann auf zumutbare Weise den Zugang zum Internet verschaffen kann.62 Heute, an der Schwelle zum nächsten Jahrzehnt, hat diese alte Diskussion keine Berechtigung mehr. Das Internet und damit verbundene Kommunikationsformen gehören zum Allgemeinbestand.63

59 C. Schäfer, NJW 2008, 2536, 2537; Kiem in dieser FS, S. 449. 60 Fn. 8. 61 Fn. 7. 62 Begr. RegE zum UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 17. 63 87 % der Haushalte in Deutschland verfügten 2016 über einen Internetzugang (Quelle: Statistisches Bundesamt).

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VI. Die dritte Phase: „From Event to Process“64 Die internetgestützte HV ist seit Jahren gelebte Wirklichkeit. Der Gesetzgeber (und immer: der Gesetzesvorbereiter) hat die klassische Saalveranstaltung geöffnet. Die Gesellschaften können einen Mix aus physischer Präsenz und digitaler Teilhabe anbieten und sie tun es. Aber die Pflicht ist der Saal, die Kür ist digital. Die Gesetze sind so gefasst, dass sie Möglichkeiten anbieten, aber keineswegs zur Digitalisierung verpflichten. Einen entscheidenden Schritt haben sie aber noch nicht getan. Er bestünde darin, die Saalveranstaltung zur Disposition der Satzung zu stellen.65 In den Worten eines Wahlkämpfers des Jahres 2017: Warum nicht „digital first“? Eine funktionale Betrachtung der Einrichtung „Hauptversammlung“ legt offen, dass es dort um Information, Kommunikation und Entscheidung geht. Diese Funktionen werden umso wichtiger in Zeiten eines internationalen Aktionariats und einer von institutionellen Anlegern bzw. Stimmrechtsberatern geprägten Struktur.66 Die Durchführung als lokales Präsenztreffen genügte bei den „Schornsteinaktionären“,67 aber die Zeiten haben sich geändert. Der Prozess der Information und Kommunikation, der schließlich in die Beschlussfassung mündet, ist das Entscheidende, nicht das formale Abschlussereignis: from event to process.68 Die zentralen Funktionen der Information und der Entscheidung sind schließlich nicht versammlungsgebunden.69 Wer vom Vorstand einer börsennotierten Aktiengesellschaft etwas Neues erfahren will, braucht nicht die Hauptversammlung zu besuchen. Kapitalmarktrechtliche Regeln verlangen, die gesamte Anlegeröffentlichkeit von kursrelevanten Tatsachen ad hoc und ansonsten in Quartalsabständen zu informieren. Hinzu kommt die Empfehlung des Deutschen Corporate Governance Kodex (Nr. 2.3.1), alles relevante Material auf der Internetseite der Gesellschaft zu publizieren. Unter diesem Aspekt ist die klassische Hauptversammlung bei börsennotierten Gesellschaften sowohl praktisch als auch rechtlich funktionslos geworden. Das ist bei den börsenfernen Gesellschaften anders. Hier haben Hauptversammlung und das dort auszuübende Auskunftsrecht noch einen wesentlichen Sinn mit Blick auf die Information. Insofern müsste dort das Abgehen vom Versammlungsgrundsatz zu einer Substitution durch eine spezifische Informationsordnung führen. Fragen an die Ver64 Seibert, AG 2015, 593, 596. 65 So der Vorstoß von Bachmann in FS G.H. Roth, 2011, S. 37, 48 f. 66 Zur Struktur der HV bzw. des neuzeitlichen Aktionariats weitsichtig Claussen in Zetzsche (Hrsg.), Die virtuelle Hauptversammlung, 2002, S. 7 ff.; Claussen, AG 2001, 161; aktueller Langenbucher in FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 733; Seibert, AG 2015, 593, 596; Tröger in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2019, § 118 AktG (im Erscheinen). 67 So bezeichnete der Publizist Heinz Brestel die honorigen Investoren, die im Umkreis des Schlotes „ihrer“ Fabrik wohnten. 68 Beurskens/Noack: Shareholder’s meeting – From Personal Get Together to Dynamic Decision-­ Making, https://notizen.duslaw.de/shareholders-meeting-from-personal-get-together-­to-dy​ namic-decision-making/. 69 Die folgenden Absätze sind an meinen Beitrag zum 50-Jährigen Jubiläum des AktG 1965 angelehnt; in: Fleischer/Koch/Kropff/Lutter, ZGR-Sonderheft Bd. 19, 2015, 163.

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waltung ließen sich in einem Internetforum organisieren, das klar aufgebaut und nach Gegenständen strukturiert einen höheren Informationsgewinn für alle verspricht als die Beauskunftung der gerade in einer Präsenzversammlung anwesenden oder sie online verfolgenden Aktionäre. Wenig tragfähig für die Rechtfertigung der Präsenz-Hauptversammlung ist der Aspekt der Kommunikation.70 Im Ansatz richtig ist, dass die persönliche Zusammenkunft der Aktionäre ein probates Mittel ist, um über die Angelegenheiten der AG zu beratschlagen. Leider ist dieses Ideal schon lange verlassen, als die Gesellschaften größer wurden und der Stimmrechtsvertreter aufkam. Es ist kein Fall bekannt, dass in der Hauptversammlung, ausgerechnet veranlasst durch die Aussprache, eine gravierend von den Erwartungen abweichende Entscheidung getroffen wurde.71 Ein show of hands in einem Saal braucht man zur Herbeiführung der Entscheidung definitiv nicht. Ja oder nein erklären geht mittels elektronischer Stimmabgabe, die als „Briefwahl“ schon seit 10 Jahren möglich ist. Die eigentliche Abstimmung erfordert unter heutigen Verhältnissen keine Anwesenheit. Dass die Anforderungen an die ­Authentifizierung und sichere Datenübermittlung hoch sind, ist eine Erwägung zum „Wie“ des Vorgangs, nicht aber ein Argument gegen das „Ob“. Die Veranstaltung im Saal, die faktisch die meisten Aktionäre ausschließt (!), ist im Grunde überflüssig. Sie ist ein „Kostümstück aus alten Zeiten“.72 Information, Kommunikation und Entscheidung können sehr gut als digitale Prozesse organisiert werden. So wäre es denkbar, dass die Gesellschaft ihre Internetressourcen während einiger Zeit für eine strukturierte Kommunikation zur Verfügung stellt, diese begleitet und anschließend das Fazit zieht, also eine digitale Abstimmung organisiert. Die Haupt-Versammlung gehört vom Kopf auf die Füße gestellt. Die Willensbildung, nicht die abschließende Willensfeststellung ist der wesentliche Vorgang.73 Nicht der Tag der Versammlung, sondern das Verfahren dorthin ist entscheidend. Ja, das ist „Zukunftsmusik, momentan erwächst daraus noch kein rechtspolitischer Handlungsdruck.“74 Doch hat die von dem Jubilar angeleitete Rechtspolitik in diesem Sinne schon einiges auf das Gleis gesetzt. Das moderne Aktienrecht ist bemüht, die Information der Aktionäre vor der Hauptversammlung in besonderer Weise zu gewährleisten. Dazu gehören die Berichte, die Kapital- und Strukturmaßnahmen begleiten und vor der Versammlung zugänglich zu machen sind. Und vor allem ist es die Zulassung der Briefwahl, die der Illusion, es werde unter dem Eindruck der mündlichen Verhandlung entschieden, radikal entsagt.75 70 Skeptisch zum Diskursgedanken auch Bachmann in FS G.H. Roth, 2011, S. 37, 40 f. 71 Auch die Abwehr der Übernahme der kriselnden BMW-AG durch die Daimler-Benz AG im Jahr 1959 wurde nicht erst in der HV, sondern durch eine vorher gebildete Ablehnungsfront unter der Führung der Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz verhindert. S. http:// redaktor.de/9-dezember-1959-turbulente-hauptversammlung-bei-bmw-audio/. 72 Seibert, BOARD 2016, 50. 73 Hellgardt/Hoger, ZGR 2011, 38, 68 und 80.  74 Seibert, AG 2015, 593, 596. 75 Zutr. Bachmann in FS G.H. Roth, 2011, S. 37, 43: erster Schritt zur Abschaffung der HV.

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Für eine konsequente Weiterentwicklung sollte man sich also vom „Modell Landsgemeinde“ verabschieden.76 Haupt-Versammlung bedeutet nicht, dass sich die Aktio­ näre als Landsgemeinde treffen, sondern dass sie informiert entscheiden. Dieser Vorgang kann digital dargestellt werden. Einer Präsenzzusammenkunft bedarf es dafür nicht. Das muss nicht bedeuten, die Hauptversammlung als physische Präsenzveranstaltung radikal abzuschaffen. Jedoch sollte die Durchführung einer Präsenz-Hauptversammlung satzungsdispositiv sein.77 Es sind im Grunde nur drei Worte, die in § 118 Abs. 1 AktG einzufügen wären: „Die Aktionäre üben ihre Rechte in den Angelegenheiten der Gesellschaft in der Hauptversammlung aus, soweit das Gesetz oder die Satzung nichts anderes bestimmt”.78 Zweckmäßig wären im Anschluss einige besondere Anforderungen zu formulieren, die Wahrung der gerade genannten Funktionen betreffend. Viele Gesellschaften werden an der Veranstaltung in der KölnArena oder in der Olympiahalle festhalten, eben weil sie medienwirksam, eine Show, ein Forum für den Vorstand und zum Dampfablassen für die Aktionäre gut ist.79 Befreit von selbst gestrickten und rechtlich vorgegebenen Zwängen kann sich eine vielfältige Kultur des Zusammentreffens entwickeln. Diversität auch hier! Diese Satzungsfreiheit für das Verfahren der informierten Aktionärsentscheidung ist mit den europarechtlichen Anforderungen abzustimmen. Die Hauptversammlung ist als Rechtsinstitution in der kodifizierten Gesellschaftsrechtsrichtlinie80 und in der SE-Verordnung verankert. Dabei geht es zum einen um deren Zuständigkeit, also um die materielle Seite der Medaille. Wie das hierfür zuständige Organ Hauptversammlung prozediert, ist dort nicht geregelt. Die ursprüngliche und die im Jahr 2017 reformierte Aktionärsrechte-RL81 haben zum Verfahren der HV etliche Bestimmungen getroffen, die von einer Präsenzveranstaltung mit Online-Anschluss ausgehen. Es müsste also für die hier vorgeschlagene Änderung erst der europäische Weg freigemacht werden. Diese Option wurde wohl von dem offiziösen Expertenzirkel (Informal Company Law Expert Group)82 erwogen, aber sie gelangte weder in die Aktio-

76 So das überzeugende Plädoyer von Hofstetter, ZGR 2008, 560.  77 Ein Umlaufverfahren nach GmbH-Vorbild für börsenferne Aktiengesellschaften befürwortet Bayer, Gutachten für den 67. DJT 2008, Bd. 1, E 114 ff. 78 Vorschlag von Bachmann in FS G.H. Roth, 2011, S. 37, 48; in diese Richtung auch Habersack, Gutachten für den 69. Deutschen Juristentag, 2012, Bd. I E, S. 89: „Als Endpunkt der Entwicklung ist die Abkehr von der zwingenden Vorgabe einer versammlungsgebundenen Beschlussfassung erwägenswert.“ 79 Vgl. Marsch-Barner in Marsch-Barner/Schäfer (Hrsg.), Handbuch börsennotierte AG, 4. Aufl. 2018, § 31 Rz. 31.9 („Werbeveranstaltung für Anleger“). 80 Richtlinie (EU) 2017/1132 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14.6.2017 über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts, ABl. L 169/46. 81 Fn. 50 und Fn. 54. 82 http://ec.europa.eu/transparency/regexpert/index.cfm?do=groupDetail.groupDetail&g​ roup​ID=3036&Lang=DE.

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närsrechte-RL 2017 noch in den Kommissionsvorschlag eines Company Law Package vom April 2018.83 Der Vorschlag zur „Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 im Hinblick auf den Einsatz digitaler Werkzeuge und Verfahren im Gesellschaftsrecht“, der in diesem Paket enthalten ist, geht auf die Organstruktur der AG überhaupt nicht ein. Er setzt vielmehr den Schwerpunkt bei der Online-Gründung und bei Registerfragen.84 Damit dürfte für die nächsten Jahre die Binnendigitalisierung der Aktiengesellschaft aus dem Fokus rücken.

VII. Andere Organe Nicht nur die HV, auch der Aufsichtsrat hat früh eine Option für den zeitgemäßen Medieneinsatz erhalten.85 Eine kleine feine Änderung des § 108 Abs. 4 AktG (mit der Fernmündlichkeit „vergleichbare Formen der Beschlussfassung“), verbunden mit einer deutlichen Gesetzesbegründung, öffnete schon im Jahr 2001 durch das NaStraG86 der Videokonferenz und der E-Mail die Bahn. Richtiger Ansicht nach ist eine Videokonferenz der Präsenzsitzung gleichzustellen, weshalb auch ohne Satzungs- bzw. Geschäftsordnungsregelung ein Widerspruch aus dem Gremium gegen dieses Verfahren unbeachtlich wäre.87 Seit dem TransPuG 200288 hat der AR Sitzungen „abzuhalten“ (nicht mehr: zusammenzutreten), weshalb die Vorjahresneuerung der Videokonferenz dazu gehört. Dieses Beispiel ist typisch für das subtile Vorgehen. Es sei nicht Aufgabe des Gesetzes, durch zwingende Regelungen den Handlungsspielraum zu beengen, heißt es in der NaStraG-Begründung, und vor allem wäre „eine stärker internationale Besetzung deutscher Aufsichtsräte angesichts der internationalen Ausrichtung der Unternehmen wünschenswert. Dies wird zwangsläufig Videokonferenzen etc. erforderlich machen.“89 Mancher äußerte seinerzeit auch die Vermutung, dass die deutsch-amerikanische Fusion von Daimler und Chrysler wohl dazu gedrängt habe, die Transatlantikflüge der AR-Mitglieder zu reduzieren. Inzwischen hat sich der Zusammenschluss der Autobauer längst erledigt, aber die Segnungen telekommunikativer Aufsichtsratstreffen bleiben, wovon die Praxis reichlich Gebrauch macht.

83 https://ec.europa.eu/info/publications/company-law-package_en. 84 Knaier, GmbHR 2018, 560, 567; J. Schmidt, Der Konzern 2018, 229, 230; Noack, DB 2018, 1324; sehr krit. wie stets die Stellungnahme des Deutschen Notarvereins v. 6.7.2018 (DNotV. de); krit. auch DAV-Ausschuss Anwaltsnotariat, NZG 2018, 934. 85 Spindler, ZGR 2018, 17, 28 f. 86 Fn. 5. 87 Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 108 AktG Rz. 19 ff., 39; Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 108 AktG Rz. 22; a.A. Spindler in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 108 AktG Rz. 61, der „gruppendynamische Effekte“ bei der Videokonferenz vermisst. 88 Fn. 6. 89 Begr. RegE zum NaStraG, BT-Drucks. 14/4051, S. 12.

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25 Jahre Aktienrechtsreform – insbesondere die digitale Evolution

Der Vorstand hat dem AR zu berichten, so bestimmt es § 90 AktG in den Eingangsworten. Seit dem TransPuG 200290 ist festgelegt, dass der Bericht in der Regel „in Textform“ (§ 126b BGB) vorzulegen ist (§ 90 Abs. 4 Satz 2 AktG). Damit wird einerseits die bloße Mündlichkeit als nicht ausreichend erachtet, andererseits ist nicht die herkömmliche Schriftform geboten, sondern die digitale Übermittlung ausreichend. Dies war bislang die E-Mail, doch stößt der Informationsaustausch damit an Grenzen. In besonders sensiblen Fällen habe der E-Mail-Verkehr zu unterbleiben, raunt ein Standardkommentar.91 Zu große Dateianhänge überfrachten häufig die E-Mail-­ Postkörbe der Empfänger, berichtet ein Praktiker.92 Daher entwickeln sich elektronische Datenräume, sog. Board-Portale für den Aufsichtsrat, die mit sicherem Zugang versehen sind. Die Ratsmitglieder können die Unterlagen jederzeit weltweit über das Internet einsehen. Hier knirscht es auf den ersten Blick ein wenig, weil die Textform nach einem „dauerhaften Datenträger“ verlangt, doch kann diese Klippe interpretatorisch überwunden werden.93

VIII. Banknachweis und Dematerialisierung der Aktie Ein weiteres Beispiel für eine unspektakuläre, aber sehr wirksame „Klarstellung“ ist die Abschaffung der Hinterlegung der Aktie und die Einführung einer Depotbescheinigung. Diese mit dem UMAG 200594 eingeführte Regelung reagierte zunächst auf Vorbehalte ausländischer Aktionäre, die mit der zuvor bestehenden Rechtslage ihre Probleme hatten. Denn mit dem Begriff der „Hinterlegung“ verband sich nicht selten die – rechtlich unzutreffende – Vorstellung, eine Veräußerung der Aktien sei während der Hinterlegungsfrist ausgeschlossen (share blocking).95 Seit dem Jahr 2005 kann der „besondere Nachweis des Anteilsbesitzes“ für Inhaberaktien börsennotierter Gesellschaften „in Textform“ erstellt werden. Damit ist die elektronische Übermittlung an die Gesellschaft bzw. den Dienstleister möglich und mittlerweile allgemein üblich.96 Diese Vereinfachung bedeutet einen Schritt hin zur digitalen Aktie. Die Aktien börsennotierter Gesellschaften sind seit dem KonTraG 199897 kraft Satzungsklausel (s. § 10 Abs. 5 AktG) nur noch globalverbrieft; Einzelstücke gibt es nicht mehr. In Folge dessen bestehen Aktien als Buchungsposten bei den Depotbanken. Diese Veränderung hat die Frage aufgeworfen, ob der sachenrechtliche Ansatz noch zu halten98 oder

90 Fn. 6. 91 Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 90 AktG Rz. 13. 92 Hennig, BOARD 2014, 250 f. 93 Kremer/Noack in NomosKomm. BGB, 3. Aufl. 2016, § 126b BGB Rz. 15 ff. 94 Fn. 7. 95 Begr.RegE zum UMAG BT-Drucks. 15/5092, S. 1, 13. 96 Zu den praxisüblichen Legitimationsverfahren s. Noack/Zetzsche in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 123 AktG Rz. 188 ff. 97 Fn. 4. 98 Habersack/Mayer, WM 2000, 1678; Noack in Habersack/Bayer (Hrsg.), Aktienrecht im Wandel, 2007, S. 510 ff.

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der Übergang zum Wertrecht die richtige Konsequenz ist.99 Diese Diskussion mag hier dahinstehen.

IX. Ausblick Die digitale Evolution betraf im Kern die Erleichterung der Kommunikation rund um die Hauptversammlung. Mit der sich abzeichnenden Digitalisierung der Aktie und der digitalen Aktionärskette (oben IV. a.E.) kommt eine weitere Welle auf das Aktienrecht zu. Sind die Anteile bzw. deren Eigner stets auf diesem Wege erreichbar, gerät das Kommunikations- und Organgefüge der Gesellschaft ins Wanken.100 Vorstellbar wäre, die Blockchain-Technologie dafür einzusetzen,101 was erhebliche Auswirkungen auf die als Intermediäre bislang unverzichtbaren Banken102 und auf den Handel an den Börsen hätte. Noch wenig überschaubar ist, was die „künstliche Intelligenz“ (KI) mit den Organen, ihrer Verantwortung und Haftung anstellen wird.103 Muss etwa der Einsatz einer KI zu den „angemessenen Informationen“ gehören, deren Beachtung nach der (deutschen) Business Judgement Rule104 von der Haftung freistellt? Was für Organisationspflichten entstehen,105 wenn Daten der neue Rohstoff für das Geschäftsmodell sind? Mit diesen aufregenden Themen hat es unser Jubilar leider nicht mehr an ministe­ riumsverantwortlicher Stelle zu tun – ein weiteres Vierteljahrhundert106 als legal de­ signer107 wäre ihm wohl zu gönnen, doch alles hat seine Zeit. Der Privatmann bleibt hoffentlich ein Cyberseibert, stets zukunftsoffen in aktiv gelebter Gegenwart.

99 Ablehnend noch die Regierungskommission Corporate Governance, hrsg. v. Baums, 2001, Rz. 194. Im März 2019 stellten BMF und BMJV zur Konsultation, ob Schuldverschreibungen als elektronische Wertrechte konzipiert werden, „die Regulierung von elektronischen Aktien soll ggf. zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen.” 100 Zum „digitalen Aufsichtsrat“ Noack in FS E.Vetter, 2019, S. 497. 101 S. dazu Beurskens in dieser FS, S. 71; Paal, ZGR 2017, 590, 600 ff.; Spindler, ZGR 2018, 17, 44 ff. 102 S. aber Linardatos, DB 2018, 2033 f. 103 Möslein, ZIP 2018, 206 ff.; Spindler, ZGR 2018, 17, 40 ff.; Strohn, ZHR 182 (2018), 371 ff.; J.Wagner, BB 2018, 1097  ff.; Sattler, BB 2018, 2243, 2246  ff.; Weber/Kiefner/Jobst, NZG 2018, 1131; Armour/Eidenmüller, ZHR 183 (2019), 169. 104 § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG; eingefügt durch das UMAG 2005 (Fn. 7). 105 Zu diesen Fragen Noack, ZHR 183 (2019), 105. 106 Zur großen Aktienrechtsreform in dreißig Jahren s. Bachmann in dieser FS, S. 13. 107 S. Seibert in FS Wiedemann, 2002, S. 123, 131 f.; Staake in dieser FS, S. 871.

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Reform des Personengesellschaftsrechts Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Reform des Rechts der Gesellschaft ­bürgerlichen Rechts (GbR) 1. Gesetzliche Regelung der Rechtsfähigkeit der Außengesellschaft 2. Einführung eines Gesellschaftsregisters für die GbR a) Fakultative Eintragung mit deklara­ torischer Wirkung b) Inhaltliche Ausgestaltung und registerrechtliche Folgen der Eintragung 3. Haftungsregime der GbR III. Einführung einer haftungsbeschränkten Personengesellschaft nach englischem Vorbild

1. Keine Öffnung der GmbH & Co. KG für nicht-gewerbliche Zwecke 2. Ersetzung der PartG(mbB) durch eine neue haftungsbeschränkte Personen­ gesellschaft (PartGmbH) a) Struktur der englischen limited liability partnership (LLP) b) Haftungsregime der LLP c) Überlegungen zu der Struktur einer PartGmbH d) Überlegungen zu einem eigenen ­Haftungsregime der PartGmbH IV. Ergebnis

I. Einleitung Das Recht der Personengesellschaft steht – bis auf die Partnerschaftsgesellschaft – in den letzten Jahren nicht im Vordergrund des gesetzgeberischen Interesses.1 Dies ist angesichts der zahlreichen Reformen im Aktienrecht und der Runderneuerung des GmbHG durch das MoMiG auch nachvollziehbar. Inzwischen weicht jedoch das geschriebene Recht weitgehend von dem tatsächlich – infolge von Rechtsfortbildung – geltenden Recht ab; das verstaubte geschriebene Recht weist teilweise eine hohe Rechtsunsicherheit auf und trägt den Bedürfnissen der Praxis nicht mehr Rechnung.2 Daher besteht Einigkeit darüber, dass das Recht der Personengesellschaft nunmehr dringend einer Reform bedarf. Der Handlungsbedarf wird auch durch die große praktische Bedeutung der Personengesellschaft deutlich: sowohl aufgrund der hohen Anzahl von Personengesellschaften3 als auch aufgrund ihrer wirtschaftlichen Bedeutung.4 Auch die Mehrheit des 71. Deutschen Juristentags (DJT) 2016 sprach sich für 1 Henssler, BB-Special 3 zu Heft 49/2010; Wicke, DNotZ 2017, 261.  2 Fleischer, ZGR 2014, 107; Henssler in FS Hommelhoff, 2012, S. 401, 402; K. Schmidt, ZHR 177 (2013), 712, 713; Schäfer, Gutachten E zum 71. Deutschen Juristentag, 2016, E 9; Schäfer, NJW-Beil. 2016, 45; Westermann, NZG 2017, 921; Wicke, DNotZ 2017, 261.  3 Zum 1.1.2018 existierten 23.555 OHG und 268.212 KG, vgl. Kornblum, GmbHR 2018, 669, 670. Mangels Registrierung existieren keine Zahlen für die GbR. 4 So auch Schäfer, NJW-Beil. 2016, 45, 46. 

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eine Reform des Personengesellschaftsrechts aus.5 Die derzeitige Große Koalition hat sich erfreulicherweise ebenfalls in ihrem Koalitionsvertrag eine Reform des Personen­ gesellschaftsrechts auf die Fahnen geschrieben und plant, das Personengesellschaftsrecht „an die Anforderungen eines modernen, vielfältigen Wirtschaftslebens“ anzupassen.6 Die Verfasserin hat dieses hochaktuelle Thema aufgegriffen, da sämtliche bedeutenden Reformen im Gesellschaftsrecht die Handschrift des verehrten Jubilars Ulrich Seibert tragen, dem dieser Beitrag in hoher Wertschätzung und mit Dank für die Förderung während der Ausbildung im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz gewidmet ist. Der folgende Beitrag zeigt konkrete Vorschläge für eine Reform des Rechts der GbR und der Partnerschaftsgesellschaft auf.

II. Reform des Rechts der Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) Im Vordergrund der Reform sollte das Recht der GbR stehen: Nach der Anerkennung der Rechtsfähigkeit der Außen-GbR durch den BGH in dem Grundsatzurteil „ARGE Weißes Ross“7 muss das geschriebene Recht an das geltende Recht angepasst und umfassend neugeordnet werden.8 Nachfolgend werden Reformvorschläge für die Regelung der Rechtsfähigkeit der GbR, die Schaffung eines Registers und das Haftungsregime dargestellt. In diesen Bereichen bestehen dringender Anpassungsbedarf an das gelebte Recht und Handlungsbedarf in der Praxis. 1. Gesetzliche Regelung der Rechtsfähigkeit der Außengesellschaft Die Rechts- und Parteifähigkeit ist für die Außen-GbR seit der Entscheidung des BGH in dem wegweisenden Grundsatzurteil „ARGE Weißes Ross“9 anerkannt. Bislang hat der Gesetzgeber die §§ 705 – 740 BGB und die §§ 50 Abs. 1, 736 ZPO noch nicht an die durch die höchstrichterliche Rechtsprechung geschaffene Rechtsordnung angepasst. Im Schrifttum besteht Einigkeit darüber, dass zunächst vorrangig dringend das geschriebene an das infolge richterlicher Rechtsfortbildung geltende Recht angepasst und eine systematisch stimmige Legalordnung geschaffen werden sollte.10 Auch der

5 Glindemann, AnwBl. 2016, 797; Prütting, AnwBl. 2016, 637.  6 Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom 7.2.2018, S. 131, abrufbar im Internet unter www.handelsblatt.com/downloads/20936422/4/koalitionsvertrag_final.pdf. 7 BGH v. 29.1.2001 – II ZR 331/00, BGHZ 146, 341 = NJW 2001, 1056.  8 So die einhellige Meinung, vgl. nur K. Schmidt, ZHR 177 (2013), 712, 713; Schäfer, Gutachten E zum 71. Deutschen Juristentag, 2016, E 10, E 51; Westermann, NZG 2017, 921, 927.  9 BGH v. 29.1.2001 – II ZR 331/00, BGHZ 146, 341 = NJW 2001, 1056.  10 Vgl. nur K. Schmidt, ZHR 177 (2013), 712, 713; Schäfer, Gutachten E zum 71. Deutschen Juristentag, 2016, E 10, E 51; Westermann, NZG 2017, 921, 927.

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Reform des Personengesellschaftsrechts

DJT 2016 sprach sich mit breiter Mehrheit dafür aus, die Rechtsfähigkeit der Außen-­ GbR zu kodifizieren.11 Bislang ist ganz h.M., die Rechtsfähigkeit auf die Außengesellschaft zu beschränken.12 Eine solche Beschränkung der Rechtsfähigkeit auf die am Rechtsverkehr teilneh­ mende Außen-GbR sollte auch künftig – bereits aus Gründen der Rechtsklarheit – beibehalten werden.13 Allerdings ist bislang die Abgrenzung zwischen Außen- und Innengesellschaft streitig: So ist insbesondere streitig, ob eine Innengesellschaft vermögensfähig ist. Künftig sollten klare Trennlinien zwischen Außen- und Innengesellschaft gesetzlich kodifiziert werden, um Rechtssicherheit zu schaffen.14 Weiterer Unterteilungen bedarf es hingegen nicht.15 Teilweise wird vorgeschlagen, für eine Abgrenzung die Definitionen der Innen- und Außengesellschaft in dem neu in das österreichische Recht der GesbR eingefügten § 1176 Abs. 1 Satz 1 ABGB zu übernehmen.16 Demnach ist eine Innengesellschaft auf das Verhältnis der Gesellschafter untereinander beschränkt, während die Gesellschafter bei einer Außengesellschaft gemeinschaftlich im Rechtsverkehr auftreten. Zudem wird gefordert, die Abgrenzung durch eine Vermutungsregelung nach österreichischem Vorbild zu erleichtern:17 Nach dem neu eingefügten § 1176 Abs. 1 Satz 2 ABGB wird für die österreichische GesbR vermutet, dass die Gesellschafter eine Außengesellschaft vereinbaren wollten, wenn die Gesellschaft ein Unternehmen betreibt oder einen Gesellschaftsnamen führt. Eine Definition wie in § 1176 Abs. 1 Satz 1 ABGB dürfte zu kurz greifen, denn sie entscheidet nicht den Streit, ob eine Innengesellschaft ein Gesamthandsvermögen bilden kann, und bietet daher nicht hinreichend Rechtssicherheit. Wenn der Gesetzgeber aber eine Abgrenzung zwischen Innen- und Außengesellschaft kodifiziert, sollte er die Gelegenheit nutzen, auch gleichzeitig zu der Vermögensfähigkeit von Innengesellschaften Stellung zu nehmen. Aus der fehlenden Vertretungsregelung der Innen11 Beschluss Nr. 5 a) des DJT 2016.  12 Servatius in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2019, § 705 BGB Rz. 8; K. Schmidt, ZHR 177 (2013), 712, 717; Schäfer in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2017, § 705 BGB Rz. 277; a.A. (differenzierend zwischen stiller Gesellschaft und bürgerlich-rechtlicher Innengesellschaft) Beuthien, NZG 2011, 161, 165; Beuthien, NZG 2017, 201, 204; diesem folgend Albers, NJW 2017, 2380.  13 Vgl. dazu ausführlich Schäfer, Gutachten E zum 71. Deutschen Juristentag, 2016, E 29.  14 So auch Beschluss Nr. 5 a) des DJT 2016; Fleischer/Heinrich/Pendl, NZG 2016, 1001, 1007; Schäfer in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2017, § 705 BGB Rz. 277; Schäfer, NJW-Beil. 2016, 45, 46.  15 Schäfer, Gutachten E zum 71. Deutschen Juristentag, 2016, E 72; Westermann, NZG 2017, 921, 927.  16 Fleischer/Heinrich/Pendl, NZG 2016, 1001, 1007; Schäfer in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2017, § 705 BGB Rz. 305; Schäfer, Gutachten E zum 71. Deutschen Juristentag, 2016, E 39.  17 Schäfer, Gutachten E zum 71. Deutschen Juristentag, 2016, E 39; Schäfer, NJW-Beil. 2016, 45, 46; Schäfer in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2017, § 705 BGB Rz. 277, 305; so auch Fleischer/Heinrich/Pendl, NZG 2016, 1001, 1004; eher kritisch Westermann, NJW 2016, 2625, 2626; Westermann, NZG 2017, 921, 928. 

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gesellschaft folgt, dass diese kein Gesamthandsvermögen bilden kann.18 Zudem hätte die Vermögensfähigkeit einer Innengesellschaft rechtspolitisch erhebliche Nachteile: Es entstünden nicht nur Transparenz- und Publizitätsdefizite, sondern es würde auch eine weitere Kategorie von GbR erforderlich, nämlich eine Gesellschaft ohne Rechtsfähigkeit, aber mit Vermögen, das den Gesellschaftern zur gesamten Hand zuzuordnen wäre.19 Da bislang die h.M. die Vermögensfähigkeit der Innengesellschaft ablehnt, verwundert es, dass der DJT 2016 eine gesetzliche Klarstellung, dass bei der Innen-GbR ein Gesamthandsvermögen ihrer Gesellschafter ausgeschlossen ist, abgelehnt hat.20 Um Rechtssicherheit und -klarheit zu schaffen, sollte der Gesetzgeber die Innengesellschaft künftig dahingehend definieren, dass diese nach der Vereinbarung im Gesellschaftsvertrag nicht nach außen durch organschaftliche Vertretung am Rechtsverkehr teilnimmt und kein Gesellschaftsvermögen i.S.d. § 718 Abs. 1 BGB bilden kann. Eine Außengesellschaft sollte nach einer neu einzufügenden Legaldefinition vorliegen, wenn die Gesellschaft nach der Regelung im Gesellschaftsvertrag durch ihre Organe am Rechtsverkehr teilnehmen soll. Eine Vermutungsregelung nach dem Vorbild des österreichischen § 1176 Abs. 1 Satz 2 ABGB erscheint zum Schutz des Rechtsverkehrs sinnvoll. Eine Außengesellschaft sollte in Ergänzung der Regelung des § 1176 Abs. 1 Satz 2 ABGB vermutet werden, wenn diese ein Unternehmen betreibt, einen Gesellschaftsnamen führt oder die Gesellschafter einen Gesellschaftssitz festlegen. Die gesetzliche Vermutung sollte – anders als die österreichische Regelung – auch an die Bestimmung eines Gesellschaftssitzes anknüpfen,21 da der Vereinbarung eines Gesellschaftssitzes bereits derzeit indizielle Wirkung für die Annahme einer Außengesellschaft zukommt. Zudem wäre es gesetzessystematisch stringent, die Vereinbarung eines Gesellschaftssitzes in die Vermutung einzubeziehen, weil auch gesetzlich in § 3 Abs. 2 Nr. 1 PartGG die Vereinbarung von Name und Sitz etwa für die Identitätsausstattung der Partnerschaftsgesellschaft als gleichrangig eingestuft wird. Darüber hinaus sollte eine Außengesellschaft vermutet werden, wenn die Gesellschaft in dem neu zu schaffenden Gesellschaftsregister22 eingetragen ist.23 § 705 BGB sollte in neuen Absätzen 2 und 3 um eine Abgrenzung zwischen Außenund Innen-GbR – einschließlich der Nichtvermögensfähigkeit der Innen-GbR – sowie um eine Vermutung der Außen-GbR ergänzt werden. Diese Regelungen sollten 18 So die h.M., vgl. BGH v. 13.6.1994 – II ZR 38/93, BGHZ 126, 226, 234 = NJW 1994, 2536, 2538; Röder, AcP 215 (2015), 450, 495; K. Schmidt, ZHR 177 (2013), 712, 717; Habermeier in Staudinger, BGB, 2003, § 705 BGB Rz. 59; a.A. Schöne in Bamberger/Roth/Hau/Poseck, BeckOK BGB, Stand: 1.11.2018, §  705 BGB Rz.  138; Hadding/Kießling in Soergel, BGB, Band 11/1, 13. Aufl. 2011, vor § 705 BGB Rz. 28. 19 So überzeugend Schäfer, Gutachten E zum 71. Deutschen Juristentag, 2016, E 57; Schäfer, NJW-Beil. 2016, 45, 46.  20 Westermann, NZG 2017, 921, 928.  21 A.A. Schäfer, Gutachten E zum 71. Deutschen Juristentag, 2016, E 40, der die Festlegung eines Sitzes für nicht eindeutig genug erachtet. 22 Vgl. dazu ausführlich unter II. 2.  23 Schäfer, Gutachten E zum 71. Deutschen Juristentag, 2016, E 67; Tröger, JZ 2016, 834, 842; Westermann, NZG 2017, 921, 930. 

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Reform des Personengesellschaftsrechts

aus Gründen der Rechtsklarheit alle prominent in der Spitzennorm des Titels eingefügt werden.24 Für das Recht der Außen-GbR gelten vielfach die Regeln des OHG-Rechts, während besondere Regelungen für die Innen-GbR Anwendung finden. Technisch ist fraglich, ob der Gesetzgeber für die Außen-GbR Verweise in den §§ 705 ff. BGB auf das OHGRecht aufnehmen oder die Regelungen zusätzlich vollständig in den §§ 705 ff. BGB wiedergeben und damit Normdopplungen in Kauf nehmen sollte. Teilweise wird in der Literatur vorgeschlagen, nach dem Vorbild des reformierten österreichischen ABGB auf Verweise weitgehend zu verzichten.25 Allerdings dürften – umfangreiche – Verweise auf das OHG-Recht vorzugswürdig sein, um den Gesetzestext kurz und einfach zu halten, Normredundanzen zu vermeiden und ein stringentes und transparentes Gesamtrechtssystem zu schaffen.26 2. Einführung eines Gesellschaftsregisters für die GbR Bei der GbR besteht derzeit ein erhebliches Publizitätsdefizit, da eine GbR nicht in einem öffentlichen Register eingetragen ist. So sind etwa deren Gläubiger – mangels einer Registereintragung der GbR – nicht davor geschützt, dass die Gesellschaft ihren Namen und ihre Anschrift heimlich ändert und so weder ihre Identität noch die Identität ihrer Gesellschafter zu ermitteln ist.27 Ein solches Publizitätsdefizit kann nur dadurch beseitigt werden, dass für die GbR künftig – wie etwa in Frankreich und (freiwillig) in den USA28 – ein eigenes Register geschaffen wird.29 Auch mit Anerkennung der Grundbuchfähigkeit der GbR durch den BGH30 und nach Inkrafttreten von § 47 Abs. 2 Satz 1 GBO sowie von § 899a BGB ist ein solches Register nicht obsolet geworden,31 zumal sich dadurch nicht die Schutzlücke für Gläubiger außerhalb eines Grundstücksgeschäfts schließen lässt. Auch der DJT 2016 hat sich mit sehr breiter Mehrheit für die Einführung eines Gesellschaftsregisters für die GbR ausgesprochen.32 24 So auch Schäfer, Gutachten E zum 71.  Deutschen Juristentag, 2016, E 55, und Tröger, JZ 2016, 834, 841, für die Abgrenzung zwischen Innen- und Außengesellschaft, aber a.A. zur Regelung des Ausschlusses eines Gesellschaftsvermögens der Innengesellschaft Schäfer, Gutachten E zum 71. Deutschen Juristentag, 2016, E 60; Tröger, NJW-Beil. 2016, 45, 48: Regelung in § 718 BGB; K. Schmidt, ZHR 177 (2013), 712, 737: Regelung in § 717 Abs. 2 BGB. 25 Fleischer/Heinrich/Pendl, NZG 2016, 1001, 1005; Schäfer, Gutachten E zum 71. Deutschen Juristentag, 2016, E 56; Schäfer, NJW-Beil. 2016, 45, 47.  26 K. Schmidt, ZHR 177 (2013), 712, 727, 737; K. Schmidt, GES 2012, 22, 24.  27 Wertenbruch, NJW 2002, 324, 329; Wicke, DNotZ 2017, 261, 262.  28 Art. 1842 Code Civil, § 303 Revised Uniform Partnership Act; vgl. dazu Windbichler, ZGR 2014, 110, 128.  29 Vgl. nur Bayer/Koch, Die BGB-Gesellschaft im Grundbuch, 2011, S.  97  f.; Krüger, NZG 2010, 801, 804; Münch, DNotZ 2001, 535, 549; Schäfer, Gutachten E zum 71. Deutschen Juristentag, 2016, E 61 ff.; K. Schmidt, NJW 2001, 993, 1002; Ulmer, ZIP 2011, 1689, 1691; Wertenbruch, NJW 2002, 324, 329; Westermann, NJW 2016, 2625, 2627; Wicke, DNotZ 2017, 261, 263; a.A. Beuthien, NZG 2011, 481, 485; Schöpflin, NZG 2003, 606, 607 ff. 30 BGH v. 4.12.2008 – V ZB 74/08, NJW 2009, 594.  31 Schäfer in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2017, vor § 705 BGB Rz. 26.  32 Vgl. Beschluss Nr. 5 c) des DJT 2016. 

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a) Fakultative Eintragung mit deklaratorischer Wirkung Fraglich ist jedoch, ob eine solche Eintragung für die GbR fakultativ oder verpflichtend ausgestaltet werden sollte. Vereinzelt wird in der Literatur eine Eintragungspflicht gefordert,33 mitunter sogar eine konstitutive Wirkung der Eintragung.34 Rechtsvergleichend gilt eine Registrierungspflicht etwa für die französische société civile bereits seit 1978 und wirft in Frankreich offenbar keine praktischen Probleme auf.35 Auch wenn nur durch eine Eintragungspflicht das Publizitätsdefizit der GbR beseitigt und der Gläubigerschutz sichergestellt würde, sprechen die besseren Ar­ gumente für eine Freiwilligkeit der Eintragung. In Anbetracht der vielfältigen Erscheinungsformen der GbR (z.B. in Form von Gelegenheitsgesellschaften) wäre eine Eintragung unverhältnismäßig und unangemessen, denn sie würde die Flexibilität solcher Gesellschaften unnötig einschränken.36 Gegen eine konstitutive Wirkung der Eintragung spricht insbesondere, dass dann ein völlig neues Rechtsregime für nicht eingetragene Außengesellschaften (mit Vermögen) als Zwischenform zu entwickeln wäre und zudem das Problem einer nicht rechtsfähigen Vorgesellschaft entstünde.37 Somit sollte eine Registereintragung der GbR nur fakultativ sein – mit der Möglichkeit einer Löschung nach dem Vorbild des § 2 HGB – und deklaratorische Wirkung haben.38 Es bleibt zu hoffen, dass insbesondere Unternehmen, die intensiv am Rechtsverkehr teilnehmen, genügend marktförmige Anreize für eine Eintragung in das Gesellschaftsregister haben, etwa wenn Banken die Kreditvergabe von der Vorlage eines Registerauszugs abhängig machen.39 Etwas Anderes sollte jedoch für den Erwerb registerpflichtiger Rechte (z.B. Grundeigentum oder Mitgliedschaft in registrierten Gesellschaften) durch GbR gelten. Gesellschaften, die registerpflichtige Rechte erwerben, sind keine Gelegenheitsgesellschaften. Für solche Gesellschaften ist ein Eintragungszwang weder unverhältnismäßig noch unangemessen. Ein solcher Erwerb registerpflichtiger Rechte wie etwa die Eintragung im Grundbuch sollte daher nur eingetragenen GbR vorbehalten sein.40

33 Habermeier in Staudinger, BGB, 2003, vor §§ 705 – 740 BGB Rz. 26; Prütting, AnwBl. 2016, 637, 639 (für einen Registerzwang mit Ausnahme der GbR, die weder gewerblich noch freiberuflich tätig sind). 34 Röder, AcP 215 (2015), 450, 471 ff.; Wicke, DNotZ 2017, 261, 263.  35 Schäfer, Gutachten E zum 71. Deutschen Juristentag, 2016, E 23, E 24, E 63.  36 Schäfer, Gutachten E zum 71. Deutschen Juristentag, 2016, E 65, E 66. 37 Glindemann, AnwBl. 2016, 797, 798; Schäfer, Gutachten E zum 71. Deutschen Juristentag, 2016, E 67; Schäfer, NJW-Beil. 2016, 45, 48.  38 So die ganz h.M., vgl. Schäfer, Gutachten E zum 71.  Deutschen Juristentag, 2016, E 66; Schäfer, NJW-Beil. 2016, 45, 48; Tröger, JZ 2016, 834, 842; Westermann, NJW 2016, 2625, 2627.  39 Vgl. Glindemann, AnwBl. 2016, 797, 798; Tröger, JZ 2016, 834, 842.  40 So auch Beschluss Nr. 5 d) des DJT 2016; a.A. Schäfer, Gutachten E zum 71. Deutschen Juristentag, 2016, E 66. 

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b) Inhaltliche Ausgestaltung und registerrechtliche Folgen der Eintragung Der Gesetzgeber sollte ein neues eigenständiges Gesellschaftsregister für Außen-GbR nach dem Vorbild des Partnerschaftsregisters schaffen, das beim Registergericht zu führen ist.41 Da die GbR weiterhin klar von den Handelsgesellschaften abzugrenzen ist, reicht es nicht aus, das Handelsregister für die GbR zu öffnen und zu einem allgemeinen Handels- und Gesellschaftsregister zu erweitern.42 Vielmehr wird der Gesetzgeber auch eine eigenständige Registerverordnung – nach dem Vorbild der PartRegVO – schaffen müssen, um das formale Registerrecht zu regeln.43 Die Vorgaben zur Anmeldung und der Eintragungsinhalt sollten an § 4 PartGG angelehnt werden: Die Anmeldung müsste dann nach dem Vorbild des § 4 PartGG Angaben zu den Gesellschaftern (Name, Geburtsdatum, Wohnort) sowie zu Namen und Sitz der Gesellschaft und zur Vertretungsmacht ihrer Organe enthalten.44 Nach dem Vorbild des § 5 Abs. 2 PartGG sollten registerrechtliche Vorschriften des HGB, sofern passend, über eine Verweisung für anwendbar erklärt werden.45 Mangels Eintragungspflicht würde nicht die positive Publizität des §  15 Abs.  3 HGB gelten.46 Die negative Publizität gemäß § 15 Abs. 1 HGB sollte hingegen in Bezug auf eine Pflicht zur Berichtigung des Registerinhalts (z.B. bei Änderungen im Gesellschafterbestand, bei der Vertretungsmacht oder im Fall einer Auflösung bzw. des Erlöschens der Gesellschaft) geregelt werden, um einen Publizitätsgewinn für den Rechtsverkehr zu erzielen.47 3. Haftungsregime der GbR Bereits bislang haften nach etablierter Rechtsprechung die Gesellschafter einer GbR für jegliche Verbindlichkeiten der Gesellschaft persönlich und unbeschränkt nach §§ 128 – 130 HGB analog.48

41 So auch Schäfer, Gutachten E zum 71. Deutschen Juristentag, 2016, E 65; Ulmer in Bayer/ Koch, Die BGB-Gesellschaft im Grundbuch, 2011, S. 32.  42 So aber K. Schmidt, ZHR 177 (2013), 712, 729; Wicke, DNotZ 2017, 261, 263.  43 Röder, AcP 215 (2015), 450, 482; Schäfer, Gutachten E zum 71. Deutschen Juristentag, 2016, E 65, E 68; Westermann, NJW 2016, 2625, 2627.  44 Schäfer, Gutachten E zum 71. Deutschen Juristentag, 2016, E 68, E 70.  45 Zutreffend Schäfer, Gutachten E zum 71. Deutschen Juristentag, 2016, E 68, E 70, der diesbezüglich auch die Verweisungstechnik favorisiert. 46 Anders bei der PartG, vgl. Seibert/Kilian, PartGG, 1. Aufl. 2012, § 5 PartGG Rz. 4; Wolff in Meilicke/Graf von Westphalen/Hoffmann/Lenz/Wolff, PartGG, 3. Aufl. 2015, § 5 PartGG Rz. 35 ff. 47 Röder, AcP 215 (2015), 450, 483; Schäfer, Gutachten E zum 71. Deutschen Juristentag, 2016, E 68; Tröger, JZ 2016, 834, 842; Westermann, NJW 2016, 2625, 2627; Westermann, NZG 2017, 921, 930.  48 BGH v. 29.1.2001 – II ZR 331/00, BGHZ 146, 341 = NJW 2001, 1056; BGH v. 24.2.2003 – II ZR 385/99, BGHZ 154, 88 = NJW 2003, 1445; BGH v. 7.4.2003 – II ZR 56/02, BGHZ 154, 370 = NJW 2003, 1803. 

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Künftig sollte im Rahmen einer Reform des Rechts der GbR auch die Gesellschafterhaftung gesetzlich kodifiziert werden. Dies ließe sich rechtstechnisch einfach „mit einem Federstrich“49 des Gesetzgebers durch Verweisung auf die §§ 128 – 130 HGB regeln.50 Eine akzessorische Haftung der Gesellschafter gemäß §§  128  – 130 HGB analog für sämtliche Verbindlichkeiten der Gesellschaft und die damit einhergehende Strenge entsprechen dem System des deutschen Personengesellschaftsrechts. Teilweise wird in der Literatur gefordert, die – auch im Vergleich zu anderen Rechtsordnungen51  – bestehende Strenge der Gesellschafterhaftung abzumildern, z.B. indem die Haftung der Gesellschafter für deliktisches Handeln der Geschäftsführer oder für Altverbindlichkeiten der Gesellschaft von der akzessorischen Gesellschafterhaftung ausgenommen wird. 52 Allerdings schafft die persönliche akzessorische Gesellschafterhaftung gerade ein wirksames Gegengewicht gegen ein opportunistisches Verhalten der Gesellschafter zu Lasten der Gläubiger und gibt einen Anreiz zur Überwachung der Geschäftsführer durch sämtliche Gesellschafter.53 Somit besteht weder aus rechtspolitischen noch aus rechtsökonomischen Gründen eine Veranlassung dazu, die akzessorische Gesellschafterhaftung einzuschränken. Auch eine subsidiäre oder quotale Haftung oder eine Beschränkung der Haftung auf eine bestimmte Vermögenseinlage ist dem deutschen Personengesellschaftsrecht fremd.54 Es ist angemessen und geboten, den Gesellschaftern persönlich das volle Risiko aufzuerlegen. Systematisch sollte der Weg zu einer Möglichkeit der beschränkten Haftung vielmehr über die Einführung einer neuen Rechtsform in Gestalt einer haftungsbeschränkten Personengesellschaft55 geöffnet werden. Auch der DJT 2016 hat sich gegen eine Beschränkung der persönlichen Gesellschafterhaftung ausgesprochen.56 Bereits bislang nimmt die Rechtsprechung besondere Gesellschaftstypen (Bauherrengemeinschaften, Gesellschaften mit ideellem Zweck und Anlagegesellschaften) von der unbeschränkten gesamtschuldnerischen Gesellschafterhaftung aus.57 Die Ausnahmefälle dürften allerdings zu vielschichtig sein, so dass eine gesetzliche Kodifikation dieser Ausnahmen nicht sinnvoll wäre: Insbesondere aus diesem Grund emp49 So Westermann, NZG 2017, 921, 929.  50 K. Schmidt, ZHR 177 (2013), 712, 737; im Ergebnis ähnlich – aber wohl ohne Verweisung – Röder, AcP 215 (2015), 450, 516; Schäfer, Gutachten E zum 71. Deutschen Juristentag, 2016, E 82 f.; Tröger, JZ 2016, 834, 843.  51 Vgl. hierzu ausführlich Windbichler, ZGR 2014, 110, 132 f. 52 Für die Ausnahme deliktischer Verbindlichkeiten Schäfer, Gutachten E zum 71. Deutschen Juristentag, 2016, E 76 f.; Schäfer, NJW-Beil. 2016, 45, 48; Schäfer, ZIP 2003, 1225, 1227; Altmeppen, NJW 2003, 1553, 1557; für die Ausnahme auch von Altverbindlichkeiten Canaris, ZGR 2004, 69, 111 f. 53 Tröger in FS Westermann, 2008, S. 1533, S. 1547 ff.; Tröger, JZ 2016, 834, 843.  54 So auch Schäfer, Gutachten E zum 71. Deutschen Juristentag, 2016, E 78 ff.; Tröger, JZ 2016, 834, 843; a.A. Röder, AcP 215 (2015), 450, 516 ff. (für eine Quotenhaftung für eingetragene GbR); Wicke, DNotZ 2017, 261, 263 (für eine Haftungsbeschränkung in Anlehnung an das KG-Modell); wohl auch Beuthien, NZG 2011, 481, 487.  55 Vgl. dazu ausführlich unter III. 3.  56 Vgl. Beschlüsse Nr. 15 und 16 des DJT 2016.  57 BGH v. 21.1.2002 – II ZR 2/00, BGHZ 150, 1 = NJW 2002, 1642; BGH v. 25.9.2006 – II ZR 218/05, NJW 2006, 3716, 3717. 

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fiehlt es sich, in der Begründung der Gesetzesreform klarzustellen, dass die gesetzliche Haftungsregelung (entsprechend §§ 128, 130 HGB) nicht abschließend ist und es der Rechtsprechung weiterhin überlassen bleibt, für besondere Gesellschaftstypen Ausnahmen anzuerkennen.58

III. Einführung einer haftungsbeschränkten Personengesellschaft nach englischem Vorbild Im Jahre 2013 wurde bekanntlich die Variante der Partnerschaft mit beschränkter Berufshaftung eingeführt. Allerdings erfasst die Haftungsbeschränkung des § 8 Abs. 4 PartGG – anders als etwa bei der englischen limited liability partnership (LLP) – nur Schäden wegen fehlerhafter Berufsausübung, aber nicht sonstige Verbindlichkeiten der Gesellschaft. Daher werden aktuell Vorschläge diskutiert, um auch Freiberuflern den Zugang zu einer vollständig haftungsbeschränkten Personengesellschaft zu ermöglichen. 1. Keine Öffnung der GmbH & Co. KG für nicht-gewerbliche Zwecke Jüngst wird verstärkt gefordert, die Personenhandelsgesellschaft für nicht-gewerbliche Personenvereinigungen zu öffnen.59 Konkret soll speziell die GmbH & Co. KG für alle Freiberufler, insbesondere für Rechtsanwälte, geöffnet werden.60 Mit breiter Mehrheit hat der DJT 2016 beschlossen, dass die KG und die GmbH & Co. KG allen freien Berufen zur Verfügung stehen sollten.61 Auch der Deutsche Anwaltverein (DAV) und die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) haben vorgeschlagen, die Sonderstellung der freien Berufe im Gesellschaftsrecht aufzugeben und Rechtsanwälten den Zugang zu allen Kapital- und Personengesellschaften zu gewähren.62 Um nicht-gewerblichen Betätigungen, insbesondere allen Freiberuflern, den Zugang zur KG zu eröffnen, müsste der Kaufmanns- durch den Unternehmensbegriff (nach österreichischem Vorbild) ersetzt werden. Eine solche Integration nicht-gewerblicher Unternehmen in die Regelungen des HGB würde einen grundlegenden Systemwechsel bedeuten, der letztlich als Friktion erscheint.63 Ein Systembruch – einschließlich aller notwendigen Folgeänderungen und neu für Freiberufler festzulegender Ausnahmevorschriften – würde einen gewichtigen Grund voraussetzen. Ein solcher Grund 58 So auch Schäfer, Gutachten E zum 71. Deutschen Juristentag, 2016, E 82; Tröger, JZ 2016, 834, 843.  59 K. Schmidt, ZHR 177 (2013), 712, 728 ff.; K. Schmidt,, ZIP 2014, 2226, 2228; zustimmend auch Römermann, NJW 2013, 2305, 2306; Römermann, NZG 2018, 1041.  60 Henssler/Markworth, NZG 2015, 1, 7; Henssler, AnwBl. 2014, 762; Henssler, AnwBl. Online 2018, 564, 567; Lieder/Frehse/Kilian, NJW 2018, 2175, 2178; Römermann, BB 2019, 899, 900; Westermann, NZG 2019, 1.  61 Vgl. Beschluss Nr. 30 des DJT 2016.  62 Henssler, AnwBl. Online 2018, 564, 595 ff.; Kury, BRAK-Mitt. 2018, 165, 168. 63 So auch Tröger, JZ 2016, 834, 839; ablehnend auch Schäfer, Gutachten E zum 71. Deutschen Juristentag, 2016, E 37. 

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ist jedoch nicht ersichtlich. Einen Vorteil wie etwa einen Transparenzgewinn würde der Unternehmensbegriff (nach österreichischem Vorbild) nicht bringen.64 Dem tatsächlich bestehenden Bedarf, allen Freiberuflern eine vollständige Haftungsbeschränkung zu ermöglichen, könnte deutlich einfacher Rechnung getragen werden, indem die derzeitige PartG(mbB) durch eine völlig neue haftungsbeschränkte Rechtsform ersetzt würde. Dies wäre ohne einen Systembruch möglich, so dass der dem deutschen Recht systemimmanente Vorbehalt der Personenhandelsgesellschaft für gewerbliche Zwecke mit den daraus resultierenden Rechtsfolgen wie etwa der Veranlagung von Gewerbesteuer aufrechterhalten werden sollte. 2. Ersetzung der PartG(mbB) durch eine neue haftungsbeschränkte Personengesellschaft (PartGmbH) Um eine vollständige Haftungsbeschränkung auch Freiberuflern zu ermöglichen, sollte die derzeitige PartG (mbB) völlig umgestaltet und durch eine vollständig haftungsbeschränkte neue Personengesellschaft nach dem Vorbild der englischen LLP ersetzt werden. a) Struktur der englischen limited liability partnership (LLP) Funktional ist die LLP der deutschen Partnerschaftsgesellschaft vergleichbar,65 wenn auch die Partnerschaft gemäß §  1 Abs.  1 Satz 1 PartGG nur auf Angehörige freier Berufe ausgerichtet und im Unterschied zur LLP nur für diese zugänglich ist. Die englische LLP ist allerdings – anders als die deutsche Partnerschaftsgesellschaft – ein Hybrid zwischen Personen- und Kapitalgesellschaft: Einerseits lässt sie als eigenständige Rechtsperson ihren Gesellschaftern grundsätzlich das Privileg einer Haftungsbeschränkung zukommen, andererseits ist sie in ihrer Binnenorganisation flexibel wie eine Personengesellschaft und bietet volle steuerliche Transparenz.66 Die LLP muss mindestens zwei Gesellschafter haben; die Anzahl der Gesellschafter ist jedoch nicht beschränkt, so dass sich die LLP auch für größere (Beratungs-)Gesellschaften hervorragend eignet.67 Die Gesellschafter können ihre Rechte untereinander und im Verhältnis zur LLP durch eine Vereinbarung regeln; zu einer solchen Vereinbarung sind sie jedoch nicht verpflichtet.68

64 Schäfer, Gutachten E zum 71. Deutschen Juristentag, 2016, E 37.  65 Triebel/Otte/Kimpel, BB 2005, 1233, 1241.  66 Ringe/Otte in Triebel/Illmer/Ringe/Vogenauer/Ziegler, Englisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 3. Aufl. 2012, § 11 Rz. 349; Triebel/Otte/Kimpel, BB 2005, 1233, 1234.  67 Triebel/Otte/Kimpel, BB 2005, 1233, 1234, 1239 f. 68 Ringe/Otte in Triebel/Illmer/Ringe/Vogenauer/Ziegler, Englisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 3. Aufl. 2012, § 11 Rz. 357. 

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Die Gesellschafter müssen kein Mindestkapital aufbringen und keine Sicherheiten für die Haftungsbeschränkung stellen.69 Zudem gibt es bei der LLP keine Kapitalerhaltungsvorschriften.70 b) Haftungsregime der LLP Die Gesellschafter einer LLP genießen grundsätzlich wie die Gesellschafter einer englischen company71 den Vorteil der Haftungsbeschränkung, denn die LLP als von ihren Gesellschaftern unterschiedliche Rechtsperson haftet selbst für ihre Verbindlichkeiten.72 Diese grundsätzliche Beschränkung der Haftung der Gesellschafter ist ein entscheidender Vorteil der LLP gegenüber der deutschen PartGmbB: Bei Letzterer haften die Partner gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 PartGG persönlich für die Verbindlichkeiten ihrer Partnerschaft, nur für berufliche Fehler ist die Haftung gemäß § 8 Abs. 4 PartGG auf das Gesellschaftsvermögen beschränkt. Ein Haftungsdurchgriff auf die Gesellschafter (sog. lifting the corporate veil) erfolgt im englischen Recht äußerst selten: In der Praxis gibt es nur sehr wenige echte Durchgriffsfälle.73 Damit drohen den Gesellschaftern einer LLP keine höheren Risiken einer echten Durchgriffshaftung aus dem Rechtsinstitut des lifting the corporate veil als etwa den Gesellschaftern einer deutschen GmbH. Allerdings haftet ein Gesellschafter persönlich nach dem englischen Deliktsrecht (tort of negligence) für fahrlässig verursachte Vermögensschäden. Voraussetzung für eine solche Haftung des Gesellschafters ist, dass eine Sorgfaltspflicht (duty of care) besteht, der Gesellschafter diese verletzt hat und als vernünftigerweise zurechenbare Folge ein Schaden entstanden ist.74 Eine solche Sorgfaltspflicht des Gesellschafters gegenüber dem Vertragspartner wird angenommen, wenn er eine persönliche Verantwortung für die Vertragsdurchführung übernommen hat, auf die sich der Vertragspartner verlassen hat und vernünftigerweise verlassen durfte.75 Bei professionellen Beratern (wie z.B. Rechtsanwälten) wird regelmäßig eine entsprechende Sorgfaltspflicht aufgrund des besonderen treuhänderischen Vertrauensverhältnisses zwischen dem beratenden Gesellschafter und dem Mandanten vermutet.76 69 Vgl. section 3 Limited Liability Partnerships Act 2000.  70 Ringe/Otte in Triebel/Illmer/Ringe/Vogenauer/Ziegler, Englisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 3. Aufl. 2012, § 11 Rz. 353.  71 Vgl. dazu das wegweisende Urteil Salomon v Salomon & Co Ltd [1897] AC 22.  72 Ringe/Otte in Triebel/Illmer/Ringe/Vogenauer/Ziegler, Englisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 3. Aufl. 2012, § 11 Rz. 362; Triebel/Otte/Kimpel, BB 2005, 1233, 1235.  73 Vgl. dazu ausführlich Otte, Das Kapitalschutzsystem der englischen private limited company im Vergleich zur deutschen GmbH, 2006, S. 119 ff. 74 Triebel/Otte/Kimpel, BB 2005, 1233, 1235; vgl. ausführlich Bank, Die britische Limited ­Liability Partnership: Eine attraktive Organisationsform für Freiberufler?, 2006, S. 106 ff. 75 Williams v Natural Life Health Foods Ltd [1998] 1 WLR 830; Merret v Babb [2001] EWCA Civ 214, basierend auf dem berühmten Fall Hedley Byrne & Co Ltd v Heller & Partners Ltd [1964] AC 465.  76 Bristol and West Building Society [1998] 1 Ch 1; Arklow Investments Ltd v Maclean [2000] 1 WLR 594; vgl. auch Ringe/Otte in Triebel/Illmer/Ringe/Vogenauer/Ziegler, Englisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 3. Aufl. 2012, § 11 Rz. 363. 

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Ein beratender Gesellschafter haftet etwa auch für fahrlässig verursachte Vermögensschäden gegenüber dem Vertragspartner der LLP oder gar gegenüber einem vertragsfremden Dritten nach englischem Recht:77 Die Haftung aus dem englischen Deliktsrecht (tort of negligence) geht damit weiter als die vergleichbare deliktische Haftung oder die Eigenhaftung des Sachwalters aus culpa in contrahendo (§§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 311 Abs. 3 BGB) nach dem deutschen Recht.78 Sie wird daher zu Recht als „Handelndenhaftung für Berufsfehler“ bezeichnet und kompensiert die ansonsten grundsätzlich fehlende Gesellschafterhaftung bei der LLP.79 Folglich ist die Haftung bei der LLP genau umgekehrt ausgestaltet zu der Haftung bei der PartGmbB, deren Partner für sämtliche Verbindlichkeiten der Partnerschaft gesamtschuldnerisch neben dem Partnerschaftsvermögen haften, aber die gerade für Berufsfehler nicht persönlich haften. Angesichts der Möglichkeit, berufliche Fehler durch eine Berufshaftpflichtversicherung zu versichern, bietet die LLP jedoch insgesamt eine attraktivere Rechtsform.80 c) Überlegungen zu der Struktur einer PartGmbH Im Rahmen einer Reform des Personengesellschaftsrechts sollte der Gesetzgeber eine neue Form der Partnerschaftsgesellschaft zur Verfügung stellen, die infolge einer vollständigen Haftungsbeschränkung attraktiver als die PartGmbB sein und an die englische LLP angelehnt werden sollte. Für eine Personengesellschaft mit umfassender Haftungsbeschränkung besteht konkreter Bedarf: Die PartGmbB erlaubt keine Haftungsbeschränkung im Bereich außerberuflicher Verbindlichkeiten.81 Durch eine solche neue Personengesellschaft müsste die GmbH & Co. KG nicht für jeden Zweck geöffnet und damit kein Systembruch herbeigeführt werden. Die neu einzuführende PartGmbH sollte weiterhin in einem eigenständigen Gesetz geregelt sein, das z.B. als PartGmbHG bezeichnet werden und das jetzige PartG ersetzen könnte. Sie sollte wie die englische LLP als Hybridgesellschaft ausgestaltet, d.h. eine steuertransparente Personengesellschaft sein, die jedoch ihren Gesellschaftern eine vollständige Begrenzung der Haftung auf das Gesellschaftsvermögen ermöglicht.82 Anders als die PartGmbB sollte die neue PartGmbH nicht nur den Berufsträgern eröffnet sein, deren Berufsgesetze im Hinblick auf § 8 Abs. 4 PartGG ergänzt wurden, sondern sämtlichen Freiberuflern.

77 Ringe/Otte in Triebel/Illmer/Ringe/Vogenauer/Ziegler, Englisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 3. Aufl. 2012, § 11 Rz. 363. 78 Triebel/Otte/Kimpel, BB 2005, 1233, 1235.  79 Henssler, NJW 2014, 1761, 1763.  80 Vgl. auch Henssler, NJW 2014, 1761, 1765; Pleister, AnwBl. 2012, 801, 802; a.A. Grunewald, GWR 2013, 393, 394; wohl auch Römermann, NJW 2013, 2305, 2306.  81 Henssler, AnwBl. 2014, 762; Henssler in FS Hommelhoff, 2012, S. 401, 415; Henssler /Markworth, NZG 2015, 1, 2.  82 So auch Henssler in FS Hommelhoff, 2012, S. 401, 415. 

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Die PartGmbH sollte – wie die derzeitige PartG(mbB) – in einem eigenen Register eingetragen werden und im Außenverhältnis Wirksamkeit mit ihrer Eintragung erlangen. Das Innenverhältnis der Gesellschafter untereinander sollte nach dem Vorbild des § 6 Abs. 3 PartGG flexibel zu gestalten sein und dem Grundsatz der Vertragsfreiheit Rechnung tragen. Vorgaben zur Kapitalaufbringung und -erhaltung sollte das PartGmbHG nicht enthalten. d) Überlegungen zu einem eigenen Haftungsregime der PartGmbH Da die Gesellschafter der neuen PartGmbH grundsätzlich eine vollständige Haftungsbeschränkung genießen können, aber zugleich nicht an Vorschriften zur Kapitalaufbringung und -erhaltung gebunden sein sollen, ist für die PartGmbH ein neues eigenes Haftungsregime zu entwickeln, um den Schutz der Gläubiger zu gewährleisten.83 Für die in Deutschland tätige englische LLP besteht bislang – vor dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU („Brexit“) – nach zutreffender Auffassung eine Lücke im Gläubigerschutz, da die strengere Haftung des Gesellschafters einer LLP für fahrlässig verursachte Berufsfehler aus dem englischen Deliktsrecht (tort of negligence) nach Art.  4 Abs.  1 Rom II-VO bei einer Tätigkeit in Deutschland nicht gilt, wenn Handlungs- und Erfolgsort in Deutschland in Deutschland liegen: Die deliktische Haftung des Gesellschafters richtet sich dann nach deutschem Recht, das keine solche Haftung für fahrlässig verursachte Vermögensschäden vorsieht.84 Allerdings sollte diese  – nur kollisionsrechtlichen Gründen geschuldete  – Gläubigerschutzlücke bei der Einführung einer vollständig haftungsbeschränkten PartGmbH geschlossen werden. Rechtstechnisch ist zunächst fraglich, an welcher Stelle das neue Haftungsregime der PartGmbH zu verorten ist. Die Haftung für fahrlässige Berufsfehler aus dem englischen tort of negligence ist – wenngleich deutlich weitergehend – vergleichbar mit einer deliktischen Haftung oder einer Haftung des Sachwalters aus culpa in contrahendo (§§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 311 Abs. 3 BGB). Daher ließe sich daran denken, die Haftung der Gesellschafter der PartGmbH im allgemeinen Zivilrecht zu regeln. Allerdings sollte diese Haftung nicht flächendeckend z.B. alle Sachwalter erfassen und die Haftung aus culpa in contrahendo ergänzen, sondern ausschließlich für Gesellschafter einer PartGmbH gelten. Deshalb sollte sie passender in dem neuen PartGmbHG geregelt werden. Inhaltlich sollte für Gesellschafter einer PartGmbH eine Haftung nach dem Vorbild der Haftung aus dem tort of negligence nach englischem Recht vorgesehen werden. Eine solche Haftung setzt voraus, dass die Gesellschafter einer PartGmbH selbst ein Schuldverhältnis mit Pflichten nach § 241 Abs. 2 BGB zu einem Vertragspartner der 83 Vgl. Glindemann, AnwBl. 2016, 797, 798.  84 Bank, Die britische Limited Liability Partnership: Eine attraktive Organisationsform für Freiberufler?, 2006, S. 409 ff.; Bank, BB-Special 3/2010, 4, 9; Triebel/Otte/Kimpel, BB 2005, 1233, 1235; Triebel/Silny, NJW 2008, 1034; a.A. Henssler/Mansel in FS Horn, 2006, S. 403, 419 f.; Henssler/Mansel, NJW 2007, 1393, 1397 (für eine Korrektur über das Rechtsinstitut der Anpassung); differenzierend Henssler, NJW 2014, 1761, 1764 f.

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Gesellschaft begründen. Daher müsste in dem neuen PartGmbHG geregelt werden, dass ein Schuldverhältnis mit Pflichten nach § 241 Abs. 2 BGB auch entsteht, wenn ein Gesellschafter einer PartGmbH eine persönliche Leistungsverantwortung gegenüber dem Vertragspartner der Gesellschaft übernimmt; eine solche Übernahme einer persönlichen Leistungsverantwortung sollte bei professionellen Beratern vermutet werden. Folge einer Verletzung der Sorgfaltspflicht aus der persönlichen Leistungsverantwortung aus dem PartGmbHG wäre eine Haftung gemäß §§ 280, 241 Abs. 2 BGB. Allerdings sollten die Gesellschafter der neuen PartGmbH nicht schlechter gestellt werden als bereits derzeit die Partner einer PartGmbB, die eine Haftung für Schäden wegen fehlerhafter Berufsausübung auf das Vermögen der Partnerschaft gemäß § 8 Abs.  4 PartGG begrenzen können, wenn die Partnerschaft eine zu diesem Zweck durch Gesetz vorgegebene Berufshaftpflichtversicherung unterhält. Daher sollten auch die Gesellschafter der neuen PartGmbH die Möglichkeit haben, die Handelndenhaftung nach dem Vorbild des derzeitigen § 8 Abs. 4 PartGG durch den Abschluss einer risikoadäquaten Berufshaftpflichtversicherung auf das Gesellschaftsvermögen zu konzentrieren. Für den Preis einer solchen Berufshaftpflichtversicherung würden die Gesellschafter einer PartGmbH somit in den Genuss einer vollständigen Haftungsbeschränkung kommen. Zugleich würden die Gläubiger der Gesellschaft hinreichend durch die Versicherung abgesichert. Ihnen stünde eine größere Haftungsmasse zur Verfügung als etwa bei einer haftungsbeschränkten GmbH & Co. KG, deren Haftungsfonds nur einmalig hinsichtlich der Aufbringung garantiert und im Übrigen nur gegen Ausschüttungen an die Gesellschafter geschützt wird.85 Durch eine solche Versicherungslösung würde eine wirklich attraktive Rechtsform geschaffen, die eine vollständige Haftungsbeschränkung bietet, gleichzeitig aber ihre Gläubiger schützt und damit auch im Rechtsverkehr Akzeptanz finden und eine echte Alternative zur englischen LLP darstellen dürfte.

IV. Ergebnis 1. Um das geschriebene an das infolge richterlicher Rechtsfortbildung geltende Recht anzupassen, sollte die Rechtsfähigkeit der Außen-GbR kodifiziert werden. Außenund Innengesellschaft  – einschließlich der Nichtvermögensfähigkeit der Innen-­ GbR – sollten zur Rechtsklarheit gesetzlich definiert werden. Der Gesetzgeber sollte eine Vermutungsregelung für das Vorliegen der Außen-GbR einfügen, um den Rechtsverkehr zu schützen. 2. Für die GbR sollte ein eigenes Register eingeführt werden, dessen Eintragung ­fakultativ sein und deklaratorische Wirkung entfalten sollte. Lediglich für den Erwerb registerpflichtiger Rechte (wie z.B. Grundeigentum) sollte ein Eintragungszwang bestehen. 85 Vgl. Schäfer, Gutachten E zum 71. Deutschen Juristentag, 2016, E 104; Hellwig, NJW 2011, 1557, 1558. 

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3. Zudem sollte eine akzessorische unbeschränkte persönliche Haftung der Gesellschafter der GbR gemäß §§ 128 – 130 HGB analog (durch Verweisung) gesetzlich geregelt werden. 4. Die PartG sollte durch eine vollständig haftungsbeschränkte neue Rechtsform (PartGmbH) nach dem Vorbild der englischen LLP ersetzt werden. Die PartGmbH sollte eine steuertransparente Personengesellschaft sein, die ihren Gesellschaftern eine grundsätzliche Beschränkung der Haftung auf das Gesellschaftsvermögen – wie die LLP – ermöglicht. 5. Um den Schutz der Gläubiger der PartGmbH (ohne Mindestkapital) zu sichern, sollte für die PartGmbH ein eigenes neues Haftungsregime eingeführt werden. Die Gesellschafter der PartGmbH sollten für Schäden durch fahrlässig verursachte Sorgfaltspflichtverletzungen (z.B. durch fahrlässige Berufsfehler) grundsätzlich persönlich haften. Allerdings sollte eine Absicherung gegen eine solche persönliche Haftung durch eine Berufshaftpflichtversicherung möglich sein: Sofern ein ausreichender Berufshaftpflichtversicherungsschutz besteht, sollte eine Haftung für Schäden aus fehlerhafter Berufsausübung – nach dem Vorbild des derzeitigen § 8 Abs. 4 PartGG – auf das Gesellschaftsvermögen beschränkt sein.

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Corporate Social Responsibility (CSR) als aktienrechtliche Organverantwortung Inhaltsübersicht I. Einführung: Ein weiterer Anglizismus im deutschen Aktienrecht 1. Corporate Governance, Business ­Judgment Rule, Compliance und dann noch Corporate Social Responsibility 2. Unternehmerische Verantwortung als ­aktienrechtliche Organverantwortung 3. Folgefragen zur aktienrechtlichen CSR-Organverantwortung II. CSR und Struktur der AG 1. Die Grundstruktur der AG: Erwerbs­ wirtschaftliche Zielsetzung, Organ­ verantwortung, Gesellschaftsinteresse a) Das erwerbswirtschaftliche Formalziel der Aktiengesellschaft b) Erwerbswirtschaftliche Zielsetzung und Organverantwortung

c) Zwischenresümee 2. Untauglichkeit „unternehmensrecht­ licher“ Ansätze zur Begründung einer allgemeinen, richtlinienartigen organschaftlichen Gemeinwohlbindung a) Unternehmen als Sozialverband oder als Organisation? b) § 70 Abs. 1 AktG 1937? c) Die Schimäre vom sogenannten „­Unternehmensinteresse“ d) CSR kraft Sozialbindung des Eigentums? 3. Zwischenergebnis III. Zur Bedeutung der europäischen CSR-Richtlinie IV. Zusammenfassung

I. Einführung: Ein weiterer Anglizismus im deutschen Aktienrecht 1. Corporate Governance, Business Judgment Rule, Compliance und dann noch Corporate Social Responsibility Anglizismen haben seit einiger Zeit in der deutschen Diskussion um das Recht der Kapitalgesellschaften Hochkonjunktur. Corporate Governance, Business Judgment Rule (kurz BJR) und Compliance sind zu Begriffen avanciert, die von Gesellschaftsrechtlern heutzutage häufig und gerne, nach dem Eindruck des Verfassers nicht selten aber auch ohne einschlägiges Hintergrundwissen als flott und chic daherkommende Schlagworte, verwendet werden.1 Die juristische Literatur zu diesen drei „modernen“ gesellschaftsrechtlichen Themenbereichen erreicht ein zunehmend bedeutendes Ausmaß; sie reicht von einschlägigen Habilitationsschriften, Dissertationen und Handbüchern bis zu einer immer weiter anschwellenden Flut von Artikeln in Fachzeitschrif-

1 Vgl. dazu Hermann Hesse, Aus der Rezension „Noch eine Mörike-Ausgabe“, März 1910, zitiert nach Hesse, Kunst – die Sprache der Seele, 1. Aufl. 2008 (Suhrkamp), S. 89: „Die Philologen sind ein schnurriges Volk. Sie gehen mit der Mode, die zu machen sie sich einbilden“.

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ten.2 Der letzte Stern, der am Himmel der schönen neuen Welt einer anglizistisch angehauchten Betrachtung der Organverantwortung nach deutschem Kapitalgesellschaftsrecht auszumachen ist, trägt den Namen Corporate Social Responsibility (kurz CSR). Grob umschrieben ist damit die Beachtung gewisser Prinzipien verantwortungsvoller Unternehmenspraxis in den Bereichen Menschenrechte, Arbeitsschutz, Umweltschutz und Korruptionsbekämpfung angesprochen, wie sie der UN Global Compact (UNGC) als typisches CSR-Instrument beispielhaft definiert.3 Die Aktua­ lität der damit angesprochenen gesellschaftsrechtlichen Fragestellungen zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die Herausgeber der ZGR Corporate Social Responsibility zum Thema des ZGR-Symposiums 2018 gewählt haben.4 Damit ist auch das Thema dieses Beitrags angesprochen. Die Themen Corporate Governance, Business Judgment Rule und Compliance hängen miteinander zusammen. Corporate Governance betrifft zum einen die Organisationsverfassung der Unternehmensleitung (in Deutschland insbesondere das dualistische Aufsichtsratsmodell und dessen Ausgestaltung einschließlich der Mitbestimmung) und zum anderen die Pflichtbindungen der mit der Leitung und Überwachung des

2 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sei hier nur auf die folgende stattliche Reihe von Habilitationsschriften, Dissertationen und Handbüchern hingewiesen. Zur Business Judgment Rule s. A. Arnold, Die Steuerung des Vorstandshandelns. Eine rechtsökonomische Untersuchung der Principal-Agent-Problematik in Publikumskapitalgesellschaften, 2007; von Hein, Die Rezeption US-amerikanischen Gesellschaftsrechts in Deutschland, 2008 (Habilitationsschrift Hamburg), S. 913 ff.; Lohse, Unternehmerisches Ermessen. Zu den Aufgaben und Pflichten von Vorstand und Aufsichtsrat, 2005 (Habilitationsschrift Hamburg); Paefgen, Unternehmerische Entscheidungen und Rechtsbindung der Organe in der AG, 2002 (Habilitationsschrift Tübingen); Pfertner, Unternehmerische Entscheidungen des Vorstands, 2017 (Diss. Gießen); Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung und unternehmerisches Ermessen. Die Business Judgment Rule im deutschen und amerikanischen Recht, 2001 (Diss. Bonn); M. Roth, Unternehmerisches Ermessen und Haftung des Vorstands. Handlungsspielräume und Haftungsrisiken insbesondere in der wirtschaftlichen Krise, 2001 (Diss. Hamburg); Schlimm, Das Geschäftsleiter­ ermessen des Vorstands einer Aktiengesellschaft. Die Kodifikation einer „Business Judgment Rule“ deutscher Prägung in § 93 Abs. 1 S. 2 AktG, 2009 (Diss. Münster); Schnieders, Haftungsfreiräume für unternehmerische Entscheidungen in Deutschland und Italien, 2009 (Diss. Basel); Ventoruzzo/Conac/Goto/Mock/Notari/Reisberg, Comparative Corporate Law, 2015, S. 295 ff. Zum Thema Compliance s. insbesondere Hauschka/Moosmayer/Lösler, Corporate Compliance, 3.  Aufl. 2016; Moosmayer, Compliance, Praxisleitfaden für Unternehmen, 2. Aufl. 2012; Teichmann (Hrsg.), Compliance. Rechtliche Grundlagen für Studium und Unternehmenspraxis, 2014. Zum Thema Corporate Governance s. insbesondere Hommelhoff/ Hopt/v. Werder (Hrsg.), Handbuch Corporate Governance – Leitung und Überwachung börsennotierter Unternehmen in der Rechts- und Wirtschaftspraxis, 2. Aufl. 2010; Ventoruzzo/ Conac/Goto/Mock/Notari/Reisberg, Comparative Corporate Law, 2015, S. 249 ff. Zum Thema CSR s. Spießhofer, Unternehmerische Verantwortung, 2017; Schulte-Wintrop, Die Leitungsmacht des Vorstands zwischen Shareholder Value und Corporate Social Responsibility, 2015; Empt, Corporate Social Responsibilty, 2004.  3 Vgl. die zehn Prinzipien des UNGC, abrufbar unter https://www.unglobalcompact.org/ what-is-gc/mission/principles (aufgerufen 6.2.2019); dazu Spießhofer, a.a.O. (Fn. 2), S. 67 f. 4 S. dazu die Beiträge in ZGR 2018, Heft 2/3.

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Unternehmens einer AG betrauten Organe.5 Insoweit geht es dabei um die Struktur der Gesellschaft als Inbegriff ihrer Zielrichtung und Zweckbindung sowie einer da­ rauf abgestimmten Organisationsverfassung.6 Die in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG geregelte deutsche Business Judgment Rule betrifft einen Teilaspekt der Pflichtbindung der Verwaltungsorgane deutscher Kapitalgesellschaften (Vorstand, Aufsichtsrat, GmbH-Geschäftsführung). Entsprechend den Vorstellungen des Gesetzgebers sollte damit ein Modell zweigeteilter Organverantwortung gesetzlich festgeschrieben werden, das einerseits auf dem Geschäftsleiterermessen (BJR i.e.S.) und andererseits auf der Legalitätspflicht i.S.d. Verpflichtung zur Einhaltung gesetzlicher und statutarischer Vorgaben gründet.7 Auf den Punkt gebracht lässt sich dieses Regelungsmodell als Dichotomie der Organverantwortung beschreiben.8 Der Zusammenhang zwischen dem Geschäftsleiterermessen nach der Business Judgment Rule und der Legalitätspflicht liegt darin begründet, dass jegliche Verletzung der Legalitätspflicht das Geschäftsleiterermessen aushebelt; dem gegen Gesetz und Statut verstoßenden Geschäftsleiter kommt das Privileg haftungsfreier unternehmerischer Fehleinschätzung nicht zu.9 Was die Einordnung des Gedankens der Compliance in das System dichotomer Organverantwortung betrifft, so darf die englische Vokabel nicht zu dem Schluss verleiten, es ginge hierbei nur um die Legalitätspflicht.10 Vielmehr kommt das Geschäftsleiterermessen, wie neuere Studien herausgearbeitet haben, sowohl hinsichtlich der Frage des „Ob“ der Einrichtung einer Compliance-Organisation für das jeweilige Unternehmen als auch bezüglich des „Wie“ der Ausgestaltung solcher Systeme für die 5 Der Titel des von Hommelhoff/Hopt/v. Werder herausgegebenen Corporate Governance-­ Handbuchs (Fn. 2) bringt dies durchaus treffend mit den Worten „Leitung und Überwachung“ des Unternehmens zum Ausdruck. 6 Vgl. Paefgen, Struktur und Aufsichtsratsverfassung der mitbestimmten AG, 1982, S. 3. 7 Vgl. dazu die die Handschrift von Seibert tragende Begr. RegE UMAG BT-Drucks. 15/5092, S. 11: „Die Regelung geht von der Differenzierung zwischen fehlgeschlagenen unternehmerischen Entscheidungen einerseits und der Verletzung sonstiger Pflichten andererseits (Treuepflichten; Informationspflichten; sonstige allgemeine Gesetzes- und Satzungsverstöße) aus.“ 8 Vgl. Paefgen, AG 2014, 554, 556 ff. 9 Begr. RegE UMAG BT-Drucks. 15/5092, S.  11  f.; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 93 AktG Rz. 17, 21; Paefgen in Großkomm. GmbHG, 2. Aufl. 2014, § 43 GmbHG Rz. 49; Habersack in E. Lorenz, Karlsruher Forum 2009: Managerhaftung, S. 5, 28 f.; Paefgen, AG 2014, 554, 557; ders., AG 2004, 245, 251 f.; ders., a.a.O. (Fn. 2), S. 25 f.; Fleischer, ZIP 2004, 685, 690; Ihrig, WM 2004, 2098, 2103; mit Bezug auf CSR EU-Kommission, Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europä­ ischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen. Eine neue EU-Strategie (2011-2014) für die soziale Verantwortung der Unternehmen, KOM(2011), 681, S. 7 (Einhaltung geltenden Rechts als Minimum unternehmerischer Verantwortung); Spießhofer, Corporate Social Responsibility – „Indienstnahme“ von Unternehmen für gesellschaftspolitische Aufgaben?, in VGR (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2016, 2017, S. 61, 62. 10 Vgl. Übersetzung in Collins, German-English English-German Dictionary, 1. Aufl. 1990: „dem Gesetz gemäß“.

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Gesellschaft selbst und deren Unternehmensgruppe zum Tragen.11 Compliance ist also zwischen der Legalitätspflicht und der Business Judgment Rule angesiedelt. 2. Unternehmerische Verantwortung als aktienrechtliche Organverantwortung Mit Blick auf allfällige aus dem Konzept der Corporate Social Responsibility ableitbare Pflichtbindungen der Verwaltungsorgane einer deutschen Aktiengesellschaft fehlt es bislang an einer systematisch-dogmatisch stringenten Einordnung in das System der dichotomen Organverantwortung von Vorstand und Aufsichtsrat.12 Ziel der nachfolgenden Überlegungen ist es, dazu einen Beitrag zu leisten. Zu diesem Zweck soll im Folgenden zunächst dem Verhältnis der Struktur der Aktiengesellschaft, d.h. ihrer grundsätzlich erwerbswirtschaftlichen Zwecksetzung und ihrer darauf zugeschnittenen Organisationsverfassung, zum Postulat einer Gemeinwohlbindung der Gesellschaft i.S.v. CSR nachgespürt werden (dazu im Folgenden II.). Dabei wird es insbesondere um die Bedeutung des Übergangs von der nach altem Recht für den Vorstand geltenden Gemeinwohlklausel des § 70 Abs. 1 AktG 1937 mit der Bezugnahme auf „das Wohl des Betriebs und seiner Gefolgschaft und [den] gemeine[n] Nutzen von Volk und Reich“ zur allein und ohne inhaltliche Zielvorgabe die eigenverantwortliche Leitungsbefugnis des Vorstands betonenden Fassung von § 76 Abs. 1 AktG aktueller Fassung gehen. Auf die Vorarbeiten zu dieser Neufassung der aktienrechtlichen Organverantwortung, bei der sich dem deutschen Gesetzgeber in aller Deutlichkeit die Frage nach dem Verhältnis des erwerbswirtschaftlichen Ziels der Aktiengesellschaft zu den Interessen am Unternehmen beteiligter sog. Stakeholder einschließlich von Arbeitnehmerinteressen und Gemeinwohlbelangen stellte, hat Ulrich Seiberts großer Amtsvorgänger Ministerialdirigent Dr. Ernst Geßler entscheidenden Einfluss gehabt.13 Seither ist auf der Ebene des Unionsrechts die Richtlinie zur CSR-Berichterstattung und deren deutsche Umsetzung in den §§ 289b ff., 315b ff. HGB in den Blick nicht nur von Experten im Bereich der handelsrechtlichen Rechnungslegung, sondern auch der Gesellschaftsrechtler geraten. Es lässt aufmerken, dass Seibert im Hinblick auf diese unionsrechtliche Entwicklung von einer „Hinwendung zum Stakeholder-Ansatz“ gesprochen hat.14 In der Tat richtet sich sub specie des deutschen Aktienrechts eine Grundsatzfrage darauf, ob dieser neueren europäischen und deutschen Gesetzgebung zur CSR-Berichterstattung Anhaltspunkte für die Ausgestaltung der organschaftlichen

11 Vgl. Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 91 AktG Rz. 36 f.; Bachmann, Compliane – Rechtsgrundlagen und offene Frage, in VGR 13 (2007), S. 66, 85; sowie ausführlich dazu Paefgen, WM 2016, 433, 436 f. und 441 f. m.w.Nachw.; grdl. zur konzerndimensionalen Legalitätskontrollpflicht Verse, ZHR 175 (2011), 401 ff. 12 Erste Ansätze finden sich immerhin schon im Schrifttum zur Frage der Zulässigkeit so­ zial intendierter Spenden und Sponsoringmaßnahmen; Spindler in MünchKomm. AktG, 5.  Aufl. 2019, §  93 AktG Rz.  83  f.; Paefgen in Großkomm. GmbHG, 2.  Aufl. 2014, §  43 ­GmbHG Rz. 76 ff. 13 Vgl. unten II.2.b) bei Fn. 63. 14 Seibert, AG 2015, 593, 596.

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Pflichtbindung von Vorstand und Aufsichtsrat entnommen werden können (dazu im Folgenden III.). Wie nachfolgend zu zeigen sein wird, lässt sich die „unternehmerische Verantwortung“ des Vorstands und Aufsichtsrats einer deutschen Aktiengesellschaft nur im Rahmen des hergebrachten aktienrechtlichen Systems der vorstehend bereits angesprochenen, auf den Säulen der Legalitätspflicht und der Business Judgment Rule aufbauenden dichotomen Organverantwortung und -haftung begründen (zusammenfassend IV.). Ein großes Buch von einer Autorin, die in jüngerer Zeit viel von sich Reden gemacht hat, handelt das Thema CSR unter dem Titel „Unternehmerische Verantwortung. Zur Entstehung einer globalen Wirtschaftsordnung“ ab.15 Gegenüber der in diesem Werk sehr selbstbewusst und mit einer gewissen Verve vorgetragenen Prophezeiung einer mit der Vorstellung von Corporate Social Responsibility Einkehr haltenden neuen globalen Wirtschaftsordnung scheint dem Verfasser der nüchterne Rekurs auf das System der aktienrechtlichen Organverantwortung aus der Sicht des Gesellschaftsrechts, die bei der Abhandlung unternehmerischer Verantwortung immer zuerst maßgeblich sein sollte, den richtigen Weg vorzugeben.16 Die nachfolgenden Überlegungen sind Ulrich Seibert, dem „Ernst Geßler der Moderne“ mit den besten Wünschen zum 65. Geburtstag und einem fröhlichen retirement zugeeignet, verbunden mit der Hoffnung, dass die gesellschaftsrechtliche community auch in Zukunft, zumindest zuweilen, mit den gewohnt scharfsinnigen Diskussionsbeiträgen des Jubilars rechnen darf. 3. Folgefragen zur aktienrechtlichen CSR-Organverantwortung Im weiteren Kontext des in dieser Studie in den Blick zu nehmenden aktienrechtlichen Rahmens dichotomer Organverantwortung i.S.v. Corporate Social Responsibility ergeben sich bezüglich der Auswirkung des CSR-Konzepts auf die aktienrechtliche Verantwortung von Vorstand und Aufsichtsrat eine ganze Reihe von Folgefragen. Mit Bezug auf die Legalitätspflicht betrifft dies in der gebotenen Prüfungsreihenfolge zunächst einmal die kollisionsrechtliche Frage, ob sich CSR-relevante Schutzlücken ausländischer Regelungen des Delikts-, Vertrags- und sonstigen Rechts, insbesondere solcher von Entwicklungs- und Schwellenländern,17 bezüglich der Achtung von Men15 Spießhofer, Unternehmerische Verantwortung. Zur Entstehung einer globalen Wirtschaftsordnung, 2017 (713 Seiten); s. weiter auch dies., Heidelberger Beiträge zum Finanz- und Steuerecht, Bd. 4 (2016), 247, 250, wo sehr selbstbewusst vom Entstehen einer „Parallelordnung neben Demokratie und Rechtsstaat“ die Rede ist; sinngleich dies., AnwBl 2016, 366 ff.; sowie dies., NZG 2018, 441, 447 ff.; gleichsinnig auch dies., IWRZ 2018, 145 ff. 16 Die Bezugnahme auf die Entstehung einer „globalen Wirtschaftsordnung“ erinnert den Verfasser an Henry Kissinger, World Order, Reflections on the Character of Nations and the Course of History, Penguin Books 2014. 17 Vgl. Spießhofer, a.a.O. (Fn. 2), S. 25: „Die CSR-Diskussion beleuchtet auch das Gefälle der sozialen, ökologischen und Governance Standards zwischen Global North und Schwellenund Entwicklungsländern, fragt nach Moral und Integrität, Unternehmenskultur, Haltung und Verhalten, fordert Partizipation von Stakeholdern und Wirtschaften nach Werten und Verhaltensvorgaben, die weltweit Gültigkeit haben sollen.“

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schenrechten, Arbeitsschutz etc. durch Anwendung deutschen Sachrechts überkommen lassen.18 Auf der Ebene des deutsche Sachrechts gilt es sodann grundsätzlich zwischen solchen CSR-Instrumenten (Leitprinzipien, Leitsätzen, Kodizes etc.) zu unterscheiden, die gemäß Art. 59 Abs. 2 GG in das deutsche Recht transponiert worden sind oder i.S.v. Art. 25 GG allgemeine völkerrechtliche Grundsätze und damit als Bestandteile der deutschen Rechtsordnung anzusehen sind. Als Beispiel für die Kategorie ratifizierter und in deutsches Recht umgesetzter CSR-Instrumente sei hier nur auf die von Deutschland ratifizierten ILO-Übereinkommen betreffend Kernarbeitsnormen verwiesen.19 Bei CSR-Instrumenten, auf die das nicht zutrifft,20 ist eine mittelbare Legalitätswirkung zu prüfen, wie sie etwa in der Form der Annahme deutscher deliktsrechtlicher Verkehrspflichten oder Vertragspflichten bezüglich der Einhaltung von Menschenrechts- und Arbeitsschutzstandards bei ausländischen Konzerngesellschaften und Unternehmen in grenzüberschreitenden Lieferketten infragekommen kann.21 Jenseits derartiger Legalitätsbindungen stellen sich weitere Fragen in Bezug auf die Berücksichtigung von CSR-Belangen bei der Prüfung der Voraussetzungen des unternehmerischen Ermessen i.S.d. Business Judgment Rule der §§ 93 Abs. 1 Satz 2, 116 Satz 1 AktG. Dabei geht es vornehmlich darum, ob Vorstand und Aufsichtsrat entscheidungsrelevante CSR-Belange überhaupt angemessen bei ihren unternehmerischen Entscheidungen zu prüfen haben, ob sie dabei Interessenkonflikten unterliegen, die der Anwendung der Rule entgegenstehen, wie auch um die Ausnahme vollends irrationaler und unangemessener Förderung von CSR-Belangen vom Anwendungsbereich der Rule. Die Abhandlung dieser Fragen würde den Rahmen der vorliegenden Studie sprengen. Sie war daher einer weiteren Abhandlung vorzubehalten.22 Im Folgenden soll es allein, um die den vorstehend nur kurz angesprochenen Detailfragen vorgeschaltete Frage der grundsätzlichen Bedeutung von Corporate

18 Ausführlich zum deutschen Kollisionsrecht der CSR Weller/Hübner/Kaller, Private International Law for Corporate Social Responsibility, in Schmidt-Kessel (Hrsg.), German National Reports on the 20th International Congress of Comparative Law, 2018, S. 239 ff. 19 https://www.ilo.org/dyn/nolex/en/f?p=1000:11200:0::NO:11200:P11200_COUNTRY_ID:​ 102643. 20 Beispiele dafür sind die nicht in der Form ratifizierter völkerrechtlicher Übereinkommen in deutsches Recht transponierten OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen (­https:​ //www.oecd-ilibrary.org/docserver/9789264122352-de.pdf?expires=153521​8714&​id=id&​ accname=guest&checksum=AC79E934B8AC23BC46C6B1F14AA175); zur fehlenden völkerrechtlichen Vertragsqualität der OECD-Leitsätze Ruggie, Just Business, Multinational Corporations and Human Rights, 2013, S.  124; sowie die ISO 26000:2010 Guidance on ­Social Responsibility (International Organisation for Standardisation, ISO 26000:2010, Guidance on Social Responsibility, Stand 2014, abberufbar unter https://www.iso.org/​ ­standard/42546.html); zur fehlenden völkerrechtsvertraglichen Verbindlichkeit der ISO ­Guidance s. DIN ISO 26000-2011-01 Einleitung. 21 Zur deliktsrechtlichen Verkehrs- und Organisationspflichten im Konzern Habersack/Zickgraf, ZHR 182 (2018), 252, 279 ff. (aktive Einflussnahme des herrschenden Gesellschafters als Anknüpfungspunkt); Schall, ZGR 2018, 479, 488 ff. („konzernweite Residualpflicht“). 22 Vgl. Paefgen in FS K. Schmidt zum 80. Geburtstag, Bd. II 2019, S. 105 ff.

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­Social Responsibility für das Verständnis der aktienrechtlichen Organverantwortung gehen.

II. CSR und Struktur der AG Fragt man nach der gesellschaftsrechtlichen Begründbarkeit einer den Leitungsorganen der Aktiengesellschaft als allgemeine Organpflicht aufgegeben Gemeinwohlbindung i.S. einer Corporate Social Responsibilty, so stellt sich zuallererst die Frage nach der Vereinbarkeit einer so postulierten Rechtsbindung mit der Grundstruktur der AG. Was damit gemeint ist, hat Martens in deutliche Worte gefasst: „Das Prinzip, welches Geltung verlangt, ist die Aktiengesellschaft selbst, genauer der Gesellschaftszweck. Jede Interessenbewertung muss die Garantie einer erfolgreichen Zweckverfolgung respektieren.“23 Vielleicht etwas überspitzt formulierend hat der Verfasser dieses kardinale Prinzip aktienrechtlicher Regelungen in die Worte gefasst: „Die AG ist nach geltendem Recht weder Interessenausgleichsstelle, noch sozialpolitisches Versuchslabor. Sie ist verfasster Zweck.“24 Und weiter: „Mehr als jede andere Vorschrift des AktG verwirklicht § 76 Abs. 1 AktG das gesellschaftsrechtliche Konzept von der Aktiengesellschaft als verfasstem Zweck. … § 76 Abs. 1 AktG macht die Aktiengesellschaft zum handlungsfähigen Unternehmer, dagegen nicht zum «verfassten Unternehmen».“25 Wie im Folgenden zu zeigen ist, erweist die Grundstruktur der Aktiengesellschaft, d.h. ihr Gesellschaftszweck und ihre darauf zugeschnittene satzungsfeste Verwaltungsstruktur (§§ 23 Abs. 5, 76 Abs. 1, 111, 119 AktG) sich als unvereinbar mit der Vorstellung der Vorgabe einer die Verwaltungsorgane treffenden richtlinienartigen Gemeinwohlbindung i.S.v. CSR. 1. Die Grundstruktur der AG: Erwerbswirtschaftliche Zielsetzung, Organverantwortung, Gesellschaftsinteresse a) Das erwerbswirtschaftliche Formalziel der Aktiengesellschaft aa) Inhalt des formalen Unternehmensziels Vom statutarisch festzulegenden, die unternehmerische Betätigung der Gesellschaft sachlich abgrenzenden Unternehmensgegenstand der Aktiengesellschaft (§ 23 Abs. 3 Nr. 2 AktG) ist hinsichtlich der Zweckbindung der Gesellschaft das sog. formale Unternehmensziel zu unterscheiden. Das Formalziel bestimmt, mit welcher Tendenz die Gesellschaft im Rahmen des Unternehmensgegenstands zu wirtschaften hat, so z.B.: Gewinnerzielung, Kostendeckung, Bedarfsdeckung oder auch andere nicht monetäre Zielsetzungen.26 Die direkte Festlegung auf ein solches Formalziel lässt sich dem 23 Martens, Mehrheits- und Konzernherrschaft in der personalistischen GmbH, 1970, S. 22 f. 24 Paefgen, a.a.O. (Fn. 6), S. 93 ff., Zitat von S. 93; sowie ausführlich zur Theorie von der Ak­ tiengesellschaft als verfasstem Zweck ders., a.a.O. (Fn. 2), S. 55 ff. 25 Paefgen, a.a.O. (Fn. 2), S. 56 f. 26 Vgl. Wiedemann, ZGR 1975, 413; Paefgen, a.a.O. (Fn. 6), S. 50. 

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AktG nicht entnehmen; im Gegensatz zum Unternehmensgegenstand schreibt das Gesetz auch eine statutarische Festlegung nicht vor.27 Wie im Schrifttum insbesondere von H. Westermann überzeugend herausgearbeitet wurde, führt jedoch die Zusammenschau verschiedener gesetzlicher Bestimmungen zu dem Schluss, dass das AktG für den Regelfall die erwerbswirtschaftliche Zielsetzung des von der Gesellschaft betriebenen Unternehmens voraussetzt. Dies kann aus dem systematischen Zusammenhang von § 58 Abs. 4 AktG (Anspruch der Aktionäre auf den Bilanzgewinn), §  174 AktG (Gewinnverwendungsbeschluss der Hauptversammlung) und §  254 AktG (Dividende unter 4  % des Grundkapitals als Anfechtungsgrund) gefolgert werden.28 Zusätzliche Bestätigung erfährt diese Auffassung durch §§ 71 Abs. 1 Nr. 8, 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG und § 315a HGB, wo ebenfalls eine grundsätzlich erwerbswirtschaftliche Zielbestimmung der Aktiengesellschaft vorausgesetzt wird.29 bb) Änderung des formalen Unternehmensziels Aufgrund ihrer satzungsfesten Organisationsstruktur (§§ 23 Abs. 5, 76 ff., 95 ff., 118 ff. AktG) ist die Aktiengesellschaft bezüglich ihrer Einordnung in das allgemeine Verbandsrecht als Korporation anzusehen, auf die mangels spezieller aktienrechtlicher Regelung die vereinsrechtlichen Bestimmungen der §§ 21 ff. BGB anwendbar sind.30 Das damit auf den Plan gerufene allgemeine Verbandsrecht wie auch das besondere Verbandsrecht des AktG stehen der Zulässigkeit CSR-bezogener Satzungsklauseln grundsätzlich nicht entgegen.31 Da der Festlegung des formalen Unternehmensziels

27 Duden in FS Kunze, 1969, S. 127, 139 glaubte allerdings, hier eine „überraschende Lücke“ im Gesetz feststellen zu können. 28 H. Westermann in Freundesgabe Vits, 1963, S. 251 ff. 260 f., 265 f.; ders. in FS Schnorr von Carolsfeld, 1973, S. 517, 523 f.; Zöllner, Die Schranken mitgliedschaftlicher Stimmrechtsmacht bei den privaten Personenverbänden, 1963, S. 28; Paefgen, a.a.O. (Fn. 6), S. 50 ff.; ders., a.a.O. (Fn. 2), S. 39 ff.; Immenga, Aktiengesellschaft, Aktionärsinteressen und institutionelle Anleger, 1971, S. 18 f.; U. Huber, Welche Bedeutung hat die Rechtsform der Unternehmen für die Transferzeit zwischen der Veränderung gesellschaftlicher Wertvorstellungen und der Änderung unternehmerischer Ziele?, in Albach/Sodowski (Hrsg.), Die Bedeutung gesellschaftlicher Veränderungen für die Willensbildung im Unternehmen, Schriften des Vereins für Socialpolitik, Neue Folge Bd. 88, S. 136, 141; Wiedemann, ZGR 1975, 413; sinngleich auch; Hüffer/Koch, § 23 AktG Rz. 22 (Gesellschaftszweck finaler Sinn des Zusammenschlusses, in der Regel Gewinnerzielung); Pfertner, a.a.O. (Fn.  2), S.  21; von einer grundsätzlich erwerbswirtschaftlichen Zielsetzung ausgehend auch Simons, ZGR 2018, 316, 331; a.A. und aus juristischer Sicht nicht überzeugend dagegen Momberger, Social Entrepeneurship, Diss. Bonn 2015, S. 61 ff. 29 Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 76 AktG Rz. 36; Fleischer in Hommelhoff/ Hopt/v. Werder (Hrsg.), Handbuch Corporate Governance, S. 185, 195; a.A. Hüffer/Koch, § 76 AktG Rz. 30. 30 Vgl. nur Hüffer/Koch, § 1 AktG Rz. 2. 31 Spindler in FS Hommelhoff, 2012, S. 1133, 1141; Mülbert, AG 2009, 766, 772; Fleischer, AG 2017, 509, 514; J. Vetter, ZGR 2018, 338, 371 f.; Müller-Michaels/Ringel, AG 2011, 101, 111

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für die Rechtsform der Aktiengesellschaft grundlegend zwecksetzende Bedeutung zukommt, bedarf jedoch die Änderung der grundsätzlich erwerbswirtschaftlichen Zielsetzung gemäß § 33 Abs. 1 Satz 2 BGB eines einstimmigen Aktionärsbeschlusses.32 Die Umstellung von der grundsätzlich erwerbswirtschaftlichen auf eine gemeinnützige Zwecksetzung kann demnach nur die Hauptversammlung und zwar nur einstimmig beschließen.33 Eine solche Ermächtigung der Verwaltung ist von der Beschlussfassung über eine Gewinnverwendung zu gemeinnützigen Zwecken gemäß § 58 Abs. 3 Satz 2 AktG zu unterscheiden, die mit einfacher Mehrheit möglich ist.34 Allerdings gilt das Einstimmigkeitserfordernis nicht für solche Satzungsklauseln, die die Berücksichtigung von CSR-Belangen nur im Rahmen des erwerbswirtschaftlichen Formalziels der Aktiengesellschaft als Nebenbedingung der damit vorgegebenen Zweckverfolgung vorsehen.35 Hier kommt das Einstimmigkeitserfordernis mangels Vorliegens seiner Zweckänderung nicht zum Tragen; es gilt vielmehr die Dreiviertel-Mehrheit gemäß § 179 Abs. 2 Satz 1 AktG.36 Für den Vorstand und den Aufsichtsrat folgt aus dem Vorstehenden, dass eine Änderung der grundsätzlich erwerbswirtschaftlichen Zielvorgabe der Aktiengesellschaft der Disposition der Verwaltungsorgane von vornherein kategorisch entzogen ist.37 cc) Konkretisierung des formalen Unternehmensziels Was die Konkretisierung des erwerbswirtschaftlichen Formalziels im Einzelnen anbetrifft, so ist festzuhalten, dass das Gesetz kein bestimmtes Shareholder-Value-Konzept vorschreibt, wie etwa das in der amerikanischen Kapitalmarkttheorie entwickelte Capital Asset Pricing Model (CAPM) oder das auf Stern/Stewart zurückgehende Mo(allerdings im Gegensatz zur hier vertretenen Auffassung (unten II.2.) c)) von einer inte­ ressenpluralistischen Organverantwortung ausgehend). 32 Hüffer/Koch, § 179 AktG Rz. 33; Stein in MünchKomm. AktG, § 179 AktG Rz. 132; Holzborn in Spindler/Stilz, AktG, 4.  Aufl. 2019, §  179 AktG Rz.  60; Zöllner, a.a.O. (Fn.  28), S. 29 f.; Paefgen, a.a.O. (Fn. 6), S. 54 ff.; ders., a.a.O. (Fn. 2), S. 40; Spindler in FS Hommelhoff, 2012, S. 1133, 1141; a.A. Wiedemann, Gesellschaftsrecht, Bd. I, 1980, S. 156; ders., JZ 1978, 612; Timm, Die Aktiengesellschaft als Konzernspitze, 1980, S. 31 ff. 33 Vgl. Hüffer/Koch, § 3 AktG Rz. 22 (Übergang von erwerbswirtschaftlicher zu gemeinnütziger Tätigkeit „klarer Fall der Zweckänderung“); Paefgen, a.a.O. (Fn. 2), S. 40 Fn. 18; Spindler in FS Hommelhoff, 2012, S. 1133, 1141 f.; Mülbert, AG 2009, 766, 772. 34 Müller-Michaels/Ringel, AG 2011, 101, 112 f.; Schulte-Wintrop, a.a.O. (Fn. 2), S. 165 f.; anders Vorderwülbecke, BB 1989, 505, 509 (Sozialaufwendung immer Gewinnverwendung i. S.v. § 58 Abs. 3 Satz 2 AktG). 35 Zu den in der Unternehmenspraxis zu beobachtenden Erscheinungsformen (Phänotypen) der Ausbalancierung von Aktionärs- und Stakeholder-Interessen Fleischer, AG 2017, 509, 519 f., unter Bezugnahme auf Schumpeter, Business Can and Will Adopt to the Age of Populism, Ecomomist v. 21.1.2017.  36 Spindler, AG 2017, 509, 514; insoweit zutr. auch J. Vetter, ZGR 2018, 338, 372 (keine Geltung für nur klarstellende Klausel); im Ansatz so auch Müller-Michaels/Ringel, AG 2011, 101, 111 f. (allerdings im Gegensatz zur hier (II.2.c)) vertretenen Auffassung von einer interessenpluralistischen Organverantwortung ausgehend). 37 Darauf wird unten II.2. noch näher einzugehen sein; zweifelnd aber Duden in FS Kunze, 1969, S. 127, 139.

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dell des Economic Value Added (EVA).38 Vielmehr handelt es sich bei solchen – und anderen – Shareholder Value-Konzepten um Instrumente des strategischen Finanzmanagements, die dem unternehmerischen Ermessen von Vorstand und Aufsichtsrat unterfallen. Die Befolgung oder Nichtbefolgung derartiger finanzstrategischer Konzepte fällt daher in den Bereich der satzungsfesten unternehmerischen Entscheidungsprärogative von Vorstand und Aufsichtsrat (§§ 76 Abs. 1, 111, 93 Abs. 1 Satz 2, 116 Satz 1, 23 Abs. 5 AktG).39 b) Erwerbswirtschaftliche Zielsetzung und Organverantwortung Von Hommelhoff stammt der treffende Satz: „Eigenverantwortlichkeit ist die unabdingbare Voraussetzung unternehmerischer Gestaltungsfreiheit.“40 Dieser Satz erklärt klipp und klar, warum in der Organisationsverfassung der Aktiengesellschaft die eigenverantwortliche Leitungsmacht des Vorstands, so wie übrigens auch die Überwachungs- und Personalkompetenzen des Aufsichtsrats, als satzungsfeste Kompetenzen ausgestaltet sind (§§ 23 Abs. 5, 76 Abs. 1, 84, 111 Abs. 1 AktG). Es geht dabei um die Befugnis zur Konkretisierung der durch den Unternehmensgegenstand und das erwerbswirtschaftliche Formalziel der Gesellschaft vorgegebenen Zielsetzung (oben II.1.a)) im Wege unternehmerischer Leitungs-, Personal- und Überwachungsentscheidungen. Konkret gefasst heißt das: Bezogen auf die grundsätzlich erwerbswirtschaftliche Zielsetzung der Aktiengesellschaft ist es die Aufgabe der Verwaltungsorgane, das Gesellschaftsinteresse in der jeweils gegebenen unternehmerischen Entscheidungssituation unter Bezugnahme auf die erwerbswirtschaftliche Zielsetzung der Gesellschaft zu artikulieren. Schon lange vor der Kodifikation der deutschen BJR in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG hat Rittner dies in die Worte gefasst: „Der Vorstand darf (und soll) alle möglichen Maßnehmen treffen, die er für die Gesellschaft und ihren Gegenstand als nötig und förderlich ansieht, wobei ihm, seinen kreativen Aufgaben entsprechend, ein hinreichender Spielraum für «trial and error» bleibt.“41 Für den damit angesprochenen Zusammenhang zwischen organisationsrechtlicher Satzungsstrenge und Leitungsermessen der Verwaltungsorgane i.S.d. heutigen Business Judgment Rule hat der BGH schon im „ARAG/Garmenbeck“-Urteil deutliche Worte gefunden: „Die unternehmerische Handlungsfreiheit ist Teil und notwendiges Gegenstück der dem Vorstand … obliegenden Führungsaufgabe.“42 Führt man sich dies 38 Grdl. Zum CAPM Sharpe, Jurnal of Finance 19 (1964), 425  ff.; zum EVA-Modell Stern/ Stewart, The Quest for Value, 1990; Ehrbar, EVA – The Real Way to Creating Wealth, 1998. 39 Ausführlich dazu Paefgen, a.a.O. (Fn.  2), S.  58  ff.; sowie mit ausführlicher Begründung Schulte-Wintrop, a.a.O. (Fn. 2), S. 139 ff.; a.A. wohl J. Vetter, ZGR 2018, 338, 373; grundsätzlich an der Operationalisierbarkeit des Shareholder Value-Ziels zweifelnd Müller-Michaels/ Ringel, AG 2011, 101, 108. 40 Hommelhoff, Die Konzernleitungspflicht, 1982, S. 168 f. 41 Rittner in FS Geßler, 1971, S. 139, 154. 42 BGHZ 135, 244, 254; zu dem hier angesprochenen funktionalen Zusammenhang zwischen satzungsfester Leitungsmacht und BJR s. auch Schlimm, a.a.O. (Fn. 2), S. 93 ff.; Schnieders, a.a.O (Fn.  2), S.  38  ff.; Pfertner, a.a.O. (Fn.  2), S.  19  ff.; wie auch bereits Paefgen, a.a.O. (Fn. 2), S. 99: „Gerade im Bereich fehlender inhaltsrechtlicher Kontrolle liefert die Richtigkeitsgewähr unternehmerischen Handelns ein sachgerechtes Organisationsstatut.“

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vor Augen, so erhellt auch der systematische Zusammenhang der in §§  93 Abs.  1 Satz 2, 116 Satz 1 AktG kodifizierten BJR mit der satzungsfesten Organverantwortung der Verwaltungsorgane: Es geht dem Gesetz um die institutionalisierte Absicherung der Ausübung organisationsrechtlich eingeräumter unternehmerischer Entscheidungsautonomie der Verwaltungsorgane im Wege der Artikulation des Gesellschaftsinteresses durch die gesetzliche Anerkennung unternehmerischen Leitungsermessens.43 c) Zwischenresümee Die vorstehend (II.1.a) und b)) angestellten Überlegungen zusammenfassend kann als Zwischenergebnis Folgendes festgehalten werden. Die rechtliche Struktur der Aktiengesellschaft ist nach ihrem in aller Regel, d.h. mangels einstimmig beschlossener abweichender Satzungsregelung, zur Anwendung gelangenden gesetzlichen Normalstatut durch die erwerbswirtschaftliche Zielsetzung dieser Gesellschaftsform (sog. formales Unternehmensziel) geprägt. Dieses strukturprägende Formalziel bildet die allein- und letztverbindliche Verhaltensvorgabe für den Vorstand bei der satzungsfest vorgeschriebenen eigenverantwortlichen Leitung der Gesellschaft nach unternehmerischem Ermessen i.S.v. §§ 76 Abs. 1, 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, wie auch für den Aufsichtsrat bei der autonomen (§ 111 Abs. 4 Satz 1 AktG) Ausübung von dessen ebenso satzungsfesten Überwachungs- und Personalkompetenzen i.S.v. §  111 Abs.  1 und Abs. 4 Satz 2, § 84 und § 23 Abs. 5 AktG im Rahmen von dessen unternehmerischem Ermessen i.S.v. §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 1 Satz 2 AktG. In der Konsequenz bedeutet das: Beide Verwaltungsorgane haben bei der Ausübung ihres Leitungsermessens im Rahmen ihrer satzungsfesten Kompetenzen das Gesellschaftsinteresse i.S.d. erwerbswirtschaftlichen Formalziels der Aktiengesellschaft zu artikulieren.44 Mit der so bestimmten Pflichtbindung ist die Annahme einer Gemeinwohlbindung i.S. einer allgemeinen, an die Verwaltung der Gesellschaft gerichteten Verhaltensvorgabe, wie sie dem Grundgedanken der CSR entsprechen würde, schlichtweg nicht zu vereinbaren. Diese grundsätzliche Erkenntnis gilt es gegen solche Denkansätze und Interpretationsversuche zu verteidigen, die nicht die Gesellschaft, sondern das von dieser betriebene Unternehmen mit den darauf einwirkenden Stakeholder-Interessen unter Einschluss der mit der Corporate Social Responsibility angesprochenen Gemeinwohlbelange zum Ausgangspunkt für die Bestimmung der organschaftlichen Pflichtbindung der Verwaltung nehmen wollen. Derartige Interpretationsversuche, die hier kollektiv mit 43 Vgl. Roth, a.a.O. (Fn. 2), S. 23 ff.; Pfertner, a.a.O. (Fn. 2), S. 23 f.; Paefgen, AG 2014, 554, 560 f. (zur „eigenverantwortlichen Leitung nach unternehmerischem Ermessen“ i.S.v. §§ 76 Abs. 1, 93 Abs. 1 Satz 2 AktG); zu dem hier zugrunde gelegten, die satzungsfesten Kom­ petenzen von Vorstand und Aufsichtsrat gleichermaßen einbeziehenden funktionalen ­Leitungsbegriff Paefgen, a.a.O. (Fn. 2), S. 9 f.; a.A. Servatius, Strukturmaßnahmen als Unternehmensleitung  – Die Vorstandspflicht bei unternehmerischen Entscheidungen der Hauptversammlung, 2004, S.  82  ff., der aus §  76 Abs.  1 AktG eine Relativierung des erwerbswirtschaftlichen Formalziels der Aktiengesellschaft i.S.d. Sozialschutzgedankens ableiten will; zu Recht krit. gegen Letzteres Schulte-Wintrop, a.a.O. (Fn. 2), S. 147 ff. 44 So treffend Birke, Das Formalziel der Aktiengesellschaft, Diss. Mainz 2005, S. 144 f., 228 ff.

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dem Adjektiv „unternehmensrechtlich“ gekennzeichnet werden sollen, gilt es im Folgenden kritisch in den Blick zu nehmen.45 2. Untauglichkeit „unternehmensrechtlicher“ Ansätze zur Begründung einer allgemeinen, richtlinienartigen organschaftlichen Gemeinwohlbindung Wie im Folgenden näher zu erläutern ist, sind solche „unternehmensrechtlichen“ Ansätze zur Begründung einer organschaftlichen Gemeinwohlbindung mit den strukturprägenden Ziel- und Organisationsvorgaben des AktG (oben II.1.) nicht zu vereinbaren. Sie taugen daher nicht als Grundlage einer Erklärung von Corporate Social Responsibilty auf der Grundlage des geltenden Aktienrechts. a) Unternehmen als Sozialverband oder als Organisation? In seiner berühmten Schrift „Vom Aktienwesen“ hat Walter Rathenau schon früh die Forderung nach Stärkung der Verwaltung der Aktiengesellschaft gegenüber dem „privatinteressierten Partikularismus“ der Aktionäre erhoben. Rathenau ging es dabei allerdings nicht eigentlich um eine Art Gemeinwohlbindung der Verwaltungsorgane i.S.d. „modernen“ Vorstellung von CSR, sondern vielmehr um den Schutz der erwerbswirtschaftlichen Zielsetzung der Gesellschaft als solcher vor den außerhalb der mitgliedschaftlichen Interessengemeinschaft zu lokalisierenden Sonderinteressen einzelner Aktionäre.46 Wie Mestmäcker überzeugend dargetan hat, wirkte Rathenaus Schrift dennoch „zersetzend“, indem sie mit beträchtlicher Folgewirkung in der Gesellschaftsrechtsdoktrin der Vorstellung Platz machte, es genüge die Ersetzung der Mehrheitsherrschaft der Aktionäre durch die Verwaltungsherrschaft, um dem Gesellschaftszweck der AG zum Sieg zu verhelfen.47 So witterte Haussmann bei Rathenau die Gefahr einer Ablösung der Aktiengesellschaft von dem durch deren Verbandszweck artikulierten erwerbswirtschaftlichen Interesse der Aktionäre (vgl. oben II.1.a)) zugunsten „gemeinwirtschaftlicher Ziele“. Daraus entstand das Paradigma vom „Unternehmen an sich“.48 Wie Zöllner treffend bemerkt hat, liegt der wesentliche Schwachpunkt der mit der Theorie vom „Unternehmen an sich“ postulierten Forderung nach Aufgabe des Verbandszwecks der Aktiengesellschaft (vgl. oben II.1.a)) zugunsten des von der Gesellschaft betriebenen Unternehmens als Selbstzweck i.S. einer rechtlichen Verselbständigung des Unternehmens gegenüber der Gesellschaft in der fehlenden verbandsrechtlichen Verankerung dieses Denkansatzes.49 Mit der erwerbswirtschaft45 Ausführlich zu den Theorien von der „unternehmensrechtlichen“ Zweckbindung Paefgen, a.a.O. (Fn. 2), S. 42 ff. 46 Vgl. Netter in FS Pinner, Bd. 3, 1932, S. 654, der treffend formuliert, es sei Rathenau darum gegangen, „den rein kapitalistischen Einfluß so zu lenken, daß er dem Unternehmen, seiner Erhaltung und Ertragsfähigkeit dient“; Paefgen, a.a.O. (Fn. 6), S. 65 f.; Großmann, Unternehmensziele im Aktienrecht, 1980, S. 141 ff. 47 Mestmäcker, Verwaltung, Konzerngewalt und Rechte der Aktionäre, 1958, S. 13 ff.; Immenga, Die personalistische Kapitalgesellschaft, 1970, S. 10 ff. 48 Haussmann, Vom Aktienwesen und vom Aktienrecht, 1928, S. 14 f. 49 Vgl. Zöllner, a.a.O. (Fn. 28), S. 69; Paefgen, a.a.O. (Fn. 6), S. 66 f.

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lichen Zielsetzung der Aktiengesellschaft und deren darauf aufbauenden Organisa­ tionstruktur (oben II.1.) ist es schlichtweg nicht vereinbar, die Pflichtbindung der Verwaltungsorgane der Gesellschaft auf einen i.S.v. CSR dem Gemeinwohl verpflichteten Unternehmensverband zu beziehen, der im Regelungsgefüge des deutschen AktG ganz einfach keinen Platz findet. Die Vorstellung von einem neben oder gar über der Aktiengesellschaft anzusiedelnden Unternehmensverband mit sozialpolitischer Zielsetzung wurde bereits in der Diskussion um die Auswirkungen der Aufsichtsratsmitbestimmung auf die Struktur der AG mit der Theorie vom Unternehmen als Sozialverband in die Diskussion eingeführt.50 Kunze zufolge sollte danach die Aktiengesellschaft als interessenpluralis­ tischer Herrschaftsverband anzusehen sein, der neben den in der Gesellschaft gebündelten Interessen der Aktionäre namentlich auch den Arbeitnehmerinteressen zu dienen bestimmt sei.51 Wiedemann hat dies treffend als „geschickte Ideologie, um jedwede Mitbestimmungsforderung zu begründen“, bezeichnet.52 Nicht zuletzt an der Diskussion um die Einordnung der Aufsichtsratsmitbestimmung in die Einordnung der Ziel- und Organisationsstruktur der deutschen Aktiengesellschaft hat sich gezeigt, dass die Vorstellung von der Aktiengesellschaft als verfasstem Unternehmen – ebenso wie der Gedanke einer organschaftlichen Gemeinwohlbindung von Vorstand und Aufsichtsrat  – ein Zerrbild zeichnet, das jeglicher rechtlichen Begründbarkeit ermangelt.53 Nach der von Th. Raiser entwickelten Theorie vom Unternehmen als Organisation ist das Zielsystem der Aktiengesellschaft als Unternehmensträgergesellschaft unter Zugrundelegung des soziologischen Begriffs der Organisation zu bestimmen. Hauptziel des Unternehmens soll es Th. Raiser zufolge sein, „unter Einsatz rationeller Methoden wirtschaftlich wertvolle Güter oder Dienstleitungen zu produzieren und an andere abzugeben.“54 Legt man dies zugrunde, so wäre der Zweck der Aktiengesellschaft primär in der Erhaltung des von der Gesellschaft betriebenen Unternehmens um seiner selbst willen zu sehen, fern von dem allein dem AktG entsprechenden erwerbs­ wirtschaftlichen Formalziel der Gesellschaft (vgl. oben II.1.a)). Zu diesem Interpre­ tationsansatz hat Ballerstedt, gewiss kein Rechtsgelehrter mit Antipathien gegen „unternehmensrechtliche“ Neuansätze treffend bemerkt, der soziologische Begriff der Organisation werde „im Interesse analytischer Schärfe und weitgehender Verwendbarkeit unter bewusster Vernachlässigung der nur dem konkreten Gebilde eigentüm50 Ballerstedt, JZ 1951, 487 f.; ders., ZHR 135 (1971), 484; v. Nell-Breuning in FS Kronstein, 1967, S. 47 ff., 54 f.; ders. in FS Kunze, 1969, S. 143 ff.; Kunze in FS Duden 1977, S. 201 ff.; ders. in FS Geßler, 1971, S. 47, 49; ders. in FS Schilling, 1973, S. 311; Duden in FS Schilling, 1973, S. 311.  51 Kunze in FS v. Eynern, 1967, S. 189 ff.; ders., Wirtschaftliche Mitbestimmung als Legitimationsproblem, 1970, S. 14; ders., ZHR 144 (1980), 102 ff.; sinngleich auch Th. Raiser in FS R. Fischer, 1979, S. 568. 52 Wiedemann, ZGR 1975, 385, 402. 53 Ausführlich zum Fehlen gesetzlicher Anhaltspunkte für die Begründung der These von der Gesellschaft als verfasstem Unternehmen Paefgen, a.a.O. (Fn. 6), S. 102 ff. 54 Th. Raiser in FS Reimer Schmidt, 1976, S. 101 ff.; gleichsinnig ders., Das Unternehmen als Organisation, 1969, S. 105 ff.

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lichen Merkmale definiert und [könne] aus diesem Grunde für eine umfassende Wesensbestimmung soziologischer oder rechtlicher Art nicht ausreichen.“55 b) § 70 Abs. 1 AktG 1937? Einen Kulminationspunkt hat der auf das Unternehmen im Gegensatz zur Gesellschaft bezogene Ansatz zur Interpretation der Pflichtbindung der Verwaltungsorgane in § 70 Abs. 1 AktG 1937 mit der Bezugnahme auf „das Wohl des Betriebs und seiner Gefolgschaft und de[n] gemeine[n] Nutzen von Volk und Reich“ erreicht. In seiner berühmten Mannheimer Rektoratsrede von 1953 beschrieb Herrmann Krause die Vorschrift als die „endliche Ausformung“ der Lehre vom Unternehmen an sich (vgl. oben II.2.a).56 Auf der gleichen Linie argumentierend kommt Mertens im Wege teleologischer Interpretation der Vorschriften über die satzungsfesten Kompetenzen der Verwaltungsorgane (§§ 76, 84, 111, 119 Abs. 2, 171 f., 23 Abs. 5 AktG) zu der Feststellung, bei der ihm anvertrauten Formulierung der Unternehmenspolitik habe der Vorstand – zu ergänzen wäre der Aufsichtsrat – entsprechend der zwar sprachlich,57 aber nicht der Sache nach überholten Regelung des § 70 Abs. 1 AktG die verschiedenen auf das Unternehmen einwirkenden Interessen der Aktionäre, der Arbeitnehmer und der Öffentlichkeit zum Ausgleich zu bringen; dabei sei der Vorstand, der gemäß §  76 Abs. 1 AktG nicht die Gesellschaft, sondern das von dieser betriebene Unternehmen zu leiten habe, der Bindung an ein nur von den Interessen der Anteilseigner bestimmtes erwerbswirtschaftliches Ziel enthoben.58 Das damit angesprochene plurale Verständnis der Organverantwortung i.S.  einer Pflichtentrias, die auch die Gemeinwohlbindung einschließt, ist im aktienrechtlichen Schrifttum weitgehend auf Zustimmung gestoßen. Zur Begründung der Annahme einer sinngemäßen Weitergeltung der pluralen Pflichtbindung unter der Ägide des neuen § 76 Abs. 1 AktG 1965 wurde auf die amtliche Begründung zu § 73 Abs. 1 RegE AktG 196559 verwiesen, wo zu lesen ist, die § 70 Abs. 1 AktG 1937 entsprechende Bestimmung des § 71 Abs. 1

55 Ballerstedt, ZHR 134 (1970), 251, 258; ders. in FS Duden, 1977, S. 15 ff. S. auch die krit. Stellungnahmen von Rittner, Die erdende juristische Person, 1973, S.  306  f.; ders. in FS Geßler, 1971, S. 139, 151, wo von „seltsamen Theorien, wie etwa der der «Personifikation des Unternehmens»“ die Rede ist; Ulmer, Der Einfluß des Mitbestimmungsgesetzes auf die Struktur von AG und GmbH, 1979, S. 18 f.; Spindler in FS Hommelhoff, 2012, S. 1133, 1144; sowie Paefgen, a.a.O. (Fn. 2), S. 55 f.; ders., a.a.O. (Fn. 6), S. 55.  56 Krause, Unternehmer und Unternehmung: Betrachtungen zur Rechtsgrundlage des Unternehmertums. Rede, gehalten bei der Übernahme des Rektorats am 9.  Dezember 1953, Mannheim 1954, S.13: „Juristisch konstruktiv bleibt der Vorstand ein Organ der Juristischen Person Aktiengesellschaft. In der dahinter stehenden Wirklichkeit war er aus einem Gremium von Funktionären der Aktieninhaber zu einem Organ des Unternehmens geworden. Das Unternehmen als solches hielt als Entstehungsgrund und Quelle von Rechten und Pflichten und als jenseits aller Eigentumsfragen um seiner selbst willen schutzwürdiges Gebilde Einzug in die Rechtsordnung.“ 57 Vgl. Kißkalt, ZAkDR 1934, 20, 30 („Der Vorstand ist der Führer der Aktiengesellschaft.“). 58 Mertens, NJW 1970, 1718 ff.; krit. dagegen Paefgen, a.a.O. (Fn. 6), S. 57 f. 59 Vgl. Kropff, Aktiengesetz, Textausgabe mit Begründung, 1965, S. 97.

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AktG RefE AktG 1958,60 sei nur deshalb gestrichen worden, weil man sie für selbstverständlich hielt.61 Im Aktienrechtsklassiker von Hüffer/Koch ist diesbezüglich noch heute von der „legislativen Ursprungsvorstellung“ die Rede.62 Klar gegen die Annahme einer Ausstrahlungswirkung des alten auf das aktuell geltende Aktienrecht spricht, dass Ministerialdirigent Dr. Geßler, der spiritus rector der Aktienrechtsreform 1965, sich deutlich dagegen ausgesprochen hat.63 Ganz auf dieser Linie liegt es, dass in den Ausschussberatungen ein Änderungsvorschlag in der Form eines § 72a, demzufolge die Gesellschaft das Unternehmen unter Berücksichtigung des Wohls seiner Arbeitnehmer, der Aktionäre und der Allgemeinheit zu betreiben habe, auf Ablehnung stieß.64 Dabei wies der Abgeordnete Dr. Wilhelmi (CDU/CSU) daraufhin, selbstverständlicherweise habe ein Unternehmen „unter Beibehaltung seines normalen Erwerbstrebens“ auch Interessen der Arbeitnehmer und der Gesamtwirtschaft zu berücksichtigen.65 Hält man sich dies vor Augen, so muss eine Ausstrahlungswirkung der Pflichtentrias des § 70 Abs. 1 AktG 1937 auf die Organverantwortung nach geltendem Aktienrecht ausscheiden. Schon deshalb kann festgehalten werden: § 70 Abs. 1 AktG 1937 ist „Schnee von gestern“. Für die Begründung einer gemeinwohlbezogenen Organverantwortung des Vorstands, wie auch des mit dessen Bestellung, Abberufung und Überwachung betrauten Aufsichtsrats kommt dieser Vorschrift keinerlei Relevanz zu.66 Rittner hat dies auf die treffende Formel gebracht, deutlicher als durch die ersatzlose Streichung einer Norm, könne der Gesetzgeber seinen Willen zur Änderung kaum manifestieren.67 60 RefE AktG 1958: „Der Vorstand hat unter eigener Verantwortung die Gesellschaft so zu leiten, wie das Wohl des Unternehmens, seiner Arbeitnehmer und Aktionäre sowie das Wohl der Allgemeinheit es erfordern.“ 61 Vgl. Mertens, NJW 1970, 1718, 1719; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, §  76 AktG Rz. 6 ff.; Ulmer, a.a.O. (Fn. 55), S. 33 ff.; Schilling in FS Geßler, 1971, S. 159, 168; Raisch in FS Hefermehl, 1976, S.  347, 352  f.; Raiser, ZHR 144 (1980), 206, 211; Kunze, ZHR 144 (1980), 100, 120 f.; Immenga, ZGR 1977, 249, 252 f.; w. Nachw. zum älteren Schrifttum bei Paefgen, a.a.O. (Fn. 6), S. 71 in Fn. 101. 62 Hüffer/Koch, § 76 AktG Rz. 30; deutlich anders und erfrischend zutr. dagegen Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 76 AktG Rz. 61: „Nach dem geltenden Aktienrecht ist … als Faktum davon auszugehen, dass eine Gemeinwohlklausel, die für den Vorstand eine allgemeine Richtlinie für die Leitung der Gesellschaft oder für diese eine Richtlinie für das Betreiben des Unternehmens aufstellt, nicht existiert.“ 63 Vgl. BT-Rechtsaussch. , 4. WP, Sten. Prot. 86, S. 27 f.; sowie deutlich und klar Geßler in FS Reinhardt, 1972, S. 237, 242; s. auch Zöllner, a.a.O. (Fn. 28), S. 48 („Der Sinn dieser Bestimmung ist nie so ganz klar geworden.“). 64 Vgl. Kropff, a.a.O. (Fn. 59), S. 97 f. 65 Vgl. BT-Rechtsaussch., 4. WP, Sten. Prot. 86, S. 25; ausführlich zur Ablehnung einer pluralen Organverantwortung im Gesetzgebungsverfahren Paefgen, a.a.O. (Fn. 6), S. 72 ff.; ders., a.a.O. (Fn. 2), S. 46 ff. 66 Vgl. Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 76 AktG Rz. 23, 34 ff., dort deutlich Rz. 37 („fehlende legislatorische Vorprägung“); Vedder in Grigoleit, AktG, 1. Aufl. 2013, § 76 AktG Rz. 15. 67 Rittner in FS Geßler, 1971, S. 139, 142; zust. Geßler in FS Reinhardt, 1972, S. 237, 242; H. Westermann in FS Reinhardt, 1972, S.  S.  359, 365; Wiedemann, ZGR 1975, 385, 423  ff.; Schmidt-Leithoff, Die Verantwortung der Unternehmensleitung, 1989, S.  34  f.; Paefgen,

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Speziell mit Blick auf die im vorliegenden Zusammenhang interessierende Annahme einer die Verwaltungsorgane treffenden Gemeinwohlbindung ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass es nach geltenden Aktienrecht, wie auch schon unter der Geltung von § 70 Abs. 1 AktG 1937, an einer institutionellen Absicherung der Durchsetzung von Gemeinwohlbelangen fehlt. Den „gemeinsamen Nutzen von Volk und Reich“ artikulierende Aufsichtsratsmitglieder schreibt das AktG nicht vor. Auch erwähnt § 84 Abs. 3 Satz 2 AktG als wichtigen Grund für die Abberufung eines Vorstandsmitglieds nur den Vertrauensentzug durch die Aktionäre, auf das Vertrauen von Vertretern des öffentlichen Wohls nach Art von „Reichskommissaren“ oder allein dem Gemeinwohl verpflichteten „Wirtschaftsführern“ kommt es dafür nicht an.68 Die auf dem Bankund Versicherungsaufsichtsrecht gründenden staatlichen Sonderbefugnisse gelten für die gesetzliche Standardform der Aktiengesellschaft nicht. Das Fehlen von Sanktionen wie Schadensersatzansprüchen gegen Organmitgliedern oder staatlichen Abberufungsrechten bei Verletzung von Gemeinwohlbelangen spricht hier gegen eine Gemeinwohlbindung nach dem Muster des § 70 Abs. 1 AktG 1937.69 Nicht zuletzt streitet gegen eine organschaftliche Gemeinwohlbindung nach dem Vorbild von 70 Abs. 1 AktG 1937 auch die Neufassung der Bestimmung über die gerichtliche Auflösung der Aktiengesellschaft durch § 396 Abs. 1 AktG. § 288 Abs. 1 AktG 1937 setzte für die Auflösung noch eine Gefährdung des Gemeinwohls durch Verletzung von Gesetzen oder „die Grundsätze verantwortungsbewußter Wirtschaftsführung“ voraus. Dagegen stellt § 396 Abs. 1 AktG die letztgenannte Voraussetzung nicht mehr auf. Daraus kann gefolgert werden, dass Belange des Gemeinwohls für die Verwaltungsorgane nur dann strikt pflichtbegründend wirken können, wenn diese sich in konkreten gesetzlichen Vorgaben niedergeschlagen haben (Legalitätspflicht!), nicht dagegen über eine Generalklausel nach Art des „Nutzens von Volk und Reich“.70 c) Die Schimäre vom sogenannten „Unternehmensinteresse“ Im aktienrechtlichen Kommentar- und sonstigen Schrifttum ist ganz überwiegend zu lesen, Vorstand und Aufsichtsrat hätten sich bei der Ausübung ihrer Organfunktionen am sog. Unternehmensinteresse zu orientieren.71 Wie § 70 Abs. 1 AktG 1937, so a.a.O. (Fn. 2), S. 50; krit. dagegen J. Vetter, ZGR 2018, 338, 351 f.; Müller-Michaels/Ringel, AG 2011, 101, 106 f. 68 Vgl. H. Westermann in Freundesgabe Vits, 1963, S. S. 251, 260 ff.; Baas, Leitungsmacht und Gemeinwohlbindung der AG, 1976, S. 65; Paefgen, a.a.O. (Fn. 2), S. 47; ders., a.a.O. (Fn. 6), S. 74. 69 H. Westermann in Freundesgabe Vits, 1963, S. 251, 260 ff.; Paefgen, a.a.O. (Fn. 6), S. 70. 70 Vgl. Paefgen, a.a.O. (Fn. 6), S. 74; ders., a.a.O. (Fn. 2), S. 47 f.; J. Vetter, ZGR 2018, 338, 342; Baas, a.a.O. (Fn. 68), S. 74. 71 Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, § 76 AktG Rz. 9 ff., Vorb. § 95 AktG Rz. 12, § 116 AktG Rz. 2 f.; Kort in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 76 AktG Rz. 60 ff.; Hopt/Roth in Großkomm. AktG, § 116 AktG Rz. 34; Habersack in MünchKomm. AktG, § 116 AktG Rz. 10; Hüffer/Koch, § 76 AktG Rz. 36, anders dagegen zum Aufsichtsrat § 116 AktG Rz. 2 (Gesellschaftsinteresse); Seibt in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 76 AktG Rz. 12; Weber in Hölters, AktG, 3.  Aufl. 2017, §  76 AktG Rz.  38; Hambloch-Gesinn/Gesinn in Hölters,

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speist sich auch die damit angesprochene Rechtsfigur ideengeschichtlich aus der Lehre vom Unternehmen an sich (oben II. 2.a) und b)).72 In der höchstrichterlichen Rechtsprechung taucht dieser Begriff im „Bayer“-Urteil des BGH im Zusammenhang mit der Vertraulichkeitspflicht der Aufsichtsratsmitglieder (§ 116 Satz 2 AktG) auf, ohne dort näher definiert zu werden.73 Ein Teil des Schrifttums setzt das Unternehmensinteresse mit dem im Einzelfall von dem erwerbswirtschaftlich geprägten Gesellschaftszweck (formales Unternehmensziel) her zu bestimmenden Gesellschaftsinteresse gleich.74 Das steht im Einklang mit der vorstehend herausgearbeiteten, auf dem erwerbswirtschaftlichen Formalziel der Aktiengesellschaft beruhenden Ziel- und Organisationsstruktur der Gesellschaft (vgl. oben II.1.). Dagegen liegt der im aktienrechtlichen Schrifttum bei weitem überwiegenden Auffassung ein die Gemeinwohlbindung des Organhandelns i.S.d. CSR-Gedankens im Ansatz als selbständige und gleichwertige Zielkomponente einbeziehendes Verständnis der Organverantwortung zugrunde. Danach ist das Unternehmensinteresse interessenplural i.S.d. Einbeziehung gegeneinander abzuwägender Interessen nicht nur der Aktionäre, sondern auch der Arbeitnehmer, des Gemeinwohls, wie auch sonstiger

§ 116 AktG Rz. 13; Wiesner in MünchHdb. GesR, Bd. IV, § 19 Rz. 20; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6.  Aufl. 2014, Rz.  893; Rehbinder in FS Baums, Bd. II, 2017, S. 959, 961. 72 Vgl. Fleischer, AG 2017, 509, 512; Riechers, „Das Unternehmen an sich“, 1996, S.  175  ff. („Das «Unternehmen an sich» als Vorläufer des Unternehmensinteresses“); Teubner, ZHR 149 (1985), 470 (Unternehmensinteresse als „das gesellschaftliche Interesse des Unternehmens an sich.“). 73 BGHZ 64, 325, 329; dazu Rittner in FS Hefermehl, 1976, S. 365; Säcker in FS R. Fischer, 1979, S. 635 ff. In der Rspr. findet sich der Begriff des Unternehmensinteresses auch in der Entscheidung BGHZ 85, 293, 300; sowie in BGHZ 15, 71, 78 (Vorstand nicht allein auf „Belange des Unternehmens als solchen“ verpflichtet, auch zu Loyalität gegenüber den Aktionären); s. dagegen aber BGHZ 89, 48, 57 (Aufsichtsrat in der mitbestimmten GmbH auf das Gesellschaftsinteresse verpflichtet; sowie auch OLG Düsseldorf ZIP 1995, 1183, 1190, wo vom „Gesellschafts- bzw. Unternehmensinteresse“ die Rede ist. Leicht überzogen wohl die Feststellung von Fleischer, AG 2017, 509, 512: „Rechtsprechung und herrschende Lehre gehen von einer Fortgeltung des § 70 Abs. 1 AktG 1937 aus und befürworten eine interessenpluralistische Zielkonzeption.“ 74 Wiedemann, BB 1978, 10 f.; ders., ZGR 1977, 165; ders. in FS Barz, 1974, S. 573 ff.; Rittner in FS Hefermehl, 1976, S. 368 f.; ders. in FS Geßler, 1971, S. 150 ff.; ders., ZHR 144 (1980), 336 f.; Junge in FS von Caemmerer, 1978, S. 547, 554; Werner, ZGR 1977, 237, 241; H. P. Westermann, ZGR 1977, 225, 226; ders. in FS H. Westermann, 1974, S. 571 ff.; Zöllner, a.a.O (Fn. 28), S. 23 ff.; Paefgen, a.a.O. (Fn. 2), S. 38 ff.; ders., a.a.O. (Fn. 6), S. 77 ff.; Hopt/Roth in Großkomm. AktG, § 116 AktG Rz. 34; Vedder in Grigoleit, AktG, § 76 AktG Rz. 18; Schulte-Wintrop, a.a.O. (Fn. 2), S. 36 ff.; Empt, a.a.O. (Fn. 2), S. 126 ff.; deutlich so auch OLG Frankfurt AG 2011, 918, 919 („Bezugspunkt ist die Gesellschaft und nicht der Aktionär, sei er auch der Haupt- oder sogar Alleinaktionär“); das letztgenannte Urteil i.S.d. sogleich im Text abzuhandelnden interessenpluralen Pflichtbindung fehlinterpretierend allerdings Pfertner, a.a.O. (Fn. 2), S. 23.

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Stakeholder (etwa Geschäftskunden) zu verstehen.75 Eine solchermaßen offen definierte Pflichtbindung bringt eine nicht zu unterschätzende Ideologiegefahr mit sich: Dass damit ohne Rücksicht auf die grundsätzlich erwerbswirtschaftliche Ziel- und Organisationsstruktur der Aktiengesellschaft (oben II.1.) gesellschafts- und sozialpolitische Vorstellungen frei nach dem Shakespearschen Motto „Wie es euch gefällt“76 in das Aktienrecht hineingetragen werden können, hat der Streit um den Begriff des Unternehmensinteresses im Kontext der Debatte um den Einfluss des MitbestG 1976 auf die Struktur der Aktiengesellschaft gezeigt.77 Das Schlagwort vom Unternehmens­ interesse zeichnet sich durch eine rationaler Rechtsanwendung abträgliche Offenheit aus, die mit der Einbindung der Verwaltungsverantwortung in die gesellschaftsrechtliche Zweckbindung in Konflikt gerät.78 Das trifft auch im Hinblick auf die Konkretisierung der formalen Diligenzanforderungen nach der BJR (§ 93 Abs. 1 Satz 2, 116 Satz 1 AktG) zu. Denn das aus der BJR folgende Postulat einer sorgfältigen Information und Entscheidungsvorbereitung79 macht für sich allein betrachtet keinen Sinn, wenn man es nicht auf einen konkreten Gesellschaftszweck (formales Unternehmensziel, oben II.1.b)) bezieht. Der Herauslösung der organschaftlichen Pflichtbindung von Vorstand und Aufsichtsrat aus der grundsätzlichen gesellschaftsrechtlichen Zweckbindung der Aktiengesellschaft steht auch ein dem AktG innewohnendes Prinzip der Interesseneinheit entge75 Kort in Großkomm. AktG, § 76 AktG Rz. 52 ff., 65 f.; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, § 76 AktG Rz. 15 ff.; Oltmanns in Heidel, Aktien- und Kapitalmarktrecht, 4. Aufl. 2014, § 76 AktG Rz. 8; Hüffer/Koch, § 76 AktG Rz. 30, 33; Dauner-Lieb in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2019, § 76 AktG Rz. 2, 10; Hopt, ZGR 2002, 333, 360 (Gebot der Herstellung „praktischer Konkordanz“); ders., ZGR 1993, 534, 536 ff.; Fleischer, AG 2017, 509, 514; J. Vetter, ZGR 2018, 338, 367 („Da CSR Ziele gesetzlich anerkannt sind, müssen diese … nicht gesondert ökonomisch gerechtfertigt werden.“); Müller-Michaels/Ringel, AG 2011, 101, 105 ff.; Henze, BB 2000, 209, 212; Fendt, AG 2017, 99 ff. (zur Mitverantwortung des Aufsichtsrats); Spindler, Unternehmensinteresse als Leitlinie des Vorstandshandelns, Berücksichtigung von Arbeitnehmerinteressen und Shareholder Value, Gutachten im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung, 2008, S. 19; Pfertner, a.a.O. (Fn. 2), S. 22 f., unter Bezugnahme auf BGHZ 135, 244, 245 (unternehmerische Handlungsfreiheit als „Teil und notwendiges Gegenstück der dem Vorstand … obliegenden Führungsaufgabe“); Roth, a.a.O. (Fn.  2 ), S. 23 ff.; Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 6. Aufl. 2015, § 14 Rz. 12; aus der Rspr. s. BGHSt 47, 187, 195 (Utz Claassen/SSV Reutlingen) m. Bespr. Säcker, BB 2009, 282, 284.  76 Günther (Hrsg.), William Shakespeare: Wie es euch gefällt, Zweisprachige Ausgabe, 2. Aufl. 2014, 5. Akt, 1. Szene/Touchstone: “The fool doth think he is wise, but the wise man knows himself to be a fool.”/ „Der Narr hält sich für weise, aber der Weise weiß, dass er ein Narr ist.“ 77 Vgl. Paefgen, a.a.O. (Fn. 6), S. 78 f.; ders., a.a.O. (Fn. 2), S. 43; sowie Ulmer, a.a.O. (Fn. 55), passim. 78 Treffend dazu Zöllner; AG 2000, 145, 146 f. („Argumentation von der Ausrichtung der Verwaltung auf das Unternehmensinteresse, die schon immer verkehrt war, weil sich das ­Unternehmensinteresse weder dem Träger noch dem Inhalt nach sinnvoll konkretisieren lässt“); ders., AG 2003, 2, 8; Fleischer, AG 2001, 171, 177; Mülbert, AG 2009, 766, 772 (“carte blanche”); Empt, a.a.O. (Fn. 2), S. 170 f. (Warnung vor Auflösung der Vorstandsverantwortung). 79 Vgl. Paefgen in Großkomm. GmbHG, 2. Aufl. 2014, § 43 GmbHG Rz. 110.

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gen, das sich in der Verzahnung, Überlappung und teilweisen Funktionsidentität der Kompetenzen von Vorstand, Aufsichtsrat und Hauptversammlung manifestiert.80 So sehen §§ 111 Abs. 4 Satz 3 und 4 AktG vor, dass die Hauptversammlung über funktional im Bereich von Vorstand und Aufsichtsrat angesiedelte Fragen beschließt, und Ähnliches bestimmen §§ 173, 234 Abs. 2 Satz 1 AktG bezüglich der Feststellung des Jahresabschlusses. Ein Beschluss der Hauptversammlung führt zum Ausschluss von Ersatzansprüchen der Gesellschaft gegen Organmitglieder (§ 93 Abs. 4 Satz 1 und 3 AktG) und ein Misstrauensvotum der Hauptversammlung liefert einen wichtigen Grund zur Abberufung des Vorstands (§ 84 Abs. 3 Satz 2 AkG). Bei der Aufnahme genehmigten Kapitals kann die Verwaltung über die Bedingungen der Aktienausgabe einschließlich des Ausschusses des Bezugsrechts nur entscheiden, soweit die Hauptversammlung dazu nichts Gegenteiliges bestimmt (§ 204 Abs. 1 Satz 1 AktG). Eine Verselbständigung der Leitungspflichten von Vorstand und Aufsichtsrat, wie sie in der Verpflichtung auf ein vom Gesellschaftszweck abgelöstes „Unternehmensinteresse“ zum Ausdruck käme, ist mit diesen Kompetenzverzahnungen nicht vereinbar.81 Schließlich und vor allem steht der Annahme einer interessenpluralistischen Pflichtbindung der Verwaltung auch entgegen, dass das AktG die Organhaftung nach §§ 93, 116 Satz 1 AktG nicht „unternehmensrechtlich“ i.S.d. Beziehung auf einen die Gesellschaft transzendierenden, neben den Aktionären noch weitere Interessenträger einbeziehenden Unternehmensverband regelt. Organhaftungsansprüche sind vielmehr allein auf die Gesellschaft konzentriert.82 Auch gesteht das Gesetz in den Regelungen zur Sonderprüfung (§§ 142 ff. AktG) und zur Aktionärsklage (§§ 147 ff. AktG) Prüfungs- und Klagemöglichkeiten zur Geltendmachung solcher Ansprüche allein den Aktionären und nicht etwa noch weiteren Stakeholdern zu. Wer mit der Kodifizierung von Unternehmenszielbestimmungen einen besseren Stakeholder-Schutz erreichen will, müsste aber, so treffend Fleischer, wohl insoweit auch den Stakeholdern Befugnisse einräumen.83 Das wurde oben mit Bezug auf die Förderung von Gemeinwohlbelangen durch Vertreter des öffentlichen Interesses bereits angesprochen.84 Nimmt man die vorstehenden Überlegungen zusammen, so erweist sich die Formel vom Unternehmensinteresse als bloße Schimäre, ein Trugbild oder Hirngespinst, das für die Bestimmung der aktienrechtlichen Pflichtbindung von Vorstand und Aufsichtsrat nichts an Erkenntnis hergibt. Es kann deshalb nur verwirren, wenn in Abs. 2 der Präambel zum DCGK zu lesen ist: „Der Kodex verdeutlicht die Verpflichtung von 80 Zum Folgenden Paefgen, a.a.O. (Fn. 2), S. 44 ff., mit weiteren Argumenten, die für das Prinzip der Interesseneinheit streiten; ders., a.a.O. (Fn. 6), S. 81 ff.; Schilling in FS Geßler, 1971, S. 159 ff.; Birke, a.a.O. (Fn. 44), S. 148 ff. 81 Vgl. Paefgen, a.a.O. (Fn. 2), S. 46; a.A. Raisch in FS Hefermehl, 1976, S. 347, 363. 82 Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, § 93 AktG Rz. 3 (allg.M.); Fleischer, ZGR 2004, 437, 443 (Grundsatz der Haftungskonzentration als Strukturprinzip des europäischen Gesellschaftsrechts). 83 Fleischer, AG 2017, 509, 514 (zum Fehlen von Stakeholder-Klagebefugnissen mit rechtsvergleichenden Nachw. zum US-amerikanischen und englischen Recht); ders., ZGR 2017, 411, 425; zu Sonderprüfungs- und Klagebefugnissen auch bereits Paefgen, a.a.O. (Fn. 2), S. 51; ders., a.a.O. (Fn. 6), S. 119; Rittner, JZ 1980, 113, 117 einschl. Fn. 55.  84 Vgl. oben II.2.b) bei Fn. 68.

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Vorstand und Aufsichtsrat, im Einklang mit den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft für den Bestand des Unternehmens und seine nachhaltige Wertschöpfung zu sorgen (Unternehmensinteresse).“85 d) CSR kraft Sozialbindung des Eigentums? Es bleibt zu klären, ob die Sozialbindung des Eigentums (Art. 14 Abs. 2 GG) zur Begründung einer Verantwortung der Verwaltungsorgane bzw. der Aktiengesellschaft als solcher i.S.v. CSR herangezogen werden kann.86 Für die Beantwortung dieser Frage ist davon auszugehen, dass jede Konkretisierung der Sozialbindung des Eigentums dem Verfassungsgrundsatz des Gesetzesvorbehalts unterliegt (Art.  20 Abs.  3 GG). Wie vorstehend (II.1. und 2.a) bis c)) ausgeführt wurde, haben aber der Verbandszweck der Aktiengesellschaft und die durch §§ 76, 93 Abs. 1 Satz 2, 111, 119, 23 Abs. 5 AktG errichtete Kompetenzordnung das Aktieneigentum nicht i.S.  einer interessenpluralistischen Leitungsverantwortung der Verwaltung ausgestaltet, sondern im Sinne einer Ausrichtung auf das vom erwerbswirtschaftlichen formalen Unternehmensziel der Gesellschaft (oben II.1.a)) her zu konkretisierende Gesellschaftsinteresse. Wie die vorstehenden Betrachtungen erwiesen haben, lässt sich einer Gesamtschau dieser Regelungen ein Prinzip interessenpluraler Organverantwortung der Verwaltung i.S. einer als allgemeine Organpflicht zu verstehenden Corporate Social Responsibility gerade nicht entnehmen. Eine gesetzliche Konkretisierung der Sozial­ bindung, welche die Aktiengesellschaft als solche einer interessenpluralen, das Gemeinwohl in sich einbegreifenden Verhaltensvorgabe unterwerfen würde, hat der Gesetzgeber bei der Aktienrechtsreform 1965 zwar erwogen, letztlich aber nicht verabschiedet.87 Mit der Sozialbindung des Aktieneigentums lässt sich nach Allem weder eine unmittelbare Bindung der Verwaltungsorgane der Aktiengesellschaft i.S.v. CSR, noch auch eine über die Einhaltung der allgemeinen Gesetze (Legalitätspflicht!) hi­ nausgehende CSR-Verantwortung der Aktiengesellschaft als juristischer Person wie auch ihrer Verwaltungsorgane begründen.88

85 Bekanntmachung der Neufassung des DCGK im Bundesanzeiger v. 24.4.2017.  Fleischer, ZGR 2017, 411, 417, bemerkt treffend, damit werde eine „keineswegs unumstrittene Lehre wiedergegeben“; ähnlich Windbichler, Gesellschaftsrecht, 23. Aufl. 2013, die von einer vertretbaren, wenn auch nicht zwingenden Auslegung spricht; positiv dagegen die Bewertung durch Müller-Michaels/Ringel, AG 2011, 101, 107 einschl. Fn. 86. 86 So Rittner in FS Geßler, 1971, S. 139, 145 ff.; H. Westermann in Freundesgabe Vits, 1963, S. 251 ff.; Schmidt-Leithoff, a.a.O. (Fn. 67), S. 155 ff.; Großmann, a.a.O. (Fn. 46), S. 161 f.; Th. Raiser, Die Verantwortlichkeit von Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern einer Aktiengesellschaft, in Kießler (Hrsg.), Unternehmensverfassung, Recht und Betriebswirtschaftslehre, 1982, S. 39 ff.; Schulte-Wintrop, a.a.O. (Fn. 2), S. 153 ff.; Winnen, Die Innenhaftung des Vorstandes nach dem UMAG, Diss. Köln 2009, S. 236.  87 Vgl. oben II.2.b). 88 Vgl. Paefgen, a.a.O. (Fn. 2), S. 53 ff.; gleichsinnig Fleischer, AG 2017, 509, 511; J. Vetter, ZGR 2018, 338, 341; Müller-Michaels/Ringel, AG 2011, 101, 106; Empt, a.a.O. (Fn.  2), S.  140; Schulte-Wintrop, a.a.O. (Fn. 2), S. 161 f.; Birke, a.a.O. (Fn. 44), S. 190 ff.

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3. Zwischenergebnis Als Zwischenergebnis der vorstehenden Überlegungen kann festgehalten werden: Dem AktG lässt sich keine generalklauselartige Richtlinienbestimmung entnehmen, kraft derer die Verwaltungsorgane bzw. die Aktiengesellschaft als juristische Person einer über das organschaftliche Legalitätsprinzip hinausgreifenden Gemeinwohlverantwortung unterstellt werden.

III. Zur Bedeutung der europäischen CSR-Richtlinie Fraglich ist, ob sich aus der europäischen CSR-Richtlinie bzw. deren deutscher Umsetzung in in den §§ 289b bis 289e und §§ 315b bis 315d HGB Ansatzpunkte für eine Pflichtbindung der Verwaltungsorgane deutscher Aktiengesellschaften i.S.v. CSR ableiten lassen.89 Mit dem Ziel, die Entstehung einer nachhaltigen globalen Wirtschaft zu fördern, sieht die Richtlinie eine Berichterstattung bestimmter großer Unternehmen über sog. nichtfinanzielle Informationen vor (Art. 19a). Diese Berichtspflicht soll dazu dienen, die Auswirkungen der Tätigkeit solcher Unternehmen auf die Gesellschaft zu messen, zu überwachen und zu handhaben (ErwGr 3).90 Der deutsche Gesetzgeber hat die Richtlinie durch das CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz vom 11. April 2017 eins zu eins in den §§ 289b bis 289e und §§ 315b bis 315d HGB in nationales Recht umgesetzt.91 § 289b HGB schreibt die Erweiterung des Lageberichts um eine sog. nichtfinanzielle Erklärung vor. Die nichtfinanzielle Erklärung hat sich nach einer kurzen Beschreibung des Geschäftsmodells der Gesellschaft (§ 289c Abs. 1 HGB) auf folgende Aspekte zu beziehen: Umweltbelange, Arbeitnehmerbelange, Sozialbelange, die Achtung der Menschenrechte sowie die Bekämpfung von Korruption und Bestechung (§ 289b Abs. 2 und 3 HGB).92 Wenn die Gesellschaft in Bezug auf diese Aspekte und deren Bedeutung und Umsetzung in der Unternehmenspraxis kein Konzept verfolgt, hat sie dies gemäß § 289b Abs. 4 HGB in der nichtfinanziellen Erklärung klar und begründet zu erläutern (sog. Comply or Explain). § 289d Satz 1 HGB erlaubt den Unternehmen, für die Erstellung der Erklärung auf nationale, europäische und internationale Rahmenwerke und Kodizes Bezug zu nehmen.93 89 Richtlinie 2014/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22.10.2014 zur Änderung der Richtlinie 2013/34/EU im Hinblick auf die Angabe nicht finanzieller und die Diversität betreffender Informationen durch bestimmte große Unternehmen und Gruppen, ABl. EU L 330 v. 15.11.2014, S. 1.  90 Ausführliche Darstellung des Richtlinieninhalts bei; Rehbinder in FS Baums, Bd. II, 2017, S. 959 ff. 91 BGBl. I 2017, 802; dazu Richter/Johne/König, WPg 2017, 566; Böcking/Althoff, Der Konzern 2017, 246; Meeh-Bunse/Hermeling/Schomaker, DStR 2017, 1127; Roth-Mingram, NZG 2015, 1341 ff. 92 Die gesetzliche Aufzählung ist nicht abschließend; zu weiteren Aspekten Hennrichs, ZGR 2018, 206, 211 ff., der a.a.O., 214 auch die Bedeutung der Stakeholder-Erwartungen hinsichtlich des Berichtsinhalts betont. 93 Zu den verschiedenen in der Praxis anzutreffenden CSR-Instrumenten Spießhofer, a.a.O. (Fn.  2), S.  61  ff.; dies. in Hauschka/Moosmayer/Lösler, Corporate Compliance, 3.  Aufl.

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Hommelhoff ist der Ansicht, die unionsrechtlichen Vorgaben zur nichtfinanziellen CSR-­Berichterstattung zielten auf eine Veränderung des Unternehmenszwecks der betroffenen Gesellschaften ab und erweiterten damit die organschaftlichen Pflichtbindungen von Vorstand und Aufsichtsrat i.S.d. Verpflichtung, die in der CSR-Richtlinie angesprochenen nichtfinanziellen Ziele (Achtung der Menschenrechte, Umweltschutz, Korruptionsbekämpfung etc.) bei der Ausübung des unternehmerischen Ermessens (§§ 93 Abs. 1 Satz 2, 116 Satz 1 AktG, BJR) gegen die erwerbswirtschaftliche Zielsetzung der Gesellschaft abzuwägen.94 Dem wird treffend entgegengehalten, der durch die Richtlinie vorgegebenen bloßen Berichtspflicht lasse sich die unionsrechtliche Verpflichtung zur Einführung einer geänderten Unternehmenszielbestimmung der deutschen Aktiengesellschaft i.S.d. Ausrichtung auf eine CSR-Pflichtbindung durch die Hintertür des Rechnungslegungsrechts nicht entnehmen.95 Gegen den von Hommelhoff aus dem Unionsrecht herausgelesenen tiefgreifenden Eingriff in die Struktur der deutschen Aktiengesellschaft (vgl. oben II.1.) spricht ausschlaggebend, dass der deutsche Gesetzgeber sich in §  289b Abs.  4 HGB auf eine Comply or Explain-Regelung beschränkt hat.96 Die Forderung nach einer Änderung der in §§ 76 Abs. 1, 93, 116 Satz 1 AktG geregelten Organverantwortung und -haftung von Vorstand und Aufsichtsrat i.S.d. Ausweitung auf eine CSR-Pflichtbindung wurde von Hommelhoff bereits bezüglich des Entwurfs eines CSR-Umsetzungsgesetzes vergebens vorgetragen.97 Auch stehen rechtspolitische Vorschläge der SPD und des Bündnisses90/Die Grünen im Raum, die in diese Richtung zielen.98 Jedoch macht die die Comply or Explain-Lösung des § 289b Abs. 4 HGB deutlich, dass die damit verbundenen tiefen Eingriffe in die Ziel- und Organisationsstruktur der Aktiengesellschaft einstweilen nur ein rechtspolitisches Postulat zum Ausdruck bringen. Zwar bewirkt die in § 293c HGB grundsätzlich vorgegebene CSR-Berichtspflicht zweifellos eine mittelbare Verhaltenssteuerung in dem Sinne, dass sie Verwaltung zwingt, sich überhaupt mit der CSR-Frage zu beschäftigen.99 Das darf jedoch nicht mit einer ge2016, Rz. 37 ff.; Mullerat (Hrsg.), Corporate Social Responsibilty. The Corporate Governance of the 21st Century, 2nd Ed. 2011, S. 177 ff. 94 Hommelhoff in FS v. Hoyningen-Huene, 2014, S. 137, 140 ff. (Hinwendung des europäischen Gesetzgebers zum Stakeholder-Ansatz); ders. in FS Kübler, 2015, S. 291 f., 298.; ders., NZG 2015, 1329, 1330; s. auch Seibert, AG 2015, 593, 596, der im Hinblick auf die CSR-Verantwortung ebenfalls von einer „Hinwendung zum Stakeholder-Ansatz“ spricht. 95 Schön, ZHR 180 (2016), 279, 287 f.; Fleischer, AG 2017, 509, 522; Bachmann, ZGR 2018, 231, 235 f., 259 f.; Hüffer/Koch, § 76 AktG Rz. 35d; Spießhofer, a.a.O. (F. 9), S. 61, 70; krit. auch Weller/Thomale, ZGR 2017, 509, 518 (lediglich Selbstverpflichtung der Unternehmen i.S. einer bloßen Bemühensverpflichtung); Weller/Hübner/Kaller, a.a.O. (Fn. 18), S. 247 ff. (bloße obligation de moyens); sinngleich Weller/Kaller/Schulz, AcP 216 (2016), 387, 410 ff.; Roth-Mingram, NZG 2015, 1341, 1343 f. 96 Vgl. Verse/Wiersch, EuZW 2016, 330, 334; Fleischer, Hüffer/Koch, jeweils a.a.O (Fn. 95). 97 Hommelhoff in FS v. Heuningen-Huene, 2014, S. 137, 144. 98 Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis90/Die Grünen zur Änderung des Aktiengesetzes v. 28.11.2012, BT-Drucks. 17/116868 (zu § 93 AktG); Gesetzentwurf der SPD-Fraktion zur Angemessenheit von Vorstandsvergütungen und zur Beschränkung der steuerlichen Absetzbarkeit vom 20.2.2017, S. 6 (zu § 76 AktG); dazu Fleischer, ZGR 2017, 411, 417 f. 99 So durchaus zutr. Hennrichs, ZGR 2018, 206, 209; ausführlich zur Verantwortung des Aufsichtsrats bezüglich der CSR-Berichterstattung E. Vetter in FS Marsch-Barner, 2018, S. 559 ff.

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setzlichen Pflichtbindung i.S. einer allgemeinen Verhaltensrichtlinie verwechselt werden. Gleiches muss auch für den Versuch gelten, aus der in der Begründung zum CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz zum Ausdruck kommenden Erwartungshaltung des Gesetzgebers im Hinblick auf eine CSR-konforme Unternehmensführung eine entsprechende Pflichtbindung der Verwaltungsorgane ableiten zu wollen.100 An einem unionsrechtlichen Gesetzgebungsakt zur Harmonisierung des Aktienrechts in seinen strukturellen Grundzügen (Zweck und Gegenstand der Gesellschaft, Organstruktur, Leitungskompetenzen und und Organhaftung), wie sie die organschaftliche Verpflichtung zur Corporate Social Responsibilty voraussetzen würde, fehlt es bislang.101 Wollte man überhaupt aus Berichtspflichten Rückschlüsse auf die organschaftliche Pflichtbindung ziehen, so erscheint dem Verfasser der Verweis auf die genuin gesellschaftsrechtliche Vorschrift des § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AktG angebrachter, wo von der Pflicht des Vorstands die Rede ist, dem Aufsichtsrat über die „Rentabilität der Gesellschaft, insbesondere die Rentabilität des Eigenkapitals“ zu berichten. Nach Allem lassen sich der europäischen und deutschen Gesetzgebung zur CSR-Rechnungslegung keine Anhaltspunkte für die Ausgestaltung der organschaftlichen Pflichtbindung von Vorstand und Aufsichtsrat i.S. einer allgemeinen Ausrichtung auf eine Corporate Social Responsibilty entnehmen.

IV. Zusammenfassung Kann, wie gerade ausgeführt wurde, eine die genuin aktienrechtliche Pflichtbindung von Vorstand und Aufsichtsrat transzendierende Pflichtbindung i.S.v. CSR aus der CSR-Richtlinie und deren deutscher Umsetzung nicht abgeleitet werden (vorstehend III.), so kommt als Ableitungsgrundlage für die Etablierung von CSR-bezogenen Pflichten der Verwaltungsorgane allein deren rein aktienrechtlich determinierte Leitungs- und Sorgfaltspflicht in Frage.102 Damit ist die Dichotomie der aktienrechtlichen Organverantwortung und -haftung angesprochen, wie sie in der Legalitätspflicht einerseits und der in §  93 Abs.  1 Satz 2 AktG kodifizierten BJR andererseits zum ­Ausdruck kommt.103 Die von Spießhofer unter dem Gesichtspunkt der Corporate ­Social Responsibility (CSR) angesprochene „unternehmerische Verantwortung“104 ­erweist sich damit sub specie des Aktienrechts als Frage der Einordnung gesetzlicher und untergesetzlicher CSR-Bindungen in das aus der Legalitätspflicht und der Business Judgment Rule (§§ 93 Abs. 1 Satz 2, 116 Satz 1 AktG) bestehende dichotome System der aktienrechtlichen Organverantwortung.105 100 So aber J. Vetter, ZGR 2018, 338, 354  f., unter Bezugnahme auf Begr. RegE CSR-RiLiUmsG, BT-Drucks. 19/9982, S. 1. 101 Dies zu Recht betonend Schön, ZHR 180 (2016), 279, 287. 102 Vgl. Hüffer/Koch, § 76 AktG Rz. 35d. 103 Zur Dichotomie von Legalitätspflicht einerseits und unternehmerischem Ermessen nach der BJR andererseits Paefgen, AG 2014, 554 556 ff.; ders., WM 2016, 433, 435 f.; Goette in FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 123, 130 ff.; Lutter, GmbHR 2000, 306 ff.; Kindler, ZHR 162 (1998), 103 ff.; M. Roth, a.a.O. (Fn. 2), S. 222 ff.; Paefgen, a.a.O. (Fn. 2), S. 17 ff. 104 Vgl. oben I.2. bei Fn. 15. 105 Im Einzelnen dazu Paefgen in FS K. Schmidt zum 80. Geburtstag, Bd. II, 2019, S. 105 ff.

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GmbH-rechtlicher Beteiligtenschutz beim stufenübergreifenden Unternehmensvertrag Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Beteiligtenschutz auf der Ebene der ­Enkelgesellschaft 1. Gläubiger- und Minderheitenschutz durch Verlustübernahme und Pflicht zur Sicherheitsleistung a) Zwingende Verlustübernahmepflicht b) Gläubiger- und Minderheitenschutz durch Verlustübernahme 2. Grundsätzlich keine Ausgleichs- und ­Abfindungspflicht a) Supermarkt-Beschluss des BGH b) Analogie zu §§ 293, 294 AktG statt Analogie zu §§ 53, 54 GmbHG c) Folgerung: Keine Ausgleichs- oder Abfindungspflicht d) Ausnahmen III. Beteiligtenschutz auf der Ebene der Tochtergesellschaft 1. Keine analoge Anwendung von § 293 Abs. 1, 2 AktG 2. Beteiligung der zwischengeschalteten Tochtergesellschaft a) Stimmrecht der Tochtergesellschaft b) Keine sonstige Einschränkung der ­Beteiligungsrechte der Tochtergesellschaft

3. Gesellschafterbeschluss als (internes) ­Erfordernis bei der Tochtergesellschaft a) Notwendigkeit eines Gesellschafter­ beschlusses b) Stimmrecht der Muttergesellschaft? 4. Kein eigenständiger Gläubigerschutz IV. Beteiligtenschutz auf der Ebene der ­Muttergesellschaft 1. Meinungsstand zum Beschlusserfordernis a) Kein Zustimmungserfordernis wegen Strukturänderung b) Zustimmungserfordernis analog § 293 Abs. 2 AktG 2. Stellungnahme a) Fehlende Überzeugungskraft der ­gegen das Zustimmungserfordernis vorgebrachten Gründe b) Ergänzende Absicherung des Zustimmungserfordernisses V. Zusammenfassung der wichtigsten ­Ergebnisse 1. Beteiligtenschutz auf Ebene der Enkel­ gesellschaft 2. Beteiligtenschutz auf Ebene der Tochtergesellschaft 3. Beteiligtenschutz auf Ebene der Muttergesellschaft

I. Einleitung Das Aktienrecht regelt zum Recht der verbundenen Unternehmen (§§ 15 ff., 291 ff. AktG) nahezu ausschließlich einstufige Unternehmensverbindungen, also faktische oder vertragliche Unternehmensverbindungen, an denen lediglich ein übergeordnetes (Mutter-)Unternehmen und ein untergeordnetes (Tochter-)Unternehmen beteiligt sind. Mehrstufige Unternehmensverbindungen, an denen also zusätzlich noch ein weiteres (Enkel-)Unternehmen beteiligt ist, werden nur vereinzelt angesprochen. So spricht die Zurechnungsbestimmung des § 16 Abs. 4 AktG davon, dass als Anteile, die 653

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einem Unternehmen an einem anderen gehören, auch solche Anteile gelten, die einem von ihm abhängigen Unternehmen gehören. Die Definitionsnorm des §  17 Abs. 1 AktG bestimmt, dass ein abhängiges Unternehmen auch ein solches ist, auf das ein anderes Unternehmen, das herrschende, „mittelbar einen beherrschenden Einfluss ausüben kann“. Für wechselseitig beteiligte Unternehmen findet sich eine entsprechende Regelung in § 19 Abs. 2 und 3 AktG. Für die Ausübung des Stimmrechts durch Kreditinstitute und geschäftsmäßig Handelnde enthält § 135 Abs. 3 Satz 4 AktG eine Regelung zur mittelbaren Beteiligung. Für die aufgrund eines Unternehmensvertrags bzw. einer Eingliederung zu leistende Abfindung bestimmen §§ 305 Abs. 2 Nr. 2, 320b Abs. 1 Satz 3 AktG, dass die Abfindung entweder in Form von Aktien des den anderen Vertragsteil bzw. die Hauptgesellschaft beherrschenden / an ihm mit Mehrheit beteiligten Unternehmens oder in bar anzubieten ist, bei der Eingliederung nach Wahl des ausgeschiedenen Aktionärs. Die in der Praxis weit verbreitete mehrstufige Unternehmensverbindung1 hat außerhalb dieser Bestimmungen keine ausdrückliche Regelung erfahren. Die Gründe hierfür sind unklar.2 Schon überhaupt nicht findet sich eine gesellschaftsrechtliche Kodifizierung der hiermit verbundenen Rechtsfragen bei der GmbH. Vielmehr gilt auch insoweit, dass diese unter Heranziehung allgemeiner Grundsätze und Analogien zum Aktienrecht zu beantworten sind.3 Dass dieses Instrumentarium auch genügt, soll im Nachstehenden anhand eines stufenübergreifenden Unternehmensvertrags, also eines solchen zwischen einer Mutter- und einer Enkelgesellschaft, jeweils in der Rechtsform der GmbH, nachgewiesen werden. Die Darstellung kann sich dabei auf ein zweistufiges Modell von Mutter-, Tochter- und Enkelgesellschaft beschränken. Denn aus diesem Modell lassen sich im Wesentlichen auch die Grundsätze für drei- und höherstufige Unternehmensverbindungen ableiten.4 Im Rahmen dieses zweistufigen Modells empfiehlt es sich, in einem ersten Schritt zunächst mit den Rechtsverhältnissen auf der Ebene der Enkelgesellschaft zu be­ ginnen. Dieser Aufbau ergibt sich daraus, dass die bei der Enkelgesellschaft geltenden Schutzbestimmungen Auswirkungen auch auf die Ebene der Tochtergesellschaft haben. In einem zweiten Schritt sind sodann die auf der Ebene der Tochterge­sellschaft geltenden Schutzmechanismen zu untersuchen und in einem dritten Schritt ist auf der Grundlage dieser Ergebnisse auf die Ebene der Muttergesellschaft einzugehen.

1 Zum Begriff Pentz, Die Rechtsstellung der Enkel-AG in einer mehrstufigen Unternehmensverbindung, 1994, S. 18 ff. 2 Vgl. hierzu Pentz, Die Rechtsstellung der Enkel-AG in einer mehrstufigen Unternehmensverbindung, 1994, S. 17.  3 Vgl. statt anderer nur Maul in Gehrlein/Born/Simon, GmbHG, 4. Aufl., Anh. Konzernrecht Rz. 1 ff., 11 ff., 52 ff. 4 Koppensteiner in KölnKomm. AktG, 3. Aufl., § 291 Rz. 69. 

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II. Beteiligtenschutz auf der Ebene der Enkelgesellschaft 1. Gläubiger- und Minderheitenschutz durch Verlustübernahme und Pflicht zur Sicherheitsleistung a) Zwingende Verlustübernahmepflicht Als auf der Ebene der vertraglich unterworfenen Gesellschaft dem Schutz der Beteiligten dienende Normen sind zunächst § 302 Abs. 1 AktG sowie seine „Verlängerung“ durch § 303 AktG zu nennen. Dass die Bestimmungen analog auch im GmbH-Recht anwendbar sind, entspricht der einhelligen Auffassung in Rechtsprechung5 und Li­ teratur6 und ergibt sich zudem seit dem 1.11.2008 mittelbar aus § 30 Abs. 1 Satz 2 GmbHG. Denn die dortige Suspendierung der Kapitalerhaltung „bei Bestehen eines Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrags (§ 291 des Aktiengesetzes)“ findet ihre materielle Grundlage in der analogen Anwendung der §§ 302, 303 AktG in diesen Fällen. Dass die Formulierung über das Gebotene insoweit hinausgeht, als es seither allein auf das Bestehen eines Unternehmensvertrags und damit anders als nach § 291 Abs. 3 AktG aF nicht mehr auf eine Leistung „auf Grund eines Beherrschungsoder eines Gewinnabführungsvertrags“ ankommt,7 ist insofern ohne Bedeutung. b) Gläubiger- und Minderheitenschutz durch Verlustübernahme Die Verlustübernahmepflicht des § 302 Abs. 1 AktG dient, was häufig übersehen wird, nicht allein dem Gläubigerschutz in dem Sinne, dass die Bestimmung einen konzernspezifischen Ersatz der durch § 291 Abs. 3 AktG außer Kraft gesetzten Kapitalerhaltungsregeln darstellt. Entwicklungsgeschichtlich ist die in der Praxis vorgefundene und bereits in § 278 RefE AktG enthaltene Verlustübernahme älter als die (durch das MoMiG umformulierte)8 Freistellung des § 291 Abs. 3 AktG, die erst in § 280 Abs. 3 RegE AktG enthalten war und einen steuerrechtlichen und klarstellenden Hintergrund hatte.9 Der Schutzbereich der Norm geht deutlich weiter und erstreckt sich auch auf die außenstehenden Aktionäre als die vom Bestehen eines Unternehmensvertrags aufgrund ihrer Beteiligung an der Gesellschaft mittelbar betroffene Minderheit. Indem die Vorschrift auf den „während der Vertragsdauer sonst entstehenden 5 BGH NJW 1980, 232; BGHZ 168, 285, 288 = NJW 2006, 3279. 6 Statt anderer Beurskens in Baumbach/Hueck, GmbHG, 21.  Aufl., Anh.  GmbH-Konzernrecht Rz. 21; Maul in Gehrlein/Born/Simon, GmbHG, 4. Aufl., Anh. Konzernrecht Rz. 25; Habersack in Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, 2. Aufl., § 30 Rz. 85; Pentz in Rowedder/ Schmidt-Leithoff, GmbHG, 6. Aufl., § 30 Rz. 60; Verse in Scholz, GmbHG, 12. Aufl., § 30 Rz. 72.  7 Krit. hierzu bereits Pentz, Status:Recht 2007, 239, 240; ders. in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 6. Aufl., § 30 Rz. 60 ff.; zum Hintergrund der gesetzlichen Formulierung s. BTDrucks. 16/9737, S. 56. 8 Vgl. Art. 5 Nr. 10a des Gesetzes zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) vom 23.10.2008, BGBl. I 2008, 2026. 9 Ausf. Pentz, Die Rechtsstellung der Enkel-AG in einer mehrstufigen Unternehmensverbindung, 1994, S. 33 ff.

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Jahresfehlbetrag“ abstellt, soweit dieser nicht durch Beträge aus anderen Gewinnrücklagen gedeckt werden kann, „die während der Vertragsdauer in sie eingestellt worden sind“, verhindert die Norm nämlich die Verwendung sog. vororganschaftlicher Rücklagen zum Verlustausgleich und friert zugleich die bilanzielle Vermögenslage der Gesellschaft zu dem Zeitpunkt des Vertragseintritts ein. Jedenfalls in dem durch die Bilanzregeln geschützten Umfang kann der andere Vertragsteil deshalb auf Vermögen der Gesellschaft nicht zugreifen. Bestätigt wird dieser mit § 302 Abs. 1 AktG ebenfalls intendierte Minderheitenschutz durch § 302 Abs. 3 Satz 3 AktG. Denn hiernach bedarf der Verzicht auf bzw. der Vergleich über Ansprüche nach § 302 Abs. 1 AktG als besonderes Wirksamkeitserfordernis zum einen ausdrücklich eines Sonderbeschlusses der außenstehenden Aktionäre und zum anderen des Fehlens eines von mindestens 10 % dieser Aktionäre erhobenen Widerspruchs. Die Verlustübernahme nach § 302 Abs. 1 AktG ist damit aktienrechtlich nicht nur als Instrument des Gläubigerschutzes zu verstehen, sondern stellt dort zugleich neben den §§ 304, 305 AktG einen Baustein des umfassenden Minderheitenschutzes bei Bestehen von Unternehmensverträgen dar. Im GmbH-Recht gilt insoweit nichts anderes. Die Auswirkungen der Bestimmung unterscheiden sich in keiner Weise. 2. Grundsätzlich keine Ausgleichs- und Abfindungspflicht Eine ganz andere Frage ist die, ob zum Schutz der Gesellschafter der vertraglich unterworfenen GmbH auch die Bestimmungen der §§ 304, 305 AktG auf GmbH-rechtliche Unternehmensverträge entsprechend anzuwenden sind. Höchstrichterliche Rechtsprechung hierzu liegt nicht vor. 1998 hat das Landgericht Düsseldorf10 angenommen, dass überstimmten GmbH-Gesellschaftern Angebote entsprechend §§ 304, 305 AktG zu unterbreiten seien. In der Literatur wird die Frage nach der entsprechenden Anwendung der §§ 304, 305 AktG unterschiedlich beantwortet.11 Dies geht maßgeblich auf den diesem Problem vorgelagerten Meinungsstreit zurück, welche Anforderungen an den Abschluss eines Unternehmensvertrags im GmbH-Recht zu stellen sind; wer sich insoweit mit der qualifizierten Beschlussmehrheit begnügt, spricht sich angesichts des dann bestehenden Schutzbedürfnisses der Gesellschafter für eine analoge Anwendung der §§ 304, 305 AktG aus;12 wer (auch) die Zustimmung jedes Ge-

10 GmbHR 1998, 941. 11 Vgl. die Nw. im Folgenden; als unstreitig kann weder die analoge Anwendung des § 304 AktG noch die des § 305 AktG bezeichnet werden; abw. Einschätzung – allerdings wohl aufgrund eines Missverständnisses – bei Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, 9. Aufl., Anh. § 13 Rz. 86 zu § 304 AktG. 12 Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, 9. Aufl., Anh. § 13 Rz. 86 f.; Lutter/Hommelhoff in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19.  Aufl., Anh.  §  13 Rz.  68; Schnorbus in Rowedder/ Schmidt-Leithoff, GmbHG, 6.  Aufl., Anh. §  52 Rz.  98  f.; Servatius in Grigoleit, AktG, 1. Aufl., § 304 Rz. 4 f.

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sellschafters verlangt, verneint das Bedürfnis nach einem gesetzlichen Schutz, weil die Gesellschafter ihren Schutz dann selbst in der Hand haben.13 a) Supermarkt-Beschluss des BGH Der BGH hat im Supermarkt-Beschluss14 die Auffassung vertreten, der bei der vertraglich unterworfenen GmbH zu fassende Zustimmungsbeschluss bedürfe entsprechend §§ 53, 54 GmbHG der Einhaltung der bei einer Änderung der Satzung geltenden Formvorschriften. Über weitere Voraussetzungen war dort nicht zu entscheiden, weil es sich um eine 100 %ige Tochtergesellschaft gehandelt hatte. b) Analogie zu §§ 293, 294 AktG statt Analogie zu §§ 53, 54 GmbHG An der vom BGH angenommenen Analogie zu §§ 53, 54 GmbHG ist mit Blick auf die Vorgaben in § 293 Abs. 1 Satz 4 AktG, wonach auf den Zustimmungsbeschluss die Regelungen zur Satzungsänderung nicht anzuwenden sind, mit Recht Kritik geübt worden.15 Die Parallele zur Satzungsänderung passt auch insoweit nicht, als in § 293 Abs. 1 Satz 2 AktG die qualifizierte Mehrheit zwingend erforderlich ist, während für die Satzungsänderung aktienrechtlich wegen § 179 Abs. 2 S. 2 AktG auch eine niedrigere Mehrheit genügen kann. Der Rechtsprechung des BGH ist gleichwohl im Ergebnis zuzustimmen, weil die Anforderungen aus einer Analogie zu §§ 293, 294 AktG hergeleitet werden können. Ein Beherrschungsvertrag und ein Gewinnabführungsvertrag überlagern nämlich nicht nur die sonst für die Gesellschaft gesetzlich und satzungsgemäß geltenden Regelungen, indem §  76 Abs.  1 AktG etwa durch §  308 AktG überlagert wird, § 111 Abs. 4 AktG durch § 308 Abs. 3 AktG, § 57 Abs. 1 Satz 1 AktG durch § 291 Abs. 3, § 57 Abs. 3 AktG und das Gewinnbezugsrecht sowie § 53a AktG durch §§ 300 f. AktG im Ergebnis beseitigt werden. Mit einem Unternehmensvertrag ist bei der vertraglich unterworfenen Gesellschaft wegen ihrer Ausrichtung auf die Interessen des anderen Vertragsteils darüber hinaus noch eine Zweckänderung verbunden, die entsprechend § 33 Abs. 1 Satz 2 BGB an sich der Zustimmung jedes einzelnen Aktionärs bedürfte. Da ein solches Erfordernis bei der AG, die ihrer Struktur nach eine Publikumsgesellschaft mit möglicherweise mehreren tausend Aktionären ist, praktisch nicht handhabbar wäre, ist die in § 293 Abs. 1 Satz 2 AktG gesetzlich zwingend geforderte, über § 179 Abs. 2 Satz 2 AktG hinausgehende Mehrheit aktienrechtlich als Kompromisslösung zu der an sich gebotenen, aber nicht praktikablen Einstimmigkeit zu verstehen.

13 Vgl. statt anderer nur die umfassenden Nachweise bei Casper in Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, 2. Aufl., Anh. § 77 Rz. 202 ff.; Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 8. Aufl., § 293 Rz. 42 ff.; ders. in Scholz, GmbHG, 12. Aufl., Anh. § 13 Rz. 139 ff., 146 f.; Liebscher in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl., Anh. zu § 13 Rz. 735 ff.; Maul in Gerhrlein/Born/Simon, GmbHG, 4. Aufl., Anh. Konzernrecht Rz. 16. 14 BGHZ 105, 324, 338 f. = NJW 1989, 295. 15 Insoweit zutr. Flume, DB 1989, 665, 668.

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Das Beurkundungserfordernis und die notwendige Eintragung im Handelsregister der vertraglich unterworfenen Gesellschaft gemäß §§  293 Abs.  1, 294 Abs.  2 AktG ergeben sich damit materiell aus der satzungsüberlagernden, in die Struktur der Gesellschaft eingreifenden Wirkung des Unternehmensvertrags16 und der Funktion des Handelsregisters, Auskunft über die für die Struktur der Gesellschaft geltenden Rechtsverhältnisse zu geben. Im GmbH-Recht kann hinsichtlich des auf die Strukturänderung gerichteten Zustimmungsbeschlusses und die Funktion des Handelsregisters insoweit nichts anderes als im Aktienrecht gelten. In gleicher Weise folgt auch hier aus dem satzungsüberlagernden bzw. strukturändernden Charakter des Vertrags, dass er wie eine sonstige Strukturänderung (§ 181 Abs. 3 AktG, § 54 Abs. 3 GmbHG) rechtlich erst wirksam werden kann, wenn sein Bestehen entsprechend §  294 Abs.  2 AktG in das Handelsregister eingetragen ist. c) Folgerung: Keine Ausgleichs- oder Abfindungspflicht Mit Blick auf die vorstehenden Ausführungen ist für das GmbH-Recht eine Analogie zu §§ 304, 305 AktG mit der ganz überwiegenden Meinung17 zu verneinen. Da sich die Problematik nicht in der Satzungsüberlagerung bzw. der sonst für die Gesellschaft geltenden rechtlichen Vorgaben erschöpft, sondern der Unternehmensvertrag zu einer Zweckänderung führt, ist analog § 33 Abs. 1 Satz 2 BGB die Zustimmung eines jeden Gesellschafters erforderlich. Eine Einschränkung dieses Grundsatzes unter dem Aspekt der fehlenden Praktikabilität, wie dies bei der Aktiengesellschaft mit Blick auf ihren Charakter als Publikumsgesellschaft angezeigt ist, ist im GmbH-Recht nicht veranlasst; es bewendet insoweit bei der Anwendung des rechtsformübergreifend geltenden18 Zustimmungserfordernisses gemäß § 33 Abs. 1 Satz 2 BGB. Ergänzend lässt sich das Zustimmungserfordernis auch damit begründen, dass (jedenfalls in einstufigen Verhältnissen) mit dem Übergang des Weisungsrechts auf den anderen Vertrags­ teil bzw. die Zuweisung des Gewinns der Gesellschaft an ihn zugleich ein Eingriff in die Gesellschafterrechte der hiervon betroffenen Gesellschafter sowie eine Ungleichbehandlung zu ihren Lasten verbunden ist. Seine Zustimmung analog § 33 Abs. 1 Satz 2 BGB kann der Gesellschafter im Rahmen der Beschlussfassung über die Zustimmung zum Unternehmensvertrag erteilen. Sofern der Gesellschafter sie noch nicht in diesem Rahmen erteilt hat, muss sie für die Wirksamkeit des Unternehmensvertrags gesondert erklärt werden. Wird sie verwei16 BGHZ 105, 324, 336 f. = NJW 1989, 295 – Supermarkt mit Hinweis auf die rechtsüberlagernde bzw. „materiell satzungsändernde“ Wirkung eines Unternehmensvertrags. 17 Vgl. statt anderer nur die umfassenden Nachweise bei Casper in Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, 2. Aufl., Anh. § 77 Rz. 202 ff.; Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 8. Aufl., § 293 Rz. 42 ff.; ders. in Scholz, GmbHG, 12. Aufl., Anh. § 13 Rz. 139 ff., 146 f.; Liebscher in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl., Anh. zu § 13 Rz. 735 ff.; Maul in Gehrlein/Born/Simon, GmbHG, 4. Aufl., Anh. Konzernrecht Rz. 16. 18 Zur allgemeinen verbandsrechtlichen Dimension des § 33 Abs. 1 Satz 2 BGB vgl. statt anderer Notz in BeckOGK BGB, Stand 15.9.2018, § 33 Rz. 15 m.w.N.

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gert, fehlt es an einem Wirksamkeitserfordernis für den Unternehmensvertrag und es kann zu der Änderung des Gesellschaftszwecks bzw. dem Eingriff in die Rechte der Gesellschafter nicht kommen. Hieraus folgt aber zugleich, dass der gesetzlich in §§ 304, 305 AktG vorgegebene Schutz nicht erforderlich ist, weil der Gesellschafter bei der GmbH – anders als im Aktienrecht – für seinen Schutz selbst sorgen kann. Da es hiermit an dem hinter §§ 304, 305 AktG stehenden Schutzbedürfnis des einzelnen Gesellschafters fehlt, scheidet eine Analogie zu §§ 304, 305 AktG aus; es fehlt an der hierfür erforderlichen ausfüllungsbedürftigen Regelungslücke. d) Ausnahmen Ob hiervon Ausnahmen dann veranlasst sind, wenn nach der Satzung der GmbH eine qualifizierte Mehrheit für den Abschluss eines Unternehmensvertrags genügt bzw. der Gesellschafter aufgrund seiner gesellschafterlichen Treupflicht zur Erteilung der Zustimmung verpflichtet ist,19 hängt von der Beantwortung der jeweiligen Vorfragen ab. Insoweit ist zu unterscheiden: aa) Ausnahme bei einschränkenden Satzungsbestimmungen Leitet man das Zustimmungsbedürfnis aus einer analogen Anwendung des § 33 Abs. 1 Satz 2 BGB ab, dürfte der Wirksamkeit einer Satzungsbestimmung, die für den Abschluss eines Unternehmensvertrags die qualifizierte Beschlussmehrheit des §  53 Abs. 2 Satz 1 GmbHG genügen lässt, wegen der Abdingbarkeit der Zustimmungserfordernisses (§ 40 BGB)20 nichts entgegenstehen. Gleiches gilt, wenn man das Zustimmungserfordernis aus dem Eingriff in die Gesellschafterrechte bzw. aus der Ungleichbehandlung der Gesellschafter ableitet, zumal bei einem nur mittelbar beteiligten anderen Vertragsteil der Gleichbehandlungsaspekt keine Rolle spielt. In diesen Fällen ist deshalb in der Tat eine entsprechende Anwendung der §§  304, 305 AktG zum Schutz der außenstehenden Gesellschafter veranlasst. bb) Treupflichtbedingte Ausnahme? Die Frage nach der analogen Anwendung der §§ 304, 305 AktG im Falle der treupflichtbedingten Zustimmungspflicht ist schwieriger zu beantworten. Im Grundsatz ist davon auszugehen, dass eine Zustimmungspflicht qua Treupflicht ähnlich wie bei der (wegen der Strukturänderung verwandten) Satzungsänderung nur in Ausnahmefällen in Betracht kommen kann, zumal bei Unternehmensverträgen im Rahmen der bei der Zustimmungspflicht zu prüfenden Zumutbarkeit zusätzlich die mit diesen Verträgen einhergehende Zweckänderung besonderes Gewicht hat. In diesem Zusammenhang, also bei der Frage der Zumutbarkeit einer Zustimmungspflicht, kann einem Angebot analog §§  304, 305 AktG Bedeutung insofern zukommen, als ein Gesell19 Hierzu statt anderer Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 8. Aufl., § 293 Rz. 44; § 304 Rz. 11 m.w.N. 20 Zur Reichweite des §  40 BGB in diesem Zusammenhang ausf. Notz in BeckOGK BGB, Stand 15.9.2018, § 33 Rz. 106.

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schafter mit Blick auf den ihm hierdurch gewährten Schutz eher zur Zustimmung zu einem Unternehmensvertrag verpflichtet sein kann. Eine (quasi-)gesetzliche Pflicht zu einem entsprechenden Angebot zulasten des anderen Vertragsteils wird man jedoch nicht bejahen können, weil eine isolierte Zustimmungspflicht eines Gesellschafters zu einem Unternehmensvertrag, die dann zu einem eine Analogie zu §§ 304, 305 AktG veranlassenden Schutzbedürfnis des Einzelnen führt, wohl kaum bejaht werden kann. Zur Frage der Mitwirkungsbefugnisse der Tochter-GmbHG im Rahmen der Gesellschafterversammlung der Enkelgesellschaft vgl. nachstehend unter III.

III. Beteiligtenschutz auf der Ebene der Tochtergesellschaft Auf der Ebene der zwischengeschalteten Tochtergesellschaft in der Rechtsform der GmbH stellen sich abweichend gelagerte Rechtsfragen: 1. Keine analoge Anwendung von § 293 Abs. 1, 2 AktG Da es durch den stufenübergreifenden Unternehmensvertrag zwischen der Mutter-GmbH und der Enkel-GmbH zu keiner Überlagerung der bei der Tochter-GmbH geltenden Satzung kommt und deren Zweck durch den Unternehmensvertrag ebenfalls unberührt bleibt, scheidet eine analoge Anwendung von § 293 Abs. 1 AktG auf der Ebene der Tochter-GmbH aus. Auch eine entsprechende Anwendung von § 293 Abs.  2 AktG kommt nicht in Betracht, da die Tochter-GmbH keinerlei unternehmensvertragsspezifische Pflichten treffen.21 2. Beteiligung der zwischengeschalteten Tochtergesellschaft a) Stimmrecht der Tochtergesellschaft Nach teilweise vertretener Auffassung unterliegt im GmbH-Recht der andere Vertragsteil bei dem Beschluss über die Zustimmung zum Unternehmensvertrag bei der  vertraglich unterworfenen Gesellschaft einem Stimmverbot nach §  47 Abs.  4 ­GmbHG.22 Bei Zugrundelegung dieser Meinung wäre dieses Stimmverbot nach allge-

21 S. zum Ganzen LG Düsseldorf DB 2004, 428, 429 (mit krit. Anm. Meilicke); ausf. zu diesen Fragen bereits Pentz, DB 2004, 1543, 1547; dem zust. etwa OLG Düsseldorf DB 2004, 2685, 2688; Beurskens in Baumbach/Hueck, GmbHG, 21.  Aufl., Anh. GmbH-Konzernrecht Rz. 111; Lutter/Hommelhoff in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl., Anh. § 13 Rz. 54. 22 Flume, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, 2.  Teil: Die juristische Person S.  233; Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, 9. Aufl., Anh. § 13 Rz. 39; Beurskens in Baumbach/Hueck, GmbHG, 21.  Aufl., Anh. GmbH-Konzernrecht Rz.  107; Römermann in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt GmbHG, 3.  Aufl., §  47 Rz.  285; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl., § 47 Rz. 90, jeweils m.w.N.

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meinen Grundsätzen auch auf eine vom anderen Vertragsteil abhängige Tochtergesellschaft zu erstrecken.23 Richtigerweise ist allerdings mit der ganz h. M. jedenfalls dann, wenn auf der Ebene der vertraglich unterworfenen Gesellschaft (hier: der Enkel-GmbH) analog § 33 Abs. 1 Satz 2 BGB die Zustimmung aller Gesellschafter zum Abschluss des Unternehmensvertrags erforderlich ist, nicht von einem Stimmverbot nach § 47 Abs. 4 GmbHG auszugehen. Denn unabhängig von der Frage, ob sich die Einschränkung des § 47 Abs. 4 GmbHG schon aus dem Charakter des Unternehmensvertrags als gesellschaftsrechtlichem Organisationsvertrag und damit innergesellschaftlichem Akt herleiten lässt,24 besteht für einen Stimmrechtsausschluss bei einem allseitigen Zustimmungserfordernis analog § 33 Abs. 1 Satz 2 BGB materiell kein Anlass.25 Dürfte sich damit aber der andere Vertragsteil bei unmittelbarer Beteiligung an dem Zustimmungsbeschluss selbst beteiligen, besteht kein Anlass, die zwischengeschaltete Tochter-GmbH nach § 47 Abs. 4 GmbHG einem Stimmverbot zu unterwerfen. Die Tochter-GmbH ist deshalb (ebenso wie es die Mutter-GmbH bei unmittelbarer Beteiligung wäre) auf der Ebene der Enkel-GmbH stimmberechtigt. b) Keine sonstige Einschränkung der Beteiligungsrechte der Tochtergesellschaft Einschränkungen vom Anwendungsbereich des § 33 Abs. 1 Satz 2 BGB analog mit der Folge, dass die Zustimmung der Tochter-GmbH wegen ihrer Abhängigkeit von dem anderen Vertragsteil nicht erforderlich wäre, sind nicht veranlasst: Zwar soll nach der h. M. im Aktienrecht der Begriff des außenstehenden Aktionärs einschränkend zu interpretieren sein und vom anderen Vertragsteil abhängige Unternehmen nicht erfassen.26 Auf die Einordnung als außenstehender Aktionär kommt es jedoch im Rahmen des Zustimmungsbeschlusses zum Unternehmensvertrag noch nicht an. Diese Frage stellt sich vielmehr erst später, nämlich bei der Änderung oder Beendigung des Vertrags im Rahmen von §§ 295 Abs. 2, 296 Abs. 2, 297 Abs. 2 AktG bzw. im Rahmen der §§ 302 Abs. 3 Satz 3, 304 f. AktG und hier ist sie zudem entgegen der h. M. durch Stimmverbote im Rahmen der Sonderbeschlüsse bzw. eine erweitern23 Zur Erstreckung des Stimmverbots nach §  47 Abs.  4 GmbHG in diesen Fällen vgl. statt anderer nur Drescher in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl., § 47 Rz. 195 ff.; Ganzer in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 6. Aufl., § 47 Rz. 68; Hüffer/Schürnbrand in Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, 2. Aufl., § 47 Rz. 143, jeweils m.w.N. 24 In diesem Sinne zur Kündigung eines Unternehmensvertrags BGH NZG 2011, 902 Rz. 15 mit umfangreichen Nachweisen; zum Meinungsstand i.Ü.  vgl. statt anderer Drescher in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl., § 47 Rz. 173; Ganzer in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 6.  Aufl., §  47 Rz.  92; Hüffer/Schürnbrand in Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, 2. Aufl., § 47 Rz. 191 f., jeweils m.w.N. 25 Umgekehrte Argumentation (Mehrheitsbeschluss bei der vertraglich unterworfenen Gesellschaft wegen des Stimmverbots des anderen Vertragsteils genügend): Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, 9. Aufl., Anh. § 13 Rz. 39, mit Blick auf die analoge Anwendung von § 33 Abs. 1 Satz  2 BGB jedoch nicht überzeugend. 26 Ausf. zum Meinungsstand Pentz, AG 1996, 97 ff.

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de Anwendung von § 305 Abs. 2 Nr. 3 AktG zu beantworten.27 Ein Anlass dafür, die Tochter-GmbH in der vorliegenden Gestaltung in ihren Mitwirkungsbefugnissen zu beschränken, kann im Übrigen auch deshalb nicht angenommen werden, weil das Zustimmungserfordernis analog § 33 Abs. 1 Satz 2 BGB nicht auf die Qualifikation des jeweiligen Mitglieds abstellt, sondern allein auf des Vorliegen einer Zweckänderung bei dem betreffenden Verband (hier der Enkel-GmbH). 3. Gesellschafterbeschluss als (internes) Erfordernis bei der Tochtergesellschaft a) Notwendigkeit eines Gesellschafterbeschlusses Von der Frage einer Beschlussfassung entsprechend § 293 Abs. 1, 2 AktG klar zu unterscheiden ist die Frage nach Beschlüssen, derer die Geschäftsführung der Tochter-­ GmbH intern vor der Ausübung des ihr bei der Enkel-GmbH zustehenden Stimmrechts bzw. im Zusammenhang mit der nach § 33 Abs. 1 Satz 2 GmbHG erforderlichen Zustimmung bedarf. Hierzu ist typischerweise davon auszugehen, dass die Geschäftsführung der Tochter-GmbH unter dem Aspekt des ungewöhnlichen Rechtsgeschäfts einen solchen Beschluss benötigt.28 b) Stimmrecht der Muttergesellschaft? Geht man von einem (internen) Beschlusserfordernis aus, stellt sich die Frage, ob die Mutter-GmbH im Rahmen des bei der Tochtergesellschaft zu fassenden Gesellschafterbeschlusses einem Stimmverbot nach § 47 Abs. 4 GmbHG unterliegt oder ob sie sich an der dortigen Beschlussfassung beteiligen darf. Ausgangspunkt ist insoweit, dass sich der Anwendungsbereich des § 47 Abs. 4 GmbHG nicht auf Rechtsgeschäfte beschränkt, die unmittelbar mit dem Gesellschafter vorgenommen werden.29 Für das Stimmverbot genügt auch eine indirekte Beteiligung an dem in Rede stehenden Rechtsgeschäft.30 Die Frage nach einem Stimmverbot lässt sich auch nicht mit der Erwägung verneinen, dass die Mutter-GmbH als unmittelbarer Gesellschafter der Enkel-GmbH stimmberechtigt wäre und dies deshalb auf der Ebene der Tochter-GmbH nicht abweichend beurteilt werden könne. Denn eine solche, auf die Ebene der Enkelgesellschaft abstellende Argumentation ginge daran vorbei, dass es insoweit nicht um diese, sondern um die Rechtsverhältnisse bei der Tochter-GmbH geht. Auf der Ebene der Tochter-GmbH steht mit der Frage der Zustimmung auf der Ebene der Enkelgesellschaft kein korporationsrechtliches Rechtsgeschäft 27 Ausf. hierzu Pentz, AG 1996, 99 ff. 28 Näher Pentz, DB 2004, 1543, 1547. 29 Statt anderer Drescher in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl., § 47 Rz. 156 m.w.N. 30 Vgl. nur Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl., § 47 Rz. 39; Drescher in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl., § 47 Rz. 156; Ganzer in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 6.  Aufl., §  47 Rz.  87; Hüffer/Schürnbrand in Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, 2.  Aufl., § 47 Rz. 171, jeweils m.w.N.

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(„körperschaftlicher Sozialakt“)31 infrage. Es geht nicht um eine Regelung innergesellschaftlicher Angelegenheiten, sondern um die Frage einer nach außen gerichteten Zustimmungserklärung zu einem Rechtsgeschäft mit einem Gesellschafter, weshalb sich eine Einschränkung des § 47 Abs. 4 GmbHG unter diesem Aspekt hier nicht bejahen ließe. Da bei der Tochtergesellschaft auch nicht damit gerechnet werden kann, dass die Mutter-GmbH als Gesellschafter der Tochter-GmbH ihre Interessen zugunsten dieser Gesellschaft zurückstellt, ist der Schutzzweck des Stimmverbots des § 47 Abs. 4 GmbHG einschlägig. Ein Stimmverbot zulasten der Mutter-GmbH in der Gesellschafterversammlung der Tochter-GmbH ist deshalb zu bejahen. Eine teleologische Reduktion der Bestimmung zugunsten der Mutter-GmbH scheidet aus. Denn der Geschäftsführer ist an den Gesellschafterbeschluss bei seinem Stimmverhalten in der Gesellschafterversammlung der Enkel-GmbH gebunden und mangels analoger Anwendbarkeit der §§ 304, 305 AktG ist der Schutz der Interessen der Tochter-GmbH auch nicht auf andere Weise gewährleistet. 4. Kein eigenständiger Gläubigerschutz Eigene Schutzinstrumente zugunsten der Gläubigerinteressen bestehen hinsichtlich der zwischengeschalteten Tochter-GmbH nicht. Zu einem Gläubigerschutz kommt es nur reflexiv im Rahmen des Schutzes der Tochter-GmbH, für den der Geschäftsführer  – vorbehaltlich einer abweichenden Weisung der Gesellschafterversammlung (§ 37 Abs. 1, 2. Var. GmbHG) – auf der Ebene der Enkel-GmbH zu sorgen hat.

IV. Beteiligtenschutz auf der Ebene der Muttergesellschaft 1. Meinungsstand zum Beschlusserfordernis a) Kein Zustimmungserfordernis wegen Strukturänderung Auf der Ebene des anderen Vertragsteils eines stufenübergreifenden Unternehmensvertrag, also auf derjenigen der Mutter-GmbH, bleibt die Struktur der Gesellschaft von diesem Vertrag unberührt. Es kommt zu keiner Überlagerung der dort bis dahin geltenden Organisationsausgestaltung, und unter diesem Aspekt können Zustimmungserfordernisse hier nicht hergeleitet werden. b) Zustimmungserfordernis analog § 293 Abs. 2 AktG Der BGH hat im Supermarkt-Beschluss32 allerdings angenommen, bei einer GmbH als dem anderen Vertragsteil müsse auch die dortige Gesellschafterversammlung dem Abschluss des Vertrags analog § 293 Abs. 2 AktG mit qualifizierter Mehrheit zustimmen. Zur Begründung hat er auf die Gesetzesmaterialien abgestellt, wonach die (bei 31 Hierzu zuletzt BGH NZG 2011, 902 Rz. 15 f. 32 BGHZ 105, 324, 333 f. = NJW 1989, 295.

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der GmbH nicht gegebene) Verpflichtung zur Gewährung von Aktien nach §  305 AktG neben der Verlustübernahme- und der Ausgleichspflicht gemäß §§  302, 304 AktG nur einer der das Zustimmungserfordernis auslösenden Aspekte sei. In einer weiteren Entscheidung33 hat er dann maßgeblich auf die auch im GmbH-Recht für den anderen Vertragsteil mit einem Unternehmensvertrag verbundenen Risiken als Rechtsgrund für das Zustimmungserfordernis abgestellt. Auf die Verpflichtung zur Abfindung in Aktien des anderen Vertragsteils gemäß § 305 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AktG, auf die in der Begründung zu dem das GmbH-Konzernrecht regelnden Regierungsentwurf vom 31.1.197234 abgehoben wurde, könne nicht als Regelungsgrund abgestellt werden, weil die Begründung zum Regierungsentwurf des AktG35 diesen Aspekt nur als einen von mehreren36 Gesichtspunkten aufgeführt habe. Der Gesetzgeber habe den Fall, dass in der vertraglich unterworfenen Gesellschaft kein außenstehender Aktionär vorhanden sei (und deshalb kein Abfindungsangebot unterbreitet werden müsse), gesehen, dies aber nicht zum Anlass genommen, auf das Beschlusser­ fordernis nach §  293 Abs.  2 AktG zu verzichten; aus diesem Grunde könne die Bestimmung auch nicht auf diejenigen Fälle teleologisch reduziert werden, in denen in der Gesellschaft außenstehende Aktionäre vorhanden seien. Die ganz h.M.37 stimmt der Auffassung des BGH zu. Unstreitig ist die Auffassung allerdings in der Literatur bis heute nicht. Insbesondere Flume hat sich in einer Besprechung der Supermarkt-Entscheidung38 gegen ein derartiges Beschlusserfordernis ausgesprochen. Gestützt hat er sich hierfür auf die Formulierung in der Begründung des Referentenentwurfs zu § 236 und des Regierungsentwurfs zu § 232 GmbH-Re-

33 BGH NJW 1992, 1452, 1453. 34 BT-Drucks. VI/3088, S. 211 zu § 242 des Entwurfs. 35 Der BGH verweist in diesem Zusammenhang auf BR-Drucks. 100/60a, 3.  Wahlperiode, S. 119; vgl. auch BT-Drucks. IV/171, S. 218. 36 Verlustübernahme und Sicherheitsleistung gemäß §§ 302, 302 AktG; Sicherung der außenstehenden Aktionäre gemäß §§ 304, 305 AktG. 37 Beurskens in Baumbach/Hueck, GmbHG, 21.  Aufl., Anh. GmbH-Konzernrecht Rz.  110; Casper in Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, 2. Aufl., Anh. § 77 Rz. 207; Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 8. Aufl., § 293 AktG Rz. 46; ders. in Scholz, GmbHG, 12. Aufl., Anh. § 13 Rz. 148; Liebscher in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl., Anh. § 13 Rz. 753; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl., § 293 Rz. 17; Koppensteiner in KölnKomm. AktG, 3. Aufl., § 293 Rz. 40; Lutter/Hommelhoff in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl., Anh. zu § 13 Rz. 53; Maul in Gehrlein/Born/Simon, GmbHG, 4. Aufl., Anh. Konzernrecht Rz. 18; Mülbert in Großkomm. AktG, 4. Aufl., § 293 Rz. 92; Paschos in Henssler/Strohn, GesR, 4.  Aufl., §  293 AktG Rz.  10; Schnorbus in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 6. Aufl., Anh. § 52 Rz. 103; Servatius in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl., Syst. Darstellung 4 Konzernrecht Rz. 67 ff.; ders. in Grigoleit, AktG, 1. Aufl., § 293 Rz. 17 ff.; Veil in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl., § 293 Rz. 37; Weller/Discher in Bork/Schäfer, GmbHG, 3. Aufl., Anh. zu § 13 Rz. 27; Wicke in Wicke, GmbHG, 3. Aufl., Anh. § 13 Rz. 6, alle m.w.N. 38 DB 1989, 665, 667 m.w.N.; zustimmend Altmeppen, DB 1994, 1273 Fn. 6; nicht ganz eindeutig Peres in NK-Aktienrecht, 4. Aufl., § 293 Rz. 16: Zustimmungserfordernis wegen der „besonders weitgehenden Rechtsfolgen (§§ 302 f., 304 f.)“.

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formgesetz, in der das Zustimmungserfordernis maßgeblich aus § 305 Abs. 2 AktG hergeleitet wird und in diesem Zusammenhang u.a. formuliert ist: „Alle anderen Belastungen – Pflicht zur Verlustübernahme, Sicherheitsleistung für die Gläubiger, Abfindungsanspruch außenstehender Gesellschafter –, denen der andere Vertrags­teil durch den Abschluss des Beherrschungs- oder des Gewinnabführungsvertrags unterworfen wird, werden somit schon nach geltendem Recht nicht als so schwerwiegend angesehen, dass ihretwegen die Zustimmung der Gesellschafter des anderen Vertragsteils verlangt werden müsste. Diese Erwägungen führen dazu, auch dann, wenn beide Vertragsteile Gesellschaften mit beschränkter Haftung sind, von einer Zustimmung der Gesellschafter des anderen Vertragsteils abzusehen, da der Entwurf den außenstehenden Gesellschaftern in diesen Fällen nur einen Anspruch auf angemessene Barabfindung einräumt.“39

Da beide Gesetzesbegründungen unter der Ägide von Ernst Geßler entstanden seien, handele es sich „um eine authentische Interpretation der Begründung zu § 293 Abs. 2 AktG“ und eine Zustimmungspflicht auf Seiten des anderen Vertragsteils sei deshalb zu verneinen. Andere Stimmen, die sich ebenfalls gegen ein Beschlusserfordernis aussprechen, ­verweisen auf den Wortlaut des §  293 Abs.  2 AktG sowie die seinerzeitige Recht­ sprechung des BGH zum qualifizierten faktischen Konzern40 bzw. die strukturell abweichende Rechtsstellung der Gesellschafterversammlung bei der GmbH und deren Weisungsrecht.41 2. Stellungnahme Der Auffassung des BGH und der ganz herrschenden Meinung in der Literatur ist zuzustimmen, die hieran geübte Kritik überzeugt nicht (unter a); die Begründung für die Herleitung der analogen Anwendung des § 293 Abs. 2 AktG lässt sich allerdings ergänzen (unter b): a) Fehlende Überzeugungskraft der gegen das Zustimmungserfordernis vorgebrachten Gründe aa) Keine Bindung an Gesetzesmaterialien oder Meinungsäußerungen ihrer Verfasser Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Gesetzesmaterialien bei der Auslegung des Gesetzes nicht binden, sondern lediglich die Normvorstellungen ihrer Verfasser wiedergeben.42 Vor diesem Hintergrund kann es auch keine den Rechtsanwender bindende „authentische Interpretation“ von Gesetzesmaterialien geben. Der Hinweis darauf, 39 Vgl. BT-Drucks. VI/3088, S. 211 f. 40 Gäbelein, GmbHR 1989, 502, 505 f.; ders., GmbHR 1992, 788.  41 E. Vetter, AG 1993, 168, 169 ff. 42 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., S. 149 f.

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dass beide Gesetzesbegründungen unter der Ägide von Ernst Geßler zustande gekommen sind, kann deshalb – unabhängig davon, dass die Begründungen in den Mate­ rialien inhaltlich voneinander abweichen – kein ausschlaggebendes Argument liefern. bb) Keine Folgerungen aus der Rechtsprechung zum qualifizierten faktischen Konzern Aus der seinerzeitigen Rechtsprechung des BGH zum qualifizierten faktischen Konzern lässt sich ebenfalls kein Argument gegen eine analoge Anwendung des §  293 Abs. 2 AktG herleiten. Unabhängig von der Frage der Fortgeltung der hierzu entwickelten Grundsätze43 würde die von der Rechtsprechung früher bejahte analoge Anwendung von § 302 Abs. 1 AktG in derartigen Konstellationen nämlich nicht die entsprechende Anwendung von § 293 Abs. 2 AktG auf Unternehmensverträge infrage stellen. Die Anwendung von § 302 Abs. 1 AktG auf vertragslose Verhältnisse ohne vorherige Beteiligung der Gesellschafter der hiervon betroffenen GmbH hätte vielmehr zur Folge, dass hierin eine Verletzung der Mitwirkungsrechte der Gesellschafter des übergeordneten Unternehmens und damit eine Pflichtwidrigkeit der dortigen Geschäftsführung läge. cc) Keine Folgerungen aus dem Wortlaut des § 293 Abs. 2 AktG Ebenfalls kein Argument kann aus dem auf die AG bzw. die KGaA beschränken Wortlaut des § 293 Abs. 2 AktG gewonnen werden. Denn die §§ 291 ff. AktG befassen sich nur mit diesen beiden Gesellschaftsformen, und wenn es um ein Analogiepro­ blem geht, kann aus dem Wortlaut der für die Analogie infrage kommenden Bestimmung von vornherein kein Argument gewonnen werden. b) Ergänzende Absicherung des Zustimmungserfordernisses Das Ergebnis des BGH und der ganz herrschenden Meinung in der Literatur lässt sich über die im Supermarkt-Beschluss gegebene Begründung hinaus weiter absichern: aa) Vorschlag der Studienkommission des DJT nicht übernommen Zunächst ist daran zu erinnern, dass die Studienkommission des DJT vorgeschlagen hatte, auf das Zustimmungserfordernis nach § 293 Abs. 2 AktG zu verzichten, wenn alle Aktien der abhängigen Gesellschaft dem herrschenden Unternehmen gehören. Da diese Untersuchung bei den Gesetzgebungsarbeiten vorlag,44 ist davon auszuge43 Zu dieser Frage vgl. mit Unterschieden im Einzelnen Casper in Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, 2. Aufl., Anh. § 77 Rz. 175 f.; Emmerich in Scholz, GmbHG, 12. Aufl., Anh. § 13 Rz. 120 ff.; Liebscher in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl., Anh. § 13 Rz. 615 f.; Maul in Gehrlein/Born/Simon, GmbHG, 4. Aufl., Anh. Konzernrecht Rz. 82, jew. m.w.N. 44 Untersuchungen zur Reform des Konzernrechts  – Bericht der Studienkommission des Deutschen Juristentages, 1967, Rz. 711.

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hen, dass eine entsprechende Regelung, sofern gewollt, auch getroffen worden wäre.45 Dies spricht gegen die Herleitung des Zustimmungserfordernisses nach § 293 Abs. 2 AktG aus dem Abfindungserfordernis gemäß § 305 AktG. bb) Fehlendes Schutzbedürfnis Gegen ein Verständnis dahin, eine Abfindung in Aktien sei wegen der Auswirkungen auf die Aktionäre des anderen Vertragsteils und damit mittelbar auch auf diesen selbst der das Zustimmungserfordernis auslösende Grund, spricht ferner, dass in diesem Zusammenhang kein besonderes Schutzbedürfnis erkennbar ist. Sind die Aktien auf dem Markt erhältlich, müssen die Aktionäre bzw. der andere Vertragsteil selbst ohnehin davon ausgehen, dass sich die Zusammensetzung der Aktionäre ändern kann. Müssen die Aktien im Wege einer Kapitalerhöhung beschafft werden, findet eine Beteiligung der Aktionäre auf Seiten des anderen Vertragsteils im Rahmen der §§ 182 Abs. 1, 2, 193 Abs. 1, 2 AktG statt. Die Pflichten nach § 305 AktG können auch aus diesem Grunde nicht als das das Zustimmungserfordernis auslösende Moment angesehen werden. cc) Kein Schutz vor zu hoher Abfindungsleistung Ebenfalls kein Argument gegen die Herleitung des § 293 Abs. 2 AktG aus der Verlust­ übernahmepflicht gemäß § 302 Abs. 1 AktG und damit gegen das Zustimmungserfordernis beim anderen Vertragsteil im GmbH-Recht kann aus der Erwägung gewonnen werden, die Zustimmungspflicht solle die dortigen Mitglieder vor einer zu hohen Abfindung schützen.46 Dem steht das bereits vom BGH herangezogene Argument entgegen, dass die Zustimmungspflicht auch dann besteht, wenn auf ein Abfindungsangebot verzichtet werden kann.47 dd) Kein Entgegenstehen von § 302 Abs. 2 AktG Dass es beim Betriebspacht- und Betriebsüberlassungsvertrag gemäß §  302 Abs.  2 AktG ebenfalls zu einer Verlustübernahme kommen kann, insoweit jedoch beim anderen Vertragsteil kein § 293 Abs. 2 AktG entsprechendes Zustimmungserfordernis besteht, steht der Herleitung des § 293 Abs. 2 AktG aus den Pflichten nach §§ 302, 303 AktG ebenfalls nicht entgegen. Denn die dort geregelte Verlustübernahme verlagert im Gegensatz zu derjenigen nach § 302 Abs. 1 AktG das unternehmerische Risiko nicht vollständig auf den anderen Vertragsteil, sondern ist auf die Differenz zwischen geschuldeter und angemessener Gegenleistung beschränkt.48 45 Pentz, Die Rechtsstellung der Enkel-AG in einer mehrstufigen Unternehmensverbindung, 1994, S. 126. 46 In diese Richtung Mülbert, Aktiengesellschaft, Unternehmensgruppe und Kapitalmarkt, 1996, S. 183 ff. 47 Abl. auch Koppensteiner in KölnKomm. AktG, 3. Aufl., § 293 Rz. 40 Fn. 126: „nicht nachweisbar“. 48 Statt anderer: Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl., § 302 Rz. 24.

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ee) Keine Folgerungen aus vergleichbaren Gestaltungen Dass es im Falle eines Unternehmenserwerbs und dessen Überführung in das Unternehmen der Gesellschaft im Ergebnis ebenfalls zu einer ähnlichen Verlustübernahme kommen kann, in diesem Zusammenhang jedoch kein entsprechendes Zustimmungserfordernis besteht, spricht ebenfalls nicht gegen die Verlustausgleichspflicht als Rechtsgrund des § 293 Abs. 2 AktG. Die Bestimmung stellt eine typisierende Regelung dar und kann mit Blick darauf, aber auch im Hinblick auf die im Übrigen geltenden Grundsätze zu den ungeschriebenen Hauptversammlungszuständigkeiten ebenfalls nicht gegen § 302 Abs. 1 AktG als den für § 293 Abs. 2 AktG maßgeblichen Rechtsgrund sprechen, auch nicht im Sinne einer „Risikoübernahme ohne volle Herrschaftsmöglichkeit“.49

V. Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse 1. Beteiligtenschutz auf Ebene der Enkelgesellschaft a) Der Schutz der Gläubiger, aber auch der Minderheit erfolgt im Falle eines stufenübergreifenden Unternehmensvertrags zwischen der Enkel-GmbH und der Muttergesellschaft auf der Ebene der vertraglich unterworfenen Enkel-GmbH zunächst durch die entsprechende Anwendung der §§ 302 Abs. 1, 303 AktG. b) Zu einem weiteren Schutz der Gesellschafter der Enkel-GmbH als dem durch den Unternehmensvertrag unterworfenen Vertragsteil bedarf der Abschluss des Vertrags analog § 293 Abs. 1 AktG der Zustimmung der Gesellschafterversammlung. Dieses Erfordernis stützt sich auf die satzungsüberlagernde und damit die strukturändernde Wirkung des Unternehmensvertrags. Die vom BGH bejahte Analogie zu § 53 AktG kommt dem materiell nahe, passt aber inhaltlich nicht. c) Zusätzlich ist analog § 33 Abs. 1 Satz 2 BGB die Zustimmung derjenigen Gesellschafter erforderlich, die ihre Zustimmung noch nicht im Rahmen der Beschlussfassung erklärt haben. Denn sowohl der Beherrschungs- als auch der Gewinnabführungsvertrag führen bei der vertraglich unterworfenen Gesellschaft wegen der mit ihnen verbundenen Verdrängung des Eigeninteresses und der Ausrichtung der Tätigkeit der Enkel-GmbH allein auf das Interesse des anderen Vertragsteils zu einer Zweckänderung. Auf ein Abstellen auf die ebenfalls gegebene Ungleichbehandlung der Gesellschafter bzw. den Eingriff in Gesellschafterrechte kommt es in diesem Zusammenhang für die Herleitung des Zustimmungserfordernisses nicht an.

49 Ausf. Pentz, Die Rechtsstellung der Enkel-AG in einer mehrstufigen Unternehmensverbindung, 1994, S. 127 f.; 128 f., auch zur abweichenden Auffassung von Hommelhoff, Die Konzernleitungspflicht, 1982, S. 297 ff.; abl. insoweit auch Koppensteiner in KölnKomm. AktG, 3. Aufl., § 293 Rz. 41.

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Aufgrund des Zustimmungserfordernisses ist eine analoge Anwendung der §§ 304, 305 AktG grundsätzlich nicht erforderlich; nur im Falle des abbedungenen Zustimmungserfordernisses bzw. einer – rechtlich wohl kaum in Betracht kommenden – Zustimmungspflicht des Gesellschafters ist sie mit der h.M. zu bejahen. 2. Beteiligtenschutz auf Ebene der Tochtergesellschaft a) Auf Seiten der zwischengeschalteten Tochter-GmbH ist mit dem Abschluss des stufenübergreifenden Unternehmensvertrags kein Eingriff in die dort geltende Struktur verbunden. Der stufenübergreifende Unternehmensvertrag bedarf deshalb dort keiner Zustimmung analog § 293 Abs. 1 AktG. b) Entgegen der h.M. zum Aktienrecht ist die Tochter-GmbH als grundsätzlich schutzbedürftig und damit in jedem Falle als außenstehender Gesellschafter anzusehen. Ein Anlass, ihre Zustimmung analog § 33 Abs. 1 Satz 2 BGB als Gesellschafterin der Enkel-GmbH für entbehrlich zu halten, ist aus diesem Grunde, aber auch weil § 33 Abs. 1 Satz 2 BGB keinen Unterschied hinsichtlich der von der Zweckänderung betroffenen Verbandsmitglieder macht, nicht gegeben. c) Im Übrigen erfolgt der Schutz der Tochter-GmbH bzw. der an ihr (neben der Mutter-GmbH) beteiligten Gesellschafter nach Maßgabe der allgemeinen Regeln. Hiernach bedarf der Geschäftsführer intern für die Stimmabgabe im Rahmen des bei der Enkel-GmbH zu fassenden Zustimmungsbeschlusses bzw. für die dortige Erklärung der Zustimmung analog § 33 Abs. 1 Satz 2 BGB im Regelfall eines Beschlusses der Gesellschafterversammlung der Tochtergesellschaft. Im Rahmen dieser Beschlussfassung trifft die an der Tochtergesellschaft beteiligte Mutter-GmbH ein Stimmverbot nach § 47 Abs. 4 GmbHG. Denn der Gesellschafterbeschluss betrifft die Zustimmung zu einem Rechtsgeschäft mit der Mutter-GmbH und die die Ebene der Enkel-GmbH betreffende Zustimmung stellt bei der Tochtergesellschaft auch kein nur internes korporationsrechtliches Rechtsgeschäft dar, sondern ist auf eine Erklärung nach außen gerichtet. Eine teleologische Reduktion des §  47 Abs.  4 GmbHG scheidet schon wegen der grundsätzlichen Unanwendbarkeit der §§ 304, 305 AktG (analog) auf der Ebene der Enkel-GmbH aus. d) Zu einem Schutz der Gläubiger der Tochter-GmbH vor Nachteilen im Zusammenhang mit dem stufenübergreifenden Unternehmensvertrag kommt es nur reflexiv im Rahmen des Schutzes der Tochter-GmbH. 3. Beteiligtenschutz auf Ebene der Muttergesellschaft Auf Seiten der Mutter-GmbH als dem anderen Vertragsteil bedarf der Unternehmensvertrag wegen der mit ihm verbundenen Verlustübernahmepflicht analog § 302 Abs. 1 AktG in entsprechender Anwendung des § 293 Abs. 2 AktG der Zustimmung der dortigen Gesellschafterversammlung. Die abweichende Auffassung in der Literatur berücksichtigt nicht hinreichend, dass weder Gesetzesmaterialien noch Äußerungen ihres Verfassers hierzu den Rechtsanwender binden. Aktienrechtlich ist das Zu669

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stimmungserfordernis nach § 293 Abs. 2 AktG nicht aus den Pflichten nach §§ 304, 305 AktG, sondern aus § 302 Abs. 1 AktG sowie der „Verlängerung“ dieser Bestimmung durch § 303 AktG herzuleiten, und diese Vorgaben sind auf die GmbH rechtlich zu übertragen.

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Ermittlungsbefugnisse des besonderen Vertreters (§ 147 AktG) Inhaltsübersicht I. Vorspann II. Ausgangspunkt 1. Besonderer Vertreter – ein altes aktienrechtliches Institut 2. Aktualität durch HypoVereinsbank ./. UniCredit III. Die jüngere Rechtsprechung und ­Literatur 1. Rechtsprechung 2. Schrifttum IV. Kontroverse Debatte 1. Das System der §§ 142, 145, 147 AktG

2. Klassische Ansicht: Aufgabentrennung Sonderprüfer/besonderer Vertreter 3. Neue These: Vorrang des besonderen Vertreters 4. Stellungnahme V. Ausmaß und Grenzen der Ermittlungsbefugnisse 1. Grundsatz 2. Der besondere Vertreter ist kein Sonderer­mittler 3. Anspruchsdurchsetzung als Grenze VI. Ergebnis

I. Vorspann Dieses Thema ist in letzter Zeit heftig diskutiert worden, ohne dass sich in Rechtsprechung und Schrifttum jeweils eine einheitliche Linie gebildet hätte. Es erscheint daher angeraten, dem Problem noch einmal nachzugehen. Wenn das hier zu Ehren von Ulrich Seibert geschieht, dann deswegen, weil er als langjähriger Leiter des Referats für Gesellschaftsrecht und Unternehmensverfassung im Bundesministerium der Justiz die gesetzliche Entwicklung dieser Materie mit großem Erfolg geprägt hat. Zu nennen sind – exempli causa – im Aktienrecht das Gesetz für kleine Aktiengesellschaften und zur Deregulierung des Aktienrechts, das Gesetz zur Kontrolle und Transprenz im Unternehmensbereich (KonTraG), das hier im Vordergrund stehende Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG)1 und im GmbH-Recht besonders wichtig das Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts … (MoMiG). Zu erwähnen sind natürlich auch die zahlreichen wegweisenden literarischen Stellungnahmen des Jubilars.

1 Durch dieses Gesetz vom 22.9.2005, BGBl. I 2005, 2802 wurden neben vielen anderen Vorschriften die §§ 142, 145, 146, 147 AktG geändert (S. 2803 f.).

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II. Ausgangspunkt 1. Besonderer Vertreter – ein altes aktienrechtliches Institut Schon das ADHGB von 1861 (Art. 226 i.V.m. Art. 195) kannte mit dem Institut des „Bevollmächtigten“ einen Vorgänger des besonderen Vertreters. In der Begründung zur Aktienrechtsnovelle von 1884 heißt es, die Verfolgung der Ansprüche aus Gründung und Geschäftsführung stehe nur der Gesellschaft, nicht den Aktionären zu. Eine Geltendmachung durch die einzelnen Aktionäre eröffne eine „völlige Anarchie“. Erhebung und Durchführung der Ansprüche seien an sich Sache des Vorstandes oder gegen diesen des Aufsichtsrats. Sollte das jeweilige Organ die Geltendmachung vereiteln, etwa weil es selbst betroffen ist, sei der Generalversammlung die Ernennung von Bevollmächtigten zu ermöglichen.2 Daneben gab es seit der Aktienrechts-Novelle von 1884 (Art.  222a Abs.  3 ADHGB) auch bereits den „Revisor“ (einen Vorgänger des jetzigen Sonderprüfers). Eine noch heute vielzitierte Entscheidung hat dann das Reichsgericht, allerdings erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg, zum Verhältnis des Revisors zum Bevollmächtigten getroffen.3 Darin heißt es, die Revisoren müssten mit umfassenden Kontrollrechten ausgerüstet werden. Das Gesetz habe demgemäß bestimmt, dass ihnen der Vorstand die Einsicht aller Bücher und Schriften der Gesellschaft gestatten muss. Für die Sondervertreter könne nur die Einsichtnahme in Bücher und Papiere und auch nur in­ soweit infrage kommen, als sie zur entsprechenden Durchführung des Ersatzprozesses erforderlich sei. Das Gericht beruft sich dann auf einen Satz des preußischen Landrechts: „wem die Gesetze ein Recht geben, dem bewilligen sie auch die Mittel, ohne welche dasselbe nicht ausgeübt werden kann“. 2. Aktualität durch HypoVereinsbank ./. UniCredit Anschließend folgte eine jahrzehntelange Phase in der die Figur des besonderen Vertreters die Rechtsprechung und die jeweils aktuelle Literatur kaum beschäftigt hat. Man hat insoweit geradezu von einem „Dornröschenschlaf “4 gesprochen. Eine Wende trat erst ein im Fall der Auseinandersetzungen des von den Minderheitsaktionären der HypoVereinsbank bestellten besonderen Vertreters in den Auseinandersetzungen zwischen ihr und ihrer 95 %igen Mehrheitsaktionärin UniCredito ab 2007 ein. Auch hier gab es eine malerische Frage: „Erwacht ein schlafender Riese?“5 Damit ging die Diskussion in Rechtsprechung und Aufsätzen richtig los.

2 Schubert/Hommelhoff, Hundert Jahre modernes Aktienrecht, 1985, S. 469 f. 3 RG v. 4.11.1913 – Rep. II.297/13, RGZ 83, 248 – Westdeutsche Sprengstoffwerke AG. 4 Mock, DB 2008, 393. 5 Verhoeven, ZIP 2008, 393.

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Ermittlungsbefugnisse des besonderen Vertreters (§ 147 AktG)

III. Die jüngere Rechtsprechung und Literatur 1. Rechtsprechung Wichtiger Vorläufer der Entscheidungen zu den Informationsrechten des besonderen Vertreters war das Urteil des BGH in der Sache ARAG/Garmenbeck aus dem Jahr 1997.6 Darin hat das Gericht ausgesprochen, der Aufsichtsrat sei nicht nur verpflichtet, bei Verdachtsmomenten Schadensersatzansprüche gegen Vorstandsmitglieder zu prüfen, sondern habe diese Ansprüche grundsätzlich auch durchzusetzen, sofern nicht gewichtige Gründe des Gesellschaftswohls entgegenstehen. Daran zeigt sich, welche Bedeutung der BGH der Verfolgung von Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft beimisst. Nun zu den hier im Fokus stehenden Ermittlungsbefugnissen des besonderen Vertreters. Den Anfang machten zwei Entscheidungen des LG München  I und des OLG München, jeweils in der Sache HypoVereinsBank/UniCredit. Beide zitieren übrigens die Entscheidung RGZ 83, 248, über die vorstehend berichtet wurde. Das LG München7 meinte, den Aktionären habe die gerichtliche Bestellung eines Sonderprüfers (§ 142 AktG) oder eines besonderen Vertreters (§ 147 AktG) wahlweise offen gestanden. Beide hätten unterschiedliche Kompetenzen. In casu habe die Hauptversammlung die Bestellung eines besonderen Vertreters beschlossen. Die Gesellschaft sei verpflichtet, diesem die Durchführung seiner Tätigkeit zu gestatten und ihn nicht an erforderlichen Maßnahmen zu hindern. Er habe ein Auskunftsrecht gegenüber den Mitgliedern des Vorstands und Aufsichtsrats, deren Angestellten sowie Abschlussprüfern und sonstigen Vertragspartnern, soweit dieses notwendig sei, um die zur Substantiierung des Anspruchs erforderlichen Informationen zu erhalten. Der besondere Vertreter trete bezüglich der Informationserlangung an die Stelle des Vorstands und habe demzufolge auch die Direktionsbefugnis im Zusammenhang mit der Befragung von Mitarbeitern. Das OLG München8 hat einleitend die Ansicht vertreten, ein Beschluss der Hauptversammlung zur Bestellung eines besonderen Vertreters müsse die anspruchsbegründenden Sachverhalte hinreichend konkret bezeichnen. Der besondere Vertreter habe Auskunfts- und Einsichtsrechte. Diese Rechte seien jedoch unmittelbar an die Geltendmachung bestimmter Ersatzansprüche gebunden und damit, was die Aufklärung von Sachverhalten anbelangt, enger als die Prüfungsbefugnisse eines Sonderprüfers. Die Aufgabe des besonderen Vertreters sei nach § 147 Abs. 2 Satz 1 AktG die „Geltendmachung des Ersatzanspruches“. Eine Befugnis, Prüfungen durchzuführen, habe er nur als Annexkompetenz zu dieser Funktion.

6 BGH v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244 = NJW 1997, 1926; dazu EWiR 1997, 677 Priester. 7 LG München I v. 6.9.2007 – 5 HK O 12570/07, ZIP 2007, 1809 = NZG 2007, 916; dazu EWiR 2007, 611 Wilsing/Ogorek. 8 OLG München v. 28.11.2007 – 7 U 4498/07, ZIP 2008, 73.

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Der Auffassung des OLG München ist das LG Duisburg gefolgt. Ersatzansprüche müssten nach Gegner und Gegenstand hinreichend konkret bezeichnet werden. Nur so könne der dem besonderen Vertreter erteilte Auftrag nachprüfbar begrenzt werden. Letzteres sei erforderlich, um seine Befugnisse von Sonderprüfer abzugrenzen. Das setze einen wenigstens im Kern bereits bekannten Sachverhalt voraus. Nur im Rahmen dieses so umrissenen Aufgabenkreises habe er das Recht, Bücher und Papiere der Gesellschaft einzusehen.9 Das OLG Köln10 stellt fest, der besondere Vertreter könne von der Gesellschaft die zur Erfüllung seiner Aufgaben erforderlichen Informationen verlangen. Dabei stehe ihm ein weitreichendes, nur unter dem Gesichtspunkt unsachgemäßer Ausübung begrenztes Ermessen zu. Die Auskunftspflicht der Gesellschaft sei auf die Erteilung seiner durch den Hauptversammlungsbeschluss umrissenen Aufgaben beschränkt. Der besondere Vertreter habe die im Hauptversammlungsbeschluss genannten Sachverhalte zu prüfen und bedürfe dazu auch der im Klageantrag genannten Hintergrundinformationen. Unterschiedliche Ansichten bestehen, inwieweit das Auskunftsrecht des besonderen Vertreters einen Anfangsverdacht voraussetzt. Das LG Stuttgart hat einen solchen mit der Begründung verlangt, ohne ihn fehle ein konkretisierbarer Lebenssachverhalt.11 Dem hat das LG Heidelberg widersprochen. Bereits die Würdigung, ob genügend Anhaltspunkte für einen Anfangsverdacht vorliegen, erfordere eine gewisse Sachaufklärung.12 2. Schrifttum Die vorstehende Judikatur hat zu einem lebhaften Echo in literarischen Stellungnahmen geführt. Wie die Rechtsprechung, so ist auch das Schrifttum hinsichtlich des Umfangs der einem Sondervertreter zugestandenen Ermittlungsbefugnisse gespalten. Es geht im Kern um die Abgrenzung zum Sonderprüfer (§ 142 AktG). Die klassische Ansicht billigt dem besonderen Vertreter durchaus Prüfungsrechte zu, will aber nicht so weit gehen wie beim Sonderprüfer. Im Anschluss an den Fall HypovereinsBank/ UniCredito gibt es eine Reihe von Stellungnahmen, die sich auf die – sehr weit gesehenen – Aufklärungsrechte des besonderen Vertreters konzentrieren. Darauf ist nachfolgend im einzelnen einzugehen.

9 LG Duisburg v. 16.4.2013 – 22 O 12/13, ZIP 2013, 1379, 1380. 10 OLG Köln v. 4.12.2015 – 18 U 149/15 – Strabag, NZG 2016, 147, 148; dazu EWiR 2016, 135 – Nikoleyczik/Graßl. 11 LG Stuttgart v. 27.10.2009 – 32 O 5/09 – KfH – Züblin, ZIP 2010, 329, 330. 12 LG Heidelberg v. 4.12.2015 –11 O 37/15 KfH, ZIP 2016, 471.

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Ermittlungsbefugnisse des besonderen Vertreters (§ 147 AktG)

IV. Kontroverse Debatte 1. Das System der §§ 142, 145, 147 AktG „Zur Prüfung von Vorgängen bei der Gründung oder der Geschäftsführung kann die Hauptversammlung mit einfacher Stimmenmehrheit Prüfer (Sonderprüfer) bestellen“ (§ 142 Abs. 1 Satz 1 AktG). Die Rechte der Sonderprüfer werden in § 145 AktG näher geregelt. Dazu heißt es in seinem Abs. 1: „Der Vorstand hat den Sonderprüfern zu gestatten, Bücher und Schriften der Gesellschaft sowie die Vermögensgegenstände … zu prüfen“. Der Abs. 2 lautet: „Die Sonderprüfer können von den Mitgliedern des Vorstandes und des Aufsichtsrats alle Erklärungen und Nachweise verlangen, welche die sorgfältige Prüfung der Vorgänge notwendig macht“. In § 147 Abs. 1 Satz 1 AktG wird festgelegt, „Die Ersatzansprüche der Gesellschaft … aus der Geschäftsführung … gegen die Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrates müssen geltend gemacht werden, wenn die Hauptversammlung dies mit einfacher Stimmenmehrheit beschließt“. Abs.  2 bestimmt: „Zur Geltendmachung des Ersatz­ anspruches kann die Hauptversammlung besondere Vertreter bestellen“. Über die Prüfungsbefugnisse des besonderen Vertreters enthält das Gesetz dagegen keine Bestimmungen. Abgerundet werden die aktionärsfreundlichen Regeln mit dem Klagezulassungsverfahren (§ 148 AktG).13 Aus der gesetzlichen Unterscheidung zwischen dem Sonderprüfer und dem besonderen Vertreter werden allerdings in der neueren Diskussion hinsichtlich der Ermittlungsbefugnisse des besonderen Vertreters voneinander deutlich abweichende Konsequenzen gezogen. 2. Klassische Ansicht: Aufgabentrennung Sonderprüfer/besonderer Vertreter Die traditionelle Auffassung geht im wesentlichen auf die eingangs vorgestellte Entscheidung des Reichsgerichts14 zurück. Darin werden dem Bevollmächtigten, also dem heutigen besonderen Vertreter, umfassende Kontrollrechte eingeräumt, aber nur zur Durchführung des Ersatzprozesses. Das Gericht trennt also klar zwischen „Revisor“ und „Bevollmächtigten“. Für die eigene Aufgabe des Sonderprüfers spricht ferner, dass er gemäß § 145 Abs. 6 AktG einen schriftlichen Bericht zu erstatten hat, in dem er auch die tatsächlichen Grundlagen der Prüfungsergebnisse aufzuführen hat, soweit sie für die weitere Urteilsbildung und Beschlussfassung der Hauptversammlung von Bedeutung sind.15 13 Eingefügt durch das UMAG vom 22.9.2005, BGBl. I 2005, 2802. Dazu etwa Arnold in Münch­ Komm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 148 AktG Rz. 5 f.; zum Verhältnis von §§ 93 und 148 AktG Seibert in FS Priester, 2007, S. 763 ff. 14 RG v. 4.11.1913 – Rep. II.297/13, RGZ 83, 248. 15 Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, 6. Aufl., §§ 142146 AktG Rz. 42; Hüffer, ZHR 174 (2010), 646, 663; Rieckers/J. Vetter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 145 AktG Rz. 93.

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Das Erfordernis eines nötigen Abstands zwischen Sonderprüfer und besonderem Vertreter entspricht weiterhin der überwiegenden Meinung.16 3. Neue These: Vorrang des besonderen Vertreters Eingeleitet wurde die Verstärkung der Ermittlungsbefugnisse des besonderen Vertreters durch die oben dargestellte Entscheidung des LG München I.17 Sie hat ihren Protagonisten dann in Sebastian Mock gefunden, der sie gegen die ebenfalls geschilderte abweichende Beurteilung des OLG München18 in einer ausführlichen Anmerkung verteidigt hat.19 Später hat er seine Ansicht noch einmal in einer breit angelegten Untersuchung vorgetragen.20 Als Hauptargument dient den Anhängern der neuen Auffassung der Umstand, dass eine Minderheit bei der Bestellung des besonderen Vertreters gegenüber dem Sonderprüfer durch das Stimmverbot des § 147 Abs. 1 AktG besser geschützt sei, weil dieses auch den Aktionär erfasst, gegen den Ansprüche geltend gemacht werden sollen.21 Ferner wird auf die Ansicht rekurriert, der besondere Vertreter verhindere eine Verjährung der Schadensersatzansprüche. Es komme zu einer faktischen Verkürzung der in §  93 Abs.  6 AktG vorgesehenen Verjährungsfrist um den Zeitraum, der für die Durchführung einer Sonderprüfung erforderlich wäre.22 4. Stellungnahme Entgegen den umfangreichen Ausführungen von Mock23 gibt es eine legislatorische Verknüpfung von Sonderprüfung und besonderem Vertreter. Ersterer ist zur Ermittlung etwaiger Ersatzansprüche zuständig, letzterer zu deren gerichtlicher oder außergerichtlicher Geltendmachung.24 Der Sonderprüfer ist ein aliud gegenüber dem ­Sonderprüfer, wie dies Mock ausdrücklich selbst eingeräumt hat. 25 Die Regelung der 16 Binder, ZHR 176 (2012), 380, 397 ff.; Herrler in Grigoleit, AktG, 1. Aufl. 2013, § 147 AktG Rz.  3; Hüffer, ZHR 174 (2010), 642, 666  f.; Kling, ZGR 2009, 190, 216; Priester, JbFSt 2008/2009, 376, 378; G. Wirth in FS Hüffer, 2010, S. 1129, 1150; Löbbe in VGR, Bd. 22, 2016, S. 25, 43; H.P. Westermann, AG 2009, 237, 246 : „vertretbar, die Befugnisse etwa in der Weise einzuschränken, wie es das OLG München (v. 28.11.2007 – 7 U 4498/07, ZIP 2008, 73) getan hat.“ 17 LG München I v. 6.9.2007 – 5 HK O 12570/07, ZIP 2007, 1809. 18 OLG München v. 28.11.2007 – 7 U 4498/07, ZIP 2008, 73. 19 Mock, DB 2008, 393 ff. 20 Mock, ZHR 181 (2017), 688 ff. 21 Herrler in Grigoleit, AktG, § 147 AktG Rz. 3; G.Wirth in FS Hüffer, 2010, S. 1129, 1147; Hüffer, ZHR 174 (2010), 642, 672; A. Wirth/Pospiech, DB 2009, 2471, 2475. 22 Mock, ZHR 181 (2017), 700, 705; ähnlich Nietsch, ZGR 2011, 589, 618. 23 Mock, ZHR 181 (2017), 688, 700-702. 24 In Aktiengesetz 1937 hieß es noch „zur gerichtlichen Durchsetzung“. Das wurde mit dem Aktiengesetz 1965 durch dieutige Formulierung „zur Geltendmachung“ ersetzt, um die ­außergerichtliche Durchsetzung einzuschließen, Kropff, Aktiengesetz 1965, S. 216. 25 Mock, DB 2008, 393, 396.

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Ermittlungsbefugnisse des besonderen Vertreters (§ 147 AktG)

§§ 142 und 147 AktG steht in einem unmittelbaren Zusammenhang. Dafür spricht einmal der Gesetzesaufbau: Sie werden in demselben Unterabschnitt geregelt. Inhaltlich ist zu konstatieren, dass sie chronologisch und sachlogisch26 aufeinander bezogen sind. Zwischen ihnen besteht ein gewisses Stufenverhältnis.27 Zum anderen lässt sich auch der Gesetzeswortlaut heranziehen: § 147 Abs. 1 AktG spricht von „Geltendmachung“, nicht von „Prüfung“ oder „Ermittlung“ von Ansprüchen.28 Schon in der Begründung zum Aktiengesetz 1884 heißt es, die Revision diene der Vorbereitung des Verfolgungsrechts.29 Es bedarf also eines Abstands zwischen Sonderprüfer und besonderem Vertreter.30 Wenn es heißt, eine Sonderprüfung nach §§ 142 ff. AktG sei kein Vorprüfungsver­ fahren für die Geltendmachung von Ersatzansprüchen durch den besonderen Vertreter,31 ist das nur in dem seltenen Fall zutreffend, in dem einmal die Fakten für die Anspruchsgeltendmachung „auf dem Tisch liegen.“ Die Organqualität des besonderen Vertreters ist umstritten, wird aber überwiegend bejaht.32 Sie füge sich in das organisationsrechtliche Konzept der Aktiengesellschaft ein.33 Allerdings lassen sich daraus keine Schlüsse auf dessen Befugnisse ziehen.34 Das Stimmverbot des § 136 Abs. 1 Satz 1, 3. Fall AktG ist gewiss ernst zu nehmen, wie der Fall Hypovereinsbank/UniCredito zeigt. Andererseits ist eine Aktionärsminderheit keineswegs wehrlos. Sie kann die Bestellung eines Sonderprüfers gerichtlich durchsetzen (§ 142 Abs. 2 AktG). Darin liegt ein – wie die jüngere Rechtsprechung zeigt – ein bewährtes Schutzinstitut.35 Dem steht nicht entgegen, dass die Antragsteller Tatsachen nachvollziehbar behaupten müssen, die den Verdacht rechtfertigen dass bei dem Vorgang Unredlichkeiten oder grobe Verletzungen des Gesetzes vorgekommen sind. Sie brauchen diese aber weder zu beweisen, noch auch nur glaubhaft zu machen. Ihnen kommt eine durch den Amtsermittlungsgrundsatz eingeschränkte Darlegungund Beweislast zu. Dafür genügt, dass entsprechende Verdachtstatsachen vorliegen.36 26 A.Wirth/Pospiech, DB 2008, 4271, 4275. 27 Löbbe in VGR, Bd. 22, 2016, S. 25, 43. 28 Worauf Löbbe in VGR, Bd. 22, 2016, S. 25, 42 zutreffend hingewiesen hat. 29 Schubert/Hommelhoff, Hundert Jahre modernes Aktienrecht, S. 470. 30 So mit Recht Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 147 AktG Rz. 15. 31 Mock, DB 2008, 393, 394. 32 BGH v. 27.9.2011 – II ZR 225/08, AG 2011, 875 f.; Herrler in Grigoleit, AktG, 1. Aufl. 2013, §  147 AktG Rz.  13; Hüffer, ZHR 174 (2010), 642, 673  f.; Spindler in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 147 AktG Rz. 23; Mock, ZHR 188 (2017), 688, 691 spricht von einem „ad hoc Organ“; a.A. A.Wirth/Pospiech, DB 2008, 274 1, 2474. 33 Mock, DB 2008, 393, 395. 34 Hüffer/Koch, AktG, § 147 AktG Rz. 13; Binder, ZHR 176 (2012), 380, 389 ff.; Löbbe in VGR, Bd. 22, 2016, S. 25, 44. 35 Dazu jüngst Bachmann, ZIP 2018, 101 ff.; Priester in FS Marsch-Barner, 2018, S. 449 ff. 36 Allg.M., statt vieler OLG Stuttgart v. 15.6.2010 – 8 W 391/08, NZG 2010, 864; zuletzt OLG Celle v. 8.11.2017 – 9 W 86/17, DB 2017, 2726, 2728 – Volkswagen – das formuliert, es sei ausreichend, wenn „bei Berücksichtigung aller der Entscheidung zugrunde liegenden Tatsachen mehr für als gegen das Vorliegen einer Unredlichkeit oder einer groben Pflichtverletzung spricht.“

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Was das Argument der Verjährung als Vorteil des besonderen Vertreters angeht, dürfte das nicht besonders schlagkräftig sein. Die Verjährungfrist beträgt bei börsen­ notierten Gesellschaften zehn Jahre, sonst fünf Jahre (§ 93 Abs. 6 AktG). Zum einen wird die Ermittlung und Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen schwerpunktmäßig bei börsennotierten Gesellschaften stattfinden. Zum anderen liegen die Verhältnisse bei börsenfernen, zumeist kleineren Gesellschaften eher übersichtlicher.

V. Ausmaß und Grenzen der Ermittlungsbefugnisse 1. Grundsatz Einer vergleichsweise selten vertretenen Ansicht, die dem besonderen Vertreter jegliche Informationsrechte bestreitet ,37 ist deutlich zu widersprechen. Eine solche Extremposition kann in der Sache38 und nach dem Stand der Diskussion nicht überzeugen.39 Schon das Reichsgericht hat – wie geschildert40 – dem „Sondervertreter“ die zur zweckentsprechenden Durchführung des Ersatzprozesses erforderlichen Informationsrechte zugesprochen. Die Ermittlungsbefugnisse des besonderen Vertreters korrelieren also mit seiner Aufgabe.41 Die Hauptversammlung kann den besonderen Vertreter  – entgegen anderer Ansicht42  – auch nicht zu weiteren Ermittlungen beauftragen. Sie kann ihn bestellen, aber nicht seine Prüfungsbefugnisse ergänzend regeln. Das würde der gesetzlichen Unterscheidung zwischen dem Sonderprüfer und dem besonderen Vertreter widersprechen.43 2. Der besondere Vertreter ist kein Sonderermittler Geht man, wie es hier geschieht, von einer Aufgabentrennung zwischen Sonderprüfer und besonderem Vertreter aus, hat das deutliche Konsequenzen für die Ermittlungsbefugnisse des letzteren. Er ist kein Sonderermittler,44 vor allem kein „Super-Sonderprüfer“.45

37 Humrich, NZG 2914, 441, 446. 38 Flick, GWR 2016, 32 hat das so formuliert, die Geltendmachung der Ersatzansprüche „liefe leer“, wenn der besondere Vertreter nicht die dazu erforderlichen Unterlagen verlangen dürfe. Blumiger meint Verhoeven, ZIP 2008, 245, 247 der besondere Vertreter bleibe diesenfalls „im Regen stehen“. 39 Hüffer, ZHR 174 (2010), 642, 671. 40 Oben II.1. 41 M. Arnold in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 147 AktG Rz. 69. 42 Verhoeven, ZIP 2008, 245, 248. 43 G. Wirth in FS Hüffer, 2010, S. 1129, 1149 f. 44 Hüffer, ZHR 174 (2010), 642, 675; Löbbe in VGR, Bd. 22, 2016, S. 25, 47. 45 Liebscher in Henssler/Strohn, GesR, 3. Aufl. 2016, § 147 AktG Rz.10.

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Ermittlungsbefugnisse des besonderen Vertreters (§ 147 AktG)

Der besondere Vertreter muss vielmehr einen konkret umrissenen Anspruch geltend machen.46 Sollte die Sachverhaltskenntnis dazu nicht ausreichen, hat zuvor eine Sonderprüfung (§§ 142 ff. AktG) stattzufinden.47 Allerdings kann dem LG Heidelberg nicht gefolgt werden, wenn es feststellt, zur Bestellung eines besonderen Vertreters bedürfe es keines Anfangsverdachts.48 Damit würden dem besonderen Vertreter keine effektiven Zügel angelegt.49 3. Anspruchsdurchsetzung als Grenze Der besondere Vertreter hat durchaus eine Annexkompetenz, die Frage ist nur, wie weit diese reicht. Die These einer „umfassenden Annexkompetenz unter Missbrauchsvorbehalt“50 geht ganz sicher zu weit. Es handelt sich vielmehr um Ergänzungsinformationen. Sie dienen der Effektivität der Rechtsverfolgung.51 Zunächst sind dem besonderen Vertreter diejenigen Informationen zu erteilen, um seine Aufgabe beginnen zu können. Dazu gehören Satzung, Geschäftsordnung und der Jahresabschluss.52 Darüber hinaus kann der besondere Vertreter in Erfüllung seiner Aufgabe auch Bücher und Schriften der Gesellschaft einsehen, sofern sie die Geltendmachung der Schadensersatzansprüche betreffen.53 Dazu kommt gegebenenfalls auch die Sichtung der Vorstands-und Aufsichtsratsprotokolle oder die Unterlagen zu einer Investitionsplanung.54 Ferner sind Abhängigkeitsberichte, Geschäftsverteilungspläne oder Rechtsgutachten zu nennen, maßgebend ist immer, ob die erstrebten Informationen der Geltendmachung der Ersatzansprüche dienen. 55 Jedenfalls dürfen die Ermittlungsbefugnisse des besonderen Vertreters nicht weiter reichen als diejenigen eines Sonderprüfers.56 Festzuhalten ist sogar: Wer den besonderen Vertreter mit den gleichen Rechten ausstattet wie den Sonderprüfer, macht diesen uninteressant.57 46 OLG München v. 28.11.2007 – 7 U 4498/07, ZIP 2008, 73, 74; LG Duisburg v. 16.4.2013 – 22 O 12/13, ZIP 2013, 1379, 1380; M. Arnold in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 147 AktG Rz. 70; Löbbe in VGR, Bd. 22, 2016, S. 25, 44. 47 Hüffer, ZHR 174 (2010), 642, 675; Kocher/Lönner, ZIP 2016, 653, 658; Löbbe in VGR, Bd. 22, 2016, S. 25, 46; Spindler in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 147 AktG Rz. 33. 48 LG Heidelberg v. 4.12.2015 –11 O 37/15 KfH, ZIP 2016, 471; zustimmend Mock, ZHR 181 (2017), 688, 726: der Anfangsverdacht ergebe sich bereits aus dem Bestellungsbeschluss des besonderen Vertreters der Versammlung; a.A. LG Stuttgart v. 27.10.2009 – 32 O 5/09, ZIP 2010, 329, 330; Löbbe in VGR, Bd. 22, 2016, S. 25, 45 lässt es genügen, wenn ein „hinreichend konkretisiert Sachverhalt“ dem Bestellungsbeschluss zu Grunde liegt. 49 Man könnte das etwas salopp formulieren: „Dann schnüffel mal schön!“ 50 So Mock, ZHR 181 (2017), 688, 729 f. 51 Hüffer, ZHR 174 (2010), 642, 674. 52 G. Wirth in FS Hüffer, 2010, S. 1129, 1143. 53 Wie dies RG v. 4.11.1913 – Rep. II.297/13, RGZ 83, 248, 252 bereits formuliert hat. Das Gericht hat insoweit das Protokollbuch des Aufsichtsrats, Geschäftsbücher der AG, bestimmte Kostenanschläge und Konstruktionszeichnungen genannt, S. 249. 54 Uwe H. Schneider, ZIP 2013, 1985, 1987. 55 Löbbe in VGR, Bd. 22, 2016, S. 25, 47 f. 56 Hüffer, ZHR 174 (2010), 642, 680. 57 G. Wirth in FS Hüffer, 2010, S. 1138, 1147.

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Ein Zutrittsrecht zu den Räumlichkeiten der Gesellschaft gegen den Willen des Vorstands wird man ihm nicht einräumen können. Das gilt auch für eine Weisungsbefugnis gegenüber den Mitarbeitern.58 Der besondere Vertreter darf sich seine Informationen nicht auf „eigene Faust“ beschaffen.59 Seine Ansprüche kann der besondere Vertreter im eigenen Namen gegen die Gesellschaft vertreten durch den Vorstand 60 geltend machen, erforderlichenfalls im Wege der einstweiligen Verfügung.61 Dann muss das angerufene Gericht darüber entscheiden, inwieweit dem besonderen Vertreter die geltend gemachten Informationsansprüche zustehen. VI. Ergebnis 1. Der besondere Vertreter ist ein altes Institut des deutschen Gesellschaftsrechts. Er hat allerdings Jahrzehnte in Rechtsprechung und Literatur im Schatten gestanden und ist erst vor etwa zehn Jahren – nun aber sehr deutlich – da herausgetreten. Eingeleitet wurde diese Entwicklung durch die Entscheidungen HypoVereinsbank ./. UniCredit. 2. Die anschließende Judikatur und das Schrifttum sind gespalten. Die klassische Position trennt die Aufgaben des besonderen Vertreters von denjenigen des Sonderprüfers. Demgegenüber will eine neue Ansicht der Figur des besonderen Vertreters eine deutlich stärkere Stellung einräumen. 3. Nach hier vertretener Ansicht ist das Institut des Sonderprüfers hinsichtlich seiner Aufgaben und Befugnisse klar von denjenigen des besonderen Vertreters zu trennen. Das bedeutet allerdings nicht, der besondere Vertreter habe keine Informationsrechte. Diese sind jedoch auf die Durchsetzung der Schadensersatzansprüche beschränkt.

58 OLG München v. 28.11.2007  – 7 U 4498/07, ZIP 2008, 73; M. Arnold in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 147 AktG Rz. 72 f.; Riekers/J. Vetter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 147 AktG Rz. 634; Hüffer, ZHR 174 (2010), 642, 679; a.A. LG München v. 6.9.2007 – 5 HK O 12570/07, ZIP 2007, 1809, 1815; Mock, ZHR 181 (2017), 688, 722 m. zahlr. Nachw. z. Streitstand in Fn. 100; Verhoeven, ZIP 2008, 245, 248. 59 Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 147 AktG Rz. 16. 60 Statt vieler Hüffer, ZHR 174 (2010), 642, 682. 61 OLG München v. 28.11.2007  – 7 U 4498/07, ZIP 2008, 73; Hüffer/Koch, AktG, 13.  Aufl. 2018, § 147 AktG Rz. 9. 

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Ulrich Prinz

Steuerliche Organschaft und das Recht der Unternehmensverträge: Gelungene oder eher unheilvolle Verbindung? Inhaltsübersicht I. Anlass, Ausgangspunkt und Reminis­ zenzen: Das Recht der Unternehmensverträge als „Kind des Steuerrechts“ II. Rechtsgrundlagen der ertragsteuerlichen Organschaft: Notwendigkeit eines ­Gewinnabführungsvertrages gemäß § 291 Abs. 1 AktG im steuerlichen Umfeld III. Organschaftsbezogene „Eigenheiten“ im Recht der Unternehmensverträge 1. Zeitaspekte des GAV: Fünfjähriger Mindestzeitraum, Beginn und Beendigung 2. Ausgleichszahlungen an Minderheits­ gesellschafter (Garantiedividende) 3. Der GAV „über die Grenze“

4. Ausschüttungs- und Abführungssperren in der Organschaft 5. Kündigung aus wichtigem Grund 6. Abwicklung/Liquidation der Organ­ gesellschaft als Zwangsbeendigung der Organschaft? IV. Sonderfragen zur Steuerrelevanz „­sonstiger Unternehmensverträge“ 1. Der Beherrschungsvertrag in der ­umsatzsteuerlichen Organschaft 2. Neuentdeckung des „Gewinngemeinschaftsvertrages“ durch den BFH V. Modernes Gruppenbesteuerungssystem ohne GAV-Notwendigkeit als Gebot der Stunde!

I. Anlass, Ausgangspunkt und Reminiszenzen: Das Recht der Unternehmensverträge als „Kind des Steuerrechts“ Prof. Dr. Ulrich Seibert ist ein ausgewiesener Gesellschaftsrechtler, der als Honorarprofessor an der Juristischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf seit vielen Jahren einschlägige Lehrveranstaltungen durchführt und sich als Ministerialrat im „Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz“ um allfällige gesellschaftsrechtliche Fragestellungen, vor allem im Hinblick auf die Gesetzgebung, kümmert. Seine „Leidenschaft für das Steuerrecht“ dürfte dagegen deutlich weniger ausgeprägt sein. Hoffentlich wird ihn dennoch mein kleiner Beitrag zu seinen Ehren interessieren, der an der Schnittstelle des Gesellschaftsrechts zum Steuerrecht angelegt ist und sich konkret mit der Bedeutung von Unternehmensverträgen, insbesondere dem (isolierten) Gewinnabführungsvertrag sowie – aber eher nachgeordnet – dem Beherrschungsvertrag im steuerlichen Organschaftsrecht (insbes. § 14 KStG, § 2 Abs. 2 Satz 2 GewStG, § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG), befasst.1 1 Als Überblick zu den Grundlagen und aktuellen Entwicklungen der steuerlichen Organschaft vgl. Prinz in Prinz/Witt (Hrsg.), Steuerliche Organschaft, 2. Aufl. 2019, Rz. 1.1-1.74; Prinz, FR 2018, 916; Prinz/Keller, DB 2018, 400; Petersen, WPg 2018, 320 und 659; Ismer,

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Zum Einstieg: Die Kodifikation der Unternehmensverträge findet sich im Kern in den §§ 291-307 AktG und nennt abschließend fünf Unternehmensvertragstypen: Beherrschungsvertrag, Gewinnabführungsvertrag (GAV), Gewinngemeinschaftsvertrag, Teilgewinnabführungsvertrag sowie Betriebspacht- und Betriebsüberlassungsvertrag. Es lässt sich vom „Recht der Unternehmensverträge“ als Instrument einer Konzernorganisation sprechen. Die Partner eines Unternehmensvertrages sind verbundene Unternehmen gemäß § 15 AktG. Die höchste Praxisrelevanz haben zum einen der Beherrschungsvertrag (§ 291 Abs. 1 Satz 1, Alt. 1 AktG), bei dem das abhängige Unternehmen ab dem Zeitpunkt der Eintragung in das Handelsregister die Leitung seines Unternehmens der Muttergesellschaft unterstellt. Es entsteht ein Vertragskonzern (§ 18 Abs. 1 Satz 2 AktG), der auch eine Verlustübernahmeverpflichtung der Muttergesellschaft beinhaltet und mitbestimmungsrechtliche Folgen haben kann. Zum anderen ist der Gewinnabführungsvertrag (§ 291 Abs. 1 Satz 1, Alt. 2 AktG) zu nennen, der mit Eintragung in das Handelsregister auf den Beginn des Geschäftsjahres zurückwirken kann und einen Haftungsverbund mit Gewinnabführungs-/Verlustübernahmeverpflichtung zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft bewirkt, ohne auf eine eigenständige Leitungsmacht zu verzichten. Auch insoweit wird im Regelfall ein Konzernverbund entstehen (§ 18 Abs. 1 Satz 1, 3 AktG). Dies alles gilt für Aktienrechtskonzerne und GmbH-Konzerne  – jedenfalls nach herrschender Meinung  – mehr oder weniger gleichermaßen. In Kombination beider Vertragstypen spricht man vom „Organschaftsvertrag“. Insoweit wird die gedankliche Nähe zum Steuerrecht schon begrifflich deutlich. Vereinfacht ist beiden Unternehmensvertragstypen gemeinsam: Der Abschluss des Unternehmensvertrages bedarf mindestens einer ¾-Mehrheit in der Gesellschafterversammlung der abhängigen Gesellschaft (§ 293 Abs. 1 AktG), der Vertrag muss zur Erlangung von Wirksamkeit im Handelsregister der abhängigen Gesellschaft eingetragen werden (konstitutive Wirkung, § 294 AktG) und enthält diverse Sicherungsbestimmungen für die abhängige Gesellschaft, deren Gläubiger und außenstehende Anteilseigner. Üblicherweise wird auch die Gesellschafterversammlung der herrschenden Gesellschaft mit qualifizierter Mehrheit zustimmen müssen. Eine Eintragung des Unternehmensvertrages im Handelsregister der herrschenden Gesellschaft ist nach h.M. wohl nicht zwingend, aber möglich. Insgesamt muss man von einem hochentwickelten und differenzierten Konzernrecht sprechen.2 Zur Steuerrelevanz: Das deutsche Ertragsteuerrecht knüpft im Grundsatz entsprechend dem Steuersubjektprinzip an die einzelne rechtliche Einheit und den von ihr nach Maßgabe des Leistungsfähigkeitsprinzips erwirtschafteten Einkünften an. Die Zusammenfassung mehrerer rechtlich selbständiger Unternehmen zu einer wirtschaftlichen Einheit im Rahmen eines faktischen oder vertraglichen Konzernverbunds wird dagegen nur im Rahmen einer „ertragsteuerlichen Organschaft“ berücksichtigt, die als wichtige Wirkung einen Ausgleich von Gewinnen und Verlusten in verschiedenen DStR 2012, 821.  Speziell zu Sonderfragen bei Kreditinstituten vgl. Brühl/Holle/Weiss, FR 2018, 131. 2 Vgl. als Überblick Emmerich/Habersack, Konzernrecht, 10. Aufl. 2013, S. 196-224; Hüffer/ Koch, AktG, 13.  Aufl. 2018, §  15 Rz.  1-7; Paschos in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2019, § 291 AktG Rz. 1-7; Boor, RNotZ 2017, 65-86; Link in Prinz/Witt (Hrsg.), Steuerliche Organschaft, 2. Aufl. 2019, Rz. 2.1-2.151; Schreiber, GmbHR 2018, 1003.

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rechtlichen Einheiten zulässt. Grundcharakteristikum einer solchen ertragsteuerlichen Organschaft ist seit jeher die enge Anbindung an das Gesellschafts- und Bilanzrecht, konkret das Aktienrecht verbundener Unternehmen. Der Gewinnabführungsvertrag gemäß § 291 Abs. 1 AktG, der als unternehmensrechtlicher Organisationsvertrag gesellschafts- und schuldrechtliche Elemente beinhaltet, ist zentraler Baustein für eine ertragsteuerliche Organschaft, bereitet der Steuerpraxis aber seit jeher wegen haftungsdurchbrechender Wirkung, vielfältiger Formalismen und Streitanfälligkeit vor allem bei Minderheitsgesellschaftern große Probleme. Dessen ungeachtet ist aber klar: Die ertragsteuerliche Organschaft erfordert im Ergebnis einen über den Gewinnabführungsvertrag begründeten Unternehmensverbund mit allen Konsequenzen. Zur Historie: Schaut man sich die historischen Wurzeln des geltenden Organschaftsrechts an, die im Ausgangspunkt auf die Rechtsprechung des Preußischen OVG und deren Fortentwicklung durch RFH und BFH zurückgeführt werden können, so stößt man auf das von der RFH-Rechtsprechung entwickelte Erfordernis eines zentralen „Organschaftsvertrages“, durch den sich die Organgesellschaft (= abhängige Kapitalgesellschaft) den Weisungen des Organträgers unterstellen musste, und gegen eine Verlustdeckungszusage die Gewinnabführung versprach. Nur durch einen solchen Organschaftsvertrag konnte eine Einkommenszurechnung im Wirtschaftsverbund erfolgen. Dies wurde durch das Gesellschaftsrecht dann erstmals im Aktiengesetz von 1965 aufgegriffen und in § 291 Abs. 1 AktG in die beiden Unternehmensvertrags­typen Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag „gespalten“.3 Insoweit muss das Aktienrecht der Unternehmensverträge als „Kind des Steuerrechts“ bezeichnet werden.4 Deutlich werden Reminiszenzen an die auch in Gesellschaftsrechtskreisen bekannte Steuerrechtlerin Brigitte Knobbe-Keuk. In einem kleinen Buchbeitrag aus dem Jahre 1986 hat sie die Frage gestellt: „Das Steuerrecht – Eine unerwünschte Rechtsquelle des Gesellschaftsrechts?“. Die „Vorreiterrolle“ der steuerlichen Organschaft mit der darauf aufbauenden Verbreitung von Gewinnabführungs- und Beherrschungsverträgen, die dann zu erstmaligen Kodifizierungen des Unternehmensvertragsrechts im Aktiengesetz 1965 führte, wird von ihr als „gute Tat des Steuerrechts“ bezeichnet.5 Die Einschätzung von Knobbe-Keuk mag man aus heutigem Blickwinkel teilen oder nicht. Fakt ist jedenfalls: Der GAV als konzernrechtlicher Organisationsvertrag blickt – historisch betrachtet – auf „steuerliche Wurzeln“ zurück. Der Beherrschungsvertrag hat seit einer Steuerrechtsänderung 2002 seine Bedeutung für ertragsteuerliche Organschaftszwecke eingebüßt. Der GAV ist allerdings bis heute höchst organschaftsrelevant. Aus aktuellem Blickwinkel soll nun der Frage „nachgespürt“ werden, ob die Anbindung des steuerlichen Organschaftsrechts an den GAV als Ausprägungsform des Unternehmensvertragsrechts als gelungen oder eher als unheilvoll zu qualifizieren ist. Die Zukunft wird erweisen, ob das Gesellschaftsrecht insoweit gleichermaßen Impulse für die steuerliche Organschaft setzen kann. 3 Vgl. Priester in Herzig, Organschaft, 2003, S. 39 mit Hinweis auf Altmeppen in Münchener Kommentar, Einleitung §§ 291 ff. AktG Rz. 10 ff. 4 Vgl. plakativ Priester in Herzig, Organschaft, 2003, S. 39. 5 Vgl. Knobbe-Keuk, Das Steuerrecht  – Eine unerwünschte Rechtsquelle des Gesellschaftsrechts, Band 4 der Schriftenreihe Rechtsordnung und Steuerwesen, 1986, S. 3 f.

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II. Rechtsgrundlagen der ertragsteuerlichen Organschaft: Notwendigkeit eines Gewinnabführungsvertrages gemäß § 291 Abs. 1 AktG im steuerlichen Umfeld Die ertragsteuerliche Organschaft ist für Körperschaftsteuerzwecke in §§ 14-19 KStG und für Gewerbesteuerzwecke in § 2 Abs. 2 Satz 2 GewStG tatbestandsidentisch geregelt. Wesentliche, kumulativ zu erfüllende Tatbestandsvoraussetzungen einer ertragsteuerlichen Organschaft sind dabei:6 –– Organgesellschaftsfähig sind nur abhängige Unternehmen in Gestalt einer AG, GmbH, SE, KGaA oder anderweitigen ausländischen Kapitalgesellschaft mit inländischer Geschäftsleitung und Sitz in einem EU/EWR-Mitgliedstaat; Drittstaaten-Kapitalgesellschaften sind trotz inländischer Geschäftsleitung nicht „organschaftsfähig“. –– Die abhängigen Unternehmen müssen in einen Organträger als herrschendes Unternehmen eingegliedert sein. Es muss sich beim herrschenden Unternehmen um eine Körperschaft, eine natürliche Person oder eine gewerblich tätige (nicht geprägte) Personengesellschaft mit jeweils inländischer Betriebsstätte handeln. Personengesellschaften können deshalb nur Organträger, nicht Organgesellschaft sein. Stets muss es sich um einen „einzigen“ Organträger handeln. Die sog. Mehrmütterorganschaft wurde mit Wirkung ab dem Jahre 2003 steuerlich abgeschafft. –– Die Organgesellschaft muss finanziell ununterbrochen eingegliedert sein vom Beginn ihres Wirtschaftsjahres an nach Maßgabe der Mehrheit der Stimmrechte. Die Eingliederung kann unmittelbar, ggf. aber auch mittelbar erfolgen. –– Schließlich muss die Organgesellschaft ihren ganzen Gewinn wegen eines auf ­mindestens fünf Jahre (= Zeitjahre, nicht Wirtschaftsjahre) abgeschlossenen und durchgeführten Gewinnabführungsvertrags an den Organträger abführen. Da­ raus folgt: Durch Beherrschungsverträge, Teilgewinnabführungsverträge, Gewinngemeinschaftsverträge oder andere unternehmensvertragliche Verbindungen kann keine wirksame ertragsteuerliche Organschaft begründet werden. Nur ein GAV als Vertragstypus ist „organschaftsbegründend“, was wegen der GAV-Fiktion des § 291 Abs. 1 Satz 2 AktG auch für sog. Geschäftsführungsverträge gelten sollte.7 Obwohl ein kodifiziertes Konzernrecht im GmbH-Bereich fehlt, wird der GAV für Steuerzwecke auch für Organgesellschaften in der Rechtsform einer GmbH gefordert (§ 17 KStG enthält direkte Rechtsverweise auf §§ 301, 302 AktG; wegen fehlender Bezugnahme auf §  302 Abs.  4 AktG s. BMF v. 3.4.2019 mit Vertrauensschutzregelung). Bereits an dieser Stelle werden die ganz eigenständigen Wertungen des steuerlichen Organschaftsrechts mit ihren Abweichungen zum Gesellschaftsrecht der Unternehmensverträge überdeutlich. 6 Vgl. dazu eingehender Prinz in Handbuch Bilanzsteuerrecht, 3. Aufl. 2018, Teil A Kapitel XI: Besonderheiten bei ertragsteuerlicher Organschaft, Rz. 1610 ff. 7 Zu dieser in der Konzernrealität nur selten zu beobachtenden Gestaltungsform vgl. Hage­ böke/Hassbach, Der Konzern 2016, 167.

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Rechtsfolge der Organschaft ist für Körperschaftsteuerzwecke die Zurechnung des positiven/negativen Einkommens an den Organträger als „fremdes Einkommen“. ­Insoweit wird das Steuersubjektprinzip wegen des Bestehens eines GAV und des ­dadurch bewirkten Haftungsverbunds (mit möglicher Verlusttragung durch das herrschende Unternehmen) durchbrochen. Entsprechendes gilt im Bereich der Ein­kom­ mensteuer bei natürlichen Personen als Mitunternehmer einer Organträger-Personengesellschaft als begrenzt steuerrechtsfähiges Einkunftserzielungssubjekt (§ 14 Abs. 1 Nr. 2 KStG, § 15 Abs. 1 Nr. 2 EStG). Die Organgesellschaft bleibt allerdings – ungeachtet der Ergebnisversteuerung beim jeweiligen Organträger – als Rechtsperson erhalten mit einer eigenen Bilanzierungsverpflichtung. Für Gewerbesteuerzwecke gilt die Organgesellschaft dagegen als (unselbständige) Betriebsstätte des Organträgers. Eine Ergebnis- oder Kapitalkonsolidierung  – wie sie sich aus der Konzernrechnungslegung ergibt (etwa § 297 Abs. 3 Satz 1 HGB) – erfolgt für die ertragsteuerliche Organschaft nicht.

III. Organschaftsbezogene „Eigenheiten“ im Recht der Unternehmensverträge Die gesellschaftsrechtlichen Bestimmungen zum GAV und dessen „Integration“ in die Grundlagen der ertragsteuerlichen Organschaft (§§ 14, 17 KStG) haben zu einer engen Verzahnung beider Rechtsgebiete geführt. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein harmonisiertes Konzernrecht, das im „Gleichklang“ von Gesellschafts- und Steuerrecht“ funktioniert“, nicht besteht. Vielmehr haben sich in den letzten Jahrzehnten beide Rechtsgebiete jeweils eigenständig und unabhängig von­ einander fortentwickelt. Bemerkenswert dabei ist vor allem das „teleologische Eigenleben“ des GAV im ertragsteuerlichen Organschaftsrecht. Gerade in der jüngeren Rechtsprechung des I. Senats beim BFH, der in der Auslegung des steuerlichen Organschaftsrechts federführend ist, wird auf vom Gesellschaftsrecht abweichende „autonome Steuerauslegung“ hoher Wert gelegt. Als Grundregel gilt: Die Anerkennung einer ertragsteuerlichen Organschaft erfordert mindestens die Einhaltung der zivilrechtlichen Grundlagen für den GAV. Im Detail stellt das Steuerrecht aber selbst bei tatbestandssymmetrischen Erfordernissen – wie etwa der „Kündigung aus wichtigem Grund“ – eigenständige Anforderungen. Dies soll im Weiteren dargelegt werden. 1. Zeitaspekte des GAV: Fünfjähriger Mindestzeitraum, Beginn und Beendigung Zeitliche Anwendungsfragen spielen in der Praxis der Organschaft eine ganz wesentliche Rolle und erfordern bei Konzeption des GAV sowie dessen Ingangsetzung und Beendigung eine enge Abstimmung zwischen Gesellschaftsrecht und Steuerrecht. So finden sich beispielsweise bei organschaftsrelevanten Beteiligungstransaktionen häufig sog. Mitternachtsklauseln, die eine Übertragung zum 31.12. 24:00 Uhr / 1.1. 00:00 Uhr vorsehen, um ungewollte Organschaftsunterbrechungen zu vermeiden (s. auch R 14.4 Abs. 2 KStR). Der Veräußerer bleibt in Bezug auf seine Organbeteiligung Organträger im alten Jahr, der Erwerber begründet eine neue Organschaft mit Beginn des neuen 685

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Jahres. Gerade in Transaktionsfällen finden sich darüber hinaus häufig Rumpfgeschäftsjahre, um so schnell wie möglich einen Gleichklang von finanzieller Einglie­ derung und GAV-Begründung im Hinblick auf die steuerliche Anerkennung der ­Organschaft zu erreichen.8 Bei Umwandlungen/Umstrukturierungen von Organgesellschaft bzw. Organträger stellen sich eine Reihe von Sonderfragen zur Festsetzung/ Unterbrechung des Organschaftsverhältnisses (vgl. insbes. Org. 01-Org. 34 Umwandlungssteuererlass 2011). Fünfjähriges Mindestzeiterfordernis: Im Ausgangspunkt fordert § 14 Abs. 1 Nr. 3 KStG, dass der organschaftsrelevante GAV „auf mindestens fünf Jahre abgeschlossen und während seiner gesamten Geltungsdauer durchgeführt“ wird. Dies gilt für sämtliche Rechtsformen einer Organgesellschaft gleichermaßen, also auch für eine Organ-­ GmbH. Das Gesellschaftsrecht kennt eine solche zeitliche Mindestbefristungsdauer nicht. Auch ein plangemäß nur auf drei Jahre abgeschlossener GAV ist bei Erfüllung sämtlicher Kautelen gesellschaftsrechtlich wirksam. Aus steuerlicher Sicht liegt dagegen eine sog. verunglückte Organschaft vor mit der Folge, dass die Gewinnabführung als verdeckte Gewinnausschüttung, die Verlustübernahme als verdeckte Einlage zu qualifizieren ist. Der BFH verlangt einen Abschluss auf mindestens fünf Zeitjahre, nicht Wirtschaftsjahre, wobei der Zeitraum beginnt mit dem Anfang des Wirtschaftsjahres, für das die Rechtsfolgen der Organschaft erstmals eintreten (R 14.5 Abs.  2 KStR). Offensichtlich verfolgt der Steuergesetzgeber mit dem spezifischen fünfjährigen Mindestzeiterfordernis eine Manipulationsabwehr, um einem „steueroptimierten Hin und Her“ zwischen Organschaft und Nichtorganschaft „einen Riegel“ vorzuschieben. Der BFH stellt dies in seiner Rechtsprechung dahingehend klar, dass die Organschaft nicht zum Zweck willkürlicher Beeinflussung der Besteuerung und zu Einkommensverlagerungen von Fall zu Fall begründet oder beendet werden darf.9 Allerdings erkennt der BFH bei der Berechnung der fünfjährigen Mindestlaufzeit eines GAV im Gleichklang mit dem Gesellschaftsrecht die achtmonatige umwandlungssteuerliche Rückwirkungsfiktion an, auch wenn sie auf einen Zeitpunkt vor Gründung der Organgesellschaft wirkt.10 Der unterjährige Abschluss eines GAV mit einer bereits im Bestand der Muttergesellschaft befindlichen Vorratsgesellschaft, in die beispielsweise ein Teilbetrieb gemäß § 20 UmwStG zu Buchwerten mit achtmonatiger Rückwirkung eingebracht wird, wird für die Berechnung der Fünfjahresfrist anerkannt. Allerdings muss  – ganz unabhängig von dem Mindestzeiterfordernis des GAV  – eine finanzielle Eingliederung der potentiellen Organgesellschaft bereits zu Beginn von deren Wirtschaftsjahr vorliegen. Dies ist laut BFH dann nicht der Fall, wenn die Anteile an der Organgesellschaft im Rückwirkungszeitraum unterjährig von einem Dritten durch den Organträger erworben wurden. Man sieht an diesem Beispiel ganz deutlich, dass die unterschiedlichen Zeitkomponenten im steuerlichen Organschaftsrecht einer gemeinsamen Gestaltungsstrategie bedürfen. 8 Zu den diversen Zeitebenen der Organschaft vgl. als Überblick Prinz/Keller, DB 2018, 400, 407; Prinz in Prinz/Witt, Steuerliche Organschaft, 2. Aufl. 2019, Rz. 1.44-1.47. 9 Vgl. BFH v. 10.5.2017 – I R 19/15, BStBl. II 2019, 81, Rz. 9; BFH v. 10.5.2017 – I R 51/15, BStBl. II 2018, 30, Rz. 11.  10 So ausdrücklich BFH v. 10.5.2017 – I R 19/15, DB 2017, 2264.

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Verspätete Handelsregistereintragung des GAV: § 14 Abs. 1 Satz 2 KStG sieht nur eine veranlagungszeitraumbezogene Rückwirkung des GAV vor. Denn das Einkommen der Organgesellschaft ist dem Organträger erstmals für das Kalenderjahr zuzurechnen, in dem das Wirtschaftsjahr der Organgesellschaft endet, in dem der Gewinnabführungsvertrag wirksam wird. Rechtsprechung und Finanzverwaltung lokalisieren das Wirksamwerden des GAV in zeitlicher Hinsicht – ungeachtet der Handelsregisteranmeldung – mit seiner Eintragung in das Handelsregister des Sitzes der Organgesellschaft (R 14.5 Abs. 1 Satz 2 KStR). Dies wird in den meisten Fällen problemlos realisierbar sein. Beginn des GAV und steuerliche Organschaft fallen zusammen. Erfolgt dagegen die Eintragung im Handelsregister erst im Jahr 02, kann die Organschaft frühestens mit dem Wirtschaftsjahr 02 „starten“, ggf. sogar bei konkret fest­ gelegtem fünfjährigen Mindestzeitraum mit Beginn in 01 gänzlich scheitern. Die materielle Steuerrechtslage in Bezug auf den „Startpunkt“ für die Organschaft ist insoweit klar. Selbst wenn die verspätete Registereintragung des GAV erst in einem Folgejahr in einem alleinigen Fehlverhalten des Registergerichts begründet liegt und den Steuerpflichtigen keinerlei Verschulden trifft, lehnt der BFH in seinem Judikat vom 23.8.2017 – I R 80/15 eine „Abmilderung der Steuernachteile“ wegen gescheiterter Organschaft aufgrund sachlicher Unbilligkeit ab.11 In der Praxis wird man diese Sichtweise des BFH sicher als „sehr bitter“ empfinden, sie trägt aber normentsprechend der Bindung des ertragsteuerlichen Organschaftsrechts an die zivilrechtliche Wirksamkeit des GAV Rechnung. Gerade bei der Anmeldung von Gewinnabführungsverträgen zum Handelsregister am Jahresende muss deshalb auf die Sicherstellung der zeitkritischen ­Eintragung besonderes Augenmerk gelegt werden. Darüber hinaus sollten bei Formulierung der fünfjährigen Mindestvertragsdauer im Gewinnabführungsvertrag sog. Gleitklauseln (= Laufzeitbeginn im Geschäftsjahr, in dem die HR-Eintragung erfolgt) verwendet werden, die keine feste Terminierung der erstmaligen Kündigungsmöglichkeit vorsehen. Steuernachteilig betroffene Unternehmen werden im Zweifel Haftungsansprüche (ggf. eine Amtshaftung gemäß §  839 BGB) gegenüber dem eingeschalteten Notar oder Berater prüfen müssen. 2. Ausgleichszahlungen an Minderheitsgesellschafter (Garantiedividende) Aus Gründen des Minderheitenschutzes sieht das Gesellschaftsrecht für außenstehende Anteilseigner (= nicht konzernzugehörige Gesellschafter), die an einer zu einer Gewinnabführung verpflichteten Tochtergesellschaft beteiligt sind und nicht gegen eine angemessene Abfindung aus der Gesellschaft ausscheiden wollen oder müssen (squeeze-out), Ausgleichszahlungen vor. § 304 AktG definiert für AG, KGaA sowie SE den angemessenen Ausgleich unter nachhaltigen Ertragsgesichtspunkten und kann gesellschaftsrechtlich einen Mix von Festbetrag und variablen Bezügen vorsehen. Entsprechendes gilt für die GmbH. Schuldner der Ausgleichszahlung ist vorrangig das herrschende Unternehmen; aber auch Tochter- oder Enkelgesellschaften können 11 BFH v. 23.8.2017 – I R 80/15, BStBl. II 2018, 141. Zu Erläuterungen auch Wachter, DB 2018, 272; von Freeden/Lange, Der Konzern 2018, 191-194.

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Ausgleichszahlungen (als Zahlstellen) leisten. Dieser gesetzlich vorgesehene Minderheitenschutz bei außenstehenden Anteilseignern ist zwingend. Das Ertragsteuerrecht knüpft daran an: Fehlt es in einem konkreten Einzelfall an gesellschaftsrechtlich notwendigen Ausgleichszahlungen, so wird die ertragsteuerliche Organschaft wegen eines fehlerhaften GAV nicht anerkannt. Unter ertragsteuerlichen Gesichtspunkten ist für die Behandlung von Ausgleichszahlungen zweierlei zu beachten. Zum einen statuiert § 4 Abs. 5 Nr. 9 EStG ein Betriebs­ ausgabenabzugsverbot für Ausgleichszahlungen. Sie dürfen  – unabhängig von der Kostentragung  – weder den Gewinn der Organgesellschaft, noch den Gewinn des Organträgers mindern (R 16 Abs. 1 KStR). Das Abzugsverbot trägt dem Gewinnverwendungscharakter von Ausgleichszahlungen Rechnung. Zum anderen sieht §  16 KStG – als Ausnahmebestimmung zu den Rechtsfolgen des § 14 KStG – stets eine Versteuerung bei der Organgesellschaft in Höhe von 20/17 der geleisteten Ausgleichszahlung vor; dies entspricht einer 15%igen Belastung des Bruttobetrags (keine Berücksichtigung von Gewerbesteuer und Solidaritätszuschlag). Das Versteuerungsgebot bei der Organgesellschaft gilt auch dann, wenn die Verpflichtung zum Ausgleich vom Organträger erfüllt wird; auch ein negatives Einkommen bei der Organgesellschaft hindert deren Versteuerungsverpflichtung für die geleistete Ausgleichszahlung nicht. Dies alles dient letztlich der körperschaftsteuerlichen Abwicklung der Garantiedividende, unabhängig von der Rechtsform des Organträgers, insbesondere für den Fall einer Organträgerpersonengesellschaft mit natürlichen Personen als Mitunternehmern. Als Ausgleichszahlungen an Minderheitsgesellschafter kommen neben Festbeträgen auch ergebnisabhängige Elemente in Betracht, die sich aus steuerlicher Sicht allerdings stets nur am Ergebnis des Organträgers ausrichten dürfen. Wird neben einem bestimmten Festbetrag dagegen ein zusätzlicher Ausgleich gewährt, dessen Höhe sich am Ertrag der abhängigen Tochtergesellschaft orientiert, so führt dies nach Meinung des BFH zu einer lediglich „anteiligen Gewinnzurechnung“ an den vermeintlichen Organträger mit der Folge eines Scheiterns der Organschaft. Der BFH hat dies in seiner Entscheidung vom 10.5.2017 – I R 93/1512 noch einmal entgegen der großzügigeren Auffassung des BMF in seinem Schreiben vom 20.4.201013 klargestellt. Im Hinblick auf die Notwendigkeit von variablen Ausgleichszahlungen vor allem im kommunalen Unternehmensbereich hat der Gesetzgeber im „Gesetz zur Vermeidung von Umsatzsteuerausfällen beim Handel mit Waren im Internet und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften“ vom 11.12.2018 eine rückwirkend für alle offenen Jahre geltende Korrekturregelung in § 14 Abs. 2 KStG n.F. – nicht im eigentlich „näherliegenden“ § 16 KStG – eingeführt. Damit werden variable Ausgleichszahlungen an Minderheitsgesellschafter einer Organgesellschaft in bestimmten Grenzen – über den Mindestbetrag nach § 304 Abs. 2 Satz 1 AktG hinausgehend, entsprechend der Beteiligungsquote und nach vernünftiger kaufmännischer Beurteilung (Kaufmannstest) – anerkannt. Im Hinblick auf in der Vergangenheit vorliegende und ggf. vom 12 BFH v. 10.5.2017 – I R 93/15, DStR 2017, 2429 in Bestätigung des Senatsurteils v. 4.3.2009 – I R 1/08, BStBl. II 2010, 407. Zur Einordnung Brühl/Weiss, BB 2018, 94; Prinz/Keller, DB 2018, 405 f. 13 BMF v. 20.4.2010, BStBl. I 2010, 372.

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Wortlaut des § 14 Abs. 2 KStG n.F. nicht erfasste variable Ausgleichszahlungsvereinbarungen besteht eine vertrauensschützende Übergangsregelung (§ 34 Abs. 6b KStG n.F.).14 Im Übrigen ist festzustellen: Im Hinblick auf den Minderheitenschutz im Recht der Unternehmensverträge sind bezogen auf die Angemessenheit von Ausgleichs- und Abfindungszahlungen komplexe Anfechtungsklagen und Spruchstellenverfahren im Zuge von Hauptversammlungen abhängiger Aktiengesellschaften zu beobachten. Der aktienrechtliche Minderheitenschutz strahlt insoweit unmittelbar auch in das steuerliche Organschaftsrecht hinein und erschwert trotz jeweils komplett eigenständiger Gesetzesteleologie eine harmonisierte Handhabung von Ausgleichs- und Abfindungszahlungen im Gesellschafts- und Steuerrecht. 3. Der GAV „über die Grenze“ Im Kern sind die Wirkungen der ertragsteuerlichen Organschaft auf die Poolung von Inlandsergebnissen ausgerichtet. Vor allem wegen der unionsrechtlich garantierten Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) sowie der abkommensrechtlich bestehenden Diskriminierungsverbote ist jedoch seit längerem eine grenzüberschreitende Öffnung der Organschaftsregelungen durch den Gesetzgeber erfolgt. Die internationalen Bezüge der Organschaft haben durch die „Kleine Organschaftsreform“ aus Februar 2013 eine tatbestandliche Neuordnung gefunden, die – in einem gewissen Rahmen – einen grenzüberschreitenden GAV erlaubt. Allerdings hat diese internationale Öffnung flankierend zur Einführung von speziellen Missbrauchsvermeidungsregelungen geführt, um vor allem mehrfache grenzüberschreitende Verlustnutzungen zu verhindern (s. insbes. die inländische Verlustabzugssperre des § 14 Abs. 1 Nr. 5 KStG). Im Hinblick auf grenzüberschreitende GAVs sind zwei Grundkonstellationen zu unterscheiden:15 –– Anforderung an den Organträger: § 14 Abs. 1 Nr. 2 KStG enthält keine spezifischen Inlandserfordernisse für die Befähigung eines Unternehmens als Organträger. Auch ausländische Körperschaften kommen deshalb für eine Organträgerstellung in Betracht. Allerdings müssen die unmittelbaren oder mittelbaren Beteiligungen an der Organgesellschaft ebenso wie die zuzurechnenden Einkünfte ununterbrochen während der gesamten Dauer der Organschaft einer inländischen Betriebsstätte des Organträgers zuzuordnen sein. Dieses vom Gesetzgeber mit der Kleinen Organschaftsreform eingeführte neue Betriebsstättenkriterium soll diskriminie14 Zu Details und Problemen der Neuregelung vgl. Hasbach, DStR 2019, 81; Badde, DStR 2019, 194; Haase, Ubg 2019, 14; Nürnberg, NWB 2018, 2856; J. Wagner in Prinz/Witt (Hrsg.), Steuerliche Organschaft, 2. Aufl. 2019, Rz. 15.42. 15 Vgl. zu den gesellschaftsrechtlichen Fragen eingehend A. Krüger/Epe in Prinz/Witt (Hrsg.), Steuerliche Organschaft, 2. Aufl. 2019, Rz. 26.1-26.41. S. ergänzend auch Kessler/Arnold, IStR 2016, 226, 230 f. Der sog. Brexit mit der Beendigung der Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs (Großbritannien, Nordirland) in der EU löst deshalb besondere Steuerfragen aus.

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rungsfrei wirken und der inländischen Steuersubstratabsicherung dienen. Eine EU/EWR-Begrenzung ist § 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 KStG nicht zu entnehmen. In der Folge ist deshalb beispielsweise auch eine amerikanische oder asiatische Ge­ sellschaft, die über eine inländische Betriebsstätte verfügt, der die Inlandsbeteiligungen zuzurechnen sind, ungeachtet ihres steuerausländischen Status‘ organträgerfähig. Allerdings muss zwischen inländischer Beteiligungsgesellschaft und ausländischem Organträger ein den gesellschaftsrechtlichen Regeln Rechnung tragender GAV abgeschlossen werden. Dies bedarf im Einzelfall besonderer Sorgfalt, dürfte im Regelfall aber möglich sein, weil es letztlich für die Anwendbarkeit des Rechts der Unternehmensverträge auf den Status der abhängigen Gesellschaft ankommt. Insoweit gilt deutsches Recht. –– Anforderung an die Organgesellschaft: Gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 KStG kommen als Organgesellschaften Körperschaften in Betracht, sofern sie ihre Geschäftsleitung im Inland haben und über einen Sitz in einem Mitgliedsstaat der EU oder des EWR verfügen. Klar ist danach, dass Drittstaatenkapitalgesellschaften, auch wenn sie über eine inländische Betriebsstätte verfügen, nicht organgesellschaftsfähig sind. Gleiches gilt für Inlandskapitalgesellschaften mit ausländischer Geschäftsleitung. Eine nach Inlandsregeln gegründete Tochter-GmbH kann also dann nicht in einen inländischen Organkreis einbezogen werden, sofern ihre Geschäftsleitung beispielsweise in den Niederlanden oder Frankreich liegt. Dies liegt letztlich darin begründet, dass aus internationaler Sicht unabhängig vom Satzungssitz stets der Geschäftsleitungsort für die Zuweisung von Besteuerungsrechten entscheidend ist. Auf der anderen Seite kann nach den steuergesetzlichen Vorgaben eine ausländische EU/EWR-Tochter- oder Enkelgesellschaft, die über eine inländische Geschäftsleitung verfügt, trotz ihres Auslandsbezugs in einen inländischen Organkreis einbezogen werden. Allerdings erfordert das steuerliche Organschaftsrecht ausdrücklich einen Gewinnabführungsvertrag i.S.d. § 291 Abs. 1 AktG. In der Praxis treten deshalb Gestaltungsschwierigkeiten auf, wenn das ausländische Gesellschaftsrecht den Gewinnabführungsvertrag als Unternehmensvertrag nicht kennt, was für die meisten europäischen Staaten gilt. Nur das österreichische, portugiesische sowie slowenische Gesellschaftsrecht kennt den organisationsvertraglichen GAV „deutscher Couleur“. In den anderen Konstellationen stellt sich deshalb die Frage, ob ein schuldrechtlicher GAV, der sich um weitgehende Adaption der im Aktienrecht vorgesehenen Kriterien bemüht, für die Begründung einer Organschaft als ausreichend anerkannt wird. Dies ist derzeit noch immer eine offene Rechtsfrage. Aus Fiskalsicht entpuppt sich das GAV-Erfordernis deshalb zunehmend als Instrument zur Sicherung inländischen Steuersubstrats. Schließlich verhindert unser hierarchisch ausgerichtetes Grundkonzept der Organschaft sowie das Erfordernis des GAV eine steuerliche Querorganschaft bei einer ­ausländischen Muttergesellschaft ohne inländische Betriebsstätte mit mehreren inländischen Tochterkapitalgesellschaften. Auch ist die Konsolidierung von reinen Inlandsbetriebsstätten ausländischer Tochtergesellschaften unzulässig.

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4. Ausschüttungs- und Abführungssperren in der Organschaft Durch das BilMoG vom 25.5.2009 hat sich das deutsche Handelsbilanzrecht für internationale Entwicklungen in der Rechnungslegung behutsam geöffnet. So können etwa unter bestimmten Voraussetzungen selbst erstellte, immaterielle Vermögenswerte gemäß § 248 Abs. 2 HGB wahlweise aktiviert werden. Auch ist unter bestimmten Vo­ raussetzungen eine wahlweise Aktivierung latenter Steuern im Zusammenhang mit der auf fünf Jahre absehbaren Nutzung steuerlicher Verlust- und Zinsvorträge möglich. Zum Schutz vor dadurch ausgelösten „Überausschüttungen“ und im Interesse des Gläubigerschutzes ist im Gefolge dieser IFRS-Anpassungen in § 268 Abs. 8 HGB für sämtliche Kapitalgesellschaften eine Ausschüttungssperre eingeführt worden. §  301 AktG integriert diese Ausschüttungssperre in den Höchstbetrag der Gewinnabführung. Insoweit besteht ein Gleichklang von Ausschüttungs- und Abführungssperren, die jeweils außerbilanziell anwendbar sind und sowohl freie Kapitalrücklagen als auch vorvertragliche Gewinnrücklagen mit berücksichtigen. Für die Anerkennung einer steuerlichen Organschaft müssen deshalb die auf Ebene der Organgesellschaft vorgesehenen Abführungssperren zwingend berücksichtigt werden. Ansonsten scheitert die Organschaft. Die Finanzverwaltung hat dies in einem Erlass vom 14.1.2010 ausdrücklich festgelegt.16 Etwaige anderweitige vertragliche Vereinbarungen zwischen Organgesellschaft und Organträger im GAV lassen die Organschaft scheitern. §  17 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 KStG verweist vor allem für GmbHs als Organgesellschaften auf die Einhaltung der Gewinnabführungsbegrenzung in § 301 AktG. Das Steuerrecht verlangt insoweit auch für GmbHs deutlich mehr, als im eigentlichen Konzernrecht gefordert wird. In Anbetracht der dauerhaften Niedrigzinsphase hat der Handelsgesetzgeber im „Gesetz zur Umsetzung der Wohnimmobilienkreditrichtlinie und zur Änderung handelsrechtlicher Vorschriften“ vom 11.3.2016 eine Neubewertung von Pensionsrückstellungen für Geschäftsjahre ab 2016 festgelegt. Danach ist der Durchschnittszeitraum für die Zinsermittlung anlässlich der Bewertung von Pensionsrückstellungen von sieben auf zehn Jahre zu verlängern. Der daraus resultierende Unterschiedsbetrag wurde unter Gläubigerschutzaspekten mit einer neuen Ausschüttungssperre gemäß § 253 Abs. 6 HGB versehen. Der in § 301 AktG zu findende Rechtsverweis auf § 268 Abs. 8 HGB wurde dagegen nicht um den neu geschaffenen § 253 Abs. 6 HGB erweitert. Es hat sich deshalb in der Praxis die Frage gestellt, ob die Ausschüttungssperre gemäß § 253 Abs. 6 HGB auch als „Abführungssperre“ wirkt. Die Finanzverwaltung geht in ihrem Schreiben vom 23.12.201617 wortlautgemäß davon aus, dass die Ausschüttungssperre des § 253 Abs. 6 HGB nicht als Abführungssperre im Rahmen einer ertragsteuerlichen Organschaft wirkt, also die erzielten Gewinne vollständig an den Organträger abzuführen sind. Ggf. kommt in Einzelfällen – aber nicht „per se“ – die Bildung einer Rücklage bei der Organgesellschaft aufgrund der Neudotierung der 16 BMF v. 14.1.2010, BStBl. I 2010, 65. 17 BMF v. 23.12.2016, BStBl. I 2017, 41. Kritisch zur Sicht der Finanzverwaltung insbes. Hageböke/Hennrichs, DB 2017, 18; Oser/Wirtz, DB 2017, 261; Kessler/Egelhof, DStR 2017, 998; Prinz, Betriebliche Altersversorgung 4/2017, 334. Als Überblick auch Petersen, WPg 2018, 659, 661-664.

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Pensionsrückstellung in Betracht, soweit sie bei vernünftiger kaufmännischer Beurteilung wirtschaftlich begründet ist (§ 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 KStG). Gründe für eine entsprechende Rücklagenbildung können beispielsweise die absehbare Beendigung des GAV oder die zur Risikoabsicherung für Pensionszusagen notwendige Erhöhung der Eigenkapitalquote bei der Organgesellschaft sein. Man sieht: Aufgrund der handelsrechtlichen Vorgaben sind zwei Typen von Ausschüttungssperren zu beachten, die über § 301 AktG in das steuerliche Organschaftsrecht unmittelbar hineinwirken, ohne ausdrückliche Nennung in § 301 AktG allerdings unmittelbar organschaftszerstörend wirken können. Im Ergebnis dürfte dies als „eher unglückliches Zusammenwirken“ von Gesellschafts- und Steuerrecht empfunden werden. 5. Kündigung aus wichtigem Grund Die Begründung einer ertragsteuerlichen Organschaft ist nicht zuletzt wegen des missbrauchsgeleiteten fünfjährigen Mindestlaufzeiterfordernisses auf eine stabile, hierarchische Organisationsstruktur ausgerichtet. Wird die Einhaltung der Fünfjahresfrist von den Vertragspartnern offensichtlich schon bei Vertragsabschluss nicht ernsthaft gewollt, stand die vorzeitige Vertragsbeendigung also zu diesem Zeitpunkt bereits fest (etwa durch eine Verkaufsverpflichtung für die Organbeteiligung), scheitert die Organschaft von Anfang an. Die Versteuerung der Ergebnisse von Mutter- und Tochtergesellschaft erfolgt auf „stand-alone-Basis“. Im Einzelfall dürften sich schwierige Nachweisfragen stellen. Allerdings lässt § 14 Abs. 1 Nr. 3 Satz 2 KStG – entsprechend den üblichen Regeln bei Dauerrechtsverhältnissen – zu, dass eine vorzeitige Been­digung des Vertrags auch während der Mindestvertragslaufzeit durch Kündigung u ­ nschädlich ist, „wenn ein wichtiger Grund die Kündigung rechtfertigt“. Ein solches Sonderkündigungsrecht lässt sich vertraglich ohnehin nicht ausschließen. Ohne „wichtigen Kündigungsgrund“ ist der GAV von Anfang an als steuerrechtlich unwirksam anzusehen (so zutreffend R 14.5 Abs. 6 Satz 4 KStR). Darüber hinaus regelt § 14 Abs. 1 Nr. 3 Satz 3 KStG: Eine Kündigung oder Aufhebung des GAV auf einen Zeitpunkt während des Wirtschaftsjahres der Organgesellschaft wirkt auf den Beginn dieses Wirtschaftsjahres zurück. Vertragsbeendigungen nach Ablauf der fünfjährigen Mindestlaufzeit lassen die Organschaft in der Vergangenheit unberührt (so R 14.5 Abs. 7 KStR). Steuernormspezifisches Verständnis der „Kündigung aus wichtigem Grund“: Der steuerrechtliche Regelungsbefehl in § 14 Abs. 1 Nr. 3 Satz 2 KStG zur Unschädlichkeit einer Kündigung aus wichtigem Grund knüpft im Ausgangspunkt an § 297 AktG an. Die außerordentliche, fristlose Kündigung aus wichtigem Grund entfaltet danach Exnunc-Wirkung und ist namentlich dann zulässig, „wenn der andere Vertragsteil vo­ raussichtlich nicht in der Lage sein wird, seine aufgrund des Vertrags bestehenden Verpflichtungen zu erfüllen“. Die zivilgesetzliche Regelung ist nicht abschließend. Eine einvernehmliche zivilrechtliche Aufhebung des GAV ist gemäß §  296 AktG ­ohnehin stets zum Ende des Geschäftsjahres oder des sonst vertraglich bestimmten Abrechnungszeitraums möglich. Unabhängig von der zivilrechtlichen Qualität der außerordentlichen Kündigung geht die höchstrichterliche Rechtsprechung des BFH von einem steuernormspezifischen Verständnis des Rechtsbegriffs „Kündigung aus 692

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wichtigem Grund“ aus. Dabei „lehnt“ sich die Rechtsprechung zwar an die zivilrechtliche Kündigungssituation an, fordert aber darüber hinausgehend, dass der außerordentliche Grund für die vorzeitige Vertragsbeendigung „nach eigenen steuerrechtlichen Maßstäben objektiv vorliegen“ muss. In seinem Urteil vom 13.11.2013  – I R 45/12 judiziert der BFH: „Wird der Gewinnabführungsvertrag vorzeitig aufgehoben, weil er aus Sicht der Parteien seinen Zweck der Konzernverlustverrechnung erfüllt hat, liegt kein unschädlicher wichtiger Kündigungsgrund … vor“.18 Damit will die Rechtsprechung die Beendigung der gesetzlich gewollten Mindestdauer eines Gewinn­ abführungsvertrags durch beliebige, rein steuergetriebene konzerninterne Veräußerungen aus dem Gestaltungsbereich der Unternehmen herausnehmen. Der konkrete Streitfall des BFH betraf zwar einen besonders gelagerten Sachverhalt (Optimierung der CFC-Besteuerung der britischen Muttergesellschaft), die Rechtsaussagen des BFH gehen aber deutlich darüber hinaus. Daraus folgt für die Praxis zweierlei: –– Zum einen sind die Voraussetzungen für einen „wichtigen Grund“ im Gesellschaftsund Steuerrecht nicht deckungsgleich. Vor allem bei konzerninternen Umstrukturierungen dürften erhöhte Anforderungen an den wichtigen Grund bestehen. –– Bloße Vertragsvereinbarungen eines „wichtigen Grundes“ sind zwar weiterhin geboten, aber für die steuerliche Anerkennung nicht ausreichend. Konkret hilfreich ist das von der Finanzverwaltung aufgestellte Regelbeispiel in R 14.5 Abs. 6 Satz 2 KStR: Danach kann ein wichtiger Grund „insbesondere in der Veräußerung oder Einbringung der Organbeteiligung durch den Organträger, der Verschmelzung, Spaltung oder Liquidation des Organträgers oder der Organgesellschaft gesehen werden.“ 6. Abwicklung/Liquidation der Organgesellschaft als Zwangsbeendigung der Organschaft? Nach den gesetzlichen Vorgaben muss der auf eine Mindestlaufzeit von fünf Zeitjahren vereinbarte GAV während seiner gesamten Geltungsdauer durchgeführt werden (§ 14 Abs. 1 Nr. 3 Satz 1 KStG). Neben einer rechnungslegungsmäßigen Erfassung in den Rechenwerken von Organträger und Organgesellschaft erfordert dies – jedenfalls nach Meinung der Finanzverwaltung – einen zeitnahen Ausgleich der Abführungs-/ Verlustübernahmeverpflichtung etwa durch Zahlung, Einbeziehung in einen CashPool oder Novation in ein verzinsliches Darlehensverhältnis.19 Geht eine Organgesellschaft durch förmlichen Beschluss in Liquidation oder wird sie insolvent, so endet der GAV nach herrschender Meinung zivilrechtlich automatisch, jedenfalls ist die Organgesellschaft nicht zur Abführung des Abwicklungsgewinns im Rahmen des ­Ergebnisabführungsvertrages verpflichtet. Diese gesellschaftsrechtliche Beurteilung entspricht der Sichtweise des BFH, allerdings in älterer Judikatur.20 Begründet wird 18 Vgl. BFH v. 13.11.2013 – I R 45/12, BStBl. II 2014, 486; s. ergänzend auch BFH v. 27.11.2013 – I R 36/13, BStBl. II 2014, 651.  19 Zur tatsächlichen Durchführung eines GAV vgl. auch BFH v. 26.4.2016 – I B 77/15, BFH/ NV 2016, 1177. 20 Vgl. BFH v. 18.10.1967 – I 262/63, BStBl. II 1968, 105. Zu weiteren Nachweisen vgl. Hierstetter, BB 2015, 859.

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dies damit, dass der sog. Abwicklungsgewinn „in Wahrheit“ nur die Vermögensverteilung an die Gesellschafter bei Beendigung der gewerblichen Tätigkeit betrifft und deshalb im Ergebnis keine letztmalige Gewinnabführung erfolgen darf. In solchen Abwicklungs-/Insolvenzsituationen einer Organgesellschaft versteuern Organgesellschaft und Organträger ihre Geschäftsergebnisse jeweils eigenständig. Derzeit offen dagegen ist die Frage, ob eine „Zwangsbeendigung“ der Organschaft auch dann erfolgt, wenn die Organgesellschaft ihre wesentlichen Betriebsgrundlagen veräußert oder überträgt, ohne dass sie konkludent bzw. ausdrücklich per Gesellschafterbeschluss aufgelöst wird. Die Finanzverwaltung will – gestützt auf ältere BFH-Judikatur  – auch die „stille Abwicklung“ einer Organgesellschaft in die Zwangsbeendigung der Organschaft einbeziehen.21 Meines Erachtens dürfte dies sehr zweifelhaft sein, da sich zwischenzeitlich die gesetzlichen Anforderungen an die Organschaft verändert haben – das früher erforderliche wirtschaftliche Eingliederungserfordernis ist seit 2002 weggefallen – und auch bloße vermögensverwaltende Kapitalgesellschaften organschaftstauglich sind. Deshalb sollte im Ergebnis die Übertragung des Geschäftsbetriebs einer Organgesellschaft ohne förmliche Liquidation in die normale Durchführung von Gewinnabführungsverträgen einbezogen werden. Im Übrigen zeigt sich in diesem Zusammenhang einmal mehr die Unabgestimmtheit von Zwangsbeendigungsgründen eines GAV im Gesellschaftsrecht und deren mitunter abweichende Behandlung für steuerliche Organschaftszwecke.

IV. Sonderfragen zur Steuerrelevanz „sonstiger Unternehmensverträge“ 1. Der Beherrschungsvertrag in der umsatzsteuerlichen Organschaft Für Umsatzsteuerzwecke wird auf Basis der unionsrechtlichen Grundlagen der Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie ein Gewinnabführungsvertrag nicht benötigt. Erforderlich ist vielmehr nach Maßgabe der tatsächlichen Verhältnisse, dass eine juristische Person nach ihrem Gesamtbild finanziell, wirtschaftlich und auch organisatorisch in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert ist (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG). Insoweit weicht die umsatzsteuerliche Organschaft fundamental von den ertragsteuerlichen Erfordernissen ab. Umsatzsteuerlich entsteht ein Einheitsunternehmen, so dass die Leistungsbeziehungen zwischen Organgesellschaft und Organträger nicht steuerbare Innenumsätze sind. Der Gesetzgeber beschränkt dies auf die im Inland gelegenen Unternehmensteile. Im Wesentlichen bewirkt die umsatzsteuerliche Organschaft Verfahrenserleichterungen; nur bei nicht voll vorsteuerabzugsberechtigten Unternehmen kann sie materielle Vorteile gegenüber einem umsatzsteuerlichen Einheitsunternehmen begründen. Für Zwecke der Herstellung einer organisatorischen Eingliederung sind in der Praxis aus Stabilitätsgründen anstelle von personellen Verflechtungen in den Geschäftsführungsorganen oder bei leitenden Mitarbeitern zwischen Organgesellschaft und Or­ 21 Vgl. H 14.6 KStR mit Hinweis auf BFH v. 17.2.1971 – I R 148/68, BStBl. II 1971, 411 .

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ganträger unternehmensvertragliche Beherrschungsverträge zu beobachten. Der Beherrschungsvertrag ist also kein Muss der umsatzsteuerlichen Organschaft, sondern kann vielmehr fakultativ die organisatorische Eingliederung bewirken. Die Finanzverwaltung formuliert dies gestützt auf die jüngere Rechtsprechung des BFH in dem Umsatzsteuer-Anwendungserlass wie folgt: „Hat die Organgesellschaft mit dem Or­ ganträger einen Beherrschungsvertrag nach §  291 AktG abgeschlossen …, ist von dem Vorliegen einer organisatorischen Eingliederung auszugehen, da der Organträger in diesen Fällen berechtigt ist, dem Vorstand der Organgesellschaft nach Maßgabe des § 308 … AktG Weisungen zu erteilen“. Eine Eingliederung der Organgesellschaft nach Maßgabe der §§ 319, 320 AktG in die Gesellschaft des Organträgers wird entsprechend behandelt. Allerdings ist zu beachten, dass eine organisatorische Eingliederung durch Beherrschungsvertrag erst ab dem Zeitpunkt seiner Eintragung in das Handelsregister begründet wird, da dieser konstitutive Wirkung zukommt.22 Diese Wirkung des Beherrschungsvertrages im umsatzsteuerlichen Organschaftsrecht wird in der Praxis in vielen Fällen der Grund sein, warum auch weiterhin kombinierte Organschaftsverträge in Gestalt von Gewinnabführungs- und Beherrschungsverträgen verbreitet sind. Eine Notwendigkeit für den Beherrschungsvertrag im Umsatzsteuerrecht besteht allerdings nicht. Der Unternehmensvertragstypus des Beherrschungsvertrages hat insoweit in der Rechtsgeschichte der Organschaft einen Wandel durchgemacht. Während in den Jahren bis 2002 für die Anerkennung einer ertragsteuerlichen Organschaft eine Kombination von Gewinnabführungs- und Beherrschungsvertrag zwingend erforderlich war, ist das Beherrschungsvertragselement nunmehr in seiner Wirkung auf die Herstellung einer organisatorischen Eingliederung im Bereich der umsatzsteuerlichen Organschaft fakultativ. 2. Neuentdeckung des „Gewinngemeinschaftsvertrages“ durch den BFH Neben Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag findet sich in §  292 Abs.  1 Nr. 1 AktG unter den „anderen Unternehmensverträgen“ der spezielle Typus einer „Gewinngemeinschaft“. Ein solcher Gewinngemeinschaftsvertrag liegt vor, falls sich eine AG/KGaA organisationsrechtlich/schuldrechtlich verpflichtet, ihren Gewinn ganz oder zum Teil mit dem Gewinn anderer Unternehmen zur Aufteilung eines gemeinschaftlichen Gewinns zusammenzulegen. Eine solche Gewinnpoolung ist auch für Ergebnisse einzelner Betriebe eines Unternehmens, nicht dagegen für einzelne Geschäftsvorfälle zulässig. Eine „Verlustpoolung“ ist begrifflich eingeschlossen. Zwischen den an der Gewinnpoolung beteiligten Unternehmen (= verbundene Unternehmen gemäß §  15 AktG) entsteht eine BGB-Innengesellschaft ohne eigenes Gesamthandsvermögen. Für andere Rechtsformen – insbesondere GmbHs – gelten die aktienrechtlichen Regelungen entsprechend. Personenschwestergesellschaften kommen dagegen nicht für einen Gewinnvergemeinschaftungsvertrag in Betracht.23 22 Vgl. BFH v. 10.5.2017 – V R 7/16, BStBl. II 2017, 1261. Zu weiteren Details vgl. Treiber in Prinz/Witt, Steuerliche Organschaft, 2. Aufl. 2019, Rz. 22.69-22.71. 23 Vgl. zu den gesellschaftsrechtlichen Grundlagen einer Gewinngemeinschaft Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 292 Rz. 4-11; WP-Handbuch, 15. Aufl. 2017, Teil C R 228-231; Fedke, Der Konzern 2015, 53; Emmerich/Habersack, Konzernrecht, 10. Aufl. 2013, S. 224-230. 

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Ein Gewinngemeinschaftsvertrag wird in der Praxis meist bei Gleichordnungskonzernen zu beobachten sein, bei denen die beteiligten Vertragspartner zwar nicht auf ihre jeweilige Leitungsmacht verzichten, aber dessen ungeachtet im „gemeinsamen Verbundinteresse“ eine Ergebnispoolung mit anschließender angemessener Aufteilung stattfinden soll. Eine ertragsteuerliche Organschaft entsteht dabei nicht, da diese zwingend einen GAV zur jeweiligen Muttergesellschaft voraussetzt, der insoweit nicht vorliegt. Gewinngemeinschaftsverträge haben wohl auch wegen ihrer fehlenden Organschaftseignung in der Wirtschaftsrealität nur begrenzt Verbreitung gefunden. Für Joint Venture-Gestaltungen, Vorbereitung einer späteren Verschmelzung oder in branchenspezifischen Sondersituationen (etwa der Bildung einer Gefahrengemeinschaft in der Versicherungsbranche) kommt eine Gewinngemeinschaft zwischen „fremden Dritten“ aber  – über den Bereich der Gleichordnungskonzerne hinaus  – durchaus in Betracht.24 Mit der steuerlichen Beurteilung eines Gewinngemeinschaftsvertrages als Mitunternehmerschaft hat sich der BFH in seiner Entscheidung vom 22.2.2017  – I R 35/14 befasst.25 Dabei ging es um einen speziell gelagerten internationalen Konzernfall, bei dem zwei in verschiedenen Unternehmensbereichen des Konzerns tätige inländische Holding-Schwesterkapitalgesellschaften eine Gewinngemeinschaft vereinbart und durchgeführt haben. Der wesentliche Grund dafür war: Es sollte das wirtschaftliche Risiko aus den sehr zyklischen Geschäften im Hinblick auf das langfristige Ziel einer Verschmelzung beider Gesellschaften besser gestreut werden; eine Vertiefung der geschäftlichen Zusammenarbeit sowie ein gegenseitiger Erfahrungsaustausch kamen als Motive hinzu. Die jeweiligen Holding-Kapitalgesellschaften waren mit den nachgeordneten inländischen Beteiligungsgesellschaften organschaftsrechtlich verknüpft und unterlagen darüber hinaus jeweils einer vertraglichen Beherrschung durch ihre Auslandsmütter. Zwei inländische Konzernkreise, grenzüberschreitende Beherrschungen und eine Gewinnpoolung im Inland waren im Streitfall sachverhaltsmäßig miteinander verbunden. Dies zeigt einmal mehr sehr deutlich die „Kombinationsfähigkeit“ verschiedener Unternehmensvertragstypen in der Wirtschaftsrealität. Die Ergebnispoolung auf Ebene der Holding-Schwestern führte zu Betriebsausgaben und Betriebseinnahmen, die die Finanzverwaltung mangels betrieblicher Veranlassung als verdeckte Gewinnausschüttung/verdeckte Einlage beurteilen wollte. Rechtshängig wurde allerdings nur der Körperschaftsteuerbescheid der Holdinggesellschaft A als einer der Poolvertragsteilnehmer. Der I. Senat des BFH geht die Streitfragen – abweichend zur ablehnenden FG-Entscheidung Baden-Württemberg vom 24.3.2014 und ohne entsprechende Rügen der Beteiligten – verfahrensrechtlich fundamental an. Zunächst wird ein „von Amts wegen“ zu berücksichtigender Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrensrechts durch den BFH festgestellt, da die Frage der Gewinngemeinschaft zwingend in einem dem Körperschaftsteuerbescheid vorrangigen Verfahren zur gesonderten und ein24 Zur praktischen Verbreitung der Gewinngemeinschaft vgl. die Hinweise bei Walter, Der Konzern 2017, 331-334. 25 Vgl. BFH v. 22.2.2017 – I R 35/14, BStBl. II 2018, 33. Dazu auch Steinhauf, DStRK 17/2017, 261; Wacker, JbFSt 2018/2019, 526-538; Gosch, IStR 2018, 747.

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heitlichen Feststellung von Einkünften vorzunehmen ist. Diese Verfahrensfeststellung des BFH öffnet dann die Prüfung der materiellrechtlichen Frage, ob der Gewinngemeinschaftsvertrag zwischen den beiden Holding-Schwestergesellschaften eine ertragsteuerliche Mitunternehmerschaft (§ 15 Abs. 1 Nr. 2 EStG) begründet, bei der sich die Beteiligten zu einer gemeinschaftlichen gewerblichen Betätigung zusammengefunden haben. In einem solchen Fall würde die Gewinnpoolung steuerlich anerkannt; vGAs/verdeckte Einlagen lägen nicht vor. Im Leitsatz 1 formuliert der I. Senat sein Ergebnis sehr behutsam: „Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Beteiligten einer Gewinn- und Verlustgemeinschaft i.S.d. § 292 Abs. 1 Nr. 1 AktG eine Mitunternehmerschaft bilden.“ In der Konsequenz verweist der BFH die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Finanzgericht zurück. Eine Anerkennung des Gewinngemeinschaftsvertrages als Mitunternehmerschaft durch den BFH erfolgt also nicht. Eine „gewisse Sympathie“ dafür, dass auch Schwestergesellschaften für eine Ergebnisvergemeinschaftung betriebliche Poolungsgründe haben können, wird aber deutlich. Daher kommt es auf die Gesamtwürdigung der tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse des Einzelfalls an. Klar ist deshalb auch: Für ausgeschlossen hält der BFH eine solche Mitunternehmerschaft sicher nicht. Im Hinblick auf den vom EuGH in der SCA Group Holding BV-Entscheidung vom 12.6.201426 zur niederländischen „fiskalen eenheid“ geforderten Konsolidierung zwischen Schwestergesellschaften hält der I. Senat fest: „Die Zulassung einer „Querorganschaft“, die eine Ergebniskonsolidierung im Gleichordnungskonzern ermöglichen würde, ist nicht aus unionsrechtlichen Gründen geboten.“ Der BFH hat mit seiner Entscheidung vom 22.2.2017 zum Gewinngemeinschaftsvertrag als Mitunternehmerschaft im Ergebnis sicherlich die Diskussion um betriebliche Gründe eines solchen Vertragsschlusses neu belebt. Dennoch wird der Gewinngemeinschaftsvertrag auch zukünftig eine eher untergeordnete Rolle in betrieblichen Sondersituationen spielen. Die Gründe für den Gewinngemeinschaftsvertrag sollten dann für steuerliche Zwecke jeweils sehr sorgsam dokumentiert werden. Eine Organschaft i.S.d. § 14 KStG, § 2 Abs. 2 GewStG wird durch den Gewinngemeinschaftsvertrag aber sicher nicht begründet.

V. Modernes Gruppenbesteuerungssystem ohne GAV-Notwendigkeit als Gebot der Stunde! Das zentral an den GAV als Kernkriterium anknüpfende ertragsteuerliche Organschaftsrecht wird in der Besteuerungspraxis zunehmend als veraltet und reformierungsbedürftig empfunden. Die Gründe dafür sind vielfältig. Die vor allem im Hinblick auf den Gewinnabführungsvertrag stark formalisierten Organschaftskriterien mit ihrem Spannungsverhältnis zu den rein gesellschaftsrechtlichen Erfordernissen führen vermehrt zu sog. verunglückten Organschaften. Des Weiteren hat sich die handelsbilanzielle Anknüpfung des Gewinnabführungsvertrages spätestens seit dem 26 Vgl. EuGH v. 12.6.2014 – C-39/13, C-40/13, C-41/13, DB 2014, 1582. Zu Details s. Prinz, Steuerliche Organschaft, 2. Aufl. 2018, Rz. 1.52.

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BilMoG vom 25.5.2009 von den steuerlich an den Organträger zuzurechnenden Einkommensteilen entfernt mit der Folge nur schwierig zu handhabender vor- und inner­ organschaftlicher Mehr- und Minderabführungen (§ 14 Abs. 3 und 4 KStG). Das zunehmend IFRS-geprägte deutsche Handelsbilanzrecht hat sich von dem früheren Konzept von sog. Einheitsbilanzen, bei denen Handels- und Steuerbilanz über die Maßgeblichkeit eng verknüpft waren, zwischenzeitlich gelöst. Schließlich wird der ­hierarchische Ausgangspunkt der ertragsteuerlichen Organschaft mit seinem strikten Unter- und Überordnungsverhältnis den zunehmend virtuell ausgestalteten Konzernrealitäten häufig nicht mehr gerecht. Auch bei einem Rechtsvergleich internationaler Gruppenbesteuerungssysteme ist festzustellen, dass die Anbindung an einen Gewinnabführungsvertrag in anderen Ländern ganz überwiegend nicht besteht.27 Trotz drängender besteuerungspraktischer Unzulänglichkeiten konnte sich der Steuergesetzgeber allerdings bislang vor allem aus Fiskalgründen (Sicherung inländischen Steuersubstrats) nicht zu einer Umgestaltung der ertragsteuerliche Organschaft nach Maßgabe eines modernen Gruppenbesteuerungskonzepts durchringen, bei dem auf den Gewinnabführungsvertrag verzichtet wird und die diversen auslandsrelevanten Verlustabzugsgrenzen konzeptionell neu geordnet werden. Umgesetzt wurde vom Steuergesetzgeber in diesem Bereich bislang lediglich eine sog. Kleine Organschaftsreform vom 20.2.2013, die – neben partiellen Rechtsverschärfungen (etwa § 14 Abs. 1 Nr. 5 KStG) – zu zwar wichtigen, aber nur punktuell wirkenden Entlastungen für national und international tätige Konzerne sowie mittelständische Unternehmensgruppen geführt hat. Im (damaligen) Gesetzgebungsverfahren finden sich allerdings Hinweise, dass das Ziel eines modernisierten Gruppenbesteuerungssystems auch nach der Kleinen Organschaftsreform weiter verfolgt werden soll, sobald sich dafür finanzielle Spielräume eröffnen. Entsprechende Anregungen und Erfahrungen vermitteln die seit 2005 in Österreich bestehenden Regeln zur Gruppenbesteuerung. Diskussionsimpulse für ein modernisiertes Konzernbesteuerungskonzept ergeben sich auch aus dem europäischen CCCTB-Richtlinienvorschlag der Europäischen Kommission (zuletzt Richtlinienentwürfe vom 25.10.2016) 28 Darüber hinaus wurden mit wissenschaftlicher Unterstützung verschiedene Gruppenbesteuerungsmodelle vorgestellt und evaluiert.29 Sollte der Steuergesetzgeber auf das Erfordernis eines Gewinnabfüh27 Vgl. als Überblick zu den Kriterien einer Konzernbesteuerung in wichtigen Industrie­ staaten Kahle/Schulz in Prinz/Witt (Hrsg.), Steuerliche Organschaft, 2.  Aufl. 2019, Kapitel  9.  Den gesellschaftsrechtlichen Vertragstypus eines GAV kennen neben Deutschland nur Österreich, Portugal und Slowenien. Ungeachtet dessen erfordert das österreichische Gruppenbesteuerungssystem aber keinen GAV-Abschluss. 28 Vgl. zu den verschiedenen Entwicklungsständen eines europäischen CCCTB-Richtlinienvorschlags als Überblick Scheffler/Köstler, Richtlinie über eine gemeinsame Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage – mehr als eine Harmonisierung der steuerlichen Gewinnermittlung, ifst-Schrift 518 (Juni 2017); Kraus, IStR 2017, 479; Benz/Böhmer, DB 2016, 2800; Jakob/Fehling, IStR 2017, 290. 29 Vgl. zu einer Bestandsaufnahme und einem Reformvorschlag ifst-Schrift Nr.  471 (Juni 2011) mit dem Titel: Einführung einer modernen Gruppenbesteuerung – ein Reformvorschlag. Die ifst-Arbeitsgruppe stand unter der Leitung von Johanna Hey, deren Mitglieder stammten aus Wissenschaft, Finanzverwaltung sowie Unternehmens- und Beratungspraxis. Vgl. weiterhin v. Wolfersdorff, ifst-Schrift Nr. 481 (September 2012); Ismer, DStR 2012,

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rungsvertrages zukünftig verzichten, so wird sich zum einen die Frage stellen, ob dies in der Praxis zu einem Bedeutungsverlust des GAV als Unternehmensvertrag auch im Gesellschaftsrecht führen wird mit einer gleichzeitigen Stärkung des „faktischen Konzernrechts“. Auf jeden Fall wird sich das Recht der Unternehmensverträge dann wieder mehr auf seine eigenständige Teleologie konzentrieren müssen, ohne „unbotmäßigen“ steuerlichen Einfluss. Auf der anderen Seite werden steuerliche Gruppenbesteuerungskonzepte ohne GAV vermutlich zu einer Bedeutungszunahme anderweitiger Steuerumlageverträge führen. Denn die Eigenständigkeit der jeweiligen Rechtsperson wird es nicht ohne Weiteres zulassen, seine Steuerpflichten bzw. Steuerchancen bei einem anderen Rechtsträger zu allokieren; Steuerumlageverträge dürften wegen § 76 AktG insbes. für eine AG als abhängige Gesellschaft erforderlich sein. Insoweit wird der steuerliche Verzicht auf einen GAV zu bedeutsamen gesellschaftsrechtlichen Folgewirkungen führen müssen. Die im Titel des Beitrags aufgeworfene Frage, ob die steuerliche Organschaft und das Recht der Unternehmensverträge eine gelungene oder eher eine unheilvolle Verbindung begründen, wird man aus steuerlicher Perspektive wohl eher kritisch sehen müssen.

821; Lüdicke, van Lishaut, Herzig, Krebühl sowie Carl-Heinz Witt, FR 2009, 1025-1049. Vgl. ergänzend auch den BMF-Bericht der Facharbeitsgruppe „Verlustverrechnung und Gruppenbesteuerung“ vom 15.9.2011, in dem verschiedene Gruppenbesteuerungsmodelle evaluiert und stets unter Hinweis auf erhebliche Fiskalgefahren abgelehnt wurden. Zu einer – schon etwas älteren  – Bestandsaufnahme vgl. auch Müller-Gatermann in Festschrift für Wolfgang Ritter, Köln 1997, S. 457-473.

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Beschlussmängel im Recht der Personengesellschaften de lege ferenda Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Rechtslage de lege lata 1. Rechtsprechung und herrschende Lehre: Feststellungslösung 2. Mindermeinung: Anfechtungslösung III. Beschlussmängel in der (Kautelar-)Praxis IV. Reform des Beschlussmängelrechts in der Diskussion 1. Deutsche Juristentage 2016 und 2018 2. Meinungsstand in der Literatur 3. Stellungnahme



V. Eckpunkte einer gesetzlichen Regelung 1. Nichtigkeit und Anfechtbarkeit 2. Klagegegner und Erga-omnes-Wirkung 3. Beschlussfixierung 4. Klagefrist 5. Abdingbarkeit 6. Alternativen zur Beschlusskassation

VI. Schiedsfähigkeit von Beschlussmängelstreitigkeiten VII. Zusammenfassung

I. Einleitung Bekanntlich hat sich der deutsche Gesetzgeber in Fragen des Beschlussmängelrechts bislang die größte Zurückhaltung auferlegt. Nur für die Aktiengesellschaft existiert eine einigermaßen ausführliche Regelung. Die Praxis hat insbesondere im GmbH-­ Recht Wege gefunden, um die größten Lücken zu schließen und Rechtsicherheit herzustellen. Trotzdem wurden immer wieder Forderungen nach einem Eingreifen des Gesetzgebers laut. Sogar konkrete Gesetzgebungsvorhaben (Ende der 1930er und Anfang der 1970er Jahre), die diesen Forderungen Rechnung tragen sollten,1 standen zur Diskussion. In jüngster Zeit nimmt die Kritik am status quo eher zu als ab. Mehr und mehr gerät eine umfassende Kodifizierung und Neujustierung des Beschlussmängelrechts sowohl der Kapital- als auch der Personengesellschaften in den Blick. Hatte sich Carsten Schäfer in seinem Gutachten zum 71. Juristentag in Essen (2016) noch zurückhaltend geäußert,2 plädiert Jens Koch 2018 im Gutachten zum Leipziger Juristentag für eine gesetzliche Institutionenbildung auf der Grundlage des Anfechtungsmodells. Mit überwältigender Mehrheit ist der Juristentag insoweit Jens Koch gefolgt und hat beschlossen, dass das Beschlussmängelrecht reformiert werden sollte (Beschluss I.1., 1 Koch, Empfiehlt sich eine Reform des Beschlussmängelrechts im Gesellschaftsrecht? Gutachten E zum 72. Deutschen Juristentag Leipzig, 2018, S. F68. 2 C. Schäfer, Empfiehlt sich eine grundlegende Reform des Personengesellschaftsrechts? Gutachten E zum 71. Deutschen Juristentag, 2016, S. E109 f.

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angenommen mit 51:3:1 Stimmen). Davon betroffen wären, sollte es dazu kommen, neben der GmbH auch Verein und Personengesellschaften (auch in dieser Hinsicht bejahte der DJT 2018 die Notwendigkeit zur Reform – Beschluss III.14, angenommen mit 55:2:1 Stimmen). Die Zeit sei reif für einen grundlegenden Wandel.3 Zumindest indirekt dokumentiert auch die BGH-Entscheidung „Schiedsfähigkeit III“ von 2017, dass die kategoriale Unterscheidung zwischen dem Beschlussmängelrecht der Personengesellschaften und dem der Kapitalgesellschaften offenbar an Überzeugungskraft verliert.4 Karsten Schmidt sieht in der Entscheidung sogar einen „Beitrag zur Fortbildung des Innenrechts der Personengesellschaften“.5 Das Thema scheint mir daher so bedeutend, dass es hoffentlich bei einem so profilierten und versierten Gesellschaftsrechtler wie Ulrich Seibert auf Interesse stößt, der seit Jahren und Jahrzehnten segensreich Einfluss auf die Gesetzgebung im Gesellschaftsrecht nimmt. Im Koalitionsvertrag von 2018 wird eine Reform des Personengesellschaftsrechts und die Einsetzung einer Expertenkommission angekündigt.6 Letzteres ist nunmehr geschehen.7 Ob die Reform auch das Beschlussmängelrecht erfasst, bleibt abzuwarten; zumindest besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit. In dem gegebenen Rahmen ist es mir selbstverständlich nicht möglich, alle Aspekte eines zu schaffenden Beschlussmängelrechts der Personengesellschaften zu behandeln oder auch nur anzusprechen. Vielmehr wird es darum gehen, anknüpfend an die genannten DJT-Gutachten einige Punkte hervorzuheben, die aus meiner langjährigen Erfahrung in der Beratung nicht zuletzt von großen Familiengesellschaften Beachtung verdienen.

II. Rechtslage de lege lata Auch ein Beitrag mit rechtspolitischer Zielsetzung kann nicht völlig auf eine Darstellung des geltenden Rechts verzichten. Schließlich hängt von der Rechtslage de lege lata ab, ob man überhaupt von einem Reformbedarf sprechen kann. Überdies kommen in Diskussionen zum geltenden Recht häufig Argumente zur Sprache, die auch rechtspolitisch von Belang sind.

3 Koch, Empfiehlt sich eine Reform des Beschlussmängelrechts im Gesellschaftsrecht? Gutachten E zum 72. Deutscher Juristentag Leipzig, 2018, S. F109 (Thesen 22 und 23). 4 BGH, NZG 2017, 657 ff. Dazu namentlich Habersack in FS Graf-Schlicker, 2018, S. 37 ff.; K. Schmidt, NZG 2018, 121 ff. 5 K. Schmidt, NZG 2018, 121, 127. 6 Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 19. Legislaturperiode, X.3. (Z. 6162-6165). 7 Mitglieder der Expertenkommission sind (Stand: Juli 2018) Barbara Grunewald, Frauke ­Wedemann, Carsten Schäfer, Johannes Wertenbruch, Marc Hermanns, Alfred Bergmann, ­Gabriele Roßkopf, Thomas Liebscher.

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1. Rechtsprechung und herrschende Lehre: Feststellungslösung Nach h.M. können Beschlussmängel im Personengesellschaftsrecht nicht wie im Kapitalgesellschaftsrecht mittels Anfechtungsklage geltend gemacht werden. Zu erheben ist vielmehr die Klage auf Feststellung der Nichtigkeit gemäß § 256 Abs. 1 ZPO, zu richten gegen die bestreitenden Gesellschafter und nicht gegen die Gesellschaft.8 Da insoweit keine Rechtskrafterstreckung vorgesehen ist, wirkt das stattgebende Urteil nur unter den Prozessparteien, gegebenenfalls zudem unter solchen Gesellschaftern, die ihre Unterwerfung unter das Urteil erklärt haben. Weder auf der Aktiv- noch auf der Passivseite liegt notwendige Streitgenossenschaft vor.9 Die übrigen Gesellschafter können aber ihren Beitritt als Nebenintervenienten erklären und sind daher über den Rechtsstreit zu unterrichten.10 Eine Klagefrist besteht nicht, und nach h.M. kommt auch eine analoge Anwendung der Monatsfrist gemäß § 246 Abs. 1 AktG nicht in Betracht.11 Offenkundige Verzögerungen und Versäumnisse bei der Geltendmachung von Mängeln werden über Verwirkungsgrundsätze sanktioniert: Aus der zwischen den Gesellschaftern geltenden Treuepflicht folgt, dass diese innerhalb einer angemessenen Frist, die ihnen eine gewissenhaft Prüfung erlaubt, Klage erheben müssen. Wer die Frist versäumt, kann sich gegenüber der Gesellschaftermehrheit nicht auf die Unwirksamkeit des Beschlusses berufen (eine Heilung des Mangels tritt indes nicht ein).12 Vertragliche Absprachen, z.B. die Vereinbarung einer Klagefrist, sind möglich.13 Allerdings lässt die wohl h.M. gewillkürte Gestaltungsklagen nicht zu.14 Folglich kann ein Gesellschaftsvertrag nicht die Einführung einer Anfechtungsklage statuieren.15 8 Vgl. BGH v. 20.12.1989 – VIII ZR 139/89, NJW-RR 1990, 474, 475; BGH v. 21.10.1991 – II ZR 211/90, NJW-RR 1992, 227; BGH v. 7. 6. 1999 – II ZR 278/98, NJW 1999, 3113, 3115; BGH v. 1.3.2011 − II ZR 83/09, NZG 2011, 544, 545; OLG Köln v. 12.1.1994 – 13 U 121/93, NJW-RR 1994, 491; KG v. 21.3.2011 – 23 U 4/10, ZIP 2011, 659; Westermann in Erman, 15. Aufl. 2017, § 709 BGB Rz. 38; Schöne in BeckOK BGB, 45. Ed. 1.11.2017, § 709 BGB Rz. 65; C. Schäfer in Staub, 5. Aufl. 2009, § 119 HGB Rz. 90 f.; ders., Empfiehlt sich eine grundlegende Reform des Personengesellschaftsrechts?, Gutachten E zum 71. DJT, 2016, S. E109; Hüffer, ZGR 2001, 833, 839; Westermann, NZG 2012, 1122. 9 BGH v. 13.2.1995 – II ZR 15/94, NJW 1995, 1218 f.; Westermann in Erman, 15. Aufl. 2017, § 709 BGB Rz. 38; Schöne in BeckOK BGB, 45. Ed. 1.11.2017, § 709 BGB Rz. 65; C. Schäfer in Staub, 5. Aufl. 2009, § 119 HGB Rz. 91. 10 Vgl. Enzinger in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2016, § 119 HGB Rz. 97.  11 C. Schäfer in Staub, 5. Aufl. 2009, § 119 HGB Rz. 90; Brandes, WM 2000, 385, 389; vgl. auch Casper, BB 1999, 1837 f. 12 BGH v. 13.2.1995 – II ZR 15/94, NJW 1995, 1218, 1219; C. Schäfer in Staub, 5. Aufl. 2009, § 119 HGB Rz. 90; C. Schäfer in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2017, § 709 BGB Rz. 110.  13 BGH v. 20. 1. 1977 – II ZR 217/75, NJW 1977, 1292; Bayer/Möller, NZG 2018, 801, 808; Herchen in VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion, 2016, Bd. 22, S. 83, 111. 14 BGH v. 11.12.1989 – II ZR 61/89, NJW-RR 1990, 474, 475; Freitag in Ebenroth/Boujong/ Joost/Strohn, 3. Aufl. 2014, § 119 HGB Rz. 80; Nitschke, Die körperschaftlich strukturierte Personengesellschaft, 1970, S. 206 ff.; a.A. Herchen in VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion, 2016, Bd. 22, S. 83, 117. 15 K. Schmidt in FS Stimpel, 1985, S. 217, 242.

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Eine – trotz des numerus clausus von Gestaltungsklagen grundsätzlich zulässige16 – Analogie zu den aktienrechtlichen Vorschriften scheitert nach der h.M., weil in Ermangelung einer übereinstimmenden körperschaftlichen Struktur und angesichts der Verfügbarkeit allgemeiner Rechtsbehelfe weder von einer vergleichbaren Interessenlage die Rede sein könne noch von einer planwidrigen Regelungslücke.17 Es fehle in Personengesellschaften überdies an der gesicherten formalrechtlichen Ordnung der Mehrheitsbildung, an die das aktienrechtliche Beschlussmängelrecht anknüpfe. Insbesondere ergebe sich daraus ein relatives Minus an „Richtigkeit des Verfahrens“, die erforderlich sei, um u.a. kurze Klagefristen zu rechtfertigen.18 2. Mindermeinung: Anfechtungslösung Eine Mindermeinung, zu deren Anhängern seit vielen Jahren namentlich Karsten Schmidt gehört, sieht die Voraussetzungen für die Übertragung des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts auf die Personengesellschaften (im Wege der Analogie bzw. der Institutionenbildung) als gegeben an.19 Diese Auffassung stellt die Unterschiede zwischen Kapital- und Personengesellschaften nicht in Frage, bestreitet indes, dass die Besonderheiten des Anfechtungsrechts auf der körperschaftlichen Struktur der Kapitalgesellschaften beruhten. Sinn und Zweck der Vorschriften über die Nichtigkeitsund Anfechtungsklage sei vielmehr die Herstellung von Rechtssicherheit bei Mehrheitsbeschlüssen. Daraus folge die Zulässigkeit einer analogen Anwendung im Recht der Personengesellschaft, da ein Bedürfnis nach Rechtssicherheit auch bei Personengesellschaften existiere.20 Ohne eine Differenzierung der Mängelfolgen  – je nach Schwere des Rechtsverstoßes  – könne bereits jeder geringfügige Mangel gravierende Rechtsfolgen nach sich ziehen. Das sei umso problematischer, als nach der h.M. die Geltendmachung von Beschlussmängeln keiner Präklusivfrist unterliege, so dass auch von dieser Seite die Rechtssicherheit gefährdet sei. Der Rückgriff auf die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht stelle allenfalls eine Notlösung dar und stehe auf unsicherem Fundament, da sich nur schwer begründen lasse, warum auf der Grundlage der h.M. mangelhafte Beschlüsse anders zu behandeln seien als sonstige nichtige Rechtsgeschäfte.21 Vor allem Karsten Schmidt verweist immer wieder auf die seiner Meinung nach nicht zu rechtfertigende, dysfunktionale Differenzierung im Beschlussmängelrecht der 16 Schlosser, Gestaltungsklagen und Gestaltungsurteile, 1966, S. 276 ff.; C. Schäfer in Staub, 5. Aufl. 2009, § 119 HGB Rz. 90. 17 C. Schäfer in Staub, 5. Aufl. 2009, § 119 HGB Rz. 90; vgl. auch (in Bezug auf die GmbH) Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, 21. Aufl. 2017, Anhang § 47 GmbHG Rz. 3. 18 Reuter in FS K. Schmidt, 2009, S. 1357, 1371.  19 K. Schmidt in FS Stimpel, 1985, S. 217 ff.; ders., ZGR 2008, 24 ff.; ders., AG 2009, 248, 252 ff.; ders., JZ 2008, 425, 431; Enzinger in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2016, § 119 HGB Rz. 98 ff.; Freitag in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, 3. Aufl. 2014, § 119 HGB Rz. 82; Priester in FS Hadding, 2004, S. 607, 617; Scholz, WM 2006, 897, 904 f. 20 K. Schmidt, ZGR 2008, 24, 27; Enzinger in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2016, § 119 HGB Rz. 98; Scholz, WM 2006, 897, 904 f. 21 Enzinger in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2016, § 119 HGB Rz. 98. 

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GmbH & Co. KG (in der üblicher- und sinnvollerweise Gesellschafterbeschlüsse der Kommanditisten nach den Regeln des GmbH-Rechts gefasst werden), wenn ganz unterschiedliche Rechtsregeln für Beschlussmängelklagen Anwendung finden, je nachdem, ob ein Gesellschafter einen GmbH-Beschluss oder einen KG-Beschluss angreifen will. Wenn die Judikatur zum GmbH-Recht überzeuge, verdiene sie, auf Mehrheitsbeschlüsse bei Personengesellschaften übertragen zu werden.22

III. Beschlussmängel in der (Kautelar-)Praxis Die Zulässigkeit einer Vertragsgestaltung, die das personengesellschaftsrechtliche Beschlussmängelrecht an die Regelungen im AktG annähert, ist – wie gesehen – unstrittig. Freilich handelt es sich nur um ein Angleichen in Wirkung und Ergebnis und nicht in den dogmatischen Voraussetzungen, da eine vertragliche Begründung von Gestaltungsklage nach zutreffender Auffassung nicht in Betracht kommt. Aus Sicht der Praxis stellt die Konstruktionsfrage für sich genommen selbstverständlich kein Problem dar. Größere Schwierigkeiten können sich aus praktischer Sicht allerdings dann einstellen, wenn die grundsätzlich gegebenen Möglichkeiten einer Annäherung an das aktienrechtliche Beschlussmängelrecht nicht oder nur unzureichend genutzt werden.23 In der Literatur scheint insoweit eine optimistische Einschätzung vorherrschend. So geht Carsten Schäfer davon aus, dass Fristenregelungen, die innerhalb eines überschaubaren Zeitraums für Rechtssicherheit, sorgen, „bei Publikumsgesellschaften ausnahmslos vorhanden sein“ dürften.24 Wenn die Marktakteure, so wie vielfach ­behauptet und angenommen, von ihren Gestaltungsoptionen stets sachgerechten ­Gebrauch machten, bestünde für den Gesetzgeber in der Tat wenig Anlass – von prinzipiellen Erwägungen und dem Bedürfnis nach legislativer Perfektion einmal abgesehen – tätig zu werden und eine Reform des Personengesellschaftsrechts voranzutreiben. Aus meiner anwaltlichen Erfahrung muss ich allerdings ein wenig Wasser in den Wein gießen. Wenn große Publikumsgesellschaften ihr Beschlussmängelrecht in angemessenem Umfang normieren, dann bedeutet das nicht, dass andere Gesellschaften das Gleiche tun. Schon ihre große Anzahl verleiht diesen übrigen Gesellschaften ein volkswirtschaftliches Gewicht, das man nicht ignorieren kann. Darüber hinaus gibt es auch große Familiengesellschaften mit Millionen- oder Milliardenumsätzen, die als Personengesellschaften organisiert sind und die in ihren Gesellschaftsverträgen über keine befriedigende Regelung des Beschlussmängelrechts verfügen.

22 K. Schmidt, AG 2009, 248, 254; ders., JZ 2008, 425, 431.  23 Zu den Gestaltungsmöglichkeiten Herchen in VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion, 2016, Bd. 22, S. 83, 119 ff. 24 C. Schäfer, Empfiehlt sich eine grundlegende Reform des Personengesellschaftsrechts? Gutachten E zum 71. Deutschen Juristentag, 2016, S. E110; vgl. auch Fleischer, GmbHR 2013, 1289, 1292.

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Die Durchsicht von Formularhandbüchern und Gerichtsentscheidungen macht ebenfalls deutlich, dass es in der Praxis erhebliche regelungstechnische Unterschiede und Defizite gibt. Zwar hat die Kautelarjurisprudenz die Problematik als solche schon seit langer Zeit erkannt, wie ein Gesellschaftsvertrag aus dem Jahr 1959 zeigt, auf den sich der BGH in einer Entscheidung von 1966 bezieht: Dieser sah vor, dass Beschlüsse der Gesellschafterversammlung nur innerhalb einer Frist von zwei Monaten seit der Beschlussfassung angefochten werden können.25 Doch der gleiche Vertrag enthielt sich einer Feststellung, gegen wen eine etwaige Klage zu richten ist, ob gegen die Gesellschaft oder gegen die Gesellschafter. Als es zwischen den Gesellschaftern über die Rechtsmäßigkeit eines Gesellschafterbeschlusses zum Konflikt kam, hatten sich Berufungs- und Revisionsgericht mit dieser Regelungslücke zu befassen, weil die Klage gegen die Gesellschaft gerichtet war, die Revision indes die Auffassung vertrat, sie hätte gegen die übrigen Gesellschafter gerichtet werden müssen.26 BGH und Berufungsgericht gaben richtigerweise dem Kläger Recht und ließen die Klage gegen die Gesellschaft zu, doch wäre der Streit bei einer sorgfältigen Vertragsgestaltung oder einer eindeutigen gesetzlichen Regelung vermeidbar gewesen.27 Die großzügige Auslegung der Gerichte, die eine Orientierung am aktienrechtlichen Beschlussmängelrecht (häufig, aber nicht immer) schon dann unterstellen, wenn es dafür nur irgendwelche Hinweise in den Gesellschaftsverträgen gibt, seien sie auch noch so fragmentarisch, dürfte überhaupt der wesentliche Grund dafür sein, dass sich die negativen Folgen in Grenzen halten. In einem Urteil aus dem Jahr 2006 (das seinerseits auf eine Reihe weiterer Entscheidungen verweist28) sah sich der BGH abermals dazu aufgerufen, (in Bezug auf den richtigen Klagegegner unvollständige) gewillkürte Klagevoraussetzungen dahingehend auszulegen, dass die Klage gegen die Gesellschaft, nicht gegen die Gesellschafter zu richten ist. Da die Gesellschafter „in mehr oder weniger weitem Umfang die Geltung des kapitalgesellschaftsrechtlichen Systems vereinbart“ hätten, müssten die nicht geregelten Punkte auf der Grundlage des Aktienrechts ergänzt werden.29 Für die Gesellschafter, die nur einen „mehr oder weniger“ am aktienrechtlichen Beschlussmängelrecht orientierten Gesellschaftsvertrag vorweisen können, bleibt bei solchen Auslegungsoperationen das Restrisiko, dass die Gerichte im konkreten Fall sich weigern, das Kapitalgesellschaftsrecht als Leitbild anzuerkennen, und eine entsprechende Lückenfüllung ablehnen. Nicht einmal in den kommentierten Musterverträgen der Formularbücher wird ausnahmslos eine Anlehnung an das kapitelgesellschaftsrechtliche Klagesystem empfohlen oder diese Möglichkeit auch nur erwähnt, selbst wenn das Vertragsmuster Mehr-

25 BGH v. 30.6.1966 – II ZR 149/64, WM 1966, 1036, 1036.  26 BGH v. 30.6.1966 – II ZR 149/64, WM 1966, 1036, 1036. 27 BGH v. 30.6.1966 – II ZR 149/64, WM 1966, 1036, 1036 f. 28 BGH v. 24.3.2003 – II ZR 4/01, NZG 2003, 525; BGH v. 7.6.1999 – II ZR 278/98, NZG 1999, 935. 29 BGH v. 17.7.2006 – II ZR 242/04, NJW 2006, 2854, 2855. 

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heitsbeschlüsse zulässt.30 Soweit Regelungen vorgeschlagen werden (vor allem für die KG, seltener für die oHG), beschränken sie sich meist auf die beiden elementaren Gesichtspunkte Klagefrist und Klagegegner (z.B.: „Die Unwirksamkeit von Gesellschafterbeschlüsse kann nur innerhalb einer Ausschlussfrist von zwei Monaten seit Zugang der Niederschrift […] durch Klage gegen die Gesellschaft geltend gemacht werden“31).

IV. Reform des Beschlussmängelrechts in der Diskussion Nicht nur bei der Bewertung der Rechtslage de lege lata besteht keine Einigkeit, auch die rechtspolitischen Optionen sind nicht ganz unumstritten. 1. Deutsche Juristentage 2016 und 2018 Die Gutachten zu den beiden letzten Deutschen Juristentagen schätzen den Handlungsbedarf unterschiedlich ein. Der Kontext war jeweils ein wenig anders  – 2016 stand eine „grundlegende Reform des Personengesellschaftsrechts“ zur Diskussion, 2018 „eine Reform des Beschlussmängelrechts im Gesellschaftsrecht“ – dennoch sind die Ausführungen vergleichbar und vermutlich sogar repräsentativ für den gegenwärtigen Meinungsstand. Das von Carsten Schäfer verfasste Gutachten von 2016 gesteht dogmatische Frik­ tionen zu, die sich aus dem geltenden Recht ergeben, sofern man – wie die h.M. – das aktienrechtliche Beschlussmängeln nicht im Analogiewege auf die Personengesellschaften übertragen und zugleich Verstöße gegen bloße Ordnungsvorschriften von der allgemeinen Rechtsfolge der Beschlussnichtigkeit ausnehmen möchte. Doch habe sich das geltende Recht in der Praxis nicht als Hindernis für eine angemessene differenzierende Beurteilung von Beschlussmängel erwiesen.32 Nennenswerte Probleme könne die jetzige Regelung nur Gesellschaften mit großer Gesellschafterzahl bereiten. Indes hätten die Publikumsgesellschaften ausnahmslos in ihren Verträgen Vorsorge getroffen und zumindest Klagefristen vereinbart, meist darüber hinaus sogar explizit die Gesellschaft zur Klagegegnerin bestimmt und eine schuldrechtliche Unterwerfung aller Gesellschafter unter das Ergebnis des zwischen Gesellschaft und Beschlussmängelkläger erstrittenen Feststellungsurteils angeordnet. Im Ergebnis komme man damit der gesetzliche Rechtskraftwirkung erga omnes i.S.v. §  248 AktG nahe. Eine weitergehende materielle Gestaltungswirkung des Feststellungsurteils sei nicht erforderlich, wenn man von der Nichtigkeit als einheitliche Feh30 Vgl. den „einfachen KG-Vertrag“ in Hopt/Lang, Vertrags- und Formularbuch zum Handels-, Gesellschafts- und Bankrecht, 4. Aufl. 2013, S. 450 (§ 5). 31 §  8 Abs.  6 des „ausführlichen KG-Vertrags“ in Hopt/Lang, Vertrags- und Formularbuch zum Handels-, Gesellschafts- und Bankrecht, 4. Aufl. 2013, S. 461. 32 C. Schäfer, Empfiehlt sich eine grundlegende Reform des Personengesellschaftsrechts? Gutachten E zum 71. Deutschen Juristentag, 2016, S. E109.

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lerkategorie ausgehe.33 Folglich sei auch ein dringender Bedarf an einem Eingreifen des Gesetzgebers nicht erkennbar und diesem Abstinenz zu empfehlen. Vorrang habe eine Neugestaltung des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts. Erst im Anschluss daran sei es denkbar und sinnvoll, sich des personengesellschaftsrechtlichen Beschlussmängelrechts anzunehmen.34 Der 71. Deutsche Juristentag hat dann eher der etwas reformfreudigeren Position der Referentin Gabriele Roßkopf35 zugeneigt und mit breiter Mehrheit (39:9:7) folgenden Beschluss gefasst: „Beschlussmängel sollten bei rechtsfähigen Personengesellschaften nicht automatisch zur Nichtigkeit führen, sondern durch eine befristete Anfechtungsklage gegenüber der Gesellschaft geltend zu machen sein. Dies sollte im Zuge einer Reform des gesamten Beschlussmängelrechts geregelt werden.“36 In gewisser Weise steht Carsten Schäfers Auffassung nicht im Widerspruch zu den Positionen in dem von Jens Koch erarbeiteten Gutachten von 2018, denn dieses Gutachten enthält Vorschläge für eine umfassende Reform des aktienrechtrechtlichen Beschlussmängelrechts und dazu gleichsam als Annex  – ähnlich wie von Carsten Schäfer in Erwägung gezogen – Überlegungen zu einer beschlussmängelrechtlichen Institutionenbildung, die das Recht der Personengesellschaften ebenso einbezieht wie das Recht der GmbH und das Vereinsrecht.37 Trotzdem ist nicht zu übersehen, dass das Gutachten von 2018 andere Akzente setzt. Es betont, dass sich die Regelbedürfnisse bei körperschaftlichen und personenge­ sellschaftsrechtlichen Strukturen nicht unterscheiden. Die Notwendigkeit, Rechts­ sicherheit herzustellen, bestehe in beiden Konstellationen und sei letztlich die entscheidende ratio legis.38 Der Umstand für sich genommen, dass die Gesellschafter kautelarjuristische Vorsorge treffen und eine Annäherung an das aktienrechtliche Modell vorausschauend vertraglich umsetzen können, mache eine gesetzliche Regelung nicht obsolet. Eine sachgerechte default option sei gerade bei Personengesellschaften erforderlich, da es in solchen Gesellschaften häufig an einer professionellen Rechtsberatung fehle und daher keineswegs garantiert sei, dass eine interessengerechte Vereinbarung zustande komme.39 33 C. Schäfer, Empfiehlt sich eine grundlegende Reform des Personengesellschaftsrechts? Gutachten E zum 71. Deutschen Juristentag, 2016, S. E110. 34 C. Schäfer, Empfiehlt sich eine grundlegende Reform des Personengesellschaftsrechts? Gutachten E zum 71. Deutschen Juristentag, 2016, S. E111. 35 Thesen zum Wirtschaftsrecht, 71. Deutscher Juristentag, Thesen zum Referat von Rechtsanwältin Dr. Gabriele Roßkopf, LL.M., Ziff. 8: „Auch bei Personen(außen)gesellschaften – jedenfalls bei eingetragenen – sollten Beschlussmängel nicht automatisch zur Nichtigkeit führen, sondern grundsätzlich durch eine befristete Anfechtungsklage gegenüber der Gesellschaft geltend zu machen sein.“ 36 Beschlüsse des 71. Juristentages, Beschlüsse zum Wirtschaftsrecht, IV.19. 37 Koch, Empfiehlt sich eine Reform des Beschlussmängelrechts im Gesellschaftsrecht? Gutachten E zum 72. Deutscher Juristentag, 2018, S. F75.  38 Koch, Empfiehlt sich eine Reform des Beschlussmängelrechts im Gesellschaftsrecht? Gutachten E zum 72. Deutscher Juristentag, 2018, S. F75. 39 Koch, Empfiehlt sich eine Reform des Beschlussmängelrechts im Gesellschaftsrecht? Gutachten E zum 72. Deutscher Juristentag, 2018, S. F75.

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2. Meinungsstand in der Literatur Im Schrifttum hat die Reform des personengesellschaftsrechtlichen Beschlussmängelrechts bislang keine sehr intensive rechtspolitische Diskussion ausgelöst, obwohl sich das „Konzept der Anfechtungs- und Nichtigkeitsklagen […] in seiner ganzen Komplexität besser für gesetzgeberische als für rechtsfortbildende Gestaltung“ eignet.40 Das liegt wohl vor allem daran, dass man von einem Gesetzgeber, „der sich dieser Fragen nicht einmal im GmbH-Recht angenommen hat“, keine Unterstützung erwartet.41 Die Einschätzung des DJT-Gutachtens von 2016, wonach private, vertragliche Vorsorge ausreiche, um die Defizite im geltenden Personengesellschaftsrechts auszugleichen, ist vereinzelt auf Kritik gestoßen. Dies sei nicht überzeugend, „wenn man die Aufgabe des dispositiven Gesetzesrechts zumindest auch darin sieht, von den Beteiligten typischerweise als interessengerecht empfundene Lösungen vorzugeben.“42 Befürworter einer gesetzlichen Regelung43 dürften diejenigen sein, die schon nach geltendem Recht die Anfechtungslösung für zulässig halten und eine analoge Anwendung der aktienrechtlichen Vorschriften bejahen. Wer eine Regelungslücke (als Vo­ raussetzung des Analogieschlusses) wegen fehlender Rechtssicherheit und fehlender Differenzierung der Mängelfolgen als gegeben ansieht,44 wird aus den gleichen Gründen eine Kodifizierung billigen, selbst wenn es sich aus dieser Perspektive mehr oder weniger nur um die Klarstellung einer bereits bestehenden Rechtslage handelt (es sei denn, man traut es dem modernen Gesetzgeber nicht zu, ein adäquates, rechtsformspezifisches Modell zu entwickeln, das den Besonderheiten des Personengesellschaftsrechts Rechnung trägt45). Wer umgekehrt eine Übertragung der aktienrechtlichen Bestimmungen auf die GmbH (und erst recht auf die Personengesellschaften) schon de lege lata ablehnt, weil das Anfechtungsmodell nur bei der Aktiengesellschaft, nicht aber bei anderen Rechtsformen angemessen sei, der wird eine entsprechende Gesetzesreform nicht gutheißen können. Vor allem das Erfordernis fristgebundener Klageerhebung steht in der Kritik: Es übe „rechtspolitisch nicht wünschenswerten Zwang zur Klageerhebung aus, der nicht nur […] unnötige Belastung des Justizsystems mit sich bringt, sondern vor allem Gesellschafter und Gesellschaft zu einem Rechtsstreit nötigt, den beide Seiten möglicherweise wegen eines begrenzten Konflikts gar nicht wollen.“46 3. Stellungnahme Die gesetzliche Normierung eines Beschlussmängelrechts für Personengesellschaften ist wünschenswert. Dafür sprechen keineswegs nur rechtstechnische oder -theoreti40 K. Schmidt, ZGR 2008, 1, 32. 41 K. Schmidt, ZGR 2008, 1, 31.  42 Tröger, JZ 2016, 834, 841.  43 Ausdrücklich etwa Bayer/Möller, NZG 2018, 801, 808; Tröger, JZ 2016, 834, 841.  44 Enzinger in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2016, § 119 HGB Rz. 98 f. 45 Vgl. die Kritik von K. Schmidt, AG 2009, 248, 252 f. an den GmbH-Reformentwürfen von 1969 und 1973.  46 Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, 21. Aufl. 2017, Anhang § 47 GmbHG Rz. 4. 

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sche Erwägungen in dem Sinne, dass um der Vollständigkeit, Einheitlichkeit und inneren Folgerichtigkeit des Rechtssystems willen ein allgemeines Beschlussmängelrecht oder zumindest aufeinander abgestimmte Beschlussmängelrechte kodifiziert werden sollten – wenngleich das gewiss schon ein Wert an sich wäre. Vielmehr gibt es auch einen handfesten praktischen Bedarf an einer beschlussmängelrechtlichen default rule für Personengesellschaften. Wie schon bemerkt (III.), sind in der Praxis häufig Gesellschaftsverträge in dieser Hinsicht defizitär. Bei großen Publikumsgesellschaften mag sich ein einigermaßen verlässlicher Standard herausgebildet haben, bei vielen anderen Gesellschaften ist das hingegen leider nicht der Fall, nicht einmal bei großen, umsatzstarken Familiengesellschaften. Teilweise sind die Verträge alt und stammen noch aus Zeiten, in denen nur eine rudimentäre kautelarjuristische Vorsorge getroffen wurde. Aber auch bei neueren Verträgen steht es nicht immer zum Besten. Selbst wenn Regelungen vorhanden sind, weisen sie nicht selten Lücken auf und geben Anlass zu Missverständnissen. Die Rechtsprechung ist zwar gegenwärtig bemüht, den Gesellschaften entgegenzukommen, sich an dem bewährten aktienrechtlichen Modell zu orientieren und Lücken sach- und interessengerecht zu schließen, aber es ist nun einmal keine befriedigende Dauerlösung, sich auf das goodwill der Rechtsprechung zu verlassen, zumal judikativen Hilfestellungen bei Fehlen von Anhaltspunkten im Vertrag, die auf eine Präferenz für die Anfechtungslösung hindeuten, Grenzen gesetzt sind und sich die Haltung der Rechtsprechung zu dem Problem jederzeit ändern kann. Dass sich Kapital- namentlich Aktiengesellschaften von Personengesellschaften in Hinsicht auf Struktur, Zusammensetzung und interne Abläufe wesentlich unterscheiden, lässt sich nicht leugnen. Zu Recht weisen die Kritiker auf das besondere Vertrauens- und Näheverhältnis zwischen den Personengesellschaftern hin, das durch einen Zwang zur gerichtlichen Eskalation, d.h. zur Klageerhebung infolge restriktiver Fristenregelungen, empfindlich gestört werden kann. Doch das ist eher ein Grund für als gegen eine gesetzliche Normierung. Denn viele der „marktüblichen“ Vertrags­klauseln im Beschlussmängelrecht enthalten genau die Art von starren Fristen, die einen ­derartigen Klagezwang – mit den entsprechenden Nebenwirkungen – fördern. Mit an­deren Worten: Entweder hat man es in der Praxis mit Verträgen zu tun, die das Beschlussmängelrecht überhaupt nicht thematisieren, so dass Rechtsunsicherheit herrscht, ob und wann Beschlussmängel geltend gemacht werden, oder die Gesellschafter werden durch rigide Ausschlussfristen zu einer gerichtlichen Auseinandersetzung gedrängt. Eine durchdachte Gesetzesreform bietet hingegen die Möglichkeit, den Rechtsanwendern ein Modell zur Verfügung zu stellen, das die Nachteile des gegenwärtigen Zustandes vermeidet oder zumindest abmildert. Denkbar wäre etwa die Einführung einer zwingenden Verpflichtung, ein Streitschlichtungsverfahren zu durchlaufen, wie es das österreichische Vereinsgesetz kennt (§ 8 Abs. 1 öVerG47), doch würde ein solcher 47 „Die Statuten haben vorzusehen, dass Streitigkeiten aus dem Vereinsverhältnis vor einer Schlichtungseinrichtung auszutragen sind. Sofern das Verfahren vor der Schlichtungseinrichtung nicht früher beendet ist, steht für Rechtsstreitigkeiten nach Ablauf von sechs Mo-

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Mechanismus auf die Bevormundung der Gesellschafter hinauslaufen und sie in ihrer Entscheidungs- und Organisationsfreiheit zu sehr beschränken.48 Als Vorbild für eine sachgerechte, auf eine Prozessvermeidung zielende Lösung kommt indes § 203 BGB in Betracht.49 Die Vorschrift ordnet die Hemmung der Verjährung an, sofern zwischen dem Schuldner und dem Gläubiger Verhandlungen über den Anspruch oder die den Anspruch begründenden Umstände schweben. Die Hemmung der Verjährung dauert solange an, bis der eine oder der andere Teil die Fortsetzung der Verhandlungen verweigert. Der Verhandlungsbegriff des § 203 BGB wird in der Praxis weit ausgelegt und bezieht sich auf jeden Meinungsaustausch über den Anspruch oder die diesen begründenden Umstände, der aus Sicht des Gläubigers den Schluss zulässt, dass die Gegenseite sein Begehren noch nicht endgültig abgelehnt hat.50 Die Vorschrift fand im Zuge der Schuldrechtsreform Eingang ins Gesetz und wurde damals wie folgt begründet: „Solche Verhandlungen haben den rechtspolitisch erwünschten Zweck, Rechtsstreitigkeiten zu vermeiden. Es erscheint daher angebracht, die Verhandlungen nicht unter den zeitlichen Druck einer ablaufenden Verjährungsfrist zu stellen. Dies entspricht auch der Billigkeit; denn der Schuldner, der sich in Verhandlungen mit dem Gläubiger einlässt und diesen damit zunächst von der Klageerhebung abhält, darf nicht nachher die Erfüllung des Anspruchs unter Hinweis auf die auch während der Verhandlungen verstrichene Zeit ablehnen.“51 Dieser Gedanke lässt sich auch für die Geltendmachung von Beschlussmängeln fruchtbar machen. Wenn sichergestellt ist, dass eine außergerichtliche Verständigung nicht zum Verlust der Klagemöglichkeit führt, kann derjenige, der einen Beschluss beanstandet, sich ohne Bedenken auf den Versuch, eine gütliche Einigung zu erzielen, einlassen, da ihm bei Scheitern der Verhandlungen immer noch der Rechtsweg offensteht. Die Rechtssicherheit wird dennoch nicht wesentlich beeinträchtigt. Die Unwägbarkeiten, die dadurch entstehen können, dass Verhandlungen durch Untätigkeit einer Seite oder beider Parteien einschlafen oder verschleppt werden, halten sich in Grenzen. Nach der gängigen Formel des BGH entfällt in solchen Fällen die Hemmung, wenn aus Sicht des Gläubigers nach Treu und Glauben ein nächster Schritt zu erwarten gewesen wäre, der dann jedoch unterblieb.52 Dieser Grundsatz hat die Rechtsprenaten ab Anrufung der Schlichtungseinrichtung der ordentliche Rechtsweg offen. Die Anrufung des ordentlichen Gerichts kann nur insofern ausgeschlossen werden, als ein Schiedsgericht nach den §§ 577 ff. ZPO eingerichtet wird.“ 48 Koch, Empfiehlt sich eine Reform des Beschlussmängelrechts im Gesellschaftsrecht? Gutachten E zum 72. Deutscher Juristentag, 2018, S. F85. 49 So auch Fleischer, GmbHR 2013, 1289, 1301 (zur GmbH); Koch, Empfiehlt sich eine Reform des Beschlussmängelrechts im Gesellschaftsrecht? Gutachten E zum 72.  Deutscher Juristentag, 2018, S. F85 f. 50 BGH v. 26. 10. 2006 – VII ZR 194/05, NJW 2007, 587 Rz. 10; Grothe in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2015, § 203 BGB Rz. 5.  51 Reg.Begr. BT-Drucks. 14/6040, S. 111.  52 BGH v. 5.6.2014 – VII ZR 285/12, BeckRS 2014, 13046; BGH v. 6.11.2008 – IX ZR 158/07, NJW 2009, 1806 Rz. 10 f.; BGH v. 5. 11. 2002 – VI ZR 416/01, NJW 2003, 895, 896 f.

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chung bislang nicht vor unüberwindliche Hindernisse gestellt, was sich auch daran ablesen lässt, dass der Gesetzgeber bei den Beratungen zu §  203 BGB explizit eine Präzisierung verworfen und „die Lösung im Einzelfall der Rechtsprechung überlassen [hat], so wie es auch bei dem bisherigen § 852 Abs. 2 der Fall ist.“53 Eine einmonatige Untätigkeit wird üblicherweise für ausreichend gehalten, um von einem Ende der Verhandlungen auszugehen.54 Das erscheint auch unter dem Aspekt der Rechtssicherheit nicht unzumutbar. Im Übrigen sollte der Gesetzgeber im zu schaffenden Beschlussmängelrecht der Personengesellschaften die Hemmungsregelung – wie auch die Klagefrist – dispositiv gestalten, um Raum für individuelle Lösungen zu lassen.

V. Eckpunkte einer gesetzlichen Regelung Im gegebenen Rahmen können die wesentlichen Regelungsinhalte, die eine Gesetzesreform berücksichtigen müsste, nur aufgezählt und mit einigen skizzenhaften Bemerkungen versehen werden. 1. Nichtigkeit und Anfechtbarkeit Nichtigkeit als Einheitsfolge für fehlerhafte Beschlüsse ist keine sinnvolle Zukunftsperspektive weder für das Kapital- noch für das Personengesellschaftsrecht. Dem Legalitätsinteresse ist zwar Rechnung zu tragen, es darf aber nicht ohne weiteres über das Bedürfnis nach Rechtssicherheit gestellt werden. Das schuldrechtliche Modell des 19. Jahrhunderts passt nicht in eine Zeit, in der (Außen-) Gesellschaften mit eigenständigen Binnenstrukturen die vorherrschende Organisationsform des wirtschaftlichen Lebens sind. Beschlüsse zeichnen sich gewöhnlich durch eine im Vergleich zu konventionellen schuldrechtlichen Austauschbeziehungen signifikant höhere Fehleranfälligkeit aus sowie durch ein „Weiterfressen“ der Fehlerfolgen, das schwerwiegende Kettenreaktionen auslösen kann.55 Die Anfechtbarkeit von Beschlüssen stellt einen sachgerechten Kompromiss zwischen Legalitäts- und Sicherheitsinteressen dar. Hinsichtlich der personalistisch strukturierten Kapitalgesellschaft unterhalb der Aktiengesellschaft besteht unter den kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen (Österreich, Schweiz, Frankreich, Spanien, Italien) weitgehend Übereinstimmung, dass es eines Klageerfordernisses und der Festsetzung von Anfechtungsfristen bedarf, um auch diese Art von Gesellschaften zu stabilisieren und sie vor den Gefahren einer

53 Reg.Begr. BT-Drucks. 14/6040, S. 112. 54 Grothe in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2015, § 203 BGB Rz. 8; vgl. auch BGH v. 5.11.2002 – VI ZR 416/01, NJW 2003, 895, 897; BGH v. 5.6.2014 – VII ZR 285/12, BeckRS 2014, 13046 (mindestens zwei Wochen als angemessene Reaktionszeit). Für eine Zwei-Monatsfrist Fleischer, GmbHR 2013, 1289, 1301 (zur GmbH). 55 Koch, Empfiehlt sich eine Reform des Beschlussmängelrechts im Gesellschaftsrecht? Gutachten E zum 72. Deutscher Juristentag, 2018, S. F73.

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permanenten Fehlerkorrektur zu schützen.56 Einige Rechtsordnungen sind bereits dazu übergegangen, das Beschlussmängelrecht für alle Kapitalgesellschaften zu vereinheitlichen, so etwa das spanische Recht in den Art. 204-208 der „Ley de Sociedades de Capital“ mit seinen recht kurz bemessenen Anfechtungsfristen.57 Die Unterschiede zwischen Personengesellschaften und personalistisch strukturierten Kapitalgesellschaften wiegen nicht so schwer, dass eine Ungleichbehandlung der Mängelfolgen angezeigt ist. Rechtstatsächlich zielen beide Gesellschaftstypen auf ähnliche Märkte, ähnliche Anwendungsfelder und ähnliche wirtschaftliche Sachverhalte. Seit der Anerkennung der Rechtsfähigkeit der GbR im Jahre 200158 bestehen zudem keine durchgreifenden rechtsdogmatischen Bedenken mehr. Das Anfechtungsmodell ist nunmehr systemkonform. Daraus folgt freilich im Umkehrschluss, dass eine gesetzliche Regelung Ausnahmen für die Innen-GbR vorsehen muss, schon deshalb, weil eine reine Innengesellschaft nicht passiv legitimiert sein kann  – ein Herzstück der Anfechtungslösung.59 Es insoweit bei dem Zustand de lege lata zu belassen, fällt nicht schwer, da Innengesellschaften anderen wirtschaftlichen Zwecken dienen als Außengesellschaften und im Ganzen schuldrechtlichen Austauschverträgen näher stehen. 2. Klagegegner und Erga-omnes-Wirkung Richtiger Klagegegner sollte die Gesellschaft und sollten nicht die einzelnen Gesellschafter sein. Das entspricht der gegenwärtigen Rechtslage im Aktien- und im GmbH-­ Recht sowie den Bestimmungen in vielen Personengesellschaftsverträgen. Ein denkbarer Einwand ist allerdings die Rückverlagerung der Prozesskosten, zu der es kommt, wenn der Kläger mit seiner Klage erfolgreich ist. Trotz seines Erfolges muss er in seiner Funktion als Gesellschafter mittelbar dann doch wieder für die Kosten aufkommen. Bei einer Klage gegen die einzelnen Gesellschafter wäre das nicht der Fall.60 Wirklich schlagend ist das Argument aber nicht. Schließlich handelt es sich nur um eine anteilige Beteiligung an den Kosten, die bei einer Mehrzahl von Gesellschaftern nicht ins Gewicht fällt und bei der Aktiengesellschaft seit jeher hingenommen wird. Allein der Umstand, dass der Kreis der Gesellschafter bei der Aktiengesellschaft typischerweise (aber nicht notwendigerweise) größer ist als bei anderen Gesellschaftsformen, rechtfertigt keine Ungleichbehandlung. Aus Ex-ante-Perspektive sind alle Gesellschafter von dem Risiko anteiliger Kostentragung trotz Obsiegens im Rechtsstreit in gleicher Weise betroffen.61

56 Fleischer, GmbHR 2013, 1289, 1292 f. 57 Fleischer, GmbHR 2013, 1289, 1297. 58 BGH v. 29.1.2001 – II ZR 331/00, BGHZ 146, 341 = NJW 2001, 1056. 59 Koch, Empfiehlt sich eine Reform des Beschlussmängelrechts im Gesellschaftsrecht? Gutachten E zum 72. Deutscher Juristentag, 2018, S. F 75 f. 60 Vgl. Joost, ZGR 1984, 71, 92 f., 96. 61 Koch, Empfiehlt sich eine Reform des Beschlussmängelrechts im Gesellschaftsrecht? Gutachten E zum 72. Deutscher Juristentag, 2018, S. F87.

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Wenn man sich schon zu einer gesetzlichen Normierung durchringt, sollte man für Personengesellschaften eine dem § 248 Abs. 1 Satz 1 AktG entsprechende Norm einführen, so dass das Urteil automatisch für und gegen alle Gesellschafter wirkt und es keiner Konstruktion einer schuldrechtlichen Unterwerfung unter das Ergebnis des zwischen Gesellschaft und Beschlussmängelklägers erstrittenen Feststellungsurteils mehr bedarf. 3. Beschlussfixierung Ein wichtiger, aber heikler Punkt ist die Frage der Beschlussfixierung. Ursprünglich hatte der BGH in Bezug auf die GmbH darauf bestanden, dass ein Beschluss durch Anfechtungsklage nur zu beseitigen sei, „wenn der Beschlussinhalt, wie namentlich im Aktienrecht (§ 130 AktG) oder bei Satzungsänderung in der GmbH (§ 53 Abs. 2 GmbHG), beurkundet worden ist.“62 In einer Grundsatzentscheidung aus dem Jahr 1988 gab das Gericht dann diese strengen Voraussetzungen auf und verzichtete auf das Beurkundungserfordernis, verlangte aber, dass zumindest in einer vom Versammlungsleiter unterzeichnete Niederschrift „ein bestimmtes Beschlussergebnis festgestellt worden ist.“63 In der Tat ergibt eine Anfechtung nur Sinn, wenn das, was angefochten werden soll, mit einiger Gewissheit feststeht. Ein unklarer Beschlussinhalt kann nicht angefochten werden und nicht in Bestandskraft erwachsen. Vielmehr muss in solchen Fällen zunächst eine Feststellungsklage für Klarheit sorgen. Der vermeintlich naheliegende Weg, einfach die aktienrechtliche Beurkundungsregelung des § 130 AktG zu übernehmen, um die Bestimmbarkeit des Beschlussinhalts sicherzustellen, ist freilich keine realistische Option für die ihrer Natur nach informelleren Personengesellschaften. Der Aufwand einer notariellen Beurkundung wäre allenfalls vertretbar bei großen, umsatzstarken Personenhandelsgesellschaften, nicht aber bei BGB-Gesellschaften mit einem kleinen Gesellschafterkreis und bescheidenen finanziellen Mitteln. Das scharfe Schwert der Nichtigkeit gemäß § 241 Nr. 2 AktG passt überdies nicht zu Gesellschaften, die einen vergleichsweise geringen Organisationsgrad aufweisen und deren Entscheidungsabläufe wegen fehlender Kontrollen und Geschäftserfahrung fehleranfälliger sind als die größerer Einheiten mit etablierten Strukturen. Teilweise werden die Unterschiede und divergierenden Interessen als so gravierend angesehen, dass allein deshalb – wegen der Unmöglichkeit einer für alle Seiten akzeptablen Beschlussfixierung  – eine Orientierung des GmbH- und Personengesellschaftsrechts am Beschlussmängelrecht der Aktiengesellschaft nicht in Betracht komme.64 Diese Einschätzung ist jedoch einseitig und zu pessimistisch.65 Mindestens zwei Lösungsansätze stehen zur Verfügung, um das Ziel ohne allzu belastende Nebenwirkungen zu erreichen: Zu erinnern ist zunächst an die  – letztlich nicht umgesetzte  – 62 BGH v. 21.3.1988 – II ZR 308/87, BGHZ 104, 66, 69.  63 BGH v. 21.3.1988 – II ZR 308/87, BGHZ 104, 66, 67, 69.  64 Vgl. Fehrenbach, Der fehlerhafte Gesellschafterbeschluss in der GmbH, 2012, S. 157 ff. 65 So auch Koch, Empfiehlt sich eine Reform des Beschlussmängelrechts im Gesellschaftsrecht? Gutachten E zum 72. Deutscher Juristentag, 2018, S. F78.

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­ mbH-Reform Anfang der 1970er Jahre. Der damalige Gesetzentwurf sah für die G GmbH eine Niederschrift über die Gesellschafterversammlung „auf Verlangen“ vor.66 In § 83 Abs. 1 Satz 1 GmbHG-E heißt es: „Wenn ein Gesellschafter oder ein Geschäftsführer es verlangt, ist über die Beschlüsse eine Niederschrift tunlichst vor Schluss der Gesellschafterversammlung aufzunehmen.“ Nach Abs. 2 sind auf Verlangen eines Gesellschafters die Beschlüsse sogar durch eine notariell aufgenommene Niederschrift zu beurkunden. Allerdings hat der betreffende Gesellschafter die Kosten zu tragen und kann die Beurkundung nur verlangen, wenn sie so rechtzeitig beantragt wird, dass ein Notar ohne Verzögerung der Beschlussfassung beigezogen werden kann.67 Die Gesetzesbegründung beschreibt in nach wie vor zutreffender Weise die abweichenden Interessen, die der Gesetzgeber zu harmonisieren hoffte: „Die Verhältnisse können in kleineren Gesellschaften so einfach liegen, dass es nicht stets eine Protokollierung der Beschlüsse bedarf.“ Andererseits können Beschlüsse „jedoch für einzelne Gesellschafter oder Geschäftsführer sehr weittragende Auswirkungen haben oder auch im Interesse der Gesellschaft so wichtig sein, dass ihre schriftliche Fixierung – unabhängig vom Willen der Gesellschaftermehrheit – zweckmäßig sein kann.“68 Eine Alternative stellt § 40 österreichisches GmbHG dar. Nach Abs. 1 sind die Beschlüsse der Generalversammlung unverzüglich nach der Beschlussfassung in eine Niederschrift aufzunehmen und diese Niederschriften sowie die auf schriftlichem Weg gefassten Beschlüsse der Gesellschafter geordnet aufzubewahren. Nach Abs. 2 ist jedem Gesellschafter unverzüglich eine Kopie der gefassten Beschlüsse unter Angabe des Tages der Aufnahme derselben in die Niederschrift mittels eingeschriebenen Briefes zuzusenden. An „den Tag der Absendung der Kopie“ knüpft § 41 Abs. 4 österreichisches GmbHG den Beginn der einmonatigen Klagefrist. Ein Verstoß gegen das Niederschrifterfordernis berührt nicht die Wirksamkeit des Beschlusses, und die Beweiskraft der Niederschrift reicht nicht über die einer Privaturkunde hinaus.69 Eine fehlende oder fehlerhafte Niederschrift wird auf anderen Wegen sanktioniert, die der Funktionsfähigkeit der Gesellschaft weniger abträglich sind, zum Beispiel durch Haftungsansprüche der Gesellschafter gegen den Geschäftsführer.70 Von den beiden dargestellten Modellen verdient die letztere, die österreichische Regelung (jedenfalls im Grundsatz) den Vorzug. Sie gewährleistet das notwendige Maß an Ernsthaftigkeit und Sorgfalt bei der Beschlussfassung und ihrer Dokumentation, ohne die Beteiligten zu überfordern und Versäumnissen in der Praxis einen zu großen Stellenwert einzuräumen. Außerdem erleichtert die Niederschrift als gesetzlicher Normalfall die Bestimmung des Zeitpunkts, von dem an die Anfechtungsfrist zu laufen beginnt. Die Lösung des Problems nach dem Vorbild des GmbHG-E von 1971/73 ist zwar ebenfalls erwägenswert, würde aber wohl am Status quo der Praxis nicht allzu 66 BT-Drucks. 7/253, S. 23.  67 Das entspricht in der Tendenz der Lösung, die der DJT 2018 mit 47:1:9 Stimmen befürwortet hat (Beschluss III.16). 68 BT-Drucks. 7/253, S. 136. 69 Enzinger in Wiener Kommentar zum GmbHG, 50. Lfg., § 40 GmbHG Rz. 8. 70 Enzinger in Wiener Kommentar zum GmbHG, 50. Lfg., § 40 GmbHG Rz. 8.

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viel ändern, weil nur bei Initiative der Gesellschafter (oder zumindest eines Gesellschafters) eine Niederschrift erfolgt. Dagegen lassen sich die Bedenken des historischen Gesetzgebers nur sehr bedingt ins Feld führen. Es ist zwar richtig, dass dieser, wie den Materialien zum BGB zu entnehmen, einen privatrechtlichen Formenzwang im Sinne einer verbindlichen Beschlussfixierung oder auch nur entsprechende dispositive Regelungen verworfen hat – unter anderem mit der an sich nicht ganz falschen Begründung, auf der Ebene der Kleinoder Kleinstgesellschaften mit ihrer auch im Übrigen wenig formalisierten Geschäftspraxis werde es nicht selten zu Verstößen gegen die Form kommen, die ihrerseits eine Quelle der Rechtsunsicherheit seien.71 Doch zum einen gibt es, wie gesehen, Wege, um die negativen Folgen von Formverstößen so einzuhegen, dass die Gefahren für alle beherrschbar sind, und zugleich – allein aufgrund des Eigengewicht der gesetzlichen Normierung – eine Verhaltenssteuerung und Disziplinierung zu bewirken. Zum anderen muss man immer wieder daran erinnern, dass sich im Personengesellschaftsrecht das Regel-Ausnahme-Verhältnis in den letzten 120 Jahren umgekehrt hat, gleichsam amtlich dokumentiert durch die Anerkennung der Rechtsfähigkeit der GbR im Jahr 2001. Das Leitbild des Rechtsgebiets ist eben nicht mehr wie früher die interne Vereinbarung einiger weniger Honoratioren über eine punktuelle geschäft­ liche Zusammenarbeit. Von den Teilhabern eines juristischen Gebildes, dem die Rechtsordnung nunmehr die Rechtsfähigkeit zubilligt, ist grundsätzlich zu erwarten, dass sie in der Lage sind, die Abläufe in der Gesellschaft bis zu einem gewissen Grade zu formalisieren und Mindeststandards der Kontrolle und Nachprüfbarkeit zu wahren. Dass das Erstellen einer Niederschrift keine unzumutbare Aufgabe darstellt und in der Praxis keineswegs unüblich ist, zeigen die Muster für Personengesellschaftsverträge (und erst recht für GmbH-Satzungen72) in den gängigen Formularbüchern, die zum Teil Niederschrifts- und Dokumentationsklauseln enthalten.73 Für die reine Innen-GbR gilt das alles nicht. Sie sollte der Gesetzgeber von vornherein von der Verpflichtung ausnehmen, eine Niederschrift anzufertigen. 4. Klagefrist Es wurde schon deutlich, dass die Frage der Klagefrist (Anfechtungsfrist, Ausschlussfrist) Dreh- und Angelpunkt einer Reform des personengesellschaftsrechtlichen Beschlussmängelrechts ist. Einerseits bedarf es einer solchen Frist unbedingt, um Rechtssicherheit herzustellen und damit die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft zu gewährleisten – nicht ohne Grund kommt man auch unter dem Dach des geltende Recht nicht ohne ein zeitliches Limit aus und greift (mangels Alternativen) auf den

71 Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, 1899, Bd. I, S. 450 f. 72 Übersicht bei Fleischer, GmbHR 2013, 1289, 1300. 73 „Ausführlicher KG-Vertrag“ in Hopt/Lang, Vertrags- und Formularbuch zum Handels-, Gesellschafts- und Bankrecht, 4. Aufl. 2013, S. 461 (§ 8 Abs. 5); Heid, „Gesellschaftsvertrag einer OHG“, in Heidel/Pauly/Amend, AnwaltFormulare, 7. Aufl. 2012, S. 1828.

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Verwirkungsgedanken zurück,74 dessen Anwendung auf den konkreten Fall freilich Schwierigkeiten bereitet, wenn es – wie vom BGH gefordert – entscheidend auf das „neben dem Zeitmoment maßgebliche Umstandsmoment“ ankommen soll.75 Andererseits ist der informellere Charakter von Personengesellschaften zu berücksichtigen, der einer Orientierung an aktienrechtlichen Modellen Grenzen setzt und insbesondere einen Zwang zu einer gerichtlichen Austragung des Konflikts nicht ratsam erscheinen lässt, weil dadurch die bei Personengesellschaften essentielle Vertrauensbeziehung zwischen den Gesellschaftern ernsthaft Schaden nehmen kann. Die wesentlichen Zutaten für eine interessengerechte, balancierte Lösung sind bereits zur Sprache gekommen: Erstens, eine an § 203 BGB orientierte Hemmungsregelung, die den Parteien erlaubt, ohne Zeitdruck nach einer außergerichtlichen Verständigung zu suchen (IV.3.). Zweitens, die Beschlussfixierung in Gestalt der Niederschrift als Regelfall, so dass sich der Fristbeginn einigermaßen verlässliche bestimmen lässt, etwa wie im österreichischen Recht (§ 41 Abs. 4 öGmbHG), das den Beginn an „den Tag der Absendung der Kopie“ knüpft (V.3.). Bleibt noch zu klären, wie lang die Ausschlussfrist im Personengesellschaftsrecht bemessen sein sollte. Als kautelarjuristischer Standard hat sich ausweislich der gängigen Formularbücher ein Zeitraum von einem bis zu drei Monaten etabliert.76 Das ist in der Tat ein angemessener Rahmen. Eine kürzere Frist würde einen zu großen Druck erzeugen und organisatorische Schwierigkeiten aufwerfen, eine längere Frist ist aufgrund des einzuführenden Hemmungstatbestandes nicht erforderlich: Durch Aufnahme von Verhandlungen können die Gesellschafter ihr Recht, gegebenenfalls gerichtlich gegen einen Beschluss vorzugehen, wahren. Erst wenn die Verhandlungen gescheitert sind oder nach (mindestens) einmonatiger Untätigkeit beginnt die Frist wieder zu laufen. In diesen Fällen wird man angesichts üblicherweise schon fortgeschrittener Sachverhaltsaufklärung und juristischer Bewertungen davon ausgehen können, dass selbst eine einmonatige Frist (oder eine noch kürzere Rest-Frist) keine Zumutung darstellt. 5. Abdingbarkeit Gerade das Recht der Personengesellschaften, das sehr unterschiedliche Lebenssachverhalte abdecken soll, eignet sich nicht für eine Bevormundung durch den Gesetzgeber. Dispositives Recht kann Geschäftsunkundigen zu einer sachgerechten Regelung ihrer Angelegenheiten verhelfen. Wenn die Verantwortlichen indes selbst konkrete Vorstellungen haben, auf welche Weise sie ihren Interessen am besten Rechnung tragen, sollte der Gesetzgeber, der nie alle denkbaren, sondern immer nur typische Konstellationen in den Blick nehmen kann, sie nicht an der Umsetzung ihrer Pläne allzu sehr behindern. 74 BGH v. 24.9.1990 – II ZR 167/89, BGHZ 112, 339, 344.  75 BGH v. 7.6.1999 – II ZR 278/98, NJW 1999, 3113, 3114; kritisch zur Verwirkung Fleischer, GmbHR 2013, 1289, 1294. 76 Übersicht bei Fleischer, GmbHR 2013, 1289, 1292 (Fn. 48).

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Das gilt auch für das personengesellschaftsrechtliche Beschlussmängelrecht.77 Davon ausgenommen sind nur extreme Gestaltungsvarianten, die erkennbar dazu dienen, die Möglichkeit einer Kontrolle schlechthin zu beseitigen, etwa wenn das Anfechtungsrecht vollständig abbedungen oder die Frist so kurz bemessen wird, dass dies die Geltendmachung des Rechts faktisch unmöglich macht. Wenn hingegen die Gesellschafter z.B. der Auffassung sind, dass in ihrem Fall eine Ausschlussfrist nicht passt und sie insoweit einer Regelung, wie sie das geltenden Recht enthält, den Vorzug geben, so sollten es ihnen erlaubt sein, entsprechend zu verfahren.78 Zweifelhaft könnte die Gestaltungsfreiheit allein in Bezug auf das Erfordernis der Niederschrift sein (V.3.). Zu erwägen wäre, ob im Interesse der Rechtssicherheit die Pflicht zur Beschlussfixierung einer Vereinbarung entzogen sein sollte. Tatsächlich geht das österreichische Recht diesen Weg. § 40 Abs. 1 öGmbHG wird als zwingend angesehen; der Inhalt der Niederschrift kann lediglich erweitert, nicht jedoch begrenzt werden.79 Auch die (einfache) Niederschrift auf Verlangen gemäß § 83 GmbHG-E 1971/73 war nach Abs.  5 dieser Vorschrift zwingendes Recht. Lediglich das Erfordernis der notariellen Niederschrift auf Verlangen war abdingbar. Meiner Meinung nach ist indes auch insoweit die Einführung zwingenden Rechts nicht notwendig. Das Eigengewicht der default rule wird so groß sein, dass eine massenhafte Abweichung nicht zu befürchten ist, namentlich nicht im Bereich der eigentlichen Zielgruppe des dispositiven Rechts, also der geschäftlich Unerfahrenen. Denjenigen, die mit Sorgfalt und vielleicht sogar anwaltlich beraten einen auf ihre spezifischen Interessen zugeschnittenen Gesellschaftsvertrag ausarbeiten, wird man hingegen zugestehen dürfen, dass sie auch von der Pflicht zur Niederschrift absehen können, wenn ihnen das geraten erscheint. 6. Alternativen zur Beschlusskassation Der „Arbeitskreis Beschlussmängelrecht“ hatte vor zehn Jahre eine radikale Reform des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts angemahnt und u.a. vorgeschlagen, die Anfechtbarkeit von Beschlüssen auf besonders schwere Beschlussmängel zu beschränken und sonstige Beschlussmängel auf andere Weise zu sanktionieren (Feststellung der Fehlerhaftigkeit des Beschlusses, Aufhebung der Wirkungen des Beschlusses für die Zukunft, Auferlegung eines Rügegeldes usw).80 Dahinter stand und steht der Wunsch, den Automatismus der Kassation zu überwinden und auch auf der Rechtfolgenseite den Umstand zu berücksichtigen, dass Beschlussmängel von unterschiedlicher Art und unterschiedlichem Gewicht sein können.81 77 Aus gutem Grund fordert Mathias Habersack, dass den Gesellschaftern das Recht zustehen sollte, „das kapitalgesellschaftsrechtliche Modell abzubedingen und damit im Gesellschaftsvertrag für das herkömmliche Modell zu optieren“ – Habersack in FS Graf-Schlicker, 2018, S. 37, 48. 78 Vgl. auch Bayer/Möller, NZG 2018, 801, 808. 79 Enzinger in Wiener Kommentar zum GmbHG, 50. Lfg., § 40 GmbHG Rz. 16. 80 Arbeitskreis Beschlussmängelrecht, AG 2008, 617, 618.  81 Arbeitskreis Beschlussmängelrecht, AG 2008, 617, 621.

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Jens Koch hat in seinem Gutachten zum 72. Deutschen Juristentag diesen Gedanken wieder aufgegriffen und ihn überdies für das Beschlussmängelrecht der GmbH und der Personengesellschaften fruchtbar gemacht. Das sei zwar auf den ersten Blick „ein recht abenteuerlicher Gedanke“, doch die gesteigerte Fehleranfälligkeit kollektiver Entscheidungsfindung und der weiterfressende Charakter von Beschlussmängeln seien Aspekte, die auch das Personengesellschaftsrecht vor Probleme stellten.82 Daher sei auch in diesem Rechtsgebiet die Beschlusskassation ein zu starres Instrument und durch ein offeneres Rechtsfolgensystem zu ersetzen. Koch schlägt eine Art Generalklausel vor, wonach das Gericht einen fehlerhaften Beschluss mit rückwirkender Wirkung aufhebt, „sofern dies im Lichte der Schwere des Verstoßes angesichts der mit der Kassation verbundenen Nachteile nicht unverhältnismäßig erscheint.“83 Dem ist grundsätzlich zuzustimmen.84 Differenziertere Lösungen sind dem in der Tat ziemlich pauschalen und rigiden Status quo vorzuziehen. Bei einer größeren Auswahl an passgenauen Instrumenten erhöht sich die Einzelfallgerechtigkeit. Das gilt für die Personengesellschaft ebenso wie für die Aktiengesellschaft. Allerdings ist auch nicht zu übersehen, dass eine Diversifizierung der Rechtsfolgen für die Personengesellschaft nicht die gleiche Dringlichkeit besitzt wie für die Aktiengesellschaft, schon deshalb, weil bei Personengesellschaften (wie auch bei der GmbH85) mit ihrem üblicherweise geschlossenen oder zumindest nicht ganz so offenen Gesellschafterkreis nicht in dem gleichen Maß die Gefahr besteht, dass räuberische Aktionäre die Furcht vor dem scharfen Schwert „Beschlusskassation“ dazu nutzen, um für sich Sondervorteile zu erwirken. Zudem muss man bedenken, dass die Diversifizierung auf der Rechtsfolgenseite für das Beschlussmängelrecht einen tiefen Einschnitt, eine radikale Neuerung darstellte, die in der Praxis zunächst für Unruhe und Rechtsunsicherheit sorgen dürfte. Daher wäre es auch gut vertretbar, zunächst die Erfahrungen, die man im Aktienrecht mit dem neuen System (so es denn im Aktienrecht umgesetzt würde) gesammelt hat, abzuwarten, um dann zu entscheiden, ob der Paradigmenwechsel im Personengesellschaftsrecht ebenfalls vollzogen werden sollte.

VI. Schiedsfähigkeit von Beschlussmängelstreitigkeiten Sollte das Beschlussmängelrecht für Personengesellschaft in dem vorgeschlagenen Sinne reformiert werden, hätte dies Auswirkungen auch auf angrenzende Rechts­ gebiete und Praxisfelder, insbesondere auf die Schiedsgerichtspraxis. Die Frage, welchen Mindestanforderungen Schiedsvereinbarungen in Gesellschaftsverträgen genügen müssen, beschäftigt bekanntlich seit Jahrzehnten Wissenschaft und Praxis. Mit der Entscheidung „Schiedsfähigkeit III“ hat die Diskussion (ein wenig unerwartet) 82 Koch, Empfiehlt sich eine Reform des Beschlussmängelrechts im Gesellschaftsrecht? Gutachten E zum 72. Deutscher Juristentag, 2018, S. F94.  83 Koch, Empfiehlt sich eine Reform des Beschlussmängelrechts im Gesellschaftsrecht? Gutachten E zum 72. Deutscher Juristentag, 2018, S. F94.  84 Befürwortet auch vom DJT 2018 mit 48:9:3 (Beschluss III.17.). 85 Vgl. Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, 21. Aufl. 2017, § 54 GmbHG Rz. 28. 

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das Personengesellschaftsrecht erreicht.86 Dem BGH zufolge gelten die für die GmbH entwickelten Mindestanforderungen an die Wirksamkeit von Schiedsvereinbarungen in Gesellschaftsverträgen, die auch Beschlussmängelstreitigkeiten erfassen sollen, „jedenfalls im Grundsatz auch für Personengesellschaften wie Kommanditgesellschaften, sofern bei diesen gegenüber Kapitalgesellschaften keine Abweichungen geboten sind“.87 Das folge aus den grundlegenden Maßstäben des § 138 BGB und des Rechtsstaatsprinzips. Kommanditisten seien ebenso wie GmbH-Gesellschafter vor Benachteiligung und Entziehung des notwendigen Rechtsschutzes zu bewahren.88 Die Entscheidung ist in der Literatur überwiegend auf Unverständnis gestoßen und hat in der Praxis für Ratlosigkeit gesorgt.89 Die dogmatische Kritik entzündet sich daran, dass der BGH mit keinem Wort auf die fundamentalen Unterschiede zwischen der Geltendmachung von Beschlussmängel im Personen- und im Kapitalgesellschaftsrecht eingeht: Personengesellschafter können nur im Wege der gewöhnlichen Feststellungsklage vorgehen, die gegen sämtliche der Anfechtung entgegentretende Gesellschafter zu richten ist; und die Rechtskraft des Feststellungsurteils erstreckt sich nur auf die Prozessparteien, wirkt nicht erga omnes. Die in „Schiedsfähigkeit II“ formulierte Anforderung, dass den Gesellschaftern vertraglich zumindest die Möglichkeit einzuräumen sei, auf die Zusammensetzung des Schiedsgerichts Einfluss zu nehmen,90 ergibt unter diesen Bedingungen keinen Sinn, da in der personengesellschaftsrechtlichen Konstellation die beklagten Gesellschafter – da sie ja Partei sind – ohnehin das Recht haben, auf die Auswahl und Bestellung der Schiedsrichter einzuwirken.91 Die Praxis rätselt ferner über Inhalt und Reichweite der vom BGH vorgenommenen Einschränkung „sofern … gegenüber Kapitalgesellschaften keine Abweichungen geboten sind“ und stellt sich die Frage, was das für „Abweichungen“ sein könnten und welche Relevanz ihnen zukommen soll.92 Die zahlreichen Unstimmigkeiten haben Mathias Habersack dazu veranlasst, die Entscheidung „Schiedsfähigkeit III“ als „Irrläufer“ zu bezeichnen,93 weil der BGH schlichtweg „die personengesellschaftsrechtliche Ausgangslage nicht bedacht hat.“94 Inwieweit für die Kautelar- und Prozesspraxis Handlungsbedarf besteht, ist gegenwärtig noch unklar. Ignorieren kann und sollte

86 BGH v. 6.4.2017 – I ZB 23/16, NZG 2017, 657 ff. 87 BGH v. 6.4.2017 – I ZB 23/16, NZG 2017, 657, 658 Rz. 26. 88 BGH v. 6.4.2017 – I ZB 23/16, NZG 2017, 657, 658 Rz. 26. 89 Nolting, ZIP 2017, 1641 ff.; Borris, NZG 2017, 761 ff.; Baumann/Wagner, BB 2017, 1993 ff.; Bryant, SchiedsVZ 2017, 196 f.; Habersack in FS Graf-Schlicker, 2018, S. 37 ff.; K. Schmidt, NZG 2018, 121 ff. 90 BGH v. 6.4.2009 – II ZR 255/08, BGHZ 180, 221, 233 Rz. 33. 91 Bryant, SchiedsVZ 2017, 196, 197; Borris, NZG 2017, 761, 764; Baumann/Wagner, BB 2017, 1993, 1996.  92 Borris, NZG 2017, 761, 765; Baumann/Wagner, BB 2017, 1993, 1997; Bryant, SchiedsVZ 2017, 196 f. 93 Habersack in FS Graf-Schlicker, 2018, S. 37, 47. 94 Habersack in FS Graf-Schlicker, 2018, S. 37, 45.

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Beschlussmängel im Recht der Personengesellschaften de lege ferenda

man die Entscheidung gewiss nicht. Andererseits gibt es gute Gründe, ihre Bedeutung nicht zu überschätzen und die bislang h.M. nicht außer Acht zu lassen.95 Aus rechtspolitischer Sicht mag die Frage freilich dahinstehen, denn wenn der Gesetzgeber, wie vorliegend erwogen, die Vorzeichen umkehrt und die bisher nur kautelarjuristisch realisierbare Gestaltung des Beschlussmängelrechts nach dem Vorbild des Kapitalgesellschaftsrechts zum gesetzlichen Normalfall erklärt, käme es in der Tat  auch bei Personengesellschaften auf die in „Schiedsfähigkeit II“ niedergelegten Grundsätze an und personengesellschaftsrechtliche Schiedsklauseln müssten an diesen Standard angepasst werden (sofern keine Innengesellschaft vorliegt oder das dispositive Recht nicht abbedungen wurde).96 Auswirken könnte sich eine Annäherung an das kapitalgesellschaftsrechtliche Beschlussmängelrecht auch auf den Streit, ob Schiedsklauseln in Gesellschaftsverträgen von Personengesellschaften unter § 1029 ZPO oder unter § 1066 ZPO fallen. Die h.M. wendet nach wie vor § 1029 ZPO an,97 während eine – gewichtige – Meinung in der Literatur für die Anwendung von §  1066 ZPO plädiert.98 Der Streit ist keineswegs akademisch, denn von der Positionierung kann sowohl der persönliche Anwendungsbereich der Schiedsklausel abhängen als auch die Maßgeblichkeit der Formvorschrift des §  1031 ZPO.99 Bei einem Systemwechsel im personengesellschaftsrecht­ lichen Beschlussmängelrecht, der u.a. die Einführung der erga omnes-Wirkung des der Beschlussmängelklage stattgebenden Urteils beinhalten würde, könnte die heute h.M. erheblich unter Druck geraten.100 Der Meinungswandel hätte zur Folge, dass Schiedsklauseln (wie schon jetzt von der Mindermeinung vertreten) sämtliche Gesellschafter binden, einschließlich derjenigen, die erst später im Wege des Anteilserwerbs der Gesellschafter beitreten.101

VII. Zusammenfassung 1. Nichtigkeit als Einheitsfolge für fehlerhafte Beschlüsse ist heute auch für das Personengesellschaftsrecht nicht mehr sinnvoll. Es bedarf daher eines Beschlussmängelrechts, das die rein schuldrechtliche Ausrichtung des 19.  Jahrhunderts hinter sich lässt. Allerdings sollte eine gesetzliche Regelung Ausnahmen für die Innen-GbR vorsehen. 95 In diesem Sinne Habersack in FS Graf-Schlicker, 2018, S. 37, 47; vgl. auch Borris, NZG 2017, 761, 767.  96 Habersack in FS Graf-Schlicker, 2018, S. 37, 48 f.; vgl. auch Nolting, ZIP 2017, 1641, 1646.  97 BGH v. 1.8.2002 – III ZB 66/01, NJW-RR 2002, 1462; BGH v. 11.10.1979 – III ZR 184/78, NJW 1980, 1049; Münch in MünchKomm. ZPO, 5. Aufl. 2017, § 1066 ZPO Rz. 3; Voit in Musielak/Voit, 15. Aufl. 2018, § 1066 ZPO Rz. 7.  98 K. Schmidt, NZG 2018, 121, 125 f.; ders. in FS Stimpel, 1985, 217 ff.; Habersack, SchiedsVZ 2003, 241 ff.; ders. in FS Graf-Schlicker, 2018, S. 37, 49.; Heskamp, RNotZ 2012, 415, 416 f. 99 Habersack, SchiedsVZ 2003, 241, 242.  100 Habersack in FS Graf-Schlicker, 2018, S. 37, 49. 101 Habersack, SchiedsVZ 2003, 241, 247. 

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2. Richtiger Klagegegner sollte die Gesellschaft und sollten nicht die einzelnen Ge­ sellschafter sein. Das entspricht der gegenwärtigen Rechtslage im Aktien- und im GmbH-Recht sowie den Bestimmungen in vielen Personengesellschaftsverträgen. Einzuführen ist eine dem § 248 Abs. 1 Satz 1 AktG entsprechende Norm, so dass das Urteil automatisch für und gegen alle Gesellschafter wirkt. 3. Eine Anfechtung ergibt nur Sinn, wenn das, was angefochten werden soll, mit einiger Gewissheit feststeht. Ein unklarer Beschlussinhalt kann nicht angefochten werden und nicht in Bestandskraft erwachsen. Nach §  40 Abs.  1 österreichisches GmbHG sind daher die Beschlüsse der Generalversammlung unverzüglich nach der Beschlussfassung in eine Niederschrift aufzunehmen und diese Niederschriften sowie die auf schriftlichem Weg gefassten Beschlüsse der Gesellschafter geordnet aufzubewahren. Ein Verstoß gegen das Niederschrifterfordernis berührt nicht die Wirksamkeit des Beschlusses, sondern wird auf andere Weise sanktioniert. Eine vergleichbare Regelung wäre auch für das deutsche Personengesellschaftsrecht wünschenswert. 4. Es bedarf einer Klagefrist (Anfechtungsfrist, Ausschlussfrist), um Rechtssicherheit herzustellen und damit die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft zu gewährleisten. Freilich ist auch der informellere Charakter von Personengesellschaften zu berücksichtigen. Ein unbedingter Zwang zu einer gerichtlichen Austragung des Konflikts erscheint daher nicht ratsam. Eine balancierte Lösung wäre eine an § 203 BGB orientierte Hemmungsregelung, die es den Parteien erlaubt, ohne Zeitdruck nach einer außergerichtlichen Verständigung zu suchen. 5.  Das personengesellschaftsrechtliche Beschlussmängelrecht sollte abdingbar sein. Davon ausgenommen sind extreme Gestaltungsvarianten, die erkennbar dazu dienen, die Möglichkeit einer Kontrolle schlechthin zu beseitigen. 6.  Der Automatismus der Kassation sollte langfristig überwunden und alternative Sanktionen in Betracht gezogen werden. Besonders dringlich ist diese Ausdifferenzierung auf der Rechtsfolgenseite im Personengesellschaftsrecht allerdings nicht. Man könnte die Erfahrungen, die man im Aktienrecht mit dem neuen System gesammelt hat, abwarten. 7. Wenn der Gesetzgeber das Beschlussmängelrecht nach dem Vorbild des Kapitalgesellschaftsrechts ausgestalten sollte, käme es auch bei Personengesellschaften auf die in „Schiedsfähigkeit II“ niedergelegten Grundsätze an und personengesellschaftsrechtliche Schiedsklauseln müssten im Regelfall an diesen Standard angepasst werden.

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Grundsatzfragen bei der anstehenden Reform des Personengesellschaftsrechts Inhaltsübersicht I. Zum Thema und seiner Abgrenzung II. Grundsätzliche Neuausrichtung oder systemimmanente Reform? 1. Einführung, Meinungsstand und ­Beschlusslage 2. Neue Argumente für eine Aufgabe der Dreigliedrigkeit? III. Zur Bedeutung der Eintragung in einem neu zu schaffenden GbR-Register

1. Einführung, Meinungsstand und ­Beschlusslage 2. Stellungnahme IV. Vermögensfähigkeit der Innengesellschaft? 1. Einführung, Meinungsstand und ­Beschlusslage 2. Stellungnahme V. Zusammenfassung in Thesen

I. Zum Thema und seiner Abgrenzung Es liegt so sehr auf der Hand, Ulrich Seibert einen rechtspolitischen Beitrag zu widmen, dass hierüber kein Wort der Begründung verloren zu werden braucht. Ebenso liegt es auf der Hand, dass der Verf. sich die anstehende Reform des Personengesellschaftsrechts zum Thema gewählt hat (auch wenn diese nicht in die Zuständigkeit des Jubilars fallen wird). Zum einen liegen die Diskussionen des 71. Deutschen Juristentages, die u.a. durch das Gutachten des Verf. vorbereitet worden waren, schon eine Weile zurück, so dass sich ein Rückblick im Lichte der Beschlüsse des 71. DJT anbietet. Zum anderen wird auf Seite 131 des aktuellen Koalitionsvertrages von 2018 bekundet: „Wir werden das Personengesellschaftsrecht reformieren und an die Anforderungen eines modernen, vielfältigen Wirtschaftslebens anpassen; wir werden eine Expertenkommission einsetzen, die gesetzliche Vorschläge für eine grundlegende Reform erarbeitet.“ Es hat also den Anschein, dass die Beratungen des 71. DJT auf fruchtbaren Boden gefallen sind, so dass es reizvoll erscheint, vor dem Hintergrund der Essener Diskussion und Beschlüsse1 strittig gebliebene Grundsatzfragen erneut aufzugreifen und die hierzu gegebenen Empfehlungen zu überprüfen bzw. zu erneuern. Selbstverständlich kann hier nur eine kleine Auswahl getroffen werden, und diese ist auf drei besonders umstrittene Themen gefallen: (1) Soll die Dreigliedrigkeit des bisherigen Systems (GbR, Handelsgesellschaften, PartG) im Ansatz aufrecht erhalten bleiben oder durch ein zweigliedriges System unter Verzicht auf Berufsausübungsgesellschaften ersetzt werden (dazu unter II.)? (2) Welche Wirkung soll der Eintragung in einem neu zu 1 Beides abgedruckt in Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages (Essen 2016), Bd. II/2 – Sitzungsberichte – S. O 115 ff. (Diskussion) und O 219 ff. (Beschlüsse).

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schaffenden GbR-Register zukommen (dazu unter III.)? (3) Und sollte der Gesetzgeber bei der Innengesellschaft bürgerlichen Rechts ein Gesellschaftsvermögen explizit ausschließen (dazu unter IV.)? Dass es erheblichen Reformbedarf gibt, darf dabei vorausgesetzt werden. Auch der 71. DJT hat in seinem ersten Beschluss mit fast 90%iger Mehrheit festgestellt, dass eine Reform des Personengesellschaftsrechts geboten sei, „um das geschriebene Recht mit dem geltenden Recht in Einklang zu bringen.“2 Und diese Botschaft ist von den Parteien des Koalitionsvertrages erfreulicherweise vernommen worden.

II. Grundsätzliche Neuausrichtung oder systemimmanente Reform? 1. Einführung, Meinungsstand und Beschlusslage Das derzeitige System des Personengesellschaftsrechts wird bekanntlich durch seine Dreigliedrigkeit bestimmt; zu den Handelsgesellschaften (OHG/KG) treten GbR und PartG. Letztere, Sonderform für die freiberufliche Berufsausübung, hat 2013 die inzwischen sehr erfolgreiche Variante der Partnerschaft mit beschränkter Berufshaftung  – PartGmbB (§  8 Abs.  4 PartGG) hinzugewonnen. Der Verf. plädiert für die Beibehaltung dieses Aufbaus,3 während Henssler in seinem Referat auf dem 71. DJT nochmals betonte, wie wichtig ihm die Öffnung der KG für freiberufliche Tätigkeiten und die Abschaffung der PartG ist, die zusätzlich durch eine Art deutscher „LLP“ ersetzt werden soll (also eine Personengesellschaft ohne persönliche Haftung der Gesellschafter).4 Auch die Abstimmungsteilnehmer konnten sich nicht zu einer einheitlichen Position durchringen. Mit ihrem Beschluss Nr.  2 lehnte die Abteilung eine systemimmanente Reform unter Beibehaltung der Dreigliedrigkeit ebenso ab wie, im dritten Beschluss, die Überführung des gegenwärtigen Systems in ein zweigliedriges, bestehend nur aus GbR und Unternehmensgesellschaft, und zwar jeweils mit äußerst knappem Resultat. Damit soll die PartG also sowohl beibehalten als auch abgeschafft werden – ein schönes Beispiel für die Perplexität von Rechtsgeschäften. Ein weiterer Widerspruch besteht zu Beschluss Nr. 31 a), der mit ebenfalls sehr knapper Mehrheit dann doch noch die Abschaffung der PartG fordert. Das Meinungsbild blieb also heterogen, ein klarer Fingerzeig an den Gesetzgeber wurde nicht erkennbar. Pro und Contra sollen hier deshalb nochmals abgewogen werden. 2. Neue Argumente für eine Aufgabe der Dreigliedrigkeit? Henssler geht es, soweit hier von Interesse, um die Öffnung des HGB für Freiberufler und insbesondere der OHG/KG für Rechtsanwälte,5 nachdem das Berufsrecht ande2 Näher zum Reformbedarf, Schäfer, Gutachten E zum 71. DJT, S. E 9 ff., in Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages (Essen 2016), Bd. I – Gutachten. 3 Schäfer (Fn. 2), S. E 31 ff.; zust. Tröger, JZ 2016, 834, 839. 4 Henssler in Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages (Essen 2016), Bd. II/1 – Referate, S. O 55 ff., O 60. 5 Zuvor bereits bspw. in AnwBl. 2014, 762 f., s. auch ders./Markworth, NZG 2015, 1, 7 („wie in Österreich“).

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rer freier Berufe einen solchen Zugang schon heute ermöglicht.6 Hiervon deutlich zu unterscheiden ist der weniger weitreichende Vorschlag Karsten Schmidts, zwar das PartGG als eigenständiges Gesetz, nicht aber die PartG als Rechtsform abzuschaffen.7 Hierauf ist an dieser Stelle nicht erneut einzugehen, zumal er in den Beschlüssen des 71.  DJT keinen Niederschlag gefunden hat.8 Soweit Henssler zusätzlich die PartG durch eine neue „Hybridgesellschaft“ (Personengesellschaft ohne Gesellschafterhaftung) ersetzen möchte, mag auch das auf sich beruhen; denn insofern ist die hier diskutierte Grundsatzfrage nicht berührt. Demgegenüber ließe sich die Öffnung der KG für Freiberufler, sofern sie nicht auf berufsrechtlicher, sondern gesellschaftsrechtlicher Ebene erfolgt, ohne einen generellen Übergang vom Kaufmanns- zum Unternehmensbegriff nicht sinnvoll umsetzen. Sie liefe daher auf die Übernahme des österreichischen Modells eines Unternehmensgesetzbuchs hinaus, würde sich also nicht auf das im zweiten Buch des HGB geregelte Gesellschaftsrecht beschränken. Gibt es für einen solchen Systemwechsel hinreichend gewichtige Gründe? Henssler selbst spricht nur allgemein von einem – nicht näher spezifizierten oder belegten – Bedürfnis der Praxis,9 ohne allerdings plausibel zu machen, warum es sowohl einer Öffnung des HGB für Freiberufler bedarf als auch einer völlig neuen Personengesellschaftsform ohne Haftung, die offenbar nicht nur Freiberuflern zur Verfügung stehen soll. Lässt man diesen Einwand einmal beiseite und geht davon aus, dass die PartG durch die KG ersetzt werden soll, so bleibt dennoch fraglich, ob der Bedarf nach Haftungsbeschränkung durch Gründung einer GmbH & Co. KG seit 2013, zumal seit erfolgreicher Einführung der PartGmbB, wirklich noch hinreichend gewichtig ist. Zudem sind die weiteren Konsequenzen zu bedenken. Die Diskussion um die Ablösung des Kaufmannsbegriffs ist bekanntlich nicht neu,10 hat aber seit der grundlegenden Reform des Kaufmannsbegriffs im Jahre 1998 wesentlich an praktischer Brisanz verloren, wie auch Befürworter eines Unternehmensgesetzbuchs einräumen.11 Dass das europäische Verbraucherrecht – und seit 2000 auch das BGB (§ 14 Abs. 1) – anders als das HGB zwischen Verbrauchern und Unternehmern unterscheidet,12 mag man als „Schönheitsfehler“ empfinden, notwendig ist ein Gleichlauf zwischen Handels- und Verbraucherrecht aber deshalb noch nicht, zumal er mit dem Verlust von Sonderregeln für Freiberufler verbunden wäre. Will man andererseits nicht so weit gehen, (handelsrechtliche) Sonderregeln für Freiberufler (insbes. in Bezug auf Rechnungslegung und Handelsgeschäfte) insgesamt aufzugeben, erbrächte die (dann verdeckte) Fortführung des Freiberuflers als Unterfall eines Unternehmers 6 Das gilt namentlich für Steuerberater, dazu BGH NZG 2014, 1179, Rn. 10 ff. und Henssler/ Markworth, NZG 2015, 1, 2. 7 Karsten Schmidt, ZHR 177 (2013), 712, 728  f., 730  f. und 737  f. (Gesetzesvorschläge zu §§ 105, 106, 128 HGB); dazu die Stellungnahme bei Schäfer (Fn. 2), S. E 104 f. 8 Beschluss Nr. 31 setzt offenkundig voraus, dass Abschaffung des PartGG und Abschaffung der PartG als Rechtsform Hand in Hand gehen. 9 Henssler (Fn. 4), S. O 58 f. 10 Überblick bei Oetker in Staub, HGB , 5. Aufl. 2009, Einl Rn. 22 f. 11 Karsten Schmidt, Handelsrecht, 6. Aufl. 2014, § 2 III 2 b), Rn. 16, S. 59; ders., NJW 1998, 2161, 2162. 12 So als Argument für eine Umstellung Oetker in Staub, HGB Einl Rn. 22 f.

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keinen wesentlichen systematischen Fortschritt. Das Beispiel Österreichs zeigt dies sehr deutlich; dort stehen die Unternehmensgesellschaften (OG, KG) zwar im Ansatz sämtlichen Zwecken offen. Gleichwohl sind weder Freiberufler noch Land- und Forstwirte voll in das UGB integriert worden, weshalb aus OG und KG auch keine „Formunternehmer“ geworden sind (s. § 2 UGB). Unter dem Dach des UGB existieren vielmehr drei Gruppen von OG/KG, für die jeweils verschiedene Normgruppen des UGB gelten: (1) Unternehmerische Gesellschaften (ohne Kleinunternehmer, Freiberufler und Landwirte), (2) nichtunternehmerische (z.B. vermögensverwaltende) Gesellschaften und (3) kleinunternehmerische sowie freiberufliche und landwirtschaftliche Gesellschaften.13 Hinzu kommt, dass der begriffliche Übergang vom Gewerbetreibenden zum Unternehmer in Österreich nicht per se zu leichterer Handhabbarkeit geführt hat;14 in Bezug auf Präzision und Abgrenzbarkeit dürften beide Begriffe vielmehr gleichwertig sein. Das zeigen eine Reihe von Abgrenzungsfragen beim Unternehmensbegriff, die sich in gleicher Weise auch auf Basis der §§ 1 ff. HGB stellen.15 Insgesamt bleibt es daher dabei: Der Übergang vom Kaufmann zum Unternehmer bringt hinsichtlich der Abgrenzbarkeit der Begriffe keinen Vorteil und würde zu einem Gewinn an systematischer Klarheit nur dann führen, wenn man zugleich auf jegliche handelsrechtliche Sonderregeln für Freiberufler verzichtete. Hinzu kommt, dass ein praktischer Bedarf für eine Haftungsbeschränkung nach Art der GmbH & Co. KG, zumal nach Einführung der PartGmbB, weder besonders plausibel16 noch gar empirisch belegt erscheint. Dem insgesamt somit eher zweifelhaften systematischen Gewinn stünde auf der anderen Seite der sichere Verlust der PartG, einer inzwischen eingespielten Rechtsform, gegenüber.

III. Zur Bedeutung der Eintragung in einem neu zu schaffenden GbR- Register 1. Einführung, Meinungsstand und Beschlusslage Das Gutachten hat sich deutlich für die Schaffung eines GbR-Registers zur Beseitigung der notorischen Publizitätsdefizite bei der rechtsfähigen GbR in Hinblick auf Existenz, Gesellschafter, Vertretungsberechtigung und Vermögen ausgesprochen, aber gegen die Schaffung einer Registerpflicht und gegen eine Konstitutivwirkung der Eintragung.17 Dem ist der Juristentag mit seinen Beschlüssen zur Rechtsfähigkeit der

13 Näher Schäfer (Fn. 2), S. E 32 ff. i.V.m. E 19 ff. m.N. 14 So etwa auch Oetker in Staub, HGB Einl Rn. 24 (obw. tendenziell die Öffnung befürwortend). 15 Näheres bei Schäfer (Fn. 2), S. E 32 f. 16 Ebenso bereits Karsten Schmidt, DB 2011, 2477, 2480; vgl. ferner Lieder/Hoffmann, NJW 2015, 897, 902 (mit Fn. 59), die einen Bedarf nach sicherer Haftungsbeschränkung nur in Bezug auf die Haftung für Berufsfehler konstatieren. 17 Schäfer (Fn. 2), S. E 32 f.

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Außengesellschaft (Beschlüsse Nrn. 5 a-d) mit jeweils deutlicher Mehrheit gefolgt.18 Demnach wird nicht nur empfohlen, die Rechtsfähigkeit der Außengesellschaft gesetzlich klarzustellen; vielmehr soll der Gesetzgeber auch ein GbR-Register schaffen, um (freiwillige) Eintragungen zu ermöglichen. Der Erwerb registrierter Rechte (also insbes. von Grundstücken) sollte nur im Register eingetragenen Gesellschaften offenstehen. Ausdrücklich abgelehnt wurde es, den Erwerb der Rechtsfähigkeit von der Eintragung abhängig zu machen. Die Mehrheit fiel insofern allerdings nicht ganz so eindeutig aus (35 zu 11 Stimmen). Zudem hatte sich Röder im Vorfeld des Juristentages für eine Konstitutivwirkung stark gemacht,19 und ist damit im Abteilungsbüro teilweise durchaus auf Zustimmung gestoßen.20 Grund für diesen Vorschlag ist die Befürchtung, dass eine freiwillige Eintragung die Publizitätsdefizite nur unvollkommen beseitigen würde; die Herstellung der Subjektspublizität liege im dringenden Interesse des Rechtsverkehrs, man dürfe sie nicht den Gesellschaftern überlassen. 2. Stellungnahme Die Rechtsfähigkeit einer Gesellschaft von ihrer Eintragung abhängig zu machen, wäre ein radikaler, systembrechender Schritt. Wir kennen zwar die Konstitutivwirkung im Recht der Körperschaften; auch hier hat die Eintragung aber bekanntlich nur formwechselnden Charakter, weil die – naturgemäß nicht eingetragene – Vorgesellschaft als Personengesellschaft eigener Art nach allgemeiner Ansicht ihrerseits schon rechtsfähig ist. Die Außen-GbR und dann notwendigerweise auch die OHG, wäre sie istkaufmännisch, kleingewerblich oder vermögensverwaltend, entstünde indessen, entschiede man sich für eine Konstitutivwirkung, immer erst mit der Eintragung, ohne dass schon die jeweilige Vorstufe eine rechtsfähige Außengesellschaft sein könnte. Sie wäre vielmehr nur noch  – ein dann eigens zu regelndes  – Sondervermögen ihrer Gesellschafter.21 Indessen war es gerade der reibungslose Übergang zwischen GbR und OHG oder, allgemeiner gewendet, zwischen Vorgesellschaft (GbR) und eingetragener Gesellschaft (OHG iSv. §  105 Abs.  2 HGB), aus dem sich ein entschei­ dendes Argument für die Anerkennung der Rechtsfähigkeit der GbR ergab,22 ganz abgesehen von weiteren sehr erheblichen Problemen hinsichtlich Begründung und Umfang der Haftung, auch beim Gesellschafterwechsel, in die ein Entzug der Rechtsfähigkeit wieder münden würde.23 Interessanter- und ironischerweise hat Österreich (auch) deshalb darauf verzichtet, die Rechtsfähigkeit der GesbR anzuordnen, weil man befürchtete, dass für bestimmte gesellschaftsrechtliche Zusammenschlüsse überhaupt keine Rechtsform mehr zur Verfügung gestanden hätte, wenn jede Außenge18 Beschlüsse (Fn. 1), S. O 220 f. 19 Röder, AcP 215 (2015), 450, 451, 466 ff. 20 Habersack (Fn. 1), S. O 128 f.; Wicke (Fn. 4), S. O 33; a.A. aber (neben dem Verf.) Roßkopf (Fn. 4), S. O 153 f. 21 Das hält Röder, AcP 215 (2015), 450, 475 für hinnehmbar; sein Hinweis auf das österreichische Recht geht aber fehl, weil dieses sich allgemein nicht dazu durchringen konnte, die Rechtsfähigkeit der GesbR anzuerkennen; dazu Schäfer (Fn. 2), S. E 21 f. 22 S. nur Ulmer, AcP 198 (1998), 113, 114 ff., m.w.N. 23 Auch hierzu nur Ulmer, AcP 198 (1998), 113, 137 ff., m.w.N.

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sellschaft zur (konstitutiven) Eintragung angehalten worden wäre.24 Genau diese Gefahr besteht aber auch dann, wenn man den Erwerb der Rechtsfähigkeit allgemein von einer Registereintragung abhängig machen wollte. Es ist aber nicht nur die systemsprengende Wirkung einer an die Eintragung geknüpften Rechtsfähigkeit, die zur Ablehnung dieses Vorschlags führt. Vielmehr vermag er auch sein eigentliches Ziel, die Publizität der GbR zu erhöhen, keineswegs sicher zu erreichen. Denn einen Eintragungszwang löst er gerade nicht aus; und viele Gesellschaften, zumal Gelegenheitsgesellschaften, werden sich schlicht nicht eintragen lassen,25 sei es, weil sie die hiermit verbundenen Kosten scheuen, sei es, weil sie gerade aus der Intransparenz der Vermögens- und Vertretungsverhältnisse Vorteil zu ziehen suchen. Ihre Vertragspartner haben dann alle Nachteile zu tragen, die sich aus der fehlenden Rechts- und Parteifähigkeit der Gesamthandsgemeinschaft ergeben, ohne dass hiergegen irgendeine Handhabe bestünde; denn eine Pflichtverletzung wäre den Beteiligten ja nicht vorzuwerfen. Der Rechtsverkehr mit der GbR wird also insgesamt nicht etwa erheblich erleichtert, sondern im Gegenteil wesentlich erschwert. Die Einführung einer konstitutiven Eintragung würde also einen erheblichen Rückschritt gegenüber dem gegenwärtigen Rechtszustand bedeuten, ohne dass dies durch besondere Vorzüge ausgeglichen würde. Aus diesem Grund hatte der Verf. dem Gesetzgeber in Übereinstimmung mit dem „Jenenser Appell“26 empfohlen, zunächst auf die Freiwilligkeit der Eintragung zu setzen, zumal ohnehin erhebliche Anreize hierzu bestehen, man denke nur an eine Gesellschaft mit mehreren Grundstücken, die, wenn sie nicht im GbR-Register eingetragen wäre, jeden Gesellschafterwechsel in jedem der Grundbuchblätter eintragen lassen müsste.27 Wenn der Gesetzgeber zudem, was durchaus sinnvoll erscheint, der Empfehlung des 71. DJT folgt, den Erwerb registrierter Rechte durch eine GbR an deren Eintragung zu knüpfen (Beschluss Nr. 5 d), wird ein gewichtiger weiterer Anreiz geschaffen. Sollten sich in der Folgezeit gleichwohl im erheblichen Umfang empirisch belegte Publizitätsdefizite wegen mangelnder Inanspruchnahme des Registers zeigen, kann die Eintragungspflicht immer noch erwogen werden;28 sie müsste – entgegen Röder29 – keineswegs an der fehlenden Abgrenzbarkeit zwischen Außen- und Innengesellschaft scheitern. Dies gilt erst recht, wenn der Gesetzgeber der Empfehlung folgt, die – theoretisch klare Abgrenzung – praktisch durch Vermutungsregeln zu unterstützen.30

24 Schauer, ZGR 2014, 143, 156. 25 Darauf haben in der Diskussion nachdrücklich auch Wertenbruch (Fn. 1), S. O 122 f. und Wilhelmi (Fn. 1), S. O 129 f. hingewiesen. 26 Bayer/Koch, Die BGB-Gesellschaft im Grundbuch, S. 97 f., und zwar aufgrund von Referaten Ulmers und Häubleins (S. 10 bzw. 34) sowie einer Podiumsdiskussion, an der sich auch hochrangige Vertreter von Justiz und Notariat beteiligten (S. 95). 27 Schäfer (Fn. 2), S. E 65 f. 28 Dafür hat sich in der Diskussion etwa Weber (DNotI) ausgesprochen (Fn. 1), S. O 124 f. 29 Röder, AcP 215 (2015), 450, 468 ff. 30 Dazu Schäfer (Fn. 2), S. E 38 f.

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IV. Vermögensfähigkeit der Innengesellschaft? 1. Einführung, Meinungsstand und Beschlusslage Die letzte der für diesen Beitrag herausgegriffenen Grundsatzfragen betrifft die Möglichkeit, auch bei der Innengesellschaft ein Gesamthandsvermögen zu schaffen. Das Gutachten hatte insofern eine gesetzliche Klarstellung empfohlen, dass die Innen-GbR kein Gesellschaftsvermögen bilden könne.31 Der 71. DJT hat eine solche Klarstellung abgelehnt (Beschluss Nr.  7). Was daraus folgt, ist allerdings ungewiss. Während Beuthien, einer der emsigsten Verfechter der Vermögensfähigkeit auch von Innengesellschaften, den Beschluss sogleich als Bestätigung seiner Auffassung gewertet hat,32 hatte Karsten Schmidt gegen den Beschlussvorschlag während der Beratungen in Essen eingewandt, dass mit Festschreibung der Rechtsfähigkeit (nur) für die Außengesellschaft kein Handlungsbedarf mehr hinsichtlich der Innengesellschaft bestehe, weil so die Vermögensfähigkeit schon hinreichend deutlich ausgeschlossen werde.33 Auch Beuthien will die Vermögensfähigkeit offenbar mit der Rechtsfähigkeit verbinden,34 freilich mit entgegengesetztem Ziel, so dass seine Auffassung jedenfalls im Widerspruch zu Beschluss Nr. 5 a) der Abteilung steht, der die Rechtsfähigkeit auf die Außen­ gesellschaft beschränkt und insofern eine gesetzliche Festschreibung verlangt. Noch weniger dürfte Beuthien Beschluss Nr. 5 d) gefallen haben, wonach Grundstücksrechte nur von der eingetragenen (und damit notwendigerweise Außen-)GbR sollen erworben werden können; denn der Erwerb von Grundstücken ist sein Hauptbeispiel für den (angeblichen) Bedarf, der Innen-GbR, abweichend vom Handelsrecht, die Vermögensfähigkeit zuzuerkennen. Ganz eindeutig ist die Rechtslage nach der Beschlusslage aber noch nicht, weil immerhin die Möglichkeit in Betracht zu ziehen ist, dass die Innengesellschaft zwar ein Vermögen bildet, dessen Träger aber nicht sie selbst, sondern ihre Gesellschafter „in gesamthänderischer Verbundenheit“ sind. Sollte man ein solches Hybrid künftig zulassen? 2. Stellungnahme Betont man, wie auch der 71. DJT in seinen Beschlüssen zu Register und Rechtsfähigkeit (Nrn. 5 a-d), die Publizitätsdefizite im gegenwärtigen Recht der GbR, und zwar gerade auch hinsichtlich der Vermögenszuordnung, würde jedes Bemühen um Besserung schon im Ansatz konterkariert, wollte man ein Gesamthandsvermögen bei der als solcher nicht einmal rechtsfähigen, geschweige denn registrierten (Innen-) Gesellschaft tolerieren. Ein weiterer offensichtlicher Widerspruch entstünde zur systembildenden Unterscheidung35 zwischen Außen- und Innengesellschaft mit Beschränkung der Rechtsfähigkeit auf erstere, wie sie nicht nur dem geltenden Recht entspricht, son31 Schäfer (Fn. 2), S. E 57 ff., E 60. 32 Beuthien, NZG 2017, 201 ff. 33 K.  Schmidt (Fn.  1), S.  O  119; s. auch dens., ZHR 180 (2016), 411, 414 (kein dringendes rechtspolitisches Anliegen). 34 Deutlich Beuthien, NZG 2017, 201, 204 (bei Fn. 17): „insofern rechtsfähig“. 35 Zuletzt K. Schmidt, ZHR 180 (2016), 411, 414.

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dern nach dem mit großer Mehrheit gefassten Beschluss Nr. 5 a) auch dem künftigen Recht zugrunde liegen sollte. Denn sie bedeutete die Anerkennung eines Gesamthandsvermögens, das nicht der Gesellschaft als solcher, sondern, wie in alten Zeiten vor „ARGE  – Weißes Ross“,36 ihren Gesellschaftern gemeinschaftlich zuzuordnen wäre. Es entstünde also ein Hybrid zwischen (nichtrechtsfähiger) Innen- und (rechtsfähiger) Außengesellschaft mit Bedarf nach besonderen gesetzlichen Regeln. Rechtspolitisch können solche systematischen Brüche nur toleriert werden, wenn ein unabweisbarer praktischer Bedarf für eine derartige Hybridform besteht. Der ist aber auch nach dem neuesten Vorstoß Beuthiens in dieser Sache37 nicht erkennbar. Er beruft sich nur allgemein auf „schutzwürdige Regelungsinteressen“, und nennt als Beispiel die Ehegatteninnengesellschaft. Das Beispiel bleibt aber diffus, weil nicht deutlich wird, warum eine solche Gesellschaft nur mit eigenem Vermögen möglich sein sollte. Ebenso gut ist denkbar, dass ein Gatte sich still mit einer Einlage am Geschäft des anderen beteiligt, wie es dem Modell des § 230 HGB entspricht.38 Wirklich relevant ist daher nur der Sonderfall, dass Ehegatten als Innengesellschaft ein Grundstück erwerben wollen. Nach dem Willen des 71. DJT ist dies freilich schon deshalb ausgeschlossen, weil nur die registrierte (Außen-)Gesellschaft noch Grundstücksrechte soll erwerben können, wofür gute Gründe sprechen (oben III. 1.). Aber selbst, wenn man diese Empfehlung beiseitelässt, ergäbe sich aus dem Beispiel noch kein hinreichender Bedarf: Falls die Gatten sich wegen des selbst genutzten Grundstücks unbedingt als Gesellschaft (nicht, wie üblich, zu Miteigentum) eintragen lassen wollen, können sie dies ohne weiteres als Außengesellschaft tun. Entgegen Beuthien gerät dadurch kein Gatte in Gefahr, seine Einlage zu verlieren (das ist das [ggf. anteilige] Grundstück); auch besteht wegen der Gesamtvertretung (§§  709, 714 BGB) kein Haftungsrisiko bei eigenmächtigem Handeln eines Gatten. Wird das Grundstück privat genutzt, liegt auch keine steuerliche Mitunternehmerschaft der Gesellschafter vor. Gehört das Grundstück hingegen zu einem Unternehmen,39 kommt ohnehin keine Innengesellschaft in Betracht, wenn das Unternehmen von den Gesellschaftern gemeinsam betrieben wird. Denn in diesem Falle werden notwendigerweise Geschäfte für das Unternehmen geschlossen, und dies führt nach den Regeln des unternehmensbezogenen Geschäfts selbst dann zu einer Verpflichtung der Gesellschaft (als Unternehmensträgerin), wenn nicht ausdrücklich für diese gehandelt werden sollte, was im Übrigen nur einvernehmlich möglich ist (Gesamtvertretung). Das  – allseits konsentierte  – Auftreten der Gesellschaft im Rechtsverkehr verwirklicht aber stets den Tatbestand der Außengesellschaft.40

36 BGH v. 29.1.2001 – II ZR 331/00, BGHZ 146, 341; dazu rückblickend Schäfer, NJW 2017, 3089. 37 Beuthien, NZG 2017, 201, 202 ff. 38 Ob er deshalb „ohne jede dingliche Sicherung“ wegen der geleisteten Einlage bleibt (so Beuthien, NZG 2017, 201, 203), ist Verhandlungssache; ein Gesellschaftsvermögen ist dafür jedenfalls weder erforderlich noch verschafft es dem Kapitalgeber, „wenn es schlecht läuft“, eine valide Sicherheit. 39 Dies deutet Beuthien, NZG 2017, 201, 203 und 205 (bei Fn. 27) an. 40 Nähere Hinweise bei Schäfer (Fn. 2), S. E 37 ff.

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Wie man es dreht und wendet, ein nachvollziehbarer Bedarf, ein Gesamthandsvermögen auch bei der Innengesellschaft zuzulassen, ist nicht ersichtlich. Die systematische Unterscheidung zwischen rechtsfähiger Außen- und nichtrechtsfähiger Innengesellschaft, für die sich auch der 71. DJT mit sehr deutlicher Mehrheit ausgesprochen hat, braucht also nicht durch eine hybride Zwischenform verwischt zu werden. Eine andere Frage ist, ob die Vermögensunfähigkeit im Gesetz ausdrücklich klargestellt werden muss. Zwingend ist dies gewiss nicht; man mag die Dinge auch schon dadurch als hinreichend geklärt ansehen, dass die Rechtsfähigkeit der Außengesellschaft, wie vorgeschlagen, gesetzlich geregelt wird. Einen dringenden rechtspolitischen Handlungsbedarf lässt sich deshalb verneinen. Betrachtet man den Gesamtzusammenhang der Beschlüsse des 71. DJT zur Rechtsfähigkeit der GbR, so kann Beschluss Nr. 7, der eine gesetzliche Klarstellung ablehnt, eigentlich auch nur in diesem Sinne verstanden werden.

V. Zusammenfassung in Thesen 1. Es erschiene unverhältnismäßig, das gegenwärtige dreigliedrige System des Personengesellschaftsrechts nur deshalb aufzugeben, um allen Freiberuflern der Weg in die (GmbH & Co.) KG zu ebenen. Zumal nach Einführung der PartGmbB erscheint ein praktischer Bedarf weder besonders plausibel noch ist er empirisch belegt, auch weil alternativ die Kapitalgesellschaft zur Verfügung steht. Ein Systemwechsel hätte erhebliche Folgen, die nicht auf das Gesellschaftsrecht beschränkt werden könnten. Allgemein bringt der Übergang vom Kaufmann zum Unternehmer hinsichtlich der Abgrenzbarkeit der Begriffe auch keinen greifbaren Vorteil. Zu einem Gewinn an systematischer Klarheit würde er überdies nur dann führen, wenn man zugleich auf jegliche handelsrechtlichen Sonderregeln für Freiberufler verzichtete. 2. Es sollte ein GbR-Register geschaffen werden, ohne dass aber die Rechtsfähigkeit der Außengesellschaft von einer Eintragung abhängig gemacht werden sollte. Eine solche Regelung hätte nicht nur systemsprengende Wirkung mit zahlreichen Folgeproblemen (insbes. der generelle Verlust einer rechtsfähigen Vorgesellschaft zu GbR, OHG und KG). Vielmehr würde er sich auch kontraproduktiv auswirken. Ein Eintragungszwang wäre mit einer konstitutiven Eintragung nicht verbunden; und viele Gesellschaften, zumal Gelegenheitsgesellschaften, würden sich schlicht nicht eintragen lassen, sei es, weil sie die hiermit verbundenen Kosten scheuen, sei es weil sie gerade aus der Intransparenz der Vermögens- und Vertretungsverhältnisse Vorteil zu ziehen suchen. Ihre Vertragspartner haben dann alle Nachteile zu tragen, die sich aus der fehlenden Rechts- und Parteifähigkeit der Gesamthandsgemeinschaft ergeben, ohne dass hiergegen irgendeine Handhabe bestünde. Sollte man trotz aller bestehenden bzw. neu zu schaffenden Anreize nach hinlänglicher Beobachtungsfrist eine ungenügende Nutzung des Registers feststellen, kann die Einführung eines Registerzwangs erwogen werden, der einstweilen als unverhältnismäßig anzusehen ist.

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3. Das Hybrid einer Innengesellschaft mit Gesamthandsvermögen (ihrer Gesellschafter) sollte nicht geschaffen werden. Sie würde die systematische Unterscheidung zwischen rechtsfähiger Außen- und nichtrechtsfähiger Innengesellschaft, für die sich auch der 71. DJT mit sehr deutlicher Mehrheit ausgesprochen hat, stark verwischen. Und ein hinreichender praktischer Bedarf, der diesen Nachteil ausgleichen könnte, ist nicht ersichtlich geworden. Eine andere Frage ist, ob die Vermögensunfähigkeit im Gesetz ausdrücklich klargestellt werden muss. Zwingend ist dies nicht. Man mag die Dinge auch schon dadurch als ausreichend geklärt ansehen, dass die Rechtsfähigkeit der Außengesellschaft gesetzlich geregelt wird, und einen dringenden rechtspolitischen Handlungsbedarf deshalb verneinen.

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Die Liebe der Hedgefonds zum deutschen Beherrschungsvertrag* Inhaltsübersicht I. Hedgefonds in Deutschland II. Take-over und Appraisal Arbitrage 1. Bain Capital und Cinven / STADA 2. Procter & Gamble / Wella 3. Vodafone / Kabel Deutschland 4. McKesson / Celesio 5. GE Aviation / SLM Solutions Group

III. Warum lieben die Hedgefonds den ­Beherrschungsvertrag? 1. Typischer Schritt im „taking private“ 2. Vorteile für die Hedgefonds IV. Bewertung und Abhilfe 1. Bewertung der Situation 2. Änderung des WpÜG 3. Änderungen des Aktienrechts V. Ausblick

Der Jubilar hat wie kein zweiter Ministerialbeamter in den letzten Jahrzehnten die Entwicklung des Gesellschaftsrechts geprägt und durch eine Vielzahl von Publika­ tionen begleitet. Auch wenn mit vielen Änderungsgesetzen wie NaStraG, UMAG, TransPuG, VorstOG, VorstAG, EHUG, MoMiG und ARUG eine „Aktienrechtsreform in Permanenz“ die Praxis in Atem hielt, kann man seinem Fazit aus Anlass des 50. Geburtstages des Aktiengesetzes 1965 sicher zustimmen, dass unser Aktienrecht einen guten Stand erreicht hat.1 Dennoch hoffe ich, mit den folgenden Ausführungen sein Interesse zu wecken. Die dem Schutz der Minderheit dienenden Vorschriften für den Beherrschungsvertrag haben nämlich deutsche Übernahmen und das nachfolgende „taking private“ zu einer Bonanza für aktivistische Hedgefonds gemacht, was der Gesetzgeber des Aktiengesetzes 1965 sicher nicht beabsichtigt hatte. Auch hierzu ist eine Reformdiskussion angebracht.

I. Hedgefonds in Deutschland Der von Paul Singer gegründete Hedgefonds Elliott hat auch in Deutschland mittlerweile einen Ruf wie Donnerhall. Schon das bloße Gerücht, dass Elliott sich an der thyssenkrupp AG beteiligen und auf eine Strategieänderung und eine Ablösung des Vorstandsvorsitzenden drängen könnte,2 ließ im Mai 2018 den Aktienkurs um über * Akademischer Redlichkeit halber sei darauf hingewiesen, dass der Autor an einigen der geschilderten Verfahren als Berater des Bieters, der Zielgesellschaft oder eines verkaufenden Großaktionärs beteiligt war. 1 Seibert, AG 2015, 593, 595; ders., BOARD 2015, 227, 229. 2 Bloomberg 22.5.2018 („Elliott purchases stake in Germany‘s thyssenkrupp“).

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8 % steigen. Kurz darauf verließen sowohl der Vorstandsvorsitzende als auch der Aufsichtsratsvorsitzende das Unternehmen. Dabei sind solche Investments, die auf einen Wertzuwachs durch eine Strategieänderung wie die Aufspaltung von Konglomeraten zielen, auch in Deutschland nicht neu. Schon Anfang der 2000er Jahre forderte der US-amerikanische Investor Guy Wyser-Pratte mit einer Beteiligung von rund 7 % einen Verkauf bestimmter Aktivitäten der Rheinmetall AG, um später mit Gewinn seine Anteile an den Mehrheitsaktionär Röchling zu veräußern. Bei der Deutsche Börse AG torpedierten Hedgefonds unter Führung des The Children‘s Investment Fund 2005 die Pläne zur Übernahme der London Stock Exchange und zwangen den Vorstandsvorsitzenden und den Aufsichtsratsvorsitzenden zum Rücktritt.3 Heute gehören solche governance-orientierten Investments zur Unternehmenswirklichkeit großer Publikumsgesellschaften.4 Seltener als in anderen Ländern sind die Fonds auch im Aufsichtsrat vertreten. Bei der Bilfinger SE stellt der Investor Cevian allerdings sogar den Aufsichtsratsvorsitzenden. Die Bedeutung solcher Kampagnen aktivistischer Investoren ist aber immer noch deutlich geringer als in anderen Ländern, vor allem im Vergleich mit den USA.5 Dort findet auch eine intensive öffentliche Debatte statt, ob Hedgefonds positiven Einfluss auf die Unternehmen und ihre Wertentwicklung haben6 oder ihre Kampagnen im Gegenteil zu jedenfalls langfristig nachteiligen Fehlentwicklungen führen.7 Auch diese Debatte steht in Deutschland erst am Anfang. Allerdings kann man beobachten, dass bei einer Reihe von Unternehmen langfristig investierte institutionelle Anleger zunehmend Sympathien für die Kampagnen zeigen, so dass sich die Verwaltung der Unterstützung durch die „long only“-Investoren nicht mehr sicher sein kann. Dabei spielen auch die Empfehlungen von Stimmrechtsberatern wie ISS und Glass Lewis eine Rolle.

II. Take-over und Appraisal Arbitrage Das bislang bevorzugte Betätigungsfeld der Hedgefonds in Deutschland sind aber ­öffentliche Übernahmen und die typischerweise nachfolgenden Maßnahmen zum „taking private“, d.h. Beherrschungsvertrag und Squeeze Out. Wie man auch in an ihre eigenen Investoren gerichteten Darlegungen der Rechtslage durch die Fonds nachlesen kann, haben diese das Zusammenspiel der verschiedenen minderheitsschützenden Normen voll verstanden und daraus ein gut funktionierendes Geschäftsmodell entwickelt. Dabei gehen sie hochprofessionell vor und unterscheiden sich im Verhalten zum Teil von den sogenannten „räuberischen Aktionären“, die den Unter3 Beschrieben aus Sicht des Vorstandsvorsitzenden in Seifert/Voth, Invasion der Heuschrecken, 2006. 4 Zur Vorbereitung auf solche Angriffe Schiessl, ZIP 2009, 689 ff. 5 Zu den Unterschieden Langenbucher in FS Baums, Band I, 2017, S. 743 ff. m.w.N. 6 Besonders öffentlichkeitswirksam propagiert dies der Harvard Law School Professor Lucian Bebchuk, z.B. Bebchuk/Brav/Jiang, 115 Columbia Law Review 1085 ff. (2015). 7 Bebchuks prominentester Widersacher ist der New Yorker Anwalt Martin Lipton, z.B. ­Lipton, Harvard Law School Forum on Corporate Governance and Financial Regulation (Feb 26, 2013), http://blogs.law.harvard.edu/corpgov/2013/02/26/bite-the-apple-paralyze-the-­ com​pany-wreck-the-economy.

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nehmen in den vergangenen Jahrzehnten Kopfschmerzen bereitet hatten und deren Methoden Anlass einiger der oben erwähnten Reformen waren. Vor allem sind die Hedgefonds in der Lage, enorme Summen zu investieren (mehrere hundert Millionen Euro und in Einzelfällen sogar im Milliardenbereich) und dementsprechend auf den Hauptversammlungen mit großen Beraterteams (Anwälte, Wirtschaftsprüfer, Unternehmensberater) zu erscheinen, deren Fragen nicht – wie bei „räuberischen Aktionären“ häufig der Fall – darauf zielen, Fehler der Verwaltung zu provozieren, sondern Informationen zu erlangen, mit deren Hilfe eigene Bewertungsmodelle zur Vorbereitung der Spruchverfahren entwickelt werden. Grundmuster ist, dass die Fonds direkt nach Bekanntgabe der Übernahmeabsicht in großem Umfang Aktien und/oder andere Finanzinstrumente der Zielgesellschaft erwerben. Dies tun sie, obwohl der Börsenkurs sich nach der Bekanntgabe regelmäßig sofort erheblich erhöht und sich in der Größenordnung des bekanntgegebenen Angebotspreises einpendelt. Sie spekulieren damit auf eine weitere Erhöhung entweder im Angebotsverfahren, sei es durch den Bieter selbst oder durch einen konkurrierenden Bieter, oder in nachfolgenden Beherrschungsverträgen und Squeeze Out-Verfahren. Weitere Erhöhungen sind möglich in den sich anschließenden Spruchverfahren, in denen die dem Beherrschungsvertrag oder Squeeze Out zugrunde gelegte Bewertung überprüft wird, oder in einem Vergleich im Rahmen dieser Verfahren. Die Fonds gehen im Übrigen flexibel und opportunistisch vor. So kommen beispielsweise auch andere Finanzinstrumente und im Wege der Wertpapierleihe erworbene Aktien zum Einsatz. Je nach Situation wird auch über Rechtstreitigkeiten und Sonderprüfungsanträge Druck aufgebaut. Bemerkenswert ist, dass die Kampagnen trotz des Interesses der Fonds an kurzfristiger Gewinnmaximierung zum Teil langfristig angelegt sind, was wiederum durch die Besonderheiten des Beherrschungsvertrages erleichtert wird. Einige Beispiele sollen das Konzept und mögliche Szenarien verdeutlichen. 1. Bain Capital und Cinven / STADA Ein jüngeres Beispiel ist STADA. Ein Konsortium aus den Private Equity-Gesellschaften Bain Capital und Cinven legte im April 2017 nach einem von der Gesellschaft mit mehreren Bietern durchgeführten Bieterprozess, dem eine governance-orientierte Kampagne des mit rund 5 % beteiligten Hedgefonds Active Ownership Capital vo­ rangegangen war, ein von der Verwaltung unterstütztes Angebot über 66 Euro je Aktie vor. Nachdem andere Hedgefonds sich in großem Umfang eingekauft hatten, scheiterte das Angebot schließlich trotz Senkung der Mindestannahmeschwelle von 75 % auf 67 %, weil es nur für 65,53 % der Aktien angenommen wurde. Ein zweites Angebot über 66,25 Euro mit einer auf 63 % reduzierten Annahmeschwelle war schließlich erfolgreich, nachdem etwa 64 % angedient wurden. Daraufhin baute der Hedgefonds Elliott seine Beteiligung auf 15  % aus und gefährdete damit die für den Beherrschungsvertrag erforderliche 75 %ige Mehrheit der auf der Hauptversammlung abgegebenen Stimmen. Auf Druck von Elliott8 entschloss sich der Mehrheitsaktionär, eine Abfindung gemäß § 305 AktG in Höhe von 74,40 Euro anzubieten. Auf dieser Grund8 So Börsenzeitung 18.4.2018, S. 10 („Stada im Medizinschrank von Private Equity“).

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lage wurde der Beherrschungsvertrag mit einer Mehrheit von 99 % im Februar 2018 beschlossen. Hier nutzten die Fonds also ihren Einfluss, um eine höhere Abfindung schon direkt im Beherrschungsvertrag selbst zu erzwingen. Den Aktionären, die das ursprüngliche Übernahmeangebot angenommen haben, kommt ein höheres Angebot in einem Beherrschungsvertrag nicht mehr zugute, weil insoweit die übernahmerechtliche Gleichbehandlungspflicht nicht gilt (§ 31 Abs. 5 Satz 2 WpÜG). Elliott gab sich allerdings mit den 74,40 Euro nicht zufrieden und behielt seine Aktien. Es bedurfte eines weiteren Abfindungsangebots im Rahmen eines Delistings gemäß § 39 BörsG und einer weiteren Erhöhung auf 81,73 Euro (auf der Basis des gewichteten sechs-Monats-Durchschnittskurses) im November 2018, damit auch Elliott verkaufte. Nach Abschluss des Delistings hielt der Großaktionär 93,61 % des Kapitals. 2. Procter & Gamble / Wella Der erste promiente Fall, in dem Hedgefonds nach dem erläuterten Muster vorgingen, war die Übernahme von Wella durch P&G. Diese Transaktion aus dem Jahr 2003 wies die Besonderheit auf, dass die Zielgesellschaft sowohl stimmrechtslose Vorzugsaktien als auch stimmberechtigte Stammaktien emittiert hatte und die Gründerfamilie eine qualifizierte Mehrheit der Stämme hielt. P&G macht sich zunutze, dass das 2002 in Kraft getretene WpÜG eine Ungleichbehandlung verschiedener Gattungen ermöglicht (§ 3 Abs. 1 WpÜG; § 3 Satz 3 WpÜG-AngVO), und bot auf der Grundlage einer Mischkalkulation 92,25 Euro für die Stämme und 65 Euro für die Vorzüge, was zwar den Mindestpreisregeln entsprach, aber für Aufregung sorgte, weil der Börsenkurs der beiden Gattungen sich kaum unterschieden hatte und auch nach sonstigen Bewertungsmethoden sich nur ein geringfügiger Unterschied ergab. Die Ungleichbehandlung wurde zwar zurecht von der BaFin für das Übernahmeangebot selbst akzeptiert,9 gab aber den in den Vorzügen investierten Fonds eine Steilvorlage für das dem Beherrschungsvertrag folgende Spruchverfahren, in der ein entsprechender Wertunterschied zwischen den Gattungen nach den anwendbaren Bewertungsregeln nicht begründbar war und die Vorzüge deshalb erheblich höher bewertet wurden, was den Hedgefonds entsprechende Gewinne einbrachte und die Gesamttransaktion für P&G verteuerte. Die Auseinandersetzung wurde von jahrelangen Rechtsstreitigkeiten und von Sonderprüfungsanträgen begleitet. 3. Vodafone / Kabel Deutschland Nach dem erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen mit der Zielgesellschaft über den Angebotspreis und ein Business Combination Agreement10 machte Vodafone 9 BaFin, Jahresbericht 2003, S. 208 f.; vgl. ferner OLG Frankfurt am Main, BKR 2003, 717; BVerfG ZIP 2004, 950 zur fehlenden Beschwerde- und Klagebefugnis von Aktionären im BaFin-Verfahren. 10 Das ursprüngliche Angebot lag bei 80 Euro. Zur Vorgeschichte einschließlich der Verhandlungen mit dem konkurrierenden Interessenten Liberty Global siehe die gemeinsame begründete Stellungnahme von Vorstand und Aufsichtsrat der Zielgesellschaft vom 2.8.2013, S. 25 ff.

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den Aktionären der Kabel Deutschland Holding AG im Sommer 2013 das Angebot, die Aktien für 87 Euro zu erwerben (einschließlich der Dividende für das am 31.3.2013 abgelaufene Geschäftsjahr). Das Angebot wurde von den Aktionären mit der erforderlichen Mehrheit angenommen. Allerdings hatten sich auch hier Hedgefonds mit über 10  % und einem Investitionswert von über 1 Milliarde Euro eingekauft. Auf der am 10.10.2013 stattfindenden ordentlichen Hauptversammlung kam es aufgrund des Zeitplans zu einer Zufallsmehrheit der Hedgefonds, weil Vodafone die Stimmrechte aus den angedienten Aktien noch nicht ausüben konnte, während die ver­ kaufenden Aktionäre daran kein Interesse mehr hatten und der Versammlung fernblieben. Diese Zufallsmehrheit nutzten die Hedgefonds, um einen Antrag auf eine Sonderprüfung im abgelaufenen Geschäftsjahr 2012/2013 vorgenommener Vorbereitungsverhandlungen auf eine etwaige Übernahme zu stellen, dem die Hauptversammlung zustimmte. Das Spruchverfahren, in dem die im am 13.2.2014 von der Hauptversammlung beschlossenen Beherrschungsvertrag vorgesehene Abfindung in Höhe von 84,53 Euro je Aktie überprüft wird, läuft noch. 4. McKesson / Celesio 2013 führte McKesson mit der Celesio AG und ihrem Mehrheitsaktionär Franz Haniel & Cie GmbH Gespräche über einen Erwerb des Haniel-Pakets von etwas über 50 % und ein Angebot an die übrigen Aktionäre und veröffentlichte ein von der Verwaltung unterstütztes Angebot in Höhe von 23 Euro je Aktie. Die Besonderheit des Falles lag darin, dass Celesio zwei Wandelschuldverschreibungen im Gesamtnennbetrag von jeweils 350 Millionen Euro emittiert hatte, die an der Börse parallel zu den Ak­ tien gehandelt wurden. Die Anleihebedingungen enthielten marktübliche „change of control“-Klauseln. Der Hedgefonds Elliott kaufte sowohl Aktien als auch die Wandelschuldverschreibungen. Obwohl der Angebotspreis in der Schlussphase der Angebotsfrist im Einvernehmen mit Elliott auf 23,50 Euro erhöht wurde, verfehlte das Angebot bei einer Annahmequote von 72,33  % die Mindestannahmeschwelle von 75 %. McKesson hatte sich zuvor öffentlich verpflichtet, die Schwelle nicht zu senken, um seinerseits Druck auszuüben. Nach dem Scheitern erwarb Haniel das Elliott-­ Paket und McKesson gelang im zweiten Anlauf eine erfolgreiche Übernahme zu 23,50 Euro. Parallel erwarb McKesson von Elliott, die mittlerweile einen Großteil der Wandelschuldverschreibungen erworben hatten, dieses Paket zu Preisen, die im Vergleich zum Angebot für die Aktien höher lagen (bis zu 30,95 Euro) und Elliott entsprechende Gewinne bescherten. Die Transaktionen wurden von der BaFin mit Hinblick auf den Angebotspreis nicht beanstandet11 und waren in der von der BaFin gestatteten Angebotsunterlage dargestellt.12 Auf Klage von Celesio-Minderheitsaktionären wegen Verletzung der Gleichbehandlungspflichten und der Mindestpreisregeln entschied aber der BGH, dass McKesson gemäß § 31 Abs. 6 Satz 1 WpÜG zum Aus-

11 Zur BaFin-Position zur Behandlung solcher Instrumente auch Boucsein/Schmiady, AG 2016, 597, 602 ff. m.w.N. 12 Angebotsunterlage der Dragonfly GmbH & Co. KGaA vom 28.2.2014, S. 20 ff.

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gleich des Unterschiedsbetrags und zur Nachzahlung verpflichtet ist.13 Auch wenn die Entscheidung meines Erachtens über die Vorgaben des WpÜG hinausgeht, müssen Bieter bei entsprechenden Konstruktionen künftig besondere Vorsicht walten lassen, zumal der BGH ausdrücklich offen gelassen hat, ob § 31 Abs. 6 Satz 1 WpÜG im Sinne eines allgemeinen Umgehungsschutzes auszulegen ist. 5. GE Aviation / SLM Solutions Group STADA und Celesio waren Transaktionen, die im ersten Anlauf an der Mindestannahmeschwelle scheiterten, aber mit einem durch Zustimmung von Zielgesellschaft und BaFin gemäß § 26 Abs. 2 WpÜG ermöglichten zweiten Angebot erfolgreich waren. Ein weiteres Beispiel hierfür war Macquarie/Techem (Angebote in 2006 und 2007).14 Für die Hedgefonds, die sich zu einem durch die Ankündigung erhöhten Preis eingekauft haben, ist ein Scheitern der Übernahme ein Risiko, das sie verringern wollen. Wenn es nicht gelingt, den Bieter zu einer aus ihrer Sicht attraktiven Angebotspreiserhöhung zu bewegen, stehen sie vor dem Dilemma, entweder Aktien ohne Gewinn andienen zu müssen oder die Transaktion zu gefährden. Deshalb finden häufig entweder direkt oder über Intermediäre Sondierungen statt, entweder die Annahmeschwelle zu senken oder Informationen zu erlangen, um durch Annahme für einen möglichst geringen Teil des Pakets eine „Punktlandung“ zu erreichen. Deshalb wird die Mindestannahmeschwelle oft auch nur ganz knapp überschritten. Scheitert das Angebot dennoch, wird alles getan, um einen Erfolg im zweiten Anlauf zu erreichen. In Einzelfällen kann sich das Risiko aber realisieren und die Fonds bleiben auf der teuer eingekauften Beteiligung sitzen. Ein Beispiel ist das 2016 unterbreitete Übernahmeangebot der GE Aviation für die SLM Solutions Group AG, das mit 38 Euro je Aktie zwar eine hohe Prämie beinhaltete und von Verwaltung und Ankeraktionären auch mit Hinblick auf die Zusammenarbeit der beiden Unternehmen und das vorgelegte Konzept unterstützt wurde, aber dennoch die Mindestannahmeschwelle verfehlte, weil Elliott rund 20 % erwarb und eine erhebliche Erhöhung des Angebotspreises verlangte. GE Aviation ließ sich darauf nicht ein und kaufte statt dessen mit Concept Laser ein anderes Unternehmen im Bereich „additive manufacturing“. Da der Kurs nach dem Scheitern eines Angebots typischerweise nachgibt, drohen den Fonds in einem solchen Fall erhebliche Verluste. Auch für die Zielgesellschaft ist es misslich, wenn eine von der Verwaltung unterstützte Transaktion, die im Interesse der Gesellschaft und ihrer Aktionäre wäre, scheitert und die Gesellschaft danach zudem unter den Einfluss von aktivistischen Hedgefonds gerät, die (zu) teuer eingestiegen sind und nach einer exit-Lösung suchen. Allerdings zeigt der Fall SLM Solutions Group auch, dass die Hedgefonds durchaus in der Lage sind, solche Positionen mit einer gewissen Geduld langfristig zu halten und die Situation „auszusitzen“. Dies umso 13 BGH AG 2018, 105. Zur Behandlung der Aktionäre, die das Angebot nicht angenommen hatten, Hippeli, Der Konzern 2018, 465, 466 ff. 14 Dazu BaFin Jahresbericht 2006, S. 184, Jahresbericht 2007, S. 192; Cascante in FS Wegen, 2015, S. 175, 183 ff.

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Die Liebe der Hedgefonds zum deutschen Beherrschungsvertrag

mehr, als das SLM-Investment im Vergleich zu anderen Beteiligungen von E ­ lliott nur einen geringen Kapitalbetrag bindet. Im März 2019 hat Elliott nunmehr nach einem dramatischen Kursverfall eine Kapitalerhöhung zu 7,23 Euro je Aktie gezeichnet und damit seinen Anteil auf knapp unter 30 % erhöht.

III. Warum lieben die Hedgefonds den Beherrschungsvertrag? 1. Typischer Schritt im „taking private“ Aus den Beispielen wird aber noch nicht deutlich, warum gerade der Beherrschungsvertrag die tragende Säule des Geschäftsmodells ist, weil er die Hedgefonds in eine komfortable und risikoarme Situation bringt. Dies liegt in den Besonderheiten dieses Instituts (dazu unten III.2) begründet. Zwar ist eine Konzernleitung auch im faktischen Konzern möglich und es werden auch eine Reihe von Konzernen in der Praxis über lange Zeit erfolgreich im Einklang mit den §§ 311 ff. AktG geführt, der Bieter wird aber nach einer Übernahme ganz regelmäßig eine Beherrschungsvertrag anstreben. Das gilt für den Private Equity-Investor, der eine gegen die §§ 57 ff. AktG verstoßende Refinanzierung anstrebt, die durch § 291 Abs. 3 AktG erlaubt wird, ebenso wie für den Strategen, der konzerninterne Restrukturierungen beabsichtigt, die aus Sicht der Zielgesellschaft bei einer „stand alone“-Betrachtung nachteilig sind und das System des Einzelausgleichs gemäß § 311 AktG sprengen. Dies ist auch den Hedgefonds bewusst. Genauso wie diese daran interessiert sind, dass die Übernahme nicht scheitert, sie aber mit einer möglichst hohen Beteiligung investiert bleiben, was wiederum einen Squeeze Out unmöglich macht, liegt es in ihrem Interesse, dass Bieter und Zielgesellschaft möglichst bald einen Beherrschungsvertrag schließen. Dies wurde besonders deutlich im Fall Fortum/Uniper, in dem Elliott die Einberufung einer Hauptversammlung der Uniper beantragte mit dem Ziel, den Vorstand zur Vorbereitung eines Beherrschungsvertrags mit Fortum zu verpflichten. Deshalb versuchen die Aktivisten – anders als in der Vergangenheit die sogenannten „räuberischen Aktionäre“ – auch regelmäßig nicht, Druck auf das Unternehmen durch Klagen gegen den Beherrschungsvertrag auszuüben, sondern konzentrieren sich auf das Spruchverfahren. Eine gewisse Abweichung von diesem Muster ist der bereits erwähnte Fall STADA, in dem allerdings nicht mit Klagen operiert wurde, sondern bereits im Vorfeld des Abschlusses des Beherrschungsvertrages eine gegenüber dem Angebotspreis erhöhte Abfindung durchgesetzt wurde (s.o. II.1). 2. Vorteile für die Hedgefonds Was macht den Beherrschungsvertrag so attraktiv für die Fonds? Sie haben sich regelmäßig zu einem Durchschnittspreis nahe am Angebotspreis oder gar darüber eingekauft und sehen sich nach dem Closing typischerweise mit einer Beteiligung von etwa 10 bis 20  % einem beherrschenden Großaktionär mit gut 75  % gegenüber mit der Folge, dass das Handelsvolumen stark gesunken ist und mangels Liquidität der Aktie ein marktschonender Verkauf der Beteiligung über die Börse kaum möglich ist. Auch eine Platzierung an Dritte ist in der Konstellation mit Großaktionär und Vertragskon739

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zern schwer, so dass die Fonds für ihren „exit“ weitgehend auf den Großaktionär als Käufer angewiesen sind. Diese auf den ersten Blick unvorteilhafte Situation wird durch die minderheitsschützenden Vorschriften des Beherrschungsvertrages komfortabel. Die Hedgefonds halten eine Beteiligung mit einer Absicherung des Kursrisikos („floor“), einer jederzeit ausübbaren Put-Option und einem gerade in Niedrigzinszeiten attraktivem Kupon. Damit sind sie einerseits jederzeit handlungsfähig, andererseits können sie in Ruhe auf ein potentielles Upside durch Erhöhung der Abfindung im Spruchverfahren oder eine Wertsteigerung warten, die den Großaktionär jedenfalls, wenn ein Squeeze Out gewollt ist, zu einer weiteren Erhöhung zwingt. –– Gemäß § 305 Abs. 1 Satz 1 AktG muss der Großaktionär im Beherrschungsvertrag den außenstehenden Aktionären den Erwerb ihrer Aktien gegen eine angemessene Abfindung anbieten (Put-Option). Dies ist im Regelfall eine Barabfindung (§ 305 Abs. 2 AktG, auch zu den Fällen, in denen eine Abfindung in Aktien geschuldet ist). –– Die Abfindung ist auf den Tag der über den Vertrag beschließenden Hauptversammlung zu berechnen (§ 305 Abs. 3 Satz 2 AktG). Dabei ist auf den vollen objektivierten Wert abzustellen, zu dessen Ermittlung regelmäßig auf das Ertragswertverfahren oder die discounted cash flow-Methode nach den Grundsätzen des Instituts der Wirtschaftsprüfer IdW S1 abgestellt wird.15 Unter gewissen Umständen sind dabei Verbundvorteile werterhöhend zu berücksichtigen.16 Vor allem aber wird ein höherer Börsendurchschnittswert in einem Referenzzeitraum von drei Monaten vor der Bekanntmachung des geplanten Vertragsschlusses17 von den Gerichten für den Regelfall abfindungserhöhend in Ansatz gebracht.18 Mittlerweile geht die wohl herrschende Meinung davon aus, dass die damit verbundene Meistbegünstigung nicht geboten ist und deshalb im Regelfall auch allein auf den Börsenkurs abgestellt werden kann.19 Dennoch wird in der Praxis weiterhin regelmäßig noch der Unternehmenswert nach IdW S1 ermittelt und zugrunde gelegt, wenn er über dem relevanten Börsenwert liegt. Unabhängig hiervon zeigt die Praxis, dass der relevante Börsenkurs – wohl auch gefördert von der Marktenge – regelmäßig eher über als unter dem Angebotspreis liegt, sodass die Put-Option die Hedgefonds als „floor“ absichert, wenn man das Insolvenzrisiko des Großaktionärs außer Betracht lässt.

15 Dazu statt aller Krieger in MünchHdb. AG, 4. Aufl. 2015, § 71 Rz. 132 ff. m.N. zur Rechtsprechung. 16 Krieger, aaO (Fn. 15), § 71 Rz. 135 m.w.N. 17 BGHZ 186, 229 Rz. 9 ff. „Stollwerck“. 18 Grundlegend zur Berücksichtigung der Börsenkurse BVerfGE 100, 289, 305 ff. „DAT/Altana“. Übersicht zur Entwicklung der Rspr. bei Hüffer/Koch, AktG, 13.  Aufl. 2018, §  305 Rz. 29 ff. 19 Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 305 Rz. 37 m.w.N. Wohl auch BGHZ 207, 114 Rz. 33 im Anschluss an BVerfG NJW 2011, 2497, BVerfG AG 2012, 625, 626, wonach Meistbegünstigung verfassungsrechtlich nicht geboten ist.

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–– Die Put-Option kann jederzeit ausgeübt werden, d.h. die Fonds haben maximale Flexibilität. Zwar sieht § 305 Abs. 4 Satz 1 und 2 AktG vor, dass die Erwerbspflicht auf den Tag zwei Monate nach Bekanntmachung der Eintragung im Handelsregister befristet werden kann. Dies läuft aber leer, weil § 305 Abs. 4 Satz 3 AktG anordnet, dass im Falle eines Spruchverfahrens zur Überprüfung der Höhe der Abfindung, das in der Praxis ausnahmslos eingeleitet wird, die Frist frühestens zwei Monate nach der Bekanntmachung der Entscheidung im Bundesanzeiger endet. –– Während der Dauer ihrer Beteiligung werden die Fonds durch den im Beherrschungsvertrag vorzusehenden angemessenen Ausgleich nach § 304 AktG gut gestellt. Diese garantierte jährliche Zahlung, die im Falle eines parallel abgeschlossenen Gewinnabführungsvertrags die Dividende ersetzt und im Fall eines isolierten Beherrschungsvertrags die Dividende ergänzt, ist für die Fonds attraktiv, weil sie den Aktionären den aufgrund einer Prognose der künftigen Ertragsaussichten zu erwartenden Gewinn zuweist (zu den Einzelheiten § 304 Abs. 2 Satz 1 AktG). Dies läuft in Abweichung von der Dividendenpraxis der meisten Unternehmen im Ergebnis auf eine Vollausschüttung hinaus,20 weil künftig zu bildende andere Gewinnrücklagen nicht abgezogen werden (§ 304 Abs. 2 Satz 1 AktG). Damit ist eine vergleichsweise hohe Rendite garantiert. –– Eine weitere Absicherung ergibt sich daraus, dass der Abfindungsanspruch ab Wirksamwerden des Beherrschungsvertrages mit 5 % über dem Basiszinssatz nach § 247 BGB verzinst wird (§ 305 Abs. 3 Satz 3 AktG), was gerade in einem Niedrigzinsumfeld für die Aktionäre sehr vorteilhaft ist. Allerdings werden während der Laufzeit des Beherrschungsvertrags bis zur Annahme des Abfindungsangebots bezogene Ausgleichs- und Dividendenzahlungen auf den Zinsanspruch für den jeweiligen Referenzzeitraum angerechnet.21 Damit wird aber nur eine Doppelzahlung ausgeschlossen. –– Sowohl die Abfindung nach § 305 AktG als auch der angemessene Ausgleich nach § 304 AktG werden im Spruchverfahren überprüft, wobei nur eine Verbesserung zu Gunsten der Aktionäre möglich ist. Angesichts der geschilderten Absicherungen können die Fonds den Ausgang auch bei langer Verfahrensdauer in Ruhe abwarten. Durch dieses System sind die Fonds in der Lage, trotz ihrer hohen Renditeerwartungen die Beteiligung auch mittel- oder langfristig zu halten und auf weitere Erhöhungen zu spekulieren. Aufgrund der Beteiligungshöhe haben sie zudem den Schlüssel zu einem möglichen Squeeze Out und damit einen wichtigen Hebel in der Hand. Ferner können sie den Druck auf die Verwaltung durch ihr Verhalten in der Öffentlichkeit und auf Hauptversammlungen (z.B. durch Anfechtungsklagen gegen Entlastungsbeschlüsse oder Sonderprüfungsanträge) erhöhen. Umgekehrt können sie die Beteiligung durch die jederzeit ausübbare Put-Option flexibel verkaufen, ohne die Rechte aus laufenden Spruchverfahren zu verlieren. 20 Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 304 Rz. 11 m.w.N. 21 Krieger, aaO (Fn. 15), § 71 Rz. 117 m.w.N.

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IV. Bewertung und Abhilfe 1. Bewertung der Situation Das 2002 in Kraft getretene WpÜG hat für öffentliche Übernahmen einen verlässlichen Rahmen geschaffen und sich auch im internationalen Vergleich in der Praxis der letzten 15 Jahre bewährt.22 Allerdings führt das Zusammenspiel der übernahmerechtlichen Regeln und der aktienrechtlichen Regelungen zu Beherrschungsvertrag und Squeeze Out dazu, dass aktivistische Hedgefonds mit geringem Risiko Take-over Arbitrage betreiben können, ohne dass dafür ein gerechtfertigtes Schutzinteresse besteht. Während das Aktiengesetz 1965 in seinen Regeln zum Beherrschungsvertrag ebenso wie das WpÜG 2002 bereits in den Unternehmen investierte Kleinaktionäre im Verhältnis zu einem übermächtigen Bieter bzw. Großaktionär schützen wollte, handelt es sich bei den Hedgefonds um spekulativ agierende Aktivisten, die sich regelmäßig erst dann in die Aktie einkaufen, wenn der Bieter die Übernahmeabsicht bereits nach § 10 Abs. 1 WpÜG veröffentlicht hat. Das ist selbstverständlich völlig legitim, erlaubt aber die Frage, ob dieses Verhalten eine Einschränkung der dem Minderheitsschutz dienenden Vorschriften rechtfertigt oder sogar erfordert. Der Sinn des Gesetzes wird nämlich in sein Gegenteil verkehrt. Zum einen können die Manöver im Interesse der Gesellschaft, ihrer Aktionäre und sonstigen stakeholder liegende Übernahmen verhindern, wie der Fall GE Aviation/SLM Solutions gezeigt hat. Ferner ­können sie Übernahmen verteuern, ohne dass das den Altaktionären überwiegend zugutekommt, mit der Folge, dass der Druck auf den Bieter steigt, diese Unterschiedsbeträge auf andere Art und Weise zu erwirtschaften, was beispielsweise durch Personalmaßnahmen zu Lasten der Arbeitnehmer gehen kann. Jedenfalls bleibt ein nicht zu rechtfertigender Werttransfer von den Aktionären des Bieters zu den Hedgefonds. Die Altaktionäre, die eigentlich geschützt werden sollen, kommen nicht in den Genuss der Spekulationsvorteile, weil sie ihre Aktien jedenfalls zu einem großen Teil nach Bekanntwerden der Übernahmeabsicht zu einem Preis in der Nähe des Angebotspreises an die Hedgefonds abgegeben haben. Es besteht zudem die Gefahr, dass die Bieter wegen der die Gesamttransaktion verteuernden Arbitrageeffekte beim Übernahmeangebot eine geringere Prämie vorsehen als möglich, um sich bei einer Gesamtkalkulation einen Puffer zu lassen. Die Zielgesellschaft schließlich muss über längere Jahre mit aktivistischen Aktionären zurechtkommen, die häufig Druck auf die Verwaltung mit Sonderprüfungsanträgen und Anfechtungsklagen ausüben, der eigentlich nur dazu dient, den Großaktionär zu einem teuren Vergleich im Spruchverfahren oder zu einem teuren Auskauf zu bewegen. 2. Änderung des WpÜG Auch wenn der Fokus dieses Aufsatzes auf den aktienrechtlichen Vorschriften zum Beherrschungsvertrag liegt, möchte ich einen reformbedürftigen Aspekt des Übernahmerechts in diesem Zusammenhang aufgreifen. Wie aus den oben geschilderten 22 Ebenso Pötzsch in Assmann/Pötzsch/Uwe H. Schneider, WpÜG, 2. Aufl. 2013, Einl. Rz. 79 m.w.N. Ausführliche Bestandsaufnahme in Mülbert/Kiem/Wittig, 10 Jahre WpÜG, 2011.

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Präzedenzfällen ersichtlich, bereitet die Mindestannahmeschwelle in der Praxis den Bietern erhebliche Probleme. Gerade wenn eine Mindestannahmeschwelle von 75 % mit Rücksicht auf den geplanten Beherrschungsvertrag gewählt wird,23 hat die Erfahrung gezeigt, dass es sehr knapp werden kann, insbesondere wenn Hedgefonds sich nach Bekanntgabe der Übernahmeabsicht einkaufen. Das Problem wird verschärft durch das Verhalten der Indexfonds, die sich regelmäßig gehindert sehen, das Angebot in der Annahmefrist anzunehmen, und die weitere Annahmefrist des § 16 Abs. 2 Satz 1 WpÜG abwarten. § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 WpÜG erlaubt dem Bieter zwar, die Mindestannahmeschwelle nach Veröffentlichung des Angebots zu senken oder ganz auf sie zu verzichten, er lässt dies aber nur bis zu einem Werktag vor Ablauf der Annahmefrist zu. De facto muss die Entscheidung hierüber sogar noch früher getroffen werden, weil die Änderung gemäß § 14 Abs. 2 i.V.m. § 14 Abs. 3 Satz 1 WpÜG im Bundesanzeiger bekannt zu machen ist mit der Folge, dass die Vorlaufzeit für die Veröffentlichung hinzukommt. Damit muss die Entscheidung zu einem Zeitpunkt getroffen werden, zu dem der Bieter ein sehr ungenaues Bild über die voraussichtliche Annahmequote hat, da gerade institutionelle Anleger so spät wie möglich die Annahme erklären, um sich ein Höchstmaß an Flexibilität zu erhalten. Deshalb wird in der Literatur zu Recht gefordert, das Gesetz dahingehend zu ändern, dass der Bieter auf die Mindestannahmeschwelle auch nach Ablauf der Annahmefrist verzichten kann.24 Nachteile für die Aktionäre, die das Angebot angenommen haben, ergeben sich da­ raus nicht. Deshalb ist auch fraglich, ob es erforderlich ist, den Aktionären in diesem Fall eine verlängerte Annahmefrist im Sinne von § 21 Abs. 5 WpÜG und ein Rücktrittsrecht nach § 21 Abs. 4 WpÜG einzuräumen.25 Vielmehr steht in diesem Fall die weitere Annahmefrist gemäß § 16 Abs. 2 WpÜG zur Verfügung, sodass eine Verlängerung der ursprünglichen Annahmefrist entbehrlich erscheint. Auch das Rücktrittsrecht ist meines Erachtens entbehrlich, auch wenn es systemkonform erscheint. § 21 Abs. 4 WpÜG ist insgesamt fragwürdig, weil das Gesetz nur eine Änderung von Angebotsbedingungen zu Gunsten der Aktionäre zulässt, die deshalb nicht durch ein Rücktrittsrecht geschützt werden müssen. Bei einem Verzicht auf die Mindestannahmeschwelle nach Ende der Annahmefrist, mit dem der Bieter das Scheitern des vom Aktionär gewollten Vertrags verhindert, passt ein Rücktrittsrecht aber jedenfalls nicht. 3. Änderungen des Aktienrechts Der Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag war schon vor seiner Regelung im Aktiengesetz 1965 unter der Bezeichnung „Organschaftsvertrag“ als Grundlage und Voraussetzung der steuerlichen Organschaft bekannt. Anders als die Regeln zum faktischen Konzern waren die Regeln zum Beherrschungsvertrag im Gesetzgebungsprozess auch kaum umstritten. Deshalb hat sich die Grundkonzeption während den 23 Zu den taktischen Überlegungen hierbei Wirbel in Meyer-Sparenberg/Jäckle, Beck’sches M&A Handbuch, 2017, § 57 Rz. 112 ff. 24 Seiler in Assmann/Pötzsch/Uwe H. Schneider, WpÜG, 2. Aufl. 2013, § 21 Rz. 11; Cascante/ Tyrolt, AG 2012, 97, 100. 25 So aber Seiler, aaO (Fn. 24), § 21 Rz. 11; Cascante/Tyrolt, AG 2012, 97, 102.

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Beratungen vom ursprünglichen Regierungsentwurf bis zur Verabschiedung des Gesetzes auch kaum geändert.26 Nach 1965 erfolgte Änderungen betrafen ganz überwiegend das Verfahren der Hauptversammlung und ihre Vorbereitung (§§ 293a ff. AktG). Mir ist auch bewusst, dass Konzernrechtler sich schwer damit tun werden, den Minderheitenschutz der §§ 304, 305 AktG zu verwässern. Dennoch sollte vor dem Hintergrund der oben geschilderten Probleme überlegt werden, ob gewisse Einschränkungen des Minderheitenschutzes gerechtfertigt und hinnehmbar sind, insbesondere da – wie gezeigt – das bisherige System aktivistische Hedgefonds zur Take-over Arbitrage einlädt und damit eine Reihe unerwünschter Nebeneffekte hat wie den Werttransfer von Aktionären zu Spekulanten und die Verhinderung erwünschter Übernahmen, die im Interesse der Zielgesellschaft und ihrer Aktionäre und sonstigen Stakeholder liegen. –– Der Gedanke des § 39a Abs. 3 Satz 3 WpÜG, wonach der Angebotspreis bei einem übernahmerechtlichen Squeeze Out als angemessene Abfindung gilt, sollte auf den Beherrschungsvertrag übertragen werden. § 39a Abs. 3 Satz 3 WpÜG setzt voraus, dass der Bieter auf Grund des Angebots 90 % des betroffenen Grundkapitals erworben hat. Diese Quote wird bereits für den übernahmerechtlichen Squeeze Out als zu hoch kritisiert.27 Eine Annahme durch die Mehrheit sollte als Richtigkeitsgewähr reichen (unter Berücksichtigung parallel abgeschlossener Kaufverträge und irrevocables zum Angebotspreis). Wem das zu weit geht, sollte zumindest den Angebotspreis an die Stelle des – regelmäßig spekulativ beeinflussten – Börsenkurses in den drei Monaten vor der über den Vertrag beschließenden Hauptversammlung setzen und ein höhere Abfindung nur für den Fall einer diesen Preis übertreffenden Unternehmensbewertung zulassen. Selbstverständlich wäre diese Sonderregel zeitlich zu befristen. –– Bei der Kalkulation des angemessenen Ausgleichs nach § 304 AktG sollte von der Fiktion der Vollausschüttung (vgl. auch § 304 Abs. 2 Satz 1 AktG) abgewichen werden. Eine Ausschüttungsquote, die sich an der bisherigen Dividendenpolitik (ggf. unter Berücksichtigung höherer Ausschüttungsquoten einer peer group) orientiert, ist zum Schutz der Aktionäre ausreichend. –– Dieselbe Überlegung gilt für die Verzinsung des Abfindungsanspruchs gemäß § 305 Abs. 3 Satz 2 AktG. Statt des gerade im derzeitigen Niedrigzinsumfeld unangemessen hohen Zinssatzes von 5 % über dem Basiszinssatz gemäß § 247 BGB sollte ein Marktzins vorgesehen werden. –– Schließlich sollte § 305 Abs. 4 Satz 3 AktG gestrichen werden mit der Folge, dass die Put Option spätestens zwei Monate nach Bekanntmachung der Eintragung im Handelsregister ausgeübt werden muss. Damit würde die über Jahre jederzeit ausübbare Put-Option wegfallen und die Hedgefonds müssten sich entscheiden, ob sie auf den Squeeze Out spekulieren wollen.

26 Kropff in Bayer/Habersack, Aktienrecht im Wandel, Bd. I, 2007, S. 871 m.w.N. 27 Seiler, aaO (Fn. 24), § 39a Rz. 32; Austmann, NZG 2011, 684, 685.

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V. Ausblick Werden die vorgeschlagenen Änderungen ausreichen, um in Zukunft Take-over und Appraisal Arbitrage durch Hedgefonds ganz zu verhindern? Wahrscheinlich nicht. Solche Fonds sind sehr findig, ihr Geschäftsmodell an Gesetzesänderungen und sonstige Änderungen des Umfelds anzupassen. Die Vorschläge würden das Modell aber deutlich weniger attraktiv machen und eine gewisse Waffengleichheit zwischen Unternehmen und aktivistischen Hedgefonds herstellen. Dies läge auch im Interesse der Altaktionäre der Zielgesellschaften. Das derzeitige System erlaubt Spekulation ohne Risiko und ein erhöhtes Risiko würde von den Fonds berücksichtigt und in vielen Fällen ihr Verhalten ändern. Sollte es zu einer solchen Reformdiskussion kommen, werden die Nachfolger des Jubilars damit beschäftigt sein. Ich gehe aber davon aus, dass Ulrich Seibert „sein“ Aktiengesetz weiter beobachten und die rechtspolitische Diskussion begleiten wird.

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10 Jahre UG – ein Geburtstagsgruß Inhaltsübersicht I. Keine leichte Geburt … II. Von Sorgenkind zum Champion III. Die UG – ein Kind mit vielen Talenten … IV. Aber wie alle Kinder auch mit so manchen Problemen … 1. Der ungeliebte Rechtsformzusatz 2. Wenn die UG erwachsen wird … − ­Sacheinlageverbot und Kapitalerhöhung

3. Wenn die UG einmal ein anderes „Rechtskleid“ ausprobieren möchte: die UG im Umwandlungsrecht 4. „Kreativstunde“: die Thesaurierungspflicht V. Nachahmer VI. Ausblick

Am 1. November 2018 konnte die UG, die „kleine Schwester“ der GmbH, bereits ihren 10. Geburtstag feiern! Grund genug, ihr mit einer kleinen tour d’horizon durch ihr bisheriges Leben zum ersten runden Geburtstag zu gratulieren – und damit zugleich auch Ulrich Seibert, dem „Vater des MoMiG“ und Mitschöpfer der UG, einen Geburtstagsgruß zum 65. zu senden.

I. Keine leichte Geburt … Die UG hatte bekanntlich keinen leichten Start ins Leben. Tatsächlich war sie so vielmehr eigentlich gar nicht geplant. Deutschland war mit seiner 1892 geschaffenen und bewährten GmbH eigentlich an sich ganz glücklich. Doch dann kam der EuGH: Mit seinen drei „Hammerschlägen“ in der berühmten Urteilstrias Centros1 −Überseering2 − Inspire Art3 gab er den Startschuss für einen Wettbewerb der Rechtsordnungen, im Rahmen dessen sich immer mehr deutsche Gründer plötzlich anstelle der deutschen GmbH EU-ausländischer Rechtsformen ­bedienten, speziell der englischen Limited, die insbesondere wegen der relativ ein­ fachen Gründung und des Fehlens eines Mindestkapitals attraktiv erschien.4 Die Limited mit Verwaltungssitz in Deutschland erlebte mit rund 46000 Gründung bis

1 EuGH v. 9.3.1999, Centros, C-212/97, ECLI:EU:C:1999:126. 2 EuGH v. 5.11.2002, Überseering, C-208/00, ECLI:EU:C:2002:632. 3 EuGH v. 30.9.2003, Inspire Art, C-167/01, ECLI:EU:C:2003:512. 4 Vgl. Lutter/Bayer/J. Schmidt, Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, 6. Aufl. 2018, 7.69.

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Ende 20005 einen regelrechten Boom. Der deutsche Gesetzgeber geriet damit in Zugzwang: Es musste ein Weg gefunden werden, der Limited die Stirn zu bieten und die deutsche GmbH bzw. die deutschen Rechtsformen allgemein wieder attraktiver zu machen. Doch wie sollte dies geschehen? Sollte man schlicht mit der Limited gleichziehen und das Mindeststammkapital für die GmbH abschaffen oder zumindest signifikant ­absenken? Oder sollte die GmbH ein oder gar mehrere kleine „Brüderchen“ oder „Schwesterchen“6 bekommen? Ende 2004 wurde im BMJ ein Entwurf für ein MiKaTraG7 ausgearbeitet, der eine generelle Absenkung des Stammkapitals der GmbH auf einen Euro sowie eine Verschärfung der Geschäftsführerhaftung für Zahlungen in der Krise vorsah. Er wurde jedoch nie veröffentlicht. Der am 15.4.2005 vorgelegte RefE8 und der am 14.6.2005 folgende RegE9 eines MindestkapG sahen dann „nur“ noch eine Absenkung des Mindeststammkapitals von 25000 Euro auf 10000 Euro vor. Praxis und Schrifttum übten allerdings immense Kritik10 an diesem „Schnellschuss“11 und das Projekt fiel letztlich dem vorzeitigen Ende der Legislaturperiode zum Opfer.12 Der am 29.5.2006 veröffentlichte RefE des MoMiG13 sah dann zwar umfassende Reformen des gesamten GmbH-Rechts vor, aber ebenfalls kein neues „Geschwisterchen“ für die GmbH, sondern – ebenso wie der Entwurf des MindestkapG − nur eine generelle Absenkung des Mindeststammkapitals der GmbH von 25000 auf 10000 Euro. In der Fachöffentlichkeit wurden derweil verschiedenste Varianten für ein neues „Geschwisterchen“ für die GmbH diskutiert: NRW legte im Februar 2006 einen Gesetzes­ 5 Vgl. Westhoff, GmbHR 2007, 474. Eine Erhebung von Bayer/Hoffmann hat zudem gezeigt, dass fast 50 % der befragten GmbH-Gründer die Limited als Alternative zumindest in Erwägung zogen, vgl. Bayer/Hoffmann, GmbHR 2007, 414, 415. 6 Vgl. K. Schmidt, DB 2006, 1096: „Brüderchen und Schwesterchen für die GmbH?“ 7 Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung von Missbräuchen, zur Neuregelung der Kapitalaufbringung und zur Förderung der Transparenz im GmbH-Recht (MiKaTraG) (unveröffentlicht). Dazu Kleindiek, DStR 2005, 1366. 8 Referentenentwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Mindestkapitals der GmbH (MindestkapG) v. 29.4.2005. 9 Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Mindestkapitals der GmbH (MindestkapG), BT-Drucks. 15/5673. 10 DNotV, Stellungnahme v. 17.5.2005 (); Handelsrechtsausschuss des DAV, Stellungnahme 32/2005; Kleindiek, DStR 2005, 1366  ff.; Mellert, BB 2005, 1809  f.; Priester, ZIP 2005, 921  f.; K. Schmidt, DB 2005, 1095 ff.; Vossius/Wachter, BB 2005, 2539 f.; s. ferner auch die ablehnende Stellungnahme des Bundesrates v. 23.9.2005, BR-Drucks. 619/05(B), S. 1: „Aus einer Gesamtreform wird sachwidrig ein Teilbereich herausgegriffen“. 11 Vossius/Wachter, BB 2005, 2539. 12 Vgl. J. Schmidt, Die GmbH in Deutschland und Europa, in Bayer/Koch (Hrsg.), Aktuelles GmbH-Recht, 2013, S. 8, 19; Seibert, ZIP 2006, 1157. 13 Referentenentwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) ().

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10 Jahre UG – ein Geburtstagsgruß

entwurf für eine „Basis-GmbH“ (BmbH) mit maximal fünf natürlichen Personen als Gesellschafter und einem Mindeststammkapital von 2500 Euro vor.14 Bayern hielt im März 2006 mit einen Gesetzesentwurf für einen „Einzelkaufmann mit beschränkter Haftung“ (EKmbH) dagegen.15 Die Grünen regten die Schaffung einer Personengesellschaft mit beschränkter Haftung (PmbH) an.16 Drygala schlug vor, eine Kommanditgesellschaft mit beschränkter Haftung (KmbH) einzuführen.17 Die Notare Vossius und Wachter veröffentlichten einen Entwurf für ein GmbH-Reformgesetz, der den Übergang zu einem System des Garantiekapitals und die Möglichkeit des Rechtsformzusatzes „German Limited“ vorsah.18 Aus Kreisen der CDU/CSU wurde von Bundestagsabgeordneten Gehb die Idee einer Unternehmensgründergesellschaft (UGG) lanciert,19 die später in „Unternehmergesellschaft“ (UG) umgetauft wurde.20 Diese Grundidee setzte sich schließlich – nachdem die gesamte Thematik auch auf dem DJT 2006 diskutiert worden war21 − auch durch. Das erste „Ultraschallbild“ des Neuzugangs bekam die Öffentlichkeit mit dem am 23.5.2007 vorgelegten RegE des MoMiG22 zu sehen. Dieser sah zwar weiterhin eine allgemeine Absenkung des Mindeststammkapitals der GmbH auf 10000 Euro vor, zusätzlich aber auch die Schaffung einer neuen „Unternehmergesellschaft“, die mit einem Mindeststammkapital von nur einem Euro gegründet werden können sollte. Im Gegensatz zum Gehb’schen Vorschlag gestaltetet der RegE die UG allerdings nicht als eigene Rechtsform, sondern als neuen Subtyp der GmbH aus. Damit schaffte er es so zugleich in eleganter Weise, das gesamte „Erbgut“ der UG im Wege eines legislatorischen Kunstgriffs in einen einzigen neuen § 5a GmbHG zu packen, der nur die Besonderheiten der UG im Vergleich zur „regulären“ GmbH regelt. Diese sind: (1) Mindeststammkapital von nur einem Euro, (2) Bezeichnung „Unternehmergesellschaft (haftungs­ beschränkt)“ oder „UG (haftungsbeschränkt“), (3) Volleinzahlungsgebot, (4) Sacheinlageverbot, (5) Pflicht zur Bildung einer gesetzlichen Rücklage, und (6) Pflicht zur 14 Entwurf eines Gesetzes zur Vereinfachung der Gründung einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GVGG) (nicht mehr online zugänglich). Dazu K. Schmidt, DB 2006, 1096 ff. 15 Entwurf eines Gesetzes zur Einführung des Kaufmanns mit beschränkter Haftung (Fassung von 2007 abrufbar unter ). Dazu K. Schmidt, DB 2006, 1096 ff. 16 Vgl. bereits Berninger et al, „Grüne Marktwirtschaft“, 2006, S. 33 f. (); s. ferner BT-Drucks. 16/9795. 17 Drygala, ZIP 2006, 1797 ff. 18 Vossius, GmbHR 2005, R373; Vossius/Wachter, BB 2005, 2539 f. Text abrufbar unter . 19 Gehb/Drange/Heckelmann, NZG 2006, 88 ff. 20 Gehb/Heckelmann, GmbHR 2006, R349. 21 Vgl. Hirte in Verhandlungen des 66. DJT, Band II/1, P 41 f.; Vetter in Verhandlungen des 66.  DJT, Band II/1, P 78  ff. Die wirtschaftsrechtliche Abteilung des 66.  DJT beschloss schließlich, dass die Schaffung neuer Rechtsformen nicht empfohlen werde (I.1.); zudem wurde die Beibehaltung des Mindestkapitals der GmbH empfohlen, zugleich aber eine Reduzierung befürwortet (I.2., I.3.). 22 Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG), BR-Drucks. 354/07 = BT-Drucks. 16/6140.

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Einberufung der Gesellschafterversammlung bei drohender Zahlungsunfähigkeit (statt bei Verlust des hälftigen Stammkapitals wie bei der „regulären“ GmbH). Im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens wurde indes weiterhin heftig darüber gestritten, ob für eine solche „Mini-GmbH“ überhaupt ein Bedarf bestehe. Speziell die FDP verneinte dies vehement.23 Ihr Antrag, § 5a GmbHG-E wieder zu streichen, wurde im Rechtsausschuss jedoch klar abgelehnt.24 Der Rechtsausschuss nahm stattdessen nur noch kleinere Randkorrekturen an §  5a GmbHG vor25 und beschloss zugleich, es für die „normale“ GmbH doch beim Mindeststammkapital von 25000 Euro zu belassen. Denn nachdem mit der UG bereits ein spezielles „Ventil“ für den Druck zur Ermöglichung der Ein-Euro-Gründung geschaffen werden sollte, sah man für eine allgemeine Absenkung des Mindestkapitals  – die in der Wirtschaft erhebliche Befürchtungen um Schäden für das Prestige und die Reputation der „klassischen“ GmbH ausgelöst hatte26 – kein Bedürfnis mehr.27 Und so erblickte die UG schließlich mit Inkrafttreten des MoMiG am 1.11.200828 das Licht der Welt …

II. Von Sorgenkind zum Champion Die Unternehmergesellschaft war zunächst bei vielen ein nicht unbedingt beliebtes Kind. Viele taten sie als Rechtsform für unseriöse Geschäftsmacher ab oder befürchteten eine regelrechte Insolvenzwelle. Entsprechend wurde die Abkürzung „UG“ verbreitet spöttisch als „Unter Gaunern“, „Unter Geiern“ oder als „Unsaubere Geschäfte“ aufgelöst.29 Doch wie aus so manchem unbeliebten Kind entwickelte sich letztlich auch aus der UG doch noch ein Erfolg. Bereits in den ersten 14 Tagen nach Inkrafttreten des MoMiG wurden 77 UG ins Handelsregister eingetragen,30 zum Jahresende 2008 gab es 1.20231 und nach einem Jahr (am 1.11.2009) schon 19563 UG.32 Im Jahr 2014 wurde die 100000er-Marke überschritten33 und zum 1.1.2018 existierten deutschlandweit 133576 UG.34 23 Vgl. Bericht Rechtsausschuss, BT-Drucks. 16/9737, S. 51 f. 24 Vgl. Bericht Rechtsausschuss, BT-Drucks. 16/9737, S. 51 f. 25 „Bezeichnung“ statt „Rechtsformzusatz“ in Abs. 1 und Erweiterung der Verwendungszwecke der Rücklage in Abs. 3. 26 Vgl. Begr. RegE MoMiG BT-Drucks. 16/6140, S. 31; Bericht Rechtsausschuss, BT-Drucks. 16/9737, S. 55. 27 Vgl. Bericht Rechtsausschuss, BT-Drucks. 16/9737, S. 55. 28 Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) v. 23.10.2008, BGBl. I 2008, 2026. 29 Vgl. Jahn, Unter Geiern, FAZ v. 17.3.2009. 30 Vgl. Bayer/Hoffmann, GmbHR 2008, 1302. 31 Vgl. Bayer/Hoffmann, GmbHR 2009, 124. 32 Vgl. Bayer/Hoffmann, GmbHR 2009, R358. 33 Vgl. Bayer/Hoffmann, GmbHR 2014, R359. 34 Vgl. Kornblum, GmbHR 2018, 669, 670.

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Entgegen aller Unkenrufe hat sich die UG somit keineswegs als „Ladenhüter“ erwiesen, sondern als echter „Blockbuster“.35 Die befürchtete „Insolvenzwelle“ hat sich – trotz der insgesamt höheren Insolvenzanfälligkeit der UG im Vergleich zur „regulären“ GmbH – ebenfalls nicht realisiert.36 Ihre Erzkonkurrentin, die englische Limited mit Verwaltungssitz in Deutschland, hatte die UG übrigens bereits 2009 „überholt“: Zum 1.10.2010 gab es bereits 23369 UG gegenüber 17551 Limited mit Verwaltungssitz in Deutschland37 und zum 1.10.2018 liegt das Verhältnis sogar bei 133576 UG zu 7.406 Limited mit Verwaltungssitz in Deutschland.38 Also: „mission accomplished“!

III. Die UG – ein Kind mit vielen Talenten … Die UG ist indes keineswegs nur ein Vehikel für Existenzgründer: Sie ist zwar vom Gesetzgeber als „Einstiegsmodell“ intendiert, das irgendwann durch Erhöhung des Stammkapitals auf einen Betrag von mindestens 25000 Euro zu einer „regulären“ GmbH upgraded werden soll.39 Es besteht jedoch keine irgendwie geartete „Umwandlungspflicht“ – die UG darf also auch „Dauerlösung“ sein.40 Rechtstatsächliche Untersuchungen zeigen, dass der gesetzgeberisch intendierte „Lebensentwurf “ zwar von einigen, aber längst nicht von allen UG so akzeptiert und praktiziert wird: Es gibt einerseits UG, die bereits nach wenigen Tagen oder Wochen „erwachsen“ werden (also ein Upgrade zur GmbH durchführen), während andere „ein Leben lang“ UG bleiben.41 Die UG kann als Ein- oder Mehrpersonengesellschaft gegründet werden, durch Individualvertrag oder – soweit dessen Voraussetzungen vorliegen – mittels Musterprotokolls (§ 2 Abs. 1a GmbHG).42 Zulässig ist auch – unter denselben Voraussetzungen wie bei der „regulären“ GmbH − die Vorratsgründung;43 sie ist in der Praxis offenbar auch durchaus beliebt.44

35 Vgl. bereits Bayer/Hoffmann, GmbHR 2010, R369, R370. 36 Vgl. J. Schmidt in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3.  Aufl. 2017, Syst. Dar. 1 Rz. 116 m.w.N. 37 Vgl. Kornblum, GmbHR 2010, R53. 38 Vgl. Kornblum, GmbHR 2018, 669, 670. 39 Vgl. Begr. RegE MoMiG, BT-Drucks. 16/1640, S. 32; J. Schmidt in Michalski/Heidinger/ Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 5a Rz. 37. 40 Vgl. J. Schmidt in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3.  Aufl. 2017, §  5a Rz. 37 m.w.N. 41 Vgl. Bayer/Hoffmann, GmbHR 2009, R118 f.; dies., GmbHR 2013, R358; Bayer/Hoffmann/ Lieder, GmbHR 2010, 9, 12; Lieder/Hoffmann, GmbHR 2011, 561 ff. 42 Vgl. Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 5a Rz. 14; J. Schmidt in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 5a Rz. 43 (jeweils m.w.N.). 43 Vgl. Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 5a Rz. 15; J. Schmidt in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 5a Rz. 43 (jeweils m.w.N.). 44 Vgl. Bayer/Hoffmann, GmbHR 2011, R321.

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Als Subtyp der GmbH ist im Übrigen auch die UG ein „Allroundtalent“: Sie kann grundsätzlich zu jedem gesetzlich zulässigen Zweck gegründet werden (vgl. § 1 GmbHG). Die UG wird ebenso vom kleinen Handwerksbetrieb45 oder Dorflädchen46 genutzt wie als „Baustein“ eines Großkonzerns47 oder sogar als Holdinggesellschaft48 oder Family Office.49 Sie ist in allen Branchen vertreten, vom Taschengeschäft50 zum Taxiunternehmen,51 von der Kindertagesstätte52 über das Musikfest53 zum Erotikmarkt.54 Es gibt einerseits zahlreiche gemeinnützige UG,55 andererseits aber auch einige kapitalmarktorientierte UG.56 Die UG kann WEG-Verwalterin sein57 oder Komplementärin einer KG58 oder KGaA.59

IV. Aber wie alle Kinder auch mit so manchen Problemen … Wie bei jeder neuen Rechtsform(variante) gab (und gibt es teilweise immer noch) auch bei der UG so manche „Kinderkrankheiten“ in Form ungeklärter Rechtsfragen.

45 Beispiele: A & R Handwerkerteam UG (haftungsbeschränkt), AG Neuruppin, HRB 11884; Müller Sanitär- und Heizungstechnik UG (haftungsbeschränkt), AG Friedberg, HRB 8290. 46 Beispiel: „Dorfladen“ in Wiesenfeld UG (haftungsbeschränkt), AG Würzburg HRB 12820. 47 Beispiel: MileBox UG (haftungsbeschränkt), AG München HRB 212371 (ein „Konzernbaustein“ der Allianz-Gruppe) . Zur UG im Vertragskonzern: Bayer/Hoffmann GmbHR 2010, R311. 48 Beispiele: MCBBB Holding Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt), AG München HRB 200987; Circle Technologies Holding UG (haftungsbeschränkt), AG Regensburg HRB 15599. 49 Beispiel: Family Fund Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt), AG München HRB 180374. 50 Beispiel: mainstore Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt), AG Bayreuth HRB 6712. 51 Beispiel: Taxi Frank UG (haftungsbeschränkt), AG Hamm HRB 7545. 52 Beispiel: Kindertagesstätte Klingsorstraße 19 UG (haftungsbeschränkt), AG Berlin-Charlottenburg HRB 142977 B. 53 Beispiel: Musikfest Erzgebirge Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt), AG Dresden HRB 28294. 54 Beispiel: MCM eroticmarkt online Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt), AG Bayreuth HRB 4970. 55 Zur Zulässigkeit: Vgl. J. Schmidt in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3.  Aufl. 2017, §  5a Rz.  55 m.w.N.; zur rechtstatsächlichen Nutzung: Bayer/Hoffmann, ­GmbHR 2009, R102 f.; dies., GmbHR 2012, R322; Bayer/Hoffmann/Lieder, GmbHR 2010, 9, 11. 56 Dazu Bayer/Hoffmann, GmbHR 2018, R80 ff. 57 Vgl. BGH v. 22.6.2012 – V ZR 190/11, NZG 2012, 1059; Lutz, BWNotZ 2013, 58; J. Schmidt in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 5a Rz. 56 m.w.N. 58 Vgl. Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, 21.  Aufl. 2017, §  5a Rz.  36; J. Schmidt in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 5a Rz. 51 m.w.N. 59 Vgl. Kharag, KSzW 2013, 83, 90; J. Schmidt in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, ­GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 5a Rz. 51.

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1. Der ungeliebte Rechtsformzusatz So wie viele Kinder mit ihrem Vornamen nicht unbedingt glücklich sind und manche Vornamen gar negative Konnotationen mit sich bringen (Stichwort: „Kevinismus“), war auch die Wahl des sperrigen Rechtsformzusatzes „Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt)“ bzw. „UG (haftungsbeschränkt)“ nicht unbedingt ein Glücksgriff.60 Welch negative Bedeutungen so mancher dem Kürzel UG entlockte, wurde ja bereits oben angemerkt. Kein Wunder also, dass so manche Unternehmensgründer den ungeliebten „Spitznamen“ schlicht ignorierten und entweder komplett oder zumindest das „haftungsbeschränkt“ wegließen. Die Rechtsprechung61 reagierte insoweit im Einklang mit der h.L.62 im Interesse des Gläubigerschutzes zu Recht streng: Wird der durch § 5a Abs. 1 GmbHG vorgeschriebene Zusatz weggelassen,63 so haftet der Handelnde analog § 179 BGB, weil er durch das Zeichnen der Firma ohne zutreffenden Rechtsformzusatz das berechtigte Vertrauen des Geschäftsgegners auf die Haftung mindestens einer natürlichen Person hervorgerufen hat. Andere UG „spielten“ gleich „erwachsen“ und bezeichneten sich als „GmbH“. In solchen Fällen lehnt ein Teil der Lehre eine Rechtsscheinhaftung ab, weil hier jedenfalls klar sei, dass eine Haftungsbeschränkung besteht und der Gläubiger bei Vertragsschluss nicht darauf vertrauen könne, einen Haftungsfonds i.H.v. 25 000 Euro vorzufinden;64 in Betracht komme allenfalls eine Haftung aus c. i. c.65 Andere plädieren für eine Rechtsscheinhaftung in Form einer (beschränkten) Innenhaftung auf der Basis von § 242 BGB.66 BGH67 und h.L.68 bejahen indes auch hier überzeugend eine Rechtsscheinhaftung in Form einer Außenhaftung analog § 179 BGB; denn wenngleich der 60 Vgl. Gasteyer, NZG 2009, 1364, 1366; Gehrlein, Der Konzern 2007, 771, 780; Römermann, GmbHR 2008, R241 („Wortungetüm“); J. Schmidt (2008) 9 GLJ 1093, 1096  f.; J. Schmidt in  Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3.  Aufl. 2017, §  5a Rz.  4; Wachter, ­GmbHR-Sonderheft 2008, 25, 35; Wicke, GmbHG, 3. Aufl. 2016, § 5a Rz 6. 61 BGH v. 12.6.2012 – II ZR 256/12, NZG 2012, 989 Rz 12. 62 Vgl. Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl. 2017, § 5a Rz. 9; Kleindiek in Lutter/ Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 5a Rz. 57; J. Schmidt in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 5a Rz. 6 m.w.N. 63 Das gilt richtiger Ansicht nach auch dann, wenn nur das „haftungsbeschränkt“ weggelassen wird, vgl. Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19.  Aufl. 2016, §  5a Rz.  57; J.  Schmidt in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3.  Aufl. 2017, §  5a Rz.  6 m.w.N. 64 Vgl. Gehrlein, Der Konzern 2007, 771, 780; Kharag, KSzW 2013, 83, 88; Kleindiek in Lutter/ Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 5a Rz. 59; Paura in Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, 2. Aufl. 2013, § 5a Rz. 31; Römermann, NJW 2010, 905, 907; ders., GmbHR 2012, 953, 956 ff. 65 Vgl. Altmeppen, NJW 2012, 2833 ff.; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 5a Rz. 59; Paura in Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, 2. Aufl. 2013, § 5a Rz. 31; H. P. Westermann in Scholz, GmbHG, 12. Aufl. 2018, § 5a Rz 14. 66 Vgl. Lieder in FS 25 Jahre DNotI, 2018, S. 503, 523 ff. Für eine Innenhaftung auch Schirr­ macher, GmbHR 2018, 942, 946 ff. 67 BGH v. 12.6.2012 – II ZR 256/12, NZG 2012, 989. 68 Vgl. Beck/Schaub, GmbHR 2012, 1331 ff.; Miras, NJW 2015, 1430, 1431; Schäfer in Henssler/Strohn, GesR, 4.  Aufl. 2019, §  5a GmbHG Rz.  15; Seebach, RNotZ 2013, 261, 277;

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Gläubiger bei einer regulären GmbH nicht darauf vertrauen darf, dass ein Haftungsfonds i.H.v. 25 000 Euro besteht, so doch darauf, dass ein solcher zumindest einmal bestand.69 Die niedrigere Kapitalgrundlage der UG begründet eine entsprechend niedrigere Soliditätsgewähr; gerade hierauf soll durch den speziellen Rechtsformzusatz für die UG hingewiesen werden.70 Der unzutreffende Rechtsschein beschränkt sich im Falle der Verwendung des Rechtsformzusatzes „GmbH“ aber andererseits auch gerade auf die Differenz zwischen dem konkreten Stammkapital der UG und dem Mindeststammkapital einer regulären GmbH i.H.v. 25 000 Euro; daher ist die Rechtsscheinhaftung analog § 179 BGB in diesem Fall richtiger Ansicht nach nicht unbeschränkt,71 sondern auf diese Differenz begrenzt.72 2. Wenn die UG erwachsen wird … − Sacheinlageverbot und Kapitalerhöhung Wenn eine UG nicht „erwachsen spielen“, sondern tatsächlich „erwachsen werden“, d.h. eine „richtige“ GmbH werden will, muss sie ihr Stammkapital auf mindestens 25000 Euro erhöhen.73 Vor diesem Hintergrund entbrannte ein heftiger Streit, ob das in § 5a Abs. 2 Satz 2 GmbHG verankerte Sacheinlageverbot auch für Kapitalerhöhungen gilt. Obgleich vereinzelt vertreten wurde, dass das Sacheinlageverbot ausschließlich auf die Gründung beschränkt sei,74 war man sich von Anfang an weitgehend einig, dass es auch für Kapitalerhöhungen gilt. Höchst umstritten war indes, ob es erst dann endet, wenn die UG bereits zur „regulären“ GmbH geworden ist75 oder ob es schon dann entfällt, wenn die Mindestkapitalgrenze von 25000 Euro durch die fragliche Kapitalerhöhung erreicht wird.76 Der BGH hat sich mit einem überzeugenden

J.  Schmidt in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3.  Aufl. 2017, §  5a Rz.  7 m.w.N. 69 Vgl. BGH v. 12.6.2012 – II ZR 256/12, NZG 2012, 989 Rz. 19; J. Schmidt in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 5a Rz. 7. 70 Vgl. BGH v. 12.6.2012 – II ZR 256/12, NZG 2012, 989 Rz. 19; J. Schmidt in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 5a Rz. 7. 71 So etwa Lind, LMK 2012, 339268. 72 Vgl. Beck/Schaub, GmbHR 2012, 1331, 1335; Rieder in MünchKomm. GmbHG, 3.  Aufl. 2018, § 5a Rz. 16; Schäfer in Henssler/Strohn, GesR, 4. Aufl. 2019, § 5a GmbHG Rz. 15; J.  Schmidt in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3.  Aufl. 2017, §  5a Rz.  7 m.w.N.; offenlassend BGH v. 12.6.2012 – II ZR 256/12, NZG 2012, 989 Rz. 26. Für eine entsprechende Begrenzung (wenngleich mit anderem dogmatischen Konzept) i.E. auch Lieder in FS 25 Jahre DNotI, 2018, S. 503, 523 ff. 73 Näher zu Voraussetzungen und Rechtsfolgen des „Upgrade“ zur GmbH: J. Schmidt in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 5a Rz. 36 ff. m.w.N. 74 Vgl. Hennrichs, NZG 2009, 1161, 1162  f.; Spies, Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt), 2010, S. 159 f. 75 So etwa OLG München v. 23.9.2010 – 31 Wx 149/10, NZG 2010, 1303; OLG Hamburg v. 12.11.2010 – 11 W 78/10, BeckRS 2011, 13174; Bayer/Hoffmann/Lieder, GmbHR 2010, 9, 12; Heckschen, DStR 2009, 166, 171; Seibert, GmbHR 2007, 673, 676. 76 So etwa Gasteyer, NZG 2009, 1364, 1367; Klose, GmbHR 2009, 294, 295  f.; Lieder/Hoffmann, GmbHR 2011, 561, 565 f.; Priester, ZIP 2010, 2182, 2184; Schäfer, ZIP 2011, 53, 56; Seebach, RNotZ 2013, 261, 277.

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Grundsatzurteil v. 19.4.2011 der letztgenannten Auffassung angeschlossen.77 Sinn und Zweck der § 5a Abs. 2 Satz 2, Abs. 5 GmbHG sprechen in der Tat entscheidend dafür, dass das Sacheinlageverbot keine Anwendung mehr findet, wenn durch die Kapitalerhöhung die Mindeststammkapitalgrenze von 25 000 Euro erreicht wird; das Sacheinlageverbot auch dann noch anzuwenden, würde die UG in einer den Zielen der Neuregelung widersprechenden Weise benachteiligen.78 Es bestehen auch keine sachlichen Gründe dafür, der UG das „Erwachsenwerden“ zu erschweren: Der Aspekt der Verfahrensvereinfachung greift beim Übergang in die „reguläre“ GmbH nicht mehr79 und da die Sonderregeln für die UG nicht bereits mit der Beschlussfassung, sondern erst mit der Eintragung der Kapitalerhöhung ins Handelsregister entfallen, besteht auch nicht die Gefahr eines Missbrauchs solcher Kapitalerhöhungen,80 um sich der Sonderregeln für die UG zu „entledigen“.81 3. Wenn die UG einmal ein anderes „Rechtskleid“ ausprobieren möchte: die UG im Umwandlungsrecht So wie Kinder gern „Verkleiden“ spielen, besteht auch bei UG häufig der Wunsch einmal in ein anderes „Rechtskleid“ zu schlüpfen und bei anderen Rechtsformen, einmal das „Rechtskleid“ der UG auszuprobieren. Aber darf die UG bei solchen Umwandlungen überhaupt „mitspielen“? Oder steht dem nicht vielleicht das Sacheinlageverbot des § 5a Abs. 2 Satz 2 GmbHG entgegen? In der Literatur wird zwar teilweise behauptet, dass dieses für Umwandlungen nicht gelte.82 Der BGH hat dies jedoch überzeugend zurückgewiesen:83 Weder aus dem Wortlaut des § 5a Abs. 2 Satz 2 GmbHG noch aus den Gesetzesmaterialien ergibt sich irgendein Anhaltspunkt dafür, dass das Sacheinlageverbot für Umwandlungen nicht gelten solle;84 das Telos – die Beschleunigung und Vereinfachung der Gründung sowie der Gläubigerschutz – streiten vielmehr maßgeblich für eine Anwendung auch im Falle der Gründung durch Umwandlung.85, 86 77 BGH v. 19.4.2011 – II ZB 25/10, NZG 2011, 664. 78 Vgl. BGH v. 19.4.2011 – II ZB 25/10, NZG 2011, 664 Rz. 18 m.w.N. 79 Vgl. BGH v. 19.4.2011 – II ZB 25/10, NZG 2011, 664 Rz. 21; J. Schmidt in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 5a Rz. 12. 80 Davor warnend (allerdings abstellend auf den Zeitpunkt der Beschlussfassung) jedoch OLG Hamburg v. 12.11.2010 – 11 W 78/10, BeckRS 13174; OLG München v. 23.9.2010 – 31 Wx 149/10, NZG 2011, 1303, 1305; Klose, GmbHR 2009, 294, 297. 81 Vgl. BGH v. 19.4.2011 – II ZB 25/10, NZG 2011, 664 Rz. 20; J. Schmidt in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 5a Rz. 12. 82 So etwa H. Röhricht, Die Anwendung der gesellschaftsrechtlichen Gründungsvorschriften bei Umwandlungen, 2009, S. 95 ff.; Gasteyer, NZG 2009, 1364, 1369; Hennrichs, NZG 2009, 1161, 1163 f. 83 BGH v. 11.4.2011 – II ZB 9/10, NZG 2011, 666 Rz. 14 ff. 84 Vgl. BGH v. 11.4.2011 – II ZB 9/10, NZG 2011, 666 Rz. 14 f. 85 Vgl. BGH v. 11.4.2011 – II ZB 9/10, NZG 2011, 666 Rz. 16. 86 Vgl. zur Geltung des Sacheinlageverbots für die Entstehung durch Umwandlung auch: Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl. 2017, § 5a Rz. 17; J. Schmidt in Michalski/ Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 5a Rz. 46 m.w.N.

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Konsequenz ist, dass die Neugründung einer UG durch Verschmelzung87 oder Spaltung88 sowie ein Formwechsel in die UG89 nicht möglich sind; denn die Neugründung bzw. der Formwechsel sind nach der gesetzlichen Konzeption zwingend Sachgründungen.90 Die Beteiligung einer UG als aufnehmender Rechtsträger an einer Verschmelzung oder Spaltung lässt das Sacheinlageverbot des § 5a Abs. 2 Satz 2 GmbHG nur zu, wenn entweder keine Kapitalerhöhung stattfindet oder durch die Über­ tragung (ggf. i.V.m. einer weiteren Kapitalerhöhung) die Mindestkapitalgrenze von 25000 Euro für die „reguläre“ GmbH überschritten wird.91 Uneingeschränkt zulässig ist hingegen die Beteiligung einer UG als übertragender Rechtsträger, denn hier erfolgt ja keine Sacheinlage in die UG.92 4. „Kreativstunde“: die Thesaurierungspflicht Kinder brauchen Kreativität: Reichlich Spielraum dafür bietet bei der UG die Thesaurierungspflicht gemäß § 5a Abs. 3 GmbHG. Da die Pflicht zur Rücklagenbildung nur besteht, wenn überhaupt ein Jahresüberschuss erzielt wird, eröffnen sich hierdurch einerseits vielfältige Gestaltungsoptionen, andererseits aber auch Missbrauchspotential.93 Äußerst kontrovers diskutiert wird in diesem Kontext insbesondere, ob und inwieweit es zulässig ist, die Thesaurierungspflicht durch verdeckte Gewinnausschüttungen zu „umschiffen“; in Betracht kommen insoweit z.B. eine überhöhte Geschäftsführervergütung, die Veräußerung von Betriebsvermögen unter Wert oder unangemessen hohe Entgelte für sonstige Leistungen. Es gibt Stimmen im Schrifttum, die der Kreativität der Beteiligten hier völlig freie Bahn lassen wollen.94 Dies hätte jedoch zur Konsequenz, dass die Thesaurierungspflicht de facto zu einem reinen „Papiertiger“ degradiert würde.95 Die (wohl) 87 Vgl. Drygala in Lutter, UmwG, 5.  Aufl. 2014, §  3 Rz.  12; Fastrich in Baumbach/Hueck, ­GmbHG, 21. Aufl. 2017, § 5a Rz. 17; J. Schmidt in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 5a Rz. 47 m.w.N. 88 Vgl. BGH v. 11.4.2011 – II ZB 9/10, NZG 2011, 666; Rieder in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 5a Rz. 51; J. Schmidt in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 5a Rz. 47 m.w.N. 89 Vgl. Joost in Lutter, UmwG, 5. Aufl. 2014, § 214 Rz. 12; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 5a Rz. 15; J. Schmidt in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 5a Rz. 47 m.w.N. 90 Vgl. BGH v. 11.4.2011 – II ZB 9/10, NZG 2012, 666 Rz. 12; J. Schmidt in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 5a Rz. 47. 91 Vgl. Drygala in Lutter, UmwG, 5. Aufl. 2014, § 3 Rz. 13; J. Schmidt in Michalski/Heidinger/ Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 5a Rz. 48 m.w.N. 92 Vgl. Rieder in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 5a Rz. 50; J. Schmidt in Michalski/ Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 5a Rz. 49 m.w.N. 93 Vgl. J. Schmidt in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3.  Aufl. 2017, §  5a Rz. 26. 94 So etwa Kharag, KSzW 2013, 83, 89; Römermann, NZI 2008, 641, 643 f.; ders., NJW 2010, 905, 908; Römermann/Passarge, ZIP 2009, 1497, 1502. 95 Vgl. Müller, ZGR 2012, 81, 98; Rieder in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 5a Rz. 33; J. Schmidt in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 5a Rz. 30.

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h.M. qualifiziert verdeckte Gewinnausschüttungen daher mit gutem Grund als Verstoß gegen §  5a Abs.  3 GmbHG mit der Folge einer Rückerstattungspflicht analog §§ 30, 31 GmbHG (zurückzuerstatten sind jedoch nur diejenigen Zuwendungen, die zur Bedienung der – zutreffend ermittelten – Rücklage erforderlich sind).96 Entscheidend ist folglich, ob die vertragliche Gestaltung einem Drittvergleich standhält.97 Umgekehrt wird aber auch diskutiert, inwiefern die Thesaurierungspflicht den Spielraum für „kreative“ Einsatzmöglichkeiten der UG ggf. beschränkt. Dies betrifft zum einen die Frage des Abschlusses eines Gewinnabführungsvertrags analog § 291 Abs. 1 Satz 1 AktG. Entgegen manchen Stimmen im Schrifttum, die wegen der Thesaurierungspflicht nur einen Teilgewinnabführungsvertrag zu ¾ zulassen wollen,98 ist ein solcher uneingeschränkt zulässig; denn ein hinreichender Schutz ist bereits dadurch gewährleistet, dass analog §§ 300 Nr. 1, 2, 301 AktG nur der nach Dotierung der gesetzlichen Rücklage (§ 5a Abs. 3 GmbHG) verbleibende Jahresüberschuss der Gewinnabführung unterliegt.99 Problematisiert wird in diesem Kontext zum anderen die Frage, inwieweit die The­ saurierungspflicht möglicherweise die Komplementärfähigkeit der UG eingeschränkt. So wird etwa vertreten, dass die UG nur dann Komplementärin sein dürfe, wenn ihr im Gesellschaftsvertrag der KG eine angemessene Gewinnbeteiligung zugewiesen wird100 oder sie zumindest eine pauschale Vergütung erhält.101 Teilweise wird auch eine gleichmäßige Dotierung der gesetzlichen Rücklage analog § 300 Nr. 1 AktG für 10  Jahre gefordert.102 Wieder andere plädieren für eine analoge Anwendung des § 5a Abs. 3 in der KG.103 Für derartige Einschränkungen ergeben sich jedoch weder aus Wortlaut und Systematik des Gesetzes noch aus den Materialien irgendwelche An-

96 Vgl. Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, 19. Aufl. 2016, § 5a Rz. 42 f.; Müller, ZGR 2012, 81, 97 ff.; Rieder in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 5a Rz. 30; Schäfer, ZIP 2011, 53, 58; J. Schmidt in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3.  Aufl. 2017, §  5a Rz. 30 m.w.N. 97 Vgl. Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, 19. Aufl. 2016, § 5a Rz. 43; Müller, ZGR 2012, 81, 100 f.; J. Schmidt in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 5a Rz. 30 m.w.N. 98 So etwa Hangebrauck, JR 2010, 323, 326; Kharag, KSzW 2013, 83, 90; Schreiber, DZWiR 2009, 492, 499; Veil, ZGR 2009, 623, 642. 99 Vgl. Bayer/Hoffmann, GmbHR 2010, R311; Hirte, ZInsO 2008, 933, 935; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, 19. Aufl. 2016, § 5a Rz. 41; Rubel, GmbHR 2010, 470 ff.; J. Schmidt in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 5a Rz. 28 m.w.N. 100 Vgl. Gehrlein, Der Konzern 2007, 771, 779; Priester in FS G. Roth, 2011, S. 573, 584; Schreiber, DZWiR 2009, 492, 498; Tamm, MDR 2010, 1027, 1028; Wachter, GmbHR-Sonderheft 2008, 25, 33; Weber, BB 2009, 842, 847. 101 Vgl. Schäfer in Henssler/Strohn, GesR, 4.  Aufl. 2019, §  5a GmbHG Rz.  8; Schäfer, ZIP 2011, 53, 59. 102 Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl. 2017, § 5a Rz. 36; Fastrich in VGR 16 (2010), 119, 145 f. 103 Sawada, Der Gläubigerschutz in der UG (haftungsbeschränkt) & Co. KG, 2012, S. 256 ff., 271 f.

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haltspunkte.104 Für eine analoge Anwendung des §  300 Nr.  1 AktG fehlt es zudem schon an der erforderlichen vergleichbaren Interessenlage.105 Nicht tragfähig ist im Übrigen insbesondere auch das Argument, dass die Verwendung der UG als Komplementärin der gesetzgeberischen Konzeption der UG als „Einstiegsmodell“ widerspräche; denn der deutsche Gesetzgeber hat ja gerade – anders als manche andere Rechtsordnungen106 − keine zeitliche Begrenzung oder „Upgrade-Pflicht“ vorgesehen, sondern bewusst akzeptiert, dass die UG als „Dauerlösung“ bestehen kann107.108 Die UG ist nach alledem grundsätzlich uneingeschränkt komplementärfähig.109 Die Schwelle zum Missbrauch wird – wie dargestellt − erst dann überschritten, wenn die Thesaurierungspflicht durch verdeckte Gewinnausschüttungen ausgehebelt wird.110 In der Praxis erfreut sich die UG & Co. KG übrigens großer Beliebtheit: Zum 1.1.2018 gab es mehr als 10000.111

V. Nachahmer Als man im Ausland sah, wie glücklich Deutschland – trotz mancher Probleme – mit seinem jüngsten „Nachwuchs“ UG war, dauerte es nicht lange, bis die ersten Nachahmer kamen. In Belgien wurde 2010 als neue Variante der société privée à responsabilité limitée (SPRL) eine spezielle „SPRL-S“ (Starter) eingeführt, für die  – ähnlich wie für die deutsche UG – bereits ein Stammkapital von einem Euro genügt, die dafür aber bestimmten Restriktionen unterliegt.112 Dazu gehörten ursprünglich: die Erstellung des 104 Vgl. Miras in BeckOK-GmbHG, 37. Ed. (1.11.2018), § 5a Rz. 98b; Müller, ZGR 2012, 81, 104; J. Schmidt in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 5a Rz. 53. 105 Näher Müller, ZGR 2012, 81, 105; Stenzel, NZG 2009, 168, 171; vgl. außerdem Paura in Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, 2.  Aufl. 2013, §  5a Rz.  73; J. Schmidt in Michalski/ Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 5a Rz. 53. 106 Dazu noch unten V. 107 Vgl. dazu bereits III. 108 Vgl. Müller, ZGR 2012, 81, 104  f.; J. Schmidt in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 5a Rz. 53. 109 Vgl. Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, 19.  Aufl. 2016, §  5a Rz.  40; Miras in BeckOK-­ GmbHG, 37. Ed. (1.11.2018), § 5a Rz. 98b; Müller, ZGR 2012, 81, 104; Paura in Ulmer/ Habersack/Löbbe,GmbHG, 2. Aufl. 2013, § 5a Rz. 72 ff.; J. Schmidt in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 5a Rz. 53 m.w.N. 110 Vgl. J. Schmidt in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3.  Aufl. 2017, §  5a Rz. 54. 111 Vgl. Kornblum, GmbHR 2018, 669, 670. 112 Loi modifiant le Code des sociétés et prévoyant des modalités de la société privée à ­responsabilité limitée „Starter“ v. 12.1.2010 (Moniteur Belge v. 26.1.2010, S. 3158). Dazu Nicaise in Liber Amicorum Taymans, 2013, S. 271 ff.; Bartolacelli, ECFR 2017, 187, 206 ff.; Fleischer, ZGR 2016, 36, 68 f., 71; ders., DB 2017, 291, 293 f.; Navez/Coipel, R.D.C. 2010, 299 ff.; J. Schmidt (Fn. 12), S. 8, 29; J. Schmidt in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, Syst. Dar. 1 Rz. 118. In der Gesetzesbegründung werden als Motive für die Schaffung dieser neuen Form speziell das Ziel der Erleichterung der Gesellschaftsgründung für (junge) Unternehmer genannt sowie die Absicht, der Praxis der Nut-

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Finanzplans durch einen „Experten“, eine Thesaurierungspflicht, die Unzulässigkeit einer Kapitalherabsetzung, die Beschränkung der Gesellschafter auf natürliche Personen, eine persönliche Haftung der Gesellschafter für die Differenz zwischen dem Kapital der SPRL-S und dem regulären Mindestkapital für eine SPRL i.H.v. 18550 Euro nach Ablauf des dritten Jahres nach Gründung, eine maximale Anzahl von fünf Arbeitnehmern sowie eine zeitliche Begrenzung auf fünf Jahre.113 Aufgrund dieser doch recht einschneidenden Restriktionen fand die SPRL-S indes – anders als die UG – in der Praxis keinen rechten Anklang.114 Der 2014 unternommene Versuch, die SPRL-S durch Aufhebung der beiden letztgenannten Beschränkungen attraktiver zu machen,115 war ebenfalls wenig erfolgreich.116 Der derzeit in der Beratung befindliche Entwurf für eine umfassende Reform des belgischen Gesellschaftsrechts117 sieht nun vor, die Zahl der Rechtsformen insgesamt deutlich zu reduzieren und in diesem Kontext insbesondere die SPRL-S komplett abzuschaffen; stattdessen soll es künftig für die société à responsabilité limitée (nun abgekürzt: SRL) generell kein Mindestkapital­ erfordernis mehr geben. Italien hat 2012 zwei neue Subtypen der società a responsabilità limitata (Srl) eingeführt, die Srl semplificata (vereinfachte GmbH, Art. 2463bis ff. Codice civile)118 und die Srl a capitale ridotto (Srl mit reduziertem Kapital).119 Für beide genügte ein Stammkapital von einem Euro (bis max. 10000 Euro); nur bei Srl Semplificata kann (und muss) jedoch mittels eines kostengünstigen Musterprotokolls gegründet werden. 2013 wurde die Srl a capitale ridotto dann jedoch in die Mutterrechtsform der regulären Srl eingegliedert und es ist nun möglich, eine normale Srl mit einem Kapital von weniger als 10000 Euro zu gründen.120, 121 In der Praxis sind diese beiden neuen Varianten einer Srl offenbar sehr beliebt.122 zung ausländischer Rechtsformen durch belgische Unternehmer entgegen zu treten, vgl. Chambre des représentants de Belgique, Projet de loi modifiant le Code des sociétés et prévoyant les modalités de la société privée à responsabilité limitée Starter, 20.10.2009, Doc. 52-2211/1 (), S. 3 f. 113 Dazu näher Bartolacelli, ECFR 2017, 187, 206 ff.; Navez/Coipel, R.D.C. 2010, 299, 305 ff.; Nicaise in Liber Amicorum Taymans, 2013, S. 271 ff. 114 Vgl. Vanschoubroek, Starters-bvba is een flop, De Standaard, 19.7.2010 (). 115 Loi portant dispositions diverses en matière de P.M.E. v. 15.1.2014 (Moniteur Belge v. 3.2.2014, S. 9106). Vgl. dazu auch Bartolacelli, ECFR 2017, 187, 206 ff. 116 Vgl. Habets, Concurrence et arbitrage normatifs en droit européen des sociétés? Perspectives d’attractivité de la Belgique, 2018 (), S. 54 f.; Van den Broele, Les SPRL-Starters ne décollent pas, 12.1.2016 (). 117 Projet de Loi introduisant le Code des sociétés et des associations et portant des dispo­ sitions diverses, 4.6.2018, Doc 54 3119/(2017/2018). Dazu Rue BSJ 2018, nr. 611, 11. 118 Eingefügt durch art. 3 d.l. 1/2012. 119 Eingefügt durch Decreto 23 giugno 2012 n. 138. 120 Änderungen durch d.l. 76/2013. 121 Näher zum Ganzen: Bartolacelli, ECFR 2016, 665 ff.; Cian, ZVglRWiss 114 (2015), 288 ff.; Fleischer, DB 2017, 291, 294 f.; Knaier, GmbHR 2018, 1181, 1186. 122 Vgl. Fleischer, DB 2017, 291, 295.

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Dänemark hat 2013 als neue Variante der Anpartsselskab (ApS) eine sog. Iværksætterselskaber (IVS) eingeführt, die sehr eng an das Vorbild der deutschen UG angelehnt ist.123 Für die IVS genügt bereits ein Mindestkapital von einer dänischen Krone ( 0,13 Euro), wie bei der UG gilt ein Volleinzahlungsgebot und ein Sacheinlageverbot und es gibt eine (allerdings etwas anders ausgestaltete) Thesaurierungspflicht. In der Praxis stieß die IVS sofort auf großes Interesse: 2016 gab es bereits 12000.124 Luxemburg hat im Zuge der grundlegenden Gesellschaftsrechtsreform 2016 nach deutschem und belgischem Vorbild eine „S.à.r.l.-S“ (société à responsabilité limitée simplifiée) eingeführt,125 die heute in Art. 720-1 ff. Loi 1915126 geregelt ist. Für sie genügt ebenfalls ein Mindestkapital von einem Euro und es gibt eine Thesaurierungspflicht. Anders als bei der UG dürfen aber nur natürliche Personen Gesellschafter sein und Unternehmensgegenstand können nur zulassungspflichtige Tätigkeiten sein. Bei Unternehmensgründern stößt die neue Varianten nach Angaben der luxemburgischen Handelskammer auf reges Interesse; im ersten Jahr wurden bereits 680 Gesellschaften gegründet.127 Dieser kleine rechtsvergleichende Rundblick zeigt: Das Konzept der UG war nicht nur in Deutschland erfolgreich, sondern ist auch im Ausland auf reges Interesse gestoßen und wurde in einer Reihe anderer Länder erfolgreich nachgeahmt. Indes: Längst nicht jede „Kopie“ ist so erfolgreich wie das „Original“ …

123 Lov om ændring af selskabsloven, lov om visse erhvervsdrivende virksomheder, årsregn­ skabsloven og lov om Det Centrale Virksomhedsregister, LOV nr 616 af 12/06/2013. Die Iværksætterselskaber ist nun in §§ 357a ff. lov om aktie- og anpartsselskaber (selskabsloven) geregelt. Näher dazu Lilja, Entrepreneur Companies in Denmark and Germany. On the Danish IVS and the German UG (haftungsbeschränkt), in: Fleischer/Hansen/Ringe (Hrsg.), German and Nordic perspectives on company law and capital markets law, 2015, S. 53 ff. S. ferner auch Bartolacelli, ECFR 2017, 187, 210 ff.; Fleischer, ZGR 2016, 36, 69 f.; ders., DB 2017, 291, 295 f.; Knaier, GmbHR 2018, 1181, 1185. 124 Vgl. Ulrich/Baum, Di Analse, Dansk Industri, April 2017 (). 125 Loi du 10 août 2016 portant modernisation de la loi modifiée du 10 août 1915 concernant les sociétés commerciales et modification du Code civil et de la loi modifiée du 19 décembre 2002 concernant le registre de commerce et des sociétés ainsi que la comptabilité et les comptes annuels des entreprises, Memorial A n° 167, 19.8.2016 (dazu Opitz/Olliges, RIW 2016, 783 ff.); Loi du 23 juillet 2016 modifiant, en vue d’instituer la société à responsabilité limitée simplifiée, Memorial A n° 157, 4.8.2016. Vgl. dazu auch Fleischer, DB 2017, 291, 296; Knaier, GmbHR 2018, 1181, 1187. 126 Loi modifiée du 10 août 1915 concernant les sociétés commerciales, Mémorial A n° 1066, 15.12.2017. 127 Vgl. Peuvrel/Gangloff, Chronique juridique: La société à responsabilité limitée simplifiée, Les frontaliers, 25.1.2018 ().

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VI. Ausblick Zum 10.  Geburtstag kann man der UG wahrhaft gratulieren: Mit inzwischen weit über 100 000 Gesellschaften hat sich die neue Rechtsformvariante zum „Blockbuster“ entwickelt und ihre ursprüngliche Mission, der englischen Limited die Stirn zu bieten, mehr als erfüllt. Das „Allroundtalent“ UG ist inzwischen aus der deutschen Unternehmenslandschaft nicht mehr wegzudenken und hat auch in anderen Rechtsordnungen Nachahmer gefunden. Die noch verbleibenden „Kinderkrankheiten“ sind verschmerzbar und werden sich ggf. auch noch kurieren lassen. In diesem Sinne: ad multos annos – für die UG und Ulrich Seibert!

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„Verbotene Zahlungen“ aus der insolventen GmbH & Co. KG: Was wird aus § 130a HGB? Inhaltsübersicht I. Zum Gegenstand dieses Beitrags 1. Zueignung 2. Das geltende Insolvenzverschleppungsrecht der GmbH & Co. KG 3. Die gesetzlichen Zahlungsverbote im Lichte der Rechtsprechung II. Panta rhei 1. Woher – wohin? 2. Wandel der Normsituation I II. Unstimmigkeiten in Gesetz und Praxis 1. Erstattungsverpflichtung und Schadensersatz 2. Was folgt aus § 130a HGB?

IV. Beseitigung bestehender Inkonsistenzen 1. Die Weichenstellung 2. Anpassung des § 130a HGB? 3. Anpassung der §§ 64 GmbHG, 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG, 99 GenG an § 130a Abs. 2 HGB? 4. Gesamtreform der Verschleppungs­ bestimmungen 5. Hic Rhodus… V. Ein Fall für die Überarbeitung des ­Personengesellschaftsrechts? VI. Zusammenfassung 1. Thema verfehlt? 2. Ergebnisse

I. Zum Gegenstand dieses Beitrags 1. Zueignung Nachdem der Koalitionsvertrag für die 19. Legislaturperiode1 die Überarbeitung des Personengesellschaftsrechts  – anfangs nur eine rechtswissenschaftliche Hypothese,2 seit dem 71. Deutschen Juristentag von 2016 jedoch Bestandteil des rechtspolitischen Diskurses3 – zum Gegenstand aktueller Gesetzgebungsarbeit erhoben hat, ist in der Ulrich Seibert zugedachten Festschrift auch mit Beiträgen zu diesem Themenkreis zu rechnen.4 Die Reformbestrebungen sind, wenn das große Wort einer „Reform“ an­ gemessen sein sollte, weitgehend von der Grundüberlegung geleitet, unsere Gesetze  sollten das bereits geltende und praktizierte, nämlich durch Kautelarpraxis und Rechtsprechung fortgebildete Recht der Personengesellschaften besser abbilden, als

1 S. 131 Rz. 6162-6165. 2 Karsten Schmidt, ZHR 177 (2013), 712 ff. 3 Verhandlungen des 71. DJT, Bd. I, 2016, S. E 1 ff. (Gutachten Schäfer), Bd. II 1, 2017, S. O 11 ff. (Referat Roßkopf), S. O 31 ff. (Referat Wicke), S. O 53 ff. (Referat Henssler), Bd. II/2, 2017, S. 113 ff. (Disk.). 4 Verwiesen sei auf die Beiträge von Otte-Gräbener, Reichert und Schäfer.

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es bisher der Fall ist.5 Dass es auch Gegenbeispiele gibt, die vor einer eilfertigen Rezeption und Fortschreibung von Rechtsprechungsrecht oder gesetzlichen Festschreibung vermeintlich unausweichlicher rechtsdogmatischer Einsichten warnen lassen, wurde dagegen kaum thematisiert. Unter den Grundlagennormen, die von der Modernität des Gesetzes Zeugnis geben, ist allen voran § 124 HGB zu nennen. Bedenkt man nur, dass fast ein Jahrhundert lang als die wahre Botschaft des § 124 HGB ausgegeben wurde, eine Handels-Personengesellschaft könne nicht rechtsfähig, das Gesellschaftsvermögen naturgemäß nur ein solches der Gesellschafter sein6 –, so wird man der Gesetzgebung des 20. Jahrhunderts dafür danken, dass sie niemals in Umsetzung vermeintlich besseren Wissens die Axt an diese Bestimmung gelegt hat. Hier und da kann das Gesetzesrecht der Personengesellschaften offenbar doch klüger sein als die Doktrin und die von ihr geleitete Judikatur. Das kann auch für Detailregelungen gelten. Als ein diffizileres Beispiel für die Modernität und Stimmigkeit einzelner Normen wird der vorliegende Beitrag den § 130a HGB herausstellen. Korrigiert der vorliegende Beitrag damit vielleicht ein Versäumnis seines Verfassers, der im Jahr 2013 im Rahmen von „Vorüberlegungen für eine konsistente Reform“7 Änderungen auch der §§ 105 ff. HGB vorgeschlagen hat,8 ohne den § 130a HGB auch nur zu erwähnen? 2. Das geltende Insolvenzverschleppungsrecht der GmbH & Co. KG a) Das Insolvenzverschleppungsrecht der GmbH & Co. KG ist seit dem MoMiG9 nicht mehr komplett im HGB geregelt, sondern auf das Handelsgesetzbuch und die Insolvenzordnung verteilt. Nach §§ 177a, 130a Abs. 1 HGB dürfen bei einer Kommanditgesellschaft, bei der kein unbeschränkt haftender Gesellschafter eine natürliche Person ist, die organschaftlichen Vertreter im Zustand der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung für die Gesellschaft keine Zahlungen leisten (Satz 1), sofern nicht die Zahlungen auch nach diesem Zeitpunkt mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters vereinbar sind (Satz 2). Wird entgegen §  15a Abs. 1 der Insolvenzordnung die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen einer solchen Gesellschaft nicht oder nicht rechtzeitig beantragt oder werden entgegen dem geschilderten §  130a Abs.  1 HGB Zahlungen geleistet, so sind die or­ ganschaftlichen Vertreter der zur Vertretung berechtigten Gesellschafter und ggf. die  Liquidatoren der Gesellschaft gegenüber zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet (§§ 177a, 130a Abs. 2 HGB). Diese im Jahr 1976 durch das ­Erste Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität10 eingeführte, im Zuge der klei 5 Vgl. Schäfer in Verhandlungen des 71. DJT I (Fn. 3), S. E 9; Wicke in Verhandlungen des 71. DJT II/1, 2017, S. O 31; Grunewald in Verhandlungen des 71. DJT II/2, 2017, S. O 115; Tröger, JZ 2016, 834, 837; Karsten Schmidt, ZHR 177 (2013), 712, 713. 6 So z.B. noch RGZ 139, 252, 254; BGHZ 110, 127, 128 = NJW 1990, 1181; Alfred Hueck, Recht der oHG, 4. Aufl. 1971, § 16 II; Schulze-Osterloh, Das Prinzip der gesamthänderischen Bindung, 1972, S. 12; dagegen in Übereinstimmung mit dem Verf. bereits Seibert, JZ 1996, 785.  7 So der Subtitel bei Karsten Schmidt, ZHR 177 (2013), 712.  8 Ebd. S. 728 ff. 9 Gesetz vom 23.10.2008, BGBl. I 2008, 2026. 10 Gesetz vom 29.7.1976, BGBl. I 1976, 2034; dazu Begr. RegE, BT-Drucks. 7/5291.

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nen GmbH-Reform von 1980,11 der Insolvenzrechtsreform von 199412 und des MoMiG von 200813 nur geringfügig geänderte Bestimmung ist Bestandteil einer Schritt für Schritt vollzogenen Anpassung des Rechts der Kapitalgesellschaft & Co. KG an das zwingende Haftungsrecht der Kapitalgesellschaften.14 Die Vorschrift wird als Schwesterbestimmung der §§ 92 Abs. 2, 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG und des § 64 GmbHG verstanden, und als solche ist § 130a HGB ausweislich ihrer Regierungsbegründung explizit auch gedacht.15 b) Das Erste Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität16 hat in damals unmittelbar zielführender Weise Bestimmungen in das Recht der Kapitalgesellschaft & Co. KG aufgenommen, die bis dahin als genuin kapitalgesellschaftsrechtlich gegolten hatten: –– Die Firma einer solchen Gesellschaft musste einen die Haftungsbeschränkung kennzeichnenden Zusatz enthalten (§ 19 Abs. 5 HGB a.F., heute § 19 Abs. 2 HGB). –– Ein Konkursverfahren über das Vermögen einer solchen Gesellschaft fand nicht mehr nur im Fall ihrer Zahlungsunfähigkeit, sondern auch im Fall der Überschuldung statt (§ 209 Abs. 1 Satz 3 KO, heute § 19 Abs. 3 InsO), und auch die Insolvenz­ antragspflicht der Vertretungsorgane wurde auf eine solche Gesellschaft ausgedehnt (§  130a Abs.  1 Satz 1 und 2 HGB a.F., heute §  15a Abs.  1 Satz 1 InsO). Gleichzeitig wurde das von den §§ 92 Abs. 2 AktG, 64 Abs. 2 GmbHG a.F. bekannte Zahlungsverbot bei Zahlungsunfähigkeit bzw. Überschuldung der Gesellschaft für diese Gesellschaften in den § 130a Abs. 1 HGB übernommen. Dort steht es noch heute (§ 130a Abs. 1 Satz 1 und 2 HGB), nur hat das MoMiG die Insolvenzantragspflicht aus dem gesellschaftsrechtlichen Regelungskontext hinausgedrängt und in die Insolvenzordnung aufgenommen (§ 15a Abs. 1 InsO). Es ist dem § 130a HGB insofern nicht anders ergangen als den im Jahr 1976 zum Vorbild genommenen Regelungen im Kapitalgesellschafts- und Genossenschaftsrecht (§  92 AktG, § 64 GmbHG, § 99 GenG). Auch diese Bestimmungen hatten bis zum Inkrafttreten des MoMiG von beidem gesprochen: von der mit der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung einsetzenden Antragspflicht wie auch von dem Zahlungsverbot. 3. Die gesetzlichen Zahlungsverbote im Lichte der Rechtsprechung Der Strom der zu den der hier untersuchten Normen ergangenen Entscheidungen hat sich in den zurückliegenden Jahrzehnten rasend beschleunigt. Insolvenzverwalterklagen auf Rückzahlung verbotener Zahlungen haben sich neben der actio pauliana nach §§ 129 ff. InsO zu einem schlagkräftigen Instrument für die Auffüllung insuffi11 Gesetz vom 4.7.1980, BGBl. I 1980, 836. 12 Art. 40 Nr. 4 EG InsO vom 15.10.1994, BGBl. I 1994, 2911. 13 Gesetz vom 23.10.2008, BGBl. I 2008, 2026. 14 Vgl. Binz/Sorg, Die GmbH & Co. KG, 12. Aufl. 2018, § 3 Rz. 6 ff.; Mueller-Thuns in Hesselmann/Tillmann/Mueller-Thuns, Handbuch GmbH & Co. KG, 21. Aufl. 2016, Rz. 1.45 ff. 15 Vgl. Begr. RegE, BT-Drucks. 7/3441, S. 47. 16 Vgl. Fn. 10.

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zienter Insolvenzmassen entwickelt,17 zugleich auch zu einer ernst zu nehmenden Abschreckungssanktion in Verschleppungsszenarien.18 Der Bundesgerichtshof betont in ständiger Rechtsprechung, dass die Rückforderung „verbotener Zahlungen“ nichts mit dem Ersatz eines Verschleppungsschadens zu tun hat.19 Kritiker dieses Haftungskonzepts – darunter der Verfasser20 – werden nicht müde, die Unangemessenheit, nicht selten auch Unverhältnismäßigkeit dieses Instruments und die Ärmlichkeit der bisher daran unternommenen Korrekturen zu brandmarken.21

II. Panta rhei 1. Woher – wohin? Die Haftung von Gesellschaftsorganen für „verbotene Zahlungen“ aus dem Vermögen einer insolventen Gesellschaft ist ein Kind der Aktienrechtsreform von 1884,22 alsbald ergänzt durch das GmbHG von 1892.23 In jenem Gesetz – nicht von ungefähr eine Antwort auf das den Gründerjahren folgende Krisengeschehen24  – wurde die Vorstandshaftung für „verbotene Zahlungen“ (heute §§ 92 Abs. 2, 93 Abs. 3 Nr. 7 AktG) erstmals und folgenreich in das Gesetz aufgenommen und in der Begründung mit dem bis heute nachwirkenden Hinweis angepriesen, für eine Verurteilung bedürfe es nicht der Feststellung eines Schadens.25 Als eine legislatorische Panne wird man die Organhaftung für „verbotene Zahlungen“ also schwerlich betrachten dürfen.26 Aber ist sie um deswillen auch gerechtfertigt? 2. Wandel der Normsituation a) Die Normsituation bei der Erfindung der „Zahlungsverbote“ in den Jahren 1884 und 189227 lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: An die für einzelne Rechts17 Vgl. nur Ringstmeier in Mohrbutter/Ringstmeier, Hdb. Insolvenzverwaltung, 9. Aufl. 2015, Kap. 23 Rz. 178 ff. 18 Der Rückgang masseloser Insolvenzen (vgl. Statistisches Bundesamt [Destatis] 2019) könnte hier eine Ursache finden. 19 Vgl. nur BGH, NZG 2011, 624 Rz. 20 = ZIP 2011, 1007. 20 Zuletzt (Editorial) ZHR 183 (2019), 2 ff. m.w.N. 21 Vgl. neben dem Verf. namentlich Altmeppen, ZIP 2017, 1833, 1835; Bitter, ZIP, Beilage zu Heft 22/2016, 6; zu den Korrektiven vgl. Casper in Großkomm. GmbHG, 2. Aufl. 2016, § 64 GmbHG Rz. 92 ff. 22 Gesetz betreffend die Kommanditgesellschaften auf Aktien und die Aktiengesellschaften v. 18.7.1884, RGBl. 1884, 123. 23 Vgl. Entwurf eines GmbHG nebst Begründung, 1891, S. 110 (zu § 62 Abs. 2 des Entwurfs). 24 Dazu Schubert in Schubert/Hommelhoff (Hrsg.), Hundert Jahre modernes Aktienrecht, 1885, S.  1, 2  f.; Hofer in Bayer/Habersack (Hrsg.), Aktienrecht im Wandel, Bd. I 2007, Kap. 11 Rz. 2 ff. 25 Vgl. die Begründung in Schubert/Hommelhoff (Hrsg.), Hundert Jahre modernes Aktienrecht, 1985, S. 509 i.V.m. S. 463. 26 Vgl. Thiessen in Schröder/Kanzleiter (Hrsg.), 3 Jahre nach dem MoMiG, 2012, S. 73, 110. 27 Vgl. Fn. 22, 23.

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formen geregelten Konkursverschleppungsverbote ließ sich unschwer eine Strafsanktion anknüpfen (damals Art. 249c Abs. 1 Nr. 2 ADHGB 1884 und § 84 GmbHG a.F.), aber es fehlte das Instrumentarium für Zivilrechtssanktionen, denn eine Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB lag noch in weiter Ferne, und auch konzeptionell war die Diskussion noch nicht reif für die Befassung mit einem sich im Verschleppungszeitraum periodisch entwickelnden Gesamtgläubigerschaden. Dass dieser schwer zu ermitteln, in der forensischen Praxis nur nach § 287 ZPO zu schätzen ist, gilt heute wie damals.28 Doch seine Relevanz für eine Verschuldenshaftung der Leitungsorgane liegt ebenso auf der Hand wie seine Ableitung aus der sich periodisch entwickelnden Vermögenssituation der Gesellschaft. b) Um beide Gesichtspunkte – die Normsituation wie die Relevanz des Gesamtgläubigerschadens – ist es heute vollkommen anders bestellt: –– § 823 Abs. 2 BGB, eine Sanktionsnorm von bemerkenswerter Modernität,29 liefert eine gesetzliche Basis für den schadensersatzrechtlichen Ausgleich des durch Insolvenzverschleppung herbeigeführten Schadens zugunsten der durch das Verschleppungsverbot geschützten Gläubiger.30 –– § 92 InsO autorisiert den Insolvenzverwalter in einem (verspätet) eröffneten Insolvenzverfahren zur kollektiven Geltendmachung dieses Gesamtgläubigerschadens unter Ausschluss der individuellen Klagebefugnis geschädigter Gläubiger.31 Nimmt man den Wortlaut des § 130a Abs. 2 HGB hinzu, so ist eines noch zu ergänzen: Die Bestimmung räumt der Gesellschaft einen eigenen, mit der Klagebefugnis des Insolvenzverwalters umfangmäßig deckungsgleichen32 materiellrechtlichen Anspruch auf Wiederherstellung einer die kollektiven Insolvenzverschleppungsschäden kompensierenden Vermögenssituation33 ein. Bis hierhin passen die Dinge gut inei­ nander: Es kommt zu einem durch Zahlung in das Gesellschaftsvermögen zu bewirkendem Ausgleich des kollektiven Gläubigerschadens. Die Schadensabwicklung nach § 130a Abs. 2 HGB und nach §§ 823 Abs. 2 BGB, 92 InsO geht reibungslos Hand in Hand. Alles wäre also gut, wäre nicht die Feststellung dieses Gläubigerschadens so überaus schwierig. Es geht, wenn das Bild erlaubt ist, wie beim Schießen auf ein ­bewegliches, auf ein gar nicht gegenwärtiges, eigentlich sogar nur hypothetisches 28 Vgl. nur Casper in Großkomm. GmbHG, 2. Aufl. 2016, § 64 GmbHG Rz. 173; Klöhn in MünchKomm. InsO, 3. Aufl. 2013, § 15a InsO Rz. 269; Karsten Schmidt/Herchen in Karsten Schmidt (Hrsg.), InsO, 19. Aufl. 2016, § 15a Rz. 44. 29 Vgl. zu den Funktionen der Bestimmung Kötz/Wagner, Deliktsrecht, 12. Aufl. 2013, Rz. 227; Karsten Schmidt, Kartellverfahrensrecht  – Kartellverwaltungsrecht  – Bürgerliches Recht, 1977, S. 350 ff.; ders. in FS Canaris I, 2008, S. 1175. 30 Vgl. Begr. RegE InsO, BT-Drucks. 12/2443. 31 Karsten Schmidt in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2016, § 130a HGB Rz. 29.  32 Zustimmend (mit zweifelhafter Berufung auf BGH, ZIP 2006, 1006) Habersack in Habersack/Schäfer, Das Recht der OHG, 2. Aufl., § 130a Rz. 34; s. auch Casper in Großkomm. GmbHG, 2. Aufl. 2016, § 64 GmbHG Rz. 227. 33 Nachweis eines ähnlichen Konzepts im österreichischen HGB bei Thiessen in Schröder/ Kanzleiter (Hrsg.), 3 Jahre nach dem MoMiG, 2012, S. 73, 78 f.

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Ziel: Wie viel ist in die Kasse des Hauses zu zahlen, damit die Insolvenzquote herauskommt, die bei rechtzeitiger Insolvenzantragstellung erzielt worden wäre? c) Da betritt nun, als Helfer in der Not, die Erstattung „verbotener Zahlungen“ die Bühne. Wie der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung beteuert, hat sie mit einem Schadenersatzanspruch wegen Insolvenzverschleppung nichts zu tun und schon gar nicht mit einem Quotenschaden der Gläubiger.34 Dieser Unterschied ist im Unrechtsgehalt des inkriminierten Verhaltens angelegt. Anders als die Insolvenzverschleppung ist die verbotene Zahlung nicht Prozess, sie ist ein Ereignis und kann – dem Anfechtungsrecht nicht unähnlich35 – schlicht durch Erstattung des Zahlungsbetrags gutgemacht werden. Hierin wird die Stärke der Erstattungsansprüche wegen „verbotener Zahlungen“ gesehen. Aber von hierher kommen auch die Probleme.

III. Unstimmigkeiten in Gesetz und Praxis 1. Erstattungsverpflichtung und Schadensersatz a) Stünde die Haftung für „verbotene Zahlungen“ unverbunden im Raum, so ergäbe sich ein wenn auch ungewöhnliches, so doch einfaches Haftungskonzept: Die Leitungsorgane hätten die trotz Zahlungsunfähigkeit36 oder Überschuldung veranlassten oder nicht verhinderten37 Zahlungen zu erstatten, soweit keine Exkulpation zum Zuge kommt (vgl. jeweils Satz 2 der Bestimmungen). Der sich aus § 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG bzw. aus § 64 Satz 1 GmbHG oder § 99 Satz 1 GenG ergebende Rückzahlungsanspruch hat, so die herrschende Ansicht, mit einem Schadensersatz nichts zu tun, ist vielmehr ein Anspruch eigener Art, allein gerichtet auf die Berichtigung eines das Gesellschaftsvermögen schmälernden Transfers.38 Da eine im Zustand der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung vorgenommene Zahlung aus dem Gesellschaftsvermögen nicht ohne Einfluss auf die Quotenerwartung, also auf den Gesamtschaden, sein wird, kann diese Zivilrechtssanktion nur dann ungestört funktionieren, wenn es daneben keinen Ersatz des Verschleppungsschadens nach § 823 Abs. 2 BGB gibt. Das ist, wenn man der Rechtsprechung folgt, gewährleistet. Einzelklagen von Gläubigern sind teils aus Rechtsgründen, teils einfach de facto ausgeschlossen, und zwar –– nach der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens durch die Sperrwirkung des §  92 InsO39 und 34 Vgl. Fn. 19. 35 Eingehend Thole, Gläubigerschutz durch Insolvenzrecht, 2010, S. 694 ff. 36 Zahlungsunfähigkeit i.S.v. BGHZ 163, 134 = NJW 2005, 3062 schließt die Vornahme „verbotener Zahlungen“ nicht denknotwendig aus! 37 Auch Einzugsermächtigungen seitens der Gläubiger bewirken im Sinne der Haftungsnormen „Zahlungen der Organe“; vgl. Casper in Großkomm. GmbHG, 2. Aufl. 2016, § 64 GmbHG Rz. 89. 38 Vgl. Fn. 19. 39 Vgl. Begr. RegE InsO, BT-Drucks. 12/2443, S. 139; über das vorausgegangene Rechtsprechungsrecht vgl. BGHZ 126, 181, 190 = GmbHR 1994, 539, 543. 

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–– außerhalb eines Insolvenzverfahrens, weil kein durch Insolvenzverschleppung geschädigter Gläubiger einen riskanten Prozess anstrengen wird, nur um aus einer mageren Ist-Quote von vielleicht 6 % eine Sollquote von 8 % oder 10 % zu machen.40 b) Störende Interferenzen zwischen den sich aus §§ 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG, 64 Satz 1 GmbHG, 99 Satz 1 GenG ergebenden Erstattungspflichten und Schadensersatzansprüchen gemäß §§ 823 Abs. 2 BGB, 15a InsO drohen deshalb nur, wenn im eröffneten Insolvenzverfahren der Insolvenzverwalter beides geltend macht: den Rückforderungsanspruch wegen „verbotener Zahlungen“ und die gemäß §  92 InsO in seine Einziehungsbefugnis übergegangenen Ansprüche der Insolvenzgläubiger auf Ersatz des Verschleppungsschadens nach §§ 823 Abs. 2 BGB, 15a InsO. Auch hierzu kommt es jedoch in der Praxis nicht, weil BGH die Klagebefugnis des Insolvenzverwalters auf Ansprüche der vor-insolvenzlichen Altgläubiger beschränkt hat.41 Seither ist §  92 InsO im Bereich der Insolvenzverschleppungshaftung totes Recht,42 eine Kollision von Erstattungshaftung und Schadensersatz also faktisch nicht mehr zu erwarten. Das ist der – nicht nur vom Verfasser dieses Beitrags – vielfach beklagte Stand der Praxis.43 2. Was folgt aus § 130a HGB? a) Nähme man § 130a Abs. 2 HGB beim Wort, so müsste das Ergebnis bei der GmbH & Co. KG ein vollkommen anderes als bei den Kapitalgesellschaften sein. Stehen nämlich der Gesellschaft selbst Schadensersatzansprüche sowohl wegen verbotener Zahlungen (Verstoß gegen § 130a Abs. 1 Satz 1 HGB) als auch wegen der Insolvenzverschleppung (Verstoß gegen § 15a InsO) zu, so ist es eine selbstverständliche Pflicht des Verwalters, die einen wie die anderen als Bestandteile der Insolvenzmasse geltend zu machen.44 Doch dieses rein schadensersatzrechtliche Sanktionskonzept des § 130a Abs. 2 HGB wollte der II. Zivilsenat des BGH so nicht gelten lassen. Vielmehr übertrug das Urteil BGH, NZG 2007, 462 = ZIP 2007, 1006 das im Rahmen des § 64 GmbHG vertretene Konzept auf § 130a Abs. 2 HGB (damals Abs. 3 a.F.). Auch hier soll also zwischen dem Schadensersatz wegen Insolvenzverschleppung und der puren Rückzahlungspflicht bei verbotenen Zahlungen unterschieden werden. Gestützt war dieses Urteil zunächst auf die Gesetzesbegründung zu §  130a HGB, wonach die angeordnete Rechtsfolge derjenigen des § 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG und des § 64 Satz 1 GmbHG (vormals § 64 40 Vgl. Karsten Schmidt/Uhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, 5. Aufl. 2016, Rz. 11.17. 41 BGHZ 138, 211 = ZIP 1998, 776; zust. statt vieler Brandes/Gehrlein in MünchKomm. InsO, 3. Aufl. 2013, § 92 InsO Rz. 34. 42 Karsten Schmidt, ZIP 2005, 2177, 2178 (und öfter); bestätigend aus Praktikersicht Wimmer-Amend in Frankfurter Komm. InsO, 9. Aufl. 2018, § 92 InsO Rz. 25. 43 Angaben bei Karsten Schmidt/Uhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, 5. Aufl. 2016, Rz. 11.23 ff. 44 Vgl. nur Habersack in Habersack/Schäfer, Das Recht der OHG, 2. Aufl. 2019, § 130a Rz. 34.

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Abs. 2 GmbHG a.F.) entsprechen sollte.45 Soweit in § 130a HGB, anders als in § 64 GmbHG, vom Ersatz eines „Schadens“ die Rede sei, handle es sich „wenn überhaupt, um einen speziellen und nicht um den üblichen Schadensbegriff im Sinne der Differenzhypothese, bei dessen Anwendung die genannten Vorschriften leer liefen, weil den geleisteten Zahlungen regelmäßig das Erlöschen einer dadurch getilgten Gesellschaftsverbindlichkeit gegenübersteht.“ Der „Schaden“, von dem das Gesetz spreche, liege „hier schon in dem Abfluss von Mitteln (vgl. Hüffer, AktG, 7. Aufl., § 93 Rz. 22 m.w.Nachw.) aus der – im Stadium der Insolvenzreife der Gesellschaft zu Gunsten der Gesamtheit ihrer Gläubiger zu erhaltenden – Vermögensmasse (vgl. BGHZ 143, 184 [186] = NZG 2000, 370 = NJW 2000, 623; BGHZ 146, 264 [275] = NZG 2001, 361 = NJW 2001, 1280).“ Unabhängig davon, ob man insgesamt von einem „Ersatzanspruch eigener Art“ (so BGHZ 146, 264 [278] = NZG 2001, 361 = NJW 2001, 1280) oder von einem „Schadensersatzanspruch eigener Art“ spreche, betreffe § 130a Abs. 2 Satz 1 HGB einen „Quotenschaden“ allein in der Alternative des durch Versäumung der Insolvenzantragspflicht entstandenen Schadens (also bezüglich der Verweisung auf § 15a InsO), nicht dagegen bezüglich der Geschäftsführerhaftung für „verbotene Zahlungen“. Die herrschende Auffassung folgt dieser Deutung des § 130a HGB.46 Die Suche nach einem mit den §§ 92 Abs. 2 AktG, 64 GmbHG, 99 GenG stimmigen Haftungskonzept für „verbotene Zahlungen“ ist ohne weiteres nachzuvollziehen, doch wird die so gewonnene Konsistenz der Gesetze gegen eine Inkonsistenz eingetauscht: Für die herrschende Auffassung geht ein tiefer Riss durch das Recht der Organhaftung in Insolvenzverschleppungsfällen: Der auf Schadensersatz zielende Gläubigerschutz gegen die Verschleppung als solche steht in einem schiefen Verhältnis zu der Haftung der Gesellschaftsorgane für Schädigungen des Gesellschaftsvermögens durch Auszahlungen aus überschuldetem Gesellschaftsvermögen.

IV. Beseitigung bestehender Inkonsistenzen 1. Die Weichenstellung Der Stand der Regelungen über verbotene Zahlungen ist als chaotisch,47 die Aufbürdung von Erstattungskosten de lege lata aber als zwingend bezeichnet worden.48 Das mag man für § 64 GmbHG so sehen, schwerlich aber für den explizit auf Schadensersatz zielenden § 130a Abs. 2 HGB.49 In Anbetracht dieses Befundes bestünde die mindeste rechtspolitische Aufgabe darin, entstandene Unordnung zu beheben, wo Ord45 Begr. RegE 1. WiKrimG, BT-Drucks. 7/3441, S. 47. 46 Vgl. nur Haas in Röhricht/Graf von Westphalen/Haas (Hrsg.), HGB, 4. Aufl. 2014, § 130a Rz. 21; Habersack in Habersack/Schäfer, Das Recht der OHG, 2. Aufl. 2019, § 130a Rz. 35; Hillmann in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn (Hrsg.), HGB, 3. Aufl. 2014, § 130a Rz. 28; Roth in Baumbach/Hopt, HGB, 38. Aufl. 2018, § 130a Rz. 9; Wertenbruch in Westermann/ Wertenbruch (Hrsg.), Hdb. Personengesellschaften, Stand 2014, Rz. 1833. 47 Thiessen in Schröder/Kanzleiter (Fn. 26), S. 73, 78 (aber ohne prinzipielle Missbilligung der Haftung für „verbotene Zahlungen”.) 48 Ebd. S. 111 (s. aber auch S. 109: „Aber ist dies rechtspolitisch wünschenswert?“). 49 Zur Gefolgschaft des BGH vgl. aber Fn. 46.

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nung de lege lata nicht geschaffen werden konnte oder doch jedenfalls nicht geschaffen wurde. Die aus dem Gesetzeswortlaut des § 130a HGB und den kapitalgesellschaftsrechtlichen Bestimmungen sprechende Inkonsistenz ist zu beheben. Aber in welcher Richtung? 2. Anpassung des § 130a HGB? Der Bundesgerichtshof hat den § 130a Abs. 2 HGB entgegen seinem Wortlaut mit der vorherrschenden Deutung der §§ 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG, 64 GmbHG, 99 GenG versöhnt (vgl. oben unter III 2). Wer das für richtig hält, wird den Wortlaut des gegenwärtigen § 130a Abs. 2 HGB mit dem BGH für missglückt halten und die Bestimmung in dem Sinne umformulieren, dass der Verstoß gegen das Zahlungsverbot zur Erstattung der Zahlungssumme in das Gesellschaftsvermögen verpflichtet. Schriebe man diese Lösung im Wortlaut des §  130a HGB fest, so entstünde formal ein har­ monisches Bild: Bei der GmbH & Co. KG wie bei der GmbH stünde die Erstattung verbotener Zahlungen im Vordergrund, während Schadensersatzklagen wegen Insolvenzverschleppung de facto ausgeschlossen wären, weil sich kein Kläger auf solche Klagen einließe (vgl. oben unter III 1). –– ein geschädigter Insolvenzgläubiger außerhalb eines Insolvenzverfahrens deshalb nicht, weil ihm der gesunde Menschenverstand ein solches Prozessrisiko verbietet, und –– der Insolvenzverwalter in der Gesellschaftsinsolvenz deshalb nicht, weil ihm das Urteil BGHZ 164, 264 = NJW 2001, 1280 ein solches Vorgehen, wie bei der GmbH, unmöglich macht. Für die GmbH & Co. KG wie für die GmbH würde dann der Grundsatz gelten: Es gibt keine Insolvenzverschleppungshaftung neben der Haftung für „verbotene Zahlungen“. Die schwierigen Rechtsfragen um den Quotenschadensersatz sind für die Praxis obsolet und ebenso die Ermittlung des Quotenschadens neben der Feststellung verbotener Zahlungen. In Anbetracht der immer wieder artikulierten Bedenken gegen dieses Konzept50 wäre diese Lösung indes abzulehnen. 3. Anpassung der §§ 64 GmbHG, 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG, 99 GenG an § 130a Abs. 2 HGB? Eine Übernahme des §  130a Abs.  2 HGB in seine Schwesterbestimmungen wäre gleichfalls, wenn auch aus einem anderen Grunde, inopportun. Richtig ist zwar, dass diese Vorschrift dem Ziel einer gerechten, nämlich, die Schadensersatzlösung stärkenden Verschleppungssanktion näher kommt, aber die durch den Wortlaut nahe gelegte Annahme, es gebe zwei voneinander unabhängige Schadensverläufe – die Insolvenzverschleppung und die Masseschädigung durch „verbotene Zahlungen”  – bleibt doch ein Webfehler des § 130a HGB, der nicht ohne Not perpetuiert werden sollte. 50 Vgl. Fn. 20, 21, 43.

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4. Gesamtreform der Verschleppungsbestimmungen Das Ziel einer Überarbeitung der §§ 92 Abs. 2, 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG, § 64 GmbHG, § 99 GenG und des § 130a Abs. 2 HGB ist durch die Verallgemeinerung des einen oder des anderen Konzepts nicht zu erreichen. Die Regeln gehören in folgendem Sinne vereinheitlicht: –– Im Vordergrund steht der Ersatz des Gesamtgläubigerschadens. Im Insolvenzverfahren werden die sich hieraus ergebenden Ansprüche aller Gläubiger (nicht nur der Altgläubiger!) auf Ersatz ihres Quotenschadens ausschließlich vom Insolvenzverwalter geltend gemacht (§ 92 InsO), und der Gesellschaft steht in gleicher Höhe ein eigener Ersatzanspruch zu (vorbildlich insofern § 130 Abs. 2 HGB). –– Separate Ansprüche gegen die Leitungsorgane auf Erstattung von Zahlungen im Zustand der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung sind der Gesellschaft nicht zuzuerkennen. Allerdings liegt den gesetzlichen „Zahlungsverboten“ die Annahme zugrunde, dass Zahlungen im Zustand der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung im Zweifel die Befriedigungschancen der Gläubiger im Umfang des Zahlungsbetrags verschlechtern.51 Dementsprechend begründen solche Zahlungen die widerlegliche Vermutung eines in Höhe des Zahlungsbetrags entstandenen Gesamtgläubigerschadens.52 5. Hic Rhodus… Es ist allemal leichter über Konzepte zu spekulieren als mit konkreten Gesetzgebungsvorschlägen zu überzeugen. Was die „Zahlungsverbote” anlangt, so wäre die Hauptarbeit bei den §§ 92 Abs. 2, 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG sowie bei § 64 GmbHG und bei § 99 GenG zu leisten, liefe also weit jenseits der Grenzen des Personengesellschaftsrechts auf eine Reform der Insolvenzverschleppungshaftung hinaus. Der Arbeit an § 130a HGB käme insofern Modellcharakter zu. Absatz 2 erhielte dann etwa den folgenden Wortlaut: „Wird entgegen §  15a Abs.  1 der Insolvenzordnung die Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht oder nicht rechtzeitig beantragt, so sind die organschaftlichen Vertreter der zur Vertretung der Gesellschaft ermächtigten Gesellschafter und die Liquidatoren der Gesellschaft gegenüber zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens als Gesamtschuldner verpflichtet. Ein solcher Schaden wird in der Höhe vermutet, in der entgegen Absatz 1 Satz 1 Zahlungen geleistet worden sind. Ist streitig, ob die organschaftlichen Vertreter oder Liquidatoren die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters angewandt haben, so trifft sie die Beweislast … (Satz 4-7 = Satz 3-6 des geltenden Rechts).“

51 Haas in Verhandlungen des 66. DJT, Bd. I 2006, S. E 76. 52 Vgl. Karsten Schmidt in Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2015, § 64 Rz. 63, 68 f.; ders. in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2016, § 130a HGB Rz. 41.

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V. Ein Fall für die Überarbeitung des Personengesellschaftsrechts? Die Neuformulierung nur des § 130a HGB ohne gleichzeitige Begradigung des Rechts der Insolvenzverschleppung insgesamt wäre nun allerding ein halbherziger Reformschritt. Hier wurde die in Vorbereitung befindliche Überarbeitung des Personengesellschaftsrechts zwar zum Anlass genommen, eine der umstrittensten Bestimmungen des HGB-Personengesellschaftsrechts gegen das Licht zu halten. Fragen muss man jedoch, ob die Vorschrift als Gegenstand des zu erwartenden Gesetzgebungspakets taugt, wenn ihre Nachbesserung mit Änderungen im Aktien-, GmbH- und Genossenschaftsrechts einhergehen müsste. Erinnert sei deshalb an die Verhandlungen des 66. Deutschen Juristentags von 2006. Die wirtschaftsrechtliche Abteilung beriet damals über eine „Reform des gesellschaftsrechtlichen Gläubigerschutzes“ und kam – offenkundig inspiriert durch das Gutachten von Ulrich Haas53 - mit überwältigender Mehrheit zu folgendem Beschluss:54 „Die Krisenverantwortung (bei Insolvenzverschleppung und verbotswidriger Auszahlung) der Leitungsorgane sollte einheitlich und rechtsformneutral im Insolvenzrecht geregelt werden.“ Sollte dies richtig sein, so wäre der vorliegende Text mehr als eine Nachlese zum MoMiG denn als ein Beitrag zur Reform des Personengesellschaftsrechts zu begreifen.

VI. Zusammenfassung 1. Thema verfehlt? Der vorliegende Beitrag ist ausgezogen, die bisherigen Überlegungen über die Reform des Personengesellschaftrechts um eine besonders knifflige Frage zu bereichern. Er hat jedoch über dieses Ziel hinaus, vielleicht gar an ihm vorbeigeführt. Beschlossen sei er deshalb in der Hoffnung, der Jubilar als ein Mann von Qualitätsbewusstsein und rechtspolitischer Weitsicht werde die hier angestellten Überlegungen nicht als in der Festschrift für Ulrich Seibert deplatziert oder gar als eine ganz und gar überflüssige akademische Pflichtübung betrachten. Zur Erklärung des Anliegens sei daran erinnert, dass neben Spezialproblemen der Insolvenzverschleppung auch die Qualität des Gesetzes auf dem Spiel steht. 2. Ergebnisse a) § 130a Abs. 2 HGB bedarf der Überarbeitung. Eine Anpassung des Wortlauts an das historische Vorbild des § 64 Satz 1-2 GmbHG, wie sie vom Bundesgerichtshof de lege lata vollzogen worden ist, wiese jedoch in die falsche Richtung. b) § 130a Abs. 2 HGB ist neben § 64 GmbHG und seinen Schwesterbestimmungen die modernere und bessere Bestimmung, weil sie an die Stelle der simplen Erstat53 Haas in Verhandlungen des 66. DJT, Band I, 2006, S. E 37 f.; dazu aber auch Kleindiek in Verhandlungen des 66. DJT, Bd. II/1, 2007, S. P 65, P 74. 54 Verhandlungen des 66. DJT, Band II/1, 2007, S. P 144.

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tungspflicht bei „verbotenen Zahlungen“ auf eine Schadensersatzhaftung setzt. Un­ befriedigend ist die Regelung allerdings insofern, als sie ein unverbundenes Neben­ einander der Schadensersatzansprüche wegen Insolvenzverschleppung und wegen verbotener Zahlungen nahelegt. c) Angezeigt ist eine Neuformulierung aller  – auch der kapitalgesellschaftlichen  – Schwestervorschriften in dem Sinne, dass die Insolvenzverschleppung zum Schadensersatz verpflichtet und dass ein Gesamtgläubigerschaden in Höhe verbotener Zahlungen vermutet wird. d) Diese Reform sollte unabhängig von der Überarbeitung des Personengesellschaftsrechts, z.B. als Nachtrag zum MoMiG, diskutiert und vollzogen werden. Im Zuge der Überarbeitung des Personengesellschaftsrechts verdient sie nur einen Merkposten.

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Nützliche, nachteilige und neutrale Konzernumlagen im AG- und im GmbH-Konzern und deren steuerrechtliche Folgen Inhaltsübersicht

I. Vorbemerkungen

II. Der etwas gekürzte Sachverhalt der ITT-Entscheidung



III. Verrechnungsvereinbarungen und die Konzernumlage IV. Nützliche, nachteilige und neutrale Konzernumlagen

V. Nachteilige Konzernumlagen im ­Aktienkonzernrecht

VI. Nachteilige Konzernumlagen im ­GmbH-Konzernrecht VII. Zwischenergebnis VIII. Nachteilige Konzernumlagen im ­Steuerrecht 1. Verdeckte Gewinnausschüttung im ­Konzern 2. Nützliche und nachteilige Konzern­ umlagen im Steuerrecht a) Leistungen im Gesellschafter- und Konzerninteresse b) Konzernsteuerung als Misch­ leistung



c) Konzerninterne Rechtsdienst­ leistungen 3. Bemessung der Konzernumlage a) Rechtfertigung der pauschalen ­Leistungsabrechnung b) Bemessung des Aufteilungs­ schlüssels 4. Rechtsfolgen unangemessener ­Kostenumlagen 5. Berücksichtigung eines konzern­ rechtlichen Nachteilsausgleichs

IX. Nachteilige Konzernumlagen und ­Einkünfteberichtigung im Außen­ steuer- und Abkommensrecht 1. Einkünfteberichtigung im multi­ nationalen Konzern 2. Verwaltungsgrundsätze-Verrechnungs­ preise 3. OECD-Verrechnungspreisleitlinien 4. Dienstleistungen mit geringer Wertschöpfung 5. Rechtsfolgen im AG- und GmbH-­ Konzern X. Fazit

I. Vorbemerkungen Bestimmte Funktionen im Unternehmen können im Konzern für alle oder zumindest für bestimmte, z.B. alle inländischen, Konzernunternehmen zusammengefasst werden. Exemplarisch ist die konzernweite Zusammenfassung der Zuständigkeit für die Unternehmensfinanzierung, die elektronische Datenverarbeitung, die Werbung sowie die Zuständigkeit für die konzernweite Compliance und die Rechtsabteilung. ­Dabei stellt sich für die Praxis nicht nur die Frage nach sich ergebenden Interessenkonflikten. So soll die Einrichtung einer  – in der Praxis ganz üblichen  – zentralen Konzern-Rechtsabteilung deshalb rechtlich unzulässig sein, weil, wie vor einigen Jahren behauptet wurde, die rechtliche Unabhängigkeit der Konzern-Rechtsabteilung im 775

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Verhältnis zu den Konzernunternehmen nicht gewährleistet sei.1 Hiervon abgesehen geht es um die Finanzierung einer solchen konzernweiten Zusammenfassung von Aufgabenbereichen, insbesondere um die Frage, ob eine Finanzierung durch Umlage in Betracht kommt und wie der Umlageschlüssel zu bestimmen ist. Gelegentlich wird die Ansicht vertreten, konzerninterne Dienstleistungsverrechnungen seien ein „großes Ärgernis für die außenstehenden Gesellschafter.“ Das zu steuern ist Aufgabe der gesellschaftsrechtlichen und konzernrechtlichen Rahmenbedingungen.2 Die Voraussetzungen für deren steuerliche Anerkennung sind zwar gesetzlich nicht geregelt, aber von der Verwaltung an bestimmte Voraussetzungen geknüpft.3 Das ist kein Randthema, sondern ein Schwerpunktthema in den Betriebsprüfungen.4 Die steuerrechtliche Bewertung von Konzernumlagen in ihren unterschiedlichen Ausgestaltungen sind breitflächig diskutiert und beschrieben worden.5 Doch gibt es jüngere Entwicklungen, die besondere Aufmerksamkeit verdienen. Und vor allem sind die gesellschaftsrechtlichen und konzernrechtlichen Grundlagen nicht ausreichend belichtet. Dies ist ein Anlass, das Thema im Zusammenhang an dieser Stelle aufzugreifen. Ausgangspunkt ist eine Entscheidung des II. Senats des Bundesgerichtshofs vom 5.6.1975,6 die unter dem Namen ITT-Entscheidung Rechtsgeschichte geschrieben hat. Die Entscheidung hat in der Zwischenzeit zwar etwas Moos angesetzt. Der Sachverhalt ist aber typisch für entsprechende Vorgänge in der Praxis. Er könnte sich so oder mit leichten Abweichungen jeden Tag wiederholen. Die Betrachtung lohnt nicht zuletzt deshalb, weil damit das Zusammenwirken des Gesellschafts- und Konzernrechts einerseits und des Steuerrechts andererseits deutlich wird. Prof. Ulrich Seibert hatte in Reformvorschlägen stets gleichermaßen AG und GmbH und deren Einbettung in Konzernstrukturen im Blick.7 Der Beitrag ist ihm in freundschaftlicher Verbundenheit gewidmet, in Erinnerung an viele höchst muntere Diskussionen, im Bewusstsein an seine bewundernswerte normative Gestaltungskraft und in Dankbarkeit für seine immerwährende Gesprächsbereitschaft. Ausgeklammert werden bei den folgenden Überlegungen die besonderen Probleme der Kon­ zern­umlagen bei Überschuldung, Unterdeckung und Insolvenz der Tochtergesellschaften. Und ausgeklammert sind die Besonderheiten der Steuerumlagen. Dabei geht es um den Ausgleichsanspruch des Organträgers gegen die Organgesellschaften, weil der Organträger das saldierte Ergebnis des gesamten Organkreises zu versteuern hat.8 1 Schulenberg, FAZ vom 4.6.2014, S. 16; dagegen Redeke, AG 2018, 381. 2 Altmeppen in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2015, § 311 AktG Rz. 279. 3 Verwaltungsgrundsätze-Verrechnungspreise v. 23.2.1983, BStBl. I 1983, 218, unter 6. Verwaltungsbezogene Leistungen im Konzern. 4 Kroppen/Ruhmer-Krell/Sommer, IStR 2017, 667, 676; Schoppe/Voltmer-Darmanyan, BB 2012, 1251, 1253. 5 Greil in Kroppen, Handbuch Internationale Verrechnungspreise, Lfg. Juni 2017, Kap. VIII; Lehner, Kostenverteilungsverträge, 2014, S. 152 ff. 6 BGH v. 5.6.1975 – II ZR 23/74, BGHZ 65, 17. 7 Exemplarisch Seibert, BB Die erste Seite 2006, Nr. 26.  8 S.  hierzu BGHZ 141, 97; Jochen Vetter in Karsten Schmidt/Marcus Lutter, AktG, 3.  Aufl. 2015, § 311 AktG Rz. 68; W. Müller in FS Beisse, 1997, S. 363 ff.; Kleindiek, DStR 2000, 559;

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II. Der etwas gekürzte Sachverhalt der ITT-Entscheidung Der Sachverhalt der Entscheidung des II. Senats des Bundesgerichtshofs vom 5.6.1975 lässt sich wie folgt etwas verkürzt darstellen: Die G. GmbH war Komplementärin einer GmbH & Co. KG mit ca. 300 Tochtergesellschaften. Die Gruppe war ein führender Hersteller von Badezimmerarmaturen. An der G. GmbH war die Beklagte, die zum ITT-Konzern gehörte, mit 85  % und der Kläger mit einem Minderheitsanteil in Höhe von 15 % beteiligt. Einen Beherrschungsvertrag gab es nicht. Es lag also ein faktischer Konzern mit einer abhängigen GmbH vor, auf den die §§ 311 ff. AktG nach h.M. nicht anwendbar sind. Auch an der KG waren die Beklagte mit einem Mehrheitsanteil und der Kläger mit einem Minderheitsanteil beteiligt. Mit der ITT-Gesellschaft, einer Tochtergesellschaft der Beklagten, schloss die Konzerngesellschaft der G.-Gruppe einen Servicevertrag. Wörtlich heißt es sodann im Tatbestand der Entscheidung: „Danach haben sie für die Einbeziehung in den Service, der die Vermittlung von Management-Wissen und -techniken, Auswahl, Einsatz und Ausbildung von Führungskräften, Technische Beratung, Marketing-Beratung, Finanzberatung, EDV-Beratung und Public Relations zum Gegenstand haben soll, eine jährliche Vergütung in Form einer Konzernumlage (Contract Service Charge) von 1 % ihres Gesamtumsatzes zu zahlen“. Im Prozess ging es um die Rückzahlung der von den Gesellschaften geleisteten Beträge. Der Fall weist eine Reihe von Besonderheiten im Sachverhalt auf. So könnte man die Frage stellen, weshalb der Kläger mögliche Ansprüche der Konzerngesellschaften geltend machen kann und weshalb die Tochtergesellschaften der ITT-Gesellschaft in Anspruch genommen wurden und nicht allein die ITT-Gesellschaft. Darauf soll hier nicht eingegangen werden. Vereinfacht man den Sachverhalt, so stellt sich die Frage, ob Ansprüche bestehen und welche steuerlichen Unterschiede sich ergeben, wenn die Konzernumlage von einer beherrschten AG bzw. einer beherrschten GmbH geleistet wurde.9

III. Verrechnungsvereinbarungen und die Konzernumlage 1. Konzerne sind nicht rechtsfähig. Vielmehr handelt es sich um rechtlich selbständige Gesellschaften mit jeweils eigenen Interessen, die unter einheitlicher Leitung zusammengefasst sind. Sie sind wirtschaftlich ein Unternehmen, das in unterschiedlicher Weise geführt werden kann, zentral oder dezentral, unter Berücksichtigung der Unterschiede bei den Rechtsformen der einzelnen Konzerngesellschaften und mit unterschiedlichen Gläubigern bei den einzelnen Konzerngesellschaften.

Wiedemann/Fleischer, JZ 2000, 159; Habersack, BB 2007, 1397; Hüttemann, ZHR 171 (2007), 451; Simon, ZGR 2007, 711; Menkel, NZG 2014, 52. 9 Sven H. Schneider in FS Uwe H. Schneider, 2011, S. 1177.

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2. Zu unterscheiden sind konzerninterne Kostenumlagevereinbarungen und Vereinbarungen über die Konzernumlagen.10 Kostenumlagevereinbarungen sind Umlageverträge, die international verbundene Unternehmen untereinander abschließen, um im gemeinsamen Interesse in einem längeren Zeitraum durch Zusammenwirken in einem Pool Leistungen zu erlangen bzw. zu erbringen. Dagegen geht es bei den Kon­ zernumlagen darum, dass bestimmte Funktionen konzernweit zusammengefasst werden, dem herrschenden Unternehmen zur Leitung übertragen, im Inland gebündelt oder auch ins Ausland verlagert werden.11 Das kann nicht nur organisatorische Gründe haben, zu Effizienzgewinnen führen, sondern u.a. auch steuerlich höchst attraktiv sein. 3. Zum Rechtsproblem werden solche zur Finanzierung erhobenen Konzernumlagen, wenn es um die Verteilung der Kosten und auch der sich ergebenden Effizienzgewinne zwischen den Konzerngesellschaften geht. Zu fragen ist, ob im Konzern Dienstleistungen, die im Interesse aller Konzernunternehmen erbracht werden, spitz abgerechnet werden müssen, oder ob eine Umlagefinanzierung zumindest dem Grunde nach zulässig ist. Geht man von der Zulässigkeit einer Konzernumlage aus, so ist weiter zu klären, welche Kosten umlagefähig sind, welcher Schlüssel hierbei zur Anwendung kommt und welche Voraussetzungen für die steuerliche Anerkennung der Umlage bestehen.

IV. Nützliche, nachteilige und neutrale Konzernumlagen 1. Heute ist unstreitig,12 dass die zentralisierte Erbringung von Dienstleistungen im Konzern nicht verlangt, dass jede einzelne Maßnahme gewürdigt und sodann spitz im Verhältnis zu den Tochtergesellschaften abgerechnet werden muss. Zulässig ist vielmehr auch eine Umlagefinanzierung. Das soll hier nicht weiter diskutiert werden. Zu fragen ist vielmehr nach den Grenzen einer solchen Umlagefinanzierung. 2. Viele Maßnahmen der Übertragung von einzelnen Funktionen auf das herrschende Unternehmen mögen im Interesse des Gesamtkonzerns oder im Interesse der Holding sein. Nicht alle sind aber auch im Interesse der einzelnen Konzernunternehmen. Das führt zu einem Konflikt von Interessen, nämlich den Konzerninteressen, dem Interesse des herrschenden Unternehmens und dem Interesse des einzelnen Konzern­ unternehmens. Und es führt zu einem Konflikt zwischen den Gesellschaftern der mehrgliedrigen Tochter- und Enkelgesellschaften und deren Gläubigern. 3. Neutrale Konzernumlagen sind Umlagen im Interesse aller Konzernunternehmen und damit auch im Interesse der einzelnen Konzerngesellschaft. Dazu zu zählen sind typischerweise Beratungsleistungen in den eigenen wirtschaftlichen und rechtlichen 10 S. dazu Kroppen/Ruhmer-Krell/Sommer, IStR 2017, 667. 11 Baumhoff, IStR 2000, 693, 693 f. 12 Statt aller Altmeppen in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2015, § 311 AktG Rz. 279; Wiedemann/Fleischer in Lutter/Scheffler/U. H. Schneider (Hrsg.), Handbuch der Konzernfinanzierung, 1998, § 29 Rz. 29.23.

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Angelegenheiten und im Interesse der Tochter- und Enkelgesellschaften.13 Dazu gehören etwa die Einrichtung einer konzernweit zuständigen Rechtsabteilung, eine konzernweit zuständige Buchhaltung, eine Konzern-Compliance und eine konzernweite Revision, wenn sie auch im Interesse der Konzernunternehmen handelt, insbesondere bei ihnen Kosten spart. Das Entsprechende gilt für die Kosten des Cash-Managements,14 die Beratung und Finanzierung des Erwerbs von Beteiligungen durch Tochtergesellschaften sowie die Verwaltung und Aus- und Fortbildung von Mitarbeitern. Ob auch die Einrichtung einer konzernweit tätigen Rechtsabteilung beim herrschenden Unternehmen dazu gehört, ist zwar unlängst bestritten worden.15 Dies sei aus Sicht der beherrschten Konzernunternehmen nachteilig, weil die rechtliche Unabhängigkeit der Konzern-Rechtsabteilungen nicht gewährleistet sei. Und deshalb seien die Kosten auch nicht umlagefähig. Die Praxis16 und die Lehre17 sehen dies mit Recht anders. Es ist keineswegs ungewöhnlich, dass Personen eine Doppelrolle haben, die sie je nach Tätigkeit verpflichtet, in unterschiedlicher Weise zu handeln. 4. Dagegen sind die Kosten der Konzernleitung und der Konzernkontrolle,18 die Vergütung der Aufsichtsratsmitglieder des herrschenden Unternehmens, die Kosten für das Aufsichtsratsbüro beim herrschenden Unternehmen sowie die Kosten der rechtlichen Organisation des Konzerns, wie etwa die Konsolidierung der Konzernbilanz,19 und die Kosten für die Gesellschafterversammlung beim herrschenden Unternehmen und für die Verwaltung der unternehmensbezogenen Mitbestimmung beim herrschenden Unternehmen nicht im Interesse der abhängigen Konzerngesellschaft. Ob auch die Kosten der allgemeinen Öffentlichkeitsarbeit im Interesse der einzelnen Konzernunternehmen sind, mag man unterschiedlich sehen. Nach Ansicht von Habersack20 handelt es sich nicht um konzernbezogene Aufwendungen. 5.  Nützliche Konzernumlagen verlangen nicht nur, dass die Zusammenfassung der Funktionen beim herrschenden Unternehmen auch im Interesse der Tochtergesellschaften ist, sondern auch, dass der Umlageschlüssel angemessen ist. 6. Zu unterscheiden sind somit aus der Sicht der abhängigen Konzernunternehmen nützliche Konzernumlagen und nachteilige Konzernumlagen. Nützliche Konzernumlagen liegen aus der Sicht des einzelnen Konzernunternehmens in deren Interesse und 13 Zum folgenden auch Altmeppen in MünchKomm. AktG, 4.  Aufl. 2015, §  311 AktG Rz. 280 ff. 14 Ebenso Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 8.  Aufl. 2016, § 311 AktG Rz. 49; Wiedemann/Fleischer in Lutter/ Scheffler/ U. H. Schneider, Handbuch der Konzernfinanzierung, 1998, § 29 Rz. 44. 15 Schulenberg, FAZ vom 4.6.2014, S. 16. 16 Zuletzt Redeker, AG 2018, 381. 17 Leuering/Goertz in Hölters, AktG, 3. Aufl. 2017, § 311 AktG Rz. 67. 18 Wiedemann/Fleischer in Lutter/ Scheffler/U. H. Schneider, Handbuch der Konzernfinanzierung, 1998, § 29 Rz. 36. 19 So auch Richtlinie des ÖBMF v. 28.10.2010  – BMF-010221/2522-IV/4/2010.  Neu unter 1.3.2.  20 Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 8.  Aufl. 2016, § 311 AktG Rz. 49.

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sie beruhen auf einem angemessenen, rechtswirksamen und nachvollziehbaren Umlageschlüssel. Eine nachteilige Konzernumlage ist nicht im Interesse der Tochtergesellschaften und/oder die Umlage beruht auf einem nicht angemessenen, nicht nachvollziehbaren Umlageschlüssel. Damit stellt sich aus der Sicht des Konzernrechts die Frage, wie nachteilige Konzernumlagen zu Lasten eines abhängigen Unternehmens zu bewerten sind, also Umlagen, auf die das herrschende Unternehmen keinen Anspruch hat.

V. Nachteilige Konzernumlagen im Aktienkonzernrecht 1. Die zum Konzern gehörenden Gesellschaften können ihre Rechte und Pflichten, die sich aus der Funktionsverlagerung und den zu erbringenden Dienstleistungen ergeben, vertraglich regeln. Aus der Sicht des Gesellschafts– und Konzernrechts bestehen für solche konzerninternen Dienstleistungsverrechnungsverträge keine weitergehenden Zulässigkeitsvoraussetzungen, wenn die konzerninterne Zusammenfassung der Dienstleistungen auch im Interesse der Tochtergesellschaften ist und marktübliche Entgelte geleistet werden.21 Weitergehende Voraussetzungen bestehen nur für die steuerliche Anerkennung solcher Verträge. 2. Nachteilige Konzernumlagen, also Umlagen aufgrund von Leistungen, die nicht im Interesse der abhängigen Aktiengesellschaft sind oder ein Entgelt vorsehen, das nicht marktüblich ist, sind aus der Sicht der abhängigen Aktiengesellschaft also insbesondere im faktischen Konzern nach § 311 AktG zu beurteilen. Es handelt sich bei solchen nachteiligen Konzernumlagen nicht um verdeckte Gewinn­ ausschüttungen; denn durch §  311 AktG werden die §§  57, 58, 60, 62 AktG verdrängt.22 Der Vorstand der abhängigen AG darf nachteilige Maßnahmen und damit auch Zahlungen auf eine nachteilige Konzernumlage, die durch das herrschende Unternehmen veranlasst wurden, zwar vornehmen.23 Die Zahlung auf eine nachteilige Konzernumlage durch den Vorstand der abhängigen Aktiengesellschaft ist nicht pflichtwidrig. Konzernumlagen sind als konkrete Geldschulden bezifferbar und daher ausgleichsfähig. Die Zahlung stellt auch keine strafbare Untreue dar.24 Der Vorstand ist aber verpflichtet sicherzustellen, dass der Nachteil binnen Jahresfrist ausgeglichen wird. Wird der Nachteil bis zum Ende des Geschäftsjahres durch das herrschende Unternehmen nicht tatsächlich ausgeglichen oder der abhängigen Gesellschaft ein vollwertiger Rechtsanspruch auf einen zum Ausgleich bestimmten Vorteil gewährt, so ist u. a. das herrschende Unternehmen der Gesellschaft nach § 317 Abs. 1 AktG zum Ersatz des 21 Wiedemann/Strohn, AG 1997, 113. 22 H.M.; zum Stand der Diskussion: Jochen Vetter in Karsten Schmidt/Marcus Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 311 AktG Rz. 117 ff. mit weiteren Nachw. 23 S.  dazu Sven H. Schneider in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, S. 210 ff. 24 BGH v. 12.12. 2016 – 5 StR 134/15, ZIP 2016, 2467.

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ihr daraus entstehenden Schadens verpflichtet. Dies alles gilt  – anders als bei der GmbH – in gleicher Weise bei einem oder mehreren Aktionären. Sowohl der Nachteilsausgleich als auch der etwaige Anspruch auf Schadensersatz sind steuerlich a.o. Ertrag der abhängigen AG und erhöhen deren zu versteuernden Gewinn. 3. Maßstab für die Umlage dürfen dabei nicht der Umsatz des einzelnen Konzernunternehmens – wie dies im Eingangsfall ITT (wobei dort eine abhängige GmbH vorlag, siehe unten) geschehen ist – oder die Bilanzsumme sein. Maßstab muss vielmehr ein Drittvergleich sein unter Zugrundelegung der Pauschalierung der Kosten, die durch die Zusammenfassung der Leistungen beim beherrschenden Konzernunternehmen gespart werden. Dabei darf zugunsten des herrschenden Unternehmens auch eine Gewinnmarge berücksichtigt werden.25 Denn das herrschende Unternehmen muss Effizienzgewinne aus der Konzernierung mit den Tochter- und Enkelgesellschaften nicht teilen.26 Außerdem ist die Gewinnmarge Gegenleistung für das übernommene vertragliche Haftungsrisiko sowie das Ausfallrisiko bei Insolvenz der Tochtergesellschaft. 4. Sind das herrschende Unternehmen und die Tochtergesellschaft durch einen Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag miteinander verbunden, so darf der Vorstand der Tochtergesellschaft auf Weisung des herrschenden Unternehmens auch auf eine nachteilige Konzernumlage zahlen; denn nach § 308 Abs. 1 AktG ist der Vorstand der beherrschten Gesellschaft verpflichtet, auch einer nachteiligen Weisung des herrschenden Unternehmens zu folgen.

VI. Nachteilige Konzernumlagen im GmbH-Konzernrecht 1. Bei der GmbH ist die Lage anders. Zunächst hat man sich vor Augen zu führen, dass das GmbH-Konzernrecht nicht kodifiziert ist. Es ist in seiner heutigen Ausgestaltung durch die Rechtsprechung und die Lehre geformt. Einigkeit besteht, dass das GmbH-Konzernrecht keine Privilegierung des herrschenden Unternehmens im faktischen Konzern kennt. Die §§ 311 ff. AktG sind im GmbH-Konzernrecht nicht analog anwendbar.27 Im Blick hierauf wurde die Ansicht vertreten, die isolierte Befassung und Bewertung einer großen Zahl von konzerninternen Konzernbeziehungen lasse sich in der Wirklichkeit nicht nachvollziehen. Deshalb sei im Konzern die Einhaltung des Verbots der verdeckten Gewinnausschüttung nicht anzuwenden. Vielmehr müsse ein ausgleichendes Gesamtsystem des konzerninternen Leistungsaustausches entwickelt wer25 Altmeppen in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2015, § 311 AktG Rz. 283. 26 Wiedemann/Fleischer in Lutter/Scheffler/U. H. Schneider, Handbuch der Konzernfinanzierung, 1998, § 29 Rz. 28; Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH- Konzernrecht, 8. Aufl., § 311 AktG Rz. 49; Jochen Vetter in Karsten Schmidt/Marcus Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 311 AktG Rz. 70. 27 H.M. aber streitig; wie hier Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 8. Aufl. 2016, Anh. § 318 AktG Rz. 6.

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den.28 Die höchstrichterliche Rechtsprechung ist dem bisher nicht gefolgt, sondern hält, soweit ersichtlich, an der Einzelbetrachtung fest. Das bedeutet: Der Geschäftsführer der faktisch beherrschten GmbH unterliegt, wenn eine Unterbilanz besteht, dem Verbot, Zahlungen an einen Gesellschafter aus dem gebundenen Vermögen zu leisten. Es gilt nichts anderes als bei der konzernfreien Gesellschaft. Verboten sind Zahlungen an einen Gesellschafter, an das herrschende Unternehmen und an Schwestergesellschaften,29 wenn eine Unterdeckung vertieft oder eine Überschuldung begründet oder vertieft wird.30 Das bedeutet erstens, dass bei Unterdeckung zwar nützliche Konzernumlagen verbunden mit einem angemessenen Umlageschlüssel unbedenklich sind. Dagegen sind zweitens aber nachteilige Konzernumlagen, also Umlagen für Dienstleistungen, die nicht im Interesse der Tochtergesellschaften sind oder denen kein angemessener Umlageschlüssel zugrunde liegt, unzulässig. 2. Wenn die zuletzt genannten Voraussetzungen nicht vorliegen, also die Gesellschaft über freies Vermögen verfügt, ist zwischen der mehrgliedrigen GmbH und der Einpersonen-GmbH zu unterscheiden: Für den Geschäftsführer einer mehrgliedrigen GmbH, also einer faktisch abhängigen GmbH mit mehreren Gesellschaftern besteht ein striktes Nachteils- und Schädigungsverbot. Das gilt unabhängig davon, ob die Gesellschaft bei Gründung oder in der Folgezeit durch die Satzung der einheitlichen Leitung im faktischen Konzern unterworfen wurde oder nicht. Fehlt es an einem entsprechenden Beschluss der Gesellschafter, besteht die Gefahr, dass die Gesellschafter ungleich behandelt werden, so ist die Sicherung der Eigenständigkeit der Gesellschaft eine Kardinalpflicht des Geschäftsführers.31 Ist die Gesellschaft in einen faktischen Konzern eingegliedert, so darf der Geschäftsführer zwar Vorgaben der Konzernleitung folgen. Auch für ihn gilt aber das Schädigungsverbot als Kardinalpflicht. Das bedeutet, dass er keine Zahlungen auf eine nachteilige Konzernumlage leisten darf. Wenn er es trotzdem tut, verletzt er seine Pflichten gegenüber der Gesellschaft und macht sich schadensersatzpflichtig. Für den Geschäftsführer einer GmbH mit nur einem Gesellschafter, also einer Einpersonen-GmbH, sind Auszahlungen aus dem freien Vermögen rechtlich unbedenklich, vorausgesetzt dass die Voraussetzungen eines existenzvernichtenden Eingriffs32 nicht gegeben sind. Das bedeutet, dass der Geschäftsführer sich auch bei einer nachteiligen Konzernumlage an den Kosten beteiligen darf. 28 Hommelhoff, ZGR 2012, 535, 539, 544; Hommelhoff in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, Anh. zu § 13 GmbHG Rz. 14. 29 BGH WM 2004, 1798; BGH WM 2008, 1164; BGH WM 2012, 843 = WuB II § 30 GmbHG 1.12 mit Anm. H.F. Müller; Born, WM Sonderbeil. 1/2013, 15. 30 Einzelheiten bei Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider in FS Bergmann, 2018, S. 661. 31 Verse in Scholz, GmbHG, 12.  Aufl. 2018, §  29 GmbHG Rz.  119; Hommelhoff in Lutter/ Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 29 GmbHG Rz. 49; a.A. BGH v. 23.6.1997 – II ZR 220/95, GmbHR 1997, 790, 791. 32 BGHZ 173, 246 = GmbHR 2007, 927 mit Anm. Schröder; Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 13 GmbHG Rz. 25 ff.

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VII. Zwischenergebnis Damit ergibt sich folgendes Zwischenergebnis: 1.  Zu unterscheiden ist zwischen nützlichen und nachteiligen Konzernumlagen. Nachteilige Konzernumlagen beruhen auf Maßnahmen des herrschenden Unternehmens, die nicht im Interesse des beherrschten Unternehmens liegen oder bei denen kein angemessener Umlageschlüssel zugrunde gelegt wurde. 2.  Nützliche Konzernumlagen aufgrund einer konzerninternen Dienstleistungsverrechnung sind bei Tochtergesellschaften unabhängig von der Rechtsform konzernrechtlich unbedenklich. 3. Nachteilige Konzernumlagen sind aus der Sicht einer abhängigen AG zwar zulässig. Binnen Jahresfrist ist der damit verbundene Nachteil aber auszugleichen. 4. Nachteilige Konzernumlagen sind aus der Sicht einer beherrschten GmbH unzulässig, wenn hierdurch Zahlungen aus dem gebundenen Vermögen erfolgen. Aber auch wenn freies Vermögen vorhanden ist, besteht bei einer mehrgliedrigen GmbH ein striktes Schädigungsverbot, also ein Verbot, auf nachteilige Umlagen zu zahlen.

VIII. Nachteilige Konzernumlagen im Steuerrecht AG und GmbH werden in der Gruppe der Kapitalgesellschaften grundsätzlich steuerlich gleich behandelt. Es ist im Grundsatz auch irrelevant, ob es Minderheitsge­ sellschafter gibt oder nicht. Dabei sind nützliche und neutrale Konzernumlagen steuerrechtlich unauffällig. Es handelt sich um konzerninterne Verträge mit jeweils angemessener Gegenleistung. In den Blick zu nehmen sind nur nachteilige Konzern­ umlagen. Hierauf beschränken sich die folgenden Überlegungen. Dazu bedarf es einer kleinen Vorbemerkung. 1. Verdeckte Gewinnausschüttung im Konzern Den Konzern als organisiert verbundene Gruppe nimmt das deutsche Körperschaftsteuerrecht nicht als Einheit wahr. Das gilt auch, wenn ein beherrschender Einfluss besteht und selbst dann, wenn zusätzlich ein Gewinnabführungsvertrag abgeschlossen worden ist und daher die Voraussetzungen der gewerbe- und körperschaftsteuerlichen Organschaft vorliegen. Auch im Organschaftsverhältnis sind die Sphären der Organgesellschaft und des Organträgers streng zu trennen und es muss das Einkommen für jede Gesellschaft gesondert und periodengerecht ermittelt werden.33 Für die

33 Zu dieser „Trennungstheorie“ Hey, FR 2012, 994; Kessler in Kessler/Kröhner/Köhler, Konzernsteuerrecht, 3. Aufl. 2018, § 1 Rz. 2; Kolbe in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 14 KStG Rz. 10; Stangl in Kessler/Kröhner/Köhler, Konzernsteuerrecht, 3. Aufl. 2018, § 3 Rz. 296; Witt, FR 2009, 1045, 1046; Witt, Die Konzernbesteuerung, 2006, S. 21.

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Bewertung nützlicher und nachteiliger Konzernumlagen ist es daher grundsätzlich irrelevant, ob eine Organschaft besteht. Unproblematisch ist die Zuordnung der offenen Gewinnausschüttungen zur Sphäre der Einkommensverwendung. Die in § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG und § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz  2 EStG klargestellte Einordnung der verdeckten Gewinnausschüttung als Einkommensverwendung verlangt dagegen ein Kriterium, nach dem Leistungen an die Gesellschafter, die nicht auf einem Gewinnverwendungsbeschluss beruhen, entweder als Einkommensverwendung oder als Aufwendungen zur Einkünfteerzielung qualifiziert werden können. Hierfür hat sich in der Rechtsprechung und dem überwiegenden Teil des Schrifttums das Veranlassungsprinzip durchgesetzt.34 Um die Veranlassung im Gesellschaftsverhältnis festzustellen, stellen Rechtsprechung, Verwaltung und Praxis auf das Vergleichskriterium fremdüblicher Vertragsbeziehungen ab und beziehen sich für einen hypothetischen Fremdvergleich auf die Denkfigur des ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters.35 2. Nützliche und nachteilige Konzernumlagen im Steuerrecht Konzernumlagen sind ein nach einem Umlageschlüssel pauschaliert bemessenes Entgelt für Dienstleistungen durch andere Konzerngesellschaften („Leistungsumlage“).36 Sie können ganz oder teilweise sowohl durch ein fremdüblich ausgestaltetes Leistungsaustauschverhältnis als auch durch das Verhältnis zum Gesellschafter veranlasst sein. Im ersten Fall der betrieblichen Veranlassung sind sie der Sphäre der Einkommenserzielung zuzuordnen und bilden bei der zahlenden Gesellschaft Betriebsausgaben. Im zweiten Fall der gesellschaftsrechtlichen Veranlassung sind sie der Einkommensverwendung zuzuordnen, dürfen bei der zahlenden Gesellschaft den Gewinn nicht mindern und sind bei der empfangenden Gesellschaft wie Dividendeneinnahmen zu behandeln. Die danach notwendige Einordnung der Konzernumlagen ist in zwei Stufen vorzunehmen. Zuerst ist zu prüfen, ob eine Dienstleistung im betrieblichen Interesse erbracht worden ist. In einen zweiten Schritt folgt die Prüfung, ob das dafür einzeln oder pauschal durch eine Umlage angesetzte Entgelt angemessen ist. Diese Prüfung ist auch dann vorzunehmen, wenn Gewinnabführungsvertrag und finanzielle Eingliederung ein Organschaftsverhältnis begründen. a) Leistungen im Gesellschafter- und Konzerninteresse Gesellschaftsrechtlich „nützliche“ Konzernumlagen, die im Interesse der beherrschten Gesellschaft liegen und ein angemessenes anteiliges Leistungsentgelt bilden, sind keine vGA. Umgekehrt rechtfertigen Leistungen der herrschenden Gesellschaft, die ausschließlich in deren Beteiligungsinteresse liegen, keine Konzernumlage. Dazu 34 Gosch in Gosch, KStG, § 8 Rz. 287; Wacker, BB 2018, 2519, 2521; Wilk in Herrmann/Heuer/ Raupach, EStG/KStG, § 8 KStG Rz. 120. 35 R 8.5 III KStR 2015; Wilk in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 8 KStG Rz. 132. 36 Baumhoff in Flick/Wassermeyer/Baumhoff/Schönfeld, Außensteuerrecht, Kommentar, 79. Lfg. August 2016, Rz. 2053.

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zählen die Erfüllung von Berichts- und Veröffentlichungspflichten, die den Konzern als Ganzes betreffen und die Muttergesellschaft als Verpflichtete adressieren, sowie die Kosten der Wahrnehmung der Gesellschafterstellung.37 b) Konzernsteuerung als Mischleistung Differenziert zu betrachten sind Leistungen, die gleichermaßen im eigenen Interesse der beherrschten und der herrschenden Gesellschaft liegen können. Dazu zählen die Tätigkeiten des Vorstands der Muttergesellschaft, die sich auf die Steuerung der beherrschten Gesellschaft beziehen, die Produktions- und Investitionssteuerung, die Revision, die Planung und Koordinierung oder die Einrichtung eines konzernweiten Compliance Management-Systems, von dem auch die beherrschten Gesellschaften profitieren.38 Ein ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleiter würde die Auftragsund Produktionsplanung, die Revision und die Einrichtung eines Compliance Management-Systems ebenfalls mit den anderen Konzerngesellschaften abstimmen und dafür erforderlichenfalls Fremdleistungen beziehen. Die Kosten des Aufsichtsrats der herrschenden Gesellschaft sind dagegen nicht umlagefähig, es sei denn, der Aufsichtsrat erbringt über die Überwachung und die Beratung des Vorstands der Muttergesellschaft bei der Beteiligungskontrolle hinaus auch Beratungsleistungen für die Tochtergesellschaft.39 Nicht umlagefähig sind Vorteile, die das beherrschte Unternehmen reflexhaft treffen, etwa die Verbesserung der Wettbewerbssituation durch Aufgabe von Geschäftsbereichen in anderen Konzerngesellschaften. Hier können die Kosten der Geschäftsabwicklung nicht auf alle Konzerngesellschaften umgelegt werden. Das gilt auch für die Vorteile, die aus der Konzernzugehörigkeit überhaupt resultieren, etwa ein verbessertes Rating, das zu günstigeren Finanzierungskonditionen der Tochtergesellschaft führt. Umlagefähig sind demgegenüber die Vorteile aus einer Garantie der Mutter für die Tochter gegenüber einem darlehensgewährenden Kreditinstitut.40 c) Konzerninterne Rechtsdienstleistungen Rechtsberatung in Angelegenheiten des beherrschten Unternehmens durch die Muttergesellschaft oder eine andere Konzerngesellschaft zählt, wie andere administrative Dienstleistungen (Finanzberatung, Rechnungsprüfung, Factoring, Computerdienstleistungen), Finanzdienstleistungen (Verwaltung von Zins- und Wechselkursrisiken), operativ unterstützende Dienstleistungen (Produktion, Einkauf, Vertrieb) und Personaldienstleistungen, zu den umlagefähigen Leistungen. Vorauszusetzen ist jeweils, 37 Im Kontext der Verrechnungspreise, Greil in Kroppen, Handbuch Internationale Verrechnungspreise, 25. Lfg. Nov. 2017, Kap VII Rz. 52 ff. 38 Zutreffend Greil in Kroppen, Handbuch Internationale Verrechnungspreise, 25. Lfg. Nov. 2017, Kap VII Rz. 51. 39 Greil in Kroppen, Handbuch Internationale Verrechnungspreise, 25. Lfg. Nov. 2017, Kap VII Rz. 50. 40 Greil in Kroppen, Handbuch Internationale Verrechnungspreise, 25. Lfg. Nov. 2017, Kap VII Rz. 70.

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dass ein ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleiter diese Leistungen im eigenen Interesse des beherrschten Unternehmens in Anspruch nehmen würde. Im Einzelfall können Umstände dafür sprechen, Rechtsdienstleistungen nur innerhalb des Konzerns zu beziehen, etwa aus Geheimhaltungs- und Wettbewerbsgründen. Schwerer vorstellbar sind Gründe, die einen ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiter verpflichten würden, solche Leistungen gerade nicht im Konzern zu beziehen. Zweifel an der Unabhängigkeit schließen die Nützlichkeit des Rechtsrats der Rechtsabteilung anderer Konzerngesellschaften nicht aus,41 sondern können dazu verpflichten, zusätzlich externen Rechtsrat einzuholen. 3. Bemessung der Konzernumlage a) Rechtfertigung der pauschalen Leistungsabrechnung Die Bemessung der Konzernumlage findet ihren Ausgangspunkt in den Maßstäben des Fremdvergleichs. Dabei können abgrenzbare und einzelnen Gesellschaften direkt zurechenbare Einzelleistungen einer direkten Abrechnung und einem Einzelfremdvergleich zugänglich sein. Es sind aber auch Dienstleistungen denkbar, von denen neben dem beherrschten Unternehmen die Muttergesellschaft oder andere Konzerngesellschaften profitieren, eine direkte Zurechnung von Einzelleistungen nicht möglich oder unverhältnismäßig aufwendig ist und bei denen daher eine Kostenteilung nach einem Aufteilungsschlüssel erforderlich ist. Darüber hinaus können Vereinfachungsüberlegungen eine pauschalierte Abrechnung abgrenzbarer Einzelleistungen erlauben. Die steuerliche Anerkennung einer pauschalen Kostenverteilung beurteilt sich wiederum am Maßstab des ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters. Wo eine Einzelverrechnung vergleichbarer Leistungen gegenüber Dritten stattfindet, lässt sich eine Kostenumlage im Fremdvergleich nur rechtfertigen, wenn für den gesamten Konzern wirkende Leistungen den Konzerngesellschaften nicht einzeln zurechenbar sind.42 b) Bemessung des Aufteilungsschlüssels Durch eine Konzernumlage werden die Kosten der Leistungserbringung zuzüglich eines Gewinnaufschlags43 auf die Konzerngesellschaften verteilt. Jedenfalls der steuerlich zulässige Gewinnaufschlag ist auch konzernrechtlich nützlich und dies gilt im Übrigen auch umgekehrt. Der Verteilungsschlüssel muss den Wert der Leistungen und den Umfang der Leistungen für die einzelnen Konzerngesellschaften nachvollziehbar reflektieren. Bei Personaldienstleistungen können die Anzahl der Mitarbeiter, bei Einkauf und Produktion die Einkaufsvolumina, Stückzahl oder Umsatz geeignete Verteilungsschlüssel darstellen. Geeignet sind auch Mischschlüssel, etwa aus Umsatz, Lohnsumme oder Beschäftigtenzahl. Durch probeweise Vergleichsrechnungen mit 41 Zutreffend Redeke, AG 2018, 381, 387. 42 Verwaltungsgrundsätze für die Prüfung der Einkunftsabgrenzung bei international verbundenen Unternehmen, BMF v. 23.2.1983, BStBl. I 1983, 218, Tz. 7.1.1., i.V.m. Tz. 6.2. 43 Gosch in Gosch, KStG, § 8 Rz. 383; Reiß, StuW 2003, 21, 28.

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einer Einzelabrechnung ist die Plausibilität der Verteilungsschlüssel zu überprüfen.44 Für Rechtsdienstleistungen können die Anzahl der Vertragsverhältnisse, der Umsatz, die Mitarbeiterzahl und ein Gewichtungsfaktor für die Komplexität der Rechtsfragen im jeweiligen Geschäftsbereich in den Verteilungsschlüssel einfließen.45 4. Rechtsfolgen unangemessener Kostenumlagen Überhöhte Leistungsentgelte, wie sie aus einem ungeeigneten Verteilungsschlüssel folgen können, sind aufzuteilen. Der über das fremdübliche Maß hinausgehende Teil („nachteilige Konzernumlage“) ist der Einkommensverwendung zuzuordnen und als vGA steuerlich wie eine Dividendenausschüttung zu behandeln. Diese Rechtsfolgen treten auch ein, wenn ein Gewinnabführungsvertrag besteht und die Voraussetzungen einer körperschaftsteuerlichen Organschaft vorliegen.46 5. Berücksichtigung eines konzernrechtlichen Nachteilsausgleichs Unangemessene („nachteilige“) Kostenumlagen können wirtschaftlich durch einen konzernrechtlichen Nachteilsausgleich, Schadensersatzansprüche der Gesellschaft oder die Rückabwicklung gesellschaftsrechtlich unzulässiger Vermögensverlagerungen47 kompensiert werden. Ob sich dadurch Tatbestand oder Rechtsfolgen einer vGA vermeiden lassen, ist nach der Rechtsprechung, der Verwaltungspraxis und dem Schrifttum unterschiedlich zu beurteilen.48 Gedanklicher Ausgangspunkt der Berücksichtigung eines Ausgleichsanspruchs ist die zutreffende Feststellung, dass eine Vermögensminderung oder verhinderte Vermögensmehrung nicht entsteht, wenn derselbe Vorgang zugleich und in der gleichen Höhe einen werthaltigen Anspruch gegen den begünstigten Gesellschafter begründet.49 Dieser Anspruch ist in den anzustellenden Fremdvergleich einzubeziehen und dabei zu fragen, ob ein ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleiter den Nachteils­ ausgleich berücksichtigt und das Geschäft deshalb vorgenommen hätte.50 Die Verwaltungspraxis verlangt, dass spätestens am Ende des Wirtschaftsjahrs, in dem eine Leistung zu einem unangemessenen Preis bezogen wird, der daraus folgende Nachteil ausgeglichen wird.51 Im Schrifttum wird das Erfordernis eines so engen zeitlichen 44 Im Einzelnen Greil in Kroppen, Handbuch Internationale Verrechnungspreise, 25.  Lfg. Nov. 2017, Kap VII Rz. 121. 45 Mit Zweifeln am Zugewinn an Genauigkeit durch Mischschlüssel, Greil in Kroppen, Handbuch Internationale Verrechnungspreise, 25. Lfg. Nov. 2017, Kap VII Rz. 118. 46 Zu diesem Verhältnis der vGA zur Einkommenszurechnung in der Organschaft: Kolbe in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 14 KStG Rz. 25. 47 Dazu Reiß, StuW 1996, 337, 348. 48 Zum Meinungsstand Wilk in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 8 KStG Rz. 115. 49 BFH v. 28.4.2010 – I R 78/08, BFHE 229, 234 Rz. 39; Gosch in Gosch, KStG, § 8 Rz. 264; Wilk in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 8 KStG Rz. 115. 50 Zutreffend Wilk in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 8 KStG Rz. 115. 51 Verwaltungsgrundsätzen für die Prüfung der Einkunftsabgrenzung bei international verbundenen Unternehmen, BMF v. 23.2.1983, BStBl. I 1983, 218.

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Zusammenhangs in Frage gestellt und auf den Maßstab des ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters verwiesen, der in Dauerschuldverhältnissen auch die Berücksichtigung eines längeren Ausgleichszeitraums erlaubt.52 Die Rechtsprechung legt einen strengeren Maßstab an. Sie erkennt eine vGA selbst in der Zahlung des Geschäftsführers auf einen irrtümlich angenommenen Leistungs­ anspruch des Gesellschafters, jedenfalls dann, wenn die Einräumung des Leistungsanspruchs eine vGA begründet hätte. Der mit der Zahlung sogleich entstehende ­bereicherungsrechtliche Ausgleichsanspruch vermeidet nach dieser Rechtsprechung weder Tatbestand noch Rechtsfolge einer vGA. Ansprüche der Gesellschaft gegen den Gesellschafter, die sich aus einem als vGA zu qualifizierenden Vorgang ergeben, seien stets als erfolgsneutral zu aktivierende Einlageforderung gegen den Gesellschafter zu behandeln und deshalb nicht geeignet, die durch die vorangegangene vGA eintretende Vermögensminderung auszuschließen.53 Der steuerliche Meinungsstreit führt mit seiner Abgrenzung zwischen Vermeidung und Kompensation einer vGA zurück ins Aktien- und GmbH-Konzernrecht. Nach § 311 Abs. 2 AktG ist der konzernrechtliche Nachteilsausgleich bis zum Ende des Geschäftsjahrs, in dem der abhängigen Gesellschaft der Nachteil zugefügt worden ist, entweder zu bewirken oder zu quantifizieren und zeitlich zu bestimmen.54 Eine auf das nachteilige Geschäft bezogene Vereinbarung über den Nachteilsausgleich, die dieser Vorschrift entspricht, verhindert bezogen auf den Maßstab der Rechtsprechung nur dann eine vGA, wenn sie vor oder zusammen mit der Kostenumlagevereinbarung abgeschlossen worden ist. Dem Maßstab der Verwaltungspraxis genügt ein der Vorschrift des § 311 Abs. 2 AktG entsprechender Ausgleich vor dem Bilanzstichtag. Demgegenüber verhindert ein zeitlich später ansetzender Schadensersatzanspruch aus § 317 Abs. 1 Satz 1 AktG nach den engeren Auffassungen der Rechtsprechung und der Verwaltungspraxis nicht das Entstehen einer vGA, weil er ihr, wie ein gesellschaftsrechtlicher Rückgewähranspruch zeitlich nachfolgt.55 Das kann man auch anders sehen. Der Schadensersatzanspruch nach § 317 Abs. 1 Satz 1 AktG setzt nicht notwendig eine vGA voraus und bleibt mit dem nachteiligen Geschäft innerlich verbunden. Erkennt man in ihm ein Surrogat des Nachteilsausgleichs und löst sich mit einem Teil des Schrifttums vom Erfordernis des Ausgleichs binnen Jahresfrist,56 kann dessen Entstehen eine vGA vermeiden. Zieht man diesen Schluss nicht, ist der Ausgleich gemäß § 317 Abs. 1 Satz 1 AktG nach dem Periodizitäts- und dem Veranlassungsprinzip nach Einlagegrundsätzen zu beurteilen und verhindert nicht das Entstehen einer Vermögensminderung in der vorangegangenen Periode der unangemessenen Umlageleistung.

52 Gosch in Gosch, KStG, § 8 Rz. 265. 53 St. Rspr. BFH v. 29.4.2008 – I R 67/06, BFHE 221, 201 Rz. 33; BFH v. 25.5.2004 – VIII R 4/01, BFHE 207, 103 Rz. 31. 54 Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 311 AktG Rz. 47. 55 Allgemein zum ausgeschlossenen Vorteilsausgleich durch einen aktivierungsfähigen Schadensersatzanspruch: BFH v. 25.5.2004 – VIII R 4/01, BFHE 207, 103.  56 Gosch in Gosch, KStG, § 8 Rz. 265.

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Die gesellschaftsrechtlichen Unterschiede im Aktien- und GmbH-Konzernrecht verschieben sich damit im Steuerrecht von den Anspruchsgrundlagen zum Zeitpunkt der Anspruchsentstehung. Es kommt nicht darauf an ob, wie es § 311 Abs. 2 AktG nur für die beherrschte Aktiengesellschaft vorschreibt, ein Nachteil binnen Jahresfrist ausgeglichen wird, sondern darauf, ob es in der Periode der nachteiligen Konzernumlage zu einer Vermögensminderung kommt. Die Vorschrift des § 311 Abs. 2 AktG begründet keinen gesetzlichen Anspruch, sie gebietet eine Vereinbarung über den Nachteilsausgleich. Eine solche Vereinbarung kann aber auch zwischen der beherrschten GmbH und dem herrschenden Unternehmen geschlossen werden. Sie wird in der Praxis im Zusammenhang mit unangemessenen Konzernumlagen ebenso selten anzutreffen sein, wie der von § 311 Abs. 2 AktG vorausgesetzte Nachteilsausgleich. Ein danach oft begründeter Rückgewähranspruch im faktischen GmbH-Konzern schließt das Entstehen einer vGA aber ebensowenig aus, wie der Schadensersatz­ anspruch aus § 317 Abs. 1 Satz 1 AktG. Im Steuerrecht besteht danach im Ergebnis kein Unterschied zwischen Aktien- und GmbH-Konzern.

IX. Nachteilige Konzernumlagen und Einkünfteberichtigung im Außensteuer- und Abkommensrecht 1. Einkünfteberichtigung im multinationalen Konzern Das deutsche Außensteuerrecht und die Doppelbesteuerungsabkommen enthalten am Grundsatz des Fremdvergleichs ausgerichtete Vorschriften über die Einkünfteabgrenzung zwischen einander nahestehenden Unternehmen.57 Sie gelten neben den Regelungen über die verdeckte Gewinnausschüttung.58 Weil in der Frage des zutreffenden Fremdvergleichsmaßstabs und des angemessenen Verrechnungspreises die Besteuerungsinteressen verschiedener Staaten aufeinandertreffen, bestehen zur Angemessenheit von Konzernumlagen im multinationalen Konzern nebeneinander eine gefestigte nationale Verwaltungspraxis59 und internationale Standards, allen voran die OECD-Verrechnungspreisleitlinien60 und die Leitlinien des EU-Verrechnungs­ preisforums.61

57 Zur Bedeutung und Einordnung Pohl in Blümich, § 1 AStG Rz. 4; Rasch, Konzernverrechnungspreise im nationalen, bilateralen und europäischen Steuerrecht, 2001, S. 15 ff., 155 ff.; Wassermeyer in Wassermeyer/Baumhoff, Verrechnungspreise international verbundener Unternehmen, 2014, Rz. 1.17. 58 Im Einzelnen Schallmoser in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, §  8 KStG Rz.  42; Wassermeyer in Flick/Wassermeyer/Baumhoff/Schönfeld, § 1 AStG Rz. 67 f. 59 Verwaltungsgrundsätze-Verrechnungspreise (Verwaltungsgrundsätze) v. 23.2.1983, BStBl. I 1983, 218, in Abschnitt 7 nunmehr überlagert durch die OECD-Verrechnungspreisleitlinien, s. BMF v. 5.7.2018 – IV B 5 – S 1341/0. 60 OECD Transfer Pricing Guidelines for Multinational Enterprises and Tax Administrations, 2017; dazu Greil/Greil, StuW 2018, 184. 61 EU-Verrechnungspreisforum, Leitlinien zu konzerninternen Dienstleistungen mit geringer Wertschöpfung, KOM(2011)16, Anlage I.

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2. Verwaltungsgrundsätze-Verrechnungspreise Von der deutschen Verwaltungspraxis wird die Verrechnung für verwaltungsbezogene Leistungen im Konzern entlang der zur vGA dargestellten Grundsätze anerkannt, wenn sie eindeutig abgrenzbar und messbar sind und im Interesse der empfangenden Person erbracht werden, dazu zählen etwa Beratungsleistungen in eigenen rechtlichen Angelegenheiten.62 Die Pauschalierung durch Kostenumlagen akzeptiert sie, wenn das Entgelt für die so verrechneten Leistungen nur zusammengefasst bewertet werden kann oder die Ermittlung der den einzelnen Leistungen zuzurechnenden Kosten schwierig ist. Der Umlageschlüssel ist aus einer anerkannten Rechnungslegungsmethode abzuleiten. Eine Umlage durch einen von den Kosten unabhängigen Prozentsatz des Umsatzes oder einer ähnlichen Bezugsgröße wurde von der Verwaltungspraxis nicht anerkannt.63 Das schließt aber nicht aus, an den Umsatz als Maßstab zur relativen Verteilung der Kosten anzuknüpfen. 3. OECD-Verrechnungspreisleitlinien Die Verrechnungspreisleitlinien der OECD widmen sich in der aktualisierten Fassung 2017 in Kapitel VII, Special Considerations for Intra-Group Services, den Maßstäben für die Verrechnung konzerninterner Dienstleistungen. Die Standards folgen dem Ziel, die Besteuerungssphären nach dem Fremdvergleichsgrundsatz abzugrenzen.64 Im Mittelpunkt steht der Nutzen der Leistung für das beherrschte Unternehmen (Benefit-Test).65 Mischleistungen im gemeinsamen Interesse von herrschendem und beherrschtem Unternehmen sind im Schätzwege aufzuteilen. Die Leitlinien lassen eine Konzernumlage zu, beschreiben aber einen Vorrang der direkten Verrechnung.66 Wo die Konzernumlage zulässig ist, ist der Umlageschlüssel nach der Art der Dienstleistung zu bestimmen. Wo andere Maßstäbe fehlen, spiegeln die Leitlinien den in der Praxis gebräuchlichsten Aufteilungsmaßstab des Umsatzes.67 4. Dienstleistungen mit geringer Wertschöpfung Rechtsberatungsleistungen, die nicht Teil des Kerngeschäfts des Konzerns sind, zählen in den OECD-Verrechnungspreisleitlinien zu den Dienstleistungen mit geringer Wertschöpfung, denen ein eigenständiger Abschnitt (low value-adding services) ge62 Grundsätze für die Prüfung der Einkunftsabgrenzung bei international verbundenen Unternehmen (Verwaltungsgrundsätze) v. 23.2.1983, BStBl. I 1983, 218, Tz. 6.2.2 und 6.3.1. (für Kostenumlagen als pauschale Leistungsverrechnung nach der indirekten Methode weiter anwendbar). 63 Grundsätze für die Prüfung der Einkunftsabgrenzung bei international verbundenen Unternehmen (Verwaltungsgrundsätze) v. 23.2.1983, BStBl.  I 1983, 218, Tz. 7.1.1 und 7.1.2. (aufgehoben für Kostenumlageverträge durch BMF v. 30.12.1999, BStBl. I 1999, 1122, Tz. 7 und BMF v. 5.7.2018, BStBl. I 2018, 743). 64 OECD-TPG 2017, Tz. 7.19. 65 OECD-TPG 2017, Tz. 7.6. 66 OECD-TPG 2017, Tz. 7.22. 67 OECD-TPG 2017, Tz. 7.26.

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widmet ist.68 Diese unverbindlichen und von Deutschland bislang nicht anerkannten ergänzenden Leitlinien verbinden Dienstleistungen mit geringer Wertschöpfung mit geringeren Anforderungen an den Nachweis des Nutzens für das beherrschte Unternehmen und an den Fremdvergleich.69 Auszuwählen ist auch bei diesen Leistungen ein zur Dienstleistungsart passender Aufteilungsschlüssel.70 Dessen Genauigkeit ist aber der Bedeutung der Dienstleistung im Konzern anzupassen. Das erlaubt gröbere Pauschalierungen.71 5. Rechtsfolgen im AG- und GmbH-Konzern Eine Einkünftekorrektur am Maßstab des Außensteuerrechts und des Abkommensrechts führt nach §  1 Abs.  1 Satz 1 AStG im Einklang mit den Art.  9 OECD-MA ­entsprechenden Abkommensklauseln zu einer außerbilanziellen Erhöhung des Einkommens. Dabei kann ein periodengleicher Nachteilsausgleich eine überhöhte Konzernumlage ausgleichen. Er bewirkt eine vorgezogene Verrechnungspreiskorrektur. Einen Schadensersatzanspruch in einer späteren Periode schließt demgegenüber eine Verrechnungspreiskorrektur wie bei der vGA weder im Aktien- noch im GmbH-Konzern aus.

X. Fazit Nützliche und neutrale Konzernumlagen sind nach einem angemessenen Umlageschlüssel bemessene Entgelte für Leistungen im Interesse der Tochtergesellschaften. Sie sind unabhängig von der Rechtsform konzernrechtlich unbedenklich und stellen steuerrechtlich stets Betriebsausgaben dar. Für die Bemessung des Umlageschlüssels sind in der internationalen Verrechnungspreispraxis Maßstäbe entwickelt worden, die sich auf das Konzernrecht übertragen lassen. Danach kann im Umlageschlüssel ein Gewinnaufschlag berücksichtigt werden. Die OECD-Verrechnungspreisleitlinien erlauben seine pauschalisierte Bemessung. Nachteilige Konzernumlagen sind Zahlungen, die nicht im Interesse der abhängigen Gesellschaft sind oder nach einem unangemessenen Umlageschlüssel abgerechnet werden. Sie sind aus der Sicht einer abhängigen AG zwar zulässig. Binnen Jahresfrist ist der damit verbundene Nachteil aber auszugleichen. Aus der Sicht einer beherrschten GmbH sind nachteilige Konzernumlagen unzulässig, wenn hierdurch Zahlungen aus dem gebundenen Vermögen erfolgen. Wenn freies Vermögen vorhanden ist, besteht bei einer mehrgliedrigen GmbH ein striktes Schädigungsverbot, also ein Verbot, auf nachteilige Umlagen zu zahlen.

68 OECD-TPG 2017, Tz. 7.49. 69 OECD-TPG 2017, Tz. 7.52 und 7.54. 70 OECD-TPG 2017, Tz. 7.59. 71 EU-Verrechnungspreisforum, Leitlinien zu konzerninternen Dienstleistungen mit geringer Wertschöpfung, KOM(2011)16, Anlage I, Tz. 51.

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Im Steuerrecht begründen nachteilige Konzernumlagen unabhängig von der Rechtsform eine verdeckte Gewinnausschüttung, wenn ein Ausgleichsanspruch nicht Teil der Konzernumlagevereinbarung ist oder sie nicht bis zum Ende des Wirtschaftsjahrs ausgeglichen werden. Spätere Ausgleichszahlungen oder Schadensersatzleistungen lassen die Rechtsfolgen einer vGA nicht entfallen, sondern sind nach Einlagegrundsätzen zu behandeln. Nachteilige Konzernumlagen begründen nach denselben Grundsätzen eine Verrechnungspreiskorrektur.

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Die Vorstandsvergütungs-Empfehlung des Kodex zu Change of Control-Klauseln – Problem erkannt, Gefahr gebannt? Inhaltsübersicht I. Hart am politischen Wind 1. Lieblingsthemen und Dauerbrenner 2. Change of Control-Klauseln

4. CoC-Klauseln und Unternehmens­ interesse 5. Fürsorgepflichten der Gesellschaft

II. Empirischer Befund und Meinungsstand 1. Empirie 2. Rechtsprechung und Literatur

IV. Rechtsfolgen 1. Organhaftung 2. Strafrecht

III. Kritische Analyse 1. Ausgangspunkt 2. CoC-Klauseln und Entschließungs­ freiheit des Aufsichtsrats 3. CoC-Klauseln und Angemessenheit der Vergütungshöhe

V. Wind of Change 1. Zusammenfassung 2. Aktuelle Entwicklungen: Gefahr erkannt 3. Ad multos annos

I. Hart am politischen Wind 1. Lieblingsthemen und Dauerbrenner Ulrich Seibert hat das deutsche Gesellschaftsrecht in den vergangenen drei Jahr­ zehnten maßgeblich geprägt.1 Dabei galt die besondere Zuwendung seines „legal ­design“2  dem Recht der Partnerschaftsgesellschaft und der Aktiengesellschaft und auf dem Felde des Aktienrechts wiederum – Beruf und Berufung entsprechend immer hart am politischen Wind – neben der Frauenförderung3 der Vorstandsvergü-

1 Obwohl Ulrich Seibert als unabhängiger, aber loyaler Ministerialbeamter das naheliegende Bonmot, es sei für die gesellschaftsrechtliche Gesetzgebung gleichgültig, wer unter ihm Justizminister(in) ist, nie ausgesprochen und wohl nicht einmal gedacht hat, könnte man auf eine solche Idee angesichts der hohen Qualität und Kontinuität der gesellschaftsrechtlichen Gesetzgebung im genannten Zeitraum kommen. 2 Zur tieferen Bedeutung der von ihm provokativ-scherzhaft verwendeten Berufsbezeichnung „legal designer“ Seibert, Aus dem Entwurfs-Atelier der Gesetzgebung, in FS Wiedemann, 2002, S. 123, 131 f. 3 Frauen in Aufsichtsräten und Vorständen, BOARD 12/2011, 166; Frauen in Aufsichtsräten und Vorständen, in Schweinsberg/Laschet (Hrsg.), Handbuch für Aufsichtsräte, 2013, S. 144; Frauenförderung durch Gesellschaftsrecht, NZG 2016, 16; Die Dialektik der Frauenquote in FS Baums, 2017, S. 1133; Gleichberechtigung und Rollengleichheit, in FS 10 Jahre Österberg Seminare, 2018, S. 11.

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tung.4 Letztere erweist sich seit gut zwei Jahrzehnten als „Dauerbrenner“ der gesellschaftspolitischen Diskussion und der gesellschaftsrechtlichen Gesetzgebung.5 Dabei ging es zunächst im KonTraG mit der Ermöglichung von Stock Options und dem Ziel „unternehmenswertorientierter Entlohnung“6 tendenziell noch um eine Ausweitung der Vergütungen. Doch der Wind drehte bald. Das 10-Punkte-Programm der Bundesregierung „Unternehmensintegrität und Anlegerschutz“ vom 28. August 2002 / 25. Februar 2003 war Reaktion auf Bilanzfälschungen und verbreitete Empörung über Selbstbedienungsverhalten in den Vorständen und stellte eine Reihe von Maßnahmen zur Schaffung von Transparenz und Begrenzung von Vorstandsvergütungen dar, die „zum Teil in den Empfehlungen des Kodex aufgegriffen oder vom Gesetzgeber verwirklicht werden“ könnten.7 Am 3. August 2005 stand das „Gesetz zur Offenlegung der Vorstandsvergütungen (VorstOG)“ im BGBl.,8 das u.a. die individualisierte Offenlegung von Vorstandsvergütungen vorsah und auf die Begrenzung von als unangemessen empfundenen Vergütungen durch Rechnungslegungstransparenz setzte. Das funktionierte  – wenig überraschend  – nicht, so dass bereits in der anschließenden 16.  Legislaturperiode das Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung (VorstAG) verabschiedet wurde.9 Neben einem fakultativen und unverbindlichen Vergütungsvotum der Hauptversammlung (§ 120 Abs. 4 AktG) brachte es eine Detaillierung der materiellen Anforderungen an Höhe und Struktur der Vorstandsvergütung (§ 87 Abs. 2 AktG) und unterstrich die Haftung des Aufsichtsrates für pflichtwidrige Vergütungsentscheidungen (§ 116 Abs. 3 AktG). Ein Schlusspunkt war damit jedoch keineswegs gesetzt. Die gesellschaftliche und rechtspolitische Diskussion setzte sich praktisch unvermindert fort, die als Aktienrechtsnovelle 2012 gestartete Änderung zahlreicher aktienrechtlicher Vorschriften10 firmierte am Ende der 17. Legislaturperiode als „Gesetz zur Verbesserung der Kontrolle der Vorstandsvergü 4 Stock Options für Führungskräfte, in Pellens (Hrsg.), Unternehmenswertorientierte Entlohnungssysteme, 1998, S. 29; Das 10-Punkte-Programm Unternehmensintegrität und Anlegerschutz, BB 2003, 693; Managervergütung  – Konsequenzen aus der Finanzkrise in Deutschland, EuZ 2009, 146; Das VorstAG  – Regelungen zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung und zum Aufsichtsrat, WM 2009, 1489; Die Koalitionsarbeitsgruppe „Managervergütungen“ in FS Hüffer, 2010, S. 955; Das Gesetzgebungsverfahren und die politischen Verhandlungen zum VorstAG vom Kabinettsbeschluss bis zu seinem Inkrafttreten, in FS Goette, 2011, S. 487; Die Kontrolle der Vorstandsvergütung, BOARD 4/2013, 139; Von der Aktienrechtsnovelle 2011 zum VorstKoG, in FS Kübler, 2015, S. 665. 5 Zur Managervergütung als Zielscheibe und Spielball politischer Interessen s. Hirte/Schüppen in GS Schmehl, 2019, S. 419. 6 Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG) vom 27.4.1998, BGBl. I 1998, 786; Seibert in Pellens (Hrsg.), Unternehmenswertorientierte Entlohnungssysteme, 1998, S. 29. 7 Seibert, BB 2003, 693, 695. 8 BGBl. I 2005, 2267; hierzu van Kann, DStR 2005, 1496. 9 Gesetz vom 31.7.2009, BGBl. I 2009, 2509; hierzu Seibert, WM 2009, 1489; in FS Hüffer, 2010, S. 955; in FS Goette, 2011, S. 487; Schüppen, ZIP 2010, 905 (insbesondere zum Vergütungsvotum). 10 Zum damaligen Regierungsentwurf Seibert/Böttcher, ZIP 2012, 12  ff.; Schüppen/Tretter, WPg 2012, 338.

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tung und zur Änderung weiterer aktienrechtlichen Vorschriften (VorstKoG)“ (bevor sie der wegen des Endes der Legislaturperiode der Diskontinuität verfiel11 und schließlich – ohne den Vorstandsvergütungskomplex – als Aktienrechtsnovelle 2016 verabschiedet werden konnte12). Auch zum Ende der 18. Legislaturperiode nahm die Diskussion wieder Fahrt auf,13 allerdings kam es vorerst nicht zu einer weiteren gesetzlichen Regelung. Erhebliche legislatorische Veränderungen ergeben sich erneut in der 19. Legislaturperiode des deutschen Bundestages (hierzu unten V. 2.). 2. Change of Control-Klauseln Vor diesem Hintergrund haben wir Anlass zu der Hoffnung, dass auch eine „Spezia­ lität“ des Themenkomplexes auf das Interesse des Jubilars trifft: die Change of Con­ trol-Abfindung. Abfindungszahlungen in Millionenhöhe an vorzeitig ausscheidende Vorstandsmitglieder sorgen regelmäßig für Aufsehen und öffentliche Empörung.14 Einen speziellen Teilbereich solcher Abfindungszahlungen stellen Change of Control-­ Abfindungen bzw. die vertragliche Regelung solcher eventueller Zahlungen durch Change of Control-Klauseln (nachfolgend abgekürzt „CoC-Klauseln“) in Vorstandsanstellungsverträgen dar. Idealtypisch gibt eine solche vertragliche Regelung dem Vorstandsmitglied das Recht, bei einem Change of Control (oder einem Change in Control15) außerordentlich zu kündigen und das Unternehmen mit einer Abfindungszahlung in Höhe mehrerer Jahresgehälter zu verlassen. Im Detail unterscheiden sich die verwendeten Klauseln in vielfacher Hinsicht,16 insbesondere bei der Definition von „Kontrolle“ und „Kontrollwechsel“ und in der Frage ob ein „unfreiwilliger“ Amtsverlust vorliegen muss oder ob dem Vorstandsmitglied ein – ggf. von weiteren Voraussetzungen abhängiges – Kündigungsrecht eingeräumt wird.17 Der Deutsche Corporate Governance Kodex in der Fassung vom 7.  Februar 2017 (DCGK  2017) will solche CoC-Abfindungen privilegieren, denn Ziffer 4.2.3 emp11 Ausführlich Seibert in FS Kübler, 2015, S. 665. 12 Gesetz vom 12.11.2015, BGBl. I 2015, 2565; hierzu Harbarth/von Plettenberg, AG 2016, 145; Schüppen/Tretter, WPg 2015, 643. 13 Hirte/Schüppen in GS Schmehl, 2019, S. 419. 14 Jüngst etwa FAZ v. 10.9.2018, S. 19 („Die Obergrenze für Manager-Abfindungen ist Makulatur“) mit zahlreichen Fallbeispielen; s. auch die beindruckende Zusammenstellung bei Liebers/Hoefs, ZIP 2004, 97, 101 f. (deren Bewertung durch die Autoren allerdings zweifelhaft ist); empirische Auswertung und eingehende, kritische Analyse der einschlägigen Empfehlung des DCGK 2017 bei Schottmüller-Einwag, Abfindungobergrenzen für Vorstandsmitglieder, Wiesbaden 2018. 15 Bei bisher nicht kontrollierten Gesellschaften im Streubesitz geht es nicht um einen Kon­ trollwechsel, sondern um eine erstmalige Begründung von Kontrolle; strenggenommen muss bei diesen Gesellschaften daher von „Change in Control“ gesprochen werden. Angesichts des eingebürgerten Sprachgebrauchs und dem geringen Erkenntnisgewinn verzichten wir nachfolgend auf eine differenzierte Verwendung dieser Begriffe. 16 Formulierungsbeispiele und -muster beispielsweise bei Klagges in Schaub (Begr.), Arbeitsrechtliches Formular- und Verfahrensbuch, 12. Aufl. 2017, Abschn. A. 2. Teil Rz. 257-258; Lücke in Hümmerich (Hrsg.), 8. Aufl. 2014, Arbeitsrecht, § 1 Rz. 534; Reufels in Hümmerich/Reufels, Arbeitsvertragsgestaltung, 3. Aufl. 2015, § 3 Rz. 523. 17 Ausführlicher Kort in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 87 AktG Rz. 313 ff.

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fiehlt, dass eine Zahlung anlässlich der vorzeitigen Beendigung der Vorstandstätigkeit grundsätzlich weder zwei Jahresvergütungen noch den Kapitalisierungsbetrag der Restlaufzeit des Anstellungsvertrages überschreiten soll („Abfindungs-Cap“). Wird die Abfindung aber aus Anlass der vorzeitigen Beendigung der Vorstandstätigkeit infolge eines Kontrollwechsels zugesagt, so sollen 150 % dieses Abfindungs-Caps – ohne Begrenzung auf den Kapitalisierungsbetrag der Restlaufzeit18 – als Obergrenze gelten. Gesetzliche Erwähnung finden Change of Control-Klauseln zudem im Rechnungslegungsrecht: Gemäß §§ 285 Nr. 9 lit. a) Satz 6, 314 Abs. 1 Nr. 6 lit. a) Satz 6 HGB und §§ 289a Abs. 1 Nr. 8 und 9, 315a Abs. 1 Nr. 8 und 9 HGB19 müssen kapitalmarktorientierte Gesellschaften im (Konzern-)Anhang und (Konzern-)Lagebericht Angaben zu CoC-Vereinbarungen und zu für den Fall der Beendigung der Tätigkeit zugesagten Leistungen machen. Trotz dieser Verankerung in Kodex und Gesetz ist aber diskussionsbedürftig, ob ein pflichtgemäß handelnder Aufsichtsrat CoC-Klauseln vereinbaren sollte. Nach einer kurzen Darstellung des Meinungsstandes (unten II.) ist dies im Rahmen einer kritischen Analyse zu untersuchen (unten III.) und auf mögliche Haftungsrisiken für den Aufsichtsrat abzuklopfen (unten IV).

II. Empirischer Befund und Meinungsstand 1. Empirie Nicht nur die Befassung des DCGK, sondern auch empirische Evidenz zeigt, dass CoC-Klauseln praktisch nicht ganz selten anzutreffen sind.20 Ausweislich der Vergütungsberichte für das Geschäftsjahr 2017 ist festzustellen, dass bei einer guten Hälfte der DAX 30-Unternehmen CoC-Leistungen zugesagt werden. Festzuhalten ist allerdings auch, dass einige Unternehmen dieser Gruppe (namentlich Adidas, Beiersdorf, BMW und Continental) weder CoC-Klauseln noch Karenzentschädigungen/Übergangsgelder vereinbaren. 2. Rechtsprechung und Literatur Rechtsprechung, die sich mit der grundsätzlichen Zulässigkeit und der Angemessenheit konkreter CoC-Klauseln im Einzelfall beschäftigen würde, ist bisher nicht ersichtlich. Drei zu unterschiedlichen Sachverhalten ergangene Entscheidungen lassen in obiter dicta eine gewisse Skepsis gegenüber CoC-Klauseln erkennen und rücken 18 Str.; Spindler (in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, § 87 AktG Rz. 156) meint, dass der Kodex die Beschränkung auf den Kapitalisierungsbetrag der Restlaufzeit auch auf CoC-Klauseln beziehe, weil diese nur ein Unterfall der Abfindungsvereinbarung seien; a.A. jedoch Bachmann in Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder, DCGK, 7. Aufl. 2018, Rz. 1031; Hoffmann-Becking, ZIP 2007, 2101, 2107. 19 Jeweils i.d.F. vor Inkrafttreten des ARUG II, s. hierzu unten V.2. 20 Vgl. etwa Bayer/Meier-Wehrsdorfer, AG 2013, 477, 484; Bachmann in Kremer/Bachmann/ Lutter/v. Werder, DCGK, 7. Aufl. 2018, Rz. 1031 und 1033.

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diese in die Nähe ungerechtfertigter Sondervorteile, ohne hierzu tatsächlich urteilen zu müssen.21 Eine gewisse Relevanz hat die Mannesmann-Entscheidung des 3. Strafsenats des BGH.22 Zwar beschäftigt sich das Urteil nicht mit einer CoC-Klausel und auch nicht mit Abfindungsleistungen, sondern mit der Gewährung einer im Dienstvertrag nicht vorgesehenen „nachträglichen Anerkennungsprämie“. Gleichwohl ist es auch für CoC-Klauseln einschlägig, wenn der BGH explizit festhält, dass die Aufsichtsratsmitglieder „bei allen Vergütungsentscheidungen im Unternehmensinteresse handeln“ müssen23 und nach dem „zukunftsbezogenen Nutzen“ und dem „Vorteil“ eines Vergütungselements für die Gesellschaft fragt.24 Von Bedeutung ist zudem, dass nach Ansicht des BGH die Bewilligung gemessen am Unternehmensinteresse unzulässiger Vergütungselemente unabhängig von der Angemessenheit der Gesamtvergütung pflichtwidrig ist und eine strafbare Untreue darstellen kann.25 In der Fachliteratur wird die Vereinbarung von CoC-Klauseln ganz überwiegend für jedenfalls im Prinzip zulässig gehalten.26 Nur vereinzelte, aber gewichtige Stimmen gehen von einer grundsätzlichen Unzulässigkeit von CoC-Klauseln aus oder wollen diese allenfalls in engem Rahmen zulassen.27 Allerdings betonen auch eine Reihe derjenigen Autoren, die in der Aufnahme von CoC-Klauseln in den Anstellungsvertrag kein grundsätzliches Problem sehen, dass eine restriktive Handhabung erforderlich ist und die Vereinbarung entsprechender Klauseln in bestimmten Situationen oder mit bestimmten Inhalten durchgreifenden Bedenken begegnet.28 Grundsätzlich unzulässig ist die Vereinbarung einer CoC-Klausel nach verbreiteter Auffassung zu einem Zeitpunkt, in dem sich ein Übernahmeversuch – und erst recht ein Kontrollwechsel – bereits konkret abzeichnet.29 21 OLG München, Urt. v. 14.12.2011 – 7 AktG 3/11, ZIP 2012, 773, 775; LG Stuttgart, Urt. v. 17.5.2011 – 31 O 30/10 KfH, juris, Rz. 307; KG, Beschl. v. 9.6.2008 – 2 W 101/07, juris, Rz. 91. 22 BGH v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04, BGHSt 50, 331 = NZG 2006, 141; zu dieser Entscheidung Martens, ZHR 169 (2005), 124, 133 ff.; Rönnau/Hohn, NStZ 2004, 113; Schüppen in FS Tiedemann, 2008, S. 749, 763 f. 23 BGH a.a.O Rz. 13. 24 BGH a.a.O. Rz. 19 und 58. 25 BGH a.a.O. Rz. 19. 26 Hüffer/Koch, AktG, 13.  Aufl. 2018, §  87 AktG Rz.  9; Spindler in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, § 87 AktG Rz. 155; Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 3. Aufl. 2015, § 87 AktG Rz. 53; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 87 AktG Rz. 85. 27 Martens, ZHR 2005 (169), 124, insbes. 138, 140 u. 142 f.; Lutter, ZIP 2006, 733, 737; Habersack, ZHR 2017 (181), 603, 620; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 87 AktG Rz. 86 (Unzulässigkeit eines Sonderkündigungsrechtes ohne erhebliche Beeinträchtigung der Stellung durch Kontrollwechsel). 28 Vgl. mit im Einzelnen unterschiedlicher Schwerpunktsetzung hinsichtlich der für erforderlich gehaltenen „restriktiven“ Handhabung Ziemons in FS Huber, 2006, S.  1035; Hoffmann-Becking, ZIP 2007, 2101; Spindler in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, § 87 AktG Rz.  157; Nehls in Schüppen/Schaub (Hrsg.), MünchAnwHdb. AktR, 3.  Aufl. 2018, §  22 Rz. 164. 29 Spindler in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, § 87 AktG Rz. 157; Kort, AG 2006, 106, 108; Kort in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 87 AktG Rz. 321; Ziemons in FS Huber, 2006,

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III. Kritische Analyse 1. Ausgangspunkt Grundsätze für Bestellung und Abberufung von Vorstandsmitgliedern sind in § 84 AktG, für die Bezüge von Vorstandsmitgliedern in § 87 AktG normiert. Die letztgenannte Vorschrift ist durch das Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung30 mit dem Ziel, überhöhten Vorstandsbezügen entgegenzuwirken, verschärft worden. Maßstab der vom Gesetz geforderten Angemessenheit sind Aufgaben und Leistungen des Vorstandsmitglieds, die Lage der Gesellschaft und „Üblichkeit“. Darüber hinaus ist bei börsennotierten Gesellschaften die Vergütungsstruktur auf eine nachhaltige Unternehmensentwicklung auszurichten. Explizit auf Abfindungszahlungen oder CoC-­Klauseln bezogene Vorgaben enthält das AktG nicht. § 3 Abs. 3 WpÜG verpflichtet Vorstand und Aufsichtsrat, auch in Übernahmesitua­ tionen im Interesse der Zielgesellschaft zu handeln und nicht etwa isoliert Aktionärsinteressen an einem möglichst hohen Angebot in den Blick zu nehmen.31 Selbstverständlich dürfen die Organmitglieder als Treuhändler fremder Vermögensinteressen erst Recht nicht aus unmittelbarem Eigennutz oder bestimmt durch Interessen­ konflikte handeln.32 Den in der Person des Vorstands möglichen Interessenkonflikt ­adressiert § 33d WpÜG, der es dem Bieter untersagt, Vorstands- oder Aufsichtsratsmitgliedern ungerechtfertigte Geldleistungen oder geldwerte Vorteile zu gewähren oder in Aussicht zu stellen.33 Umstritten ist, ob darüber hinaus auch das (partielle) Vereitelungsverbot des § 33 WpÜG einschlägig ist.34 2. CoC-Klauseln und Entschließungsfreiheit des Aufsichtsrats Gemäß § 84 Abs. 1 AktG darf die Amtszeit eines Vorstandsmitglieds nicht mehr als 5 Jahre betragen; § 84 Abs. 3 AktG sieht vor, dass der Aufsichtsrat die Bestellung zum Vorstandsmitglied widerrufen kann, wenn ein wichtiger Grund vorliegt. Sowohl die Verlängerung einer Vorstandsbestellung als auch  – bei Vorliegen eines wichtigen Grundes – die Abberufung eines Vorstandsmitglieds sind Ermessensentscheidungen des Aufsichtsrats. Als Verstoß gegen § 84 AktG werden alle Vereinbarungen beurteilt, die die Entschließungsfreiheit des Aufsichtsrats beeinträchtigen, indem sie an die S. 1035, 1043; Fleischer in Spinder/Stilz, AktG, 3. Aufl. 2015, § 87 AktG Rz. 53; a.A. Mertens/ Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 87 AktG Rz. 86. 30 VorstAG, BGBl. I 2009, 2509, s. bereits oben in/bei Fn. 9. 31 Ausführlicher Schüppen in Haarmann/Schüppen, FrankfKomm. WpÜG, 3. Aufl. 2008, § 3 WpÜG Rz. 25 f. 32 Spindler in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, § 93 AktG Rz. 25 u. 47. 33 Ausführlicher Röh in Haarmann/Schüppen, FrankfKomm. WpÜG, 3.  Aufl. 2008, §  33d WpÜG Rz. 4 ff. 34 Bejahend Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 3. Aufl. 2015, § 87 AktG Rz. 53; Krause/Pötzsch in Assmann/Pötzsch/Uwe H. Schneider, WpÜG, 2. Aufl. 2013, § 33 WpÜG Rz. 117, 279; Fastrich in FS Heldrich, 2005, S. 143, 147; Hirte in KölnKomm. WpÜG, 2. Aufl. 2010, § 33 WpÜG Rz. 59 u. 169; verneinend Goslar in Wilsing, DCGK, 2012, Ziff. 4.2.3 Rz. 24.

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Nichtverlängerung der Anstellung oder die Abberufung bei Vorliegen eines wichtigen Grundes so hohe (Abfindungs-)Zahlungen knüpfen, dass der Aufsichtsrat aufgrund der wirtschaftlichen Konsequenzen faktisch in seiner Entscheidung nicht mehr frei, sondern gebunden ist.35 CoC-Klauseln, die an das Unterbleiben einer Wiederbestellung oder an eine Abberufung bei Vorliegen eines wichtigen Grundes erhebliche Abfindungszahlungen knüpfen, sind daher bereits wegen Verstoßes gegen § 84 Abs. 1 bzw. Abs. 3 AktG unwirksam.36 3. CoC-Klauseln und Angemessenheit der Vergütungshöhe Für den Fall eines Kontrollwechsels zugesagte Leistungen gehören zu den Gesamtbezügen und unterliegen dem Angemessenheitsgebot des § 87 Abs. 1 AktG.37 CoC-Abfindungen stellen letztlich nachträgliche Gehaltserhöhungen für vergangene Vorstandstätigkeit dar,38 auch wenn es sich steuerlich nicht um Entgelt für früher geleistete Arbeit handelt.39 Eine Rechtfertigung für eine deutliche Erhöhung der Vergütung gerade für den Fall des Ausscheidens ist aber schwierig. Hervorzuheben ist auch, dass es nach verbreiteter und zutreffender Ansicht problematisch ist, bei der Abfindung durch „Auszahlung des laufenden Vertrages“ schlicht von 100 %-iger Ziel­ erreichung bzw. bei den ertrags- und/oder umsatzabhängigen Kennzahlen jeweils von der vertraglichen Obergrenze auszugehen; richtigerweise muss, wenn eine solche Vereinbarung getroffen wird, eine realistische und vorsichtige Prognose maßgeblich sein.40 Schließlich begegnet es unter dem Gesichtspunkt der von § 87 Abs. 1 AktG geforderten Angemessenheit ganz generell durchgreifenden Bedenken, wenn eine Abfindung über das Maß der restlichen Gehaltszahlungen bis zum Ende des Dienstvertrages hinausgeht.41 4. CoC-Klauseln und Unternehmensinteresse Rechtssystematisch handelt es sich bei § 87 AktG um eine bereichsspezifische Ausprägung der allgemeinen organschaftlichen Sorgfaltspflicht der Aufsichtsratsmitglie35 Spindler in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, § 84 AktG Rz. 55. 36 Dreher, AG 2002, 214, 217; eine andere, hier nicht zu behandelnde Frage ist vor diesem Hintergrund, ob es zulässig ist, an eine Abberufung aus einem wichtigen Abberufungsgrund, der nicht zugleich zur fristlosen Kündigung des Anstellungsvertrages berechtigt (insbesondere Vertrauensentzug durch die Hauptversammlung), die Beendigung des Anstellungsvertrages zu knüpfen. Dies ist umstritten (Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 84 AktG Rz. 52); der BGH hat es 1989 bejaht, zuletzt aber offengelassen. 37 Dreher, AG 2002, 214, 2016; Ziemons in FS Huber, 2006, S. 1035, 1040. 38 Veltins, BB 2013, 1077, 1079. 39 BFH v. 2.9.2009 – I R 111/08, BStBl. II 2010, 394; BFH v. 24.7.2013 – I R 8/13, BFH/NV 2014, 149; zur hierdurch ausgelösten Änderung des § 50d Abs. 12 EStG, die Abfindungszahlungen als Tätigkeitsvergütung fingiert, Hirte/Schüppen in GS Schmehl, 2019, S. 419, 428. 40 Ziemons in FS Huber, 2006, S. 1035, 1041; Bayer/Meier-Wehrsdorfer, AG 2013, 477, 480, 481; Spindler in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, § 87 AktG Rz. 155. 41 Spindler in MünchKomm. AktG, 4.  Aufl. 2014, §  87 AktG Rz.  155; Martens, ZHR 169 (2005), 124, 141.

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der.42 Aufsichtsratsmitglieder sind wie der Vorstand verpflichtet, das Interesse des Unternehmens zu wahren.43 Das Unternehmensinteresse bildet als Verhaltensmaxime den Orientierungsrahmen für die Ausübung der dem Aufsichtsrat zustehenden Organkompetenzen,44 was sowohl die Zivil- als auch die Strafsenate des BGH häufig betonen45 und §  3 Abs.  3 WpÜG für Übernahmesituationen  – letztlich deklaratorisch – nochmals festhält. Weiterer Beurteilungsmaßstab einer nicht schon gegen § 84 oder aus Gründen unangemessener Vergütungshöhe gegen § 87 Abs.1 AktG verstoßenden CoC-Klausel muss vor diesem Hintergrund daher mit der insoweit zutreffenden Herangehensweise der Mannesmann-Entscheidung des BGH die Frage sein, ­welchen im Interesse des Unternehmens liegenden „Nutzen“ oder „Vorteil“ ein entsprechendes Vergütungselement erwarten lässt.46 Auch wenn man § 87 Abs. 1 Satz 1 AktG als eine für Fragen der Vorstandsvergütung abschließende Konkretisierung der Orientierung des Organhandelns am Unternehmensinteresse ansehen wollte,47 könnte dies nicht zu anderen Ergebnissen führen. Denn aus der Verpflichtung des Aufsichtsrates auf das Unternehmensinteresse ergibt sich selbstverständlich die Pflicht, Fehlincentivierungen der Vorstandsmitglieder zu vermeiden.48 Insofern kann allenfalls dogmatisch fraglich sein, ob die Prüfung der Anreizwirkungen und (Dys)Funktionen einzelner Vergütungselemente, die über die bloße Prüfung der Gesamtvergütungshöhe hinaus jedenfalls geboten ist, ein Element der Angemessenheitsprüfung darstellt oder auf der Grundlage der unbestrittenen Generalverpflichtung des Aufsichtsrats auf das Unternehmensinteresse ohne Subsumtion unter dieses ausdrücklich normierte Kriterium zusätzlich erfolgt.49 Es ist offenkundig, dass die durch typische CoC-Klauseln begründete Möglichkeit für das Vorstandsmitglied, sich im Falle eines Change of Control einseitig von seinen dienstvertraglichen Pflichten loszusagen und das Unternehmen gegen Zahlung einer erheblichen Abfindung zu verlassen, zwar im Interesse des Vorstandsmitglieds, nicht aber im Interesse des Unternehmens liegt. Diesem läuft die einseitige Lösungsmöglichkeit vielmehr diametral entgegen, wenn das Unternehmen sich auch nach dem Kontrollwechsel nicht von dem Vorstandsmitglied trennen will, was ex-ante nicht bekannt, aber ohne Weiteres denkbar ist. 42 Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 3. Aufl. 2015, § 87 AktG Rz. 1. 43 Spindler in Spindler/Stilz, AktG, 3.  Aufl. 2015, §  116 AktG Rz.  23; OLG Düsseldorf v. 22.6.1995, AG 1995, 416, 418; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3.  Aufl. 2013, §  116 AktG Rz. 3. 44 Habersack in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, § 116 AktG Rz. 11. 45 Schüppen in FS Tiedemann, 2008, S. 749, 756 mit Nachw. in Fn. 28 und 29. 46 BGHSt 50, 331, 338 f.; LG Düsseldorf v. 22.7.2004, NJW 2004, 3275, 3277; Schüppen in FS Tiedemann, 2008, S. 749, 758. 47 Kort in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 87 AktG Rz. 308; Marsch-Barner in FS Röhricht, 2005, S. 401, 406; wohl auch Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 87 AktG Rz. 7. 48 OLG München v. 7.5.2008, ZIP 2008, 1237 = NZG 2008, 631, 632; Fastrich in FS Heldrich, 2005, S. 143, 149; Habersack, NZG 2008, 634; Reichert/Balke in FS Hellwig, 2010, S. 285, 286. 49 Nach OLG München v. 7.5.2008, NZG 2008, 631, 632 geht es über die gesetzlich nicht abschließend normierten Prüfungsparameter hinaus um ein „Kriterium des optimierten Leistungsanreizes und Steuerungseffekts“.

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Fraglich ist daher, ob dieser Nachteil durch anderweitige Vorteile (über-)kompensiert wird. Nach verbreiteter Ansicht soll die CoC-Klausel als „zusätzliche Sicherung des Vorstandsmitglieds“ dazu dienen, dass das Vorstandsmitglied einen etwaigen Zusammenschluss ausschließlich im Interesse des Unternehmens beurteilt und sich in seinem Verhalten nicht von der Sorge um persönliche wirtschaftliche Nachteile als Folge eines Kontrollwechsels leiten lässt.50 In der Sache würde es sich damit um einen Vergütungsanreiz zu gesetzeskonformem Verhalten handeln. Ein Vorstandsmitglied ist nämlich auch ohne solche speziellen Vergütungsanreize verpflichtet, sein Handeln ausschließlich am Unternehmensinteresse auszurichten und nicht persönliche Sonderinteressen zu verfolgen.51 Es ist sehr fraglich, ob es im Unternehmensinteresse liegen kann, ihm als Anreiz zu gesetzeskonformem Verhalten in Übernahmediskussionen eine besondere Prämie auszuloben. Eine der Normativität des Faktischen folgende Notwendigkeit hierzu könnte allenfalls für die Situation so genannter feindlicher Übernahmen bestehen. Falls nämlich der Vorstand der Gesellschaft die Übernahme als gerade im Interesse der Gesellschaft liegend beurteilt und es zu einer einvernehmlichen, „freundlichen“ Übernahme oder Fusion kommt, werden auch die Corporate Governance und das Personaltableau nebst Anstellungsbedingungen bei Durchführung der Transaktion einvernehmlich geregelt. In Situationen „feindlicher“ Übernahmen, in denen also der Vorstand ein Interesse des Unternehmens an Übernahme/Fusion gerade verneint, könnte prima facie in der Tat ein Interesse daran bestehen, ihm „den Rücken zu stärken“ und seinen Mut zu erhöhen, sich beim Übernahmeinteressenten/Bieter trotz der hierdurch im Falle des Erfolgs der Übernahme reduzierten Weiterbeschäftigungschancen „unbeliebt“ zu machen. Dem stehen jedoch zwei gewichtige und letztlich durchschlagende Überlegungen gegenüber: Um überhaupt als „Vergütungsanreiz“ wahrgenommen zu werden und wirken zu können, muss sich die CoC-Abfindung auf einen signifikanten Betrag belaufen. Abhängig von der individuellen Lebenssituation im Zeitpunkt der Übernahme, die im Zeitpunkt der vertraglichen Vereinbarung für den Aufsichtsrat möglicherweise nur eingeschränkt transparent ist und die nicht vorhersehbaren künftigen Veränderungen unterliegt, kann das einzelne Vorstandsmitglied ein erhebliches Interesse daran haben, in den Genuss einer solchen CoC-Abfindung zu kommen, weil es anderweitige Herausforderungen annehmen will oder aus familiären Gründen den Umfang der Berufstätigkeit deutlich reduzieren will. Das Bestehen einer CoC-Klausel wirkt dann als Anreiz, eine eigentlich nicht im Interesse des Unternehmens liegende „feindliche“ Übernahme aus individuellem Vergütungsinteresse offen oder verdeckt zu fördern. Das Interesse des Vorstandsmitglieds ist in dieser Situation der Erhalt der Leistung

50 Hoffmann-Becking, ZHR 2005 (169), 155, 170; Kort, AG 2006, 106; Bachmann in Kremer/ Bachmann/Lutter/v. Werder, DCGK, 7. Aufl. 2018, Rz. 1031. 51 Spindler in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, § 93 AktG Rz. 46 f. und § 76 AktG Rz. 60 ff.

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aufgrund des Kontrollwechsels, der (eigentliche oder vorgebliche) Zweck der Klausel verkehrt sich in sein Gegenteil.52 Es kommt hinzu, dass eine CoC-Abfindung sich im Falle der erfolgreichen „feindlichen“ Übernahme in doppelter Hinsicht als Prämie für einen Misserfolg des Vorstandsmitglieds darstellt. Auf der Grundlage der neoliberalen Theorie eines Marktes für Unternehmenskontrolle hat eine an den Kontrollwechsel anknüpfende Zahlung den Charakter eines „Reward for Failure“, weil es zur Übernahme im Rahmen dieser Gedanken- und Modellwelt nur aufgrund der schlechten Performance der Zielgesellschaft kommen konnte.53 Auch wenn man dem Dogma des „Marktes für Unternehmenskontrolle“ skeptisch gegenüber steht,54 bleibt die Abfindungszahlung eine Prämie für Misserfolg. Denn in den Fällen feindlicher Übernahme, um die es geht, wäre das Stattfinden eines Kontrollwechsels bzw. eines erstmaligen Kontrollerwerbs ebenfalls eine Verfehlung der von Vorstand und Aufsichtsrat gesetzten Ziele (nämlich der Ablehnung des Kontrollerwerbs und des Ziels der „Unabhängigkeit“). Dass eine „Prämie für Zielverfehlung“ nicht sachlich gerechtfertigt werden kann, bedarf keiner Vertiefung. Im Übrigen bestünde auch kein Sachgrund für eine solche Prämie, wenn man der Auffassung folgt, dass der Ausgang des Konflikts sich erst im Nachhinein am Interesse der Gesellschaft messen lässt. 55 Unter dem Blickwinkel des Unternehmensinteresses ist daher kein „Nutzen“ oder „Vorteil“ der Gesellschaft ersichtlich, der die Vereinbarung einer gebräuchlichen CoC-Klausel rechtfertigen könnte.56 Das gilt selbstverständlich erst Recht, wenn die besondere Abfindungsleistung im Falle des Kontrollwechsels kombiniert ist mit einer einseitigen Möglichkeit des Vorstandsmitglieds, sich von Amt und Anstellungsvertrag zu lösen. Denn diese Option stellt aus Sicht der Gesellschaft einen konkreten Nachteil dar (siehe bereits oben), der nicht kompensiert wird, weil die CoC-Klausel auch nicht aus anderen Gründen als im Interesse des Unternehmens liegend (und damit vorteilhaft) beurteilt werden kann. Dieses Ergebnis steht scheinbar im Widerspruch zu der weiten Verbreitung von CoC-Klauseln (oben II.1.), der bezogen auf solche Vereinbarungen durch den Gesetzgeber geforderten Rechnungslegungstransparenz (oben I.2.) und der Adressierung solcher Klauseln im DCGK. Dieser Widerspruch ist jedoch nur scheinbar. Die Transparenz von Vorstandsvergütungen, Vergütungssystemen und deren Einzel­ ementen dient nach der Idee des Gesetzgebers ausdrücklich der Begrenzung von Vor52 Dreher, AG 2002, 214, 216; Hoffmann-Becking, ZIP 2007, 2101, 2103; Martens, ZHR 2005 (169), 124, 139 f.; Habersack, ZHR 2017 (181), 603, 619: Anreiz, ein unfreundliches Übernahmeangebot am Ende zu akzeptieren; Bachmann in Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder, DCGK, 7. Aufl. 2018, Rz. 1032: „Overkill-Effekt“ bei zu großzügiger Bemessung. 53 Habersack, ZHR 2017 (181), 603, 620 m.w.Nachw. 54 Kritisch z.B. Schüppen in Haarmann/Schüppen, FrankfKomm. WpÜG, 3.  Aufl. 2008, Einl. Rz. 35 ff. 55 Martens, ZHR 2005 (169), 124, 143. 56 Ebenso und pointiert Martens, ZHR 169 (2005), 124, 143: „Wie auch immer die change of control-Klausel konkret vereinbart wird, es besteht kein Sachgrund für eine solche Prämie; …“.

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standsvergütungen; die Pflicht zur Offenlegung gilt in diesem Punkt gerade tendenziell als problematisch empfundenen Vergütungselementen. Weder die Zweckmäßigkeit noch die rechtliche Zulässigkeit entsprechender Vereinbarungen sind hierdurch indiziert. „Üblichkeit“ ist nur eines der Kriterien angemessener Vorstandsvergütung, und auch eine verbreitete, „übliche“ Praxis kann rechtswidrig sein. 5. Fürsorgepflichten der Gesellschaft Aus den im Verhältnis zwischen Gesellschaft und Vorstandsmitgliedern bestehenden organschaftlichen Treuebindungen folgen Fürsorgepflichten der Gesellschaft für ihre Vorstandsmitglieder.57 Ist nach dem zuvor Gesagten ein spezifischer Vergütungsanreiz für den Fall des Kontrollwechsels schwerlich mit den Interessen des Unternehmens in Einklang zu bringen, so bleibt gleichwohl die Frage, ob sich finanzielle Zusagen unter dem Gesichtspunkt solcher Treue- und Fürsorgepflichten rechtfertigen lassen. Prinzipiell berücksichtigt die Höhe der Vorstandsvergütung in Verbindung mit der festen Laufzeit des Anstellungsvertrages die Möglichkeit, dass es nicht zur Wiederbestellung kommt.58 Allerdings können persönliche Härten dadurch entstehen, dass ein Vorstandsmitglied bei Auslaufen des Vertrages noch keinen Anspruch auf Altersbezüge hat, andererseits aber aufgrund seines vorgerückten Alters die Erfolgsaussichten der Bemühungen um eine anderweitige Anstellung reduziert sind. In Zeiten juristischer und faktischer „Frauenquoten“ ist diese Problematik für männliche Vorstandsmitglieder verschärft. Deshalb wird man unter Fürsorgegesichtspunkten die Gewährung von nach Höhe und Dauer maßvollen Übergangsbezügen für zulässig halten müssen. Der Wechsel des Eigentümers gehört zu den „normalen“ Risiken eines Vorstands. Es ist jedoch zu konzedieren, dass das Risiko willkürlicher Aktionärs- und Aufsichtsratsentscheidungen in Bezug auf „Altvorstände“ nach einem von diesen abgelehnten und bekämpften Kontrollerwerb signifikant ansteigt. Vorstandsmitglieder, die in zeitlicher Nähe zu einem Kontrollwechsel auf Veranlassung des Unternehmens ausscheiden, können, wenn die verbleibende Laufzeit Ihres Anstellungsvertrages in diesem Zeitpunkt noch erheblich ist (und dieser keine Koppelungsklausel enthält59), eine angemessene Abfindung vereinbaren, weil Abberufung und Kündigung nur aus wichtigem Grund möglich sind: Liegt ein wichtiger Grund nicht vor, werden die Parteien trotz (ggf. einvernehmlicher) Beendigung des Amtes entweder den Vertrag mit fortlaufenden Bezügen weiterlaufen lassen oder eine Abfindung der vertraglichen Bezüge vereinbaren. Zu Härten kann es allerdings kommen, wenn die verbleibende Laufzeit des Vertrages im Zeitpunkt des Kontrollwechsels weniger als 1 Jahr beträgt. Für diese Fälle erscheint es gut vertretbar, Übergangsbezüge (beispielsweise für 1 Jahr in Höhe des Grundgehalts) im Anstellungsvertrag zuzusagen.60 Zudem wäre natürlich zu ver57 Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 84 AktG Rz. 11. 58 Ziemons in FS Huber, 2006, S. 1035, 1040. 59 Zur Problematik dieser Klauseln Nehls in Schüppen/Schaub (Hrsg.), MünchAnwHdb. AktR, § 22 Rz. 163. 60 Ähnlich Lutter, ZIP 2006, 733, 737.

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einbaren, dass anderweitiger Erwerb auf diese Übergangsbezüge angerechnet wird, um „Mitnahmeeffekte“ auszuschließen.

IV. Rechtsfolgen 1. Organhaftung Angesichts der den Abschluss des Anstellungsvertrages umfassenden Personalkompetenz des Aufsichtsrats gehören dessen Verhandlung und die Vereinbarung der Vergütung zu den Aufgaben des Aufsichtsrats, bei deren Erfüllung er geschäftsführend und unter Inanspruchnahme unternehmerischen Ermessens tätig wird.61 Haftungsrechtlich und mit Blick auf die gerichtliche Kontrollintensität greift zugunsten der Aufsichtsratsmitglieder die sogenannte Business Judgement Rule (§ 116 i.V.m. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG). Bei einer auf informierter Basis und in der Annahme, zum Wohle der Gesellschaft zu handeln, getroffenen Entscheidung besteht daher ein erheblicher Spielraum. Die Annahme, zum Wohle der Gesellschaft zu handeln, setzt aber voraus, dass die Entscheidung ausschließlich am Unternehmensinteresse ausgerichtet ist. Ist dies nicht der Fall, entfällt der Ermessenspielraum. Es greift dann die unein­ geschränkte gerichtliche Überprüfung der Entscheidung mit der Beweislastumkehr gemäß § 116 i.V.m. § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG, wonach das Aufsichtsratsmitglied die Beweislast trifft, wenn streitig ist, ob es die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Aufsichtsratsmitgliedes angewandt hat. Nicht vom Unternehmensinteresse gedeckte Vergütungsentscheidungen können danach zum Schadensersatz verpflichten.62 Dies hebt § 116 Satz 3 AktG i.d.F. durch das VorstAG ausdrücklich hervor, der betont, dass Aufsichtsratsmitglieder „namentlich“ zum Schadensersatz verpflichtet sind, wenn sie eine unangemessene Vorstandsvergütung festsetzen. 2. Strafrecht Darüber hinaus kann eine pflichtwidrige Festsetzung der Vorstandsvergütung auch den Tatbestand der strafbaren Untreue (§ 266 StGB) erfüllen. Zwar setzt die Strafbarkeit Vorsatz voraus, aber bedingter Vorsatz („billigendes Inkaufnehmen“) reicht. Werden die äußersten Grenzen unternehmerischen Ermessens überschritten  – dies ist insbesondere der Fall, wenn eine Entscheidung nicht mehr am Unternehmensinteresse ausgerichtet ist – liegt eine Verletzung der gesellschaftsrechtlichen Pflichten vor, die „automatisch“ so gravierend ist, dass sie zugleich eine Pflichtwidrigkeit i.S.v. §  266 StGB begründet.63 Bei der strafrechtlichen Beurteilung der Vereinbarung von Vor-

61 Allgemeine Meinung und BGH-Rspr., nach anderer Ansicht wegen der rechtlichen Bindung an Angemessenheit kein Ermessen, sondern nur Beurteilungsspielraum. 62 Im Ergebnis ergibt sich auch dann, wenn man dogmatisch nicht Ermessen, sondern einen Beurteilungsspielraum annimmt, nichts anders. 63 BGH v. 22.11.2005 – 1 StR 571/04, AG 2006, 85 „Kinowelt“; BGH v. 12.10.2016 – 5 StR 134/15, AG 2017, 72 „HSH Nordbank“.

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standsvergütungen prüft die Rechtsprechung unter Umständen sehr eingehend, ob die Zusage einzelner Vergütungselemente im Unternehmensinteresse gelegen hat.64

V. Wind of Change 1. Zusammenfassung CoC-Klauseln in Vorstandsanstellungsverträgen sind zunächst an §  84 Abs.  1 und § 87 Abs.1 AktG zu messen. Sie müssten aber – darüber hinaus – ein im Unternehmensinteresse liegendes Vergütungselement darstellen. Eine kritische Analyse zeigt, dass dies nicht der Fall ist, weil sie potentiell averse Anreize setzen und sich als „reward for failure“ darstellen, der sich nicht rechtfertigen lässt. Den Fürsorgepflichten der Gesellschaft ist statt dessen durch maßvolle Übergangsbezüge Rechnung zu tragen. Vor diesem Hintergrund sind mit der Vereinbarung von CoC-Klauseln im Vorstandsanstellungsvertrag für Aufsichtsratsmitglieder erhebliche zivil- und strafrechtliche Haftungsrisiken verbunden. Der DCGK nimmt CoC-Klauseln als Phänomen der Wirtschaftsrealität zur Kenntnis. Die Regelung des DCGK 2017 wollte (in der Realität beobachteten) Exzessen vorbeugen, stellt aber an sich keine Bestätigung dar, dass CoC-Klauseln grundsätzlich unproblematisch seien. Allerdings fällt ins Auge, dass der Kodex 2017 CoC-Abfindungen im Verhältnis zu „einfachen“ Abfindungen privilegierte, indem er einen deutlich höheren Cap und keine Begrenzung auf die Restlaufzeit65 vorsah. Dies war, wie die vorstehenden Überlegungen gezeigt haben, bedenklich und warf die Frage auf, ob die Kodexempfehlung letztlich eine „Anstiftung zu gesetzwidrigem Verhalten“ darstellte. 2. Aktuelle Entwicklungen: Gefahr erkannt Die Diskussion um normative Vorgaben für Vorstandsvergütungen, den Einsatz von Steuerrecht zur Begrenzung exzessiver Managervergütungen66 und gesetzliche Maßnahmen gegen die Gewährung überhöhter und/oder nicht im Unternehmensinteresse liegender Abfindungszahlungen (nachdem sich die diesbezüglichen Kodexempfehlungen aus einer Reihe von Gründen als insuffizient erwiesen haben67) geht weiter und wird weitergehen. Das „Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II)“68 sieht – unter anderem – die Einführung eines obligatorischen (wenn auch in der Sa64 BGH v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04, NZG 2006, 141 „Mannesmann“. 65 Hierzu schon oben in/bei Fn. 18. 66 Hierzu Hirte/Schüppen in GS Schmehl, 2019, S. 419. 67 Ausführlich zur Wirkungslosigkeit der Abfindungshöhen-Empfehlung des DCGK 2017 (mit empirischer Erhebung und Analyse der Gründe) Schottmüller-Einwag, Abfindungsobergrenzen für Vorstandsmitglieder, Wiesbaden 2018, passim, die die CoC-Thematik allerdings nicht behandelt. 68 Zitiert als „(Paragraf)-E“ nach dem Stand des Regierungsentwurfs vom 20.3.2019, www. bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Dokumente/DE/Aktionaersrechterichtli​ nie_II.

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che nicht bindenden) jährlichen Vergütungsvotums (§ 120a AktG-E) und einen jährlich zu veröffentlichenden Vergütungsbericht (§ 162 AktG-E) vor.69 In diesem Ver­ gütungsbericht sind gemäß §  162 Abs.  2 Nr.  2 AktG-E Angaben zu Leistungen erforderlich, die einem Vorstandsmitglied für den Fall einer vorzeitigen Beendigung seiner Tätigkeit zugesagt worden sind; außerdem sind während des letzten Geschäftsjahres vereinbarte Änderungen solcher Zusagen anzugeben. Die bisher erforderlichen, entsprechenden Anhangangaben entfallen künftig (§  285 Nr.  9 HGB-E und § 314 Abs. 1 Nr. 6 Buchst. a HGB-E). Zutreffend hebt allerdings die Gesetzesbegründung hervor, dass solche Angaben „rein deskriptiv“ sind.70 Ziel des Vergütungsberichtes ist Transparenz, die Angabepflicht lässt keinerlei Rückschluss auf Zweckmäßigkeit und Zulässigkeit solcher Zusagen zu. Dankenswerter Weise hat die Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex die CoC-Klausel-Empfehlung als Problem erkannt. In dem im Oktober 2018 von ihr vorgelegten Entwurf eines formal und inhaltlich überarbeiteten und geänderten Kodex (DCGK-E 2018)71 finden sich in der Begründung des Entwurfs folgende Ausführungen: „Die Empfehlung einer Obergrenze für Leistungen aus Anlass der vorzeitigen Beendigung der Vorstandstätigkeit infolge eines Kontrollwechsels nach Ziff. 4.2.3 Abs. 5 DCGK 2017 wurde verbreitet mit der Empfehlung verwechselt, solche Leistungen zuzusagen. Dies war nicht bezweckt.“72 Im DCGK-E 2018 entfällt dementsprechend die frühere Empfehlung; stattdessen wird in D. 15 formuliert: „Zusagen für Leistungen aus Anlass der vorzeitigen Beendigung der Vorstandstätigkeit ­infolge eines Kontrollwechsels (Change of Control) sollten nicht vereinbart werden.“ Obwohl sich im Konsultationsverfahren durchaus Anhänger und Verteidiger von CoC-­ Klauseln zu Wort meldeten, hat die Regierungskommission hieran festgehalten: in der am 9.5.2019 beschlossenen Neufassung des Kodex73 findet sich die Formulierung nun im Abschnitt G.4.  als Anregung G.14; die Kommission spricht sich dafür aus, dass solche Leistungen nicht vereinbart werden sollen.74 Mit der (Er-)Kenntnis des Problems ist die Gefahr jedoch noch nicht gebannt. Zwar ist die jetzt negative Sicht des Kodex auf solche Klauseln im Ansatz zutreffend. Sie geht jedoch nicht weit genug, denn die negativ formulierte Aussage ist in der Terminologie des Kodex nur eine Anregung, die weiterhin als Argument für eine angebliche grundsätzliche Zulässigkeit solcher Klauseln fehlgedeutet werden könnte.

69 Ausführlicher zu dem die Vorstandsvergütung betreffenden Regelungskomplex des Referentenentwurfs Bayer, DB 2018, 3034; Diekmann, BB 2018, 3010; J. Schmidt, NZG 2018, 1201, 1202 ff.; Seulen, DB 2018, 2915 ff. 70 Begründung des Regierungsentwurfs S. 130. 71 www.dcgk.de/Archiv/Konsultation 2019 (11.6.2019). 72 Begründung der Änderungsvorschläge S. 54 zu Anregung D. 15. 73 www.dcgk.de (11.6.2019); die erforderliche Einreichung beim BMJV soll allerdings erst nach Inkrafttreten des ARUG II erfolgen. 74 www.dcgk.de, Kodex mit Begründungen, S. 32.

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3. Ad multos annos Die derzeit noch verbreitete Handhabung von CoC-Abfindungen bedarf der Veränderung, die berufliche Tätigkeit des Jubilars und damit seine Perspektive auf Tagespolitik und Streitfragen der Vorstandsvergütung wird sich in absehbarer Zeit verändern. Wird Ulrich Seibert solche rechtspolitischen Diskussionen auch künftig mit der ihm eigenen Gelassenheit verfolgen und durch gewichtige Beiträge bereichern und beeinflussen? Sein Horizont und das Spektrum seiner Interessen sind weit und reichen von römischer Philosophie, Politik und Rechtswissenschaften über zahlreiche Segmente von Kunst und Kultur bis hin zu Fragen der Mode75 und der Genderforschung.76 Wir hoffen und wünschen ihm und uns, dass er, trotz seiner demnächst frei von ministerialen Zwängen erweiterten Möglichkeiten gelegentlich vom politischen Wind abzufallen, seine Berufung zur Rechtswissenschaft und die Ästhetik des „legal design“ nicht ganz aus den Augen verliert. Und jedenfalls freuen wir uns – unabhängig hiervon – auf viele weitere Jahre und manches Jahrzehnt interessanter Gespräche.

75 Seibert, Vier Gedanken zur Mode, in Berlin Live Heft 5, The Showroom Days 2014, S. 24. 76 Seibert, Gleichberechtigung und Rollengleichheit, in FS 10 Jahre Österberg Seminare, 2018, S. 11.

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Entlastung des Vorstands mit Präklusionswirkung auch in der Stiftung? Inhaltsübersicht I. Zum Thema II. Grundsätzliche Erwägungen 1. Bedeutung und dogmatische Einordnung der Entlastung 2. Funktionen der Entlastung 3. Ausgangs- und Interessenlage in der ­Stiftung III. Entlastung durch ein gesondertes ­Aufsichtsorgan? 1. Vereinbarkeit mit dem Stifterwillen? a) Möglichkeit der Entlastung b) Entscheidung über die Entlastung 2. Vereinbarkeit mit der Business Judgment Rule?

3. Vereinbarkeit mit den Befugnissen der Stiftungsaufsicht? 4. Zwischenergebnis IV. Schutz gegen eine fehlerhafte Entlastung 1. Rechtsfolgen einer fehlerhaften Entlastung 2. Klagemöglichkeit der (überstimmten) Mitglieder des Aufsichtsorgans? 3. Schutz durch die Stiftungsbehörde a) Allgemeine Aufsichtsbefugnisse b) Geltendmachung von Schadens­ ersatzansprüchen V. Fazit

I. Zum Thema Ulrich Seibert hat das Gesellschaftsrecht der Berliner Republik maßgeblich mitgeprägt. Als „legal designer“1 im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, der „die Arbeit an dem gestaltbaren Stoff, aus dem unser Recht entsteht“, als kreativen Akt begreift, wie kaum ein anderer Gesetzgebungsreferent aber auch das Metier des „rechtspolitischen Produktmarketing“2 beherrscht, hat er seit Anfang der 1990er Jahre eine lange Reihe wichtiger Gesetzesvorhaben betreut. Der Verfasser, der die Ehre und das Vergnügen hatte, einen Teil seines Referendariats in Seiberts „Atelier“ zu verbringen,3 hofft auf das Interesse des Jubilars, wenn er sich in diesem Beitrag einer kontrovers diskutierten Frage aus dem Stiftungsrecht zuwendet. Sie lautet, ob – und wenn ja unter welchen Voraussetzungen − die aus dem Recht der Personenverbände bekannte Entlastung des Vorstands mit Präklusionswirkung auch in der rechtsfähigen Stiftung des bürgerlichen Rechts anzuerkennen ist. 1 Diese Berufsbezeichnung hat der Jubilar bekanntlich selbst in Umlauf gebracht, s. Seibert in FS Wiedemann, 2002, S. 123, 131 f.; zu Seiberts Rolle und Selbstverständnis auch Thiessen in Duve/Ruppert, Rechtswissenschaft in der Berliner Republik, 2018, S. 608, 626 ff. 2 Seibert in FS Wiedemann, 2002, S. 123, 125 ff. 3 Und zwar zur Zeit der Vorbereitung des Transparenz- und Publizitätsgesetzes (TransPuG) vom 19.7.2002, BGBl. I 2002, 2681.

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Auf den ersten Blick scheint es, als habe diese Frage mit den Arbeitsgebieten des Jubilars − Gesellschaftsrecht, Corporate Governance und Unternehmensverfassung − nichts zu tun.4 Doch wird sich dieser Eindruck schnell relativieren. Obwohl die Stiftung keine Mitglieder hat, sind die Bezüge des Themas zum Gesellschaftsrecht enger und vielfältiger, als man zunächst denken mag, und auch zur Diskussion über Cor­ porate Governance, die längst auch den Stiftungssektor erreicht hat und dort überwiegend unter den Stichworten „Foundation Governance“ oder „Nonprofit Governance“ geführt wird,5 weist der Gegenstand dieses Beitrags einige Berührungspunkte auf. Da eine „Selbstentlastung“ des Vorstands aus naheliegenden Gründen ausscheidet6 und auch eine Entlastung durch die Stiftungsaufsichtsbehörde nicht in Betracht kommt,7 bezieht und beschränkt sich die praktische Bedeutung der hier zu erörternden Frage auf Stiftungen, die über ein besonderes Kontrollorgan wie einen Aufsichtsrat oder ein Kuratorium verfügen, dem gegenüber der Vorstand Rechenschaft abzulegen hat. Das allerdings trifft auf nicht wenige der rechtsfähigen Stiftungen in Deutschland zu.8 Im Fall der Stiftung Johannes a Lasco Bibliothek in Emden, der in Stiftungskreisen mit großem Interesse verfolgt wurde, hat das OLG Oldenburg eine „Verzichtswirkung“ der dem Vorstand durch das Kuratorium für das Jahr 2004 erteilten Entlastung ohne Begründung bejaht.9 Das war in dieser Beiläufigkeit überraschend,10 denn ob und unter welchen Voraussetzungen es in der Stiftung eine „Entlastung mit Verzichtswirkung“ durch ein besonderes Kontrollorgan geben kann, ist im Schrifttum – auch mangels gesetzlicher Regelung – hoch umstritten: Während nach einer Auffassung eine „Entlastung mit Verzichtswirkung“ von vornherein ausgeschlossen ist,11 vertritt die Gegenansicht den Standpunkt, dass mit der Einsetzung des

4 Das Stiftungsrecht ist im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz im Referat „Allgemeiner Teil des BGB“ (I B 1) angesiedelt, das zur Abteilung I für „Bürgerliches Recht“ gehört. 5 S. zu diesen Begriffen von Schönfeld, Leitungs- und Kontrollstrukturen in gemeinnützigen Organisationen, 2017, S. 27 m.w.N. 6 Unbestritten, s. nur Hüttemann/Rawert in Staudinger (2017), § 86 BGB Rz. 77. 7 So die ganz herrschende (und zutreffende) Meinung, s. etwa Hüttemann/Rawert in Staudinger (2017), §  86 BGB Rz.  77 m.w.N.; Schwintek, Vorstandskontrolle in rechtsfähigen Stiftungen bürgerlichen Rechts, 2001, S. 204 f.; a.A. Neuhoff in Soergel, 13. Aufl. 2000, § 86 BGB Rz. 13. 8 S. Bundesverband deutscher Stiftungen, StiftungsStudie „Führung, Steuerung und Kontrolle in der Stiftungspraxis“, 2010, S. 14. Danach hatten 77 % der an der Umfrage teilnehmenden Stiftungen ein Aufsichtsorgan. Was die Kontroll- und Mitentscheidungskompetenzen dieser Organe betrifft, zeigten sich allerdings starke Unterschiede. 9 OLG Oldenburg v. 8.11.2013 – 6 U 50/13, npoR 2014, 134, 140 Rz. 104-108. Näher zu diesem Fall noch unter III 1 b). 10 Kritisch Hüttemann/Kampermann, npoR 2014, 145; Lange, JZ 2015, 632; Segna, ZIP 2015, 1561, 1562. 11 So (mit Unterschieden in der Begründung) Holtwiesche, Der Stiftungsvorstand bei der Vermögensverwaltung, 2017, S. 314 ff.; Rösing, Die Entlastung im Stiftungsrecht, 2013, S. 56 ff.; Gollan, Vorstandshaftung in der Stiftung, 2009, S. 290 f.; Muscheler, Die Haftung des Stif-

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Kontrollorgans durch den Stifter im Zweifel auch eine Entlastungsbefugnis verbunden ist.12 In der Mitte des Meinungsspektrums ist eine dritte Ansicht zu verorten, die eine „Entlastung mit Verzichtswirkung“ zwar grundsätzlich für möglich hält, aber von einer ausdrücklichen Zuweisung der Entlastungskompetenz an das Aufsichtsorgan durch die Satzung abhängig macht.13 Eine Grundsatzentscheidung des BGH steht nach wie vor aus. In seinem Urteil zum Lasco-Fall vom 20. November 201414 hat der III. Zivilsenat ausschließlich zu der – vom OLG Oldenburg bejahten15 − Frage Stellung bezogen, ob eine Stiftung, die ein Vorstandsmitglied auf Schadensersatz wegen Verletzung seiner Amtspflichten in Anspruch nimmt, sich nach § 254 BGB ein Mitverschulden eines anderen Stiftungsorgans entgegenhalten lassen muss.16 Zum Thema Entlastung hat der BGH sich nicht geäußert. Das Urteil des OLG Oldenburg kann mangels Problemsicht und -erörterung kaum als letztes Wort in dieser heiklen Frage angesehen werden, so dass für die Praxis weiterhin ein nicht unerhebliches Maß an Rechtsunsicherheit besteht.17

II. Grundsätzliche Erwägungen Um auf diese Frage eine Antwort geben zu können, sind zunächst einige grundsätzliche Bemerkungen zur Entlastung und ihrer Übertragbarkeit auf die Stiftung angezeigt. 1. Bedeutung und dogmatische Einordnung der Entlastung Im Recht der Personenverbände versteht man unter der Entlastung eine einseitige Erklärung, durch die das entlastende Organ die Geschäftsführung während der zutungsvorstands, in Jahreshefte zum Stiftungswesen 2 (2008), S. 51, 56; Otto, Handbuch der Stiftungspraxis, 2. Aufl. 2015, Rz. 341; wohl auch Graewe, ZStV 2014, 103, 105. 12 Weitemeyer in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2018, § 86 BGB Rz.52; Hüttemann/Rawert in Staudinger (2017), § 86 BGB Rz. 77; Burgard, Gestaltungsfreiheit im Stiftungsrecht, 2006, S. 609; Grambow, Organe von Vereinen und Stiftungen, 2011, Rz. 774; Burgard/Heimann, NZG 2016, 166, 167. 13 Dylla, Die Weisungsfunktion des Stiftungszwecks, 2015, S. 206; Schwalme, Grundsätze ordnungsgemäßer Vermögensverwaltung bei Stiftungen, 2010, S. 522; Schwintek, Vorstandskontrolle in rechtsfähigen Stiftungen bürgerlichen Rechts, 2001, S. 203; Kilian in Werner/ Saenger, Die Stiftung, 2008, Rz. 556; Lüke in MünchHdb. GesR Bd. V, 4. Aufl. 2016, § 94 Rz. 26; Elmenhorst/Dörfer, npoR 2015, 177, 181; Werner, ZIP 2017, 2089, 2090; wohl auch Schauhoff, Handbuch der Gemeinnützigkeit, 3. Aufl. 2010, § 3 Rz. 117; Wehnert, ZSt 2007, 67, 71. 14 BGH v. 20.11.2014 – III ZR 509/13, ZIP 2015, 166; dazu Segna, ZIP 2015, 1561 ff.; s. ferner die Nachlese von Burgard/Heimann, NZG 2016, 166 ff. 15 OLG Oldenburg v. 8.11.2013  – 6 U 50/13, npoR 2014, 134, 138 (Rz.  86/87) sowie 141 (Rz. 116). 16 Und diese Frage zu Recht verneint, s. BGH v. 20.11.2014 – III ZR 509/13, ZIP 2015, 166 Rz. 22 f. 17 Ebenso Lange, JZ 2015, 632.

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rückliegenden Entlastungsperiode als im Großen und Ganzen recht- und zweckmäßig billigt und dem Organträger für die Zukunft sein Vertrauen ausspricht. Kurz gesagt: Die Entlastung ist Billigung der Geschäftsführung und Vertrauensbeweis für die Zukunft.18 Während sich die Bedeutung der Entlastung bei der Aktiengesellschaft in der eines „platonischen Ausspruchs der Zufriedenheit mit der Geschäftsführung“19 erschöpft (vgl. § 120 Abs. 2 Satz 2 AktG), kommt ihr bei der GmbH, der Genossenschaft und dem Verein nach h.M. Präklusionswirkung zu. Durch die Entlastung wird der Verband mit allen Schadensersatz-, Bereicherungs- oder sonstigen Ansprüchen aus der Geschäftsführung ausgeschlossen, die dem Entlastungsorgan aufgrund der von den Geschäftsführern gelegten Rechenschaft bekannt waren oder bei sorgfältiger Prüfung hätten bekannt sein müssen.20 Hinzu kommt, dass eine Abberufung aus wichtigem Grund und die Kündigung eines etwaigen Anstellungsvertrags nicht mehr allein auf solche Gründe gestützt werden können, die von der Billigung umfasst sind.21 Was die dogmatische Einordnung (die „Rechtsnatur“) der Entlastung betrifft, besteht mittlerweile weitgehend Einigkeit darin, dass alle Versuche, dieses Institut rechtsgeschäftlich zu deuten – etwa als Erlass nach § 397 Abs. 1 oder negatives Schuldanerkenntnis nach § 397 Abs. 2 BGB –, zum Scheitern verurteilt sind.22 Man unterscheidet heute scharf zwischen dem Gegenstand des Entlastungsbeschlusses und seinen Folgen.23 Gegenstand des Entlastungsbeschlusses ist die Billigung der organschaftlichen Geschäftsführung hinsichtlich eines bestimmten Zeitraums und  – nach allerdings umstrittener Auffassung24  – die Aussprache des Vertrauens für die Zukunft. Die Präklusionswirkung ist nur eine – kraft Gesetzes eintretende – Folge des Entlastungsbeschlusses. Sie ergibt sich aus dem Verbot des venire contra factum proprium (§ 242 18 Karsten Schmidt in Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2014, § 46 GmbHG Rz. 89; s. ferner ders., ZGR 1978, 425, 426; Hüffer/Schürnbrand in Großkomm. GmbHG, 2.  Aufl. 2014, §  46 ­GmbHG Rz. 68; Weitemeyer, ZGR 2005, 280, 301. Ob in der Entlastung auch ein Vertrauensbeweis für die Zukunft zu sehen ist, ist allerdings nicht unbestritten; ablehnend Rösing, Die Entlastung im Stiftungsrecht, 2013, S. 16 f.; Beuthien, GmbHR 2014, 682, 683 (nur tatsächliche Nebenfolge der Entlastung). 19 Breit, JW 1917, 657, 658. 20 So für den Verein BGH v. 21.3.1957 – II ZR 172/55, BGHZ 24, 47, 54; BGH v. 14.12.1987 − II ZR 53/87, NJW-RR 1988, 745, 748; BeckOGK BGB/Segna, §  27 Rz.  125 (Stand: 1.7.2018); für die GmbH BGH v. 20.5.1985 – II ZR 165/84, BGHZ 94, 324, 326; Liebscher in MünchKomm. GmbHG, 2. Aufl. 2016, § 46 GmbHG Rz. 144 m.w.N.; für die Genossenschaft BGH v. 3.12.2001 − II ZR 308/99, NZG 2002, 195; zu alledem kritisch Beuthien, GmbHR 2014, 682, 684 ff., nach dessen Ansicht die Entlastung lediglich zu einer Beweislast­ umkehr zugunsten des Entlasteten führt. 21 Diese Wirkung der Entlastung wird neben dem Fortfall von Ersatzansprüchen zumeist vernachlässigt; dazu kritisch Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4.  Aufl. 2002, §  14 VI 2 (S. 429) in Fn. 101. 22 Überblick über die früheren Deutungsversuche bei Rösing, Die Entlastung im Stiftungsrecht, 2013, S. 23 ff.; deutlich relativierend allerdings Rühlicke, Entlastung und Rechtsverlust, 2015, S. 128 ff. 23 S. zum Folgenden Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 14 VI 2 (S. 630 f.). 24 S. dazu bereits die Nachweise in Fn. 18.

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BGB).25 Der Verband darf sich nicht zu der Entlastung in Widerspruch setzen; er muss sich so behandeln lassen, als ob die Geschäftsführung tatsächlich recht- und zweckmäßig gewesen wäre. Wenn immer wieder – auch im Urteil des OLG Oldenburg im Lasco-Fall – von einer „Entlastung mit Verzichtswirkung“ die Rede ist, trifft dies also durchaus das Richtige. Die Entlastung „wirkt“ wie ein Verzicht, ohne ein solcher zu sein. 2. Funktionen der Entlastung Aus der Präklusionswirkung ergibt sich die Abschluss-, Abgrenzungs- und Klarstellungsfunktion der Entlastung.26 Bei den Personenverbänden umfasst die Geschäftsführung in der Regel einen längeren Zeitraum und eine Vielzahl von Maßnahmen. Hier kann es sinnvoll sein, bereits vor Ablauf der Amtszeit des Geschäftsführungsorgans und der allgemeinen Verjährungsfristen klare Verhältnisse für die Zukunft zu schaffen, um den Blick nach vorne richten zu können. Von daher kann eine Entlastung nicht nur für den Entlasteten, sondern auch für den Verband von Vorteil sein, gerade wenn der Entlastete weiterhin für ihn tätig sein soll.27 Diesen Gedanken hatte in den 1920er Jahren bereits das Reichsgericht formuliert, als es feststellte, dass den Bedürfnissen des täglichen Lebens und insbesondere des Geschäftslebens nur entsprochen werde, wenn für die Zukunft möglichst klare Verhältnisse geschaffen werden.28 Darüber hinaus führt die Entlastung zu einer Effektivierung der Geschäftsführungskontrolle (Kontrollfunktion). Denn sie zwingt das zuständige Gremium dazu, sich in regelmäßigen Abständen eingehend und abschließend mit der Recht- und Zweckmäßigkeit der Geschäftsführung auseinanderzusetzen. Das gilt im Grundsatz für alle Verbände,29 in besonderem Maße aber für solche, bei denen die Entlastung Präklu­ sionswirkung entfaltet.30 Schließlich dürfen auch die psychologischen Wirkungen der Entlastungsentscheidung nicht unterschätzt werden.31 Wird Entlastung erteilt, so werden durch den damit verbundenen Vertrauensvorschuss die Stellung des Entlasteten und seine Motivation verstärkt (Motivationsfunktion). Dies wird sich in der Regel positiv auf die weitere Arbeit für den Verband auswirken. Umgekehrt ist die Verwei25 Grundlegend Karsten Schmidt, ZGR 1978, 426  ff.; s. ferner ders. in Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2014, § 46 GmbHG Rz. 89; Burgard in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 3.  Aufl. 2017, Rz.  6.48; Rösing, Die Entlastung im Stiftungsrecht, 2013, S. 28 ff.; insoweit auch Beuthien, GmbHR 2014, 682, 689. 26 Knoche, Die sog. ‚Verzichtswirkung‘ der Entlastung im privaten und im öffentlichen Recht, 1995, S. 22 ff.; Rösing, Die Entlastung im Stiftungsrecht, 2013, S. 18 f.; Weitemeyer, ZGR 2005, 280, 301. 27 Knoche, Die sog. ‚Verzichtswirkung‘ der Entlastung im privaten und im öffentlichen Recht, 1995, S. 27. 28 RG, JW 1926, 2904. 29 Speziell mit Blick auf die AG Beuthien, GmbHR 2014, 682, 686. 30 Rösing, Die Entlastung im Stiftungsrecht, 2013, S. 19 f. 31 Rösing, Die Entlastung im Stiftungsrecht, 2013, S. 21 f.; Knoche, Die sog. ‚Verzichtswirkung‘ der Entlastung im privaten und im öffentlichen Recht, 1995, S. 28.

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gerung der Entlastung ein Warnsignal für die Mitglieder (Anleger), das Management und die Öffentlichkeit.32 Für das betroffene Organmitglied kann sie mit einem empfindlichen Reputationsverlust innerhalb und außerhalb des Verbandes verbunden sein. 3. Ausgangs- und Interessenlage in der Stiftung Wirft man nun einen Blick auf die Ausgangs- und Interessenlage in der Stiftung, so zeigt sich, dass eine Entlastung mit Präklusionswirkung auch bei dieser Rechtsform von Nutzen sein und einen sinnvollen Beitrag zur Foundation Governance leisten kann.33 Auch hier umfasst die Geschäftsführung typischerweise einen längeren Zeitraum und eine Vielzahl von Maßnahmen, so dass sowohl der Vorstand als auch die Stiftung ein berechtigtes Interesse daran haben können, für die Zukunft klare Verhältnisse zu schaffen, um ihre Aufmerksamkeit und Ressourcen ganz den bevorstehenden Aufgaben zuwenden zu können. Und auch in der Stiftung kann sich ein formalisiertes Entlastungsverfahren positiv auf die Kontrolle des Vorstandes auswirken, indem es das zuständige Gremium dazu anhält, sich ausführlich und gewissenhaft mit der Recht- und Zweckmäßigkeit der Geschäftsführung auseinanderzusetzen. Schließlich besteht auch im Hinblick auf den Motivationseffekt einer Entlastung kein Unterschied zwischen den Personenverbänden auf der einen und der Stiftung auf der anderen Seite.

III. Entlastung durch ein gesondertes Aufsichtsorgan? Wie bereits erwähnt, wird trotz dieses Befundes die Möglichkeit der Entlastung des Stiftungsvorstands durch ein besonderes Aufsichtsorgan von einem Teil des Schrifttums bestritten. 1. Vereinbarkeit mit dem Stifterwillen? a) Möglichkeit der Entlastung Der grundlegendste Einwand stammt von Muscheler. Er meint, ein besonderes Aufsichtsorgan sei zur Verfügung über Ersatzansprüche der Stiftung von vornherein nicht befugt, weil es kein autonomes, sondern ein an das Interesse der Stiftung gebundenes Organ sei. Die Aufgabe dieses Organs bestehe darin, die Einhaltung des Stiftungszwecks zu überwachen und zu garantieren. Durch ersatzpflichtige Handlungen des Vorstands aber werde „genau dieses Ziel gefährdet“. Eine „Entlastung des Vorstands mit anspruchsvernichtender Wirkung“ könne daher „nie durch das Interesse der Stiftung gedeckt sein“.34 Ausnahmen von diesem Grundsatz, so Muscheler, „sollte 32 Beuthien, GmbHR 2014, 682, 686. 33 In diesem Sinne auch Rösing, Die Entlastung im Stiftungsrecht, 2013, S. 37 f. 34 Muscheler in Jahreshefte zum Stiftungswesen 2 (2008), S. 51, 56; in gleichem Sinne Kiethe, NZG 2007, 810, 813.

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man umso weniger anerkennen, als sie leicht zu Streitigkeiten und Durchstechereien innerhalb der Stiftung führen können“.35 Diese Ansicht ist unnötig rigoros. Sie starrt – wie dies früher gang und gäbe war36 – wie gebannt auf die „verfügende Wirkung“ der Entlastung und mögliche Missbrauchsgefahren, ohne die verschiedenen Funktionen dieses Instituts und ihre positiven Auswirkungen auf die Foundation Governance mit in den Blick zu nehmen. Im Stiftungsrecht gilt der Primat des Stifterwillens, wie er im Stiftungsgeschäft zum Ausdruck gekommen ist.37 Dieser Wille gibt – im Rahmen der vom Gesetz gezogenen Grenzen – nicht nur das Ziel, sondern auch die Mittel für das Tätigwerden der Stiftungsorgane vor.38 Hat der Stifter von seiner Gestaltungsfreiheit in der Weise Gebrauch gemacht, dass er dem Vorstand ein besonderes Aufsichtsorgan zur Seite gestellt hat, dem gegenüber der Vorstand rechenschaftspflichtig ist, kann folglich von einer Befugnis dieses Organs zur Entlastung (mit Präklusionswirkung) ausgegangen werden, sofern und solange (auch) dies dem objektivierten Stifterwillen entspricht.39 Daran ist nicht zu zweifeln, wenn die Satzung dem Aufsichtsorgan die Kompetenz zur Entlastung ausdrücklich zuweist.40 Aber auch bei Fehlen einer entsprechenden Regelung ist davon auszugehen, dass die Möglichkeit, dem Vorstand „Absolution“ zu erteilen, prinzipiell im objektivierten Interesse des Stifters liegt.41 Denn der dauernden und nachhaltigen Verwirklichung des Stiftungszwecks ist diese Möglichkeit grundsätzlich förderlich.42 Zwar ist nicht zu bestreiten, dass der Stiftung im Einzelfall durch eine pflichtwidrige Entlastung Vermögensschäden und sonstige Nachteile entstehen können. Man darf über diese Gefahr, die sich mit den Mitteln des Beschlussmängel-, Aufsichts- und Organhaftungsrechts in den Griff bekommen lässt,43 aber nicht die positiven Effekte der Entlastung aus den Augen verlieren, die sich in ihren verschiedenen Funktionen manifestieren. Das gilt umso mehr, als diese Effekte auch und gerade in den (Normal-)Fällen zum Tragen kommen sollen, in denen das Aufsichtsor­ gan den Entlastungsbeschluss in der Überzeugung fasst, dass der Vorstand bei seiner Amtsführung eine „glückliche Hand“ gehabt hat und Ersatzansprüche nicht bestehen.44

35 Muscheler in Jahreshefte zum Stiftungswesen 2 (2008), S. 51, 56. 36 Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 14 VI 2 (S. 430). 37 BGH v. 22.1.1987  – III ZR 26/85, BGHZ 99, 344, 348; BGH v. 3.3.1977  – III ZR 10/74, BGHZ 68, 142, 146; Schwake in MünchHdb. GesR Band V, 4. Aufl. 2016, § 79 Rz. 15 m.w.N. 38 Rösing, Die Entlastung im Stiftungsrecht, 2013, S. 57. 39 Rösing, Die Entlastung im Stiftungsrecht, 2013, S. 56 f.; in der Sache auch Weidlich/Foppe, ZStV 2014, 100, 101. 40 Vgl. Schauhoff, Handbuch der Gemeinnützigkeit, 3. Aufl. 2010, § 3 Rz. 117. 41 Burgard, Gestaltungsfreiheit im Stiftungsrecht, 2006, S. 609. 42 Rösing, Die Entlastung im Stiftungsrecht, 2013, S. 57 ff.; Hüttemann/Kampermann, npoR 2014, 145. 43 Dazu noch unter IV. 44 Rösing, Die Entlastung im Stiftungsrecht, 2013, S. 57 f.

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b) Entscheidung über die Entlastung Diese Annahme impliziert natürlich, dass man die Kompetenz zur Entlastung des Vorstands nicht als „Regelbefugnis des Entlastungsorgans“ missverstehen darf, „zu Lasten der Stiftung auf Teile des Stiftungsvermögens zu verzichten“.45 Zwar kommt man auch in der Stiftung nicht umhin, dem Aufsichtsorgan hinsichtlich der Entscheidung über die Entlastung einen Ermessensspielraum einzuräumen. Bei der Ausübung seines Ermessens ist das Aufsichtsorgan aber nicht frei, sondern an den (mutmaßlichen) Stifterwillen gebunden. Es hat in jedem Einzelfall anhand einer Gesamtabwägung zu ermitteln, ob eine Entlastung dem Wohl der Stiftung und damit dem Stifterwillen entspricht oder nicht.46 Hat der Vorstand nicht nur unerhebliche Pflichtverletzungen begangen, wird die Gesamtabwägung regelmäßig zu dem Ergebnis führen, dass die Entlastung zu verweigern ist.47 Eine Erteilung der Entlastung wird in einem solchen Fall nur ausnahmsweise in Betracht kommen, nämlich dann, wenn sich der vom Vorstand verursachte Schaden in Grenzen hält und die Nachteile, welche die Stiftung bei Verweigerung der Entlastung zu erwarten hätte (z.B. Imageschaden, Rückgang an Spendengeldern oder Zustiftungen), schwerer wiegen als die Nachteile, die mit einer sachlich nicht gerechtfertigten Entlastung verbunden sind.48 Legt man diese Maßstäbe an den Fall der Johannes a Lasco Bibliothek an, so drängen sich Zweifel auf, ob dem damals amtierenden und später auf Schadensersatz verklagten Vorstand für das Jahr 2004 Entlastung erteilt werden durfte. Denn in dem fraglichen Jahr hatte dieser Vorstand anstelle der erlaubten 192 000 Euro einen Betrag von über 640 000 Euro dem Stiftungsvermögen entnommen, um damit den Betrieb der von der Stiftung unterhaltenen Bibliothek zu finanzieren.49 Das war ein klarer Pflichtenverstoß, und die Budgetüberschreitung um mehr als 450 000 Euro war auch nicht unerheblich. Mangels näherer Informationen lässt sich die Rechtmäßigkeit der Entlastung allerdings von außen nicht abschließend beurteilen.50 2. Vereinbarkeit mit der Business Judgment Rule? Mit Blick auf Konstellationen dieser Art bringt Gollan einen anderen Einwand gegen die Entlastung mit Präklusionswirkung vor. Er lautet, diese Wirkung sei mit der Busi45 So aber Schwintek, ZSt 2005, 108, 115. 46 So in der Sache übereinstimmend Hüttemann/Rawert in Staudinger (2017), §  86 BGB Rz. 77; Lüke in MünchHdb. GesR Bd. V, 4. Aufl. 2016, § 94 Rz. 26; Jakob, Schutz der Stiftung, 2006, S. 216; Rösing, Die Entlastung im Stiftungsrecht, 2013, S. 80; Hüttemann/Herzog in Non Profit Law Yearbook 2006, S. 33, 49; Hüttemann/Kampermann, npoR 2014, 145. 47 Rösing, Die Entlastung im Stiftungsrecht, 2013, S. 80 und 95 f. 48 In der Formulierung etwas weiter Rösing, Die Entlastung im Stiftungsrecht, 2013, S. 80. Wie hier wohl auch Weitemeyer in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2018, § 86 BGB Rz. 52 sowie Reuter in Non Profit Law Yearbook 2002, S. 157, 167, nach deren Ansicht ein Verzicht auf Schadensersatzansprüche „nur in Ausnahmefällen“ durch das Interesse der Stiftung gerechtfertigt sein kann; ebenso Werner, ZEV 2009, 366, 370. 49 S. die Angaben in OLG Oldenburg v. 8.11.2013 – 6 U 50/13, npoR 2014, 134, 140 Rz. 104 und 106. 50 Eine Pflichtwidrigkeit der Entlastung bejahend Burgard/Heimann, NZG 2016, 166, 169.

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ness Judgment Rule nicht zu vereinbaren. Diese vom BGH in seinem ARAG/Garmenbeck-Urteil von 199751 für die Aktiengesellschaft anerkannte und später in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG kodifizierte Figur gelte in leicht modifizierter Form auch in der Stiftung. Sie besage dort, dass eine Pflichtverletzung nicht vorliegt, „wenn das Vorstandsmitglied bei einer Entscheidung unter Unsicherheit vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Stiftung zu handeln“.52 Auch dem Stiftungsvorstand möchte Gollan also – im Einklang mit der inzwischen ganz h.M.53 und den Vorstellungen der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Stiftungsrecht“54  – einen haftungsfreien Ermessensspielraum bei Entscheidungen unter Unsicherheit einräumen, zu denen sie auch Entscheidungen über die Anlage des Stiftungsvermögens zählt. Werde dieser Ermessensspielraum überschritten, sei das Aufsichtsorgan allerdings nach ARAG/Garmenbeck verpflichtet, etwaige Schadensersatzansprüche gegen den Vorstand geltend zu machen. Eine Entlastung mit Präklusionswirkung, die ja das genaue Gegenteil der Geltendmachung bedeute, müsse folglich ausscheiden.55 Überzeugend ist auch dieser Einwand nicht. In seinem ARAG/Garmenbeck-Urteil hat der BGH gerade nicht einer uneingeschränkten Pflicht des Aufsichtsrats zur Verfolgung eines als bestehend und durchsetzbar festgestellten Anspruchs gegen den Vorstand das Wort geredet. Vielmehr hat er unterstrichen, dass die Verfolgung eines solchen Anspruchs die Regel zu sein hat,56 von der aber ausnahmsweise abgewichen werden kann, „wenn gewichtige Interessen und Belange der Gesellschaft dafür sprechen, den ihr entstandenen Schaden ersatzlos hinzunehmen“.57 In dieser Frage gesteht der BGH dem Aufsichtsrat ein gewisses „Entscheidungsermessen“ zu.58 Auch wenn im Schrifttum hoch umstritten ist, ob hier wirklich vom Bestehen eines Ermessensspielraums − auch im Sinne eines Ausschlusses gerichtlicher Kontrolle – gesprochen werden kann,59 so steht doch außer Frage, dass das geltende Aktienrecht eine Pflicht des Aufsichtsrats zur Inanspruchnahme eines haftenden Vorstandsmitglieds „um je-

51 BGH v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244.  52 S. die zusammenfassende Formulierung bei Gollan, Vorstandshaftung in der Stiftung, 2009, S. 287 (nach ausführlicher Erörterung auf S. 267 ff.). 53 Hüttemann/Rawert in Staudinger (2017), § 86 BGB Rz. 68; Weitemeyer in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2018, § 86 BGB Rz. 49; Graewe, ZSt 2014, 103, 104. 54 S.  den Vorschlag eines klarstellenden §  84a Abs.  2 BGB im Diskussionsentwurf der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Stiftungsrecht“ für ein Gesetz zur Vereinheitlichung des Stiftungsrechts, Anlage zum Zweiten Bericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe v. 27.2.2018. 55 Gollan, Vorstandshaftung in der Stiftung, 2009, S. 290 f. 56 So auch die Interpretation der ARAG-Garmenbeck-Entscheidung durch das Schrifttum, s. etwa Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 111 AktG Rz. 10 m.w.N. 57 BGH v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244, 255; s. dazu etwa Baums, Empfiehlt sich eine Neuregelung des aktienrechtlichen Anfechtungs- und Organhaftungsrechts, insbesondere der Klagemöglichkeiten der Aktionäre?, Gutachten F für den 63. DJT, 2000, S. 242; Ulmer, ZHR 163 (1999), 290, 295 f. 58 BGH v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244, 256. 59 Überblick über den Meinungsstand bei Hüffer/Koch, AktG, 13.  Aufl. 2018, §  111 AktG Rz. 11 m.w.N.

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den Preis“ nicht kennt. Wenn dies aber zutrifft, dann taugt das ARAG/Garmenbeck-Urteil des BGH nicht als Argument gegen eine Entlastung im Stiftungsrecht. 3. Vereinbarkeit mit den Befugnissen der Stiftungsaufsicht? Nach Ansicht von Rösing ist eine Entlastung des Vorstands mit Präklusionswirkung schon mit Rücksicht auf die in den Landesstiftungsgesetzen geregelten Befugnisse der staatlichen Stiftungsaufsicht ausgeschlossen.60 Rösing denkt zum Beispiel an die Befugnis der Aufsichtsbehörde(n), die Abberufung eines Vorstandsmitglieds aus wichtigem Grund vorzunehmen oder zu verlangen,61 und an die Befugnis, Schadensersatz­ ansprüche der Stiftung gegen Vorstandsmitglieder im Namen und auf Kosten der Stiftung geltend zu machen oder dafür einen besonderen Vertreter zu bestellen.62 Mit diesen Befugnissen, über die der Stifter nicht disponieren könne, wäre eine Entlastung mit Präklusionswirkung nicht zu vereinbaren, weil sie zwingend den „endgültigen Ausschluss“ dieser Befugnisse zur Folge hätte.63 Ganz ähnlich argumentiert Holtwiesche. Auch für ihn ist eine Entlastung mit Präklusionswirkung „nicht denkbar, würde dies doch die privatautonome Abbedingung hoheitlicher Befugnisse bedeuten“.64 Die Präklusionswirkung der Entlastung könne daher immer nur stiftungsinterne Bedeutung haben, während die Aufsichtsbehörden das Recht und die Pflicht behalten müssten, Ansprüche der Stiftung gegen ihre geschäftsführenden Organe geltend zu machen.65 Diese Einwände verfangen aber nicht. Sie verkennen das Verhältnis zwischen der Satzungsautonomie des Stifters und den staatlichen Aufsichtsbefugnissen.66 Diese Befugnisse bestehen nicht um ihrer selbst willen, sondern sind Instrumente zur Durchsetzung des Stifterwillens. Zwar trifft es zu, dass die Aufsichtsbefugnisse als solche der Disposition des Stifters entzogen sind. Aber indem der Stifter von seiner Satzungsautonomie Gebrauch macht, gibt er den Rahmen vor, innerhalb dessen diese Befugnisse auszuüben sind. Dem entspricht der Grundsatz der Subsidiarität der Stiftungsaufsicht, der aus der grundrechtlich geschützten Stiftungsautonomie folgt und besagt, dass die Aufsichtsbehörde sich jeder unnötigen Einmischung in die Angelegenheiten der Stiftung zu enthalten und die Aufsichtsmittel so anzuwenden hat, dass die Aufsicht nicht in Bevormundung ausartet.67 Das wiederum bedeutet, dass der Stifter die staatliche Aufsicht weitgehend entbehrlich machen kann, indem er geeignete Vorkeh-

60 S. zum Folgenden Rösing, Die Entlastung im Stiftungsrecht, 2013, S. 64 ff. 61 S. etwa § 12 Abs. 1 BWStiftG, § 15 Abs. 1 HessStiftG und § 9 NRWStiftG. 62 S. etwa Art. 15 BayStiftG, § 11 Abs. 3 BWStiftG und § 11 NRWStiftG. 63 Rösing, Die Entlastung im Stiftungsrecht, 2013, S. 67. 64 Holtwiesche, Der Stiftungsvorstand bei der Vermögensverwaltung, 2017, S. 319. 65 Holtwiesche, Der Stiftungsvorstand bei der Vermögensverwaltung, 2017, S. 320. 66 Hüttemann/Rawert in Staudinger (2017), § 86 BGB Rz. 77; Burgard/Heimann, NZG 2016, 166, 167; Hüttemann/Kampermann, npoR 2014, 145; Weidlich/Foppe, ZStV 2014, 100, 101. 67 v. Campenhausen/Stumpf in v. Campenhausen/Richter, Stiftungsrechts-Handbuch, 4. Aufl. 2014, § 21 Rz. 6.

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rungen zur Selbstkontrolle trifft.68 Besonders klar kommt der Grundsatz der Subsidiarität der Stiftungsaufsicht in § 8 Abs. 2 Satz 2 BWStiftG zum Ausdruck, wonach Maßnahmen wie die Abberufung des Vorstands aus wichtigem Grund oder die Geltendmachung von Ansprüchen gegen Organmitglieder im Namen und auf Kosten der Stiftung entfallen, „wenn und solange eine ordnungsgemäße Überwachung der Verwaltung durch ein vom Stifter vorgesehenes unabhängiges Kontrollorgan gewährleistet erscheint“. Wenn nun der Wille des Stifters dahin geht, dass das von ihm eingesetzte Kontrollor­ gan auch die Kompetenz zur Entlastung haben soll – und davon ist im Zweifel auszugehen −, dann ist auch dies eine privatautonome Entscheidung, die von der Stiftungsbehörde als „Garantin des Stifterwillens“ zu respektieren ist. Folgerichtig muss die Behörde auch respektieren, wenn etwaige Ansprüche infolge der Präklusionswirkung undurchsetzbar werden.69 Der „Vorbehalt der Stiftungsaufsicht“ beschränkt sich somit darauf, dass die zuständige Aufsichtsbehörde den Entlastungsbeschluss des Aufsichtsorgans auf seine Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen und bei Rechtsfehlern zu beanstanden hat.70 4. Zwischenergebnis Damit kann als Zwischenergebnis festgehalten werden, dass von den Einwänden, die gegen die Möglichkeit einer Entlastung des Stiftungsvorstands mit Präklusionswirkung vorgebracht werden, kein einziger überzeugt.

IV. Schutz gegen eine fehlerhafte Entlastung Die Frage, ob sich das Institut der Entlastung mit Präklusionswirkung auf die Stiftung übertragen lässt, ist damit aber noch nicht beantwortet. Wer zu einem abschließenden Urteil kommen möchte, hat sich noch Klarheit darüber zu verschaffen, wie es um den Schutz der Stiftung gegen eine fehlerhafte Entlastung bestellt ist. 1. Rechtsfolgen einer fehlerhaften Entlastung Das hängt zunächst davon ab, was man unter einer „fehlerhaften“ Entlastung versteht und welche Rechtsfolgen diese hat. Diese Frage wiederum führt auf unwegsames Terrain, denn sie hängt eng mit der allgemeinen Diskussion über die Rechtsfolgen fehler68 Schlüter/Stolte, Stiftungsrecht, 3. Aufl. 2016, Kap. 3 Rz. 3; insoweit auch Holtwiesche, Der Stiftungsvorstand bei der Vermögensverwaltung, 2017, S. 318. 69 Weidlich/Foppe, ZStV 2014, 100, 101. Für das schweizerische Recht auch Baumann Lorant, Der Stiftungsrat, 2009, S. 381. Soweit Bruns, Kommentar zum BWStiftG, 6. Aufl. 2010, § 11 BWStiftG Anm. 4 der Ansicht ist, dass gemäß § 11 Abs. 3 BWStiftG allein die Stiftungsbehörde befugt ist, einen Verzicht auf Schadensersatzansprüche der Stiftung gegen ihren Vorstand zu vereinbaren, ist dies schon vom Wortlaut der Vorschrift nicht gedeckt; zutreffend Rösing, Die Entlastung im Stiftungsrecht, 2013, S. 45 in Fn. 202. 70 Hüttemann/Rawert in Staudinger (2017), § 86 BGB Rz. 77. S. dazu auch noch unter IV 3.

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hafter Beschlüsse zusammen, die sich im Stiftungsrecht noch in den Anfängen befindet.71 An dieser Stelle muss der Hinweis genügen, dass fehlerhafte Beschlüsse von Stiftungsorganen nach hergebrachter Auffassung grundsätzlich nichtig sind.72 Da­ rüber hinaus ist daran zu erinnern, dass dem Aufsichtsorgan bei der Entscheidung über die Entlastung ein Ermessensspielraum zuzubilligen ist. Folglich ist ein Entlastungsbeschluss nicht schon dann als materiell fehlerhaft – und damit als nichtig – anzusehen, weil es Gründe gegeben hätte, die Entlastung wegen einer Pflichtwidrigkeit zu verweigern. Fehlerhaft und nichtig ist ein Entlastungsbeschluss erst dann, wenn er sich mit Rücksicht auf den (mutmaßlichen) Stifterwillen als unvertretbar darstellt.73 So liegt es, wenn sich der Vorstand schwerer Pflichtverletzungen schuldig gemacht, gar der Stiftung einen erheblichen Schaden zugefügt hat. Was der BGH für die Aktiengesellschaft festgestellt hat, dass nämlich ein Entlastungsbeschluss der Hauptversammlung (§ 120 Abs. 1 AktG) rechtswidrig ist, wenn Gegenstand der Entlastung ein Verhalten ist, das eindeutig einen schwerwiegenden Gesetzes- oder Satzungsverstoß darstellt,74 muss für die Stiftung mit Blick auf die weitergehenden Rechtsfolgen erst recht gelten.75 Ebenfalls nichtig ist ein Entlastungsbeschluss, der vom Vorstand durch Verschleierung relevanter Tatsachen erschlichen wird76 oder der zu einem Zeitpunkt gefasst wird, zu dem die Mitglieder des Aufsichtsorgans noch nicht beurteilen können, ob der Stiftung durch eine Pflichtverletzung ein Schaden zugefügt wurde, und der nur dazu dient, eine weitere Sachaufklärung zu verhindern.77 Davon zu unterscheiden ist die Konstellation, dass die vom Vorstand vorgelegten Unterlagen von den Mitgliedern des Aufsichtsorgans nicht sorgfältig geprüft und Pflichtverletzungen deswegen entweder nicht erkannt oder in ihrem Ausmaß unterschätzt werden. Soll die Präklusionswirkung der Entlastung einen Sinn behalten, wird man in einem solchen Fall den Entlastungsbeschluss für wirksam halten müssen, sofern es nicht um ein Verhalten geht, das eine Entlastung als unvertretbar erscheinen lässt.78 Die Missachtung der „Grundregeln sachgerechter Entscheidungsfindung“79 hat lediglich − aber immerhin − zur Folge, dass diejenigen Mitglieder des Aufsichtsorgans, die dem Beschluss zugestimmt haben oder ihm nicht zumindest klar entgegengetreten 71 Grundlegend Stallmann, Fehlerhafte Beschlüsse in der Stiftung bürgerlichen Rechts, 2014. 72 BGH v. 14.10.1993 − III ZR 157/91, NJW 1994, 184, 185; Hüttemann/Rawert in Staudinger (2017), § 86 BGB Rz. 62; Weitemeyer in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2018, § 86 BGB Rz. 27; Stallmann, Fehlerhafte Beschlüsse in der Stiftung bürgerlichen Rechts, 2014, S. 155; Godron in Richter, Stiftungsrecht, 2019, § 6 Rz. 41. 73 Hüttemann/Rawert in Staudinger (2017), § 86 BGB Rz. 78. 74 BGH v. 25.11.2002 – II ZR 133/01, BGHZ 153, 47, 51 (Macrotron); aus jüngerer Zeit etwa BGH v. 10.7.2012 − II ZR 48/11, BGHZ 194, 14 Rz. 9. 75 Vgl. zur entsprechenden Diskussion im GmbH-Recht Hüffer/Schürnbrand in Großkomm. GmbHG, 2. Aufl. 2014, § 46 GmbHG Rz. 77 m.N. aus der Rechtsprechung. 76 Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl. 2017, § 46 GmbHG Rz. 41. 77 Vgl. für die GmbH BGH v. 4.5.2009 − II ZR 169/07, NZG 2009, 1307 Rz. 20. 78 Burgard, Gestaltungsfreiheit im Stiftungsrecht, 2006, S.  610  f.; ders. in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, Rz. 6.176; Burgard/Heimann, NZG 2016, 166, 168. 79 Burgard, Gestaltungsfreiheit im Stiftungsrecht, 2006, S. 610.

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sind, der Stiftung ihrerseits auf Schadensersatz haften.80 Der Schaden kann in der Präklusion der Ansprüche oder darin bestehen, dass diese nicht rechtzeitig geltend gemacht werden.81 Der Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens – also der Einwand, dem Vorstand hätte (auch) bei sorgfältiger Prüfung der Unterlagen Entlastung erteilt werden dürfen −, ist den Mitgliedern des Aufsichtsorgans mit Rücksicht auf die Kontrollfunktion der Entlastung, die das Aufsichtsorgan zu einer gewissenhaften Prüfung von Recht- und Zweckmäßigkeit der Geschäftsführung anhalten soll, nicht zuzugestehen. In der Konsequenz dieser Überlegungen liegt es, zwischen der aus formellen oder materiellen Gründen nichtigen und der pflichtwidrig erteilten, aber gleichwohl wirksamen Entlastung zu unterscheiden.82 2. Klagemöglichkeit der (überstimmten) Mitglieder des Aufsichtsorgans? Der Schutz der Stiftung hängt außerdem davon ab, wie es um die Möglichkeit der überstimmten Mitglieder des Aufsichtsorgans bestellt ist, gerichtlich gegen einen aus ihrer Sicht nichtigen Entlastungsbeschluss vorzugehen. Statthafter Rechtsbehelf ist die  – gegen die Stiftung zu richtende − allgemeine Feststellungsklage nach §  256 Abs. 1 ZPO. Wer in gesellschaftsrechtlichen Bahnen denkt, wird den Mitgliedern des Aufsichtsorgans das für die Zulässigkeit einer solchen Klage erforderliche Feststellungsinteresse ohne Zögern zugestehen. Denn im Gesellschaftsrecht entspricht es allgemeiner Überzeugung, dass Mitglieder eines Aufsichtsorgans bereits aufgrund ihrer Organstellung die Befugnis haben, bei Zweifeln an der Rechtmäßigkeit eines Beschlusses eine Klärung auf dem Klagewege anzustreben.83 Für das Stiftungsrecht jedoch hat der BGH in einem Urteil aus dem Jahr 1993 den Standpunkt eingenommen, diesem sei eine solche Befugnis „fremd“. Ein Mitglied eines Stiftungsorgans habe nur dann ein schutzwürdiges Interesse daran, die Unwirksamkeit eines Beschlusses seines Organs gerichtlich feststellen zu lassen, wenn es durch den Beschluss in seinen eigenen organschaftlichen Rechten beeinträchtigt wird.84 Bliebe es bei dieser Rechtsprechung, wäre eine Entlastung mit Präklusionswirkung nur um den Preis einer zivilgerichtlichen Rechtsschutzlücke zu haben, denn mit einer Beeinträchtigung organschaftlicher Befugnisse geht ein Beschluss über die Entlastung des Vorstands niemals einher. Die Ansicht des BGH ist allerdings abzulehnen und 80 Burgard, Gestaltungsfreiheit im Stiftungsrecht, 2006, S. 611. S. dazu auch noch unter 2 sowie unter 3 b). 81 Burgard/Heimann, NZG 2016, 166, 168. S. dazu auch noch unter 3 b). 82 Entsprechende Überlegungen bei Rösing, Die Entlastung im Stiftungsrecht, 2013, S. 61 ff. und 98. 83 So für die AG etwa BGH v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244, 248 (ARAG/Garmenbeck). 84 BGH v. 14.10.1993 − III ZR 157/91, NJW 1994, 184, 185; dem folgend Wernicke, ZEV 2003, 301, 303. In dem vom BGH entschiedenen Fall ging es um die Rechtmäßigkeit eines Kuratoriumsbeschlusses, durch den die Zahl der stimmberechtigten Kuratoriumsmitglieder von neun auf dreizehn erhöht wurde. Da sich das Stimmgewicht der bisherigen Kuratoriumsmitglieder durch die Vergrößerung des Kuratoriums verringerte, sah der BGH eine „Beeinträchtigung der organschaftlichen Rechtsstellung“ als gegeben an.

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sollte bei nächster Gelegenheit korrigiert werden.85 Es ist inkonsequent, die Mitglieder von Aufsichtsorganen ständig an ihre Kardinalpflicht zur Wahrung und Umsetzung des Stifterwillens zu erinnern, ihnen aber die Befugnis vorzuenthalten, Beschlüsse des Aufsichtsorgans auf ihre Rechtmäßigkeit  – und das heißt auch: ihre Vereinbarkeit mit dem Stifterwillen – überprüfen zu lassen. Weil es an natürlichen Personen „hinter der Stiftung“ fehlt, besteht bei dieser Rechtsform sogar in besonderem Maße die Notwendigkeit, ein Feststellungsinteresse kraft Organmitgliedschaft zu bejahen.86 Ein Teil des neueren Schrifttums geht noch einen Schritt weiter und hält das überstimmte Organmitglied nicht nur für berechtigt, sondern auch für verpflichtet, gerichtlich gegen einen aus seiner Sicht unwirksamen Beschluss vorzugehen.87 Dieser Ansicht ist jedoch nicht zu folgen. Sie bürdet den – in der Regel ehrenamtlich tätigen – Aufsichtsrats- und Kuratoriumsmitgliedern von Stiftungen eine Pflicht auf, der nicht einmal Aufsichtsratsmitglieder von Aktiengesellschaften unterliegen. Diese tragen zwar nach allgemeiner Auffassung jeweils eine gemeinsame Verantwortung für die Rechtmäßigkeit der von ihnen gefassten Beschlüsse88 und haben deshalb alles ihnen Zumutbare zu unternehmen, um zu verhindern, dass der Gesellschaft durch einen gesetzes- oder satzungswidrigen Aufsichtsratsbeschluss ein Schaden entsteht.89 Daraus folgt aber in der Regel nur die Pflicht, die Bedenken gegen den Beschluss klar zum Ausdruck zu bringen und bei der Abstimmung mit „Nein“ zu votieren. Eine Pflicht des (überstimmten) Aufsichtsratsmitglieds, den Beschluss gerichtlich überprüfen zu lassen, besteht nur im Ausnahmefall, insbesondere dann, wenn der Gesellschaft ein erheblicher Schaden droht.90 Über diese Grundsätze darf in der Stiftung nicht hinausgegangen werden. 3. Schutz durch die Stiftungsbehörde Der Schutz durch gerichtliche Beschlusskontrolle versagt allerdings, wo es an potentiellen Klägern fehlt. Man denke etwa an den Fall, dass die Mitglieder des Aufsichtsorgans dem Vorstand trotz schwerer Pflichtverletzungen einstimmig Entlastungen erteilen, um (auch) ihr eigenes Fehlverhalten unter den Teppich zu kehren.91 Hier ist Schutz durch die Stiftungsbehörde geboten. Ob deren Befugnisse für eine effektive 85 Ablehnend auch Hüttemann/Rawert in Staudinger (2017), §  86 BGB Rz.  65; Rösing, Die Entlastung im Stiftungsrecht, 2013, S. 100 f.; Stallmann, Fehlerhafte Beschlüsse in der Stiftung bürgerlichen Rechts, 2014, S. 180 ff.; ders., ZEV 2017, 607, 611 f.; Godron in Richter, Stiftungsrecht, 2019, § 6 Rz. 42; Hoffmann in FG Kreutz, 2009, S. 29, 40 f. 86 Stallmann, Fehlerhafte Beschlüsse in der Stiftung bürgerlichen Rechts, 2014, S. 182. 87 Hüttemann/Rawert in Staudinger (2017), § 86 BGB Rz. 65. 88 So die Formulierung von BGH v. 29.1.2013 – II ZB 1/11, NZG 2013, 297, 298 Rz. 13. 89 Spindler in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 116 AktG Rz. 37. 90 So im Grundsatz übereinstimmend Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 116 AktG Rz. 38; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2013, § 116 AktG Rz. 64; Spindler in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 116 AktG Rz. 51; Vetter, DB 2004, 2623, 2626. 91 Auf einen solchen Fall bezieht sich die Skepsis bei Schwintek, Vorstandskontrolle in rechtsfähigen Stiftungen bürgerlichen Rechts, 2001, S. 203.

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Entlastung des Vorstands mit Präklusionswirkung auch in der Stiftung?

„Kontrolle der Kontrolleure“ ausreichen, ist eine schwierige Frage. Mindestens zwei Gründe sprechen dafür, sie zu bejahen. a) Allgemeine Aufsichtsbefugnisse Erstens stehen der Stiftungsbehörde gegen einen fehlerhaften Entlastungsbeschluss die allgemeinen Aufsichtsrechte zu. Sie ist insbesondere befugt, den Beschluss zu beanstanden und seine Aufhebung zu verlangen.92 Der Umstand, dass ein fehlerhafter Beschluss nichtig ist und damit keinerlei Rechtswirkungen entfaltet, steht dem nicht entgegen. Denn solange der Beschluss nicht aufgehoben wird, besteht der Rechtsschein seiner Wirksamkeit, den es im Interesse der Stiftung zu beseitigen gilt.93 Um von ihren allgemeinen Aufsichtsbefugnissen Gebrauch machen zu können, muss die Stiftungsbehörde allerdings Kenntnis vom Entlastungsbeschluss des Aufsichtsorgans erlangen. Daher ist mindestens zu verlangen, dass die Stiftungsbehörde im Rahmen der gesetzlich vorgeschriebenen Rechenschaftslegung94 mit den für eine Prüfung notwendigen Informationen über die Entlastung versorgt wird. Sieht das einschlägige Landesstiftungsrecht vor, dass Rechtsgeschäfte der Stiftung mit Mitgliedern ihrer Organe der Stiftungsbehörde im Voraus anzuzeigen oder von ihr zu genehmigen sind,95 ist außerdem eine analoge Anwendung der entsprechenden Bestimmungen zu erwägen.96 Solange die Anzeige unterbleibt bzw. die Genehmigung nicht erteilt wird, sollte den betroffenen Organwaltern kein schutzwürdiges Vertrauen zugebilligt werden.97 b) Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen Zweitens ist nochmals darauf hinzuweisen, dass Mitglieder eines Aufsichtsorgans, die einem pflichtwidrigen Entlastungsbeschluss schuldhaft zustimmen oder ihm nicht klar entgegentreten, der Stiftung ihrerseits auf Schadensersatz haften.98 Für die Durchsetzung der Haftungsansprüche ist an sich der Vorstand zuständig.99 Von ihm ist ­freilich in den hier interessierenden Fällen ein konsequentes Vorgehen gegen die Kontrolleure kaum zu erwarten. Einige Landesstiftungsgesetze sehen deshalb eine 92 Überblick über die landesrechtlichen Regelungen bei Suerbaum in Stumpf/Suerbaum/ Schulte/Pauli, Stiftungsrecht, 3. Aufl. 2018, Teil C Rz. 222 ff. 93 Rösing, Die Entlastung im Stiftungsrecht, 2013, S. 102. 94 Zu den einschlägigen landesrechtlichen Vorgaben s. Suerbaum in Stumpf/Suerbaum/Schulte/Pauli, Stiftungsrecht, 3. Aufl. 2018, Teil C Rz. 309 ff.; Spiegel in Hüttemann/Richter/Weitemeyer, Landesstiftungsrecht, 2011, Rz. 22.10 ff. 95 Art. 19 Nr. 3 BayStG, § 13 Abs. 1 Nr. 4 BWStiftG. 96 Gregor Roth in Hüttemann/Richter/Weitemeyer, Landesstiftungsrecht, 2011, Rz. 17.49; Rösing, Die Entlastung im Stiftungsrecht, 2013, S. 90. 97 Gregor Roth in Hüttemann/Richter/Weitemeyer, Landesstiftungsrecht, 2011, Rz. 17.104 (zu § 13 BWStiftG). 98 Zugestanden sei, dass es in bestimmten Fällen aufgrund eines abweichenden Haftungsmaßstabs zu einem gewissen Verwässerungseffekt kommen kann; s. die Bedenken bei ­Gregor Roth in Hüttemann/Richter/Weitemeyer, Landesstiftungsrecht, 2011, Rz. 17.49 in Fn. 160. 99 Burgard in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, Rz. 6.180.

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subsidiäre Kompetenz der Stiftungsbehörde vor, Ersatzansprüche der Stiftung gegen Organmitglieder geltend zu machen.100 In anderen Ländern kommt die Bestellung eines Beauftragten durch die Stiftungsbehörde in Betracht.101 Schließlich ist an eine Ersatzvornahme zu denken.102 Alles in allem dürften die Befugnisse der Stiftungsbehörden ausreichen, um für eine effektive, von Interessenkonflikten befreite Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen gegen Mitglieder von Aufsichtsorganen zu sorgen.

V. Fazit Die eingangs gestellte Frage, ob die aus dem Recht der Personenverbände bekannte Entlastung des Vorstands mit Präklusionswirkung auch in der rechtsfähigen Stiftung des bürgerlichen Rechts anzuerkennen ist, ist nach alledem mit einem „Ja, aber“ zu beantworten. Ja, eine Entlastung mit Präklusionswirkung ist auch in der Stiftung möglich, sofern diese über ein besonderes Aufsichtsorgan verfügt, dem gegenüber der Vorstand rechenschaftspflichtig ist. Die Entlastungsbefugnis folgt als Annexkompetenz aus der Überwachungsaufgabe dieses Organs. Angesichts ihrer verschiedenen Funktionen (Abschluss-, Abgrenzungs-, Klarstellungs-, Kontroll- und Motivationsfunktion) kann die Entlastung auch bei der Stiftung von Nutzen sein und einen sinnvollen Beitrag zur Foundation Governance leisten. Allerdings darf man die Entlastungskompetenz nicht als Regelbefugnis missverstehen, nach Belieben über mögliche Ansprüche der Stiftung zu disponieren. Vielmehr hat das Aufsichtsorgan nach pflichtgemäßem Ermessen über die Entlastung zu entscheiden, d.h. es hat in jedem Einzelfall anhand einer Gesamtabwägung zu ermitteln, ob eine Entlastung dem Wohl der Stiftung und damit dem Stifterwillen entspricht oder nicht. Um die Stiftung ausreichend gegen fehlerhafte Entlastungsbeschlüsse zu schützen, bedarf es jedoch in jedem Fall einer Korrektur der fragwürdigen BGH-Rechtsprechung zu Beschlussmängelklagen von Organmitgliedern.

100 So Art. 15 BayStG und § 16 NdsStiftG. § 11 NRWStiftG sieht für solche Fälle die Möglichkeit der Bestellung eines besonderen Vertreters vor. 101 § 6 Abs. 4 HmbStiftG, § 16 HessStiftG, § 8 MVStiftG, § 9 Abs. 6 RhPfStiftG, § 16 Saarl­ StiftG, § 7 Abs. 3 SächsStiftG. 102 § 13 Abs. 4 BremStiftG, § 14 Abs. 1 HessStiftG.

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Neuvermessung der „angemessenen Informationsgrundlage“ (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG) unter VUCA-Rahmenbedingungen1 Inhaltsübersicht I. Einführung 1. Bedeutung der „angemessenen Infor­ mationsgrundlage“ für die Business ­Judgement Rule nach der UMAG-­ Gesetzeskonzeption 2. Auslöser einer Neuvermessung II. Bildung der angemessenen Informationsgrundlage als integraler Bestandteil sorgfältiger Entscheidungsfindung III. Perspektiverweiterung und Akzent­ verschiebung unter VUCA-Rahmen­ bedingungen IV. Relationales Sechs-Parameter-Modell zur einzelfallbezogenen Konturierung der Angemessenheit 1. Wertungsoffenheit und Einzelfallbezogenheit des Angemessenheitsbegriffs

2. Überblick über das relationale Sechs-­ Parameter-Modell 3. Parameter 1: Intensität der Folgen einer unternehmerischen Entscheidung 4. Parameter 2: Lage und Positionierung der konkreten Gesellschaft 5. Parameter 3: Kosten einer (weiteren) ­Informationsermittlung und -analyse 6. Parameter 4: Zeitbudget für Entscheidung 7. Parameter 5: Rechtliche und tatsächliche Möglichkeit der Informationsgewinnung 8. Parameter 6: Anwendung heuristischer Verfahren, Methoden der kognitiven Psychologie und des probabilistischen Denkens V. Zusammenfassende Thesen

I. Einführung 1. Bedeutung der „angemessenen Informationsgrundlage“ für die Business Judgement Rule nach der UMAG-Gesetzeskonzeption Zu der Vielzahl großer Verdienste von Ulrich  Seibert um die Fortentwicklung und Modernisierung des Gesellschaftsrechts gehört auch die Erarbeitung und inhaltlich-steuernde Verfahrensbegleitung des Gesetzes zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG), und hier wiederum vor allem die Kodifikation einer sog. Business Judgement Rule (BJR) in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG. Diese Neuregelung erfolgte vor dem Hintergrund der Verschärfung des Verfolgungsrechts von Binnenhaftungsansprüchen durch eine Aktionärsminderheit (§ 148 AktG) und sollte sicherstellen, „dass die unternehmerische Entscheidungsfreiheit nicht

1 Stand dieses Beitrages ist der 1.4.2019, der letzte Abruf der Online-Quellen erfolgte an diesem Tag.

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durch unabwägbare Haftungsrisiken eingeschränkt wird“2  – und: mit §  93 Abs.  1 Satz 2 AktG sollte klargestellt werden, dass eine Erfolgshaftung der Organmitglieder gegenüber der Gesellschaft ausscheidet, dass also für Fehler im Rahmen des unternehmerischen Entscheidungsspielraums nicht gehaftet wird.3 Nach der kodifizierten Business Judgement Rule liegt eine Pflichtverletzung nicht vor, wenn das Organ­ mitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung „vernünftigerweise annehmen dürfte, auf der Grundlage angemessener Informationen“ (zum Wohle der Gesellschaft, ohne Sonderinteressen und sachfremde Einflüsse) zu handeln. Zu diesem Merkmal der „angemessenen Informationsgrundlage“ führt die UMAG-Regierungsbegründung Anfang 2005, also vor der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007/2008 und in Zeiten relativer politischer und wirtschaftlicher Stabilität, klar und weitsichtig was folgt aus:4 „Das Vorstandmitglied muss … vernünftigerweise angenommen haben, die Handlung erfolge auf der Grundlage angemessener Information. Dabei soll die unternehmerische Entscheidung nicht verrechtlicht oder (schein-)objektiviert werden. Eine unternehmerische Entscheidung beruht häufig auch auf Instinkt, Erfahrung, Phantasie und Gespür für künftige Entwicklungen und ein Gefühl für die Märkte und die Reaktion der Abnehmer und Konkurrenten. Dies lässt sich nicht vollständig durch objektive Information ersetzen. Das Gesetz möchte den Mut zum unternehmerischen Risiko nicht nehmen, zugleich aber Unbesonnenheit und Leichtsinn auf Kosten der Kapitalgeber und der Arbeitnehmer keinen Vorschub leisten. Darauf nimmt das Tatbestandsmerkmal „angemessene Information“ Rücksicht. Es reflektiert, dass insbesondere bei Entscheidungen, die unter hohem und nicht selbsterzeugtem Zeitdruck zu fällen sind, ehe umfassende Entscheidungsvorbereitung schwierig oder gar unmöglich sein kann. Mitunter sind die verfügbaren objektiv erscheinenden Informationen auch unmerklich durch betriebswirtschaftliche Trends oder allgemeine Marktstimmungen subjektiv eingefärbt, und gerade der Unternehmer, der sich antizyklisch verhält und das Unerwartete tut, mag Erfolg haben. Abgestellt wird daher auf die vom Vorstandsmitglied vernünftigerweise als angemessen erachtete Information, auf deren Basis und nach deren freier Würdigung er dann eine unternehmerische Entscheidung fällt. Es wird dem Vorstand also in den Grenzen seiner Sorgfaltspflichten ein erheblicher Spielraum eingeräumt, den Informationsbedarf abzuwägen und sich selbst eine Annahme dazu zu bilden. Information kann nicht allumfassend sein, sondern hat betriebswirtschaftlich gegebene Schwerpunkte (Rentabilität, Risikobewertung, Investitionsvolumen, Finanzierung etc.). Welche Intensität der Informationsbeschaffung im Sinne der Norm „angemessen“ ist, ist anhand des Zeitvorlaufs, des Gewichts und der Art der zu treffenden Entscheidung und unter Berücksichtigung anerkannter betriebswirtschaftlicher Verhaltensmaßstäbe von ihm ohne groben Pflichtverstoß zu entscheiden. Keinesfalls zielt der Entwurf darauf, dass durch routinemäßiges Einholen von Sachverständigengutachten, Beratervoten oder externen Marktanalysen eine rein formale Absicherung stattfindet. Die Frage, ob und in welchem Umfang externe Gutachten eingeholt werden, ist nach betriebswirtschaftlichen Notwendigkeiten sowie den eigenen Möglichkeiten der Gesellschaft zu beantworten und nicht nach formalen Absicherungsstrategien zu entscheiden.“

2 UMAG-RegE v. 14.3.2005, BT-Drucks. 15/5092, S. 1.  3 UMAG-RegE v. 14.3.2005 zu § 93 Abs. 1 Satz 2 und 3 AktG, BT-Drucks. 15/5092, S. 11. 4 UMAG-RegE v. 14.3.2005 zu § 93 Abs. 1 Satz 2 und 3 AktG, BT-Drucks. 15/5092, S. 11 f.

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Angemessene Informationsgrundlage unter VUCA-Rahmenbedingungen

2. Auslöser einer Neuvermessung Zwei Befunde sind lohnender Auslöser für eine Neuvermessung der zentralen BJR-Tatbestandsvoraussetzung der „angemessenen Informationsgrundlage“: (1) Die Rechtsprechung des Zweiten Zivilsenats des Bundesgerichtshofs hat seit 2008 (also nach UMAG-Inkrafttreten) in mehreren Entscheidungen für die Haftungsprivilegierung eines Geschäftsleiters verlangt, dass er „in der konkreten Entscheidungssituation alle verfügbaren Informationsquellen tatsächlicher und rechtlicher Art ausschöpft und auf dieser Grundlage die Vor- und Nachteile der bestehenden Handlungsoptionen sorgfältig abschätzt und den erkennbaren Risiken Rechnung trägt“.5 Dieser jedenfalls vom Wortlaut des gerichtlichen Maßstabs her eindeutig und in mehrfacher Hinsicht vom Gesetzeswortlaut und der Gesetzesintention abweichende Maßstab (rein objektiver Maßstab statt gemischt objektiv/subjektiver Maßstab des „vernünftigerweise Annehmen-Dürfens“; keine Angemessenheitseinschränkung) hat in der Praxis dazu geführt, dass die Tatbestandsvoraussetzung der „angemessenen Informationsgrundlage“ nicht Ausdruck der Haftungsprivilegierung unternehmerischer Entscheidungen, sondern Einfallstor für eine detailintensive Überprüfung der Entscheidungsvorgänge durch (Schieds-)Gerichte geworden ist, sei es in Verfahren über die Wirksamkeit von Bestellungswiderrufen und Vertragskündigungen, sei es in Binnenhaftungsprozessen. Dies wiederum entfaltet  – vor dem Hintergrund des strengen ARAG/Garmenbeck-Pflichtenkanons zur Ermittlung und Geltendmachung von Haftungsansprüchen der Gesellschaft gegen Geschäftsleiter6 – eine Rückwirkung auf die Aufgreifschwelle und den Prüfungsmaßstab von Untersuchungen des Aufsichtsrats im Hinblick auf früheres Vorstandsverhalten. Eine Analyse der Beratungsmandate zeigt einen sehr signifikanten Anstieg von Untersuchungen seit 2008, und zwar nicht nur im Hinblick auf die im Vordergrund stehenden Compliance-Verletzungen, sondern auch von möglichen Pflichtverletzungen bei unternehmerischen Entscheidungen, insbesondere zu den Sachverhalten (i) sachliche oder regionale Erweiterung des Produkt- und/oder Dienstleistungsangebots, (ii) Vornahme von Großinvestitionen, einschließlich von M&A-Transaktionen, insbesondere in High Risk/High Growth 5 So BGH v. 14.7.2008 – II ZR 202/07, NJW 2008, 3361 (1. Ls) und 3362 (Rz. 11 mit Hinweis auf den seinerzeitigen Senatsvorsitzenden Goette in FS 50 Jahre BGH, S. 123, 140 f.) (zur GmbH); wortlautgleich BGH v. 18.6.2013 – II ZR 86/11, NJW 2013, 3636, 3638 (Rz. 30); bestätigend durch Verweis jeweils: BGH v. 3.11.2008 – II ZR 236/07, AG 2009, 117 (zur Genossenschaft); BGH v. 22.2.2011 – II ZR 146/09, AG 2011, 378, 379 (Rz. 19) (zur AG); aus der obergerichtlichen Rechtsprechung OLG Düsseldorf v. 9.12.2009  – I-6 W 45/09, AG 2010, 126, 128 – IKB (zur AG); OLG Hamm v. 12.7.2012 – I-27 U 12/10, AG 2012, 683 (zur Genossenschaft); OLG Hamm v. 17.3.2016 – 27 U 36/15, AG 2016, 508, 509 (zur Haftung des Vorstands einer gesetzlichen Krankenkasse); anders allerdings der 5.  Strafsenat, BGH v. 12.10.2016 – 5 StR 134/15, NZG 2017, 116 = AG 2017, 72 – HSH Nordbank (Rz. 34; Schaffung einer angemessenen Tatsachenbasis unter Berücksichtigung des Faktors Zeit und unter Abwägung der Kosten und Nutzen weiterer Informationsgewinnung). 6 BGH v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244 – ARAG/Garmenbeck; hierzu z.B. Kindler, ZHR 162 (1998), S.  102  ff.; Caspar, ZHR 176 (2012), S.  617, 628  ff.; Goette in FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 377 ff.; Reichert in FS Hommelhoff, 2012, S. 907, 912 ff.; Habersack, NZG 2016, 321 ff.; Henze, NJW 1998, 3309 ff.

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Markets, (iii) Abwicklung und Sanktionierung von Compliance-Verletzungen von dem Vorstand (deutlich) nachgeordneten Arbeitnehmern der Gesellschaft und in (ausländischen) Tochtergesellschaften sowie (iv) Abschluss wesentlicher, häufig langfristiger Verträge mit Netzwerkpartnern, einschließlich darin enthaltener Finanzierungselemente. Das Merkmal der „angemessenen Informationsgrundlage“ ist heute entgegen der Gesetzesintention Achillesverse für Geschäftsleiter bei unternehmerischen Entscheidungen geworden, was zu einer Dokumentations- und Sachverständigenkultur und in bestimmten Bereichen auch zu übermäßiger Risikoaversion der Geschäftsleiter führt. (2) Seit dem UMAG-Inkrafttreten und vor allem in Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/2008 beschreiben weltweit und quer durch alle Geschäftsbereiche Geschäftsleiter in internen Führungskräftebesprechungen aber auch extern gegenüber Netzwerkpartnern, Behörden und Medien die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen mit vier Kerncharakteristika: Volatility, Uncertainty, Complexity und Ambiguity („VUCA“).7 Digitalisierung ist überall. Disruptive technische Entwicklungen finden z.B. in Bereichen der Biotechnologie und Mensch-Maschine-Applikationen, der Nanotechnologie, der künstlichen Intelligenz und Robotik, der Energiegewinnung und -speicherung oder im Feld neuer Materialien statt. Neue Wettbewerber kommen aus dem Nichts, Marktabgrenzungen lösen sich auf. Die Regulierung nimmt in vielen Feldern international zu, einzelne Jurisdiktionen versuchen konkurrierend, nationale Interessen oder global formulierte Werteansprüche durch sanktionsintensive Normen durchzusetzen. Die politischen und sozialen Rahmenbedingungen sind volatil, Trends schwer eindeutig zu bestimmen, komplexe Wechselbeziehungen zwischen Wirtschaftsfaktoren erschweren die Prognosefähigkeit. Die BJR-Tatbestandsvoraussetzung der „angemessenen Informationsgrundlage“ ist der maßgebliche Orientierungspunkt für Geschäftsleiter, in welcher Weise sie einen risikoadäquaten Prozess der Entscheidungsfindung strukturieren sollten – und es ist plausibel anzunehmen, dass dieses Verfahren unter Geltung der kategorial veränderten VUCA-Rahmenbedingungen8 neu zu vermessen ist. Dieser Beitrag verfolgt die These, dass gerade unter den derzeitigen VUCA-Rahmenbedingungen eine Revision der vom Zweiten Zivilsenat des Bundesgerichtshofs aufgestellten (strengen) Anforderungen an die „angemessene Informationsgrundlage“ von Nöten ist und durch eine der UMAG-Zielsetzung entsprechenden breiten, gerichtlich nur sehr eingeschränkt überprüfbaren Bewertungs- und Beurteilungsspielraum auch in der Gerichts- und tatsächlichen Unternehmenspraxis ersetzt werden sollte.9 Gerade auch wegen der derzeit geltenden VUCA-Rahmenbedingungen sollte bei der Bewertung der Angemessenheit der Informationsgrundlage zum einen eine mehrfache Perspektiverweiterung (z.B. auf die Handlungsfolgen für die Stakeholder-Wahrnehmung und die Unternehmensreputation, die Frage nach der Reversibili7 Hierzu Seibt, DB 2018, 237 ff. 8 Hierzu die Streitschriften Seibt in Audit Committee Quarterly III/2018, 58-60 einerseits und Theisen in Audit Committee Quarterly III/2018, 61-63 andererseits. 9 Hierzu knapp bereits Seibt, DB 2018, 237, 243 f. (These 14); Seibt, Manager Magazin Heft 10/2018, 106.

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tät der Entscheidung anstelle ihrer wirtschaftlichen Bedeutung und die Erweiterung des sog. Risikoradars auf sprunghafte, disruptive Entwicklungen) erfolgen, zum anderen sollte hierbei die Nutzung von Big Data-Analysen und Künstliche Intelligenz-­ Werkzeugen (zusammen „BDKI“) einbezogen werden. Der materielle Richtwert einer „angemessenen“ Informationsgrundlage sollte sich unter dem Eindruck der VUCA-­Rahmenbedingungen von einer möglichst vollständigen (100%) Informationsbasis auf eine „safe enough to try“-Informationsgrundlage bei reversiblen Entscheidungen verringern, und zwar als Ausdruck einer zur Bewältigung der VUCA-­ Rahmenbedingungen notwendigen Fehlerkultur. Diese Perspektiverweiterung und Akzentverschiebung lassen sich ohne Gesetzesänderung mithilfe des wertungsoffenen Kalibrierungsbegriffs der „Angemessenheit“ verwirklichen und entsprechen dann auch wieder dem in der UMAG-Gesetzesbegründung offengelegten Gesetzeszweck einer unternehmerisches Handeln fördernden, breiten Haftungsprivilegierung.

II. Bildung der angemessenen Informationsgrundlage als integraler Bestandteil sorgfältiger Entscheidungsfindung Verfahren zur Entscheidungsvorbereitung und die Entscheidung selbst können – anders als das zuweilen noch in der rechtswissenschaftlichen Literatur propagiert wird10 – nicht scharf und zum Zwecke unterschiedlicher Standardsetzung voneinander getrennt werden. Vielmehr ist die Vornahme der unternehmerischen Entscheidung mit dem Verfahren zu ihrer Vorbereitung, insbes. der Herstellung einer angemessenen Informationsgrundlage für die Entscheidung, miteinander verknüpft und mehrfach wechselbezüglich. So steht am Anfang des Prozesses, der durch eine Entscheidung abgeschlossen wird, die Bestimmung der zur Entscheidung stehenden unternehmerischen Frage. Diese Entscheidungsfrage ist aber in der Praxis im hohen Maße sachverhaltsoffen und wird durch den weiteren Verlauf der Entscheidungsvorbereitung fortlaufend überprüft, ggf. modifiziert oder gar verworfen und dann durch eine alternative Entscheidungsfrage ersetzt. Auf der Basis der Entscheidungsfrage werden (vorläufig) die für ihre Beantwortung entscheidungsrelevanten Parameter bestimmt. Diese Parameter sind ebenfalls verfahrensoffen und werden durch den nachfolgenden Entscheidungsvorbereitungsprozess konturiert, ergänzt oder ersetzt. Hiernach beginnt der eigentliche Verfahrensabschnitt der Bildung einer angemessenen Informationsgrundlage, nämlich durch den Vierschritt: (i) Bestimmung des Informationsbedarfs, (ii) Bestimmung der Informationsquellen, (iii) Informationsermittlung 10 Die Unterscheidung von Entscheidungsvorbereitung und Entscheidung wird vor allem im Hinblick auf ein tradiertes Verständnis des Delegationsverbots von Leitungsentscheidungen in dem Sinne herangezogen, dass die Vorbereitung von Leistungsentscheidungen einer Delegation zugänglich ist, die Entscheidung selbst allerdings nicht. So z.B. jüngst Weber/ Kiefner/Jobst, NZG 2018, 1131, 1132; grundlegend Fleischer, ZIP 2003, 1, 6  ff.; vgl. auch Hüffer/Koch, AktG, 13.  Aufl. 2018, §  76 AktG Rz.  8; Kort in Großkomm. AktG, 5.  Aufl. 2015, § 76 AktG Rz 49; Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 102; Weber in Hölters, AktG, 3. Aufl. 2017, § 76 AktG Rz. 8. Kritisch hierzu bereits Seibt in FS K. Schmidt, 2009, S. 1463 ff., insbes. S. 1474.

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sowie schließlich (iv) Informationsanalyse. Auch diese Teilschritte sind verfahrensoffen und abhängig von den jeweiligen Festsetzungen und Ergebnissen der vorangegangenen Verfahrensschritte. So kann sich z.B. aus der Informationsermittlung ergeben, dass die (vorläufige) Bestimmung der Informationsquellen ungenügend war, da der erstrebte Informationsbedarf durch diese konkrete Informationsquelle nicht ermittelbar ist. Eine Konsequenz kann hiernach sein, den Kreis der Informationsquellen auszuweiten oder aber die Annahme des insoweit erforderlichen Informationsbedarfs einzuschränken. Die Informationsanalyse als letzter Teilakt der Ermittlung einer ­angemessenen Informationsgrundlage hat bereits eine besondere Nähe zur Ent­ scheidung selbst, da die Analyse im hohen Maße an der Entscheidungsfrage und bestimmten gesetzlichen, vor allem aber unternehmensautonom vorgegebenen Zielen ausgerichtet ist und daher die Entscheidung selbst „durch Betonen und Weglassen“ präjudiziert. Der Ablauf und die Wechselbezüglichkeit der Teilakte des Entscheidungsprozesses kann in Form eines Flussdiagramms wie folgt grafisch dargestellt werden (schraffierter Kasten zeigt die Schaffung der Informationsbasis im engeren Sinne): Bestimmung der Entscheidungsgrundlage

Bestimmung entscheidungsrelevanter Parameter

Bestimmung des Informationsbedarfs

Bestimmung der Informationsquelle

Informationsermittlung

Informationsanalyse

Entscheidung

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Hieraus folgt, dass es nicht plausibel ist, für die Entscheidungsvorbereitung einerseits und die Entscheidung selbst andererseits unterschiedliche rechtliche Sorgfaltsmaßstäbe zu statuieren. Zudem indiziert die Komplexität und Wechselbezüglichkeit des Verfahrensablaufes, dass ein eher breites Beurteilungs- und Bewertungsermessen der Entscheidungsträger und korrespondierend ein sehr eingeschränkter Überprüfungsmaßstab der unternehmensinternen Kontrollorgane sowie der Gerichte sinnfällig ist.

III. Perspektiverweiterung und Akzentverschiebung unter VUCA- Rahmenbedingungen Bei einer Durchmusterung der Literatur, insbes. der Kommentarliteratur, finden sich bis zu vier Parameter, die für eine Ausfüllung der BJR-Tatbestandsvoraussetzung der „angemessenen Informationsgrundlage“ herangezogen werden, nämlich –– die Art und Bedeutung, vor allem Tragweite der Entscheidung, häufig mit dem Hinweis, dass strategische oder grundlegende Entscheidungen eine umfangreichere Informationsgrundlage bedürfen;11 –– die Frage der Eilbedürftigkeit der Entscheidung;12 –– die Kosten der Informationsermittlung;13 sowie (selten) –– die Frage der rechtlichen oder tatsächlichen Möglichkeit der Informationsermittlung.14 11 Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 93 AktG Rz. 20 und 22 (strategische Entscheidung); Hopt/Wiedemann in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2009, § 93 AktG Rz. 47 (grundlegende Entscheidung); Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 104 und 107 (bedeutende Entscheidung, z.B. strategische Entscheidung); Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 3. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 70; Spindler in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, § 93 AktG Rz.  50 (strategische Entscheidung); Dauner-Lieb in Henssler/Strohn, 3.  Aufl. 2016, §  93 AktG Rz.  22; Bürgers/Körber in Bürgers/Körber, AktG, 4.  Aufl. 2017, §  93 AktG Rz.  13; Hölters in Hölters, AktG, 3. Aufl. 2017, § 93 AktG Rz. 34. 12 BGH v. 12.10.2016 – 5 StR 134/15, NZG 2017, 116 (Rz. 34: unter Berücksichtigung des Faktors Zeit); Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 93 AktG Rz. 20; Krieger/Sailer-Coceani in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 17; Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 105; Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 3. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 70; Spindler in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, § 93 AktG Rz. 48; Dauner-Lieb in Henssler/Strohn, 3. Aufl. 2016, § 93 AktG Rz. 22; Bürgers/Körber in Bürgers/Körber, AktG, 4. Aufl. 2017, § 93 AktG Rz. 13; Hölters in Hölters, AktG, 3. Aufl. 2017, § 93 AktG Rz. 34. 13 BGH v. 12.10.2016 – 5 StR 134/15, NZG 2017, 116 (Rz. 34: unter Abwägung der Kosten und Nutzen weiterer Informationsgewinnung); Krieger/Sailer-Coceani in K.  Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 17; Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 108; Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 3. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 70; Spindler in MünchKomm. AktG, 4.  Aufl. 2014, §  93 AktG Rn  48; Dauner-Lieb in Henssler/Strohn, 3. Aufl. 2016, § 93 AktG Rz. 22; Hölters in Hölters, AktG, 3. Aufl. 2017, § 93 AktG Rz. 34; Grigoleit/Tomasic in Grigoleit, AktG, 1. Aufl. 2013, § 93 AktG Rz. 34.  14 Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 3. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 70; Dauner-Lieb in Henssler/ Strohn, 3. Aufl. 2016, § 93 AktG Rz. 22.

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Die derzeit bestehenden VUCA-Rahmenbedingungen legen eine vorsichtige Erweiterung der zu berücksichtigenden Parameter und eine Perspektiverweiterung und Akzentverschiebung bei den Parametern selbst nahe. Dies liegt an fünf Trendlinien: (1) Es gibt einen Bedeutungszuwachs vermeintlich „weicher“ Faktoren für den Erfolg, die Bewertung und die Positionierung von Unternehmen jenseits der (kurzfristigen) Rentabilität. Dies gilt insbesondere für die Unternehmensreputation und damit für die Wahrnehmung des Unternehmens bei maßgeblichen Stakeholdergruppen, also neben den Eigenkapital- und Fremdkapitalgebern, auch die Arbeitnehmer, Netzwerkpartner wie Lieferanten und Joint Venture-Mitgesellschafter, Kunden, staatliche und nichtstaatliche Institutionen.15 Dies ist in das Parameter der Art und Bedeutung sowie Tragweite der Entscheidung mit einzubeziehen. (2) Unter den VUCA-Rahmenbedingungen gewinnen nicht-lineare Entwicklungen, also sprunghafte und disruptive Entwicklungen an Bedeutung. Hiermit ist eine verringerte Prognosefähigkeit der Geschäftsleitung verbunden; es ergibt sich hieraus die Notwendigkeit, ein erweitertes Risikoradar im Rahmen des Risikomanagements ­einzurichten16 und Maßnahmen zur Erhöhung der Krisenresistenz und allgemeine Widerstandsfähigkeit des Geschäfts zu treffen (Corporate Resilience Management).17 Auch diese Trendlinie ist für die Frage der Bedeutung und Tragweite einer Entscheidung zu beachten. (3) Die Prognosefähigkeit der Geschäftsleitung sinkt also unter den VUCA-Rahmenbedingungen. Als Reaktion hierauf wird mit Plausibilität empfohlen, eine „Fehlerkultur“ für das Unternehmen zu entwickeln, diese glaubhaft von der Unternehmensspitze zu kommunizieren („tone from the top“) und die Entscheidungsgeschwindigkeit und Risikobereitschaft bei Einzelentscheidungen gleichermaßen zu steigern.18 Damit gewinnt aber das Kriterium der Reversibilität (Umkehrbarkeit) von Entscheidungen tendenziell größere Bedeutung als der bislang zur Bewertung herangezogene, eher statische Begriff der wirtschaftlichen Bedeutung, wenngleich im Regelfall eine Korrelation zwischen dem Grad der Reversibilität einer Entscheidung und ihrer wirtschaftlichen Bedeutung besteht. Dennoch ist mit der Betonung der Frage nach der Reversibilität von Entscheidungen eine Perspektivverschiebung verbunden, weil sie eher mittel- und langfristige und nicht nur in einem engen Sinne finanzielle, sondern auch nicht-finanzielle Folgen (z.B. auf die Unternehmenskultur und die Unternehmensreputation) in den Blick nehmen. Der von der Unternehmensberatung McKinsey entwickelte Quadrant unterschiedlicher Entscheidungskategorien stellt dann auch das Merkmal der Reversibilität in den Vordergrund.19 Das Gleiche gilt für Jeff Bezos 15 Zur Bedeutung eines Corporate Reputation Managements ausf. Seibt, DB 2016, 171  ff.; Seibt, DB 2016, 2707, 2709; vgl. auch Fleischer, DB 2017, 2015, 2019 ff.; Klöhn/Schmolke, NZG 2015, 689, 693. 16 Seibt, DB 2016, 1978, 1982 (m.w.N.); Seibt, DB 2018, 237, 239 f. (These 5). 17 Hierzu ausf. Seibt, DB 2016, 1978 ff. 18 Vgl, Seibt, DB 2018, 237, 244 (These 15). 19 Vgl. De Smet/Lackey/Weiss, Untangling your organization’s decision making, McKinsey Quarterly 06/2017; De Smet/Gagnon, Organizing for the age of urgency, McKinsey Quar-

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(Chairman and CEO Amazon) mit dessen Unterscheidung von „Type 1 Decisions“ und „Type 2 Decisions“, die sich im Merkmal der Reversibilität unterscheiden und für die unterschiedliche Anforderungen an die Entscheidungsvorbereitung und an das Entscheidungsgremium ergeben sollen.20 (4) Die Digitalisierung und vor allem BDKI schreitet mit hoher Entwicklungsgeschwindigkeit voran, die Bedeutung von BDKI insbesondere im Bereich der Ermittlung und Auswertung von Informationen sowie zur Prognose künftiger Marktentwicklungen und Entwicklung von Entscheidungsempfehlungen (sog. informationsbeschaffende BDKI)21 steigt enorm an. Anwendungsfelder solcher informationsbeschaffender BDKI sind z.B. die Prognose und Analyse der finanziellen Unternehmensentwicklung, die Analyse von Wertschöpfungsprozessen im Unternehmen auf Optimierungsbedarf oder die Vorhersage künftigen Kundenverhaltens.22 Im Bereich des Compli­ ance Managements werden „intelligente Systeme“ eingesetzt, um große Datenmengen zu vergangenen Complianceverstößen im Unternehmen oder bei Drittunternehmen zu analysieren, Muster von Entwicklungslinien für Regelverstöße zu identifizieren und auf dieser Basis Prognosen „in Echtzeit“ über mögliche künftige Complianceverletzungen zu treffen.23 Bei Finanzinstituten werden BDK-Werkzeuge insbesondere in terly 1/2018 (abrufbar unter https://www.mckinsey.com/business-functions/organization/ our-insights/organizing-for-the-age-of-urgency). 20 Vgl. Jeff Bezos, 2015 Letter to Amazon Shareholders, 06.04.2016 (abrufbar unter www. sec. gov/Archives/edgar/data/1018724/000119312515144741/d895323dex991.htm) („Some decisions are consequential and irreversible or nearly irreversible – one-way doors – and these decisions must be made methodically, carefully, slowly, with great deliberation and consultation. If you walk through and don’t like what you see on the other side, you can’t get back to where you were before. We can call these Type 1 decisions. But most decisions aren’t like that – they are changeable, reversible – they’re two-way doors. If you have made a suboptimal Type 2 decision, you don’t have to live with the consequences for that long. You can reopen the door and go back through. Type 2 decisions can and should be made quickly by high judgement individuals or small groups. As organisations get larger, there seems to be a tendency to use the heavy-weight Type 1 decision-making process on most decisions, including many Type 2 decisions. The end result of this is slowness, unthoughtful risk aversion, failure to experiment sufficiently, and consequently diminished invention. [Footnote: The opposite situation is less interesting and there is undoubtedly some survivorship bias. Any companies that habitually use the light-weight Type 2 decision-making process to make Type 1 decisions go extinct before they get large.] We will have to figure out how to fight that tendency”). 21 Zu diesem Begriff auch Weber/Kiefner/Jobst, NZG 2018, 1131; vgl. auch Fraunhofer IAIS, Big Data  – Vorsprung durch Wissen, Innovationsanalyse, 2013 (abrufbar unter: https:// www.iais.fraunhofer.de/content/dam/iais/gf/bda/Downloads/Innovationspotenzialanalyse​ _Big-Data_FraunhoferIAIS_2012.pdf), S. 62.  22 Hierzu auch Weber/Kiefner/Jobst, NZG 2018, 1131; vgl. auch Fraunhofer IAIS, Big Data – Vorsprung durch Wissen, Innovationsanalyse, Fn. 21, S. 30 ff.; Fraunhofer Gesellschaft, Maschinelles Lernen, eine Analyse zu Kompetenzen, Forschung und Anwendung, 2018 (abrufbar unter: https://www.bigdata.fraunhofer.de/content/dam/bigdata/de/documents/Publi​ kationen/Fraunhofer_Studie_ML_201809.pdf), S. 25 ff. 23 Weber/Kiefner/Jobst, NZG 2018, 1131; Hoffmann, CB 2018, 237; Wulf, Compliance-Management im Zeitalter der Digitalisierung, in: Handelsblatt Fachmedien, IT Spezial: Digita-

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Bereichen wie Geldwäsche-Überwachung und Compliance eingesetzt.24 Schließlich können auch im Fall einer Informationsermittlung vielfältige, kosteneffiziente Legal Tech-Instrumente zur Analyse von Vertragsverhältnissen auf bestimmte Risikobereiche (z.B. Change of Control-Klauseln, Wettbewerbsbeschränkungen) herangezogen werden.25 Diese Möglichkeiten der informationsbeschaffenden BDKI sind im Rahmen der Angemessenheitsprüfung bei den Aspekten (i) der tatsächlich verfügbaren Informationsquellen und Analysewerkzeuge, (ii) dem Zeitaufwand für Informationsermittlung und -analyse sowie (iii) der Frage nach den Informationsbeschaffungskosten zu berücksichtigen. Mit deren fortlaufender technischer Weiterentwicklung und gleichzeitiger Kostendegression wird der Einsatz informationsbeschaffender BDKI bei der Informationsermittlung und -analyse sowie der Vorlage von Entscheidungsempfehlungen deutlich an Bedeutung zunehmen und dann im Regelfall zur Erfüllung der BJR-Tatbestandsvoraussetzung der „angemessenen Informationsgrundlage“ notwendig sein.26 Damit werden gleichzeitig die Anwendungsfelder der in der UMAG-­ Regierungsbegründung noch herausgehobenen, inneren Umstände „Instinkt, Erfahrung, Phantasie und Gespür für künftige Entwicklungen und ein Gefühl für die Märkte“ hin zu „kreativen“ Fragestellungen (insbesondere das sog. „framing“) und Ergebnis-Relevanzanalysen sowie vor allem hin zur Form, Art und Inhalt der Stakeholder-Motivation verschoben (also nicht wegfallen!),27 insgesamt aber an Relevanz abnehmen und durch den Einsatz von BDKI-Systemen teilweise ersetzt werden. (5) Mit den VUCA-Rahmenbedingungen gehen eine verringerte Prognosefähigkeit, erhöhter Wettbewerbsdruck und die Notwendigkeit einer erhöhten Einzelentscheidungsgeschwindigkeit einher.28 Zur Aufrechterhaltung der Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen sollte daher der materielle Gehalt der Entscheidungsgrundlage von dem Ideal einer möglichst vollständigen (100 %igen) Informationsbasis he­ rabgesenkt werden. Denn bei der Bestimmung des Informationswertes (value of information) sind nicht nur die Informationsbeschaffungsposten, sondern auch die Kosten des Zeitverzugs und der dadurch unterbliebenen Entscheidung einzustellen. lisierung und Recht, 2017, S. 23, 24; vgl. auch Haufe, Digitalisierung und ihre Auswirkungen auf Compliance, 28.3.2017 (abrufbar unter: https://www.haufe.de/compliance/manage​ ment-praxis/complaince-in-zeiten-der-digitalisierung/digitalisierung-und-ihre-auswir​ kung-auf-compliance_230130_406838.html). 24 Dehio/Reul, FAZ v. 20.2.2019, S. 18 („wichtiger Erfolgsfaktor im Finanzsektor”). 25 Zu Einsatzfeldern von Legal Tech-Werkzeugen Seibt in Beck’sches Formularbuch M&A, 3. Aufl. 2018, B VII, S. 140-147; vgl. auch Grub/Krispenz, DB 2018, 235, 238. 26 Ebenso Möslein, ZIP 2018, 204, 209 f.; Spindler, DB 2018, 41, 45; J. Wagner, BB 2018, 1097, 1099; Weber/Kiefner/Jobst, NZG 2018, 1131, 1134. 27 Zur Gegenbewegung der “Business Romantics” s. z.B. T. Lebrecht, The Business Romantic: Give Everything, Quantify Nothing, and Create Something Greater Than Yourself, 2015 (Schlagwort: Big Intuition instead of Big Data; 3 Grundthesen: Do the Unnecessary – lead with beauty; Create Intimacy (by instinct) – to reduce customer/employees care costs; Suffer (a little)). 28 Pragmatisch M. Zuckerberg: „The biggest risk is not taking any risk. In a world that is changing really quickly, the only strategy that is guaranteed to fail is not taking any risks” and “Don’t even bother trying to avoid mistakes. The important thing is actually learning quickly from whatever mistakes you make and not giving up”.

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In der US-amerikanischen Unternehmenspraxis etabliert sich entsprechend zurzeit die sog. 70 %-Regel, der zufolge jedenfalls bei Entscheidungen mit reversiblen Folgen eine Entscheidung bereits dann getroffen werden sollte, wenn 70 % der Informationen vorliegen, die an sich (im Idealfall) verfügbar sein sollten. Dies wird damit begründet, dass mit jeder weiteren Informationsgewinnung das Risiko unverhältnismäßig ansteigt, dass die Entscheidungsfindung in der Wettbewerbssituation zu lange dauert und – auf der Basis der 70 %igen Informationsbasis vermeintlich profitable – Geschäftschancen nicht wahrgenommen werden können.29 Diese 70 %-Regel kann allerdings den Maßstab der „angemessenen Informationsbasis“ nicht alleine rechtssicher konturieren, zumal unklar bleiben muss, was die 100 %-Basis der an sich verfügbaren bzw. erwünschten Informationen bildet.30 Darüber hinaus setzt die 70 %-Regel voraus, dass das Unternehmen angemessene Strukturen und vor allem ausreichende Ressourcen besitzt, um unternehmerische Fehlentscheidungen zu verkraften. Die 70 %-Regel verkörpert aber die zutreffende Erkenntnis, dass die zusätzliche Informationsgewinnung nicht nur direkte Kosten, sondern auch indirekte Kosten (einschließlich der bedeutsamen (!) Opportunitätskosten der Entscheidungsträger) und eine Risikoerhöhung verursacht, dass unternehmerische Chancen nicht (mehr) rechtzeitig wahrgenommen werden können. Deswegen ist der breite Beurteilungsspielraum des Vorstandes bei der Beurteilung der „angemessenen Informationsbasis“ gerade in VUCA-Zeiten von erheblicher Bedeutung; neuer Orientierungsmaßstab könnte ein „safe enough to try“ (Tony Hsieh)31 sein.32

IV. Relationales Sechs-Parameter-Modell zur einzelfallbezogenen Konturierung der Angemessenheit 1. Wertungsoffenheit und Einzelfallbezogenheit des Angemessenheitsbegriffs Mit der BJR-Kodifikation in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG wird das Erfordernis einer „angemessenen“ Informationsgrundlage aufgestellt. Dieses im deutschen Recht sehr häu-

29 Prägnant Jeff Bezos, 2016 Letter to Amazon Shareholders, 12.4.2017, abrufbar unter: www. sec.gov/Archives/edgar/data/1018724/000119312515144741/d895323dex991.htm („(…), most decisions should probably be made with somewhere around 70% of the information you wish you had. If you wait for 90 %, in most cases, you are probably being slow. Plus, either way, you need to be good at quickly recognizing and correcting bad decisions. If you are good at course correcting, being wrong may be less costly than you think, whereas being slow is going to be expensive for sure”). 30 Seibt, DB 2018, 237, 243; dies ebenfalls kritisch anmerkend Theisen, Audit Committee Quarterly III/2018, 61, 62. 31 Hsieh/De Smet/Gagnon, Safe enough to try. An interview with Zappos CEO Tony Hsieh, McKinsey Quartely 10/2017 (abrufbar unter https://www.mckinsey.com/business-functi​ ons/organization/our-insights/safe-enough-to-try-an-interview-with-zappos-ceo-tonyhsieh). 32 Hierfür bereits Seibt, DB 2018, 237, 243 f. (These 14); Seibt, Manager Magazin Heft 10/2018, 106; Seibt, Audit Committee Quarterly III/2018, 57, 59.

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fig verwendete Kriterium33 steht als unbestimmter Rechtsbegriff kontradiktorisch absoluten Standards entgegen und zeichnet sich durch einen Dreischritt aus, nämlich (i) auf tatsächlicher Ebene die Feststellung der gemeinsamen und gegenläufigen Interessen im konkreten Einzelfall, (ii) das Aufsuchen einschlägiger Bewertungskriterien für die Gewichtung und den Ausgleich der Interessen sowie (iii) dem Aspekt einer relationalen Abwägung unterschiedlicher Zielparameter, die (jedenfalls teilweise) in Widerspruch zueinander stehen.34 Das gesetzliche Angemessenheitskriterium erfordert also ein relationales Modell, in dem verschieden Parameter, die in wechselseitiger Beziehung zueinander stehen, teilweise miteinander konfligieren und nur gemeinsam den Wertungsbegriff der Angemessenheit im konkreten Einzelfall ausfüllen. Es gilt kein Parameter absolut: So kann z.B. das Unterlassen jeglicher Informationsermittlung nicht unter Hinweis auf die Informationsbeschaffungskosten oder einen vollständigen Zeitmangel gerechtfertigt werden. Umgekehrt darf die Informationsermittlung Zeitaufwand und -kosten nicht außer Acht lassen. Mit diesem relationalen Modell der Angemessenheit steht ein Verständnis der Rechtsprechung des Zweiten Zivilsenats des Bundesgerichtshofs im Widerspruch, wenn hiermit einzelfallunabhängig ein „Ausschöpfen aller verfügbaren Informationsquellen tatsächlicher und rechtlicher Art“ gefordert wäre. Dies verletzte nämlich nicht nur die Grenzen der Gesetzesauslegung, sondern wäre in heutigen Zeiten einer praktisch unbeherrschbaren Informationsmenge tatsächlich unmöglich und führte zudem zu einem gesetzlich nicht gewollten, unternehmerisch unvernünftigen und letztlich sorgfaltspflichtwidrigen Handlungsverbot (bis zur nicht erreichbaren Vorgabenerfüllung einer Ausschöpfung aller verfügbaren Informationsquellen tatsächlicher und rechtlicher Art).35 Es ist allerdings zurecht darauf hingewiesen worden, dass diese offenkundig sinnwidrige Auslegung der Rechtsprechung nicht zwingend ist, da der BGH sehr wohl auf die „konkrete Entscheidungssituation“ als relatives Element hin-

33 Allein aus den ersten drei Büchern des BGB z.B. § 126b Nr. 1, § 239 Abs. 1, § 250, § 264 Abs. 2, § 281 Abs. 1, § 286 Abs. 2 Nr. 2, § 296, § 307, § 308 Nr. 1, 1a, 1b, 2, 5 lit. a), 7 lit. a), b), § 310 Abs. 3, 4, § 312f Abs. 2, § 312i Abs. 1 Nr. 1, § 314 Abs. 3, § 321 Abs. 2, § 323 Abs. 1, § 343 Abs. 1, § 350, § 383 Abs. 2, § 455, § 491a Abs. 3, § 502, § 505b Abs. 2, § 516 Abs. 2, § 519 Abs. 1, § 528 Abs. 1, § 536 Abs. 1, § 543 Abs. 3, § 552 Abs. 1, § 555a Abs. 3, § 556 Abs. 2, § 556c Abs. 3, § 556d Abs. 2, § 558 Abs. 3, § 559 Abs. 3, § 560 Abs. 4, § 573 Abs. 2 Nr. 3, § 573b Abs. 4, § 574 Abs. 2, § 574a Abs. 1, § 577a Abs. 2, § 588 Abs. 2, 3, § 590 Abs. 3, § 591a, § 595 Abs. 2, § 596a Abs. 1, § 629, § 632a Abs. 1, § 637 Abs. 1, § 640 Abs. 2, § 640 Abs. 2 Nr. 3, Abs. 3, § 642 Abs. 1, § 643, § 648a Abs. 4, § 650c Abs. 1, § 650f Abs. 5, § 650g Abs. 2, § 650r Abs. 2, § 650t, § 651e Abs. 1, § 651g Abs. 1, § 651h Abs. 1, 2, § 651i Abs. 2, § 651k Abs. 2, 3 § 651l Abs. 1, § 651n Abs. 2, § 651q Abs. 1, 2, § 651u Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3, § 655, § 675d Abs. 4, § 675 Abs. 5, § 701 Abs. 3 Nr. 2, § 829, § 844 Abs. 3, § 906 Abs. 2, § 910 Abs. 1, § 1003 Abs. 1, 2, § 1056 Abs. 3, § 1133, § 1220 Abs. 1, § 1236. 34 Vgl. Coester in Staudinger, Buch 2, Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, § 307 BGB Rz. 107 (zur methodischen Grundstruktur unbestimmter Rechtsbegriffe am Beispiel von § 307 BGB); vgl. auch H. Schmidt in Bamberger/Roth/Hau/Poseck, 47. Edition, Stand 1.8.2018, § 307 BGB Rz. 32 ff. (zum Abwägungsprozess zur Feststellung Angemessenheit bei der AGB-Inhaltskontrolle gemäß § 307 Abs. 1 BGB). 35 So bereits Seibt, Manager Magazin Heft 10/2018, 106.

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weist und dies nicht nur den Einzelfallbezug, sondern auch die relationale Abwägung verschiedener Parameter ermöglicht.36 2. Überblick über das relationale Sechs-Parameter-Modell Dieser Beitrag propagiert eine einzelfallbezogene Konturierung des Angemessenheitskriteriums durch ein relationales Sechs-Parameter-Modell. Die Parameter sind (i) Intensität der Folgen einer unternehmerischen Entscheidung (sowie dem Unterlassen einer Entscheidung während der Entscheidungsvorbereitung), (ii) Lage und Positionierung der konkreten Gesellschaft, (iii) Kosten und Nutzen einer (weiteren) Informationsermittlung und -analyse (value of information), (iv)  Zeitbudget für die Entscheidung, (v) rechtliche und tatsächliche Möglichkeit der Informationsermittlung sowie (vi) Anwendung anerkannter heuristischer Verfahren, Methoden der kognitiven Psychologie und des probalistischen Denkens zur Erhöhung der Prognosefähigkeit. Diese sechs, nur in ihrer Gesamtheit das Angemessenheitskriterium ausfüllende Parameter können bildlich wie folgt dargestellt werden: 1

2 Intensität der Folgen (einer Entscheidung sowie der Nicht-Entscheidung)

Lage und Positionierung der Gesellschaft

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3 Kosten und Nutzen der (weiteren) Informationsgewinnung

Angemessenheit der Informationsbasis

5 Rechtliche und tatsächliche Möglichkeit der Informationsgewinnung

Zeitbudget für Entscheidung

6 Anwendbarkeit heuristischer Verfahren, Methoden der kognitiven Psychologie und des probabilistischen Denkens

Aus diesem relationalen Modell (und dem Angemessenheitskriterium sowie dem gemischt objektiven/subjektiven Maßstab des „vernünftigerweise Annehmen-Dürfens, auf dieser Informationsgrundlage zu handeln“) folgt für die Gewichtung der einzel36 So z.B. Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 93 AktG Rz. 20 m.w.N.; Baur/Holle, AG 2017, 597, 604; Spindler, AG 2013, 889, 893; Spindler in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, § 93 AktG Rz. 48.

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nen Parameter und damit für (i) die Bestimmung der für die Entscheidungsfrage relevanten Informationen, (ii) die Bestimmung der Informationsquellen, (iii) die Auswahl und Bestimmung der Detailtiefe der konkreten Information sowie (iv) die Bewertung der Informationen ein erheblicher Bewertungs- und Beurteilungsspielraum der Geschäftsleiter.37 Nicht nur für die Entscheidung selbst gilt die Haftungs­ privilegierung der Business Judgement Rule, sondern auch für die sowieso von der Entscheidung nicht zu trennende Entscheidungsvorbereitung (sub II) gilt eine Haftungsprivilegierung im Sinne einer „informationsrechtlichen Business Judgement Rule“.38 Dies hat Folgen für die zulässige Überprüfungsintensität des Überwachungsorgans (bei der AG: Aufsichtsrat) sowie für die Gerichte: Danach liegt nur dann eine Verletzung des gemischt objektiv/subjektiven Angemessenheitsmaßstabs (des vernünftigerweise Annehmen-Dürfens) vor, wenn der Geschäftsleiter bei der Entscheidungsvorbereitung mit Informationsermittlung und -analyse „in völlig unverantwortlicher Weise“ gehandelt hat.39 Dabei sind an den Kontrollmaßstab der Unverantwortlichkeit strenge Anforderung zu stellen. Es gilt aus Sicht der Geschäftsleitung ein großzügiger Bewertungs- und Beurteilungsspielraum im Hinblick auf Fragen der Informationsermittlung und -analyse.40 Absolute und vom Einzelfall losgelöste Verhaltenspflichten existieren nicht. So gibt es keine Pflicht, eigene Informationsquellen im Unternehmen zu schaffen, ihr Funktionieren zu überwachen und sie zu nutzen.41 Allerdings kann es im Einzelfall durchaus erforderlich sein, dass die Geschäftsleitung eigene Informationsquellen im Unternehmen schafft und diese nutzt,42 insbesondere wenn Dritte keine verlässlichen oder kostengünstigere Alternativquellen zur Verfügung stellen, ein Single Source-Risiko für überragend wichtige Informationen besteht43 oder ansonsten eine Plausibilitäts­ prüfung von Dritten erlangter Informationen ansonsten nicht möglich wäre. Es gibt zudem keine absolute und vom Einzelfall losgelöste Pflicht, „routinemäßig Sachverständigengutachten, Beratervoten oder externe Marktanalysen“ einzuholen, um die erforderliche angemessene Informationsgrundlage zu schaffen.44 Allerdings hat sich bei für das Unternehmen und ihre Stakeholder besonders risikoreichen Transaktionen, insbesondere Übernahmeangeboten nach dem WpÜG, eine Verkehrsübung (als verantwortungsvolles und damit den Sorgfaltspflichten gemäßes Verhalten) gebildet, 37 I.E. ebenso Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 102.  38 Zutreffend Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 102; Kocher, CCZ 2009, 215, 220 f.; vgl. auch Bachmann, ZHR 177 (2013), 1, 10 f.; Lutter, ZIP 2007, 841, 844 f.; a.A. Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 93 AktG Rz. 21.  39 Ebenso Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 113. 40 I.E. ebenso Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 105. 41 So aber OLG Düsseldorf v. 9.12.2009 – I-6 W 45/09, AG 2010, 126, 128 – IKB, dort mit Verweis auf Spindler in MünchKomm. AktG, 3. Aufl. 2008, § 93 AktG Rz. 471; ebenso Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 93 AktG Rz. 22. 42 Zutr. Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 93 AktG Rz. 188. 43 Zum Single Source-Risiko vgl. Seibt, DB 2016, 1978, 1982. 44 UMAG-RegE v. 14.3.2005 zu § 93 Abs. 1 Satz 2 und 3 AktG, BT-Drucks. 15/5092, S. 12; Fleischer in Spindler/Stilz, 3. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 70; Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 106.

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Sachverständigengutachten wie Fairness Opinions einzuholen.45 Der Referentenentwurf eines Umsetzungsgesetztes der Aktionärsrechterichtlinie-Änderungsrichtlinie (ARUG II)46 sah noch in § 111c Abs. 1 AktG-E eine Pflicht zur Einholung einer Fairness Opinion für den Fall vor, dass ein Aufsichtsratsausschuss nach § 107 Abs. 3 Satz 4 AktG-E dem Gesamtaufsichtsrat vorgeschlagen hat, einem Geschäft mit nahestehenden Personen i.S.d. § 111a Abs. 1 AktG-E nicht zuzustimmen; in diesem Fall sollte ein Wirtschaftsprüfer bestätigen müssen, dass das Geschäft aus Sicht der Gesellschaft und der Aktionäre, die keine nahestehenden Personen sind, „angemessen“ ist. Der RegE zum ARUG II sieht nun eine Option vor, einen über die Zustimmung beschließenden Aufsichtsratsausschuss bestellen zu können, und hat daher diese Regelung nicht übernommen, sondern macht insoweit keine zwingenden Vorgaben mehr.47 Die Einschaltung interner Stabstellen des Unternehmens wird allerdings im Regelfall zweckmäßig sein, ist aber nicht zwingend und vom Einzelfall losgelöst für die Erreichung einer „angemessenen Informationsgrundlage“ notwendig.48 3. Parameter 1: Intensität der Folgen einer unternehmerischen Entscheidung Je bedeutender die Folgen der konkreten Entscheidungsfrage sind, desto höher sind die Anforderungen an die Entscheidungsvorbereitung durch Informationsermittlung und -analyse. Dabei gilt richtigerweise ein umfassender Folgenbegriff, der nicht nur „unmittelbar“ finanzielle, sondern auch nicht-finanzielle Folgen (wie z.B. die Unternehmenskultur und die Unternehmensreputation) umfasst. Entscheidungsfragen, die für die Unternehmensstrategie und damit Marktpositionierung des Unternehmens eine erhebliche Bedeutung haben, bedürfen in der Regel einer besonders sorgfältige Entscheidungsvorbereitung. Das Gleiche gilt für solche Entscheidungen, die rechtlich oder tatsächlich nicht oder nur mit außerordentlich hohen Kosten reversibel (umkehrbar) sind, also gleichsam in eine strategische Einbahnstraße führen. Bei der Folgenbetrachtung ist schließlich immer auch einzustellen, welche Konsequenzen das Verneinen der Entscheidungsfrage, also das Absehen einer unternehmerischen Handlung, mit sich bringt. Entscheidungsfragen können eben immer mit ja, mit nein oder mit nein, kombiniert mit einer neuen, modifizierten Entscheidungsfrage, beantwortet werden.

45 Schiessl, ZGR 2003, 814, 824; Wackerbarth in MünchKomm. AktG, 4.  Aufl. 2017, §  27 WpÜG Rz. 9; Cannivé/Suerbaum, AG 2011, 317 ff. (zur Sachkapitalerhöhung); zur Empirie bei WpÜG-Übernahmeverfahren 2010-2013 Seibt, CFL 2011, 213, 236 f. (48 %) und Seibt, CFL 2013, 145, 166 (78 %). 46 RefE des BMJV zum Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II) vom 11.10.2018 (abrufbar unter https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfah​ ren/Dokumente/RefE_Aktionaersrechterichtlinie_II.pdf;jsessionid=E1EEA418B364DB​ 974B85718DD944C16E.2_cid324?__blob=publicationFile&v=2). 47 RegE zum Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II) vom 20.3.2019 (abrufbar unter https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Do​ kumente/RegE_ARGUS_II.pdf;?__blob=publicationFile&v=1). 48 Zutreffend Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 106.

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4. Parameter 2: Lage und Positionierung der konkreten Gesellschaft Die Intensität der Folgen aus der Beantwortung einer Entscheidungsfrage hängt von der finanziellen, wirtschaftlichen und strategisch-wettbewerblichen Lage, aber auch von der kulturellen Positionierung (insbes. als risikobereites oder eher risikoaverses Unternehmen) ab. Es geht dabei nicht um eine weitere Subjektivierung des Angemessenheitskriteriums, sondern um den zu berücksichtigenden Aspekt, inwieweit die Entscheidungsvorbereitung (und nicht nur die Entscheidung am Ende selbst) von den berechtigten Stakeholder-Erwartungen und der kulturellen Positionierung der Gesellschaft abweicht. Denn auch eine solche Abweichung in Verfahrenshinsicht kann erhebliche Folgen für das Unternehmen haben, selbst wenn die Entscheidung sich schließlich als nachhaltig unternehmenswertsteigernd herausstellen sollte. So kann sich z.B. ein Unternehmen der Künstlichen Intelligenz-Branche kaum erlauben, für die Entscheidungsvorbereitung keine BDKI-Werkzeuge zu nutzen, oder ein Unternehmen, das stark die Partizipation der eigenen Mitarbeiter bei der Entscheidungsfindung auch im Kundenmarketing betont, nur externe Berater zur Entscheidungsvorbereitung zu nutzen. 5. Parameter 3: Kosten einer (weiteren) Informationsermittlung und -analyse Ein weiteres wesentliches Parameter zur Konturierung des Angemessenheitskriteriums ist das Kosten/Nutzen-Verhältnis einer weiteren Informationsermittlung und -analyse. Nach dem in der Entscheidungslehre verwandten Konzept des Informa­ tionswertes (value of information) ist ein weiterer Kostenaufwand zur Informationsermittlung oder -analyse nur gerechtfertigt, wenn der aus dieser Zusatzmaßnahme generierte Nutzen über diesen Kosten liegt.49 Diese Kosten-/Nutzenbetrachtung beinhaltet eben auch eine Beurteilung der Frage, welchen Grad der Relevanz und Verlässlichkeit die zu generierende Information hat. Je größer die Zweifel an der Relevanz und/oder Verlässlichkeit der zusätzlich zu generierenden Information sind, desto geringer darf der Kostenaufwand sein. Die rasante Fortentwicklung informationsbeschaffender BDKI-Systeme wird im Sinne einer Prognoseeinschätzung dazu führen, dass diese in immer weiterem Umfang zur Entscheidungsvorbereitung eingesetzt werden (müssen). Ihr Einsatz wirkt sich auf das Kosten/Nutzen-Verhältnis der Informationsermittlung und -analyse dergestalt aus, dass (i) die Kosteneffizienz der Informationsanalyse, -strukturierung und -zusammenfassung steigt (z.B. schnellere Arbeitsprozesse; Einsparung von Arbeitskraft; Erleichterung der Unternehmenskommunikation durch gesellschafts- oder konzernweiten Datenpool) und (ii) die Präzision der Steuerung und Auswertung von Daten erhöht, die Signifikanz und der Aussagegehalt des Datenverarbeitungsergebnisses gesteigert bzw. die Wiederverwertbarkeit einzelner Informationen ermöglicht wird (z.B. durch neue Korrelationen von Daten50). In Zeiten von Big Data, in denen 49 Hagenloch, Grundzüge der Entscheidungslehre, 2009, S. 121 ff.; vgl. auch Seibt, DB 2018, 237, 243; Möslein, ZIP 2018, 204, 205 (Verbesserung der Corporate Governance durch Blockchain-Technologie), auch m.w.N. in Fn. 14. 50 Zutreffend Spindler, ZGR 2018, 17, 43.

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eine praktisch unbeherrschbare Datenflut gesammelt und gespeichert wird, gelangen diese Informationen erst durch ein informationsbeschaffendes BDKI-Werkzeug zur Handhabe und damit zur Verwertbarkeit für den Vorstand. Der einmal getätigte Kostenaufwand sinkt asymptotisch zur Nutzungsdauer des Werkzeugs, auch wenn die Anschaffung zunächst mit erheblichen Kosten verbunden sein kann. Eine generelle Pflicht des Vorstands zur Inanspruchnahme informationsbeschaffender BDKI-Systeme im Vorfeld unternehmerischer Entscheidungen lässt sich auf Grundlage von § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG (noch) nicht begründen.51 Die Sammlungsund Auswertungsmöglichkeit großer Datenmengen durch BDKI-Werkzeuge darf für den Vorstand im Rahmen seiner Sorgfaltspflicht nicht zu einer Nutzungspflicht in­ formationsbeschaffender Systeme führen. Es ist vielmehr eine einzelfallbezogene ­Entscheidung über die Verwendung des Werkzeugs auf Ebene der Bestimmung des Informationsbedarfs und -quelle nach den allgemeinen Maßstäben der informationsrechtlichen Business Judgement Rule zu treffen.52 Es kommt darauf an, welche Informationen ein ordentlicher Geschäftsleiter in der Situation des Vorstands im Zeitpunkt der Entscheidung herangezogen hätte. Der Einsatz eines BDKI-Werkzeugs sollte umso mehr erwogen werden bzw. liegt insbesondere dann im Unternehmenswohl, (i) je eher ein BDKI-Werkzeug bei der konkreten Entscheidungsgrundlage ein zeitund kostensparendes Mittel zur Informationsbeschaffung darstellt; (ii) je einfacher der Zugriff auf Informationen einschließlich ihrer Strukturierung durch die Nutzung eines solchen Systems wird; (iii) je umfangreicher die zur Verfügung stehenden Daten sind; (iv) je erschwinglicher und treffsicherer Algorithmen werden; (v) je unzulänglicher bzw. unergiebiger sonstige Informationsquellen sind; (vi) je verbreiteter der Einsatz von BDKI-Werkzeugen in der unternehmerischen Praxis ist.53 Rechtlicher Rahmen für den Einsatz eines BDKI-Werkzeugs sind die auch vom BGH anerkannten Grundsätze zur Nutzung (externer) Fachexpertise: Danach müssen sich die Geschäftsleiter unter umfassender Darstellung der Verhältnisse der Gesellschaft und Offenlegung der erforderlichen Unterlagen von einem unabhängigen, für die zu klärende Frage fachlich qualifizierten Berufsträger beraten lassen und die erteilte Auskunft einer Plausibilitätskontrolle unterziehen;54 im Fall eines BDKI-Systems eben mit dem Unterschied, dass das informationsbeschaffende System die informationsbeschaffende Person ersetzt.55 Das Erfordernis eines qualifizierten Berufsträgers ist dahingehend zu modifizieren, dass ein unabhängiger Berufsträger die Letztverantwortlichkeit 51 Wie hier Weber/Kiefner/Jobst, NZG 2018, 1131, 1133 f.; Möslein, ZIP 2018, 204, 209; Wagner, BB 2018, 1097, 1099; a.A. Spindler, DB 2018, S. 41, 45. 52 Wie hier Weber/Kiefner/Jobst, NZG 2018, 1131, 1133 f. 53 Zu dem Maßstab der Einzelfallentscheidung vgl. auch Möslein, ZIP 2018, 204, 209; Weber/ Kiefner/Jobst, NZG 2018, 1131, 1134; Spindler, DB 2018, 41, 45; Spindler, ZGR 2018, 17, 43; Wagner, BB 2018, 1097, 1099. 54 BGH v. 14.5.2007 – II ZR 48/06, NZG 2007, 545 = AG 2007, 548; BGH v. 20.9.2011 – II ZR 234/09, NZG 2011, 1271 = BB 2011, 2960; BGH v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, NZG 2015, 792 = BB 2015, 1743. 55 Für eine Übertragbarkeit auch Weber/Kiefner/Jobst, NZG 2018, 1131, 1132; Wagner, BB 2018, 1097, 1102.

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für die technische Qualität und Zuverlässigkeit des eingesetzten informationsbeschaffenden Systems trägt.56 Durch die Inanspruchnahme eines BDKI-­Werkzeugs verschiebt sich der Pflichtenmaßstab des Vorstands von einer Informationsbestimmungs-, -beschaffungs- und -analysepflicht im Vorfeld einer unternehmerischen Entscheidung hin zu einer Überwachungspflicht. Der Vorstand muss die Verfahrensherrschaft behalten, deren tatsächliche Anforderungen jedoch nicht überspannt werden dürfen.57 Für den Pflichtenmaßstab des Vorstands bedeutet das im Einzelnen, dass (i) der Vorstand einen Entscheidungsvorschlag des BDKI-Werkzeugs weder auf dessen Richtigkeit überprüfen58 noch das „neuronale“ Netz des BDKI-Werkzeugs in seinen Einzelheiten auffächern können muss,59 sondern er nur (ii) die generelle Systemfunktionalität des Werkzeugs sicherstellen, (iii) über fortlaufende Plausibilitätskontrollen der algorithmischen Entscheidungen (also der Ergebnisse) systematische Fehlentscheidungen rechtzeitig erkennen könnenund damit (iv) eine hinreichende Qualität des dem informationsbeschaffenden System zugrundeliegenden Datenstocks absichern muss.60 6. Parameter 4: Zeitbudget für Entscheidung Die Strukturierung der Entscheidungsvorbereitung, die Bestimmung der für die Entscheidung relevanten Informationen und Informationsquellen sowie die Auswahl der Analysemethoden der generierten Informationen sind abhängig vom zur Verfügung stehenden Zeitbudget für eine Entscheidung. Dabei kann die Geschäftsleitung das Zeitbudget im Regelfall nur vermeintlich (vollständig) autonom bestimmen, da sich das Unternehmen permanent in einer Wettbewerbssituation oder jedenfalls in einer potentiellen Wettbewerbssituation zu Drittunternehmen befindet. Der Grad der (potentiellen) Wettbewerbslage wird aber von Fall zu Fall unterschiedlich (und zuweilen 56 Vgl. Wagner, BB 2018, 1097, 1098 und 1103 (Algorithmenbeherrschung). 57 Zutreffend Weber/Kiefner/Jobst, NZG 2018, 1131, 1132 (keine Kenntnisse eines IT-Spezialisten seitens des Vorstands erforderlich); Linardatos, ZIP 2019, 504, 508. Die für menschlichen externen Expertenrat entwickelten Ision-Grundsätze der Rechtsprechung (BGH ZIP 2011, 2097, Rz. 18, dazu EWiR 2011, 793 (Vetter); BGH ZIP 2015, 1220 (m. Bespr. Bayer/ Scholz, S. 1853), Rz. 28, dazu EWiR 2015, 469 (Theusinger/Schilha)) sind nur bedingt übertragbar. Dort ist erkannt worden, dass der zu einer konkreten Frage erteilte Rechtsrat eines qualifizierten Berufsträgers durch den Vorstand einer sorgfältigen Plausibilitätskontrolle zu unterziehen ist. Würde indes der Vorstand jede Einzelmaßnahme des Algorithmus einer Plausibilitätskontrolle unterziehen müssen, dann wäre der Effizienznutzen der jeweiligen Software gleich null. Die Ision-Grundsätze wird man auf den nicht-menschlichen Experten deswegen vielmehr dahingehend übertragen müssen, dass sich die Pflicht zur Plausibilitätskontrolle des Vorstandes auf die generelle Systemfunktionalität bezieht; vgl. auch Strohn, ZHR 182 (2018), 371, 375 (kein Zutritt des Vorstands zu der Black Box der selbstlernenden KI erforderlich). 58 Zutreffend Wagner, BB 2018, 1097, 1103 (Erläuterung durch einen IT-Fachmann oder Programmierer nicht erforderlich); vgl. auch Möslein, ZGR 2018, 204, 211; dazu auch unter IV.5. 59 Zutreffend Linardatos, ZIP 2019, 54, 508; ähnlich Wischmeyer, AÖR 143 (2018), 1, 55. 60 Vgl. Weber/Kiefner/Jobst, NZG 2018, 1131, 1132 f. (insb. bei Big Data); tendenziell ähnlich Sattler, BB 2018, 2243, 2248; Linardatos, ZIP 2019, 504, 508. – Vgl. auch die Spezialregulierung für den Teilbereich des algorithmischen Handelns in § 80 Abs. 2 WpHG.

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von der Geschäftsleitung nur sehr schwer einschätzbar) sein, und die Einschätzung dieses Parameters – häufig in Wechselwirkung stehend zu den Kosten der Informationsbeschaffung – berücksichtigen dürfen. Bei eher leicht reversiblen Entscheidungen kann daher eine nur sehr geringe Informationsgrundlage noch „angemessen“ sein, wenn die sich aus der Entscheidung ergebenden finanziellen und nicht-finanziellen Chancen groß sind. Das Gleiche gilt im Übrigen, wenn die Vermeidung eines verhältnismäßig hohen Nachteils im Raum steht, der durch die inhaltlich vergleichbare Entscheidung eines Wettbewerbers entstehen könnte (z.B. Erwerb eines Zielunternehmens durch einen Wettbewerber in einem begrenzten Auktionsverfahren). 7. Parameter 5: Rechtliche und tatsächliche Möglichkeit der Informationsgewinnung Schließlich hat die Geschäftsführung bei der Strukturierung der Entscheidungsvorbereitung zu berücksichtigen, ob bestimmte Informationsquellen oder die Information selbst tatsächlichen oder rechtlichen Beschränkungen unterliegen, z.B. durch vertragliche Regelungen wie Vertraulichkeitsvereinbarungen oder gesetzliche Regelungen wie das kartellrechtliche Verbot des Informationsaustausches wettbewerblich sensitiver Daten zwischen (potentiellen) Wettbewerbern. 8. Parameter 6: Anwendung heuristischer Verfahren, Methoden der kognitiven Psychologie und des probabilistischen Denkens Die Bestimmung eines für die konkrete Entscheidungsfrage der Geschäftsleitung notwendigen Informationsbedarfs, der entscheidungsrelevanten Parameter, der hierfür heranzuziehenden Informationsquellen, vor allem aber die Ermittlung der Information und ihre Analyse sind Vorgänge, die allesamt geprägt sind von Prognosen, Einschätzungen und Wahrscheinlichkeitsurteilen, zwingend unter unvollständigen Informationen und unvorhersehbaren (exogenen) Eingriffen zu treffen. Überpointiert kann man sagen: „information gathering and analysis is poker, not chess“.61 Denn eine vollständige „Informationsgrundlage“ ist tatsächlich nicht erreichbar (und auch nicht erstrebenswert), sodass die Bestimmung des Informationsbedarfes, der rele­ vanten Informationen und Informationsquellen Wahrscheinlichkeitsurteile bilden. Das bedeutet keineswegs, dass überhaupt keine sinnvollen Methoden und Strategien im Umgang mit solchen Wahrscheinlichkeitsurteilen gelten. Vielmehr setzt die Angemessenheit der Informationsgrundlage als Ergebnis eines sorgfältigen Entscheidungsvorbereitungsverfahrens voraus, dass vertretbare heuristische Verfahren, Methoden der kognitiven Psychologie und des probabilistischen Denkens eingehalten werden. Hierzu gehören insbesondere die Lehren aus der Bayeschen Statistik. Die Geschäftsleitung (und ihre Überwachungsinstitutionen) müssen verstehen, dass es bei diesen Verfahrensentscheidungen nicht um binäre richtig/falsch-Entscheidungen geht, sondern um Wahrscheinlichkeitseinschätzungen (sog. probabalistisches Den61 Angelehnt an Duke, Thinking in Bets: Making Smarter Decisions When You Don’t Have All the Facts, 2018, Chap. 1: „Life is poker, not chess“.

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ken). Trotz dieser Rationalitäts- und Konsistenzanforderungen folgt aus der probabilistischen Natur der vielfältigen Vor-Entscheidungen, dass der Prozess der Informationsermittlung und -analyse keine Wissenschaft mit mathematischer Genauigkeit, sondern eine Kunstfertigkeit ist („an art, not a science“).62 Aus dem US-Good Judgement Project63 ergeben sich neben der Anforderung des propabilistischen Denkens folgende, plausible Maximen zur Erhöhung der Prognosegenauigkeit: (i)  „Outside view“-Fragen stellen, wie „welche Umstände würden uns zur Änderung unserer Prog­ nosen bewegen?“; (ii)  komplexe Fragestellungen in Einzelfragen herunterbrechen; (iii)  Identifizierung und Differenzierung der bekannten von unbekannten Sachverhaltselementen; (iv) ständige Überprüfung einmal abgegebener Einschätzungen anhand neuerer Erkenntnisse („keeping score“), dabei angemessene Reaktion auf neue Erkenntnisse; (v) Bereitschaft zur Fehlerkultur, d.h. von Fehlern lernen wollen (sog. „growth mindset“); (vi) Bereitschaft zur Selbstkritik, Neugierde, Offenheit, Bescheidenheit; (vii) Arbeit in divers zusammengestellten Teams; und (viii) Bemühen zum „Umfeldsehen“, d.h. die Offenheit, aus Einzelinformationen ein Gesamtbild zu schaffen (sog. „dragonfly-eyes approach“). Wenngleich ein Mindestmaß aller dieser Techniken zur Schaffung einer angemessenen Informationsgrundlage notwendig sein wird, so bleibt es ein relationales Parameter, da die konkreten Intensitätsanforderungen an diesen Maximen einzelfallabhängig und relativ z.B. zu den Parametern Kosten, Zeit und Vertaulichkeit sind.

V. Zusammenfassende Thesen Die Ergebnisse dieses Beitrages lassen sich in sechs Thesen zusammenfassen: (1) Die BJR-Kodifikation in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG mit dem gemischt objektiv/subjektiven Erfordernis eines „Annehmen-Dürfens einer angemessenen Informationsgrundlage“ beinhaltet eine „informationelle Business Judgement Rule“ und setzt damit zurecht den gleichen Sorgfaltspflichtmaßstab für Entscheidungsvorbereitung und Entscheidung selbst. Das ist auch deshalb sinnvoll, weil Entscheidungsvorbereitung und Entscheidung wechselbezüglich und miteinander verschränkt sind. (2) Diese Begrenzung des Überwachungsmaßstabs für den Aufsichtsrat und die Gerichte ist eine zutreffende Wertungsentscheidung des Gesetzgebers. Das Angemessenheitskriterium ist hinreichend wertungsoffen, um auch unter derzeitigen VUCA-Rahmenbedingungen (mit einer extrem hohen Wettbewerbsintensität) einerseits risikoadäquates Verhalten der Geschäftsleiter sicherzustellen und andererseits breiten unternehmerischen Entscheidungsspielraum zu gewährleisten. (3) Die Entscheidungsgrundsätze des Zweiten Zivilsenats des Bundesgerichtshofs, die verstanden werden könnten (und weithin auch so in der Praxis verstanden werden), dass das Gericht für eine BJR-Haftungsprivilegierung weitergehend das „Ausschöp62 So bereits Seibt, Manager Magazin Heft 10/2018, 106. 63 Die Ergebnisse zusammenfassend in Tetlock/Gardner, Superforecasting. The Art and ­Science of Prediction, 2015, insbes. Kapitel 7-9.

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fen aller verfügbaren Informationsquellen tatsächlicher und rechtlicher Art“ verlangt, überschritten die Grenzen einer Gesetzesauslegung und förderten im Sinne einer ­unangemessene Verhaltenssteuerung übermäßig risikoaverses und bürokratisches Verhalten der Geschäftsleiter. Es bedarf gerade unter den derzeitigen VUCA-Rahmenbedingungen einer Rechtssprechungskorrektur (oder je nach Sichtweise: einer Rechtssprechungsklarstellung) – und in ihrer Folge gleichzeitig eine Praxisänderung bei der Überwachungstätigkeit des Aufsichtsrats. Die überstrengen Anforderungen an die Entscheidungsvorbereitung mit Informationsermittlung und -analyse sind die Achillesverse bei der BJR-Haftungsprivilegierung von Geschäftsleitern. (4) Unter den VUCA-Rahmenbedingungen bedarf es einer Perspektiverweiterung und Akzentverschiebung bei der Konturierung des Angemessenheitskriteriums: Bei der Folgenbegutachtung der Entscheidungsfrage sind auch nicht-finanzielle Aspekte wie Unternehmenskultur und Unternehmensreputation zu berücksichtigen, die Frage der Reversibilität der Entscheidung gewinnt an Bedeutung, das Risiko ist im Hinblick auf den Umfang der Informationsermittlung zu erweitern, Big Data-Analysen und künstliche Intelligenz-Werkzeuge werden erheblich an Bedeutung gewinnen. Schließlich bedarf es einer materiellen Akzentverschiebung von dem Ziel einer möglichst vollständigen (100%) Informationsbasis hin zu einer „safe enough to try“-Informationsbasis. (5) Zur Ausfüllung des Angemessenheitskriteriums wird ein relationales Sechs-Parameter-Modell propagiert. Die Parameter sind: (i) Intensität der Folgen der konkreten Entscheidung (sowie diejenigen einer unterbliebenen Entscheidung), (ii)  Lage und Positionierung der konkreten Gesellschaft, (iii) Kosten und Nutzen einer weiteren Informationsermittlung und -analyse, (iv) Zeitbudget für die Entscheidung, (v) rechtliche und tatsächliche Möglichkeit der Informationsermittlung sowie (vi) Anwendung anerkannter heuristischer Verfahren, Methoden der kognitiven Psychologie und des probabilistischen Denkens. (6) Es ist plausibel anzunehmen, dass die Bedeutung von Big Data-Analysen und die Anwendung von Künstliche Intelligenz-Werkzeugen zukünftig bei der Strukturierung der Entscheidungsvorbereitung, der Bestimmung der entscheidungsrelevanten Informationen und Informationsquellen, der Auswahl, Gewichtung und Analyse der Informationen deutlich zunehmen wird. Besondere, kategoriale Einschränkungen zur Nutzung dieser Analysen und Werkzeuge bestehen nicht, sondern es gelten die allgemeinen Regeln zur Nutzung (externer) Fachexpertise entsprechend.

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Die Beratungsfunktion des Aufsichtsrats Inhaltsübersicht I. Ausgangslage II. Die zukunftsbezogene Überwachung des Vorstands III. Maßstab der zukunftsgerichteten Überwachung

IV. Gegenstand und Intensität der zukunftsgerichteten Überwachung V. Instrument der zukunftsgerichteten Überwachung: Die Beratung VI. Fazit

I. Ausgangslage Der Aufsichtsrat überwacht die Geschäftsführung (§ 111 Abs. 1 AktG), während der Vorstand die Aktiengesellschaft unter eigener Verantwortung leitet (§  76 Abs.  1 AktG). Weitgehend unstreitig ist heute, dass sich die Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats, trotz der unterschiedlichen Begrifflichkeiten in § 111 Abs. 1 und § 76 Abs. 1 AktG, auf die Leitung der Aktiengesellschaft durch den Vorstand im Sinne des § 76 Abs.  1 AktG bezieht.1 Diese Überwachung des Vorstandshandelns hat sowohl eine vergangenheitsbezogene als auch eine zukunftsgerichtete Komponente.2 Bereits abgeschlossene Sachverhalte muss der Aufsichtsrat prüfen und beurteilen; in diesem Sinne kann Überwachung als Kontrolle (im engeren Sinne) verstanden werden. Hierher gehören etwa die Prüfung des Jahresabschlusses (§ 171 Abs. 1 AktG) oder die Prüfung und ggf. Verfolgung von Ersatzansprüchen gegen Vorstandsmitglieder.

II. Die zukunftsbezogene Überwachung des Vorstands Zukunftsbezogen hat der Aufsichtsrat vom Vorstand geplante wie auch schon begonnene, aber noch nicht abgeschlossene Maßnahmen, zu überwachen. Prominentestes Beispiel für letztes ist die Unternehmensplanung, die der Vorstand dem Aufsichtsrat vorzulegen hat (§ 90 Abs. 1 Nr. 1 AktG); der Aufsichtsrat seinerseits hat sich mit dieser Planung auseinanderzusetzen (dazu im Einzelnen sogleich) und die Erfüllung der Planung zu verfolgen. Im Bereich der zukunftsgerichteten Überwachung nimmt der

1 Statt aller: Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl., § 111 Rz. 2. 2 BGH v. 25.3.1991 – II ZR 188/89, BGHZ 114, 127, 130; Semler, Leitung und Überwachung der Aktiengesellschaft, 2.  Aufl., Rz.  253  ff.; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, § 3 Rz. 103; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl., § 111 Rz. 15; Hüffer/ Koch, AktG, 13. Aufl., § 111 Rz. 5 ff. m.w.N.

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Aufsichtsrat Einfluss auf die künftige Geschäftspolitik (Ziff. 5.1.1 DCGK) und er hat insoweit auch teil an den Leitungsaufgaben des Vorstands.3 Bei einem Blick in die juristische Literatur zur Überwachung durch den Aufsichtsrat fällt allerdings auf, dass der absolute Schwerpunkt der Betrachtungen und Über­ legungen sich auf die vergangenheitsbezogene Kontrolle des Vorstands durch den Aufsichtsrat fokussiert.4 Im Mittelpunkt der Beschreibungen stehen die Prüfung des Jahresabschlusses, die Einhaltung von Gesetzen (Compliance) und die Prüfung/Geltendmachung von Ersatzansprüchen gegen Vorstandsmitglieder. Demgegenüber fristet die zukunftsgerichtete Überwachung des Vorstands nicht nur hinsichtlich ihrer quantitativen Breite in der Literatur eine Schattendasein;5 auch die inhaltliche Differenzierung und Tiefe der Auseinandersetzung in der Literatur darf als noch entwicklungsfähig beschrieben werden. Dies ist umso bemerkenswerter, als noch kein Unternehmen gut und erfolgreich geführt wurde durch die Analyse und Bewertung der Vergangenheit; unternehmerisches Handeln ist im Kern zukunftsgerichtet. Dem entspricht die empirische Beobachtung, dass der Schwerpunkt praktischer Aufsichtsratstätigkeit in der Behandlung geplanter bzw. bereits im Gange befindlicher Umstände und Maßnahmen liegt, mithin zukunftsbezogen und nicht vergangenheitsbezogen ist. Im Gegensatz zu den Gewichtungen in der aktienrechtlichen Literatur steht auch die Systematik des AktG. Die primäre und wichtigste Quelle für die Arbeit des Aufsichtsrats sind die Berichte des Vorstands. Und hier offenbart § 90 Abs. 1 AktG, dass der absolute Schwerpunkt der Berichtserstattung in zukunftsgerichteten Planungen, Geschäften und Maßnahmen liegt; keine der in § 90 Abs. 1 AktG genannten Berichtsgegenstände hat einen explizit vergangenheitsbezogenen Inhalt. Die Fokussierung der aktienrechtlichen Literatur auf die vergangenheitsbezogenen Kontrollaufgaben des Aufsichtsrats mag sich daraus erklären, dass es dem Juristen intuitiv näher liegt, bereits abgeschlossene Sachverhalte unter einen Rechtssatz zu subsumieren. Demgegenüber ist die Teilhabe eines Gesellschaftsorgans (Aufsichtsrats) an bisher nicht bekannten, erst noch von den Gesellschaftsorganen zu entwickelnden und dann auch erst noch umzusetzenden Maßnahmen ein „moving target“. Die Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats sind dabei eingebettet in einen sich kontinuierlich entwickelnden Prozess bzw. Lebenssachverhalt und damit deutlich schwerer zu fassen. Im Folgenden sollen zu dieser zukunftsgerichteten Tätigkeit des Aufsichtsrats einige aktienrechtliche Grundsätze entwickelt werden.

3 Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 111 Rz. 13 f. m.w.N.; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl., § 111 Rz. 13. 4 Nur exemplarisch: Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 111 Rz. 18ff.; Mertens/ Cahn in KölnKomm. AktG, § 111 Rz. 14 ff.; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, S. 35 ff.; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl., § 111 Rz. 5 ff.; Spindler in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 111 Rz. 6 ff. 5 S. nur: Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2011, § 111 Rz. 274-286.

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III. Maßstab der zukunftsgerichteten Überwachung Der Aufsichtsrat hat die Leitung der Gesellschaft hinsichtlich Rechtsmäßigkeit, Ordnungsmäßigkeit, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit zu überwachen. Allerdings besteht nur hinsichtlich der Rechtmäßigkeit Einigkeit darüber, was der Inhalt dieses Überwachungsmaßstabes, oder genauer dieser einzelnen Überwachungsmaßstäbe, ist. Rechtmäßigkeit bedeutet Einhaltung des Legalitätsprinzips,6 d.h. Beachtung von Gesetz und Satzung.7 Die Kontrolle der Rechtsmäßigkeit des Vorstandshandelns ist typischer Weise vergangenheitsbezogen. Es geht darum, ob abgeschlossene Sachverhalte gegen gesetzliche Vorgaben verstoßen haben; beispielsweise darum, ob ein bestimmtes Geschäft kartellrechtswidrig war oder ob die Einstufung von Mitarbeitenden als Arbeitnehmer oder Selbstständige (Stichwort: Scheinselbstständigkeit) sozialversicherungsrechtlich korrekt war. Hierher gehört auch die Prüfung und ggf. Verfolgung von Ersatzansprüchen gegenüber Vorstandsmitgliedern durch den Aufsichtsrat. Die Rechtsmäßigkeitskontrolle kann aber auch ein zukunftsbezogenes Element haben. Dies immer dann, wenn es darum geht, ob eine geplante Maßnahme, sollte sie wie beabsichtig umgesetzt werden, rechtmäßig sein wird. Diese Frage kann sich sowohl bei unternehmerischen Entscheidungen des Vorstands stellen und dreht sich dann im Kern darum, ob die Umsetzung der geplanten Maßnahme mit § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG (BJR) vereinbar wäre. Eine zukunftsgerichtete Rechtsmäßigkeitsüberwachung kann aber auch bei gesetzlich gebundenen, in der Sache aber mit rechtlichen Unsicherheiten verbundenen Maßnahmen eine erhebliche Rolle spielen. So etwa bei der Frage, ob eine geplante Unternehmens- und Geschäftsorganisation mit regulatorischen Vorgaben im Einklang steht. Für die zukunftsbezogene Überwachungsfunktion des Aufsichtsrats von wesentlich größerer Bedeutung sind aber die Überwachungsmaßstäbe der Ordnungsmäßigkeit, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit. Allerdings ist in der Literatur bisher unklar, ob und inwieweit es sich dabei um eigenständige Prüfungsmaßstäbe handelt.8 Auch die inhaltliche Trennschärfe der Begrifflichkeiten ist fraglich.9 So wird die Ordnungsmäßigkeit der Unternehmensleitung im Wesentlich damit beschrieben, dass eine angemessenen Geschäftsorganisation implementiert sein muß;10 eine solche wird man aber wohl schon dem Legalitätsprinzip und damit der Rechtsmäßigkeitskontrolle zuordnen müssen. Ähnliches gilt für die Wirtschaftlichkeit als Überwachungsmaßstab; diese soll primär darauf gerichtet sein, dass die Gesellschaft lebens- und überlebensfähig ist.11 Allerdings wird die Sicherung des Unternehmensbestands nicht den pri 6 Statt aller: Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl., § 111 Rz. 14. 7 Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, § 3 Rz. 74 f. 8 So etwa zweifelnd für die Zweckmäßigkeit: Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl., § 111 Rz. 14; ähnlich: Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, § 3 Rz. 90. 9 S. etwa bei: Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2011, § 111 Rz. 295. 10 Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, § 3 Rz. 79 ff. 11 Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, § 3 Rz. 89; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl., § 111 Rz. 14.

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mären Maßstab für die auf Wirtschaftlichkeit bezogene Überwachung des Vorstands durch den Aufsichtsrat abgeben dürfen. Bei der zukunftsgerichteten Überwachung durch den Aufsichtsrat geht es, neben der vorstehend skizierten Rechtsmäßigkeitskontrolle, vor allem darum, ob der Vorstand das Unternehmen in Ansehung (1) der personellen und wirtschaftlichen (Bilanz, Liquidität) Ausstattung, (2) des wettbewerblichen und wirtschaftlichen Umfeldes und (3) des Risikoprofils des Unternehmens sachgerecht weiterentwickelt. Mit juristischen Mechanismen lässt sich allerdings nicht beschreiben, wie eine konkrete Unternehmensleitung aussehen muß, um diesen Vorgaben (Überwachungsmaßstäben) zu genügen. Es lässt sich juristisch nur negativ abgrenzen, wenn eine bestimmte Art und Weise der Unternehmensleitung außerhalb dieses Rahmens liegt. Insoweit ist die zukunftsbezogene Überwachung durch den Aufsichtsrat weitgehend das Pendant zu der von einem weiten Ermessensspielraum geprägten Unternehmensführung12 durch den Vorstand. Deshalb ist es auch systematisch richtig, dass der Aufsichtsrat für diese nicht rein auf Legalität abzielende, aber zukunftsbezogene Überwachungstätigkeit für sich die Mechanismen der Business Judgment Rule des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG in Anspruch nehmen kann (§  116 Satz 1 AktG).13 Dem Aufsichtsrat steht mithin im Rahmen seiner zukunftsgerichteten Überwachung ein weites Ermessen zu; erst bei schlechthin unvertretbarem Handeln des Aufsichtsrats greift das aktienrechtliche Haftungsregime ein.

IV. Gegenstand und Intensität der zukunftsgerichteten Überwachung Die Frage, in welcher Dichte und Intensität der Aufsichtsrat den Vorstand zu über­ wachen hat, wird in der Regel mit Verweis auf die begrenzten Ressourcen des Aufsichtsrats (Part-time Job und kein eigener Unterbau), die Informationsasymmetrie zwischen Vorstand und Aufsichtsrat und die umfassende Leitungskompetenz des Vorstands thematisiert. Daraus wird häufig der Schluss gezogen, dass jedenfalls die zukunftsgerichtete Überwachung des Vorstands sich auf grundsätzliche Frage beschränkt,14 jedenfalls aber eine Pflicht des Aufsichtsrats insoweit nur hinsichtlich der strategisch-konzeptionellen Teile des Unternehmens im Gegensatz zu den operativen Bereichen besteht.15 In dieser Absolutheit mag das nicht zu überzeugen. Für die vom Aufsichtsrat aufzubringende Dichte der zukunftsgerichteten Überwachung ist vielmehr entscheidend, in welcher Lage und in welchem Zustand sich das Unternehmen befindet. Wie generell für die geschuldete Überwachungstätigkeit des Aufsichtsrats gilt auch hier, dass sich diese verdichtet, wenn Probleme, Risiken oder gar Krisen erkennbar sind. Dieses Konzept der abgestuften Überwachungspflicht ist 12 Zu dieser durch das aktienrechtliche Haftungsregime gerahmten unternehmerischen Freiheit: Horn, ZIP 1997, 1129, 1134; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl., § 93 Rz. 8. 13 Cahn, WM 2013, 1293 f.; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl., §116 Rz. 5. 14 Mertens, AG 1991, 802; Deckert, AG 1997, 109, 112. 15 Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, § 3 Rz. 108.

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heute im Grundsatz weitgehend unstreitig.16 Folgende Besonderheiten sind im vorliegenden Zusammenhang aber beachtenswert. Die Überwachungspflichten des Aufsichtsrats verdichten sich nicht nur dann, wenn das gesamte Unternehmen sich in einer Krise oder Risikolage befindet. Das in der Literatur häufig beschriebene Beispiel, in dem das Unternehmen auf eine Insolvenzantragspflicht zusteuert, ist zwar in der Sache zutreffend und anschaulich. In der Realität der Unternehmensführung sind die Lebenssachverhalte aber differenzierter. Denn sehr häufig geht es gerade nicht um Fragen des Legalitätsprinzips (muss der Vorstand einen Insolvenzantrag stellen oder (noch) nicht?). Viel häufiger geht es um unternehmerische Fragen; etwa darum, was eine richtige Reaktion des Unternehmens auf einen sich verändernden Markt ist. Daraus folgt einerseits, dass sich die Überwachungspflichten des Aufsichtsrats auch dann verdichten, wenn und soweit unternehmerische Risiken oder Krisen des Unternehmens in Rede stehen. Desweiteren ist zu konstatieren, dass abgestufte Überwachungspflichten auch sektoral oder thematisch bestehen. Nicht nur, wenn das gesamte Unternehmen in einer Krise steckt, steigen die Anforderungen an die Tätigkeit des Aufsichtsrats, sondern auch dann, wenn einzelne Geschäftsbereiche, Märkte oder Produkte Probleme oder Krisen aufweisen. Das Konzept der abgestuften Überwachungspflicht beschreibt und begrenzt die Rolle des Aufsichtsrats im Verhältnis zum Vorstand. Daraus wird auch zu fordern sein, dass die vorstehend beschriebenen Umstände sich auf die Lage der Gesellschaft auswirken bzw. auszuwirken drohen. Das bedeutet andererseits, dass Probleme oder Krisen in Teilbereichen oder Produkten/Märkten des Unternehmens bestehen können (und in der Lebenswirklichkeit auch immer bestehen werden), ohne dass sich dies auf die Lage des Unternehmens auswirken. In solchen Fällen ist der Aufsichtsrat nicht gefordert. Für die zukunftsgerichtete Überwachungstätigkeit des Aufsichtsrats bedeutet dies, dass selbige besonders dann relevant wird, wenn sich Teile der Geschäftstätigkeit in unternehmerisch schwierigem Fahrwasser befinden und zwar in einem solchen Ausmaß, dass sich dies auf die Lage der Gesellschaft auswirkt bzw. auswirken kann. Dann obliegt es dem Aufsichtsrat, sich intensiviert mit diesem Thema zu beschäftigen und der Frage nachzugehen, welche Maßnahmen der Vorstand ergreift, um die unternehmerische Situation zum Besseren zu entwickeln.

V. Instrument der zukunftsgerichteten Überwachung: Die Beratung Mit den vorstehenden Überlegungen ist zwar die zukunftsgerichtete Überwachungstätigkeit des Aufsichtsrats beschrieben, insbesondere hinsichtlich ihres unternehmerischen und ggf. thematisch begrenzten Umfangs. Damit ist aber noch nicht ge16 Statt aller: Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 111 Rz. 55 ff.; Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2011, § 111 Rz. 302 ff.; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl., §111 Rz. 15; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, § 3 Rz. 93 ff. jeweils m.w.N.

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sagt,  wie und mit welchen Instrumentarien der Aufsichtsrat diese Überwachung ausfüllt. Zunächst einmal wird sich der Aufsichtsrat auch hier der klassischen Maßnahmen, wie insbesondere der Anforderungsberichte nach § 90 Abs. 3 AktG bedienen. Damit wird er einerseits erreichen wollen, besser und genauer zu verstehen, wie das Problem gelagert ist und welche Überlegungen bzw. Maßnahmen der Vorstand ergreift, um gegenzusteuern. Darüber hinaus habe Anforderungsberichte auch für sich genommen häufig schon den Effekt, das Augenmerk des Aufsichtsrats und des Vorstands stärker auf bestimmten Themen und Fragen zu richten. Insofern führen Anforderungsberichte häufig schon zu einer unternehmerisch wichtigen und gewünschten Priorisierung auch auf Seiten des Vorstands. Hält der Aufsichtsrat es für erforderlich, so kann und wird er sich auch im Rahmen der zukunftsgerichteten Überwachung der Hilfe externer Experten bedienen und/ oder einzelne Aufsichtsratsmitglieder mit bestimmten Aufgaben betrauen (§  111 Abs. 2 Satz 2 AktG). Externe Sachverständige werden in diesem Zusammenhang (zukunftsgerichtete, unternehmerische Fragen) meist weniger Juristen sein, als vielmehr Unternehmens- und Strategieberater, ggf. sogar technische Berater (letztes etwa bei Bau- oder Ingenieurprojekten). All diese Instrumentarien bilden aber eigentlich nur die Erkenntnisquelle für den Aufsichtsrat, um sich eine eigene Meinung zu bilden. Auf dieser Basis beginnt die eigentliche zukunftsgerichtete Arbeit des Aufsichtsrats, die darin besteht, mit dem Vorstand in einen Dialog und Austausch zu treten, wie mit der konkreten Situation umzugehen sei. Dies ist die eigentliche Beratungsfunktion des Aufsichtsrats. Sie ist insofern Beratung, als sie die Grenze zur Führung der Geschäfte nicht überschreitet. Der Aufsichtsrat trifft auch im Rahmen von Beratung keine Entscheidungen, noch kann oder wird er dem Vorstand inhaltliche Vorgaben machen.17 Er wird vielmehr dem Vorstand seine Überlegungen und Bedenken mitteilen. Der Vorstand muss und wird diese Argumente in seine Überlegungen und Entscheidungen einbeziehen. Auch wenn dieser Mechanismus trivial erscheinen mag, in der Praxis der Unternehmensführung ist er es keinesfalls; vielmehr muss man sich vor Augen halten, dass dieser Bereich der zukuntsgerichteten Beratung des Vorstands durch den Aufsichtsrat einen ganz wesentlichen Kern guter Unternehmensführung ausmacht. Die richtige Balance zu finden, zwischen beratender Involvierung des Aufsichtsrats und unabhängiger Entscheidungsfindung seitens des Vorstands muß in der täglichen Arbeit permanent neu kalibriert werden; sie hängt nach dem Konzept abgestufter Überwachung ganz maßgeblich von dem Grad an Risiko und Krise im Einzelfall ab. In dem hier interessierenden Bereich der zukunftsgerichteten unternehmerischen Fragen (im Gegensatz zu Fragen der Legalitätspflicht) kommt dem Aufsichtsrat wie oben beschrieben ein weites Ermessen zu, welches in das Regime der §§ 93 Abs. 1 Satz 2, 116 Satz 1 AktG eingebettet ist. Deshalb ist die zukunftsgerichtete Beratung 17 Semler, Leitung und Überwachung der Aktiengesellschaft, 2. Aufl., Rz. 262.

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seitens des Aufsichtsrats auch mehr ein Recht als eine Pflicht.18 Die Rolle und Funktion des Aufsichtsrats gebietet aber seine Involvierung auch und gerade in zukunftsgerichteten unternehmerischen Fragen, die sich auf die Lage der Gesellschaft auswirken. Deshalb wird man die Beratung seitens des Aufsichtsrats dem Grunde nach als Obliegenheit bezeichnen müssen. Demgegenüber wird in der Literatur vereinzelt die Auffassung vertreten, dass eine Beratung durch den Aufsichtsrat unzulässig sei, wobei insbesondere auf die Leitungsfunktion des Vorstands und die Unabhängigkeit des Aufsichtsrats verwiesen wird;19 der Aufsichtsrat müsse sich ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber dem Vorstand bewahren, um seiner Überwachungsfunktion nachkommen zu können.20 Die so beschriebene Rolle des Aufsichtsrats verkennt, die aktienrechtlichen Funktionszusammenhänge.21 Der Aufsichtsrat nimmt in den Worten der Principle-Agent-Theorie auch Funktionen wahr, die den Eigentümern (Aktionären) zukommen. Dies umfasst gerade nicht nur die Bestellung und Entlohnung des Vorstands sowie die Legalitätskontrolle. Vielmehr zeigt die Personalkompetenz des Aufsichtsrats, dass er sich auch mit der Qualität der unternehmerischen Führung zu befassen hat. Dies setzt einen Austausch mit dem Vorstand zu diesen zukunftsgerichteten Fragen voraus, im Rahmen dessen der Aufsichtsrat auch seine eigenen Einschätzungen abzugeben hat; dies ist der Kern der Beratung. Die Annahme, dass der Aufsichtsrat in Bezug auf unternehmerische (zukunftsgerichtete) Fragen neutral zu seinen hat, ist damit nicht vereinbar. Vielmehr ist eine solche neutrale Position im System der Aktiengesellschaft dem Jahresabschlussprüfer zugewiesen, nicht aber dem Aufsichtsrat. Auch kann dem Postulat eines grundsätzlichen Misstrauens des Aufsichtsrats gegenüber dem Vorstand22 nicht gefolgt werden. Sollte der Aufsichtsrat dem Vorstand misstrauen, sei es hinsichtlich seiner fachlichen Fähigkeiten, sei es hinsichtlich seiner persönlichen Integrität, sollte und muss er sich mit der Frage beschäftigen, den Vorstand auszutauschen. Grundsätzliches Misstrauen ist kein Nährboden, auf dem eine erfolgreiche Unternehmensführung gedeihen kann. Zutreffend ist vielmehr, dass der Aufsichtsrat eine sachlich-kritische Distanz zu den Geschehnissen währen muss, um seiner Überwachungsfunktion nachkommen zu können. Dies erfordert, dass er nicht selber in die Geschäftstätigkeit eingreift, was aber schon aus dem Rollenverständnis von Aufsichtsrat und Vorstand folgt (s.o.). Dabei mag die Differenzierung zwischen Misstrauen einerseits und sachlich-kritischer Distanz andererseits als semantische Petitesse erscheinen. Dies ist sie aber weder in der Sache noch in der Wahrnehmung der aktienrechtlichen Akteure.

18 Ähnlich: Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, § 3 Rz. 108. 19 Theisen, AG 1995, 193 ff. 20 Steinemann/Klaus, AG 1987, 29, 33. 21 Ablehnend auch: Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, § 3 Rz. 106. 22 Steinemann/Klaus, AG 1987, 29, 33; sympathisierend aber: Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, § 3 Rz. 106 Fn. 2.

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VI. Fazit Der Aufsichtsrat überwacht den Vorstand bei der Leitung der Geschäfte. Diese Überwachung hat eine vergangenheitsbezogene Komponente (Kontrolle im engeren Sinne). Die Überwachung hat aber auch zukunftsgerichtet zu erfolgen, auf noch nicht abgeschlossene und erst geplante Maßnahmen und Entscheidungen. Maßstab der zukunftsgerichteten Überwachung ist zwar auch die Legalität des Vorstandshandelns, deutlich wichtiger ist aber die unternehmerische Sinnhaftigkeit der vom Vorstand geplanten Maßnahmen. Dem Aufsichtsrat obliegt es, sich in diesem Bereich kundig zu machen und in einem Dialog mit dem Vorstand seine eigenen Sichtweisen deutlich zu machen. Soweit kommt dem Aufsichtsrat eine wichtige Beratungsfunktion zu. Wenn und soweit im Unternehmen Probleme oder Krisen erkennbar werden, hat der Aufsichtsrat seine Bemühungen um Beratung des Vorstands zu intensivieren; dabei kommt dem Vorstand eine weites Ermessen hinsichtlich Inhalt und Instrumentarium zu. Sowohl in der Corporate Governance Diskussion als auch in der aktienrechtlichen Literatur wird die Rolle und Aufgabe des Aufsichtsrats bisher zu sehr auf die vergangenheitsbezogene Kontrolle, mit einem Schwerpunkt auf Fragen des Legalitätsprinzips, verkürzt. Gute Unternehmensführung fordert den Aufsichtsrat darin, sich in unternehmerische Fragen der Zukunftsgestaltung einzumischen und im Austausch mit dem Vorstand eigene Meinungen zu entwickeln und kundzutun. Auch wenn die Entscheidungshoheit des Vorstands dadurch nicht in Abrede gestellt wird, obliegt es dem Aufsichtsrat derart in die Entwicklung des Unternehmens eingebunden zu sein.

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Grundlagen und Grenzen der Kommunikation mit Aktionären und Investoren (Investor Relations) – de lege lata und de lege ferenda Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Aktienrechtliche Rahmenbedingungen 1. Verschwiegenheitspflicht a) Vorstand b) Aufsichtsrat 2. Information anderer Aktionäre (§ 131 Abs. 4 AktG) 3. Die Kompetenz zur Kommunikation a) Vorstand

b) Aufsichtsrat und Aufsichtsrats­ vorsitzender III. Kapitalmarktrechtliche Publizität und Schranken 1. Insiderhandel 2. Ad-hoc-Publizität IV. Fazit: Gesetzgeberischer Handlungs­ bedarf?

I. Einleitung Investor Relations sind im Zeitalter institutioneller Investoren und aktiv(istisch)er Aktionäre ein fester Bestandteil der Kommunikation von Vorstand und Aufsichtsrat geworden – sowohl in negativer wie auch positiver Hinsicht, wovon die Vorgänge um ThyssenKrupp und die Mandatsniederlegungen des Vorstands- sowie des Aufsichtsratsvorsitzenden aufgrund anhaltender Kritik von den zwei institutionellen-aktivistischen Aktionären Elliott und Cevian Zeugnis ablegen.1 Aktionäre und Investoren wollen dabei in aller Regel Details aus der Arbeit und Struktur des Aufsichtsrats und des Vorstands, insbesondere deren Vorstellungen und Absichten hinsichtlich Unternehmensstrategie oder wichtigen Einzelfragen erfahren; umgekehrt besteht ein Interesse der Organe, die Vorstellungen von einflussreichen Aktionären zu erfahren. Diese Kommunikation ist dabei nicht nur im Innenverhältnis der AG relevant, sondern eben gerade auch in Bezug auf den Kapitalmarkt. Dennoch sind beide Materien in ihrer Strukturierung der Kommunikation durchaus unterschiedlich geregelt, indem das AktG noch immer den streng hierarchischen Geist von 1937/1965 atmet, das Kapitalmarktrecht dagegen den gesamten Markt und weniger den einzelnen Investor im Blick hat. Eine informelle Arbeitsgruppe hat hierzu Grundsätze der „Shareholder Communication“ entworfen.2 In eine ähnliche Richtung gehen Empfehlungen im Rah1 https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/ulrich-lehner-wie-der-hiesingerruecktritt-den-thyssen-krupp-chefaufseher-unter-druck-bringt/22778792.html, zuletzt abgerufen am 10.2.2019. 2 Initiative „Developing Shareholder Communication“, AG 2016, R300; s. auch https://www.dai. de/files/dai_usercontent/dokumente/pressemitteilungen/2016-07-05%20Leitsaetze%20

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men des Deutschen Corporate Governance Kodex, z.B. Ziff. 5.2 (2017). Ob und wie der geltende Rechtsrahmen ausreicht, insbesondere ob die Grundsätze zur Shareholder Communication nicht eher „wishful thinking“ sind, um das geltende Recht der „gelebten Praxis“ anzugleichen, oder Vereinheitlichungen und Anpassungen erforderlich sind, dürfte daher gerade im Sinne des vom Jubilar geprägten Bonmots der „Aktienrechtsreform in Permanenz“3 von Interesse sein  – zumal er selbst Mitglied des Beraterkreises der angesprochenen Arbeitsgruppe für die „Shareholder Communication“ war. In Rede stehen hier sowohl die aktien- wie auch die kapitalmarktrechtlichen Rahmenbedingungen.

II. Aktienrechtliche Rahmenbedingungen Nähert man sich der Kommunikation von der aktienrechtlichen Seite her, ist grundsätzlich zwischen Aktionär und Investor (als potentiellem Aktionär) zu unterscheiden, da der Investor außerhalb der Kompetenzordnung des AktG steht. In Rede stehen dabei zum einen die Pflichten der Organe zur Verschwiegenheit gegenüber Aktionären und Investoren, zum anderen die Kompetenzen zur Information von Aktionären und Investoren einschließlich der Folgepflichten gegenüber anderen Aktionären. 1. Verschwiegenheitspflicht a) Vorstand Teil der organschaftlichen Treuepflicht ist die Pflicht zur Verschwiegenheit,4 die in § 93 Abs. 1 Satz 3 AktG dahin konkretisiert wird, dass Vorstandsmitglieder über vertrauliche Angaben und Geheimnisse der Gesellschaft, die ihnen durch ihre Tätigkeit im Vorstand bekannt geworden sind, Stillschweigen zu bewahren haben. Die Geheimnisse der Gesellschaft bezeichnen Tatsachen, die nur einem eng begrenzten Personenkreis bekannt, also nicht offenkundig sind,5 wenn sie nach dem bekundeten oder mutmaßlichen Willen der Gesellschaft geheim gehalten werden sollen und wenn an der Geheimhaltung ein berechtigtes wirtschaftliches Interesse besteht.6 Anders als fuer%20den%20Dialog%20zwischen%20Investor%20und%20Aufsichtsrat.pdf, zuletzt abge­ rufen am 10.2.2019.  3 Seibert, AG 2002, 417. 4 Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5.  Aufl. 2015, §  93 AktG Rz.  279; Hüffer/Koch, 13 Aufl. 2018, § 93 AktG Rz. 29; Fleischer in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 160; Dauner-Lieb in Henssler/Strohn, 3. Aufl. 2016, § 93 AktG Rz. 10. 5 Sie darf nicht allg. bekannt oder leicht zugänglich sein, vgl. Lutter, Information und Vertraulichkeit im Aufsichtsrat, 3. Aufl. 2006, Rz. 409 ff. 6 BGH v. 5.6.1975 – II ZR 156/73, BGHZ 64, 325, 329; BGH v. 6.3.1997 – II ZB 4/96, NJW 1997, 1985, 1987; OLG Stuttgart v. 28.5.2013 – 20 U 5/12, AG 2013, 599, 602; Lutter, Information und Vertraulichkeit im Aufsichtsrat, 3. Aufl. 2006, Rz. 415 ff.; Oetker in FS Wissmann, 2005, S. 398; Fleischer/Bedkowski, DB 2009, 2195, 2197; Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 93 AktG Rz. 30; s. auch Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 283.

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Kommunikation mit Aktionären und Investoren

nach § 824 BGB fallen hierunter selbst Ansichten, Meinungen und Wertungen.7 Als Gesellschaftsgeheimnisse gelten etwa Informationen im Zusammenhang mit M&A-­ Verhandlungen, ebenso Ergebnisse und Inhalte von Vorstands- und Aufsichtsratssitzungen.8 Der Kreis ist daher recht weit gefasst, sodass praktisch alle für Investoren relevante Fragen, etwa die Einschätzung des Vorstands über zukünftige Marktentwicklungen und die Reaktion der AG darauf, darunterfallen, erst recht konkrete Investitionsvorhaben und Unternehmensstrategien. Ob eine Tatsache ein Geheimnis ist, beurteilt sich zwar im Grundsatz objektiv nach dem Unternehmensinteresse, das eine Vielzahl von Interessen zum Ausgleich bringt; doch ist der Vorstand der „Herr der Gesellschaftsgeheimnisse“.9 Ihm obliegt es, das Unternehmensinteresse zu konkretisieren.10 Allerdings handelt es sich um eine rechtlich gebundene Einschätzung,11 die nicht im Belieben des Vorstandes steht, wenngleich er einen gewissen Beurteilungsspielraum genießt.12 Ähnliches gilt für die „vertraulichen Angaben“, die Angelegenheiten betreffen, deren Mitteilung sich für die Gesellschaft nachteilig auswirken kann, mögen sie auch allgemein bekannt und daher keine Geheimnisse (mehr) sein. Der vertrauliche Charakter einer Angelegenheit kann sich auch aus der Natur der Sache ergeben, z.B. über Stimm­ abgabe und Meinungsäußerungen in Organsitzungen.13 Auch hier ist wiederum das Interesse des Unternehmens maßgeblich.14 Verboten ist damit jede Offenbarung an Dritte durch Erklärung, Weitergabe von Schriftstücken oder Gestatten der Einsicht. „Dritter“ ist dabei jeder, der nicht zu den Organen Vorstand oder Aufsichtsrat der Gesellschaft gehört,15 selbst die Aktionäre, auch wenn es sich um Mehrheitsaktionäre handelt. Dies gilt erst recht gegenüber potentiellen Investoren.

7 v. Stebut, Geheimnisschutz und Verschwiegenheitspflicht im Aktienrecht, 1972, S. 6; Lutter, Information und Vertraulichkeit im Aufsichtsrat, 3. Aufl. 2006, Rz. 411; Spindler in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 116 AktG Rz. 111. 8 BGH v. 5.6.1975  – II ZR 156/73, BGHZ 64, 325, 332; Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5.  Aufl. 2015, §  93 AktG Rz.  283; Körber in Fleischer, Handbuch des Vorstandsrechts, 1. Aufl. 2006, § 10 Rz. 5. 9 So BGH v. 5.6.1975 – II ZR 156/73, BGHZ 64, 325, 329; BGH v. 26.4.2016 – XI ZR 108/15, NJW 2016, 2569, 2571; dem folgend Fleischer in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 169; Rubner, KSzW 2011, 412, 413. 10 Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 76 AktG Rz. 67 m.w.Nachw. 11 Vgl. Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2013, § 116 AktG Rz. 47. 12 Zu der Anwendung der business judgement rule auf die Legalitätspflicht s. näher Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 88 m.w.Nachw. 13 BGH v. 5.6.1975  – II ZR 156/73, BGHZ 64, 325, 332; Dauner-Lieb in Henssler/Strohn, 3. Aufl. 2016, § 93 AktG Rz. 13. 14 Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 286; Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 93 AktG Rz. 30; Wiesner in MünchHdb. AG, 4. Aufl. 2015, § 25 Rz. 48. 15 Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 93 AktG Rz. 119; Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 93 AktG Rz. 31; ausf. dazu Oetker in FS Wissmann, 2005, S. 400, 404.

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Nimmt man diesen umfangreichen Kreis der geheim zu haltenden Informationen beim Wort, kann es eigentlich keinerlei Gespräche weder mit Aktionären noch potentiellen Investoren geben, die sich auf Vorgänge in der AG oder des Vorstandes beziehen, die nicht per se publik wären (etwa durch Publizitätsvorschriften). Allerdings besteht die Schweigepflicht nicht uneingeschränkt, da sie nur dem Schutz der Gesellschaft dient; erfordert jedoch das Interesse der Gesellschaft bestimmte Dinge zu offenbaren, so tritt die Schweigepflicht zurück.16 Wann dies konkret der Fall ist, lässt sich abstrakt kaum bestimmen; jedoch dürfte der Anwendungsbereich zulässiger Investor Relations de lege lata recht eng gefasst sein, da die Vorteile für die Gesellschaft eindeutig überwiegen müssen, um jegliche Grauzonen auszuschließen. Als „Blaupause“ für die Investor Relations kann die Abwägung der Interessen im Rahmen eines Due-Diligence-Verfahrens im Vorfeld einer Unternehmensübernahme dienen, insbesondere ob der Vorstand Geheimnisse über den gesamten strategischen Informationsbestand an den Erwerbsinteressenten weitergeben darf. Zwar wird teilweise vertreten,17 dass eine Informationsweitergabe lediglich in Ausnahme- bzw. Extremsituationen stattfinden dürfe, wenn es sich „um eine einmalige und unwiederbringliche unternehmerische Chance“ handele.18 Doch ist dem entgegen zu halten,19 dass die Schweigepflicht nicht über die unternehmerischen Interessen der Gesellschaft hinausgeht, da § 93 Abs. 1 Satz 3 AktG gerade keine gesetzliche Vermutung für ein umfassendes absolutes Geheimhaltungsbedürfnis aufstellt.20 Dabei kommt es auch nicht darauf an, ob lediglich selektiv Informationen über Teilbereiche des Unternehmens weitergegeben werden sollen oder ob der Erwerber umfassende, für die Unternehmensbewertung maßgebliche Datenkenntnis erhalte.21 Denn der Vorstand hat im Einzelfall Vor- und Nachteile bzw. Risiken abzuschätzen – unabhängig davon, ob es sich um einzelne oder eine Vielzahl von Informationen handelt.22 Das Unter­ nehmen kann ein starkes Interesse daran haben, dass die Unternehmensanteile zu angemessenen Konditionen den Inhaber wechseln. Daher können im Rahmen von  Due-Diligence-Prüfungen im Zusammenhang mit einem Unternehmenskauf (Mergers and Acquisitions) zulässigerweise Geheimnisse der Gesellschaft preisgegeben werden, sofern die Verhandlungen fortgeschrittener Natur sind und eine Due Diligence für das Zustandekommen des Geschäfts unumgänglich ist und eine mit 16 Fleischer, ZGR 2009, 505, 526; Fleischer/Bedkowski, DB 2009, 2195, 2197; Fleischer in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 169. 17 Lutter, ZIP 1997, 613, 617 f.; Lutter in FS Schippel, 1996, S. 455 ff.; s. auch Ziemons, AG 1999, 492, 495. 18 Lutter, ZIP 1997, 613, 617, z.B. Vorbereitung einer Verschmelzung. 19 Wie hier Fleischer, ZIP 2002, 651, 651 f.; Fleischer in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 170; Hemeling, ZHR 169 (2005), 275, 279; Zumbansen/Lachner, BB 2006, 613, 614; Rubner, KSzW 2011, 412, 413. 20 BGH v. 5.6.1975 – II ZR 156/73, BGHZ 64, 325, 330; Hemeling, ZHR 169 (2005), 275, 279; Körber, NZG 2002, 263, 269; Stoffels, ZHR 165 (2001), 362, 367  ff.; Linker/Zinger, NZG 2002, 497, 499; Rubner, KSzW 2011, 412, 413; S. H. Schneider, Informationspflichten und Informationseinrichtungspflichten im Aktienkonzern, 2006, S.  54 ff.; v. Stebut, Geheimnisschutz und Verschwiegenheitspflicht im Aktienrecht, 1972, S.  89 f. 21 So aber Lutter, ZIP 1997, 613, 617 f.; Lutter in FS Schippel, 1996, S. 455 ff. 22 Hemeling, ZHR 169 (2005), 275, 279.

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ausreichenden und wirksamen Sanktionen versehene Verschwiegenheitserklärung, um die Gefahr eines Missbrauchs der Informationen zu vermeiden,23 vereinbart wurde.24 In ähnlicher Weise wird für Investor Relations vorzugehen sein, etwa wenn der Vorstand im Vorfeld einer bedeutsamen Maßnahme, die eines Beschlusses der Haupt­ versammlung bedarf, die Meinung bedeutender Aktionäre eruiert.25 Selbst hier wird aber Vorsicht geboten sein, insbesondere wenn es sich um Aktionäre handelt, die ­unter Umständen auch bei Wettbewerbern Einfluss haben oder mit diesen in Kontakt stehen. Erst recht kann aus solchen Interessenabwägungen keine Offenbarungsbefugnis gegenüber außenstehenden Investoren abgeleitet werden; diese käme z.B. nur bei geplanten Kapitalerhöhungsmaßnahmen in Betracht, für die ganz bestimmte  Investorengruppen angesprochen werden sollen. Aber auch dann wird der Vorstand Sicherungsmaßnahmen erwägen müssen, wie z.B. non-disclosure-agreements bzw. Verschwiegenheitsvereinbarungen mit konsequent durchsetzbaren Vertragsstrafen. Jenseits solcher Situationen genügt jedenfalls das Interesse der Gesellschaft, einen soliden Kreis an Aktionären zu haben oder potentielle Investoren anzuziehen, kaum dafür, Unternehmensgeheimnisse, wie strategische Vorhaben, Produktentwicklungen etc., preiszugeben. Überdies besteht hier ein weitgehender Gleichlauf mit den Selbstbefreiungsmöglichkeiten in Art. 17 Abs. 4 MMVO, auf den noch näher einzugehen sein wird. Auf jeden Fall ist auf entsprechende Sicherungen der Vertraulichkeit zu achten, sofern der Vorstand die gegebenen Informationen dann nicht der Öffentlichkeit ebenfalls preisgibt. Die Schweigepflicht kann nicht durch die Satzung, die Geschäftsordnung des Vorstands oder den Anstellungsvertrag gemildert26 oder erweitert werden, da das Gesetz hier abschließend ist.27 Wohl kann der Vorstand aber Richtlinien für die Kommunikation mit Investoren verabschieden, die die Schweigepflicht und das Verfahren bei

23 Zu den Risiken bei der Weitergabe von Unternehmensinterna s. Mertens, AG 1997, 541, 544. 24 Kort in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 76 AktG Rz. 166; Rozijn, NZG 2001, 494, 496 ff.; Hemeling, ZHR 169 (2005), 275, 281; Körber, NZG 2002, 263, 271; Stoffels, ZHR 165 (2001), 362, 376 ff.; Rubner, KSzW 2011, 412, 414; Knöfler, Rechtliche Auswirkungen der Due Diligence bei Unternehmensakquisitionen, 2001, S.  93; Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 304; Zumbansen/Lachner, BB 2006, 613, 618; S. H. Schneider, Informationspflichten und Informationssystemeinrichtungspflichten im Aktienkonzern, 2006, S.  54 ff. 25 So etwa Schaper, AG 2018, 356, 359 im Anschluss an Fleischer‚ ZGR 2009, 505, 521, 526. 26 BGH v. 5.6.1975 – II ZR 156/73, BGHZ 64, 325, 325; OLG Düsseldorf v. 15.10.1973 – 6 U 131/72, WM 1973, 1425. 27 BGH v. 5.6.1975 – II ZR 156/73, BGHZ 64, 325, 325; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 93 AktG Rz. 114 f.; Lutter, Information und Vertraulichkeit im Aufsichtsrat, 3. Aufl. 2006, Rz. 568; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl. 2014, Rz. 320.

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Weitergabe von Informationen, etwa Konsultation des Vorstandsvorsitzenden, präzisieren können.28 b) Aufsichtsrat Die Pflicht des Aufsichtsrats zur Verschwiegenheit ist durch § 116 Satz 2 AktG seit dem TransPuG besonders hervorgehoben, galt aber auch schon zuvor als Teil der vom Aufsichtsratsmitglied geschuldeten Treuepflichten.29 Die strenge Verschwiegenheitspflicht soll unter anderem die Funktionsfähigkeit des Aufsichtsrates durch die Möglichkeit der offenen Diskussion untereinander und mit dem Vorstand erhalten.30 An dieser Rechtslage hat das TransPuG durch Einführung des § 116 Satz 2 AktG nichts geändert;31 vielmehr ist die Ergänzung eine Reaktion auf eklatante Missstände des Bruchs der Vertraulichkeit im Aufsichtsrat.32 Die Verschwiegenheitspflicht gilt für alle Aufsichtsratsmitglieder gleichermaßen, ohne Rücksicht darauf, von wem sie in den Aufsichtsrat gewählt oder entsandt wurden.33 Insbesondere auch Arbeitnehmervertreter müssen die Vertraulichkeit wahren,34 ebenso wie Vertreter eines Großaktionärs,35 selbst wenn er 100 % an der AG halten sollte. Kein Vertreter einer Interessengruppe, seien es Anteilseigner-, Gewerkschafts- oder Bankenvertreter, darf mit Hilfe seiner Aufsichtsratsinformationen ein übergreifendes Informationssystem aufbauen, das etwa den Vergleich verschiedener Unternehmen zuließe. Auch institutionelle Aktionäre können nicht etwa geltend machen, dass sie zur Pflege ihres Portfolios detail28 BGH v. 5.6.1975 – II ZR 156/73, BGHZ 64, 325, 328; Lutter, Information und Vertraulichkeit im Aufsichtsrat, 3. Aufl. 2006, Rz. 697 ff.; für den Aufsichtsrat Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2013, § 116 AktG Rz. 51. 29 Lutter, Information und Vertraulichkeit im Aufsichtsrat, 3. Aufl. 2006, Rz. 408; Hüffer in FS Hoffmann-Becking, 2013, S.  589, 590; Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 116 AktG Rz. 9; Drygala in K.  Schmidt/Lutter, 3.  Aufl. 2015, §  116 AktG Rz.  29; Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 116 AktG Rz. 30; Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 116 AktG Rz. 48; Linker/Zinger, NZG 2002, 497, 502. 30 Buck-Heeb, WM 2016, 1469, 1471. 31 Spindler, ZIP 2011, 689, 690; Drygala in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 116 AktG Rz. 29; wie hier Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 116 AktG Rz. 1, 8, 52: Einfügungen durch das TransPuG dienen der Verdeutlichung. 32 Begr. RegE BT-Drucks. 14/8769, S. 18. 33 BGH v. 5.6.1975 – II ZR 156/73, BGHZ 64, 325, 330; Weninger, Mitbestimmungsspezifische Interessenkonflikte von Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat, 2011, S. 276 f.; Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 116 AktG Rz. 12; Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 116 AktG Rz. 11; Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 116 AktG Rz. 211; Schick in Wachter, 3. Aufl. 2018, § 116 AktG Rz. 9; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl. 2014, Rz. 254 ff.; E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 4 Aufl. 2018, Rz. 29.14. 34 Lutter, Information und Vertraulichkeit im Aufsichtsrat, 3. Aufl. 2006, Rz. 566; Mertens/ Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2013, § 116 AktG Rz. 39; Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 116 AktG Rz. 10; Drygala in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 116 AktG Rz. 29; Keilich/Brummer, BB 2012, 897, 898; Schiessl, AG 2002, 593, 596; Roth, Ges­ RZ-SH 2005, 12, 23 f. 35 Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 116 AktG Rz. 13.

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lierte Informationen bräuchten. Auch die Kommunikation mit Investoren unterfällt daher grundsätzlich der Verschwiegenheitspflicht. Maßstab für den Umfang der Verschwiegenheitspflicht ist auch für die Aufsichtsratsmitglieder das objektive Unternehmensinteresse.36 Die Öffnung des Aufsichtsrats für Informationsinteressen Außenstehender würde tendenziell zu einer restriktiven Informationspolitik des Vorstandes führen, die die Aufgabe des Aufsichtsrats wiederum erschweren kann. Der Geheimnisbegriff ist damit auch hier ein objektiver,37 wobei sich indes auch hier die Frage nach Spielräumen in der Legalitätspflicht stellt. Zwar bleibt der Vorstand zuständig, um das Unternehmensinteresse durch die Festlegung der Unternehmenspolitik zu konkretisieren, und damit „Herr der Gesellschaftsgeheimnisse“;38 doch kann in den eng zu definierenden Grenzen der ausschließlichen Zuständigkeit des Aufsichtsrats dieser ebenfalls das Unternehmensinteresse selbst definieren.39 Zu den vertraulichen Angaben zählen etwa die Stimmabgabe anderer Aufsichtsratsmitglieder oder Meinungsäußerungen in Organsitzungen,40 ferner sämtliche Beratungen und Informationen, die der Aufsichtsrat in seiner Eigenschaft als Organ erhält, einschließlich seiner Ausschüsse, Vorsitzenden und Stellvertreter.41 Im Hinblick auf Investor Relations erscheint es daher problematisch, wenn etwa Anforderungsprofile an Vorstandsmitglieder, das Vergütungssystem oder gar die Geschäftsverteilung im Vorstand mit Aktionären, erst recht mit Investoren diskutiert werden sollen, da hieraus schon Rückschlüsse auf strategische Entscheidungen und die Gewichtung bestimmter Sektoren oder Geschäftsfelder gezogen werden können42 – warum sonst sollten sich Investoren hierfür interessieren? Auch die Besetzung von Ausschüssen bzw. deren Kriterien kann Unternehmensgeheimnisse berühren. Bedenkt man, wie kurssensibel derartige Informationen sein können, lässt sich nicht nur aus kapitalmarkt-, sondern auch aus aktienrechtlicher Sicht ermessen, dass derartige Informationen eher die Ausnahme sein werden.

36 So BGH v. 5.6.1975 – II ZR 156/73, BGHZ 64, 325, 329; BGH v. 6.3.1997 – II ZB 4/96, NJW 1997, 1985, 1987; Lutter, Information und Vertraulichkeit im Aufsichtsrat, 3. Aufl. 2006, Rz. 415 ff.; Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 116 AktG Rz. 55; Wiesner in MünchHdb. AG, 4. Aufl. 2015, § 25 Rz. 48; Linker/Zinger, NZG 2002, 497, 502; Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 93 AktG Rz. 30; im Ergebnis auch Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 283. 37 Lutter, Information und Vertraulichkeit im Aufsichtsrat, 3. Aufl. 2006, Rz. 409. 38 So BGH v. 5.6.1975 – II ZR 156/73, BGHZ 64, 325, 329; s. auch Klein, AG 1982, 7, 9. 39 Krit. und auf die Gefahren zu Recht hinweisend Koch, AG 2017, 129, 139. 40 BGH v. 5.6.1975 – II ZR 156/73, BGHZ 64, 325, 332; Rittner in FS Hefermehl, 1976, S. 365, 371; Säcker, NJW 1986, 803, 806 f.; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2013, § 116 AktG Rz. 49; Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 116 AktG Rz. 57; Drygala K.  Schmidt/Lutter, 3.  Aufl. 2015, §  116 AktG Rz.  35; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl. 2014, Rz. 265 ff. 41 BGH v. 5.6.1975 – II ZR 156/73, BGHZ 64, 325, 330 ff.; Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 116 AktG Rz. 9; Hoffmann-Becking in MünchHdb. AG, 4. Aufl. 2015, § 33 Rz. 63; Priester, ZIP 2011, 2081, 2083. 42 Dies hält aber Bachmann in VGR 22 (2016), 135, 174 f. für unproblematisch.

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In diesem Rahmen entscheidet der Aufsichtsrat als Gesamtorgan allein darüber, ob Vorgänge, die ausschließlich aus seiner Sphäre stammen, z.B. Bestellung und Anstellung des Vorstandes, an Investoren mitgeteilt werden;43 der Aufsichtsratsvorsitzende kann nicht für sich selbst entscheiden, ob er der Verschwiegenheitspflicht unterliegt.44 Ein entsprechender Beschluss muss sich aber, wie sonst auch, am Unternehmensinte­ resse orientieren; im Rahmen der Legalitätspflicht genießt der Aufsichtsrat hier einen gewissen Beurteilungsspielraum.45 Wie beim Vorstand auch, kann der Aufsichtsrat im Rahmen seiner Kompetenzen aber Richtlinien beschließen, mit denen Hinweise auf die einzuhaltende Vertraulichkeit gegeben werden,46 ebenso zur Abgrenzung der Kommunikationskompetenzen zwischen Aufsichtsrat und Vorstand (z.B. im Hinblick auf Investor Relations), ohne dass diese indes Bindungswirkung gegenüber ­einem Gericht entfalten würden. Neben materiell-rechtlichen Hinweisen sind ins­ besondere verfahrensrechtliche Regeln möglich und auch empfehlenswert, z.B. die vorherige Rücksprache mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden. Gleiches gilt für Abstimmungen zwischen Aufsichtsrat und Vorstand bei Gesprächen mit potentiellen Investoren. Es handelt sich dabei um keine Verschärfung des gesetzlichen Verschwiegenheitsgebots, sondern um eine Konkretisierung der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht des einzelnen Aufsichtsratsmitglieds.47 2. Information anderer Aktionäre (§ 131 Abs. 4 AktG) Das AktG kennt keine spezifischen Kommunikationsprivilegien für bestimmte Aktionäre oder Gruppen, ebenso wenig wie für Dritte. Deutlicher Ausdruck dieser Gleichbehandlung und als Ausfluss der im AktG 1965 niedergelegten Aktionärsdemokratie ist neben §  53a AktG48 der nachlaufende Auskunftsanspruch nach §  131 Abs.  4 AktG.49 Das allgemeine Gleichbehandlungsgebot, was unter Umständen noch Differenzierungen zulassen könnte, wird hinsichtlich der Kommunikationsordnung hier 43 A.A. Wilsing/von der Linden, ZHR 178 (2014), 419, 433 f.: Sachliche Zuständigkeit resultiere nicht schon allein daraus, dass der Vorgang aus Innensphäre des Aufsichtsrats stammt. 44 Kritisch aber Koch, AG 2017, 129, 139: grundsätzlich nur Vorstand. 45 Wilsing/von der Linden, ZHR 178 (2014), 419, 435. 46 BGH v. 5.6.1975 – II ZR 156/73, BGHZ 64, 325, 328; ausf. Lutter, Information und Vertraulichkeit im Aufsichtsrat, 3.  Aufl. 2006, Rz.  697  ff.; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2013, § 116 AktG Rz. 51; Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 116 AktG Rz. 232; Drygala in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 116 AktG Rz. 29; Israel in Bürgers/ Körber, 4. Aufl. 2017, § 116 AktG Rz. 20; Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, §  116 AktG Rz.  69; E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 4. Aufl. 2018, Rz. 29.21. 47 Säcker in FS Fischer, 1979, S.  635, 646 f.; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2013, § 116 AktG Rz. 51; Lutter, Information und Vertraulichkeit im Aufsichtsrat, 3. Aufl. 2006, Rz. 697 ff. 48 Zur Bedeutung im Rahmen des Investorendialogs Bachmann in VGR 22 (2016), 135, 164 ff. 49 Begr. RegE Kropff, Aktiengesetz,1965, S. 187; Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 147; Butzke, Die Hauptversammlung der Aktiengesellschaft, 5. Aufl. 2011, Rz.  G  86; kritisch bezüglich der Erreichung dieses Zwecks Hüffer/Koch, 13.  Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 76; restriktiver Verse, Der Gleichbehandlungsgrundsatz im Recht der Kapitalgesellschaften, 2006, S. 510 f.: nur wenn § 53a AktG verletzt werde.

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durch das AktG eindeutig präzisiert.50 Dieser Anspruch ist anders als nach §  131 Abs. 1 Satz 1 AktG selbst auf solche Auskünfte gerichtet, die nicht zur sachgemäßen Beurteilung des Gegenstands der Tagesordnung erforderlich sind. Darüber hinaus ist dem Vorstand nach § 131 Abs. 4 Satz 2 AktG die Berufung auf die Auskunftsverweigerungsgründe der § 131 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 bis 4 AktG verschlossen. Damit soll ein durch Auskünfte an einzelne Aktionäre außerhalb der Hauptversammlung geschaffenes Informationsgefälle gegenüber anderen Aktionären ausgeglichen werden.51 Die praktische Bedeutung von § 131 Abs. 4 AktG ist allerdings gering,52 da die meisten Aktionäre an der Information bzw. der Auskunft erst in der nächsten Hauptversammlung nur ein vermindertes Interesse haben.53 Zudem muss der Aktionär die Voraussetzungen des Anspruchs darlegen und beweisen, § 131 Abs. 4 Satz 1 AktG;54 die bloße Behauptung des Aktionärs, dass Auskünfte außerhalb der Hauptversammlung i.S.v. § 131 Abs. 4 Satz 1 AktG erteilt wurden, ist nicht ausreichend.55 Pauschale Fragen eines Aktionärs, ob und ggf. welche Auskünfte vorab einem anderen Aktionär gegeben worden sind (sog. Ausforschungsfragen), sind grundsätzlich am Maßstab des § 131 Abs. 1 Satz 1 AktG zu messen, mit der Folge, dass sie in der Praxis überwiegend nicht vom Vorstand zu beantworten sind, da ihnen regelmäßig die Erforder­ lichkeit zur sachgemäßen Beurteilung eines Tagesordnungspunkts fehlen wird.56 Ein allgemeiner „Ausforschungs“-Auskunftsanspruch, gerichtet auf die Preisgabe der Gespräche mit Investoren, scheidet damit aus. Schließlich wird gerade bei börsennotierten Gesellschaften die zeitnahe Information eher durch Vorschriften des WpHG über die Ad-hoc-Publizität realisiert.57 50 Anders wohl Bachmann in VGR 22 (2016), 135, 164 ff. und Fleischer, ZGR 2009, 505, 525 f., die eine privilegierte Informationsversorgung eines wichtigen Aktionärs zumindest für erwägenswert halten; dies lässt sich indes mit dem in § 131 Abs. 4 AktG zum Ausdruck kommenden Gedanken nicht in Einklang bringen. 51 Ebenso Kubis in MünchKomm. AktG, 4.  Aufl. 2018, §  131 AktG Rz.  147; Hüffer/Koch, 13 Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 70; Siems in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 131 AktG Rz. 72. 52 Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 70; Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 147; Decher in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2008, § 131 AktG Rz. 335; Siems in Spindler/Stilz, 4.  Aufl. 2019, §  131 AktG Rz.  73; Butzke, Die Hauptversammlung der Aktiengesellschaft, 5. Aufl. 2011, Rz. G 85. 53 Siems in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 131 AktG Rz. 73; Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 147. 54 Kubis in MünchKomm. AktG, 4.  Aufl. 2018, §  131 AktG Rz.  151; skeptisch daher auch Bachmann in VGR 22 (2016), 135, 169. 55 BGH v. 29.11.1982 – II ZR 88/81, BGHZ 86, 1, 7; OLG Frankfurt v. 16.5.1966 – 31 O 63/66, AG 1968, 24; Decher in Großkomm. AktG, 4.  Aufl. 2008, §  131 AktG Rz.  360; Siems in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 131 AktG Rz. 80. 56 Wie hier OLG Dresden v. 1.12.1998 – 7 W 426/98, AG 1999, 274, 275 f.; LG München I v. 28.8.2008 – 5 HK O 12861/07, ZIP 2008, 2124 = AG 2008, 904,- juris - Rz. 338; LG München I v. 24.4.2008 – 5 HK O 23244/07, ZIP 2008, 1635, - juris - Rz. 363; LG Düsseldorf v. 25.3.1992 – 34 AktE 6/91 – „Feldmühle Nobel/Stora“, AG 1992, 461, 462; Hoffmann-Becking in FS Rowedder, 1994, S. 155, 159 ff.; Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 157 (ausführlich); Decher in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2008, § 131 AktG Rz. 360; zurückhaltender Kersting in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 131 AktG Rz. 460 ff. 57 Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 147.

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Zuständig für die Auskunftserteilung als Geschäftsführungsmaßnahme ist allein der Vorstand, sodass sich § 131 Abs. 4 AktG allein auf solche Auskünfte bezieht.58 Unautorisierte Auskünfte von Aufsichtsräten oder Mitarbeitern sind nicht dazu geeignet, einen Auskunftsanspruch nach § 131 Abs. 4 AktG zu begründen. Die Auskunft muss deren Empfänger gerade im Hinblick auf seine Eigenschaft als Aktionär erteilt worden sein;59 Auskünfte gegenüber Dritten werden daher von vornherein nicht von § 131 Abs. 4 AktG erfasst, mithin nicht Auskünfte an potentielle Investoren. Erkennt man allerdings eine Annexkompetenz des Aufsichtsrats für Gespräche mit Aktionären oder Dritten an, kann § 131 Abs. 4 AktG nicht mehr auf die Auskunftserteilung durch den Vorstand verengt werden – denn dies beruht auf der Annahme der alleinigen Zuständigkeit durch den Vorstand, die eben durch eine solche Annexkompetenz durchbrochen wird, so dass folglich auch der Anspruch nach § 131 Abs. 4 AktG zu erweitern ist.60 Auch der DCGK (2017) geht in Ziff. 6.1 im Rahmen einer Comply-or-Explain-Empfehlung davon aus, dass durch die Gesellschaft „unverzüglich sämtliche wesentliche neuen Tatsachen, die Finanzanalysten und vergleichbaren Adressaten mitgeteilt worden sind, zur Verfügung“ gestellt werden müssen. Im Rahmen dieser Empfehlung ist es im Gegensatz zu § 131 Abs. 4 AktG gleichgültig, ob Vorstand oder Aufsichtsrat (!) einem einzelnen Aktionär oder einem Investor Auskünfte erteilt haben;61 denn der Unterschied zwischen einem Finanzanalysten und einem Investor ist marginal. Ein Anspruch des einzelnen Aktionärs auf Informationserteilung an sich selbst auch außerhalb der Hauptversammlung lässt sich weder aus § 131 Abs. 4 AktG noch aus dem Grundsatz der gleichmäßigen Behandlung aller Aktionäre nach § 53a AktG begründen,62 da § 131 AktG als spezielle Ausformung insoweit den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz überlagert.63 3. Die Kompetenz zur Kommunikation Sind den Organen damit überhaupt Gespräche mit Aktionären und (potentiellen) Investoren gestattet, stellt sich die Frage, wer letztlich die Kompetenz zur Kommunikation innehat und wer darüber entscheidet, ob Mitteilungen und Gespräche zulässig sind. 58 LG Frankfurt/M. v. 16.2.2016  – 3-05 O 132/15, ZIP 2016, 1535; Decher in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2008, § 131 AktG Rz. 341; Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 74. 59 Kersting in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 131 AktG Rz. 430, 436 ff.; Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 151. 60 Ebenso Koch, AG 2017, 129, 138; Fleischer/Bauer/Wansleben, DB 2015, 360, 364. 61 Zutr. Koch, AG 2017, 129, 138 sowie Fleischer/Bauer/Wansleben, DB 2015, 360, 364 gegen Hirte/Hopt/Matheus, AG 2016, 725, 739. 62 Ebenso Hoffmann-Becking in FS Rowedder, 1994, S.  155, 157  ff.; Decher in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2008, § 131 AktG Rz. 363; Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 76; Siems in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 131 AktG Rz. 85 mit dem Vorschlag der Einführung eines solchen Anspruches de lege ferenda. 63 Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 76; Decher in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2008, § 131 AktG Rz. 363.

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a) Vorstand Ausgangspunkt ist zunächst, dass die Kompetenz zur Investorenkommunikation zunächst grundsätzlich beim Vorstand liegt, da er allein für die Repräsentanz und Leitung der AG nach außen zuständig ist. Dies schließt – wie noch zu zeigen sein wird – bestimmte Ausnahmen zugunsten des Aufsichtsrats nicht aus, doch ändert dies nichts am Prinzip, dass der Vorstand Herr der Geschäftsgeheimnisse ist.64 Innerhalb des Vorstands gehört die Entscheidung über die Offenbarung eines Geheimnisses zur laufenden Geschäftsführung und kann daher grundsätzlich von einem einzelnen Vorstandsmitglied im Rahmen seines Geschäftsbereichs allein getroffen werden,65 es sei denn, dass das Geheimnis von entscheidender Bedeutung für die Gesellschaft ist.66 Allerdings hängt dies entscheidend davon ab, welche Bedeutung die geheimzuhaltende Information für die Gesellschaft hat: Handelt es sich um für das gesamte Unternehmen bedeutsame Informationen, z.B. eine bestimmte Produktpolitik oder Strategie, muss der Gesamtvorstand aufgrund der Bedeutung entscheiden. Da das AktG keine besondere Stellung des Vorstandsvorsitzenden kennt, kann dieser auch nicht allein über die Offenbarung von Informationen mit Wirkung für den Gesamtvorstand entscheiden.67 b) Aufsichtsrat und Aufsichtsratsvorsitzender Ob dem Aufsichtsrat oder dem Aufsichtsratsvorsitzenden eine Kompetenz für in­ formelle Gespräche mit institutionellen Investoren zusteht oder ob dies allein dem Vorstand als Vertretungsorgan obliegt, bleibt nach wie vor umstritten. So wird teilweise jegliche Kompetenz des Aufsichtsrats zur Kommunikation mit Aktionären und Investoren bestritten,68 teilweise eine Verengung dieser Kompetenz nur auf den Aufsichtsratsvorsitzenden.69 Richtigerweise ist dem Aufsichtsrat eine beschränkte Kompetenz zur Kommunikation mit institutionellen Investoren über aufsichtsrats64 So BGH v. 5.6.1975 – II ZR 156/73, BGHZ 64, 325, 329; BGH v. 26.4.2016 – XI ZR 108/15, NJW 2016, 2569, 2571; dem folgend Fleischer in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 169; Rubner, KSzW 2011, 412, 413. 65 Körber in Fleischer, Handbuch des Vorstandsrechts, 1. Aufl. 2006, § 10 Rz. 20; Fleischer in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 169; v. Stebut, Geheimnisschutz und Verschwiegenheitspflicht im Aktienrecht, 1972, S. 109; Linker/Zinger, NZG 2002, 497, 498; Lutter, ZIP 2007, 841. 66 Gl. Ansicht Körber in Fleischer, Handbuch des Vorstandsrechts, 1. Aufl. 2006, § 10 Rz. 20; Fleischer in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 169; K. J. Müller, NJW 2000, 3452, 3453. 67 Spieker, NJW 1965, 1937, 1939. 68 Selter, Die Beratung des Aufsichtsrats und seiner Mitglieder, 2014, Rz. 332; Lutter, Information und Vertraulichkeit im Aufsichtsrat, 3.  Aufl. 2006, Rz.  401  ff.; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6.  Aufl. 2014, Rz.  284; E. Vetter, AG 2016, 873; ­Weber-Rey, NZG 2013, 766, 768; Hexel, Der Aufsichtsrat 2014, 121; eingehend zur derzeitigen Rechtslage: Koch, AG 2017, 129: „Für einen institutionellen Dialog zwischen Investor und Aufsichtsrat ist de lege lata kein Raum“. 69 Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 111 AktG Rz. 34b.

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spezifische Themen zuzugestehen.70 Zwar liegt die Kompetenz zur Investorenkommunikation zunächst grundsätzlich beim Vorstand, der als geschäftsführungs- und vertretungsberechtigtes Organ grundsätzlich über die Weitergabe unternehmensinterner Daten zu entscheiden hat („one-voice-principle“).71 Doch wäre es widersinnig, dem Vorstand die Kommunikationshoheit über Themen zu überlassen, die seiner Kompetenz in der Sache ohnehin entzogen sind.72 Wie der Vorstand Informationen über die Binnenstruktur des Aufsichtsrats oder (nicht geheimhaltungsbedürftige) Einzelfragen, etwa zu Zustimmungsvorbehalten, mit Aktionären oder Investoren ­austauschen können sollte, obwohl er nicht zuständig ist, ist kaum nachvollziehbar. Dafür spricht auch, dass zumindest dem Aufsichtsratsvorsitzenden gegenüber der ­Öffentlichkeit kein absolutes Kommunikationsverbot obliegt,73 solange er sich im Rahmen der Verschwiegenheitspflicht hält. Die Kompetenz des Aufsichtsrats zur Kommunikation über die ihn betreffenden Themen stellt ein Annex zu seiner aktienrechtlichen Aufgabenzuweisung dar74 – stellt aber gleichzeitig auch die Grenze der zulässigen Kommunikation (abgesehen von der Verschwiegenheitspflicht) dar. Dieses Vorgehen hat nun auch Eingang in Ziff. 5.2 DCGK (2017) gefunden75 – auch wenn es sich nicht um eine Comply-or-Explain-Empfehlung, sondern um eine reine Anregung handelt.76 Wie im Grundsatz auch die von der Initiative „Developing Shareholder Communication” entwickelten Leitsätze vorsehen, können die Themen der Kommunikation ausschließlich die der allgemeinen Aufsichtsratszuständigkeit betreffen.77 Allerdings ist damit der zulässige Kreis der Kommunikation eng umrissen: So zählt die Überwachung des Vorstandes nicht zu den Gegenständen, über die 70 Bommer/Steinbach, BOARD 2013, 219, 222; Bortenlänger, BOARD 2014, 71, 72; Drinhausen/Marsch-Barner, AG 2014, 337; Fleischer/Bauer/Wansleben, DB 2015, 360; Hirt/Hopt/ Mattheus, AG 2016, 725; Grunewald, ZIP 2016, 2009, 2010 f.; Roth, ZGR 2012, 343, 368; Drygala in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 107 AktG Rz. 25. 71 BGH v. 26.4.2016 – XI ZR 108/15, NJW 2016, 2569, 2571; Lutter, Information und Vertraulichkeit im Aufsichtsrat, 3. Aufl. 2006, Rz. 562, 591; v. Stebut, Geheimnisschutz und Verschwiegenheitspflicht im Aktienrecht, 1972, S.  98; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2013, § 116 AktG Rz. 46 f.; Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 116 AktG Rz. 65; Linker/Zinger, NZG 2002, 497, 502. 72 Ähnlich auch Grunewald, ZIP 2016, 2009, 2010 f.; Leyendecker-Langer NZG 2015, 44, 45; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2013, § 107 AktG Rz. 61. 73 Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2013, § 107 AktG Rz. 61; Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 107 AktG Rz. 95; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl. 2014, Rz. 513.  74 Schaper, AG 2018, 356, 357; Hirt/Hopt/Mattheus, AG 2016, 725, 733; Leyendecker-Langer, NZG 2015, 44, 45; Fleischer/Bauer/Wansleben, DB 2015, 360 ff.; im Prinzip auch Bachmann in VGR 22 (2016), 135, 155 auf der Grundlage einer Rechtsfortbildung; grundsätzlich auch Koch, AG 2017, 129, 133 f.: Rechtsfortbildung. 75 Mense/Klie, BB 2017, 771, 772 ff. 76 Zu der Aufnahme in den DCGK: E. Vetter, AG 2016, 873; Wilsing/von der Linden, DStR 2017, 1046, 1047; Koch, AG 2017, 129; Mense/Klie, GWR 2017, 1; Mense/Klie, BB 2017, 774; Nikoleyczik/Graßl, NZG 2017, 161; Stellungnahme des DAV-Handelsrechtsausschusses NZG 2017, 57. 77 Leitsätze für den Dialog zwischen Investor und Aufsichtsrat, Fassung vom 5.7.2016, Präambel, S. 3, https://www.dai.de/files/dai_usercontent/dokumente/pressemitteilungen/2016-​07-​

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sich der Aufsichtsrat mit Investoren austauschen darf, ebenso wenig die Beratung des Vorstands in Strategiefragen, auch wenn dies eine seiner Kernkompetenzen darstellt; denn hier ist unmittelbar die Leitung durch den Vorstand betroffen, mithin die Außendarstellung der Gesellschaft.78 Auch die Gewinnverwendung oder die Unternehmensfinanzierung gehören nicht zu den Bereichen, in denen der Aufsichtsrat eigenständig mit Investoren Gespräche führen kann79 – selbst wenn der Vorstand diese Fragen nicht als geheimhaltungsbedürftig einstuft oder das Unternehmensinteresse für Gespräche mit Aktionären oder Investoren spräche. Damit verbleiben nur die Kernkompetenzen des Aufsichtsrats, etwa dessen Binnenstruktur, die Auswahl von Abschlussprüfern; schon aber die Festlegung von Zustimmungsvorbehalten kann Teil der Unternehmensstrategie darstellen und bedarf zumindest der engen Abstimmung mit dem Vorstand. In keinem Fall ist jedoch die Hauptversammlung befugt, Entscheidungen über die Offenbarung vertraulicher Informationen zu treffen.80

III. Kapitalmarktrechtliche Publizität und Schranken 1. Insiderhandel Auch aus Art. 14 lit. c. MMVO ergeben sich für Vorstandsmitglieder ebenso wie für Aufsichtsratsmitglieder als Insider Verschwiegenheitspflichten, die sich allerdings nur auf kursrelevante Informationen beziehen und nicht den Schutz der Gesellschaft bezwecken, sondern des Kapitalmarktes, somit neben den aktienrechtlichen Verschwiegenheitspflichten stehen.81 Maßgeblich ist nur, ob die Information kursrelevant und nicht bereits öffentlich bekannt ist. Gespräche mit potentiellen Investoren und Aktionären dürften aber oftmals gerade auf solche Informationen abzielen, zu denen z.B. auch schon Einschätzungen der Marktlage, Personalien, etwaige drohende Strafzahlungen aufgrund von Gesetzesverstößen oder der Unternehmensstrategie zählen können;82 an bereits öffentlichen Informationen dürften Aktionäre und Investoren wenig Interesse zeigen, da hier der Informationsvorteil entfiele.83 Zu diesen Insiderinformationen können nach der Rechtsprechung des EuGH auch die bereits existieren05%20Leitsaetze%20fuer%20den%20Dialog%20zwischen%20Investor%20und%20Auf​ sichtsrat.pdf, zuletzt abgerufen am 10.2.2019; Bommer/Steinbach, BOARD 2013, 219, 222. 78 Ebenso Koch, AG 2017, 129, 133 f.; zweifelnd auch Schaper, AG 2018, 356, 358; Bachmann in VGR 22 (2016), 135, 175. 79 Koch, AG 2017, 129, 134. 80 BGH v. 26.4.2016 – XI ZR 108/15, NJW 2016, 2569, 2569; Buck-Heeb, WM 2016, 1469, 1472. 81 Einzelheiten bei Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 7. Aufl. 2019, Art. 14 VO Nr. 596/2014 Rz. 1 ff., 8; Klöhn in Klöhn, 1. Aufl. 2018, Art. 14 MMVO Rz.  6; Schwark/Kruse in Schwark/Zimmer, 4.  Aufl. 2010, §  14 WpHG Rz.  39  ff.; U. H. Schneider in FS Wiedemann, 2002, S. 1255 ff.; Veil, ZHR 172 (2008), 239, 260 ff.; Federlein, Informationsflüsse in der Aktiengesellschaft im Spannungsverhältnis zum kapitalmarktrechtlichen Verbot der unbefugten Weitergabe von Insidertatsachen, 2004, S. 90, 111. 82 Bachmann in VGR 22 (2016), 135, 162; Klöhn in Klöhn, 1. Aufl. 2018, Art. 7 MMVO Rz. 406. 83 Klöhn in Klöhn, 1. Aufl. 2018, Art. 7 MMVO Rz. 122; zur Qualifikation der Information als „nicht öffentlich bekannt“ Mennicke/Jakovou in Fuchs, 2. Aufl. 2016, § 13 WpHG Rz. 77 ff.; Klöhn in Klöhn, 1. Aufl. 2018, Art. 7 MMVO Rz. 123 ff.

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den, eingetretenen oder mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Zwischenschritte im Rahmen eines mehrstufigen Entscheidungsprozesses und nicht nur der Umstand bzw. das Ereignis am Ende des zeitlich gestreckten Vorganges selbst gehören,84 was in Art. 7 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 MMVO kodifiziert wurde.85 Eine Information ist gemäß Art. 7 Abs. 4 MMVO kurserheblich, wenn ein verständiger Anleger sie wahrscheinlich als Teil der Grundlage seiner Anlageentscheidung nutzen würde.86 Dies lässt sich ex ante schwer abschätzen,87 so dass Organmitglieder hier ein erhebliches Haftungsrisiko eingehen, wenn sie sich auf die fehlende Kurserheblichkeit verlassen. Demgemäß ergeben sich aus dem Insiderrecht enge Grenzen des nicht-öffentlichen Investorendialogs, jedenfalls für börsennotierte Aktiengesellschaften.88 2. Ad-hoc-Publizität Quasi die Kehrseite der Verschwiegenheitspflicht ist die kapitalmarktrechtliche Pflicht zur Ad-hoc-Publizität und ihrer Beschränkung (Art. 17 Abs. 1 Abs. 1 MMVO bzw. § 26 WpHG), und zwar sowohl für Vorstands- wie auch Aufsichtsratsmitglieder – was bisweilen in der Diskussion wenig berücksichtigt wird. Bekanntlich ist hier das Geheimhaltungsinteresse der Gesellschaft nachrangig, es kann allenfalls durch eine Aufschiebung (auf eigene Verantwortlichkeit) gemäß Art. 17 Abs. 4, Abs. 5 MMVO gewahrt werden, wenn die Ad-hoc-Publizität geeignet ist, den berechtigten Interessen der Emittenten oder den Kapitalmarkt zu schaden, also im Falle besonderer Interessen, wie schwebenden Sanierungsverhandlungen.89 Auch bei gestreckten Vorgängen gilt für Zwischenschritte die Veröffentlichungspflicht gemäß Art. 17 Abs. 1 MMVO.

84 EuGH v. 28.6.2012 – Rs C-19/11, ZIP 2012, 1282, 1284; Vorlage von BGH v. 22.11.2010 – II ZB 7/09, ZIP 2011, 72; Hasselbach/Peters, BB 2017, 1347, 1352; Zetzsche, AG 2015, 381, 384 ff.; Seibt/Cziupka, AG 2015, 93, 98 ff.; Söhner, BB 2017, 259, 260 f.; Klöhn, AG 2016, 423, 428 f.; zust. Wilsing/Goslar, DStR 2012, 1709, 1710 f.; Drinhausen/Marsch-Barner, AG 2014, 337, 348. 85 Erwägungsgrund 16 MMVO; Klöhn in Klöhn, 1. Aufl. 2018, Art. 7 MMVO Rz. 17; Dinter/ David, ZIP 2017, 893, 899 f.; Hasselbach/Peters, BB 2017, 1347, 1352; Kohler/Seyr/Maderbacher, ZEuP 2017, 431, 448; Wachenfeldt-Teschner/Royla, WPg 2017, 259, 260; Klöhn, AG 2016, 423, 426, 428 f.; Kumpan, DB 2016, 2039, 2041 f.; Poelzig, NZG 2016, 528, 531 ff. 86 Entgegen der wohl früher herrschenden Ansicht ist die Kurserheblichkeit nicht an einem starren Grenzwert von mind. 5 % des Kursniveaus zu messen, Mennicke/Jakovou in Fuchs, 2. Aufl. 2016, § 13 WpHG Rz. 146 f.; Klöhn in Klöhn, 1. Aufl. 2018, Art. 7 MMVO Rz. 176; so aber noch Koch, AG 2017, 129, 137 m.w.Nachw. 87 Klöhn in Klöhn, 1. Aufl. 2018, Art. 7 MMVO Rz. 244. 88 So auch Bachmann in VGR 22 (2016), 135, 162. 89 Klöhn in Klöhn, 1. Aufl. 2018, Art. 17 MMVO Rz. 203 ff., 207; zwar noch zur alten Rechtslage (§ 15 Abs. 3 WpHG a.F.), allerdings aufgrund der Normierung der Möglichkeit einer Aufschiebung der Offenlegung in Art. 17 Abs. 4 MMVO auf neue Rechtslage übertragbar: U. H. Schneider/Gilfrich, BB 2007, 53; Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 7. Aufl. 2019, Art. 17 VO Nr. 596/2014 Rz. 113; Klöhn in KölnKomm. WpHG, 2. Aufl. 2014, § 15 WpHG Rz. 189 f.; zu § 15 Abs. 1 Satz 2 WpHG a.F. Wittich, AG 1997, 1, 4; Fürhoff/Wölk, WM 1997, 449, 458.

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Im Rahmen der Kompetenzen des Aufsichtsrats kann dieser durch den Beschluss des Plenums90 eine Selbstbefreiung von der Ad-hoc-Publizitätspflicht nach Art. 17 Abs. 4 MMVO beschließen, sofern Gewissheit besteht, dass eine Irreführung der Öffentlichkeit nicht zu befürchten ist und dass der Emittent die Vertraulichkeit der Information gewährleisten kann.91 Bei gestreckten Entscheidungsabläufen, im Rahmen derer der Aufsichtsrat durch einen Zustimmungsvorbehalt abgeschwächt an der Geschäftsführung partizipiert, verbleibt die Zuständigkeit zur Selbstbefreiungsentscheidung beim Vorstand; eine Selbstbefreiungsentscheidung kann dem Aufsichtsrat nur dann zukommen, falls seine Entscheidung selbst eine Insiderinformation darstellt.92 Sind daher bei Investor Relation Gesprächen den Aktionären und potentiellen Investoren Informationen von Kursrelevanz mitgeteilt worden, so wird in aller Regel die Pflicht bestehen, diese Informationen öffentlich zu machen im Rahmen der Ad-hoc-­ Publizität. Es wäre kaum zu rechtfertigen, dass solche Informationen als gegenüber der Öffentlichkeit geheimhaltungsbedürftig eingestuft werden, nicht aber gegenüber diesem Personenkreis, der nicht zu beruflichen Geheimnisträgern gehört und auch nicht in einem bestimmten Funktionszusammenhang unterrichtet wird. Die Annahme eines Interesses der Gesellschaft nur an selektiver Weitergabe von Informationen verträgt sich nicht mit dem grundsätzlich auf Markttransparenz ausgerichteten Pflichten nach Art. 17 MMVO. Allenfalls im Rahmen einer Unternehmensübernahme oder einer Kapitalerhöhung vorbereitender Maßnahme wären derartige Unterschiede und mithin ein Aufschub denkbar.93

IV. Fazit: Gesetzgeberischer Handlungsbedarf? Zieht man ein Fazit de lege lata, zeigt sich, dass die ursprünglichen Vorstellungen einer klar definierten Grenze der Kommunikation und Vertraulichkeit, einer deutlichen Unterscheidung zwischen Organen und Markt bzw. Aktionärsgesamtheit zunehmend unter „Beschuß“ geraten zugunsten einer auf Investoren ausgerichteten Auskunftspolitik. Zwar deuten sowohl die aktienrechtlichen als auch die kapitalmarktrechtlichen Pflichten daraufhin, dass jegliche Informationen an alle (bzw. den Markt) gleichermaßen veröffentlicht werden müssen; doch besteht offenbar ein Bedürfnis in der Praxis für „Sonder“-Informationen von Investoren. Ob diesem Bedürfnis nachzugeben ist, erscheint indes keineswegs ausgemacht; jedenfalls für die börsennotierte AG bzw. am Kapitalmarkt tätige AG würde die Annahme einer solchen gruppen- bzw. personenspezifischen Informationspolitik alle bisherigen Erkenntnis90 Mülbert in FS Stilz, 2014, S. 411, 412 ff. 91 Zimmer/Kruse in Schwark/Zimmer, 4. Aufl. 2010, § 15 WpHG Rz. 52 ff.; auch unter Berücksichtigung der Veröffentlichungspflicht für Zwischenschritte bei mehrstufigen Entscheidungsprozessen Groß in FS Schneider, 2011, S. 385, 390 ff. 92 Mülbert in FS Stilz, 2014, S. 411 424 f. 93 Dahingehend Klöhn in Klöhn, 1. Aufl. 2018, Art. 17 MMVO Rz. 198, 201, wonach die Geschäftschance einer laufenden Verhandlung ein berechtigtes Interesse darstellt und daher von Art. 17 Abs. 4 MMVO geschützt wird.

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se und das Dogma der möglichst weitgehenden Transparenz der Märkte in Frage stellen.94 Will man Investor Relation dennoch in gewissen Grenzen zulassen, bedarf es der Schaffung von Möglichkeiten, aber auch Pflichten der AG, dass andere interessierte Aktionäre an derartigen Gesprächen zumindest elektronisch teilnehmen können95 und sie nicht hiervon ausgeschlossen werden können. Ob hierfür die immer wieder angemahnte Schaffung einer Kommunikationsordnung96 allein Abhilfe schaffen kann, erscheint angesichts der rechtlichen Grundlagen der aktienrechtlichen Schweigepflichten und gleichberechtigten Informationsteilhabe der Aktionäre zweifelhaft; eine klare aktienrechtliche Grundlage als Ergänzung zu § 131 Abs. 4 AktG unter Ausschluss der Hindernisse (wie die nötigen Darlegungs- und Beweislasten) und die sich nicht auf die Hauptversammlung beschränkt, sondern das elektronische Aktionärsforum einbezieht, erschiene hier sinnvoller. Hinsichtlich von Investoren sollte es bei der ad-hoc-Publizität bleiben, die – wie dargelegt – jedenfalls bei kursrelevanten Informationen eine Pflicht zur Information der Kapitalmärkte ergeben wird. Schlussendlich wird es auch hier bei der „Aktienrechtsreform in Permanenz“ bleiben.

94 Klöhn in Klöhn, 1. Aufl. 2018, Art. 17 MMVO Rz. 5 ff. 95 Ebenso Bachmann in VGR 22 (2016), 135, 168, 170; der Öst. CG-Kodex schreibt bspw. in Ziff. 75 vor: „Die Gesellschaft hält regelmäßig […] Conference Calls oder ähnliche Informationsveranstaltungen für Analysten und Investoren ab. Dabei sind zumindest die verwendeten Informationsunterlagen (Präsentationen) über die Website der Gesellschaft dem Publikum zugänglich zu machen.“ 96 Koch in Fleischer/Koch/Kropff (Hrsg.), 50 Jahre Aktiengesetz, 2016, S. 65, 92; Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 111 AktG Rz. 34b; krit. Hirt/Hopt/Mattheus, AG 2016, 725, 735.

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Legal Design – Skizze einer Theorie der Rechtsgestaltung Inhaltsübersicht I. Worum geht es – und worum nicht? II. Legal Design – ein tauglicher Begriff? 1. Design 2. Rechtsgestaltung als Design a) Positivität, Wertungsabhängigkeit und Sprachlichkeit des Rechts b) Rechtsgestaltung als Prozess: Design und Redesign III. Legal Designer 1. Viele Designer 2. Gesetzgeber 3. Gerichte 4. Exekutive 5. Nicht-staatliche Kommissionen und ­Institute

6. Rechtsanwälte und Notare 7. Rechtswissenschaft IV. Anforderungen an ein „well designed law“ 1. Prämissen 2. Rechtskonformität 3. Tatsachengrundlage und Wert­ entscheidung 4. Praktikabilität und Effizienz 5. Verständlichkeit 6. Transparenz der Wertungen ­(Kommunikation) 7. Widerspruchsfreiheit und ­Wertungskonsistenz V. Schlusswort

„Design is the intermediary between information and understanding.“ Richard Grefé

I. Worum geht es – und worum nicht? Ulrich Seibert hat in seiner Funktion als Referent und Referatsleiter im BMJ bzw. BMJV das deutsche Kapitalgesellschaftsrecht in den letzten (fast) drei Jahrzehnten entscheidend mitgeprägt. Ob „Aktienrechtsreform in Permanenz“1 oder „Modernisierung des GmbH-Rechts“2 – sein Referat war an der Ausformulierung der Normtexte und Regierungsbegründungen maßgeblich beteiligt. Über die Gesetzgebungsprozesse, die gesetzgeberischen Zielsetzungen und Vorstellungen legte er in zahlreichen Festschriften- und Buchbeiträgen, Aufsätzen und Vorträgen Rechenschaft ab. Während sich der Wissenschaftler Seibert vor seiner Zeit im Dienste der Justiz in seiner – 1 Die Formulierung geht zurück auf Zöllner, Aktienrechtsreform in Permanenz – Was wird aus den Rechten des Aktionärs?, AG 1994, 336 ff., und wurde später vielfach aufgegriffen, so auch von Seibert, Aktienrechtsreform in Permanenz?, AG 2002, 417 ff. 2 Namentlich durch das Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) vom 23. Oktober 2008, BGBl. I 2008, 2026; dazu Seibert, MoMiG – Gesetz und Gesetzgebungsverfahren im Überblick, in Schröder (Hrsg.), Die Reform des GmbH-Rechts, 2009, S. 1 ff.

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heute noch oft zitierten – Dissertation3 einer grundlegenden dogmatischen Fragestellung gewidmet hatte, war der Ministerialbeamte Seibert in erster Linie an pragmatischen Lösungen interessiert, freilich ohne die Dogmatik aus dem Blick zu verlieren. Wer das Vergnügen hatte, ihn persönlich kennenzulernen, dürfte in aller Regel schnell zu dem Eindruck gelangt sein, dass Ulrich Seibert nicht dem Stereotypen eines Ministerialbeamten entspricht. Es wundert daher nicht, dass er selbst eine passendere Tätigkeitsbezeichnung gefunden hat: Legal Designer. Wir können ohne Weiteres davon ausgehen, dass er diese Bezeichnung nicht zufällig gewählt hat und mehr dahintersteckt, als die schlichte Übersetzung des Rechtsgestalters in das Englische. Bemerkenswert ist aber auch, dass der Begriff Legal Design im juristischen wie auch im nicht-juristischen Schrifttum bislang nur vereinzelt auftaucht. Was also hat es damit auf sich? Was ist Legal Design – oder was könnte es sein? Wer kann sinnvoll als Legal Designer bezeichnet werden? Wie könnte eine Legal ­Design Theory aussehen und welchen Nutzen könnte eine solche Theorie haben? Diese Fragestellungen sollen zu Ehren Ulrich Seiberts in diesem Beitrag behandelt werden. Im Folgenden wird dabei der Begriff des Legal Design mit einem rechtstheoretischen Bedeutungsgehalt versehen. Ziel ist es, einen Anforderungskatalog zu entwickeln, dem eine gute Rechtsgestaltung und a well designed law genügen sollten. Damit unterscheidet sich der hier verwendete Begriff des Legal Design grundlegend von den Bedeutungsgehalten, die in anderen Kontexten vereinzelt zugrunde gelegt werden. Bisweilen werden die Verbildlichung von Recht4 oder die Visualisierung und graphische Kommunikation rechtlicher Prozesse als Legal Design bezeichnet.5 Andere Ansätze verwenden den Terminus, um die neuen Anforderungen der Digitalisierung und Automatisierung rechtlicher Prozesse („Law 4.0“6, „Legal Tech“7) zu beschreiben.8 Da die Bedeutung eines Begriffs sich aus seinem Gebrauch ergibt, sind diese Verständnisse von Legal Design selbstverständlich möglich – und weder schlechter noch besser als die hier zugrunde gelegte Bedeutung, sondern einfach nur anders. Es geht in diesem Beitrag folglich nicht um die Digitalisierung und Automatisierung, die Illustration und Kommunikation von Recht und rechtlichen Prozessen. Die hier vorgelegte Skizze einer Legal Design Theory soll vielmehr als Theorie der Rechtsgestal3 Seibert, Erfüllung durch finale Leistungsbewirkung, 1982. 4 Dazu etwa Kocher, Zeichen und Symbole des Rechts, Eine historische Ikonographie, 1992; Brunschwig, Visualisierung von Rechtsnormen, Legal Design, 2001; dies., Rechtsikonographie, Rechtsikonologie und Rechtsvisualisierung, Gesprächs- und Entwicklungspotenziale, in FS Gernot Kocher, 2006, S.  39  ff.; Sachs-Hombach, Vom Text zum Bild, Wege für das Recht, in Hilgendorf (Hrsg.), Beiträge zur Rechtsvisualisierung, 2005, S. 163 ff. 5 Vgl. Brunschwig, Rechtsvisualisierung  – Skizze eines nahezu unbekannten Feldes, MMR 2009, IX. 6 Dazu etwa Taeger (Hrsg.), Recht 4.0 – Innovationen aus den rechtswissenschaftlichen Laboren, 2017. 7 Zu dessen zahlreichen Aspekten Breidenbach/Glatz (Hrsg.), Rechtshandbuch Legal Tech, 2018. 8 So insbesondere das Legal Design Lab der Stanford Law School, s. www.legaltechdesign.com.

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tung verstanden werden, die sich an Gesetzgeber, aber auch rechtsgestaltende Rechtsanwender richtet.

II. Legal Design – ein tauglicher Begriff? 1. Design Der Ausdruck Design geht sprachgeschichtlich zurück auf das lateinische designare („bezeichnen“ und „bestimmen“, aber auch „umreißen“ oder „auszeichnen“ und „ernennen“) sowie auf das italienische designo („Zeichnung“). In die deutsche Sprache fanden Anfang des 19. Jahrhunderts zunächst das französische dessin und die hiervon abgeleitete Berufsbezeichnung des Dessinateurs („Mustermacher“) Eingang. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzte sich das englische design auch im deutschen Sprachgebrauch durch. Handelte es sich zunächst noch um einen fachsprachlichen Ausdruck, ist das Design heute Bestandteil des allgemeinen Sprachgebrauchs. Laut DUDEN bezeichnet der Begriff zum einen die „formgerechte und funktionale Gestaltgebung und daraus sich ergebende Form eines Gebrauchsgegenstandes o.Ä.“,9 zum anderen einen Entwurf bzw. eine Entwurfszeichnung. Ein Designer ist demzufolge – neben einer Berufsbezeichnung – „jemanden, der das Design von Gebrauchsund Verbrauchsgütern entwirft“.10 Der Begriff Design kann sowohl ein Ergebnis als auch den Prozess, der zu diesem Ergebnis geführt hat, bezeichnen. Die Bedeutungsgehalte „Entwurf “ und „Formgebung“ stehen daher gleichberechtigt nebeneinander. Design ist damit mehr als nur Form und Erscheinungsbild von Objekten (im weitesten Sinne), sondern auch Ausdruck der zugrunde liegenden Ideen und Vorstellungen. Am deutlichsten zum Ausdruck kommt das im Disegno, einem zentralen Begriff der Kunsttheorie der Renaissance und des Neuklassizismus. Das Designo war die Form gewordene Idee, die durch Imagination durch eine lineare Zeichnung zu Papier gebracht wurde11, und damit die „jedem Kunstwerk zugrunde liegende ursprüngliche künstlerische Idee“.12 Design ist also Formgebung und Form, Idee und Gestalt, Entwurf und Produkt. Die Designobjekte sind dabei vielfältig. Schmuck und Kunstwerke werden ebenso designt wie fassbare Gebrauchsobjekte, etwa Möbel, Häuser und Werkzeuge. Bei einigen Designobjekten stehen Ästhetik, Form, Struktur oder eine zu vermittelnde Botschaft im Vordergrund, bei anderen ihre Funktionalität. Ein Kunstwerk soll in aller Regel nicht funktional sein, aber doch eine Botschaft transportieren. Schmuck soll das ästhetische Empfinden ansprechen. Ein Stuhl soll zum Sitzen geeignet sein, wobei er schmucklos oder verziert sein kann. Beim Entwurf eines Hauses spielen immer funk 9 DUDEN, Stichwort „Design“. 10 DUDEN, Stichwort „Designer“. 11 Hoet, Disegno, in Kudielka/ Schoenholtz/ Zimmermann (Hrsg.), aus. gezeichnet. zeichnen. Eine Ausstellung der Sektion Bildende Kunst. Akademie der Künste, 25. April bis 14. Juni 2009, S. 69. 12 DUDEN, Stichwort „Designo“.

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tionale, oft aber auch ästhetische Aspekte eine Rolle. Design kann also mehrere Zwecke erfüllen, aber auch nur einzelne Zwecke verfolgen. Design kann dabei Entwurf bleiben oder in realen Objekten verwirklicht werden. Design setzt nicht einmal zwingend die Gegenständlichkeit seines Objekts voraus; auch Computerprogramme und Internetseiten werden schließlich designt. Kurzum: Design gibt es überall dort, wo es um die Umsetzung von Ideen durch Gestaltung geht, wobei weder eine Form noch ein spezifischer Prozess der Formgebung einzuhalten sind. Dementsprechend ist auch der Begriff des Designers nicht für diejenigen reserviert, die ihn in ihrer Berufsbezeichnung etwa als Modedesigner, Schmuckdesigner oder Webdesigner führen. Designer ist, wer gestaltet, wer Inhalt und Form in einem Entwurf zusammenführt und der zugrunde liegenden Idee so zur Umsetzung verhilft. 2. Rechtsgestaltung als Design Legt man das soeben entwickelte Begriffsverständnis zugrunde, kommt man zwanglos zu dem Ergebnis, dass auch Recht designt wird. Legal Design ist – so verstanden – nichts anderes als Rechtsgestaltung im weitesten Sinne. a) Positivität, Wertungsabhängigkeit und Sprachlichkeit des Rechts Das Recht ist eine Normordnung, die adressatenbezogene Sollensregeln enthält. Insoweit ähnelt das Recht der Sozialmoral, die ebenfalls eine Normordnung darstellt, aber weniger konturiert und insbesondere auch zumeist nicht formuliert ist. Anders als das Recht fragt die Moral nicht nach Kompetenzen und formalen Kriterien. Moralnormen sind soziale und kulturelle Erscheinungen, die faktische Anerkennung gefunden haben. Diese Anerkennung kann entweder durch ein einzelnes Subjekt für eben dieses Subjekt selbst erfolgen (Individualmoral) oder durch eine zuvor nicht definierte Gruppe für alle Mitglieder dieser Gruppe und ggf. auch für alle anderen Personen unabhängig von ihrer Gruppenzugehörigkeit (Sozialmoral). Ein bestimmtes Moralsetzungsverfahren gibt es nicht. Dies ist beim Recht grundsätzlich anders. Die Ausgestaltung einer Rechtsordnung, gleichsam der Designprozess des Rechts, erfolgt – zumindest überwiegend, wenn auch nicht ausschließlich – in formalisierten Verfahren. Eine bedeutende Gemeinsamkeit weisen Moral und Recht aber dennoch auf: Ihre Normen beruhen auf Wertvorstellungen  – und zwar auf den zwar kollektivierten, letztlich aber immer subjektiven Wertvorstellungen der normgebenden Personen. Moral und Recht sind Menschenwerk, von und für Menschen gemacht. Der Gedanke, es gebe eine absolute oder objektive Moral, ist ebenso zu verwerfen wie die Idee eines natur- oder vernunftrechtlich vorgegebenen Rechts. Recht ist immer positives, also gesetztes Recht. Dies bedeutet aber nicht, dass es nur von einem Gesetzgeber geschaffen werden kann. Hierauf wird sogleich noch einmal zurückzukommen sein.

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Recht entsteht niemals durch einen reinen Erkenntnisprozess. Wertungen spielen sowohl beim „Ob“ als auch beim „Wie“ der Normgebung eine zentrale Rolle. Es sind niemals allein die Tatsachen, mit denen der Normgeber konfrontiert ist, die den Norm­inhalt bestimmen. Diese dienen zwar als Anknüpfungspunkt, begründen aber für sich gesehen noch nicht das Sollen. Hierzu bedarf es immer eines voluntativen Aktes der normgebenden Instanz. Bei Hans Kelsen findet sich die treffende Feststellung, dass Normsetzung eine „Funktion des Wollens, nicht des Erkennens“ sei.13 Aufgrund tatsächlich eingetretener, möglicherweise noch eintretender oder auch nur unterstellter oder befürchteter Gegebenheiten entwickelt die normsetzende Instanz den Willen, ein bestimmtes Sollen zu statuieren. Das Sollen wird zur Konsequenz des Seins, weil diese Konsequenz gewollt ist.14 Aus der Positivität des Rechts folgt seine Gestaltbarkeit. Es geht bei der Normgebung nicht darum, etwas Vorgegebenes nachzuzeichnen, sondern ein gewolltes Sollen zu statuieren. Dies geschieht durch die Festlegung der Voraussetzungen (Tatbestände) und Rechtsfolgen der jeweiligen Rechtsnormen. Normen müssen, sollen sie intersubjektiv gelten, kommuniziert werden. Dies geschieht bei Rechtsnormen notwendig durch Sprache. Recht ist auf Sprache angewiesen15 – ohne Sprache kann das rechtliche Sollen den Normadressaten nicht vermittelt werden. Sprache erfüllt für das Legal Design dabei eine doppelte Funktion: Sie ist gleichzeitig Form der Rechtsgestaltung und Kommunikationsmittel, da sie die normativen Inhalte zum Ausdruck bringt. b) Rechtsgestaltung als Prozess: Design und Redesign Recht kann immer auch als anderes Recht, also als Recht mit anderem Inhalt gedacht werden. Die Rechtsgestaltung ist daher immer eine wertende Selektion, die Auswahl zwischen verschiedenen Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten. Die Rechtsgestaltung ist dabei kein punktuelles Ereignis, sondern ein Prozess. Je ausgereifter und bewährter eine Rechtsordnung ist, desto seltener werden die Fälle, in denen von einer originären Rechtsschöpfung gesprochen werden kann. Das Legal Design wird dann zunehmend zum Legal Redesign.16 Anschaulich verdeutlichen lässt sich dies am Beispiel des Kapitalmarktrechts. Bis 1994 war dieses in Deutschland lediglich im BörsG kodifiziert, das insbesondere Regelungen über Börsen sowie deren Funktion, Ausgestaltung und Organe, über die Preisbildung und die Börsenzulassung enthielt. Vorschriften zu Publizitätspflichten im Nachgang der Börsenzulassung, zu Insiderhandel und den Verhaltenspflichten der Markteilnehmer oder den Anforderungen an öffentliche Übernahmeangebote fehlten. Dies änderte sich erst durch die Einführung des WpHG sowie das WpÜG. Beide Gesetze enthielten zahlreiche Regelungen, die es vorher schlechthin nicht gab, sodass insoweit von einem originären Legal Design gesprochen werden kann. Andererseits 13 Kelsen, Reine Rechtslehre. Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit, 2. Aufl. 1960, S. 415. 14 Staake, Werte und Normen, 2018, S. 260 ff. und 380 ff. 15 Dazu Mayer-Maly, Gedanken über das Recht, 1985, S. 58. 16 Allgemein zum Gedanken „Design is redesign“ Michl, On seeing design as redesign”, Scandinavian Journal of Design History 12 (2002): S. 7 ff.

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beruhten beide Gesetze auf europarechtlichen Richtlinien, die den Gestaltungsspielraum des deutschen Gesetzgebers begrenzten – oder anders formuliert: wesentliche Designelemente bereits vorgaben. Vor allem das WpHG wurde seit seinem Inkrafttreten am 1.1.1995, vielfach wiederum aufgrund neuer europarechtlicher Vorgaben, durch mehr als 80 Änderungsgesetze neugefasst, ergänzt oder modifiziert. Mittlerweile finden sich die zentralen Regelungen zu Insiderhandel, Marktmanipulationen und Ad-hoc-Publizität nicht mehr im WpHG, sondern der Marktmissbrauchs-Verordnung (Market Abuse Regulation, MAR), da der europäische Gesetzgeber in diesem Bereich das Regelungskonzept der Richtlinie zugunsten der unmittelbar geltenden Verordnung aufgegeben hat. Kurzum: Das Legal Design des Kapitalmarktrechts hat im vergangenen Vierteljahrhundert signifikante Änderung, ein ständiges Redesign erfahren. Der Prozess der Rechtsgestaltung ist offen, sowohl in zeitlicher als auch in inhaltlicher Hinsicht. Der Status quo einer Rechtsordnung ist immer nur eine Momentaufnahme, die immer wieder aufs Neue kritisch hinterfragt werden sollte. Ewigkeitsgarantien kann es für Rechtsordnungen sinnvoll nicht geben – auch wenn unsere Verfassung in Art. 79 Abs. 3 GG etwas anderes vorgibt.17 Dem Recht wohnt damit immer auch etwas Zeitliches inne. Aufgabe der Legal Designer ist es, ein zeitgemäßes Recht zu gestalten.

III. Legal Designer 1. Viele Designer Rechtsgestaltung erfolgt vielfach, aber, wie im Folgenden zu zeigen ist, nicht ausschließlich durch den Gesetzgeber. Auch Rechtsanwendung kann Rechtsgestaltung sein. Es erscheint daher geboten, den Begriff des Legal Designers weit zu fassen. Er umfasst dementsprechend nicht nur die Legislative, sondern auch Judikative und Exe­kutive sowie sämtliche Personen und Institutionen, die durch ihren Umgang mit dem legislativ gesetzten Recht auf dieses einwirken und so zum Design und Redesign der Rechtsordnung beitragen. Selbstverständlich stehen nicht alle Legal Designer gleichberechtigt nebeneinander. So kann beispielsweise der Gesetzgeber eine als verfehlt angesehene Rechtsentwicklung durch Gerichte oder Verwaltungsbehörden jederzeit korrigieren, und der Einfluss von nicht-hoheitlichen Rechtsanwendern ist im Regelfall deutlich geringer als die Gestaltungsmacht von staatlichen Institutionen. Es wäre aber verfehlt, die gestaltenden Elemente der Rechtsanwendung zu negieren. Auch Rechtsanwender sind nicht bloße Beobachter des Rechts, sondern Teilnehmer am Prozess der Rechtsentwicklung. Es lohnt daher ein Blick auf die verschiedenen Designergruppen.

17 Dazu Häberle, Verfassungsrechtliche Ewigkeitsklauseln als verfassungsstaatliche Identitätsgarantien, in FS Haug, 1986, S. 81 ff.

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2. Gesetzgeber Primäre Rechtssetzungsinstanz – und damit auch primärer Legal Designer – ist der Gesetzgeber. Was wie eine Selbstverständlichkeit klingt, stellt sich bei näherem Besehen schnell als Abstraktion, wenn nicht gar als Fiktion heraus. Beim Gesetzgeber kann es sich um eine einzelne Person handeln, allerdings nur in absolutistischen oder diktatorischen Herrschaftsformen. In modernen Gesellschaften sind typischerweise mehrere Institutionen und zahlreiche Personen am Gesetz­ gebungsverfahren beteiligt. So sieht unsere Verfassung für Bundesgesetze in den Art.  70  ff. GG die Mitwirkung von nicht weniger als vier Bundesorganen vor: des Bundestages, des Bundesrates, der Bundesregierung und schließlich des Bundespräsidenten. In den verschiedenen Stadien des Gesetzgebungsverfahrens können Beamte, Mitarbeiter und sonstige Berater Einfluss nehmen auf die Entscheidungsträger, die die einzelnen Schritte dann formal vollziehen. Herauszuheben ist insoweit die Stellung derjenigen, die an der Formulierung der zu erlassenden Rechtsvorschriften und der Gesetzesbegründungen mitwirken. Letztere werden im Rahmen der historischen Auslegung vielfach herangezogen, um den „Willen des Gesetzgeber“18 zu bestimmen. Die Vorstellung von dem einen Gesetzgeber ist damit in hohem Maße abstrahiert von den tatsächlichen Gegebenheiten. Der Gesetzgeberbegriff dient als vereinfachende Sammelbezeichnung für die Gesamtheit der verfassungsgemäß zur Gesetzgebung berufenen Instanzen. Damit ist auch „Wille des Gesetzgebers“ letztlich eine idealisierte Fiktion, die aber zur Verhinderung willkürlicher Rechtsanwendung notwendig ist. Hinzukommt, dass mehrere Gesetzgeber miteinander konkurrieren können. Besonders deutlich ist dies im Verhältnis zwischen der EU-Gesetzgebung und der Legisla­ tive in den EU-Mitgliedstaaten. In vielen Bereichen  – auch und gerade im Gesellschafts- und Unternehmensrecht  – werden die nationalen Gesetzgeber durch die europarechtlichen Vorgaben, namentlich durch das EU-Primärrecht und EU-Richtlinien in ihrem Handlungs- und Entscheidungsspielraum beschränkt. Das zuvor erwähnte Kapitalmarktrecht ist hierfür nur ein Beispiel unter vielen. 3. Gerichte Auch die Rechtsprechung ist keine reine Erkenntnisinstanz. Rechtsanwendung ist immer auch Rechtsgestaltung. Sie kann sogar noch mehr sein, nämlich Rechtsfortbildung und damit Rechtssetzung. Besonders evident ist dies im common law anglo-amerikanischer Prägung,19 in dem Präzedenzfälle den Rahmen für nachfolgende Entscheidungen abstecken. Ein derartiges case law ist im kontinentaleuropäischen Rechtskreis zwar kaum verbreitet. Hier dominiert das geschriebene, von einem Gesetzgeber gesetzte Recht.20 18 Allgemein dazu Wischmeyer, Der „Wille des Gesetzgebers“, JZ 2015, 957 ff. 19 Vgl. dazu etwa Eisenberg, The Nature of the Common Law, 1988, S. 43 ff. 20 Zur Klarstellung: Auch der anglo-amerikanische Rechtsraum kennt ein sog. statutory law, das neben oder an die Stelle des common law treten kann.

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Dies bedeutet aber nicht, dass die Wirkung gerichtlicher Entscheidungen auf Einzelfälle beschränkt bleiben muss. Das Gegenteil ist der Fall. Bisweilen wird die inter-omnes-Wirkung bestimmter Entscheidung vom Gesetzgeber sogar ausdrücklich angeordnet. So hat etwa der Europäische Gerichtshof (EuGH) gemäß Art. 267 AEUV über die Auslegung der Verträge und „die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union“ zu entscheiden (sog. Vorabentscheidungsverfahren). Für die nationalen Gerichte der EU-Mitgliedstaaten kann sich daraus eine Vorlagepflicht ergeben, wenn es um die Anwendung und Auslegung von Primär- und Sekundärrecht der EU geht. Die Entscheidung des EUGH ist nach herrschender Auffassung für alle nationalen Gerichte und Verwaltungsorgane – und nicht etwa nur für das vorlegende – verbindlich.21 Für das deutsche Recht findet sich eine ganz ähnliche Regelung in Art. 100 GG. Danach haben die Fachgerichte bei Zweifeln über die Vereinbarkeit einer gesetzlichen Vorschrift mit dem Grundgesetz, sofern diese entscheidungserheblich ist, das Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) einzuholen (sog. konkrete Normenkontrolle). Nach § 32 BVerfG bindet – auch über die Fälle des Art. 100 GG hinaus – eine Entscheidung des BVerfG die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden.22 Kurzum: Das BVerfG entscheidet verbindlich über die Verfassungskonformität von Gesetzen und anderen hoheitlichen Maßnahmen. Aber auch die gerichtlichen Entscheidungen, die formal nur inter partes Geltung beanspruchen, wirken oftmals weit über den entschiedenen Einzelfall hinaus. Untergerichte neigen dazu, die Rechtsauffassung der Obergerichte ihren künftigen Entscheidungen zugrunde zu legen – und das ist auch gut so: So ist beispielsweise den Parteien eines Zivilrechtsstreits nicht geholfen, wenn das Gericht in erster Instanz eine Rechtsauffassung vertritt, die von derjenigen des übergeordneten Rechtsmittelgerichts abweicht. Zwar ist der erstinstanzliche Richter durch die früheren Entscheidungen der Obergerichte nicht gebunden, doch sollte er hiervon nur mit einer guten Begründung abweichen. Wer gegen eine gefestigte Rechtsprechung der Obergerichte ohne eine solche Begründung judiziert, gibt dem erstinstanzlich obsiegenden Kläger oft nur Steine statt Brot. Der Rechtsstreit wird verlängert und vor allem auch verteuert. Und diese zusätzlichen Kosten trägt dann die letzten Endes unterliegende Partei, mag sie sich auch nach der ersten Instanz noch als Sieger gefühlt haben. Die Rechtsprechung der Obergerichte entfaltet damit eine faktische Bindungswirkung, die sicherlich noch dadurch verstärkt wird, dass viele Richter nur ungern in der nächsten Instanz aufgehoben werden. Die Rechtsprechung beeinflusst auch das Verhalten der Rechtsunterworfenen – und zwar nicht nur derjenigen, die am konkreten Rechtsstreit beteiligt waren. Die Praxis stellt sich in der Regel schnell (wenn auch nicht immer gern) auf die Entscheidungspraxis der Gerichte ein. Oder sie ruft nach dem Gesetzgeber, der der (vermeintlichen) 21 Vgl. Ehricke in Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 267 Rz. 69 ff. mit zahlreichen Nachweisen auch zur Gegenauffassung. 22 Zur Bindungswirkung von BVerfG-Entscheidungen Bethge in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/ Klein/Bethge (Hrsg.), BVerfGG, 81. EL 2017, § 31 Rz. 75 ff.

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Fehlentwicklung durch „drei berichtigende Worte“23 entgegentreten soll. Andererseits ist es oftmals gerade das Verhalten der Rechtsunterworfenen, dass die Rechtsprechung dazu zwingt, neue Wege einzuschlagen. Der Gesetzgeber folgt dann – wenn überhaupt – erst später nach. Das gestaltende Element der Rechtsanwendung wirkt besonders dort, wo die vorhandenen Gesetze keine Grundlage für eine getroffene Entscheidung bilden, wo das Recht ungeschrieben ist – oder anders formuliert: wo es durch die Rechtsanwendung erst geschrieben wird. Bisweilen sieht sich die Rechtsprechung genötigt, den festen Boden des Gesetzes zu verlassen und das Recht selbst fortzubilden. Gewohnheitsund Richterrecht sind heute als Rechtsquelle weitgehend anerkannt. Einen gesetzlichen Niederschlag gefunden hat dies in Art. 1 des Schweizerischen Zivilgesetzbuches: Danach soll, wenn dem Gesetz keine Vorschrift entnommen werden kann, das Gericht „nach Gewohnheitsrecht und, wo auch ein solches fehlt, nach der Regel entscheiden, die es als Gesetzgeber aufstellen würde“ (Abs. 2). Hierbei soll das Gericht „bewährter Lehre und Überlieferung“ folgen. (Abs. 3). Durch die richterliche Rechtsfortbildung werden die Grenzen zwischen legislativer und judikativer Gewalt vollends verwischt: Der Richter fungiert dann als Ersatzgesetzgeber, was vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlich vorgesehenen Gewaltenteilung und der fehlenden demokratischen Legitimation der Gerichte zwar problematisch, bisweilen aber unvermeidlich ist.24 Das prominenteste Beispiel für eine vom Gesetzgeber über lange Zeit gebilligte Rechtsfortbildung ist das Arbeitskampfrecht. Auch im Gesellschaftsrecht finden sich zahlreiche Beispiele richterlicher Rechtsfortbildung. Erinnert sei hier bespielhaft an die Etablierung ungeschriebener Hauptversammlungskompetenzen durch den BGH. Diese sind zugleich ein anschaulicher Beleg dafür, dass die Rechtsentwicklung einen prozesshaften Charakter hat und ein Legal Design durchaus veränderlich ist. In seiner „Holzmüller“-Entscheidung25 hatte der BGH im Jahr 1982 zunächst eine gesetzlich nicht vorgesehene Mitwirkungsbefugnis der Hauptversammlung bei strukturändernden Maßnahmen angenommen, die zu „schwerwiegenden Eingriffen in die Rechte und Interessen der Aktionäre“ führen, und aus § 119 Abs. 2 AktG eine Vorlagepflicht des Vorstands an die Hauptversammlung abgleitet.26 22 Jahre später konkretisierte der BGH in den beiden „Gelatine“-Entscheidungen27 die Voraussetzungen für die Hauptversammlungskompetenz, verzichtete aber zugleich auf die – ohnehin unpassende – Anbindung an § 119 Abs. 2 AktG und bezeichnete die entwickelte Kompetenzregel als Ergebnis einer „offenen Rechts23 Vgl. v. Kirchmann, Die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, 1848, S. 23: „Drei berichtigende Worte des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden zur Makulatur.“ 24 S. dazu Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, 3. Aufl. 2009, S. 119 ff.; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 8. Aufl. 2015, S. 816 ff., 823 ff. und 949 ff. 25 BGHZ 83, 122 – „Holzmüller“. 26 Vertiefend dazu Staake, Ungeschriebene Hauptversammlungskompetenzen bei börsennotierten und nicht börsennotierten Aktiengesellschaften, 2009, S. 25 ff. 27 BGHZ 159, 30 – „Gelatine I“; BGH ZIP 2004, 1001 – „Gelatine II“.

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fortbildung“. Während „Gelatine“ die „Holzmüller“-Grundsätze zwar korrigierte, aber doch auch manifestierte, vollzog der BGH beim Delisting eine bemerkenswerte Kehrtwendung. Im Jahr 2003 hatte er in der der „Macrotron“-Entscheidung28 für den Rückzug von der Börse einen zustimmenden Beschluss der Hauptversammlung verlangt und dies mit dem durch Art. 14 Abs. 1 GG gebotenen Schutz des Aktieneigentums begründet. Nachdem das BVerfG29 im Jahr 2012 dieser verfassungsrechtlichen Begründung, nicht aber der Hauptversammlungskompetenz an sich eine Absage erteilt hatte, rückte der BGH in der „Frosta“-Entscheidung30 von seiner bisherigen Ansicht ab und erklärte, dass eine Zustimmungspflicht der Hauptversammlung und das Erfordernis einer Abfindung der opponierenden Aktionäre nur durch den Gesetzgeber eingeführt werden könne. Dieser reagierte im Jahr 2015, indem er in § 39 Abs. 2 bis 5 BörsG einen rein kapitalmarktrechtliche Lösungsansatz konzipierte und auf eine Hauptversammlungskompetenz als Voraussetzung für das Delisting verzichtete.31 Während beim Delisting der Gesetzgeber sich zu einem Tätigwerden veranlasst sah, weil die Rechtsprechung nicht länger bereit war, die zuvor entwickelten Schutzinstrumente zugunsten der Minderheitsaktionäre anzuwenden, ist er in anderen Zusammenhängen gerade tätig geworden, um eine als verfehlt eingeschätzte Rechtsprechung zu korrigieren. Bestes Beispiel hierfür sind das MoMiG und, die Entwicklung des GmbH-Rechts in das Aktienrecht nachzeichnend, das ARUG. Durch diese wurde zum einen die verdeckte Sacheinlage gesetzlich in den § 19 Abs. 4 GmbHG und § 27 Abs. 3 AktG geregelt. Für deren Definition griff der Gesetzgeber dabei zwar auf die vom BGH entwickelte Kriterien zurück, doch unterscheiden sich die kodifizierten Rechtsfolgen (keine Nichtigkeit, keine Rückabwicklung, Anrechnungslösung) fundamental von denen, die bis dahin von der Rechtsprechung entwickelt und angewendet worden waren. Mit § 30 Abs. 1 Satz 2 GmbHG und § 57 Abs. 1 Satz 3 AktG trat der Gesetzgeber zudem der sog. „November“-Entscheidung des BGH aus dem Jahr 2003 entgegen.32 Und schließlich wurde mit § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG und § 57 Abs. 1 Satz 4 AktG der Rechtsprechung zum sog. Eigenkapitalersatz die Grundlage entzogen und die Problematik vollständig in das Insolvenzrecht verlagert.33 Dies war bereits im Zuge der GmbH-Novelle 1980 durch die Einführung der §§ 32a und 32b GmbHG versucht, von der Rechtsprechung damals jedoch noch ignoriert worden.34 4. Exekutive Nicht nur Legislative und Judikative, sondern auch die Institutionen der Exekutive können das Recht gestalten. Dies ergibt sich schon aus Art. 80 GG, wonach die Bundesregierung, ein Bundesminister oder die Landesregierungen gesetzlich ermächtigt 28 BGHZ 153, 47 – „Macrotron“. 29 BVerfG ZIP 2012, 1402. 30 BGH ZIP 2013, 2254 – „Frosta“. 31 Für eine gesellschaftsrechtliche Lösung im Nachgang zur „Frosta“-Entscheidung etwa Drygala/Staake, Delisting als Strukturmaßnahme, ZIP 2013, 905. 32 BGHZ 157, 72. 33 Dazu Drygala/Staake/Szalai, Kapitalgesellschaftsrecht, 2012, § 9.  34 Grundlegend BGHZ 90, 370.

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werden können, Rechtsverordnungen zu erlassen. Der rechtsgestaltende Einfluss der Exekutive geht aber weit darüber hinaus. Er besteht letztlich überall dort, wo das Recht durch Verwaltungsbehörden angewendet werden muss, insbesondere also im öffentlichen Recht. Als aktuelles und durchaus kontroverses Beispiel kann hier die steuerliche Behandlung von Sanierungserträgen dienen. Zu solchen kommt es, wenn im Zuge der Sanierung eines Unternehmens Gläubiger auf Forderungen verzichten. Dies führt häufig zu Bilanzgewinnen, sodass sich die Frage stellt, ob diese vom Unternehmensträger zu versteuern sind. Die Annahme einer Pflicht zur Versteuerung würde in der Praxis vielfach dazu führen, dass die angestrebte Sanierung scheitert, der Forderungsverzicht also seinen Zweck verfehlt. Für die Finanzbehörden maßgeblich war insoweit lange Zeit der sog. Sanierungserlass des Bundesministeriums der Finanzen,35 der Sanierungserträge unter bestimmten Voraussetzungen für steuerfrei erklärte. Im Jahr 2016 entschied der BFH, der Sanierungserlass verstoße gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung.36 Als Reaktion auf die im Februar 2017 veröffentlichte Entscheidung hat der Gesetzgeber im Juni 2017 mit § 3a EStG eine gesetzliche Grundlage für die Steuerbefreiung geschaffen. Da die gesetzliche Neuregelung keine Regelung zu Altfällen enthält, streiten BMF (durch weitere Schreiben) und BFH (durch weitere Entscheidungen) aber noch immer um die gesetzeskonforme steuerliche Behandlung von Sanierungserträgen. Der gestalterische Einfluss von Verwaltungsbehörden zeigt sich auch im Wirtschaftsrecht. So spielt etwa der bereits mehrfach überarbeitete Emittentenleitfaden37 der Bundesanstalt für Finanzdienstleistung (BaFin) bei der praktischen Handhabung kapitalmarktrechtlicher Fragestellungen eine große Rolle. Der Leitfaden soll nach eigenem Bekunden der BaFin „praktische Hilfestellungen für den Umgang mit den Vorschriften des Wertpapierhandelsrechts bieten, ohne eine juristische Kommentierung darzustellen. Er bietet einen Einstieg in die Rechtsmaterie und erläutert die Verwaltungspraxis der BaFin“.38 Die BaFin nimmt also zur Auslegung und Handhabung der gesetzlichen Vorschriften des Kapitalmarkrechts Stellung und zeichnet damit die eigene Verwaltungspraxis vor, sodass sich die Praxis darauf einstellen kann. 5. Nicht-staatliche Kommissionen und Institute Auch nicht-staatliche Kommissionen und Institutionen können Legal Designer sein. Das Wirtschaftsrecht liefert auch insoweit anschauliche Beispiele. So müssen beispielsweise kapitalmarktorientierte Unternehmen in EU-Mitgliedstaaten seit 2005 ihre Jahresabschlüsse und Konzernjahresabschlüsse weitgehend nach Maßgabe der International Financial Reporting Standards (IFRS) aufstellen. Die IFRS selbst werden aber weder vom EU-Gesetzgeber noch den nationalen Gesetzgebern gestaltet, son35 BMF-Schreiben v. 27.3.2003  – IV A 6-S 2140-8/03; ergänzt durch BMF-Schreiben v. 22.12.2009 – IV C 6-S 2140/07/10001-01. 36 BFHE 255, 482. 37 Emittentenleitfaden der BaFin, 5. Aufl. 2018, abrufbar unter: www.bafin.de. 38 So die Einleitung zum Emittentenleitfaden.

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dern vom International Accounting Standards Board (IASB). Das IASB besteht derzeit aus 14 Experten, die vom Board of Trustees der International Financial Reporting Standards Foundation (IFRSF),39 einer Stiftung internationalen Rechts mit Satzungssitz in Delaware (USA), bestimmt werden. Es handelt sich weder beim IASB noch bei der IFRSF um eine staatliche Einrichtung. Dennoch spielen IFRS in der Praxis eine bedeutende Rolle. Auf nationaler Ebene haben die Verlautbarungen des Instituts der Wirtschaftsprüfer (IDW) etwa bei Rechtsfragen der Abschlussprüfung, bei der Bewertung von Unternehmen (IDW S 1) und Grundstücken (IDW S 10) zum Vorliegen von Insolvenzgründen (IDW S 11), zu den Anforderungen an Insolvenzpläne (IDW S 2) und Sanierungskonzepte (IDW S 6) Bedeutung erlangt. Insoweit hat sich die Bezeichnung als IDW-Standards eingebürgert. Diese haben zwar keine Gesetzqualität, spielen aber für die Anwendung der von vornherein ausfüllungsbedürftigen gesetzlichen Regelungen eine gewichtige Rolle, da Gerichte bei der Bewertung der betreffenden Rechtsfragen auf die IDW-Standards zurückgreifen. Für börsennotiere Aktiengesellschaften von Relevanz sind schließlich auch die Empfehlungen des Deutschen Corporate Governance Kodex (DCGK). Verantwortlich für den DCGK ist seit 2001 die vom damaligen BMJ eingesetzte Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex. Ihre Mitglieder sowie ihr Vorsitzender werden vom BMJV berufen. Zu den Mitgliedern gehören Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder von Aktiengesellschaften, Vertreter der institutionellen Investoren und der Privatanleger sowie Wirtschafts- und Rechtswissenschaftler. Erklärtes Ziel der Kommission ist es, ergänzend zu den gesetzlichen Regelungen die „Standards guter Unternehmensführung“ im Sinne einer „best practice“ zu setzen.40 Die Empfehlungen haben zwar wiederum keine Gesetzesqualität, doch verlangt §  161 AktG eine sog. Entsprechenserklärung. Vorstände und Aufsichtsräte börsennotierter Gesellschaften müssen darin erklären, ob sie den Empfehlungen folgen und gegebenenfalls die Nichtbefolgung begründen („comply or explain“). Es handelt sich bei den Empfehlungen des DCGK daher um soft law.41 6. Rechtsanwälte und Notare Die Privatautonomie ermöglicht es den Rechtsunterworfenen, ihre vertraglichen Beziehungen zu anderen Privatrechtssubjekten zu gestalten. Anders als im Sachenrecht gibt es dabei im Schuldrecht weder einen Typenzwang noch einen Numerus clausus zulässiger Gestaltungen. Diese Gestaltungsfreiheit hat dazu geführt, dass die Praxis schuldrechtliche Vertragstypen entwickelt hat, die im BGB nicht vorgesehen sind. Zu denken ist hier etwa an das Leasing, das miet- und kaufrechtliche Elemente enthält, oder Franchise-Verträge, die Parallelen zum Recht der Handeslvertreter aufweisen. Typengemischte Verträge sind in der Praxis längst keine Seltenheit mehr. 39 Bis 2010: International Accounting Standards Committee Foundation (IASCF). 40 S. www.dcgk.de/de/kommission.html. 41 Leyens, Comply or Explain im Europäischen Privatrecht, ZEuP 2016, 388, 395.

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Die Gestaltungsmacht der beratenden Rechtsanwälte zeigt sich auch bei M&A-Transaktionen. Das Gesetz enthält in § 453 Abs. 1 BGB lediglich eine rudimentäre Regelung, dass auf den Kauf „sonstiger Gegenstände“ die Vorschriften des Sachkaufs anzuwenden seien, insbesondere also auch das Gewährleistungsrecht der §§ 434 ff. BGB. Diese Regelungen sind für den Unternehmenskauf jedoch völlig unzureichend und vor allem auch unpassend, weshalb die Vertragsgestaltung von dem gesetzlichen Modell in vielen Punkten abweicht.42 Festhalten lässt sich, dass Rechtsberatung oft auch Rechtsgestaltung ist. Folglich sind auch Rechtsanwälte, die Verträge und Erklärungen entwerfen, Legal Designer. Dasselbe gilt für Notare, da auch sie an der Ausgestaltung der Rechtsbeziehungen der Privatrechtssubjekte beteiligt sind. 7. Rechtswissenschaft Schließlich beeinflusst auch die Rechtswissenschaft das Recht – und damit den Gegenstand, mit dem sie sich beschäftigt. Dies ist bei den Naturwissenschaften anders: Physiker, Biologen, Chemiker usw. suchen nach Erkenntnissen über Tatsachen und Naturgesetze. Der Erfolg eines naturwissenschaftlichen Experiments hängt maßgeblich davon ab, dass die Beobachtung nicht durch das Experiment selbst beeinflusst – also verfälscht – wird. Für das rechtswissenschaftliche Arbeiten gilt etwas ganz anderes: Wer ein Gesetz kommentiert, ein Rechtsproblem in einem Aufsatz beleuchtet oder in der Vorlesung seinen Studenten näherbringt, tut dies in aller Regel nicht rein deskriptiv, sondern mit dem Ziel, andere – die Leser oder Studenten, aber auch die Rechtsprechung oder sogar den Gesetzgeber – von der Richtigkeit der eigenen Auffassung zu überzeugen. Es verwundert daher nicht, dass die Rechtsgestaltung durch Gesetzgeber und Rechtsprechung vielfach durch rechtswissenschaftliche Arbeiten vorbereitet wird. Im Schuldrecht dauerte es 100 Jahre, bis die von Hermann Staub schon 1902 entwickelte po­sitive Vertragsverletzung (PVV) als besondere Form der Leistungsstörung vom Gesetzgeber im Zuge der Schuldrechtsmodernisierung in § 280 Abs. 1 BGB normiert wurde. Noch länger dauerte die Kodifizierung der von Rudolf Jhering43 schon 1861 wissenschaftlich begründeten44 Haftung für culpa in contrahendo, die ebenfalls seit 2002 in § 311 Abs. 2 BGB in Gesetzesform gebracht wurde. Beide Institute waren zuvor bereits durch die Rechtsprechung aufgegriffen worden. Auch die bereits erwähnte Entwicklung ungeschriebener Hauptversammlungskompetenzen durch den BGH 42 Dazu etwa Wilhelmi, Vertragsgestaltung beim Unternehmenskauf, in Karampatzos/Tröger (Hrsg.), Gestaltung und Anpassung von Verträgen in Krisenzeiten, 2014, S. 205 ff. 43 Grundlegend v. Jhering, Culpa in contrahendo oder Schadensersatz bei nichtigen oder nicht zur Perfection gelangten Verträgen, in: Jehring-Jahrbuch 4 (1861), S. 1 ff. 44 Jhering hat die c.i.c. aber keineswegs „entdeckt“. Bereits das Preußische ALR enthielt in § 284 des 5. Titels des 1. Teils eine ganz ähnliche Regelung: „Was wegen des bey Erfüllung des Vertrages zu vertretenden Grades der Schuld Rechtens ist, gilt auch auf den Fall, wenn einer der Contrahenten bey Abschließung des Vertrags die ihm obliegenden Pflichten vernachläßigt hat.“ Vgl. dazu Schur, Leistung und Sorgfalt, 2001, S. 9.

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­erfolgte keineswegs ad hoc, sondern wurde durch wissenschaftliche Arbeiten vorbereitet.45 Die Einflussmöglichkeiten der Rechtswissenschaft auf die Rechtsgestaltung beschränken sich nicht auf das Design neuer Rechtsinstitute. Auch die dogmatische Einordnung und die Auslegung von Gesetzen und gerichtlichen Entscheidungen tragen dazu bei, das Legal Design zu konturieren. Und schließlich bleibt es Rechtswissenschaftlern stets unbenommen, Vorschläge de lege ferenda in der Hoffnung zu unterbreiten, dass der Gesetzgeber diese aufgreift und umsetzt.

IV. Anforderungen an ein „well designed law“ 1. Prämissen Zuletzt soll an dieser Stelle der Blick auf die Frage gerichtet werden, was denn ein gutes Legal Design ausmacht. Die im Folgenden grob skizzierte Legal Design Theory beruht auf einem simplen, wenn auch nicht unumstrittenen Fundament: Recht ist nichts Vorgegebenes, sondern etwas Gesetztes. Recht muss gestaltet werden, wobei die am Prozess des Legal Design Beteiligten Gestaltungsspielräume haben. Zu treffen sind dabei immer Wertentscheidungen – und diese sind nicht objektiv oder absolut vorgegeben. Eine Letztbegründung von Recht gibt es nicht, was aber gewiss nicht bedeutet, dass Recht beliebig gestaltet werden sollte. Die Geltung des Rechts beruht immer auf der Macht und Akzeptanz.46 Die Normakzeptanz hängt dabei ganz maßgeblich davon ab, dass die Norminhalte und die von den rechtssetzenden Instanzen verfolgten Ziele als gerechtfertigt erscheinen, dass es also überzeugende Gründe dafür gibt, dass und wie bestimmte Fragen geregelt werden. Je größer die Normakzeptanz unter den Normadressaten ist, desto weniger Zwangselemente bedarf es, um das dauerhafte Bestehen einer Rechtsordnung zu gewährleisten. Die begründete, auf Überzeugung beruhende Verbindlichkeit ist der bloß faktischen, notfalls durch Gewalt und Drohung erzwungenen Verbindlichkeit auf Dauer deutlich überlegen. Ein gutes Legal Design zeichnet sich dadurch aus, dass es die Normakzeptanz der Rechtsunterworfenen erhöht. 2. Rechtskonformität Recht muss zunächst rechtskonform sein, also mit dem Recht vereinbar sein, was in der normativen Hierarchie übergeordnet ist. Das hierarchisch höherstehende Recht gibt dabei den Rahmen vor, den die Rechtsgestalter auf nachrangiger Ebene nicht überschreiten dürfen. So müssen beispielsweise Bundesgesetze mit der Verfassung, aber auch mit dem den nationalen Recht vorrangigen Europarecht vereinbar sein. Gerichte und Verwaltungsbehörden sind an das Gesetz gebunden. Private Rechtsgestaltung ist nur dort möglich, wo das Gesetz diese Privatautonomie gewährt. Auch die 45 S. etwa Timm, Die Aktiengesellschaft als Konzernspitze, 1980. 46 Dazu Staake, Werte und Normen, 2018, S. 370 ff.

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Rechtswissenschaft darf, sofern es nicht um Überlegungen de lege ferenda geht, die legislativen Vorgaben nicht unbeachtet lassen, anderenfalls erfüllt sie nicht ihre Funktion. Es geht für die Legal Designer auf untergeordneten Ebenen folglich vor allem darum, die ihnen zur Verfügung stehenden Gestaltungsmöglichkeiten auszuloten. Moralvorstellungen sind hingegen nur dort beachtlich, wo das Recht, etwa durch Generalklauseln wie §  138 BGB, „Einfallstore“ bereithält. Eine vor- oder überpositive Norm- oder Werteordnung, die Recht zu unrichtigem oder gar zu Nicht-Recht machen könnte, ist, hiervon war bereits die Rede, nicht anzuerkennen. Auch die Rechtsdogmatik bindet die Legal Designer grundsätzlich nicht. Sie ist kein Selbstzweck und steht ohnehin zur Disposition insbesondere des Gesetzgebers. Aufgabe der Dogmatik ist es, das gesetzte Recht einzuordnen, zu systematisieren und zu strukturieren, nicht aber die Gestaltungsmacht der Normgeber zu beschränken. 3. Tatsachengrundlage und Wertentscheidung Normen regeln das menschliche Zusammenleben – und damit Sachverhalte, die tatsächlich geschehen oder geschehen können. Das Normative ist kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, um bestimmte Zustände herbeizuführen oder zu vermeiden. Sein und Sollen sind daher zumindest funktional miteinander verknüpft, weil das Sollen die Lebenswirklichkeit, also das Sein beeinflussen soll, wobei es zugleich selbst von dieser Lebenswirklichkeit beeinflusst wird. Der Zweck einer rechtlichen Regelung besteht schließlich gerade darin, das Eintreten bestimmter Rechtsfolgen anzuordnen, die an das Vorliegen bestimmter Sachverhalte geknüpft werden. Das rechtliche Sollen knüpft damit notwendig an einen Sachverhalt an – und zwar nicht erst, wenn die entsprechende Norm bereits besteht, sondern auch schon vor ihrer Setzung. Normen werden – jedenfalls in aller Regel – nur dann gesetzt, wenn die normsetzende Instanz für die Rechtsfolgenanordnung Bedarf sieht. Dabei können Rechtsnormen sowohl der Prävention unerwünschter Folgen dienen als auch als Anreiz gedacht sein, erwünschte Folgen herbeizuführen. Die Entscheidung für oder gegen eine Normierung sowie über deren konkrete Ausgestaltung (Anwendungsbereich, Voraussetzungen und Rechtsfolgen) beruht damit immer auf einer Analyse tatsächlicher Gegebenheiten und Abschätzung der potenziellen Folgen. Von den grundlegenden Normen einer Rechtsordnung über die zentralen Normkomplexe des Zivil-, Straf- und Öffentlichen Rechts bis hin zu technischen Detailregelungen – stets beruht die Normsetzung auf einer Bewertung. Es wird nach Argumenten für oder gegen bestimmte Norminhalte gesucht: Tatsachen werden nicht nur ermittelt, sondern bewertet. Dieser Abwägungsvorgang tritt bei der Folgenabschätzung zwar deutlicher zu Tage als bei der Schaffung der Tatsachengrundlage. Aber bereits das Nachdenken über eine Normierung verlangt eine Bewertung: „Bedarf es überhaupt eines rechtlichen Sollens?“ Um diese Frage zu beantworten, ist eine „Stoffsammlung“ erforderlich, d.h. es müssen die relevanten Gegebenheiten ermittelt werden. Welche Gegebenheiten relevant sind und welche nicht, ergibt sich wiederum nicht aus den Gegebenheiten selbst, sondern erfordert eine Bewertung. Stets wird 885

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implizit oder explizit eine Entscheidung getroffen, welche Aspekte zu berücksichtigen und wie sie im Verhältnis zu anderen, möglicherweise in eine andere Richtung weisenden Aspekten zu gewichten sind. Rechtliches Sollen ist in seinem Entstehen daher immer kontext- und wertungsabhängig. Die Normsetzung sollte daher zum einen auf einer möglichst gesicherten Tatsachengrundlage erfolgen. Der Normierungsbedarf ist angesichts einer Analyse des Status quo und einer hypothetischen Betrachtung zu ermitteln. Die potenziellen Folgen der Normierung sind mit den potentiellen Folgen der Nichtnormierung abzugleichen. Stehen mehrere Norminhalte zur Diskussion, sind die unterschiedlichen Auswirkungen zu analysieren und miteinander zu vergleichen. Bei alledem sollte der Normgeber sachkundigen Rat einholen. Auch ein Blick auf andere Rechtssysteme und die dort gemachten Erfahrungen kann nützliche Erkenntnisse liefern. 4. Praktikabilität und Effizienz Während bei manchen Designobjekten, etwa Schmuck oder Kunstwerken, die Ästhetik eine zentrale Rolle spielt, haben bei Gebrauchsobjekten die Praktikabilität und Effizienz des Designs eine vorrangige Bedeutung. Nichts anderes gilt für das Legal Design. Dieses muss nicht schmuckhaft oder ästhetisch sein, sondern zu praktikablen und effizienten Regelungen führen. Für das Recht gilt der Bauhaus-Grundsatz „form follows function“.47 Ein Legal Design ist dann praktikabel, wenn es die vom Normgeber intendierte Wirkung erzielen kann. Abgezielt werden kann dabei sowohl auf eine Verhaltenssteuerung der Rechtsunterworfenen48 als auch auf die Auflösung von Interessenkonflikten. Eine rechtliche Regelung, die es nicht schafft, ihren normativen Zweck zu erfüllen, ist ungeeignet. Noch schlimmer sind die Fälle, in denen Fehlanreize gesetzt oder neue Interessenkonflikte geschaffen werden. Die Praktikabilität einer rechtlichen Regelung ist daher auch nach ihrer Setzung stets aufs Neue zu überprüfen. Eine Spielart der Praktikabilität ist die Effizienz, womit oftmals eine ökonomische Effizienz gemeint ist. Ökonomische Wertbezüge haben in der jüngeren Vergangenheit für die Legitimation von Recht vor allem in Gestalt der „ökonomischen Theorie des Rechts“ an Bedeutung gewonnen. Deren Ziel ist es, stark vereinfacht ausgedrückt, das Recht anhand der Gesetze des Marktes zu analysieren (daher auch die vielfach verwendete Bezeichnung „ökonomische Analyse des Rechts“) und die Rechtsordnung so

47 Zuvor bereits Sullivan, The tall office building artistically considered, Lippincott’s Maga­ zine, 1896: „Whether it be the sweeping eagle in his flight, or the open apple-blossom, the toiling work-horse, the blithe swan, the branching oak, the winding stream at its base, the drifting clouds, over all the coursing sun, form ever follows function, and this is the law. Where function does not change form does not change.“ 48 Zur Verhaltenssteuerung durch Recht s. etwa Wagner, Prävention und Verhaltenssteuerung durch Recht – Anmaßung oder legitime Aufgabe?, AcP 20 (2006), 352 ff.

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zu gestalten, dass vorhandene Ressourcen nach wohlfahrtsökonomischen Effizienzkriterien verteilt werden.49 Allerdings lässt sich Recht nicht vollständig aus wirtschaftlichen Erwägungen heraus erklären oder gar legitimieren: Effizienz ist immer eine relative Größe, da eine Mittel-Zweck-Relation beurteilt (bewertet!) wird. Auch der „ökonomischen Effizienzjurisprudenz“50 liegt eine nicht-ökonomische Wertung zugrunde, nämlich jene, dass eine effiziente Ressourcenverteilung (Allokation) erstrebenswert ist, weil hierdurch den Interessen der Rechtsunterworfen in ihrer Gesamtheit am besten gedient sei. Effizient ist, was den größten Nutzen bringt, wobei die Festlegung dieses Nutzens außerhalb der ökonomischen Theorie erfolgen muss. Die ökonomische Theorie des Rechts ist letztlich nichts anderes als eine moderne Ausprägung des Regelutilitarismus einschließlich seiner ethischen Prämissen. Der Rekurs auf ökonomische Kriterien kann in letzter Instanz nicht durch ökonomische, sondern nur durch ethische Argumente begründet werden – so wie auch die Legitimation des rechtlichen Sollens nicht durch das Recht selbst erfolgen kann. Die ökonomische Theorie des Rechts begründet zudem die Gefahr, dass der Effizienzgedanke sich verselbständigt und den dahinterstehenden Zweck verdeckt, sodass dieser letztlich nicht mehr hinterfragt wird. Nochmals: Effizienz ist kein Zustand, sondern eine zweckrelationale Bewertung. Effizienz kann daher auch kein Selbstzweck sein und in einer Begründung nicht alleinstehen. Sofern man dies berücksichtigt, kann die ökonomische Theorie aber wertvolle Dienste leisten. Insbesondere die ökonomische Analyse ist ein hilfreiches Instrumentarium, wenn es darum geht, die wirtschaftlichen Auswirkungen bereits bestehender, aber auch noch zu erlassender rechtlicher Regelungen und Regelungskomplexe zu erfassen. Effizienz ist somit durchaus ein bedeutsames normtheoretisches Prinzip,51 allerdings aus den genannten Gründen stets nur ein Hilfsprinzip. 5. Verständlichkeit Recht muss zudem verständlich sein. In diesem Zusammenhang ist nochmals an die besondere Verknüpfung von Recht und Sprache hinzuweisen. Recht ist auf Sprache angewiesen, da das rechtliche Sollen kommuniziert werden muss. Die Rechtssprache ist dabei keine Kunstsprache. In der Informatik lassen sich durch die Schaffung von klar definierten Programmiersprachen Ungenauigkeiten und Zweifel vermeiden. Das Recht muss hingegen so formuliert sein, dass die Rechtsunterwor49 Einführend Müller, Ökonomische Theorie des Rechts, in Buckel/Christenensen/Fischer-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, 2. Aufl. 2008, S. 351 mit weiteren Nachweisen; s. auch Behrens, Utilitaristische Ethik. Ökonomische Analyse des Rechts, in Bydlinsky/Mayer-Maly (Hrsg.), Die ethischen Grundlagen des Privatrechts, 1994, S. 35 ff. 50 Vgl. Baumann, Ökonomie und Recht – Ökonomische Effizienzjurisprudenz, RNotZ 2007, 297 ff. 51 Grundlegend für die deutsche Rechtswissenschaft Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip. Möglichkeiten und Grenzen der ökonomischen Analyse des Rechts, 3. Aufl. 2005.

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fenen und sonstigen Normadressaten die Normbefehle auch verstehen können. Die Rechtssprache muss daher, wenn das Recht seiner gesellschaftlichen Funktion gerecht werden soll, der Alltagssprache entsprechen oder zumindest weitgehend an diese angelehnt sein. Die Normakzeptanz hängt auch davon ab, dass Recht verstanden wird. Hierfür genügt es nicht, dass die Rechtssprache nur einem verhältnismäßig kleinen Kreis der Normadressaten, etwa den „befähigten“ Juristen verständlich ist. Dass das Recht in der Alltagssprache wurzelt, bedeutet aber nicht, dass Rechtsnormen ohne juristisches Vorverständnis immer verstanden werden können. Rechtssprache ist eben auch Fachsprache, die vielfach vom alltäglichen Sprachgebrauch abweicht.52 Dass Recht verständlich sein soll, bedeutet zudem nicht, dass die normsetzenden Instanzen diesen Anspruch bei der Formulierung von Rechtsnormen auch einlösen können. Dies ist immer dann zu kritisieren, wenn der Gesetzgeber bei der Ausformulierung der gesetzlichen Vorschriften das Sprachempfinden und den Verständnishorizont eines Großteils der Rechtsunterworfenen ohne Not aus dem Blick verloren hat. Komplexe Satzstrukturen, ein Übermaß von Substantivierungen und weitgehende Verweisungen zeugen weder von sprachlicher Brillanz noch von der vielfach bemühten „Bürgernähe“. In Extremfällen kann dabei sogar ein Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Gebot der Normenklarheit vorliegen.53 Bisweilen ist diese Diskrepanz zwischen rechtlicher Fachsprache und Alltagssprache jedoch der Komplexität der zu regelnden Materie geschuldet. Dies führt dazu, dass der Normgeber von vornherein für bestimmte Normadressaten formuliert.54 Faustformelhaft lässt sich festhalten: Je spezieller die geregelte Materie ist, desto eher kann die allgemeine Verständlichkeit der Rechtsnormen hinter ihren Fachsprachencharakter zurücktreten. Das Auseinanderfallen von Alltagssprache und Rechtssprache hat noch einen weiteren Grund: Sprache dient der Kommunikation – im alltäglichen Gebrauch und im Rechtsleben. Während aber in der Alltagssprache Unklarheiten und Unbestimmtheiten durch weitere kommunikative Akte durch das Erklären des zunächst nur unvollkommen Ausgedrückten oftmals beseitigt werden können, ist die Rechtssprache auf größtmögliche Klarheit und Bestimmtheit angewiesen. Rechtliche Normsetzung ist immer ein imperativer Akt, der ein Nachfragen des Normadressaten nicht zulässt. Aus diesem Grund bedarf die Rechtsprache auch einer größeren Kontinuität. Dies schließt einen Bedeutungswandel von Rechtsbegriffen zwar nicht aus, doch es verlangsamt ihn. Daher kann sich selbst bei einer ursprünglichen Kongruenz die Rechtssprache mit der Zeit von der Alltagssprache ablösen. Eine gewisse Eigenständigkeit der Rechtssprache gegenüber der Alltagssprache ist auch unverzichtbar. Dies folgt bereits aus dem Umstand, dass abstrakt-generelle Re52 S. auch Gast, Juristische Rhetorik, 2006, Rz. 1220 ff.; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 8. Aufl. 2015, Rz. 207 ff. 53 Vgl. BVerfGE 17, 306, 314; BVerfGE 31, 255, 264. 54 Dazu auch Beaucamp, Verständlichkeit und Bestimmtheit – Zwei Welten?, Rechtstheorie 42 (2011), 27. 

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geln notwendigerweise allgemein, losgelöst von konkreten Fällen formuliert werden müssen. Mit der Abstraktion verliert die Sprache aber an ihrer Bildhaftigkeit und damit an Verständlichkeit für den, der den Umgang mit dieser Art der Formulierung nicht gewohnt ist. Die soeben getroffene Unterscheidung von Rechts- und Alltagssprache soll nun aber nicht zu der Annahme verleiten, die Rechtssprache folge in der Mehrzahl der Fälle eigenen Regeln und zwinge stets zu spezifisch juristischen Begriffsbedeutungen.55 Im Idealfall weichen Rechts- und Alltagssprache gerade nicht voneinander ab. Dennoch muss man sich dessen bewusst sein, dass rechtliche Begriffe eine Bedeutung haben können, die vom Alltagsgebrauch abweicht.56 6. Transparenz der Wertungen (Kommunikation) Normakzeptanz bedeutet: Verständnis dafür haben, dass und wie der Normgeber eine bestimmte Regelung überhaupt getroffen hat. Will man die Autorität des Normgebers nicht als hinreichende Bedingung der Normakzeptanz genügen lassen, hängt die Akzeptanz abweichender Wertvorstellungen und darauf gründender Normen maßgeblich von den vom Normgeber vorgebrachten Gründen ab. Hierzu zählen insbesondere die Ziele, die mit dem jeweiligen Gebot oder Verbot verfolgt werden, aber auch die Tauglichkeit des gewählten Regelungsansatzes zur Erreichung dieser Ziele. Es geht, mit anderen Worten, um den Normzweck, dessen Verhältnis zu anderen, gegebenenfalls konfligierenden Zwecken, die Effektivität der Regelung sowie ihre unmittelbaren und mittelbaren rechtlichen, wirtschaftlichen, sozialen und sonstigen Auswirkungen. Der Normgeber hat es dabei selbst in der Hand, zu einer Erhöhung der Normakzeptanz beizutragen  – und zwar auch unter jenen, die einzelne Normen (nicht: die Rechtsordnung generell) inhaltlich ablehnen. Es war bereits die Rede davon, dass Normsetzung immer wertabhängig ist. Dies beginnt bereits bei der Schaffung der Entscheidungsgrundlage, weil damit immer auch eine Selektion und Bewertung von Information einhergeht, und endet bei der konkreten Ausgestaltung der Voraussetzungen und Rechtsfolgen einer Norm. Der Norminhalt ist nicht außer-rechtlich vorgegeben, sondern er beruht immer auf einer willentlichen Setzung. Von besonderer Bedeutung ist es daher, die Wertungsgrundlagen offenzulegen. Die Entscheidungs- und Wertungsgrundlage muss gegenüber den Normadressaten, also gegenüber den vom Norminhalt unmittelbar oder mittelbar Betroffenen kommuniziert werden  – und zwar bestenfalls vor Abschluss des Normsetzungsverfahrens, damit Gegenargumente noch rechtzeitig vorgebracht werden können. Rechtsetzung sollte in einem diskursiven Prozess erfolgen, in dem es durchaus Raum für Abweichungen gibt. Daher ist die normsetzende Instanz gehalten, Gegenstimmen nicht nur zuzulassen, sondern sich auch inhaltlich mit ihnen auseinanderzusetzen. Transparenz führt zur Normakzeptanz. Offenzulegen sind daher die für die Rechts­ gestaltung relevanten Umstände: die zugrunde gelegten Tatsachen, die angestellten 55 Ein Versuch, eine formelhafte „Kunstsprache“ für die Rechtswissenschaft zu entwickeln, findet sich etwa bei Klug, Juristische Logik, 4. Aufl. 1982. 56 Vgl. Schnapp, Von der (Un-)Verständlichkeit der Juristensprache, JZ 2004, 473 ff.

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Prog­nosen und sonstige Einschätzungen. Wertungen sind dabei als solche zu benennen und nicht etwa als vorgegebene Notwendigkeiten zu deklarieren. Aufmerksamkeit ist immer geboten, wenn der Normgeber eine Regelung als „alternativlos“ bezeichnet. Hierin steckt immer auch die Wertung, dass die Folgen der Nichtnormierung oder einer abweichenden Normierung nicht hinnehmbar sind. Dies sollte offengelegt und entsprechend als Wertung gekennzeichnet werden! Transparenz ist schließlich in einem besonderen Maße geboten, wenn am Normsetzungsprozess beteiligte Personen Sonderinteressen verfolgen. Denn gerade derartige Sonderinteressen sind geeignet, das Vertrauen der Normadressaten darauf, dass eine gerechte, auf Gleichbehandlung zielende Regelung angestrebt wird, zu erschüttern. Insoweit gilt der berühmte Ausspruch von Louis D. Brandeis: „Publicity is justly commended as a remedy for social and industrial diseases. Sunlight is said to be the best of disinfectants; electric light the most efficient policeman.“57 7. Widerspruchsfreiheit und Wertungskonsistenz Neben der Transparenz der Wertungsgrundlagen ist die Wertungskonsistenz für die Normakzeptanz von grundlegender Bedeutung. Zielstellung des Legal Designers muss es daher sein, konsistente, d.h. miteinander vereinbare Wertentscheidungen zu treffen. Diese Forderung nach Wertungskonsistenz betrifft zunächst die Ausgestaltung der einzelnen Subsysteme, sodann aber auch die Bereiche, an denen die Subsysteme sich überlagern und ineinandergreifen. Die Gerechtigkeit, auf die das Recht zielen sollte, ist nach alledem immer auch und gerade: Systemgerechtigkeit. Konsistenz bedeutet aber nicht Einheitlichkeit. Der Legal Designer kann durchaus unterschiedliche Wertungen, insbesondere in verschiedenen Subsystemen treffen – oder auch verschiedenen Subsysteme infolge abweichender Wertentscheidungen kon­ struieren. Die viel beschworene „Einheit der Rechtsordnung“ hindert Differenzie­ rungen  nicht, sondern soll sicherstellen, dass der Normadressat sich nicht mit wi­ dersprüchlichen Verhaltensanweisungen konfrontiert sieht. Wertungswidersprüche können durchaus zu widersprüchlichen Regelungen führen, etwa wenn ein Verhalten durch verschiedene Normen gleichzeitig geboten und verboten wird. Deshalb kann etwa, was zivilrechtlich geboten ist, nicht unter Strafe gestellt werden. Umgekehrt kann aber ein zivilrechtlich verbotenes Verhalten durchaus straflos sein. Doch auch in Fällen, in denen ein logischer Widerspruch nicht vorliegt, mindern Wertungswidersprüche die Überzeugungskraft der betreffenden Normen. Dass die Rechtsmethodik derartige Widersprüche  – jedenfalls partiell  – überwinden kann, macht eine auf Wertungskonsistenz zielende Normsetzung nicht überflüssig. Ein wertungskonsistentes Legal Design erleichtert die Rechtsanwendung.

57 Brandeis, Other People’s Money. And How the Bankers Use it, 1914 (Nachdruck 2009), S. 92.

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V. Schlusswort Dass es im Zuständigkeitsbereich Ulrich Seiberts, dem Kapitalgesellschaftsrecht, in den vergangenen knapp drei Jahrzehnten zu zahlreichen Änderungen gekommen ist, darf nicht dahingehend missverstanden werden, dass das Legal Design unzureichend war. Im Gegenteil: Die Bereitschaft, das Recht immer wieder auf den Prüfstand zu stellen, zu korrigieren, weiterzuentwickeln und dabei auch den Bedürfnissen der Praxis Rechnung zu tragen, zeichnet einen guten Legal Designer gerade aus. Der Prozess der Rechtsgestaltung ist niemals abgeschlossen. Eine Rechtsordnung muss, soll sie die Akzeptanz der Normadressaten finden, zeitgemäß bleiben. Ulrich Seibert war und ist ein Legal Designer im besten Sinne. Es bleibt zu hoffen, dass er auch zukünftig in der ein oder anderen Form am Designprozess teilnehmen wird.

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Wie gelingt heute Zusammenleben? Inhaltsübersicht  Vorbemerkung

III. Welche Werte?

I. Niemand ist eine Insel

IV. Verfassungspatriotismus

II. Grundbedingungen des Zusammen­ lebens

V. Grenzen der Toleranz VI. Globale Leitwerte

Vorbemerkung Es ist ein Wagnis, für eine Festschrift zu Ehren eines bedeutenden Juristen einen fachfremden Beitrag anzubieten, erst recht, wenn er auf einem Vortrag beruht und dessen Stil weitgehend beibehält. Ulrich Noack hat mich dazu verleitet und bestärkt hat mich, dass der zu Ehrende selbst einmal in einer Festschrift über Ethik geschrieben hat,1 wenn auch mit deutlich größerer Nähe zu Rechtsfragen, als es in diesem Beitrag der Fall sein soll. Erschwerend kommt hinzu, dass mein Thema reichlich abstrakt, wenn nicht gar abgedroschen klingt. Doch ist die Frage des gelingenden Zusammenlebens heute wohl auch wiederholter Überlegung wert, weil sie uns ganz praktisch betrifft, und zwar mit ständig zunehmendem Nachdruck. Deshalb handelt es sich auch um ein Thema, das wir besser nicht Theologen und Philosophen überlassen sollten – ebenso wenig allerdings alleine Politikern und Juristen. Unter den Bedingungen einer globalisierten, bewegten Welt verbinden sich mit diesem Thema immer komplexere Fragen. Die Antworten darauf werden und können gar nicht identisch sein. Doch wir sollten bereit sein, ernsthaft und verantwortungsbewusst darüber nachzudenken. Dazu mag dieser Text anregen.

I. Niemand ist eine Insel Vielleicht erinnern Sie sich an diesen Titel eines Bestsellerromans und eines Kinohits. Doch die Zeile ist älter als ihre Popularisierung glauben macht. Der englische Poet

1 Ulrich Seibert, Ethik in der Wirtschaft und die Rolle der Politik, in FS Karsten Schmidt, 2009, S.  1455  ff.; sehr lesenswert auch Uwe H. Schneider, Ethik im Bank- und Kapitalmarktrecht, ZIP 2010, 601 ff. und Westermann, „Rechtsethische“ Maßstäbe im Gesellschaftsund Unternehmensrecht, in FS Stilz, 2014, S. 689 ff.

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John Donne, Zeitgenosse von Shakespeare, beginnt mit diesen Worten ein Gedicht,2 dessen letzte Zeile übrigens Hemingway zum Titel eines großen Romans angeregt hat, „For whom the bell tolls“. Doch mir geht es heute nicht um Literatur, sondern um die alte Erkenntnis, dass Menschen auf Menschen verwiesen sind. Das wissen wir nicht erst aus dem Mittelalter. Schon die Philosophen der griechischen Klassik haben sich damit beschäftigt und ebenso die chinesischen Weisen. Ein biologischer Hintergrund dafür mag sein, dass Menschen typische Spätentwickler sind. Kennen Sie ein anderes Säugetier, das so lange braucht, ehe es ohne Betreuung und Versorgung durch andere Artgenossen überleben könnte? Doch nicht nur das Kind braucht menschliche Umgebung, für Erwachsene gilt das in anderer Weise nicht weniger. Wenn das schon im Altertum und im Mittelalter erkannt war, als es noch wirklich Eremiten gab, wie sehr gilt es dann heute - in Zeiten der Arbeitsteilung und Überbevölkerung, der weltumspannenden Massenkommunikation, der Migration und der Globalisierung.

II. Grundbedingungen des Zusammenlebens Unsere menschliche Natur und unsere sozialen Verhältnisse haben uns also ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit und die Notwendigkeit des Zusammenwirkens mit auf den Weg gegeben. Und doch gilt gleichzeitig, dass jeder Mensch einzigartig ist und auch als Individuum wahrgenommen werden will.3 Daraus resultiert ein Antagonismus von Verschiedenheit und Zusammengehörigkeit, von Selbstbezogenheit und Sehnsucht nach Zugehörigkeit, der allen Menschen eigen ist, wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung. Kant hat deshalb von der ungeselligen Geselligkeit des Menschen gesprochen. Gerade weil wir Menschen auch Individuen und nicht immer gesellig sein wollen, im Westen 2 No man is an island, Entire of itself, Every man is a piece of the continent, A part of the main. If a clod be washed away by the sea, Europe is the less. As well as if a promontory were. As well as if a manor of thy friend‘s Or of thine own were: Any man‘s death diminishes me, Because I am involved in mankind, And therefore never send to know for whom the bell tolls;  It tolls for thee.  3 Seibert erinnert zu Recht daran, dass die westliche Welt von der Überzeugung geprägt ist, dass es ein eigenständiges und einsichtsfähiges Individuum gibt, in FS Karsten Schmidt, 2009, S. 1455, 1456.

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Wie gelingt heute Zusammenleben?

und seit der Aufklärung erst recht, ist die Frage nicht banal, wie denn das Zusammenleben solcher Individuen zu gestalten sei, besonders, welche Grundbedingungen es für dessen Gelingen gibt. Systematisch hat das schon der französische Denker Alexis de Tocqueville in seinem epochalen Werk über die „Demokratie am Beispiel Amerikas“4 untersucht. Die zusammengewürfelte Gesellschaft der jungen Vereinigten Staaten, die in dem neuen politischen Modell der Demokratie verfasst waren, war sein Untersuchungsgegenstand.5 Er fand neben natürlichen, also z.B. geographischen Bedingungen zwei Faktoren: les lois e les moeurs – die Gesetze und die Sitten. Dabei definierte er „Moeurs“ als den „gesamten moralischen und intellektuellen Zustand eines Volkes“.6 Mit anderen Worten, Tocqueville meinte das, was man heute als die grundlegenden Werte einer Gesellschaft, als deren Ethos bezeichnen würde. Das französische „Moeurs“ und das griechische „Ethos“ haben denselben Wortsinn. Interessant ist, dass Tocqueville eine Rangfolge aufstellt: Die natürlichen Faktoren würden überschätzt. Viel wichtiger seien die Gesetze. Der Einfluss der Gesetze sei aber wiederum unendlich kleiner als jener der Werte. Mir leuchtet das auch als Jurist schon deshalb ein, weil ich die Werte einer Gesellschaft als legitime, aber auch notwendige Basis der Gesetze, also des Rechts sehe. Das wussten schon die alten Römer: „Quidquid leges sine moribus…“, was sind schon die Gesetze ohne die Sitten, fragte Horaz.7 Werte sind aber nicht nur die Grundlage der Gesetze, gemeinsame Werte sind das Fundament einer funktionierenden Gesellschaft.8

III. Welche Werte? Gemeinsame Grundüberzeugungen, übereinstimmende ethische Werte sind es also, die den stärksten Anker einer menschlichen Gemeinschaft bilden. Mit einer solchen allgemeinen Feststellung ist indes wenig gewonnen. Man redet heute zwar gerne von 4 De la démocratie en Amérique, 1835/1840. 5 Dass die USA das geschafft haben, bekunden sie stolz mit ihrem Wappenspruch: ex pluribus unum. Das tragende Moment war dabei wohl, dass sich die neue Bevölkerung vor allem in einem Ziel einig war, aus dem ein bis heute prägender Wert der USA entstanden ist: Freiheit! 6 Das zentrale Unterkapitel des ersten Bands trägt die Überschrift „Die Gesetze tragen mehr zur Erhaltung der demokratischen Republik in den Vereinigten Staaten bei als die geographischen Umstände und die mœurs noch mehr als die Gesetze.“ Und in der Fußnote zum ersten Absatz dieses Unterkapitels heißt es: „Ich verstehe hier den Ausdruck mœurs in dem Sinne, den die Alten dem Wort mores gaben; ich wende ihn also nicht nur auf die eigentlichen Sitten an, die man liebgewonnene Gewohnheiten nennen könnte, sondern auf die verschiedenen Begriffe, die die Menschen besitzen, die verschiedenen Meinungen, die unter ihnen gelten, und auf die Gesamtheit der Ideen, welche die liebgewonnenen Gewohnheiten bilden.“. 7 Horaz, Carmina 3, S. 24, 35 f. 8 Vgl. Seibert in FS Karsten Schmidt, 2009, S. 455, 1456 („Gesetze werden dauerhaft nur befolgt, wenn sie in einer gewissen Übereinstimmung mit den Wertvorstellungen der Bevölkerung stehen“).

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„den Werten“ oder „den abendländischen Werten“. Doch das bleibt meist formelhaft, substanzlos, ja, mit solchen Floskeln werden eher Interessen oder Ideologien kaschiert. Die schwierige, doch unerlässliche Aufgabe besteht darin, darüber nachzudenken, ob es solche Werte überhaupt gibt (noch gibt?), und wenn ja, wie sie zu finden und zu definieren wären.9 Wer aber sind „wir“? Was ist das „uns“, das zusammengehalten werden soll? Solche Fragen haben zurecht wieder Konjunktur. Demzufolge kursieren viele Konzepte. Nicht nur politische Parteien sind aufgerufen, solche Konzepte zu finden und den Bürgern zu unterbreiten.10 Nicht verwunderlich ist, dass es dabei herkömmlich und meist auch noch heute um nationale, regionale oder religiöse Grenzziehungen, also um die Fundierung einzelner Gemeinwesen geht – und damit gleichzeitig um deren Abgrenzung von anderen. Abgrenzung muss nicht Abschottung heißen, muss nicht mit Intoleranz und Fundamentalismus einhergehen. Es kann zwar nicht angehen, einen „Kampf der Kulturen“ herbeizureden, um damit auf Stimmenfängerei zu gehen. Doch es reicht nicht, solche Konzepte einfach abzulehnen oder zu ignorieren. Was lässt sich aber dagegensetzen, mit welchen vernünftigen Konzepten lässt sich Identität heute begründen? In den letzten Jahren ist wieder das Konzept der Leitkultur diskutiert worden. Der syrische Migrant Bassam Tibi hatte schon 1998 mit diesem Konzept versucht, eine Diskussion über Rahmenbedingungen von Migration und Integration auszulösen.11 Dabei ging es ihm nicht um eine deutsche, sondern um eine europäische Leitkultur. Der Begriff lehnt sich an die in der Landwirtschaft gebräuchliche Unterscheidung zwischen Leit- und Begleitkultur an. Die Parallele darf offenkundig nicht zu weit getrieben werde. Wer nicht von Sinnen ist, wird Leitkultur nicht mit ethnischer Exklusivität gleichsetzen und Begleitkultur zu Unkraut erklären wollen.12 Die Diskussion hat aber noch ein weiteres Manko. Der Begriff hört sich abstrakt gut an, je konkreter es im politischen Sprachgebrauch wird, um so problematischer, um nicht zu sagen banaler, wird es aber. Bei Lichte betrachtet geht es oft weniger um Kultur, als vielmehr um Übungen, um Gewohnheiten und zudem um solche, die keineswegs für Deutschland oder Europa spezifisch wären. Dass wir uns zur Begrüßung die Hand geben, dass wir auf Erziehung und Bildung Wert legen, dass wir Leistung grundsätzlich positiv sehen, dass wir eine Kulturnation und Teil des Westens sein wollen13 – schön und gut, aber hat all dies durchweg ethische Relevanz? Und: leiten solche Vorstellungen nur die Kultur in unserem Land? 9 Vgl. Seibert in FS Karsten Schmidt, 2009, S. 1455, 1457. 10 Seibert in FS Karsten Schmidt, 2009, S. 1455, 1462: „Die Politik ist berechtigt und verpflichtet, sich am öffentlichen Diskurs um die Formulierung ethischer Standards zu beteiligen…“. 11 Bassam Tibi, Europa ohne Identität? Die Krise der multikulturellen Gesellschaft, München 1998.  12 So auch Bassam Tibi in Aus Politik und Zeitgeschichte, B 1-2, 2001. 13 Beispiele des damaligen Bundesministers des Inneren de Maizière in einem Gastbeitrag in der Bild am Sonntag vom 30.4.2017 unter dem Titel „Wir sind nicht Burka“.

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Oder sogar: leiten sie denn überhaupt (noch) die Kultur in Deutschland? Ich bin mir nicht so sicher, wie vielen Deutschen Allgemeinbildung und Leistungsstreben Leitbilder sind. Noch grundsätzlicher kritisch lässt sich anmerken, dass es bei den meisten Themen der sog. Leitkultur um persönliche Haltungen oder Überzeugungen geht, bei denen niemand das Recht hat, andere anzuleiten oder im Abweichungsfalle auszugrenzen. Wohl auch wegen solcher Schwächen der Leitkultur-Diskussion stellt er aktuelle Bundesminister des Inneren und für Heimat einen anderen Begriff in den Mittelpunkt: Heimat. Er sieht, dass es mit diesem Begriff alleine nicht getan ist und verweist selbst auf die Notwendigkeit eines die ganze Gesellschaft umfassenden Wertebündnisses.14 Bei aller Sympathie, die sicher die meisten Menschen für den Begriff der Heimat haben: Das entbindet uns nicht von der Suche nach den Werten, die unserer Gesellschaft zugrunde liegen. Auch Seehofer sucht für seinen Ansatz nach „möglichst von allen geteilten Zugehörigkeitsmerkmalen“. Dazu stellt er das Menschenbild des aufgeklärten Christentums in den Mittelpunkt. Damit will er sicher nicht die ganze Gesellschaft unter dem Zeichen des Kreuzes versammeln, also nicht die Glaubensinhalte des Christentums vorgeben. Das wäre nicht nur ein eklatanter Verstoß gegen die Bekenntnisfreiheit, sondern in unserer pluralistisch geprägten Gesellschaft auch gänzlich unrealistisch.15 Schwieriger wird es indessen, wenn wir fragen, was denn genau dieses vielzitierte Menschenbild des Christentums, gar des „aufgeklärten Christentums“, ist. Eine kurze und allseits geteilte Antwort auf diese Frage kenne ich nicht. Immerhin kann man einige wohl unstreitige Elemente benennen. So gehören dazu –– die sog. Gottesebenbildlichkeit des Menschen, aus der sich der Gedanke der Menschenwürde ableitet, der aber ebenso aus den nicht-religiösen Lehren der Aufklärung folgt; –– oder die Überzeugung davon, dass der Mensch mit einem Gewissen begabt ist, das ihm eine Ahnung von Gut und Böse verschafft; die Schlange hatte Adam und Eva sogar die Erkenntnis davon versprochen, wie Gott werde der Mensch dann sein; aber noch immer sind wir Menschlein geblieben und wir überheben uns, wenn wir absolut zu wissen glauben, was gut und böse ist; –– weiter gehört zum christlichen Menschenbild, dass wir auch zur Freiheit der Entscheidung berufen sind; das bedeutet vor allem, dass uns Verantwortung für unser Tun und Lassen übertragen ist; –– und schließlich gilt für einen Christenmenschen als oberstes ethisches Gebot die Gottes- und Nächstenliebe; sie muss er leben, um seiner Verantwortung gerecht zu werden.

14 Horst Seehofer, „Heimat“, Gastbeitrag in der FAZ vom 30. April 2018, S. 6. 15 Vgl. Seibert in FS Karsten Schmidt, 2009, S. 1455, 1457.

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Jedenfalls in der Theorie werden sich Viele einem solchen Menschenbild gerne verbunden sehen. Doch gelten dessen spezifisch christlichen Bezüge auch für die große Mehrheit in unserem Land? Gehört ein Nicht- oder Andersgläubiger nur zu diesem Land und zu unserer Gesellschaft, wenn er sich gerade das christliche Menschenbild zu eigen macht? Und weiter: gibt es nicht auch Werte, die ebenso von religionsfernen Menschen geteilt werden?

IV. Verfassungspatriotismus Werte, ohne die ich mir keine Zugehörigkeit vorstellen kann, sind viele Errungenschaften der Aufklärung, besonders Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte. Solche Werte beschreibt präzise unsere Verfassung. Zugehörigkeit, Zusammengehörigkeit, intellektuelle und emotionale Bindung zu diesen Werten und durch sie, all das kommt in dem Konzept des Verfassungspatriotismus zum Ausdruck. Entworfen hat dieses Konzept schon 1970 der Liberale Dolf Sternberger; Jürgen Habermas hat es weiterentwickelt. Beiden ging es um ein Gegenkonzept zu einem völkischen „identitären“ Staats- und Staatsvolksverständnis. „Der einzige Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremdet, ist der Verfassungspatriotismus“, so Habermas. Richard von Weizsäcker hielt den Gedanken für genial, einige Verfassungsrechtler und Politologen haben ihn dagegen scharf kritisiert, haben von einem „emotional armen, rationalen Konstrukt“ gesprochen oder herablassend von einer „wohlmeinenden Professorenfiktion“. Der Streit, der so entstand, ist hoffentlich Vergangenheit. Es lohnt sich, den Begriff wieder ins Bewusstsein zu rücken und neu auszuloten. Ohne dass wir es damals auf den Begriff gebracht hatten, stand er uns schon in der Wirklichkeit vor Augen: Bei der deutschen Wiedervereinigung. Vehement wurde damals diskutiert, ob ein wiedervereinigtes Deutschland eine neue Bundesverfassung brauchen werde oder ob ein Beitritt der DDR nach Art. 23 GG in Betracht kam. Die Frage war rasch entschieden, als eine Umfrage zeigte, dass die Deutschen in Ost und West mit überwältigender Mehrheit den Beitritt wünschten. Das Schlagwort, das damals so Viele beflügelte, hieß aber genauer: Beitritt – zum Grundgesetz. Das Grundgesetz mit seinen hehren Verbürgungen war auch für kritische und skeptische DDR-Bürger faszinierend und überzeugend. In seinem Wortlaut, der in Teilen rasch Gemeingut wurde, fand man Zuversicht und Sinn. Einem so konstruierten Staat wollte man angehören, einem Staat, der so die grundlegenden Freiheits- und Menschenrechte garantiert, schuldete man gerne Loyalität. Nach meinem Verständnis blitze damals realer Verfassungspatriotismus auf. Doch es blieb leider keine dauerhafte Haltung. Vermutlich waren die Erwartungen zu hoch, zu kurzfristig träumte man von blühenden Landschaften. Der bittere Satz von Bärbel Bohley „Wir haben Gerechtigkeit gewollt und den Rechtsstaat bekommen“ zeugt zudem von Missverständnissen. 898

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Das ändert freilich nichts daran, dass der Begriff Stärken besitzt, die uns gerade heute weiterhelfen können. Was eine Gemeinschaft im Inneren zusammenbindet und –hält, was Zugehörigkeit schafft, das sind gemeinsame Überzeugungen von grundlegenden Werten. Wo aber kommen unsere Werte besser und präziser zum Ausdruck als in unserer Verfassung, insbesondere in deren Grundrechtsteil? Damit kann man sich auch dann identifizieren, wenn man die deutsche Nationalgeschichte nicht näher kennt oder wenn man hier nicht geboren wurde. Religiöse Minderheiten können sich von diesen Werten ebenso angesprochen fühlen wie religionslose Menschen. Was bleibt, ist der Vorbehalt, es handle sich um einen Begriff für Juristen, ihm fehle die Emotionalität. Das ist richtig – solange wir es bei dem abstrakten Begriff und bloßen Schlagworten belassen. Je näher wir uns aber mit der Verfassung selbst, mit ihrer Geschichte, mit ihrem Sinn, mit ihrem hohen auch kulturellen Anspruch befassen, umso mehr gilt das Gegenteil. Es ist dies eine Verfassung nicht für Juristen, sondern für alle Menschen; es ist dies ein Text von hoher Emotionalität und hohem Anspruch. Es ist ein Text, der nicht auf dem Papier steht, sondern unser Leben gestaltet. Denn mit der Verfassungsgerichtsbarkeit haben wir in Deutschland eine Institution geschaffen, die ihn auch für jedermann und jede Frau durchsetzbar macht. Was uns womöglich ein wenig abhandengekommen sein könnte, ist das Bewusstsein dafür. Werte müssen gepflegt werden; man muss sie kennen, sich bewusst machen, muss ihre Anwendung im Leben durchdeklinieren. Das gilt auch für unsere werte­ orientierte Verfassung. Wenn wir das Thema den Juristen und Politologen überlassen, behalten Jenen recht, die dem Begriff des Verfassungspatriotismus` die Emotionalität absprechen, ihn für blutleer und akademisch halten.

V. Grenzen der Toleranz Mindestens zwei Fragen, die in einander greifen, bleiben damit offen: Grenzt es nicht an einen Gesinnungsstaat oder an Tugenddiktatur, wenn wir die Überzeugung von der Geltung bestimmter Werte zur Voraussetzung von Gemeinschaft machen? Und daraus resultierend: Gibt es auch für Werte Spielräume und Grenzen? Mit anderen Worten: Was genau heißt Toleranz und wo sind deren Grenzen? Von dem faszinierenden Harvard-Philosophen Michael Sandel stammt der Satz: „Meines Erachtens sollte man mit dem Pluralismus moderner Gesellschaften zurechtkommen, indem man alle moralischen Überzeugungen begrüßt und sich auf einen öffentlichen Dialog mit ihnen einlässt.“ 16 Sandel beschreibt damit das Problem des Wertepluralismus` moderner Gesellschaften, der es schwierig macht, Zusammenhalt in Werteidentität zu suchen. So sehr die Problembeschreibung zutrifft, so wenig könnte ich dem Rezept folgen, einfach alle moralischen Überzeugungen zu begrüßen. Sandel wird kaum den Zirkelschluss gemeint haben, alle moralisch guten Überzeugungen 16 Aus einem Interview mit dem Focus, wiedergegeben in https://www.egonzehnder.com/de/ insight/interview-mit-dem-philosophen-michael-j-sandel.

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seien (als gut) zu begrüßen; er bezog sich vielmehr auf alle Überzeugungen, welche die Moral betreffen. Das ließe aber das Problem der Grenzen außer Betracht, letztlich der Grenzen der Toleranz. Bekanntlich haben auch Rechte, nicht zuletzt die Grundrechte, Schranken. Lediglich die Menschenwürde ist nach unserem Verfassungsverständnis unantastbar und uneinschränkbar. So wie die Schranken der Grundrechte und die Schranken jener Schranken eines der interessantesten Probleme der Grundrechtslehre sind, so gilt dies auch für die ethische Bewertung der Frage nach den Grenzen der Toleranz. Karl Popper hat das Toleranz-Paradoxon formuliert: „Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Denn wenn wir die uneingeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen.“17 Populärer ist die schlichte Formulierung: „Keine Toleranz für Intoleranz!“. Doch ist das wirklich eine Lösung – oder eher ein Zirkelschluss? Gibt es also ein Toleranz-Paradox-Paradoxon? Ich fürchte jedenfalls, dass wir differenzierter untersuchen sollten. Die Frage scheint zunächst erschwert zu werden durch den Umstand, dass Toleranz ein vieldeutiger Begriff ist. Klar ist, dass Toleranz ein Anderssein voraussetzt. Sie verlangt nicht nur keine Anpassung an das Andere, sondern setzt Verschiedenheit gerade voraus. Lassen Sie uns darauf aufbauend lediglich zwei Formen der Toleranz in den Blick nehmen. Zum einen Toleranz als gleichgültige Hinnahme abweichender Überzeugungen oder Verhaltensweisen; das ist die duldende Toleranz. Die moderne Diskussion geht einen Schritt weiter und sieht Toleranz als Offenheit gegenüber dem Anderen, als Bereitschaft zum offenen Dialog. Das ist als Toleranz der Wertschätzung bezeichnet worden. Offensichtlich können die Grenzen der duldenden Toleranz weiter sein als jene der wertschätzenden. Doch solche Grenzen sind auch deshalb nicht festgefügt, weil Toleranz sich zwischen zwei unbestimmten Begriffen bewegt. Wir haben schon gesehen, dass Toleranz eigene Standfestigkeit voraussetzt. Das ist aber ein recht weiter Begriff. Er kann von unbeirrbarer Sturheit bis zur Grenze der Wankelmütigkeit reichen. Offenheit auf der anderen Seite kann passives Hinnehmen meinen, aber auch Neugier und aktive Beteiligung. Wie man in der Moraldiskussion seit Aristoteles nach der Mitte zwischen den extremen Deutungen der Werte sucht, so kann man auch für den toleranten Standpunkt nach einer Mitte suchen: Wer offen für alles ist, hat keinen Standpunkt, ist also nicht wirklich tolerant; wer nur den eigenen Standpunkt gelten lässt, ist es natürlich genauso wenig. Die richtige Haltung scheint mir zu sein, jeweils nach der Mitte zu suchen, dabei zu erkennen, dass es dafür unterschiedliche Überzeugungen geben kann, also keinen Punkt der Mitte zu suchen, sondern einen Spielraum, der gleichzeitig die Grenzen der Toleranz abbildet. 17 Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band 1, London 1945, 7. Aufl. 1992.

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Wenn ich ein Anhänger der Partei A bin, kann ich bei gründlichem Nachdenken etwa auch die politischen Prinzipien der Partei B wertschätzend und dialogbereit würdigen, die der Partei C zwar grundsätzlich ablehnen, aber ihr Existenzrecht verteidigen, während ich die Partei D bekämpfe und sie verbieten möchte. Tolerant bleiben wir dann, wenn wir Anderen das Recht zugestehen, dies nach ihrer subjektiven Wertung ganz anders zu beurteilen. Die Grenze der sog. Intoleranz zweiten Grades wird aber erreicht, wenn schon die abweichende Meinung nicht mehr toleriert, sondern verboten und mit Gewalt bekämpft wird. Ist der deutsche Staat also intolerant, wenn er die Leugnung des Holocaust unter Strafe stellt? Ja, das muss man nach dieser Definition einräumen, aber gleichzeitig sehen, dass Intoleranz nicht per se und unbedingt verwerflich ist, sondern ethisch sogar geboten sein kann. Toleranz und Intoleranz gehören zusammen, jeder Einzelne und jede Gesellschaft verfügt über beides. Unterschiedlich ist das Maß und der Spielraum. Auch dafür kann es keine feste Vorgabe für alle Welt und alle Bezugsthemen geben. Die US-amerikanische Tradition etwa hat bekanntlich in vielen Punkten für eine weit größere Offenheit, für eine stärkere Betonung der Freiheitlichkeit, gesorgt als wir es in Deutschland kennen, und sie führte doch in anderen Fragen zu einer aus unserer Sicht eher engen Haltung.

VI. Globale Leitwerte Ist also alles relativ, bestimmt jeder Einzelne oder jede Gesellschaft ihre Werte und die ethischen Grenzen von Toleranz autonom? Eine solche Laissez-fair-Ethik wäre fatal. Ethik soll unserem moralischen Fühlen und Handeln Richtung und Substanz geben. Die heute so verunsicherten, oft orientierungslosen Gesellschaften dürsten danach. Unsere kurzen Überlegungen führen damit zurück zu der Frage, welche Werte denn für unser Zusammenleben gelten sollen. Ich habe nahegelegt, dafür jene Werte in Betracht zu ziehen, die unserer Verfassung zugrunde liegen. Das würde es auch leichter machen, Wertekollisionen zu lösen, weil die Verfassungsrechtslehre für die Schranken und Schranken-Schranken der Grundrechte praktische und theoretische Grundlagen liefert, die sich gut übertragen lassen. Dies kann Orientierung für unsere deutsche Gesellschaft geben.18 Doch wir sollten uns hüten, daran die ganze Welt messen zu wollen. Schon der Westen ist sich in vielen Grundwerten nicht ganz einig. Viele Traditionen in asiatischen Ländern sind uns erst recht fremd – und umgekehrt. Deshalb braucht es bei globaler Betrachtung eines anderen Maßstabs. Hans Küng hat ihn in mühsamen, tiefgreifenden Untersuchungen herausgearbeitet. Sein Weltethos ist 1995 vom Parlament der Weltreligionen in Chicago als eine glaubwürdige ethische Grundlage aller Religionen und humanistischen Lehren anerkannt und von derselben Institution im Jahr 2019 in Toronto bekräftigt worden. 18 Kaum verändert für ganz Europa, wie die EMRK sowie Vorspruch und Art. 3 EUV zeigen.

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Die Welt ist inzwischen in jeder Gemeinde und Schule zuhause. Es braucht deshalb aller Orten die Besinnung darauf, was uns weltweit und religionsübergreifend verbindet. Die Stiftung Weltethos19 weiß aus vielen praktischen Projekten, wie unerlässlich das auf dem Weg zu Integration und Verständigung überall auf der Welt ist, wenn wir gut und friedlich zusammenleben wollen.

19 www.weltethos.org

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25 Jahre gelebte Governance Inhaltsübersicht I. Der Anlass II. Praxisbezogene Überlegungen zu ­wesentlichen Governancefragen 1. Unabhängigkeit und Qualität von ­Aufsichtsräten a) Auswahl der Organmitglieder b) Unabhängigkeit des Aufsichtsrats vom Vorstand c) Unabhängigkeit des Aufsichtsrats von kontrollierenden Aktionären d) Was sich ändern sollte 2. Vergütung des Vorstands

3. Aktionärsschutzinstrumente: Gegenanträge, Sonderprüfung, Anfechtungsklage a) Gegenanträge und Sonderprüfung b) Anfechtungsklage 4. Einbeziehung der Hauptversammlung in strukturverändernde Maßnahmen 5. Organhaftung und Verfolgungspflichten a) Daimler: LKW-Kartell b) Volkswagen: Dieselskandal III. Ein reformierter Kodex: Was hat das ­gebracht?

I. Der Anlass Nahezu zeitgleich mit dem justiz-ministeriellen Dienstbeginn von Ulrich Seibert beschloss die damals schon größte deutsche Fondsgesellschaft DWS, ihre treuhänderischen Pflichten der Interessenwahrnehmung für ihre Kunden deutlicher sichtbar zu machen. Das hieß die Anliegen ihrer Anteilsinhaber auch nach außen zu vertreten und den ‘Underperformern‘ durch intensivierte Gespräche und Beiträge auf Hauptversammlungen die Ernsthaftigkeit begründeter Anliegen zu vermitteln. Die damals im deutschen Kapitalmarkt seltene Form des ‘aktiven Investors‘1 bedurfte allerdings des Verständnisses des Hauptgesellschafters Deutsche Bank. Nach intensiver interner Diskussion verband deren Vorstand dies mit der Erwartung eines begründet kritischen, aber konstruktiven Ansatzes. Denn es wäre der erweiterten Interessensausübung der DWS gegenüber ihren Portfoliogesellschaften sicher abträglich gewesen, wenn diese dann angesichts der vielfältigen Verbindungen der Bank als Aktionär, Aufsichtsrat und Hausbank die Einstellung der DWS-Initiativen erreicht hätten. Heute ist positiv zu vermerken, dass die Bank bis dato zu dieser vereinbarten Linie steht und gerade in den ersten Jahren entsprechende Bankkunden-Ansinnen abge* Professor Christian Strenger ist Direktor des ‘Centers for Corporate Governance‘ der Handelshochschule Leipzig sowie Aufsichtsrat der DWS Investment GmbH und Chairman der an der New Yorker Börse notierten ‘Germany Funds‘. Von 2001 – 2016 war er Gründungsmitglied der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex. 1 Nicht aber die heute häufig anzutreffende Form des kurzfristig orientierten ’Activists‘ anglo­ amerikanischer Prägung.

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lehnt hat. Dazu trägt auch bei, dass die Vorgehensweise der DWS-Vertreter (Geschäftsführung und Portfolio Manager) konstruktiv geprägt ist und Schwachstellen nur mit detaillierter Begründung verfolgt werden. Es wird also ein ‘Florett-Stil‘ gepflegt und erst bei mangelnder Resonanz der Unternehmen werden die Anliegen auch bei Hauptversammlungen sowie unter Einbeziehung der Medien verfolgt. Zunächst aber wurde die deutlichere Interessensnahme insbesondere von den betroffenen Aufsichtsräten fast als Zumutung empfunden. Das spiegelte den damals etablierten Stil ihrer ‘Arbeit im Stillen‘ entsprechend dem Gedanken der ‘Deutschland AG‘ wieder, die durch fest etablierte Besitzverhältnisse und intensive Interessen der drei Großbanken geprägt war. Die daraus resultierenden Governance-Strukturen und Verhaltensweisen waren oft indirekte, manchmal aber auch direkte Ursache anhaltender Performance-Schwächen, die durch die damals geringeren Transparenzanforderungen zu wenig Aufmerksamkeit erhielten. Konkret wurde dies für die DWS in zwei Fällen: Holzmann und Metallgesellschaft. Diese damals als ‘Blue Chips‘ angesehenen Firmen waren typische Adressen der ‘Deutschland AG‘ mit hohem Bankenanteilsbesitz und entsprechenden Rollen im Aufsichtsratsvorsitz. Zunehmend deutliche Gewinnschwächen und eine auch relativ schlechte Aktienperformance veranlassten zu kritischen Gesprächen mit der Finanzabteilung und auch dem Vorstand. Da diese ohne angemessene Resonanz blieben, wurde die Kritik auch auf den Hauptversammlungen vorgetragen. Da die Reaktion aber auch dort unbefriedigend ausfiel, wurden die Fonds-Positionen zunächst verringert und später vollständig verkauft. Angesichts der Schwierigkeiten beider Unternehmen mit späterer Insolvenz (Holzmann) bzw. Sanierung (Metallgesellschaft) traten deutliche Kursverluste ein, die sich wiederum positiv für die Performance der DWS-Aktienfonds und damit der Kundeninteressen auswirkten. Eine in den 90er Jahren ebenfalls bei großen Unternehmen anzutreffende Schwäche war die übermäßige Portfolioausweitung, meist in Verbindung mit damals zeitmodischen Diversifikations-Aktivitäten. Dies wurde auf der HV 1993 der Hoechst AG durch den DWS-Vertreter thematisiert, was wenig Gefallen beim Vorstandsvorsitzenden erzeugte. Der ‚motivierte‘ anschließend den Aufsichtsratsvertreter der Hausbank Dresdner Bank, seiner Fondsgesellschaft solche ‚geschäftsstörenden‘ Auftritte zu verbieten. Die langjährige Befassung mit Daimler hatte andere Gründe: Dem traditionell vom Großaktionär Deutsche Bank gestellten Aufsichtsratsvorsitzenden gelang es nur bedingt, das richtige Maß und Timing des Handelns des eher stürmisch vorwärts strebenden Vorstandsvorsitzenden Schrempp sicherzustellen. Bald wurden auch in puncto Vorstands-Vergütung neue Höhen und Wege erreicht, oft aber mit wenig gelungenem Ergebnis: So sollte 1996 durch ein Aktien-Optionsprogramm eine am Aktienkurs ausgerichtete Incentivierung (’interest alignment with the shareholders‘) erreicht werden. Leider blieb die damit beabsichtigte langfristige Beteiligung des Managements durch unzureichende Ausgestaltung des Programms (keine mehrjährige Ausübungssperre und kursmäßige Mindesthürde für die Options-Ausübung) auf der Strecke: Der Vorstand übte bereits nach wenigen Monaten mehr als drei Viertel der Optionen aus, wo904

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durch die Grundidee dieser Anreizkomponente ad absurdum geführt wurde. Hinzu trat die als ’Hochzeit im Himmel‘ vorgestellte Übernahme von Chrysler, deren mit zu viel Optimismus vorgetragenen Kernelemente vom Aufsichtsrat wohl gerne begleitet wurden. Die bald auftretenden Ursachen einer ‚Fehlverbindung‘ waren die Verlagerung vom Qualitätssegment zum zyklischen Volumenproduzenten sowie die vergleichsweise schlechte Chrysler-Kostenstruktur. Auch konnten die transkontinentalen Kulturaspekte nicht ausreichend bewältigt werden, sodaß die Realität der Daimler Dominanz statt des behaupteten ‘Merger of Equals‘ Ansatzes deutlicher wurde. Dennoch hielt der Aufsichtsrat lange am Vorstandsvorsitzenden fest, in dessen Amtszeit (19952005) immerhin 50 Mrd. Euro Daimler-Börsenwert vernichtet wurden. Nach Ankündigung seines Abgangs stieg der Aktienkurs um 10 %, was den Wert seiner noch ausstehenden Aktienoptionen um viele Millionen Euro erhöhte. Diese Fälle hatten als gemeinsame Ursachen: zumindest relativ schwache Ergebnis­ entwicklung, mangelhafte Transparenz, unzureichende Vergütungssysteme und zögerliches Ziehen der erforderlichen Konsequenzen. Darüber hinaus war die Deutschland AG (zu) lange geprägt durch kontrollierende Großaktionäre (insbesondere Allianz, Deutsche Bank, Dresdner Bank)2 mit deren Dominanz in Aufsichtsräten und als Haupt-Kredit- und Kapitalgeber. Erst als sich durch die Privatisierung öffentlicher Unternehmen (insbesondere der Deutschen Telekom in 1996) die in Deutschland traditionell relativ geringe Zahl von Privataktionären auf fast 13 Mio. in 20013 erhöhte und gleichzeitig das Engagement großer internationaler institutioneller Investoren (zu Lasten der Bankbeteiligungen) zunahm, ging man daran, die Governance-Strukturen intensiver zu hinterfragen. Welche Rolle spielte die Politik angesichts der zunehmenden Governance-Defizite großer Börsenunternehmen? Die durch unzureichende Controlling- und Risiko-Managementsysteme verursachte Insolvenz der Holzmann AG konnte auch eine Bürgschafts-Intervention des Kanzlers Schröder durch deren Ablehnung der EU Kom­ mission nicht mehr verhindern. Dies veranlasste den Kanzler zur Einsetzung der Regierungskommission „Corporate Governance  – Unternehmensführung  – Unternehmenskontrolle – Modernisierung des Aktienrechts“ mit dem Auftrag: „Die Kommission soll sich aufgrund der Erkenntnisse aus dem Fall Holzmann mit möglichen Defiziten des deutschen Systems der Unternehmensführung und -kontrolle befassen.“4 Der daraus folgenden Erstellung eines im Aktiengesetz (§  161) verankerten Kodex waren zwei private Initiativen zur Festlegung von Governance-Prinzipien vorausgegangen.5 Der von der Regierung ernannte Kommissionsvorsitzende Baums hatte be2 Zur ergebnismäßig nicht gelungenen Auflösung durch die Steuerbefreiung von Buchgewinnen vgl. Brendel/Schwetzler/Strenger, Ownership Structure, Firm Value and Government Intervention: The Case of the German Tax Reduction Act., she. https://papers.ssrn.com/ sol3/papers.cfm?abstract_id=2440706.  3 Vgl. DAI (Hrsg.), Aktionärszahlen des Deutschen Aktieninstituts 2017, S. 3. 4 S. BT-Drucks. 14/7515, S. 3. 5 Vgl. Grundsatzkommission Corporate Governance, DB 2000, 238; Schneider/Strenger, Die „Corporate Governance-Grundsätze“ der Grundsatzkommission Corporate Governance,

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reits an den ’Corporate Governance Grundsätzen‘ der Grundsatzkommission Corporate Governance mitgewirkt, so dass ein ausbaufähiges Grundmuster für die Ausarbeitung des Deutschen Corporate Governance Kodex vorhanden war.6 Der regierungsamtlich sanktionierte Kodex wurde in 2001 entwickelt und im Februar 2002 durch das Bundesjustizministerium veröffentlicht. Der durch den Kodex geschaffene Governance-Rahmen hat inzwischen nicht nur nach Auffassung des Jubilars „einen guten Stand erreicht, der sich international sehen lassen“ kann und hat sich als „stabil und robust erwiesen“.7

II. Praxisbezogene Überlegungen zu wesentlichen Governancefragen Die Begründung für einen stabilen Governance-Rahmen hat der Jubilar zutreffend benannt: „Die gesamte Corporate Governance Diskussion und damit die meisten Ge­ setzesinitiativen im Aktienrecht der letzten 15 Jahre beruhen im Grunde auf dem zen­ tralen Problem des Prinzipal-Agenten-Konflikts.“8 In seiner Darstellung der wesentlichen gesellschaftsrechtlichen Instrumente hat er darauf hingewiesen, dass es dem Gesetzgeber allerdings nicht immer gelingt, das Verhalten der Wirtschaftsakteure in die gewünschten Bahnen zu lenken. In der Folge sollen anhand kritischer Fälle praxisrelevante Verbesserungsnotwendigkeiten aufgezeigt werden. 1. Unabhängigkeit und Qualität von Aufsichtsräten a) Auswahl der Organmitglieder Insbesondere bei der Unabhängigkeit der Aufsichtsräte bestand (und besteht immer noch) erheblicher Verbesserungsbedarf vor dem Hintergrund internationaler Governance-Best Practice: Die Deutschland AG war durch intensive Abhängigkeiten und ’Overboarding‘ gekennzeichnet. Ausschüsse (vor allem Prüfungs- und Nominierungsausschüsse) waren häufig nicht vorhanden und die Auswahl von Aufsichtsräten war auch mangels der erst ab 2016 kodexmäßig zu veröffentlichenden Kompetenzkriterien wenig transparent. Zwar wurde die Problematik der oftmals faktischen Abhängigkeit des Aufsichtsrats vom Vorstand generell verringert. Anhand der Praxisfälle Stada und Solarworld kann aber die negative Folge mangelhafter Unabhängigkeit des akkommodierenden Aufsichtsratsvorsitzenden vom Vorstandsvorsitzenden (trotz aller regulatorischen Vor­ gaben) veranschaulicht werden. Ebenfalls bedenklich ist auch die mangelhafte Regelung der Unabhängigkeit von kontrollierenden Aktionären, wie anhand der Beispiele Volkswagen und ThyssenKrupp geschildert wird. AG 2000, 106 ff.; Berliner Initiativkreis German Code of Corporate Governance, DB 2000, 1573 ff. 6 Vgl. BT-Drucks. 14/7515, S. 14. 7 S. Seibert, 50 Jahre Aktiengesetz 1965: Entwicklung von Kapitalmarkt und Corporate Governance in Deutschland aus der Sicht der Gesetzgebung, AG 2015, 595. 8 S. Seibert, Gesetzliche Steuerungsinstrumente im Gesellschaftsrecht, ZRP 2011, 166 ff.

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b) Unabhängigkeit des Aufsichtsrats vom Vorstand aa) Solarworld Die Solarworld AG galt am Kapitalmarkt als großer Nutznießer der Energiewende, die vom Ingenieur und Mitglied der Grünen Frank Asbeck 1999 an die Börse gebracht wurde. Die in 2000 erreichte massive Subventionierung von Sonnenkollektoren wurde aber später deutlich verringert und traf auf intensiven Preiswettbewerb chinesischer Firmen. Dementsprechend fiel der Solarworld-Aktienkurses von 2007 bis zum Mai 2012 um volle 97 Prozent. Immerhin aber war Solarworld – anders als die meisten deutschen Unternehmen der Branche – bis dahin nicht insolvent gegangen, obwohl das Unternehmen ab 2009 deutliche Verluste zeigte. Dies machte 2013 hohe Kapitalschnitte (bei den Aktien 150:1 und ca. 60 % bei den Anleihen) erforderlich. Durch weiteres Beharren auf einer zunehmend verfehlten Geschäftspolitik eines Allround-Anbieters kam es dann 2017 zur Insolvenz. Die von Asbeck mit katarischer Unterstützung gegründete Nachfolgegesellschaft Solarworld Industries GmbH ging noch schneller bereits im Frühjahr 2018 insolvent. Verursacht wurde diese Entwicklung durch eine Kombination aus strategischen Fehlern, Uneinsichtigkeit des lange erfolgsgewohnten Vorstandsvorsitzenden und keine wirksame Kontrolle durch einen wohldotierten Aufsichtsrat. Dieser war seit dem Börsengang unverändert mit nur drei praktizierenden Rechtsanwälten besetzt, so dass die aktienrechtlich vorgeschriebene Finanzexpertise durch einen entsprechend kenntnisreichen Aufsichtsrat nicht vorhanden war. Darüber hinaus war der Vorsitzende auch Partner einer mittelgroßen Bonner Anwaltskanzlei, in die die Rechtsabteilung der Solarworld ausgelagert war. Der Hinweis des Autors auf der Hauptversammlung in 2011 auf diesen Interessenkonflikt und dass drei Juristen noch keinen Finanzexperten ergäben, wurde als irrelevant abgetan: Der Aufsichtsratsvorsitzende verwies auf seine Banklehre, der Vorstandsvorsitzende stellte die erforderliche Erweiterung des Gremiums durch Aufnahme seiner Ehefrau in Aussicht. Nicht überraschen musste dann, dass der Aufsichtsrat dem Vorstand im Geschäftsbericht 2011 bescheinigte, trotz eines Konzernverlusts von 299 Millionen Euro ‘hervorragende Arbeit geleistet‘ zu haben. bb) Stada Der lange erfolgreiche Stada-Vorstandsvorsitzende Retzlaff konnte insbesondere mangels effizienter Aufsichtsrats-Kontrolle zunehmend frei schalten. Fünf der sechs Anteilseigner-Vertreter im Aufsichtsrat waren bereits seit mehr als zehn Jahren im Aufsichtsrat vertreten, drei davon seit mehr als 20 Jahren Mitglied im Aufsichts- bzw. Beirat. Diese Besetzung machte sich für Retzlaff auch in seiner Vergütung positiv bemerkbar: Als CEO eines kleinen MDAX-Unternehmens erhielt er für 2014 mehr als 7 Mio. Euro, obwohl der Konzern in diesem Jahr einen Gewinnrückgang von 47 % und einen Aktienkursrückgang von 36 auf 25 Euro verzeichnete.9 Auch hatte der Auf9 Vgl. Stada Geschäftsbericht 2014, S. 2, 96.

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sichtsrat ihm zugestanden, seine Pensionsanwartschaft von 32 Mio. Euro auf ein externes persönliches Vorsorgekonto übertragen zu lassen. Angesichts dieser wenig plausiblen Vergütungshöhen wurde auf der Hauptversammlung 2015 von Aktionären eine Sonderprüfung beantragt, bei der die hierfür erforderliche Mehrheit mit 42 % Zustimmung nur knapp verfehlt wurde. Zur Vermeidung langwieriger Gerichtsverfahren schlossen die später weitgehend ausgewechselte Stada-Verwaltung und die Sonderprüfungs-Antragsteller in Folge eine ‘rechtsgestützte Verfahrensbeilegung‘. Inzwischen ist die Übernahme der Gesellschaft durch zwei private Equity-Firmen mit einer Vielzahl von Gremienwechseln erfolgt, deren Governance-Qualität angesichts des Delistings der Aktien verborgen bleiben dürfte. c) Unabhängigkeit des Aufsichtsrats von kontrollierenden Aktionären aa) Volkswagen Im Mai 2011 hatte sich die Porsche Automobil Holding SE durch den heutigen Vorstandsvorsitzenden Pötsch (und gleichzeitig VW-Aufsichtsratsvorsitzenden) zur Vermeidung einer Sonderprüfung für die in 2008 nach der Beinahe-Insolvenz der Gesellschaft an den CEO Wiedeking und den CFO Härter grundlos gezahlten 70 Mio. Euro Abfindungen gegenüber dem Autor, der Deka Investment und dem norwegischen Öl-Pensionsfonds schriftlich verpflichtet, für konkrete Governance-Verbesserungen im VW Konzern zu sorgen.10 Diese sind bisher jedoch weitgehend ausgeblieben: Die  erheblich defizitären Governance-Verhältnisse, die entscheidend zum späteren Dieselskandal und den dafür jetzt schon 30 Mrd. Euro übersteigenden Kosten beigetragen haben dürften, prägen auch noch vier Jahre später das Bild des Volkswagen-­ Konzerns und der hierfür verantwortlichen Verwaltung. Mangelhafte unternehmerische Expertise und durchweg fehlende Unabhängigkeit des Aufsichtsrats werden als wesentliche Ursachen für die defizitäre Kontrolle des Vorstands zitiert. So ist die hierzu auch 2019 erneut wiederholte Entsprechenserklärung nach §  161 AktG von Aufsichtsrat und Vorstand als unzutreffend anzusehen: Gemäß Ziff. 5.4.2 des Deutschen Corporate Governance Kodex (DCGK) sollen dem Aufsichtsrat eine angemessene Zahl unabhängiger Mitglieder angehören. Trotz eines VW-Selbstgebots von vier unabhängigen Personen ist nach den hierfür relevanten Kriterien kein Mitglied des Aufsichtsrats als tatsächlich unabhängig anzusehen. Da dem Aufsichtsrat somit weniger unabhängige Mitglieder angehören als die Verwaltung dies selbst für notwendig erachtet, ist die fehlerhafte Entsprechenserklärung als eine wesentliche Informationspflichtverletzung einzustufen, die nicht als bloßer „Formalverstoß“ zu werten ist.11

10 Vgl. https://www.porsche-se.com/mitteilungen/pressemitteilungen/details/news/detail/News/​ vorzugsaktionaere-sollen-dividende-von-50-eurocent-je-vorzugsaktie-erhalten/ (letzter Ab­ ruf: 1.6.2018). 11 Vgl. BGH v. 21.9.2009 – II ZR 174/08 – „Umschreibungsstopp“, juris, Rz. 18.

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Der Aufsichtsratsvorsitzende und die übrigen Aufsichtsratsmitglieder sind auch für die bisher zumindest nicht sichtbare (aber juristisch erforderliche) Verfolgung von Ansprüchen gegen den ehemaligen Finanzvorstand Poetsch und die im Zeitraum der Dieselgate Affäre agierenden Vorstandsmitglieder verantwortlich.12 Dieser substantielle Interessenkonflikt des jetzigen Aufsichtsratsvorsitzenden steht auch im Gegensatz zu Ziff. 5.5.3 DCGK, wonach wesentliche und nicht nur vorübergehende Interessenkonflikte ex ante zur Inhabilität und zur Beendigung des Mandats führen sollen. Medial vermittelt der amtierende Volkswagen-Aufsichtsrat regelmäßig das Bild einer gegenseitig abhängigen, wagenburgartigen Gemeinschaft, bestimmt durch die Familien und Landespolitiker, die anscheinend die Leitprinzipien Selbstbestellung, Selbstkontrolle, Selbstprüfung und Selbstentlastung verfolgen, gegen die Interessen des Unternehmens, seiner Mitarbeiter und Kunden sowie der freien Aktionäre. bb) ThyssenKrupp Die mangelhafte Befassung des Aufsichtsrats mit den zur Wiedererlangung einer signifikanten Stahl-Weltmarktposition in 2005 beschlossenen Investitionen in Brasilien und USA war mitursächlich für den bis 2011 eingetretenen Verlust von ca. 8 Mrd. Euro, also rund 2/3 des Eigenkapitals. Auch war das Unternehmen in zahlreiche Kartell- und Schmiergeldfälle verstrickt. In der das Investitionsdesaster behandelnden Hauptversammlung vom 18.  Januar 2013 konnte sich der langjährige Aufsichtsrats-vorsitzende Gerhard Cromme nur mit den Stimmen der von ihm wesentlich beeinflussten Krupp-Stiftung quasi selbst entlasten. Der Aufsichtsrat hatte vor der HV durch ein weiteres Experten-Gutachten versucht, seine defizitäre Überwachungsleistung zu exkulpieren, von dem zunächst aber nur eine entlastende und dadurch irreführende Kurzfassung vorgelegt wurde. In der erst auf der HV frei zugänglichen Langfassung bemängelte der Gutachter Prof. von Werder allerdings „mangelhafte Kontrollinstrumente“ und „Koordinationsdefizite im TK-­ Konzern“: „…so vermitteln die zur Verfügung gestellten Dokumente im Nachhinein ­betrachtet insgesamt ein eher unbefriedigendes Bild von der Qualität der Informationsversorgung des AR“, „…liegt es aber auf der Hand, dass die Prognosen des Vorstands über Jahre weg, regelmäßig zu optimistisch und damit in hohem Maße unzuverlässig gewesen sind.“ Auf der Hauptversammlung wurde vom Autor und der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW) eine Sonderprüfung der Ursachen der massiven Verluste beantragt. Dieser Antrag erhielt auf der HV nicht die erforderliche Mehrheit der Aktionäre, sodass die gerichtliche Weiterverfolgung des Antrags zu betreiben war. Da inzwischen Herr Cromme auf Verlangen des Ehrenvorsitzenden Beitz zurückgetreten war und auch von den komplett zurückgetretenen früheren Vorständen eine Wiedergutmachung nicht nur annähernd zu erwarten war, wurde von den Antragstellern mit dem neuen Vorstand eine erstmals in Deutschland angewandte ‘freiwilli12 Vgl. Abschnitt II. 4. b) im vorliegenden Beitrag.

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ge Sonderprüfung‘ vereinbart. Ziel dieses Novums war, im Interesse von Unternehmen und Aktionären ein langwieriges Gerichtsverfahren zur Durchsetzung einer vergangenheitsbezogenen Sonderprüfung nach § 142 AktG zu vermeiden. Stattdessen wurde vereinbart, durch zukunftsorientierte Prüfungen der Geeignetheit der internen Überwachungssysteme sowie des Investitionscontrollings von Großprojekten eine Wiederholung der gravierenden Fehler wie erneute Kartell- und Korruptionsverstöße zu vermeiden.13 Die Sonderprüfung wurde innerhalb von vier Monaten abgeschlossen und konnte durch volle Transparenz erheblich zur Wiederherstellung der Reputation des Konzerns beitragen.14 d) Was sich ändern sollte Die Praxisbeispiele zeigen die erheblich negativen Folgen unzureichender Besetzung des Aufsichtsrats mit nicht unabhängigen bzw. nicht ausreichend kompetenten Mitgliedern für Unternehmen und Aktionäre. So ist die Kodex-Klassifizierung der Unabhängigkeit durch deutlichere Kriterien weiter zu schärfen. U.a. sollten auch Aufsichtsratsmitglieder, die mehr als 10  % des stimmberechtigten Aktienkapitals vertreten, grundsätzlich nicht als unabhängig anzusehen sein, falls nicht ein anderer Großaktionär über eine dauerhafte Kontrolle der Hauptversammlung verfügt. Weiterhin sind ehemalige Vorstandsmitglieder, verantwortliche Abschlussprüfer und Berater sowie entsandte Aufsichtsratsmitglieder (als Folge politischer Vorgaben) grundsätzlich als nicht unabhängig einzustufen. Ebenfalls sollte ein ursprünglich unabhängiges Mitglied nach zehn Jahren Aufsichtsratszugehörigkeit nicht mehr als unabhängig angesehen werden können. Leider hat der Gesetzgeber durch die Streichung des Unabhängigkeitserfordernisses für den Prüfungsausschussvorsitzenden nach §  100 Abs.  5 AktG a.F. diesem wichtigen Anliegen guter Governance nicht geholfen. Erfreulicherweise hat die Regierungskommission diese Streichung durch Beibehaltung der Soll-Empfehlung (DCGK 5.3.2) nicht nachvollzogen und inzwischen weitere Unabhängigkeits-Kriterien wie ‚nahestehende Personen‘ in der Kodexreform 2019 eingeführt. 2. Vergütung des Vorstands Zur diesem gewichtigen gesellschaftsrechtlichen Steuerungselement führte der Jubi­ lar aus: „Richtig gesetzte finanzielle Anreize – positive wie negative – sollen den Vorstand in die gewünschte Richtung lenken. […] Das Vorhaben krankt daran, dass der Prinzipal, also der Aktionär, die sehr komplexen Bedingungen der [Vergütungsprogramme] nicht ausreichend überwachen kann.“

13 Der Prüfbericht der Sonderprüfer BDO und Prof. Hans-Joachim Böcking wurde auf der ThyssenKrupp-Website veröffentlicht und ist dort immer noch zugänglich. Vgl. https://www.​ thyssenkrupp.com/de/unternehmen/compliance/pruefberichte/ (letzter Abruf: 27.6.2018). 14 Zum Gegenbeispiel Volkswagen der gerichtlichen Anordnung einer Sonderprüfung wegen unterlassener interner Untersuchung vgl. Abschnitt II. 3. b) im vorliegenden Beitrag.

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In 2017 scheiterten drei DAX30-Unternehmen (Merck, MunichRE und Pro 7 Sat.1) bei unverbindlichen, aber wirkmäßig nicht ignorierbaren HV-Abstimmungen über Vorschläge für neue Vergütungssysteme.15 Hauptpunkt der Kritik institutioneller Investoren war die hohe Komplexität der Systeme und die intransparente Vergütungsberichterstattung, wodurch der Zusammenhang von nachhaltiger Performance und variabler Vergütung zumindest unklar blieb. Auch war praktisch keine Bezugnahme der variablen Vergütung auf die inzwischen als ‘Best Practice‘ geltenden ESG-Faktoren festzustellen. In der Folge werden exemplarisch die Negativfälle Deutsche Börse, Solarworld und Zalando zur Verdeutlichung der Kernprobleme behandelt. Deutsche Börse Für den am 1. Juni 2015 angetretenen CEO Kengeter beschloss der Aufsichtsrat im September 2015 zusätzlich zu seinem bereits 2014 vereinbarten Vorstandsvergütungspaket einen Co-Performance-Investment-Plan. Diesem Plan entsprechend erwarb Kengeter im Dezember 2015 Deutsche Börse-Aktien für 4,5 Mio. Euro, die von der Gesellschaft mit einem gleich hohen Euro-Betrag in Aktien ‘ gematcht‘ wurden; letzteres erfolgte allerdings auf der Basis eines viele Monate zurückliegenden Kurses von 26% unter dem Kurs vom Dezember 2015, was für ihn eine deutlich höhere Aktien-Gutschrift ergab. Da Kengeter bereits ab Juli 2015 vertrauliche Fusionsgespräche mit dem CEO der London Stock Exchange aufgenommen und die Benachrichtigung des Bundesfinanzministeriums über das Vorhaben (Ergebnis: „No action!“) erfolgt war, hatten die Umstände im Aktien-Erwerbszeitpunkt zumindest einen verdichtenden Zustand erreicht. Angesichts des vermutbaren Augenscheins eines Insiderhandels führte dies zu aufsichtlichen und staats-anwaltschaftlichen Ermittlungen. In puncto Angemessenheit der Vergütung zeigte der Co-Performance-Investment-Plan schon aufgrund der Zurückdatierung des Kurses der vom Unternehmen zu leistenden Aktien einen erheblichen Turbo-Effekt. Bei Erreichen anspruchsvoller Performance-Hürden und entsprechender Entwicklung des Aktienkurses hätten Kengeter in einigen Jahren zusätzlich zur Normalvergütung noch zwischen 20 und 40  Mio. Euro zufließen können. Obwohl durch Verzicht auf das so attraktive Matching Paket eine Einstellung der Untersuchungen von BaFin und Staatsanwaltschaft möglich gewesen wäre, verteidigte Kengeter später seinen Aktienerwerb sogar als „moralische Verpflichtung“. Dieser vom Aufsichtsrat nicht beanstandete Aktienkauf erwies sich neben der als ungenügend empfundenen Beachtung des quasi-öffentlichen Charakters der Börse und mangelnder Vorabklärung der LSE-Transaktion mit der erstzuständigen Wiesbadener Regulierungsbehörde als wesentlicher Grund des mangelnden Erfolgs des Fusionsplans. 15 Dies ist keineswegs auf Interessenkonflikte eines Duopols von Stimmrechtsberatern und der blinden Befolgung von deren Empfehlungen durch große Investorenhäuser zu begründen. So nämlich Dörrwächter/Kramarsch/Siepmann, Stimmrechtsberater auf dem Cor­ porate-Governance-Prüfstand, Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen 2017, 865 ff. Klarstellend: Strenger, Macht der Stimmrechtsberater – Realität oder Mythos?, Börsen-Zeitung v. 6.2.2018, S. 13.

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Solarworld Aufsichtsrat und Vorstand schlugen den Aktionären trotz des hoch defizitär ausgefallenen Geschäftsjahrs 2011 eine Dividende von 9 Cents pro Aktie vor. Was auf den ersten Blick als unerwartete Großzügigkeit gegenüber den Anteilseignern erschien, war tatsächlich ein Weg zur zusätzlichen Vergütung von Vorstand und Aufsichtsrat ohne jede wirtschaftliche Berechtigung: die aus den Reserven gezahlte Dividende war nämlich zwingende Voraussetzung dafür, dass Vorstand und Aufsichtsrat Boni-Vergütungen von zusammen 1,3 Millionen Euro ausgezahlt bekamen, obwohl die knappe Finanzdecke dies kaum erlaubte. Die zehn Millionen, die die Dividendenzahlung inklusive unverdienter Boni kostete, fehlten dem Unternehmen bald dringend an anderer Stelle. Zalando Der Zalando-Hauptversammlung 2018 wurde die Senkung der jährlichen Festvergütung der drei Vorstände um 2/3 auf jeweils 65000 Euro vorgetragen. Im Gegenzug wurde aber eine aktienbasierte variable Komponente eingeführt, die jedem Vorstandsmitglied nach fünf Jahren bei überdurchschnittlicher Umsatz- (nicht Ertrags-) Entwicklung sowie dann anzunehmender Kursentwicklung bis zu 90 Mio. Euro (zzgl. etwaiger Dividenden) einbringen kann. Die damit verbundene Einschätzung der Verwaltung, dass dieses neue Vergütungssystem „im Einklang mit sämtlichen Empfehlungen des DCGK zur Vorstandsvergütung“16 ist, kann kaum geteilt werden: es ist zumindest fraglich, ob die neue Vergütungsstruktur gemäß § 87 Abs. 1 Satz 2 AktG einer ‘üblichen‘ Vergütung entspricht und ausreichend auf eine nachhaltige Unternehmens­ entwicklung ausgerichtet ist. Denn für die Vorstände besteht ein hoher potentieller Anreiz, zumindest in den letzten Jahren der Fünfjahresperiode, wesentliche Zukunftsinvestitionen in Infrastruktur und Personal etc. zu verringern und den Aktienkurs durch Aktien-Rückkäufe zu steigern. Was sich ändern sollte Wie die Beispiele der so hoch ausfallenden Maximalwerte der aktienbasierten Vergütung bei Deutscher Börse und Zalando belegen, muss der Aufsichtsrat seiner Pflicht zur Festsetzung angemessener Vergütung durch extensive ex ante Abschätzung der möglichen Höchstwerte genügen. Die im Fall Zalando gesetzte Höchstgrenze von ca. 90 Mio. Euro je Vorstandsmitglied kann selbst bei jungen und schnell wachsenden Firmen nicht das Angemessenheitsgebot erfüllen. Ein verbindliches HV-Votum („say-on-pay“) der betroffenen Aktionäre zum System erscheint schon angesichts der zahlreichen mangelhaften Vergütungsfälle angezeigt. Im jeweiligen System sollten absolute und relative Obergrenzen (Caps) für alle variablen Komponenten eindeutig vorgegeben werden. Bei nachträglichem Bekanntwerden von Fehlverhalten sollten zumindest variable Vergütungsbestandteile zurückge16 S.  Zalando SE  – Ordentliche Hauptversammlung 2018: Bericht über das vorgeschlagene neue System zur Vorstandsvergütung, S. 11.

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fordert werden können; bei Finanzinstituten sind ‘Claw-backs‘ bereits gesetzlich (KWG) etabliert. Weiterhin hat ein überzeugendes Vergütungs-System die relevanten Nachhaltigkeits­ aspekte (Environmental, Social and Governance Issues, ‘ESG‘) angemessen zu berücksichtigen. Faktoren wie Mitarbeiter- und Kundenzufriedenheit, Energieverbrauch und CO2-Ausstoß sind inzwischen ausreichend messbar und sollten neben die als ‘lagging indicators‘ geltenden Finanzkennzahlen (bereinigtes EBITDA, Total Shareholder Return) treten. Die Verwendung branchenmäßig relevanter ESG-Faktoren erlaubt auch eine Einschätzung der Zukunftsfähigkeit des Unternehmens17 als wesentliche Grundlage für variable Vergütungen. 3. Aktionärsschutzinstrumente: Gegenanträge, Sonderprüfung, Anfechtungsklage „Zunächst einmal sollen Rechtsverletzungen unter den Privaten selbst verfolgt werden. Dazu kann das Gesetz Anreize schaffen und die Rahmenbedingungen bereitstellen.“18 Der Verfolgung von Rechtsverletzungen dienen insbesondere die gesetzlichen Aktionärsschutzinstrumente: Gegenanträge, Sonderprüfung und Anfechtungsklage. a) Gegenanträge und Sonderprüfung Anträge auf Nichtentlastung (§ 126 AktG) zeigen aufgrund der Sanktionslosigkeit einer Nichtentlastung in der Regel wenig Wirkung bei den Unternehmensverwaltungen. Sie sind aber geeignet, Aufmerksamkeit und Interesse anderer Aktionäre zu wecken und können auch die Empfehlungen von Stimmrechtsberatern beeinflussen. Erstmalig führte ein Antrag auf Nichtentlastung des Bayer-Vorstands auf der HV am 26.4.2019 zu einer mehrheitlichen Nichtentlastung; dies war vorrangig der ohne Aktionärszustimmung eigenmächtig betriebenen 63 Mrd. USD Monsanto-Akquisition geschuldet. Das im Erfolgsfall erheblich wirksamere Instrument der Sonderprüfung (§ 142 AktG) wird aufgrund seiner Komplexität in der Durchsetzung wenig genutzt.19 Durch die persönliche Haftung20 von Vorstand bzw. Aufsichtsrat für gravierende Pflichtverstöße kann es aber erhebliche Wirkung entfalten. Neben der gesetzlichen Sonderprüfung wurden inzwischen auch Wege gefunden, langwierige Rechtsverfahren durch im beiderseitigen Einvernehmen getroffene Prüfverfahren zu ersetzen. So konnte in den zuvor beschriebenen Fällen ThyssenKrupp und Stada von der gerichtlichen Verfolgung der gesetzlichen Sonderprüfung durch die Vereinbarung einer freiwilligen Sonderprüfung bzw. einer ‘rechtsgestützten Verfahrensbelegung‘ abgesehen werden. Diese Wege eignen sich gerade dann, wenn von 17 Vgl. IDW Positionspapier zu den Auswirkungen der digitalen Transformation auf Finanzberichterstattung und Unternehmensbewertung, S. 13-15.  18 S. Seibert, Gesetzliche Steuerungsinstrumente im Gesellschaftsrecht, ZRP 2011, 167. 19 Vgl. Hüffer/Koch, § 142 AktG Rz. 1. 20 Vgl. Hirte, ZIP 1988, 954.

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den für die Fehlhandlungen verantwortlichen (meist aber inzwischen ausgeschiedenen) Vorständen und/oder Aufsichtsräten keine ausreichende Wiedergutmachung des Schadens zu erwarten ist. Dann kann es für das Unternehmen und die Aktionäre sinnvoller sein, mittels ausführlicher Prüfung (und anschließender Verbesserung) der Compliance- und Risikomanagementsysteme eine Wiederholung der Schadensfälle so gut wie möglich zu vermeiden. b) Anfechtungsklage Zum Schutz der Minderheitsaktionäre schuf der deutsche Gesetzgeber laut Seibert ein „scharfes Schwert: Jeder Aktionär mit einer Aktie kann Anfechtungsklage erheben, mit der die Durchführung wichtiger Beschlüsse während der Verfahrensdauer angehalten werden kann. Die Furcht vor der Anfechtungsklage diszipliniert die Vorstände und führt zu gesetzeskonformen Beschlussvorschlägen.“21 Diese Klagemöglichkeit wurde allerdings vermehrt auch von Berufsklägern genutzt, die sich dann durch formale Rechtspositionen „den Lästigkeitswert ihrer Klagen abkaufen lassen“.22 Der Gesetzgeber hat zur Begrenzung derartiger Klagen in 2009 durch die Einführung des § 246a AktG ein ‘Freigabeverfahren‘ geschaffen, das Unternehmen durch Verfolgung satzungsändernder Maßnahmen wie Kapitalbeschaffung oder Abschluss eines Unternehmensvertrages die expediente Durchführung der Transaktionen ermöglicht, ohne den Klägern die Wiedergutmachung eines möglichen Schadens nach erfolgreicher Klage zu nehmen. Dennoch wird das Argument des Risikos von Anfechtungsklagen auch als Rechtfertigung für die Nichtbeachtung fundamentaler Elemente guter Governance genutzt: So hat Bayer mit dieser Begründung seine Aktionäre nicht über die das Unternehmen transformierende Monsanto-Übernahme abstimmen lassen. 4. Einbeziehung der Hauptversammlung in strukturverändernde Maßnahmen Die HV-Genehmigung für die Unternehmensstruktur entscheidend verändernde Maßnahmen durch die Eigentümer ist schon lange insbesondere in Großbritannien und den USA zwingend.23 Bei Bayer führte die Monsanto-Übernahme zu einer strategischen Neuausrichtung durch die Schwerpunktverlagerung vom Pharma-Segment zur deutlich zyklischeren Agro-Chemie mit einem Kaufpreis von 63 Mrd. USD (entsprechend 155 % des Bayer-Konzernumsatzes 2017, 60 % der damaligen Bayer Marktkapitalisierung und 148  % des Bayer Eigenkapitals). Die so erheblich strategische Transformation und die dafür erforderliche Aufnahme von die Bilanzstruktur intensiv verändernden Eigen- und Fremdkapitalmitteln hätten die Zustimmung der 21 S. Seibert, Gesetzliche Steuerungsinstrumente im Gesellschaftsrecht, ZRP 2011, 167. 22 Vgl. Seibert, Berufsopponenten – Anfechtungsklage – Freigabeverfahren – Haftungsklage: Das UMAG, eine Rechtsfolgenanalyse, NZG 2007, 845. Die wörtlichen Zitate sind ebd. aufgeführte Aussagen der damaligen Justizministerin Zypries auf der Corporate Governance Kodex-Konferenz am 5.7.2007 in Berlin. 23 Vgl. BT-Drucks. 14/7515, S. 55.

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Hauptversammlung gemäß § 119 Abs. AktG finden sollen. Dies unterblieb aber aus vorgeblicher Sorge vor einer durch Anfechtungsklagen verbundenen Verzögerung der Übernahme. Zwar hatten Aktionäre durch die ehedem erforderliche Wiederauffüllung des genehmigten Kapitals den rechtssicheren Weg einer das Freigabeverfahren ermöglichenden satzungsändernden Kapitalerhöhung vorgeschlagen. Da die Bayer-Verwaltung aber aus wenig plausiblen Gründen davon keinen Gebrauch machen wollte, sieht sie sich nun nach massiven Kursverlusten durch evident gewordene intensive Prozessrisiken von Monsanto-Produkten noch deutlicheren Vorwürfen der Aktionäre gegenüber. Vor dem Hintergrund großer Übernahmefälle ohne Aktionärsplazet (u.a. auch Linde/Praxair) wurde inzwischen ein Vorschlag für eine gesetzliche Regelung entwickelt. Dieser sieht eine anfechtungs-sichere Zustimmungspflicht für wesentliche Transaktionen (bei einem Übernahmewert von größer als ein Drittel der konsolidierten Bilanzsumme oder größer als die Hälfte der Marktkapitalisierung des übernehmenden Unternehmens) vor, mit der die Anfechtungsproblematik vermieden werden kann.24 Leider ist festzustellen, dass dieser Vorschlag bisher noch keine vertiefte Diskussion der maßgeblichen Stakeholder und gesetzesändernde Überlegungen ausgelöst hat. 5. Organhaftung und Verfolgungspflichten „Bei Unternehmensorganen wäre es schön, wenn die Gesellschaften selbst für Sauberkeit und Hygiene sorgen würden, wenn sie selbst die pflichtwidrigen Organe in Haftung ­nehmen würden und der Staat sich zurücknehmen könnte.“25 Dabei sind Aufsichtsrat und Vorstand nach ARAG/Garmenbeck-Rechtsprechung des BGH26 verpflichtet, bei Pflichtverstößen von Vorstand und Aufsichtsrat mögliche Haftungsansprüche zu ­verfolgen – eine Ausnahme hiervon steht generell nicht in ihrem Ermessen.27 Dennoch besteht auch bei der Verfolgung von festgestellten Haftungsansprüchen häufig eine netzwerkbedingte Zurückhaltung (auch „Beißhemmung genannt“28), die bei den nachfolgenden Praxisfällen deutlich vermutet werden kann. a) Daimler: LKW-Kartell Im Zeitraum von 1997 bis 2011 bildeten Daimler, Volvo, Iveco, DAF und MAN ein LKW-Kartell, das von der EU mit Strafen von über 3 Milliarden Euro belegt wurde, wovon Daimler die höchste Einzelstrafe von über einer Milliarde Euro zu bezahlen hatte. Laut EU-Kommission waren die „senior managers“ bzw. „representatives of the headquarters of all addressees“ beteiligt.29 Der Daimler Aufsichtsrat hat bisher keine 24 Vgl. Stephan/Strenger, Die Zuständigkeit der Hauptversammlung bei Strukturveränderungen – ein anlassbedingter Vorschlag, AG 2017, 348 ff. 25 S. Seibert, Gesetzliche Steuerungsinstrumente im Gesellschaftsrecht, ZRP 2011, 168. 26 BGH v. 21.4.1997 – II ZR 175/95. 27 Vgl. Lutter in FS Hoffman-Becking, S. 751. 28 S. Seibert, Gesetzliche Steuerungsinstrumente im Gesellschaftsrecht, ZRP 2011, 168. 29 Vgl. EU-Kommission vom 19. Juli 2016; AT.39824 – Trucks, Rz. 49, 51 f.

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Regressansprüche gegen die damaligen Vorstände gestellt, auch unter Berufung auf ein von Daimler im März 2018 bestelltes Gutachten von Prof. Habersack.30 Allerdings wurde daraus nur eine einseitige ‘Stellungnahme‘, nicht aber das vollständige Gutachten veröffentlicht. Bei der Verfolgung von Haftungsansprüchen ist beachtlich, dass der seit vielen Jahren amtierende Aufsichtsratsvorsitzende Bischoff im einschlägigen Zeitraum Mitglied des Vorstands war und der aktuelle Vorstandsvorsitzende Zetsche damals die LKW-­ Sparte verantwortete. Angesichts dieser potenziellen Interessenkonflikte wurde aktionärsseitig empfohlen, das Thema durch einen Sonderausschuss des Aufsichtsrats mit zumindest mehrheitlich unabhängigen Aufsichtsräten behandeln zu lassen, der von unabhängigen Prüfern unterstützt werden sollte. Dieser Vorschlag wurde jedoch mit der Begründung nicht aufgenommen, dass der gesamte Aufsichtsrat (incl. des betroffenen Aufsichtsrats-vorsitzenden) damit befasst worden sei und dieser keine Verfolgungsnotwendigkeit gesehen hätte. Im Ergebnis wird also der Milliardenschaden bisher allein von den Aktionären getragen. b) Volkswagen: Dieselskandal Der Dieselskandal dürfte wesentlich durch eine autokratisch geprägte Unternehmenskultur, Nichtbeachtung der Interessenkonflikte kontrollierender Aktionäre (Familien Porsche/Piech, Niedersachsen), einem weitestgehend abhängigen Aufsichtsrat und ungenügenden Risiko- und Compliance-Managementsystemen verursacht worden sein. Der nach der endlichen Aufdeckung in 2015 eilig verkündete Kulturwandel zeigte auch viele Jahre danach wenig Wirkung, wie in 2018 durch die EUGT-Führungsrolle des Konzerns, insb. auch bei Versuchen mit Affen, den Prevent Observierungsskandal und auch 2019 durch den erneut kritischen Zwischenbericht des vom US Department of Justice bestellten Monitors Larry Thompson mehrfach bestätigt wurde. Wesentliches Hemmnis für eine überzeugende Aufklärung der zahlreichen Skandale dürfte sein, dass das ‘Familienoberhaupt‘ Wolfgang Porsche aufgrund seiner persönlichen Interessenkonflikte als kaum glaubwürdiger Vorsitzender des VW-Ausschusses zur Aufklärung der Dieselgate Affäre fungiert. Der VW Aufsichtsrat hatte im September 2015 Herrn Winterkorn einen unkonditionierten ‚Persilschein‘ erteilt, obwohl der von Herrn Porsche angeführte Ausschuß und der gesamte Aufsichtsrat zunächst dessen Führungsrolle oder zumindest ein ‘Organverschulden‘ für den Dieselskandal hätten überprüfen müssen. Die netzwerkbedingte Passivhaltung statt der Erfüllung der auch juristisch gebotenen Verfolgungspflicht ist bei Volkswagen und der kontrollierenden Porsche SE deutlich ableitbar: weder verfolgte der VW-Aufsichtsrat erkennbar Pflichtverstöße von aktuellen und ehemaligen VW-Vorstandsmitgliedern (insbesondere des früheren Finanzvorstands Poetsch und des AUDI-Vorstands Stadler) noch verfolgt der VW-Vorstand Pflichtverstöße von aktuellen und ehemaligen 30 Vgl. https://www.daimler.com/dokumente/investoren/hauptversammlung/daimler-ir-hv-­ gegenantraegestellungnahmeverwaltung-2018.pdf, S. 5 f. (letzter Abruf: 22.6.2018).

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VW-Aufsichtsräten. So ist nach Auffassung des LG Stuttgart der objektive Eindruck entstanden, „dass der VW-Aufsichtsrat Schadensersatzansprüche gegen aktuelle und ehemalige VW-Vorstandsmitglieder weder pflichtgemäß prüft noch durchsetzt.“31 Spätestens in dieser Situation wäre der Vorstand der Porsche SE verpflichtet, im eigenen Vermögensinteresse „Möglichkeiten zur Sicherung und Durchsetzung solcher Ansprüche […] mindestens zu prüfen – bis hin zur Einleitung eines Klagezulassungsverfahrens nach § 148 Abs. 1 AktG.“32 Die Entlastung aller VW und Porsche SE Vorstände und Aufsichtsräte mit den Stimmen der Eigentümerfamilien trotz mutmaßlicher schwerwiegender Verstöße sei nicht mit der Treuepflicht gegenüber den Minderheitsaktionären vereinbar.33

III. Ein reformierter Kodex: Was hat das gebracht? In den 17 Jahren seiner Existenz hat sich der Kodex der Regierungskommission als verlässliche Grundlage der freiwilligen Selbstregulierung sowohl für Unternehmen als auch für Investoren bewährt. So konnte vielen regulatorischen bzw. legislativen Eingriffen vorab begegnet werden, wenn nicht eine zu hohe Abneigung der Unternehmen gegenüber wichtigen Kodex-Vorgaben (wie Individualtransparenz der Vorstandsbezüge oder fehlender Automatismus beim Wechsel von Vorständen in den Aufsichtsratsvorsitz) zu konstatieren war und dann zu Bundestagswahl-motivierten Gesetzesmaßnahmen führte. Es erschließt sich daher kaum, warum Konzept und Struktur des Kodex grundsätzlich verändert werden mussten. Die vom heutigen Vorsitzenden der Regierungskommission schon bei seinem Amtsantritt im Juni 2017 als wesentlicher Grund genannte Aversion vieler Börsenunternehmen kann keine hinreichende Begründung einer radikalen Veränderung sein, da diese Adressaten die Mühe der Einhaltung jedweder Kodexregeln bestenfalls hinnehmen, aber Neuerungen kaum begrüßen dürften. Der bisher geltende Kodex trug durch ein umfassendes Gesamtbild der deutschen Governance-Verhältnisse wesentlich dazu bei, internationalen Investoren, Börsen-Neulingen und weiteren Stakeholdern das duale Governance-­ System kompakt zu vermitteln. Die eingeschlagene Abkehr vom etablierten Kodex mit seiner klaren Gliederung und gesetzlichen Verankerung durch die im ‘Comply or Explain‘-­Weg zu befolgende Entsprechenserklärung hat zu intensiver Kritik34 an dem im November 2018 vorgestellten Entwurf geführt. Die zunächst von der Kommission verfolgten Änderungen hätten eher eine Ausweitung als eine ‚Verschlankung‘ des ­Kodex bewirkt. Inwieweit die endgültige Fassung ausreichende Zustimmung der Hauptbetroffenen erfahren und damit langfristig eine wesentliche Akzeptanzsteigerung der Unternehmen bewirken kann, ist zumindest offen. Sinnvoller wäre es gewesen, den Kodex in den oben behandelten Punkten gezielt weiterzuentwickeln, um die unternehmensseitig oft geübte formaljuristische Herange31 S. LG Stuttgart v. 19.12.2017 – 31 O 33/16 KfH, juris, Rz. 134. 32 S. LG Stuttgart v. 19.12.2017 – 31 O 33/16 KfH, juris, Rz. 134. 33 Vgl. LG Stuttgart v. 19.12.2017 – 31 O 33/16 KfH, juris. 34 Online unter: https://dcgk.de/de/konsultationen/eingereichte-stellungnahmen.html

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hensweise zu vermehrter Akzeptanz guter Governance-Praktiken zu führen. Der ermittelte hohe Erfüllungsgrad der Soll-Empfehlungen35 ist zwar ein Nachweis für formale Akzeptanz durch die Unternehmen, aber kein ausreichender Gradmesser für die Qualität der tatsächlichen Governance. Eine deutliche Qualitäts-Verbesserung der deutschen Governance könnte eine Klärung von Zweifelsfragen und die kritische Verfolgung konkreter Mängel durch die Regierungs-kommission oder eine andere Institution bringen. So werden in Frankreich Fragen und Probleme des Governance Kodex der Afep-Medef36 aktiv durch das dortige ‘Haut Comité de Gouvernement d’Entreprises‘mit fünf Unternehmens- und vier Vertretern von Investoren und Rechts- sowie Ethikexperten behandelt. Durch die Vorklärung von Fragen, die Verfolgung von deutlichen Fehlern und die Erstellung eines kritischen Jahresberichts (mit Namensnennung der Unternehmen falls erforderlich37) können wichtige Beiträge zur Governance-Qualität geleistet werden. Damit soll die erwünschte Sanktionierung von Governance-Fehlern durch den Kapitalmarkt und die Judikatur keineswegs in Frage gestellt werden. Aber gerade eine ex ante-Klärung von kritischen Punkten dürfte helfen, mögliche Fehler schon im Ansatz im Interesse der Unternehmen und der Stakeholder zu vermeiden.

35 So lag die formelle Akzeptanzquote der DAX30-Unternehmen in 2017 bei 97,7 %, vgl. Beyen­ bach, Johannes and Rapp, Marc Steffen and Strenger, Christian and Wolff, Michael, Kodexakzeptanz 2018: Analyse der Entsprechenserklärungen von DAX- und MDAX-Gesellschaften zum Deutschen Corporate Governance Kodex, S.  4.  Online unter: https://ssrn.com/abs​ tract=3182962 or http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.3182962 (letzter Abruf: 22.6.2018). 36 Corporate Governance Code of Listed Corporations by Afep-Medef (latest issue June 2018). 37 AMF: 2018 Report on Corporate Governance and Executive Compensation in Listed Companies, November 2018, www//:amf-france.org.

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Von den Aufgaben des Gesetzgebers und denen des Richters Inhaltsübersicht I. Die Gesetzesauslegung 1. Einziehung von GmbH-Geschäftsanteilen 2. Gläubigerschutz im GmbH-Recht 3. Aufhebung der §§ 32a, b GmbHG

4. Schiedsvereinbarungen bei GmbH-­ Beschlussmängelstreitigkeiten 5. Minderheitenschutz beim Delisting II. Fazit

Der Gesetzgeber ist der Komponist, der die Noten setzt. Der Richter ist der Musiker, der sie zur Entfaltung bringt. Dieser dem früheren Präsidenten des Bundesgerichtshofs Prof. Dr. Hirsch zugeschriebene Vergleich bringt das Wesen des modernen Rechtsstaats auf den Punkt. Nur wenn beide Institutionen – die Legislative und die Judikative – ihren Teil dazu beisteuern, kann sich der Rechtsstaat voll entfalten. Dann erst kann man das Räderwerk der Rechtsnormen als ein zufriedenstellendes Ganzes betrachten. Der Jubilar hat daran auf der Seite des Gesetzgebers mitgewirkt, war aber durch seine Familie (der Großvater war Senatspräsident am Oberlandesgericht Hamm, der Vater Richter am Bundesgerichtshof) und durch seine anfänglichen Tätigkeiten als Richter am Amtsgericht und am Arbeitsgerichtet mit der Rechtsprechung vertraut. In seiner Funktion als Leiter des Referats für Gesellschaftsrecht, Unternehmensverfassung und Corporate Governance war er der natürliche Gegenspieler der Richter des II. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs, des Gesellschaftsrechtssenats. Was macht den Charme dieses institutionellen Wechselspiels zwischen Rechtsetzung und Rechtsprechung aus? Wo sind seine Grenzen? Wo schlägt es zugunsten der einen oder der anderen Seite aus? Im Folgenden soll diesen Fragen anhand von fünf Beispielsfällen nachgegangen werden. Dabei geht es jeweils darum, wie eine bestimmte Gesetzesbestimmung auszulegen ist.

I. Die Gesetzesauslegung Die Auslegung von Gesetzen durch die Rechtsprechung beginnt traditionell beim Wortlaut der Norm. Das ist sicher richtig und reicht in den meisten Fällen aus, um eine Norm anwenden zu können. Als zweites Auslegungsmerkmal wird der Wille des Gesetzgebers herangezogen. Das ist problematisch. Denn als Quelle des Willens des Gesetzgebers wird vor allem auf 919

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die Begründung des Regierungsentwurfs des Gesetzgebungsvorhabens zurückgegriffen. Der Autor dieser Begründung ist aber nicht der „Gesetzgeber“. Deshalb verbietet es sich, vorschnell auf die Regierungsbegründung abzustellen, wenn unklar ist, was der Gesetzgeber mit einer bestimmten Formulierung gemeint hat.1 Auch die Protokolle der gesetzgebenden Körperschaften, die sich mit der Parlamentsdebatte über das Gesetz befassen, sind nur begrenzt aussagekräftig. In erster Linie sagen sie etwas über das Verständnis des einzelnen Abgeordneten aus. Dieses muss nicht identisch sein mit dem Verständnis der Mehrheit der Abgeordneten. Noch am ehesten kann man einen Willen des Gesetzgebers an den Stellungnahmen der zuständigen Parlamentsausschüsse und an der Stellungnahme des Bundesrats ablesen. Diese Stellungnahmen befassen sich aber häufig nicht mit allen Teilen eines Gesetzes. Bei dieser Sachlage wird man die Regierungsbegründung, die Debattenbeiträge der Abgeordneten und die Stellungnahmen der Gesetzgebungsgremien regelmäßig nur insoweit als Willen des Gesetzgebers heranziehen können, als es dabei um die Grundlinien eines Gesetzes geht. Die Abgeordneten werden sich, jedenfalls wenn sie Mitglieder eines zuständigen Parlamentsausschusses sind, mit diesen Grundlinien befassen, nicht aber zwingend mit den Einzelheiten ihrer Umsetzung. Andererseits geht das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass eine Gesetzesauslegung, die sich über den klar erkennbaren Willen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers hinwegsetzt, unzulässig in die Kompetenz des Gesetzgebers eingreift. Den Gesetzesmaterialien schreibt es dabei eine nicht unerhebliche Indizwirkung zu.2 Dabei ist weiter zu berücksichtigen, dass der Wille des Gesetzgebers im Laufe der Zeit an Gewicht verliert. So ist in der juristischen Methodenlehre anerkannt, dass ein Gesetz, sobald es angewandt wird, eine ihm eigene Wirksamkeit entfaltet, die über das hinausgehen kann, was der Gesetzgeber beabsichtigt hat.3 Jedenfalls wird man sich bei der Ermittlung des Willens des Gesetzgebers dieser Umstände bewusst sein müssen. Entscheidend ist, dass die Auslegung eines Gesetzes zwar dem – unter Umständen unscharfen - Willen des Gesetzgebers folgen muss, aber verschiedene Auslegungskriterien umfasst, so auch den Telos des Gesetzes und seinen Bedeutungszusammenhang.4 Nur in diesem Sinne ist die Rechtsprechung nach Art. 20 Abs. 3 GG an das Gesetz (und das Recht) gebunden.5

1 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 328 ff. 2 S. etwa BVerfG, Beschluss v. 6.6.2018 – 1 BvL 7/14, DB 2018, 1671 Rz. 73 ff. 3 Larenz, aaO, S. 317; s. auch BVerfG, Beschluss v. 15.1.2009 – 2 BvR 2044/07, BVerfGE 122, 248 Rz. 57, 85 – Rügeverkümmerung. 4 Larenz, aaO, S. 320 ff. 5 Sachs, Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 20 Rz. 120; s. auch BVerfG, Urteil v. 17.6.2004 – 2 BvR 383/03, BVerfGE 111, 54 Rz. 171.

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Von den Aufgaben des Gesetzgebers und denen des Richters

1. Einziehung von GmbH-Geschäftsanteilen Der erste Beispielsfall betrifft eine Äußerung in der Begründung des Regierungsentwurfs zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) vom 23. Oktober 2008. Es ging um die Frage, was bei der Einziehung eines GmbH-Geschäftsanteils nach § 34 GmbHG mit der Differenz zwischen dem Nennbetrag des Stammkapitals und der Summe der Nennbeträge aller Geschäftsanteile geschehen soll. Zieht die GmbH einen ihrer Geschäftsanteile ein, geht dieser unter. Das Stammkapital bleibt jedoch unverändert. Also entsteht eine entsprechende Lücke. Das mag dem Wortlaut des § 5 Abs. 3 Satz 3 GmbHG aF widersprochen haben. Danach musste der „Gesamtbetrag der Stammeinlagen“ mit dem Stammkapital übereinstimmen. Das tat er nach einer Einziehung in der Regel nicht mehr. Die hM hielt das für einen „Schönheitsfehler“.6 Auswirkungen auf die Wirksamkeit der Einziehung sollte er nicht haben. Das änderte sich, als § 5 GmbHG in der Fassung des MoMiG am 1. November 2008 in Kraft trat. In dessen Regierungsbegründung heißt es nämlich: Ein solches Auseinanderfallen der Summe der Nennbeträge der Geschäftsanteile und des Nennbetrags des Stammkapitals ist künftig im Gegensatz zum geltenden Recht unzulässig. Die Zulässigkeit einer Abweichung der Summe der Nennbeträge der Geschäftsanteile vom Nennbetrag des Stammkapitals im geltenden Recht ist im Schrifttum zu Recht kritisiert worden. Um eine solche, nach dem neu gefassten § 5 Abs. 3 Satz 2 unzulässige Abweichung zu vermeiden, bleibt den Gesellschaftern die Möglichkeit, die Einziehung mit einer Kapitalherabsetzung zu verbinden, die Summe der Nennbeträge der Geschäftsanteile durch eine nominelle Aufstockung an das Stammkapital anzupassen oder einen neuen Geschäftsanteil zu bilden.7

War das die Stimme des Gesetzgebers? Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs: Nein. Zum einen ist der Autor der Regierungsbegründung schon grundsätzlich nicht der Gesetzgeber. Zum anderen (und gewichtiger) kann der Gesetzgeber zwar ein von ihm erlassenes Gesetz begründen. Er hat aber weder aus Art. 20 Abs. 3 GG noch aus anderen Rechtsquellen die Zuständigkeit, in einer Regierungsbegründung oder sonstigen Äußerung Anweisungen für die Anwendung eines von ihm bereits erlassenen Gesetzes zu geben. Tatsächlich hatte der Gesetzgeber des MoMiG weder § 5 GmbHG noch § 34 GmbHG in Bezug auf die streitige Frage geändert. Die Änderung des § 5 GmbHG durch das MoMiG betraf lediglich die Aktualisierung der Bezeichnung „Summe der Nennbeträge aller Geschäftsanteile“. Zuvor hatte es geheißen: „Gesamtbetrag der Stammeinlagen“. In der hier streitigen Frage war der Gesetzgeber nicht tätig geworden. So führt der II. Zivilsenat zutreffend aus: Zudem ist durch das MoMiG § 34 GmbHG nicht und § 5 Abs. 3 Satz 2 GmbHG nF – entsprechend § 5 Abs. 3 Satz 3 GmbHG aF – nur dahingehend geändert worden ist, dass es statt „Gesamtbetrag der Stammeinlagen“ nun heißt: „Summe der Nennbeträge aller Geschäftsanteile“. Damit wird nur der geänderten Ausdrucksweise des MoMiG Rechnung getragen. Eine inhaltliche Änderung ist damit nicht verbunden. Damit bleibt offen, aus welchem Grund die Verfas6 Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, 8. Aufl. 2015, § 34 Rz. 78; Strohn in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 34 Rz. 65. 7 BT-Drucks. 16/6140, S. 31.

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Lutz Strohn ser des Gesetzentwurfs meinten, bislang sei das Auseinanderfallen der Summe der Nennbeträge der verbleibenden Geschäftsanteile und des Stammkapitals zulässig gewesen, mit dem Inkrafttreten des MoMiG sei es dagegen unzulässig geworden.8

Merke: Wer kein Gesetz erlässt, kann auch keines begründen. 2. Gläubigerschutz im GmbH-Recht Ein weiteres Wechselspiel konnte man bei den Bestimmungen des Gläubigerschutzes im Recht der GmbH beobachten. Hier hatte der II. Zivilsenat ein gründlich durchdachtes, aber kompliziertes System entwickelt, um missbräuchliche Praktiken zu unterbinden. Hatten die Gesellschafter einer GmbH erkannt, dass ihre Gesellschaft insolvent zu werden drohte, gab es für sie die Möglichkeit, zusätzliches Eigenkapital nachzuschießen. Damit entstand aber die Gefahr, über diese Mittel nicht mehr frei verfügen zu können, insbesondere sie nicht wieder abziehen zu können, wenn sich die Insolvenz trotz der zusätzlichen Mittel nicht vermeiden ließ. Dieses Dilemma meinten die Gesellschafter vermeiden zu können, indem sie der Gesellschaft Darlehen gaben. Die Gesellschaft hatte dann das Kapital, das sie brauchte, um die Krise überstehen zu können. Sollte das aber nicht gelingen, konnten die Gesellschafter – so meinten sie – ihr Kapital ohne die Beschränkung des § 30 GmbHG („Das zur Erhaltung des Stammkapitals erforderliche Vermögen der Gesellschaft darf an die Gesellschafter nicht ausgezahlt werden.“) wieder abziehen oder den Anspruch jedenfalls zur Insolvenztabelle anmelden. Denn dabei ging es – so ihre Argumentation – nicht um Eigenkapital, sondern um Fremdkapital, das wie jedes andere (Fremd-)Darlehen zu behandeln sei. Mit dieser Betrachtungsweise hatten sie beim II. Zivilsenat keinen Erfolg. Der Senat hat dazu den folgenden Rechtssatz aufgestellt: Zwar sind sie [die Gesellschafter] … nicht verpflichtet, der Gesellschaft in der Krise neues Kapital zuzuführen. Entschließen sie sich aber zu einer Finanzhilfe, um die Gesellschaft vor dem drohenden Zusammenbruch zu bewahren, so haben sie nicht mehr die Freiheit, ihr Risiko durch die Wahl der Finanzierungsform einzuschränken. Würde ein ordentlicher Kaufmann in dieser Situation Eigenkapital zuführen, werden die Gesellschafter auch dann, wenn sie der Gesellschaft lediglich ein Darlehen gewähren oder auf sonstigem Wege Fremdkapital einschießen, so behandelt, als hätten sie Eigenkapital eingebracht.9

Die Kautelarpraxis begann sofort, Umgehungsstrategien zu entwickeln. So wurden Kredite aus wirtschaftlich gesunden Zeiten in der Krise „stehengelassen“, oder es wurden Grundstücke, Maschinen oder gar Forderungen anstelle von Barmitteln überlassen. Das rief den Gesetzgeber auf den Plan. Er schuf mit der GmbH-Novelle 1980 die §§ 32a, 32b GmbHG. Die Vorschriften lauteten u.a.: Hat ein Gesellschafter der Gesellschaft in einem Zeitpunkt, in dem ihr die Gesellschafter als ordentliche Kaufleute Eigenkapital zugeführt hätten, statt dessen ein Darlehen gewährt, so kann er den Anspruch auf Rückgewähr des Darlehens im Insolvenzverfahren über das Vermögen der Gesellschaft nur als nachrangiger Insolvenzgläubiger geltend machen. 8 BGH, Urteil v. 2.12.2014 – II ZR 322/13, ZIP 2015, 579 Rz. 24. 9 BGH, Urteil v. 24.3.1980 – II ZR 213/77, BGHZ 76, 326, 329 f.

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Von den Aufgaben des Gesetzgebers und denen des Richters

In der Begründung des Regierungsentwurfs heißt es dazu: Rechtsprechung und Schrifttum haben bisher die Rechtsfolgen für Gesellschafterdarlehen, die anstelle einer gebotenen Eigenkapitalzuführung gewährt worden sind, nur auf allgemeine Grundsätze stützen können. Um insoweit eine eigene gesetzliche Rechtsgrundlage zu schaffen und um bestehende Zweifelsfragen soweit wie möglich auszuräumen, wird in den §§ 32 [richtig wohl 32a] und 32b eine besondere Regelung über Gesellschafterdarlehen vorgesehen.10

In dem berühmt gewordenen Urteil vom 26. März 198411 hat der II. Zivilsenat dem Gesetzgeber die Gefolgschaft verweigert und den weiteren Rechtssatz aufgestellt: Die Rechtsprechungsgrundsätze über kapitalersetzende Gesellschafterdarlehen sind neben den Vorschriften der GmbH-Novelle von 1980 weiterhin auch auf solche Darlehen anzuwenden, die nach dem 1. Januar 1981 gewährt worden sind.12

In den Gründen heißt es dazu: Dass diese „besondere Regelung“ jene allgemeinen Grundsätze auch dort verdrängen sollte, wo sich deren Anwendung weiterhin als sinnvoll und notwendig erweisen werde, ist damit nicht gesagt. Die Verfasser des Regierungsentwurfs mögen die Vorstellung gehabt haben, der Entwurf regele umfassend und ausreichend den Gläubigerschutz bei kapitalersetzenden Darlehen und bedürfe daher keiner Ergänzung durch Rückzahlungsverbote, wie es Rechtsprechung und Schrifttum, anknüpfend an § 30 GmbHG, für solche Darlehen entwickelt haben. Diese Vorstellung wäre aber … unzutreffend gewesen und hätte im Wortlaut des Gesetzes keinen Ausdruck gefunden. … Im Bericht des Rechtsausschusses heißt es dazu unter anderem, der Ausschuss habe auf eine ausdrückliche gesetzliche Regelung verzichtet, wenn sich diese bereits aus dem geltenden, auch dem ungeschriebenen Recht ergebe; die Vorschriften über kapitalersetzende Darlehen könnten das Ziel eines umfassenden Gläubigerschutzes nur erreichen, wenn sie nicht als abschließende Regelungen verstanden würden, sondern den Weg der Analogie oder einer sonstigen Weiterbildung offen ließen. Die Regelung der GmbH-Novelle weist daher wesentliche Lücken auf … Eine Anwendung dieser Grundsätze auch auf Darlehen, die nach dem 1.1.1981 gewährt wurden, wäre geeignet, diese Lücken … zu schließen.13

Die „Rechtsprechungsregeln“ galten also fort. Dabei sah es der Senat als möglich an, dass der Verfasser des Regierungsentwurfs eine „unzutreffende“ Vorstellung gehabt habe. Dass sich der Senat über diese Vorstellung hinweggesetzt hat, mag durch die Ausführungen des Rechtsausschusses begünstigt worden sein. Der Verfasser der Regierungsbegründung wollte diesen Problemkreis jedenfalls nicht offen lassen. Das Gesetz sollte den Gläubigerschutz vielmehr „umfassend und ausreichend“ regeln. Im Ergebnis wurde die Rechtslage nach der Lösung des Senats durch das Nebeneinander

10 BT-Drucks. 8/1347, S. 39. 11 II ZR 14/84, BGHZ 90, 370. 12 AaO, Leitsatz b). 13 AaO, S. 377 ff.

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der Rechtsprechungs- und der Novellenregeln dagegen komplizierter.14 Befremdlich ist weiter, dass der Verfasser des Regierungsentwurfs eine abschließende Regelung schaffen wollte, während der Rechtsausschuss von einer Analogie oder sonstigen Weiterbildung sprach. Dass der Senat diese Meinungsverschiedenheit genutzt und im Ergebnis der (offeneren) Meinung des Rechtsausschusses gefolgt ist, kann man ihm nicht verübeln. Merke: Wenn sich die an der Gesetzgebung beteiligten Verfassungsorgane uneins sind, ist die Rechtsprechung nicht an eine Variante gebunden. 3. Aufhebung der §§ 32a, b GmbHG Dass der Gesetzgeber die Fortgeltung der Regeln über die eigenkapitalersetzenden Gesellschafterhilfen in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs15 als „Ungehorsam“ empfunden hat, zeigt sich an dem nachfolgenden MoMiG. Dort ist das Recht der Gesellschafterdarlehen und gleichgestellter Hilfen auf eine völlig neue Grundlage gestellt worden. Damit waren §§ 32a, b GmbHG ebenso wie die Rechtsprechungsregeln überflüssig geworden und die gesetzlichen Bestimmungen konnten aufgehoben werden. Die Begründung des Regierungsentwurfs verwendet darauf nur einen kurzen Absatz.16 Daraus wird aber der Wille deutlich, der schon bei Verabschiedung der §§ 32a und b GmbHG bestand: Das bedeutet eine erhebliche Vereinfachung des Rechts der GmbH, das sich an die mittelständische Wirtschaft richtet und folglich vor allem einfach und leicht handhabbar sein soll. Grundgedanke der Regelung ist, dass die Organe und Gesellschafter der „gesunden“ GmbH einen einfachen und klaren Rechtsrahmen vorfinden.17

Zu einer Vereinfachung war es durch die Rechtsprechung vor Inkrafttreten des MoMiG zweifellos nicht gekommen. Sein ursprüngliches Ziel hat der Gesetzgeber nicht aufgegeben, sondern durch das MoMiG weiterverfolgt und letztlich auch erreicht. Merke: Bei einem Widerspruch der Sichtweisen von Gesetzgeber und Rechtsprechung hat der Gesetzgeber den längeren Atem (außer er wird vor die Schranken des Bundesverfassungsgerichts zitiert). 4. Schiedsvereinbarungen bei GmbH-Beschlussmängelstreitigkeiten Um einen weiteren Beispielsfall für die Spielregeln des Zusammenwirkens von Rechtsetzung und Rechtsprechung geht es bei der Behandlung von Schiedsvereinbarungen bezüglich der Beschlussmängelstreitigkeiten im Recht der GmbH. Nach ursprünglich herrschender Meinung waren derartige Vereinbarungen unwirksam, weil sie nicht angemessen die inter omnes wirkende Rechtskraft von Urteilen staatlicher 14 S. nur Hueck in Baumbach/Hueck, GmbHG, 18. Aufl. 2006, § 32a Rz. 92. 15 S. Fn. 11. 16 BT-Drucks. 16/6140, S. 42. 17 S. Fn. 16.

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Gerichte analog § 248 Abs. 1 Satz 1, § 249 Abs. 1 Satz 1 AktG nachvollziehen konnten. Der II. Zivilsenat sah in diesen Normen eine gesellschaftsrechtliche Sonderbestimmung, die weder ein Gegenstück im Schiedsverfahrensrecht noch eine Grundlage für eine Gesetzesanalogie bot. In seiner Entscheidung „Schiedsfähigkeit I“ erläuterte der Senat ausführlich, dass es verschiedene Wege gebe, mit diesem Konflikt umzugehen, und dass die (richterliche) Schaffung eines Regelungsgefüges den Rahmen zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung sprengen würde. Folgerichtig heißt es in dem Urteil abschließend: Die Entscheidung darüber, ob er [der Gesetzgeber] es für geboten erachtet, dass Beschlussmängelstreitigkeiten bei der GmbH auch dann schiedsfähig sein sollen, wenn nicht sämtliche Beteiligten einverständlich den Weg vor ein privates Schiedsgericht gesucht haben, muss vielmehr ebenso wie diejenige über Erforderlichkeit, Art und Inhalt zusätzlicher Regelungen zum Zwecke der Sicherstellung einer einheitlichen Entscheidung und des unabdingbaren Drittschutzes dem Gesetzgeber überlassen bleiben.18

Damit, so sollte man meinen, war die Frage der Kompetenz für die diesbezügliche Fortbildung des Rechts der Schiedsvereinbarungen geklärt. Nach Auffassung des Senats war der Gesetzgeber zuständig. Das sah der Gesetzgeber anders. In der Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Schiedsverfahrensrechts (Schiedsverfahrens-Neuregelungsgesetz – SchiedsVfG) vom 12.7.1996 heißt es dazu: Fraglich bleibt jedoch, inwieweit ein Schiedsspruch Rechtsgestaltung mit Wirkung für und gegen Dritte bewirk[t], ein Schiedsspruch über eine aktienrechtliche Anfechtungsklage also beispielsweise für und gegen alle Aktionäre wirken kann. Diese Problematik soll durch die Aussage, dass jeder vermögensrechtliche Anspruch (grundsätzlich) schiedsfähig ist, nicht in bejahendem Sinne präjudiziert, sondern angesichts ihrer Vielschichtigkeit in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht weiterhin der Lösung durch die Rechtsprechung unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalles überlassen bleiben.19

Damit hatte der Gesetzgeber die Streitfrage wieder in das Feld der Rechtsprechung gespielt. Diese hätte auf ihrem Standpunkt beharren können. Das wäre ihr aber wohl als Starrsinn ausgelegt worden. Denn der Gesetzgeber hatte die Entscheidung ausdrücklich der Rechtsprechung überlassen. Also beendete der II. Zivilsenat das Spiel und erkannte in der Entscheidung Schiedsfähigkeit II – im Gegensatz zu seiner vorherigen Meinung –, dass die Wirkungen der § 248 Abs. 1 Satz 1, § 249 Abs. 1 Satz 1 AktG für Gesellschaften in der Rechtsform einer GmbH im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung auf Schiedsvereinbarungen übertragen werden können.20 Zugleich stellte er Mindestanforderungen an eine zulässige Schiedsvereinbarung auf, ohne die das Regelwerk nach § 138 Abs. 1 BGB nichtig ist. Damit ist er dem Vorwurf des Starrsinns entgangen. Was sich aber zwischen den Entscheidungen Schiedsfähigkeit I und Schiedsfähigkeit II sachlich geändert haben soll, erschließt sich aus dem Urteil Schiedsfähigkeit II nur ansatzweise. Der Senat beruft sich dort allein auf die Meinung des Gesetzgebers und den „zwi18 BGH, Urteil v. 29.3.1996 – II ZR 124/95, BGHZ 132, 278, 285 ff., 290 – Schiedsfähigkeit I. 19 BT-Drucks. 13/5274, S. 35. 20 BGH, Urteil v. 6.4.2009 – II ZR 255/08, BGHZ 180, 221 Rz. 10 ff. – Schiedsfähigkeit II.

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schenzeitlich erreichten Diskussionsstand“ im Schrifttum, ohne für seine Meinungsäußerung eine eigenständige Begründung zu geben. Jedenfalls ist zu begrüßen, dass diese Frage vom Senat geklärt worden ist. Merke: Der Gesetzgeber kann der Rechtsprechung den Vortritt lassen. Dann hat die Rechtsprechung ein weites Feld richterlicher Rechtsfortbildung, von dem sie tunlich Gebrauch machen sollte. 5. Minderheitenschutz beim Delisting Als letztes Beispiel für eine Interaktion zwischen Gesetzgeber und Rechtsprechung sei auf die Entscheidungen Macrotron und Frosta hingewiesen. Sie befassen sich mit dem Schutz von Kleinaktionären, wenn der Vorstand einer Aktiengesellschaft ein Delisting beschließt, also einen Rückzug von der Börse.21 Das Delisting hat – jedenfalls gesellschaftsrechtlich  – auf die Rechtsstellung der Aktionäre keinen Einfluss, wohl aber auf ihre wirtschaftliche Stellung. Denn der Wert der Aktien vermindert sich, wenn sie nur noch eingeschränkt handelbar sind. Um diesem Phänomen abzuhelfen, hat der II. Zivilsenat im Wege der Gesetzesanalogie zu §§ 304, 305 AktG, §§ 15, 34, 196, 212 UmwG Voraussetzungen aufgestellt, die erfüllt sein müssen, um ein Delisting durchführen zu können. Zum einen verlangte der Senat einen Beschluss der Hauptversammlung, zum anderen mussten die Gesellschaft oder ihr Großaktionär ein Pflichtangebot über den Kauf der Aktien der Minderheitsaktionäre abgeben, dessen Angemessenheit nach den Regeln des Spruchverfahrens zu überprüfen war.22 Dabei stützte sich der Senat auf Art. 14 GG und nahm an, die Zulassung eines Delistings ohne begleitende Schutzmaßnahmen würde gegen das Eigentumsgrundrecht der Kleinaktionäre verstoßen. Dem widersprach rund zehn Jahre später das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 11.7.2012.23 Die Leitsätze lauten: 1. Der Widerruf der Börsenzulassung für den regulierten Markt auf Antrag des Emittenten berührt grundsätzlich nicht den Schutzbereich des Eigentumsgrundrechts des Aktionärs (Art. 14 Abs. 1 GG). 2.  Das für den Fall eines vollständigen Rückzugs von der Börse von den Fachgerichten im Wege einer Gesamtanalogie verlangte, gerichtlich überprüfbare Pflichtangebot der Gesellschaft oder ihres Hauptaktionärs an die übrigen Aktionäre, deren Aktien zu erwerben, hält sich in den verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG).

In den Gründen führt das Bundesverfassungsgericht aus: Das geschriebene Recht enthält allerdings keine gesetzliche Bestimmung, die vorschreibt, im Falle des Widerrufs der Zulassung zum regulierten Markt der Börse müsse der Mehrheitsaktionär oder die Gesellschaft selbst den Minderheitsaktionären einen Ausgleich für eine Beeinträchtigung der Handelbarkeit anbieten. …

21 Oder auch ein Downgrading in einen geringer regulierten Markt. 22 BGH, Urteil v. 25.11.2002 – II ZR 133/01, BGHZ 153, 47 – Macrotron. 23 1 BvR 3142/07, BVerfGE 132, 99.

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Von den Aufgaben des Gesetzgebers und denen des Richters Die Ausgangsgerichte haben diesen Schutz für unzureichend erachtet und einen näheren Interessenausgleich unter Rückgriff auf eine Gesamtanalogie zu gesellschaftsrechtlichen Regelungen für erforderlich gehalten. Diese Annahme eines Regelungsbedürfnisses ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. … Die Fachgerichte durften in einfachrechtlicher Würdigung auch ein Pflichtangebot für gesellschaftsrechtlich geboten erachten. Von Verfassungs wegen waren sie zwar nicht gehalten …, aber auch nicht gehindert, die Ausgangslage beim Widerruf der Börsenzulassung im regulierten Markt wertungsmäßig als derjenigen anderer Maßnahmen ähnlich gelagert zu erachten, für die der Gesetzgeber ausdrücklich ein überprüfbares Pflichtangebot vorgesehen hat. Sie durften jene Bestimmungen in ihrem Grundgedanken auf den Widerruf der Börsenzulassung übertragen. 24

Damit war die verfassungsrechtliche Begründung der Macrotron-Entscheidung entfallen, zugleich hatte das Bundesverfassungsgericht aber ausdrücklich erkannt, dass sich Macrotron in den Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung hielt. Damit hätte es sein Bewenden haben können. Wenn der II. Zivilsenat bei seiner ersten Entscheidung gewusst hätte, dass Art. 14 GG bei der Auslegung keine Rolle spielte, hätte er vermutlich keine Sonderregeln für das Delisting aufgestellt.25 Da er aber nun einmal so entschieden hatte, bestand an sich kein Anlass, von dieser Rechtsprechung abzurücken. Genau das tat der Senat aber in dem Beschluss vom 8.10.2013  – Frosta.26 Danach stand den Aktionären bei einem Widerruf der Börsenzulassung weder ein Anspruch auf eine Befassung der Hauptversammlung in Form eines Hauptversammlungsbeschlusses noch ein Anspruch auf eine Barabfindung zu. Damit war wiederum der Gesetzgeber nicht einverstanden. Er ergänzte das Börsengesetz um Regelungen über das Delisting. Danach ist ein Widerruf der Börsenzulassung im Grundsatz nur zulässig, wenn den verbleibenden Aktionären ein Barangebot nach den Vorschriften des Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetzes gemacht wurde.27 Ein wesentlicher Teil der Macrotron-Rechtsprechung des II. Zivilsenats hat also mit Hilfe des Gesetzgebers eine Wiederauferstehung gefeiert. Merke: Hält das Bundesverfassungsgericht zwei Auslegungen für verfassungskonform, sollte der Bundesgerichtshof besonders gründlich prüfen, ob eine Änderung von der einen zur anderen Auslegung angezeigt ist.

II. Fazit Die Beispiele sollten zeigen und haben hoffentlich gezeigt, dass die Grenzen richterlicher Gesetzesauslegung und der dem Gesetzgeber vorbehaltene Bereich der Rechtsetzung Überschneidungen aufweisen. Deshalb muss bei jeder Zweifelsfrage zunächst geklärt werden, ob der Gesetzgeber eine abschließende Regelung getroffen hat. Das 24 AaO, Rz. 78 ff. 25 Zum Gebot der verfassungskonformen Auslegung s. etwa Larenz, aaO, S. 339 ff. 26 II ZB 26/12, ZIP 2013, 2254. 27 S. § 39 Abs. 2 - 4 BörsG in der Fassung vom 20.11.2015; die Einzelheiten können hier nicht dargestellt werden, s. dazu etwa Bayer, NZG 2015, 1169.

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betrifft die Auslegung nach dem Wortlaut und nach dem Willen des Gesetzgebers. Damit ist die Gesetzesauslegung aber noch nicht zu Ende. Der Richter muss vielmehr im Rahmen von Wortlaut und gesetzgeberischem Willen auch noch den Telos des Gesetzes und seine systematische Stellung in der Gesamtrechtsordnung beachten. Nur wenn auch diese Auslegungsmerkmale zu dem gleichen Ergebnis führen, hat der Richter die Tiefen des Rechts erschöpfend ausgeleuchtet. Erst dann hat er den Rechtssatz ermittelt, unter den er den festgestellten konkreten Sachverhalt subsumieren kann. Nur dann kann er zu einem gerechten Ergebnis kommen.

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Das Wahlrecht zwischen monistischer und dualistischer Leitungsstruktur im European Model Company Act (EMCA) Inhaltsübersicht I. Von der (gescheiterten) Strukturrichtlinie über die Societas Europaea (SE) bis zum EMCA 1. Diversität der Leitungsmodelle in Europa und der Welt 2. Frühe Entwürfe zu SE-Verordnung und Strukturrichtlinie 3. Rechtsvergleichende und rechtsökonomische Diskussion 4. Pfadabhängigkeit von der Mitbestimmung 5. European Model Company Act (EMCA) a) Konzeption als Modellgesetz b) Einheitsmodell der Kapitalgesellschaft c) Struktur des Modellgesetzes d) Inhaltliche und rechtsvergleichende Erläuterungen II. Struktur der Unternehmensverfassung nach dem EMCA 1. Wahlrecht aus verschiedenen Leitungsmodellen 2. Monistisches Leitungsmodell 3. Dualistisches Leitungsmodell a) Gemeinsamkeiten mit dem deutschen Modell b) Auflockerungen des strikten Dualismus

4. Gemeinsame Regeln a) Grundkonzept b) Mandatsdauer c) Persönliche Voraussetzungen der ­Organmitgliedschaft d) Verfahren der Beschlussfassung III. Der EMCA und das deutsche Aktienrecht – zwei Welten stoßen aufeinander 1. Anpassungsbedarf im nationalen Aktienrecht a) Prägung des AktG durch das ­dualistische Leitungsmodell b) Beispiele für das Zusammenwirken von Vorstand und Aufsichtsrat 2. Integration der Kontrollfunktion in das monistische Modell a) Trennung in geschäftsführende und nicht-geschäftsführende Mitglieder b) Reduktion der Kontrolldichte im ­Aktiengesetz c) Organschaftliche Vertretung 3. Öffnung des Dualismus für punktuelle Satzungsautonomie IV. Zusammenfassung

Der Jubilar hat viele Jahre produktiver Gesetzgebungstätigkeit begleitet und geprägt und darüber stets in einer für die Rechtswissenschaft dankenswerten Offenheit und Klarheit berichtet. Nicht selten standen dabei Corporate Governance-Themen im ­Mittelpunkt.1 Doch obwohl sich der Gesetzgeber im Aktienrecht sehr reformfreudig zeigt und überdies regelmäßig Impulse aus Europa einzuarbeiten hat, konnte eine bestimmte Innovation im deutschen Aktienrecht nie Fuß fassen: Das 1966 in Frankreich und 2001 in der SE-Verordnung eingeführte Wahlrecht zwischen einem mo­ nistischen und einem dualistischen Leitungsmodell. Eine in Deutschland eingetra­ gene SE kann von diesem Wahlrecht zwar Gebrauch machen, aber dies geschieht 1 S. nur Seibert, AG 2015, 593 ff., zur Entwicklung von Kapitalmarkt und Corporate Governance in Deutschland aus der Sicht der Gesetzgebung.

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selten. Und eine Übernahme dieser Regelung in das deutsche Aktiengesetz wird derzeit nicht ernsthaft erwogen. In der Zwischenzeit hat das Wahlrecht zwischen monistischer und dualistischer Leitungsstruktur auch in den 2017 veröffentlichten „European Model Company Act (EMCA)“ Eingang gefunden. Bei dem EMCA handelt es sich um einen Text, der nicht einer Harmonisierung von oben das Wort redet, sondern der sich als Diskussionsgrundlage versteht  – zur Beförderung eines europaweiten Dialogs darüber, welche Rechtsregeln für Kapitalgesellschaften im heutigen Europa als innovativ und zugleich konsensfähig angesehen werden.2 Diese Aufforderung zum Dialog will der vorliegende Beitrag befördern. Er befasst sich mit der Frage, ob die Regelung des EMCA Vorbildcharakter für das deutsche Recht haben kann oder, falls nicht, aus welchen Gründen Deutschland am bewährten Dualismus von Vorstand und Aufsichtsrat festhalten sollte. Zur Einordnung der Thematik ist eingangs der Weg nachzuzeichnen, den die Diskussion in den vergangenen Jahrzehnten genommen hat. Vom ersten Entwurf einer Strukturrichtlinie, die noch ganz dem deutschen Vorbild verhaftet war, über die Societas Europaea (SE) bis zum EMCA des Jahres 2017 war es ein langer Weg (unter I.). Der EMCA bietet nunmehr ein eigenständiges Modell für Gesetzgeber an, die ein Wahlrecht der Leitungsstrukturen einführen wollen (unter II.). Allerdings würde ein solches Wahlrecht das deutsche Aktienrecht tiefgreifender verändern, als es auf den ersten Blick erscheinen mag (unter III.). Die wesentlichen Erkenntnisse des Beitrags werden abschließend unter IV. zusammengefasst.

I. Von der (gescheiterten) Strukturrichtlinie über die Societas Europaea (SE) bis zum EMCA 1. Diversität der Leitungsmodelle in Europa und der Welt Es ist auf den ersten Blick ein schwer erklärbares Phänomen, dass im Zeitalter globaler Kapitalmärkte, deren Regulierungsdruck fortwährend die Anpassung an angelsächsische Standards erzwingt, die Leitungssysteme börsennotierter Gesellschaften weiterhin ganz grundsätzlich voneinander abweichen. Dem angelsächsischen monistischen System mit einem Board of Directors, das die Aufgabenverteilung weitgehend autonom regelt, steht typologisch das deutsche Modell mit der gesetzlich festgelegten Trennung von Vorstand und Aufsichtsrat gegenüber.3 Auch das Aktienrecht der Schweiz bietet Anschauungsmaterial für eine monistische Leitungsstruktur.4 Dazwischen gibt es Mischsysteme, die insbesondere in Skandinavien zu finden sind,5 bei 2 Einführend Baums/Teichmann, AG 2018, 562 ff. 3 S. nur Cahn/Donald, Comparative Company Law, 2010, S. 302 ff., Merkt, US-amerikanisches Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2013, S. 324 ff. 4 Vgl. dazu Forstmoser, ZGR 2003, 688 ff. 5 Für Dänemark Andersen/Sørensen, The Danish Companies Act, 2012, S. 127 ff.; für Schweden Skog, AG 2006, 238, 240. Instruktive Länderberichte zu allen skandinavischen Rechtsordnungen finden sich in Per Lekvall (Hrsg.), The Nordic Corporate Governance Model, 2014, S. 115 ff.

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genauer Betrachtung aber wohl in die Rechtsfamilie der monistischen Systeme gehören.6 Die Unterschiede bestehen keineswegs nur darin, dass es äußerlich mal eines und mal zwei Organe gibt. Mindestens ebenso bedeutsam ist der Umstand, dass die Standards der Unternehmensführung im angelsächsischen Bereich der Privatautonomie und den Börsenzulassungsregeln unterliegen,7 während man in Deutschland stets nach dem Gesetzgeber ruft, wenn Fehlentwicklungen zu beklagen sind. Eine „Aktienrechtsreform in Permanenz“8 ist dem Vereinigten Königreich unbekannt.9 Dort passt man allenfalls hin und wieder den Corporate Governance-Kodex, der speziell auf börsennotierte Gesellschaften zugeschnitten ist, an neue Entwicklungen an.10 2. Frühe Entwürfe zu SE-Verordnung und Strukturrichtlinie Die Diversität der Regelungsmodelle legt seit langem die Frage nahe, ob ein Modell besser sei als das andere und ob im Gemeinsamen Markt – heute: Binnenmarkt – eine Vereinheitlichung angezeigt sei. Hier hatte Deutschland anfangs die Nase vorne.11 Wären die SE-Verordnung in der Fassung des Jahres 1970 und die Strukturrichtlinie in derjenigen des Jahres 1972 seinerzeit verabschiedet worden,12 hätte dies jedenfalls für Europa das Ende des monistischen Systems besiegelt. Denn beide Rechtstexte hielten das dualistische System für funktional überlegen. Selbst die unternehmerische Mitbestimmung wollte man damals auf die europäische Ebene ziehen. Doch all das ist lange her. In Artikel 38 der SE-Verordnung des Jahres 2001 konnte man sich letztlich nur auf ein Wahlrecht verständigen.13 So entscheidet in der SE die 6 Teichmann in Lutter/Hommelhoff/Teichmann (Hrsg.), SE-Kommentar, 2.  Aufl. 2016, Art. 38 SE-VO Rz. 31 ff. 7 Vgl. Davies/Worthington, Gower and Davies‘ Principles of Modern Company Law, 10th edition, 2016, S. 356 (Rz. 14-2): „Unlike in many, perhaps most, other jurisdictions, the distribution of powers as between board and the shareholders is a matter for private ordering by the members of the company rather than something to be specified mandatorily in the companies legislation.“ 8 So der mit einem Fragezeichen versehene Titel eines Beitrags des Jubilars in AG 2002, 417, in dem es wie so häufig jedenfalls auch um Themen der Corporate Governance ging. 9 Das Vereinigte Königreich hat sich stattdessen mit dem Companies Act 2006 einmalig einer großen Gesellschaftsrechtsreform unterzogen, die in Wissenschaft und Politik intensiv diskutiert und vorbereitet worden war (s. nur Davies/Rickford, ECFR 2008, 48 ff., 239 ff.). 10 Der UK Corporate Governance Code wird vom Financial Reporting Council (FRC) erlassen. Mit der Börsennotierung geht die Pflicht einher, sich zur Einhaltung des Code zu erklären (“comply or explain”). Aktuelle Informationen hierzu finden sich jeweils auf der Website des FRC (https://www.frc.org.uk/directors/corporate-governance-and-stewardship/uk-cor​ po​rate-governance-code). 11 Ausführlich Teichmann, Import und Export von Rechtsdenken: Das deutsche Unternehmensrecht in der Europäischen Union, in Müller-Graff (Hrsg.), Deutschlands Rolle in der Europäischen Union, 2008, S. 241 ff. 12 Hierzu mit weiteren Nachweisen Teichmann in Lutter/Hommelhoff/Teichmann (Hrsg.), SE-Kommentar, 2. Aufl. 2016, Art. 38 SE-VO Rz. 4 ff. 13 Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates vom 8. Oktober 2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE), ABl. EG, 10.11.2001, Nr. L 294/1.

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Satzung, ob die Gesellschaft ein monistisches oder ein dualistisches Leitungssystem implementiert. Der europäische Gesetzgeber hat sich seitdem selbst bei dem Versuch, punktuelle Angleichungen vorzunehmen, nicht selten eine blutige Nase geholt. Jüngstes Beispiel ist die Neuregelung der sog. Related Party Transactions, die vom monis­ tischen System geprägt war und an der anschließend lange gefeilt werden musste, um sie schlussendlich auch in das Vorstands-/Aufsichtsratssystem einfügen zu können.14 3. Rechtsvergleichende und rechtsökonomische Diskussion Rechtsvergleichend und rechtsökonomisch gibt es reichhaltige Literatur zum Systemvergleich.15 Ungeachtet dessen hält Deutschland eisern am Dualismus von Vorstand und Aufsichtsrat fest, wie umgekehrt der angelsächsische Rechtskreis keine Neigung verspürt, dem monistischen Board of Directors einen Aufsichtsrat zur Seite zu stellen. In der Praxis lässt sich nach Auffassung vieler Beobachter ohnehin eine Konvergenz der Systeme beobachten.16 Im Board großer Gesellschaften hat sich eine interne Arbeitsteilung eingebürgert, die derjenigen im dualistischen System nahekommt,17 während in Deutschland der engen Zusammenarbeit von Vorstand und Aufsichtsrat zunehmendes Gewicht beigemessen wird18. Weiterhin verbindet sich aber mit dem monistischen Modell die Vorstellung einer strafferen und schlankeren Leitungsstruktur,19 während dem Dualismus eine gewisse Schwerfälligkeit attestiert wird. Der europäischen Rechtspolitik bietet dies eine willkommene Begründung dafür, sich des Themas nicht weiter anzunehmen.20 Ein Wahlrecht für die nationale Aktiengesellschaft könnte der deutsche Gesetzgeber zwar auch ohne europäischen Impuls einführen.21 Auf dem Deutschen Juristentag in Erfurt 2008 wurde der Vorschlag, eine solche

14 Rechtsvergleichende Übersicht und Kritik an der ursprünglich vorgesehenen Hauptversammlungskompetenz bei Fleischer, BB 2014, 2691 ff. Zum überarbeiteten Text der Richtlinie, der dem nationalen Gesetzgeber ein Wahlrecht zwischen Hauptversammlungs- und Aufsichtsratskompetenz eröffnet, s. neben anderen Bungert/Wansleben, DB 2017, 1190 ff.; aktuell Lieder, ZIP 2018, 2441 ff. sowie H.F. Müller, ZGR 2019, 97 ff., zur Umsetzung der Vorgaben in deutsches Recht. 15 Exemplarisch seien genannt: Davies, ZGR 2001, 268 ff.; Schiessl, ZHR 167 (2003), 235 ff.; Hopt/Leyens, ECFR 2004, 135 ff.; Jungmann, ECFR 2006, 426 ff. Instruktiv und m.w.N. auch das Kapitel zur internen Struktur der Aktiengesellschaft bei Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2011, S. 193 ff. 16 Aus jüngerer Zeit etwa Davies/Hopt, Corporate Boards in Europe  – Accountability and Convergence, 61 American Journal of Comparative Law (2013), 301 ff.; zuvor bereits Teichmann, Binnenmarktkonformes Gesellschaftsrecht, 2006, S. 565 ff. 17 Davies, ZGR 2001, 268, 283, stellt für Großbritannien „de facto eine zweigliedrige Struktur“ fest. 18 S. nur Mertens/Cahn in Kölner Kommentar zum AktG, 3. Aufl. 2013, § 111 Rz. 32 ff. 19 S. etwa Merkt, ZGR 2003, 650, 652. 20 Was Hopt, EuZW 2013, 481, 482, ausdrücklich bedauert. 21 Hierzu m.w.N. Bayer, Verhandlungen des 67. DJT Erfurt 2008, Gutachten E, S. 112 f.

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Wahlfreiheit zu gewähren, allerdings mit deutlicher Mehrheit abgelehnt.22 Offenbar wollen selbst viele Vertreter der Beratungspraxis auf diese Gestaltungsmöglichkeit lieber verzichten als sich neuen Unwägbarkeiten auszusetzen. Wer seine Leitungsstruktur flexibel organisieren möchte, greift auf die GmbH zurück. Für Großunternehmen wiederum hat sich der strikte Dualismus des Aktienrechts als gut handhabbar erwiesen. Selbst wer nicht den Gang an die Börse plant, schätzt die Aktiengesellschaft wegen der damit verbundenen Reputationseffekte. Man unterwirft sich freiwillig einer qualitativ hochwertigen Unternehmensverfassung, die anschließend nicht mehr zur Disposition der Gesellschafter steht. 4. Pfadabhängigkeit von der Mitbestimmung Man geht allerdings kaum fehl in der Annahme, dass sich das Beharrungsvermögen der deutschen Corporate Governance in wesentlichen Teilen auch dem Sonderweg der unternehmerischen Mitbestimmung verdankt.23 Der Aufsichtsrat ist traditionell das Organ, in dem ab einer gewissen Unternehmensgröße auch Arbeitnehmervertreter sitzen. Gäbe es den Aufsichtsrat nicht, müsste die Mitbestimmung im monistischen Organ angesiedelt werden. Welche Schwierigkeiten damit verbunden sind, lässt sich an der SE anschaulich studieren. Gemäß Art. 38 SE-Verordnung kann der Satzungsgeber zwischen dem dualistischen und dem monistischen Leitungsmodell frei entscheiden. Und so gibt es durchaus eine Reihe von SE mit Sitz in Deutschland, die sich für das monistische Leitungsmodell entschieden haben. Aber soweit ersichtlich unterliegt keine einzige von ihnen der paritätischen Mitbestimmung.24 Ganz offenbar stehen die paritätische Mitbestimmung und das monistische Leitungssystem miteinander auf Kriegsfuß. Das überrascht keineswegs. Denn das monistische Verwaltungsorgan ist funktional eher dem Vorstand als dem Aufsichtsrat vergleichbar.25 Der Schritt zum monistischen System ist also mit einer Gesetzesreform vergleichbar, bei der man die Mitbestimmung unmittelbar im Vorstand ansiedeln würde. Daraus folgt eine qualitative Aufwertung der Partizipationsrechte, für die sich Aktionäre, wenn sie die Wahl haben, kaum jemals entscheiden werden.26 Das unscheinbar 22 Eine Wahlfreiheit wurde für nichtbörsennotierte Gesellschaften mit 32:45:3 Stimmen, für börsennotierte Gesellschaften mit 27:49:4 abgelehnt (Quelle: Deutscher Juristentag e.V., Beschlüsse des 67. Deutschen Juristentages Erfurt 2008, S. 31). 23 Zu den Herausforderungen, vor denen eine funktionale Rechtsvergleichung angesichts der Mitbestimmung steht, von Hein, Die Rezeption US-amerikanischen Gesellschaftsrechts in Deutschland, 2008, S. 201 ff.; weiterhin a.a.O., S. 902 ff., zur Einbettung der Corporate Governance in das System der industriellen Beziehungen. 24 So jedenfalls der Befund in Rose/Köstler, Mitbestimmung in der Europäischen Aktiengesellschaft (SE), 2. Aufl. 2014, S. 18. Bunz, AG 2018, 466, konstatiert, dass auffallend wenige börsennotierte SEs die monistische Organisationsform gewählt haben. 25 Merkt, ZGR 2003, 650, 657; Teichmann in Lutter/Hommelhoff/Teichmann (Hrsg.), SE-Kommentar, 2. Aufl. 2016, Anh. Art. 43 SE-VO (§ 22 SEAG) Rz. 6; Verse in Habersack/ Drinhausen, SE-Recht, 2. Aufl. 2016, § 22 SEAG Rz. 5. 26 Eingehend zu den (begrenzten) Gestaltungsmöglichkeiten der Mitbestimmung in einer monistischen SE Bachmann, ZGR 2008, 779, 797 ff.

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wirkende Wahlrecht zwischen Monismus und Dualismus strahlt auf die Mitbestimmung aus und verändert qualitativ den Stellenwert der Arbeitnehmervertreter. Wollte man die Leitungssysteme in dem Sinne gleichwertig gestalten, dass die Wahl zwischen ihnen „mitbestimmungsneutral“ möglich ist, müsste das Mitbestimmungsrecht an die Funktionsbedingungen des monistischen Systems angepasst werden. Diese Notwendigkeit wurde bei Einführung der SE durchaus gesehen und diskutiert.27 Der Gesetzgeber wollte das „heiße Eisen“ der Mitbestimmung aber nicht anfassen. So blieb es bei einer quantitativen Implementierung der Mitbestimmung in das monistische System, welche die damit verbundene qualitative Aufwertung ignoriert.28 Dass damit das monistische Modell für Großunternehmen praktisch einer Totgeburt gleichkommt, wurde sehenden Auges in Kauf genommen. Immerhin findet es im Mittelstand, soweit er sich unterhalb der Schwellenwerte zur paritätischen Mitbestimmung bewegt, einen gewissen Anklang.29 All dies muss nicht das letzte Wort gewesen sein. Mittlerweile wächst der Reformdruck auf das überkommene System der paritätischen Mitbestimmung und nicht wenige Autoren plädieren dafür, die Mitbestimmung erstens für Verhandlungen zu öffnen und zweitens zu internationalisieren.30 In einem solchen Modell wäre auch für das Aktienrecht neue Flexibilität gewonnen. Eingebettet in eine anpassungsfähige Mitbestimmungsregelung wären Monismus und Dualismus funktional gleichwertige Alternativen, aus denen jeweils die für das eigene Unternehmen besser geeignete ausgewählt werden könnte. Das könnte beispielsweise für solche Unternehmen sinnvoll sein, die – in ihrer Anteilseignerstruktur, möglicherweise auch ihrer Belegschaft – international ausgerichtet sind und ihre Corporate Governance an diesen Umstand anpassen wollen. Letzten Endes könnte eine solche Reform zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Den ausländischen Anlegern ist das Board-System leichter vermittelbar, weil sie es aus dem internationalen Kontext kennen; und den im Ausland tätigen Arbeitnehmern könnte eine modifizierte Mitbestimmungsregelung die gleichwertigen Mitspracherecht anbieten, die ihnen das deutsche Mitbestimmungsrecht bislang versagt.31

27 S. nur: Gruber/Weller, NZG 2003, 297 ff.; Reichert/Brandes, ZGR 2003, 767 ff.; Roth, ZfA 2004, 431 ff.; Teichmann, BB 2004, 53 ff. 28 Vgl. §§ 34 ff. SE-Beteiligungsgesetz. 29 S. nur Heckschen in FS H.P. Westermann, 2008, S. 999, 1008 ff.; zurückhaltend indessen Bücker in Bergmann/Kiem/Mülbert/Verse/Wittig (Hrsg.), 10 Jahre SE, 2015, S. 203, 209. 30 Raiser, Verhandlungen des 66. DJT Stuttgart 2006, Band I, Gutachten, S. B 67 ff.; Arbeitskreis Unternehmerische Mitbestimmung, ZIP 2009, 885 ff.; Teichmann in Habersack/Behme/ Eidenmüller/Klöhn (Hrsg.), Deutsche Mitbestimmung unter europäischem Reformzwang, 2016, S. 135 ff. 31 Nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofes ist diese Regelung zwar mit dem Unionsrecht vereinbar (EuGH, Rs. C-566/15, Urteil vom 18. Juli 2017, NZG 2017, 949; krit. Habersack, NZG 2017, 1021 ff.); das bedeutet aber nicht, dass sie rechtspolitisch wünschenswert sei.

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5. European Model Company Act (EMCA) a) Konzeption als Modellgesetz Noch ist es nicht soweit. Ob es Deutschland gelingen wird, sein in Stein gemeißeltes Mitbestimmungsrecht zu modernisieren, bleibt offen. Somit hat die Wissenschaft ausnahmsweise die Muße, eine Modernisierung der Corporate Governance grundlagentheoretisch und nicht – wie so häufig – skandalgetrieben vorzubereiten.32 Den Anstoß dazu könnte der im Jahre 2017 präsentierte „European Model Company Act“ (kurz: „EMCA“) geben.33 Theodor Baums (Frankfurt am Main) und Paul Krüger Andersen (Aarhus/Dänemark) hatten sich im Jahre 2007 die Schaffung eines solchen europäischen Modellgesetzes für Kapitalgesellschaften auf die Fahnen geschrieben und dafür eine Arbeitsgruppe mit Mitgliedern aus nahezu allen EU-Mitgliedstaaten gewinnen können.34 Das EMCA-Projekt reagiert auf den stockenden Prozess der EU-Rechtsangleichung, die viele Bereiche des Gesellschaftsrechts komplett ausspart, und dort, wo sich Regelungen finden, nicht immer den Eindruck systematischer Geschlossenheit vermittelt.35 Nach dem Vorbild des US-amerikanischen Model Business Corporation Act (MBCA)36 sollte für Europa ein Regelwerk entstehen, das kein Gesetzgeber übernehmen muss, aber jeder freiwillig (ganz oder in Teilen) übernehmen kann.37 Adressaten des EMCA sind nicht allein die EU-Mitgliedstaaten. Noch größer mag das Interesse derjenigen Rechtsordnungen sein, die sich im Zuge einer Annäherung an das EU-Rechtssystem ein Gesellschaftsrecht zulegen wollen, das einerseits europäischen Standards entspricht und andererseits Raum für die Bewahrung eigener Traditionen lässt. Viele dieser Staaten haben – ebenso wie manch kleinerer EU-Mitgliedstaat – nicht die personellen Kapazitäten, um ihr Gesellschaftsrecht aus eigener Kraft regelmäßig auf den neuesten Stand zu bringen. Der EMCA kann ihnen, ebenso wie dies der MBCA in den USA leistet,38 diese Arbeit zumindest teilweise abnehmen. 32 In Anlehnung an Seibert, AG 2002, 417, 418: „Bekanntlich ist die politische Corporate Governance-Debatte in Deutschland nicht grundlagentheoretisch-, sondern skandalgetrieben.“ 33 Der vollständige Text ist unter https://ssrn.com/abstract=2929348 abrufbar. 34 Zu den Anfängen des EMCA: Baums/Krüger/Andersen in FS Wymeersch, 2009, S. 5 ff.; s. auch Baums in Kley/Leven/Rudolph/Schneider (Hrsg.), FS von Rosen, 2008, S.  525, 527. Die Namen der Personen, die am EMCA mitgearbeitet haben, finden sich in der Einleitung zum EMCA auf S. 2 f. 35 Zu diesem rechtspolitischen Hintergrund des EMCA-Projektes Baums/Teichmann, AG 2018, 562 ff. 36 Zu diesem: Teichmann in FS Baums, 2017, S. 1228, 1231 ff.; L. Schmidt, RIW 2016, 718 ff. 37 Erste Überblicksdarstellungen: Baums/Teichmann, AG 2018, 562  ff.; Perakis, ECFR 2016, 200 ff.; J. Schmidt, ZHR 181 (2017), 43 ff.; L. Schmidt in Behme et. al. (Hrsg.), Perspektiven einer europäischen Privatrechtswissenschaft, S. 197, 207 ff.; Teichmann, KSzW 2014, 77 ff.; Krebs in Jung/Krebs/Stiegler (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in Europa, 2019, 2222 ff. Eine vertiefte Befassung mit dem EMCA findet sich bei Meyer, Kerngesellschaftsrecht, 2018, S. 218 ff. 38 Vgl. Teichmann in FS Baums, 2017, S. 1228, 1237 ff. Zum Regelungsansatz des Modellgesetzes grundlegend Kahnert, Rechtsetzung im Europäischen Gesellschaftsrecht, 2012, S. 207 ff.

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b) Einheitsmodell der Kapitalgesellschaft Soweit man den EMCA als Modell für Deutschland in Betracht zieht, muss generell bedacht werden, dass der EMCA dem sog. Einheitsmodell folgt.39 Er bietet kein getrenntes Regelwerk für GmbH und Aktiengesellschaft. Stattdessen liegt dem Modellgesetz ein Verständnis von der Kapitalgesellschaft als einheitlicher Rechtsform zu Grunde. Das entspricht der Regelungstechnik im Vereinigten Königreich und in Skandinavien40; auch Frankreich hat das gesamte Gesellschaftsrecht in ein Gesetz gefasst, wenngleich dort die Trennung in unterschiedliche Typen deutlicher sichtbar bleibt.41 Den Verfasserinnen und Verfassern des EMCA war selbstverständlich bewusst, dass kleine Kapitalgesellschaften andere Regelungsbedürfnisse haben als große. Der EMCA unterscheidet daher – soweit es der Arbeitsgruppe sinnvoll erschien – innerhalb der einzelnen Vorschriften, ob die Gesellschaft für einen geschlossenen Gesellschafterkreis gedacht ist („Private Company“),42 einer Börsennotierung zugänglich ist („Public Company“) oder tatsächlich an einem regulierten Markt notiert ist („Traded Company“)43. Soweit sich in bestimmten Vorschriften keine ausdrückliche Differenzierung findet, sind diese gleichermaßen auf alle Typen der Kapitalgesellschaft anwendbar.44 c) Struktur des Modellgesetzes Der inhaltliche Aufbau des EMCA entspricht demjenigen der meisten nationalen Gesetzeswerke. Einem einleitenden Kapitel mit allgemeinen Vorschriften folgen Regelungen zur Gründung der Gesellschaft, zur Eintragung und zum Formwechsel. Daran schließen sich Bestimmungen über die Aktien, die Finanzverfassung und das Kapital an. Das achte EMCA-Kapitel widmet sich dem hier interessierenden Leitungssystem („Management of the Company“). Es folgen Kapitel zu den Pflichten der Geschäftsleiter und deren Haftung45, zur Gesellschafterversammlung und Rechnungslegung46 sowie zu Strukturmaßnahmen47. 39 Näher hierzu Baums/Teichmann, AG 2018, 562, 566 f. 40 Neben Finnland und Schweden folgt mittlerweile auch Dänemark, das vorher vom deutschen zweispurigen Modell geprägt war, dem Einheitsmodell der Kapitalgesellschaft (Andersen/Sørensen, The Danish Companies Act, 2012, S. 26 ff.). 41 Der Code de Commerce enthält einzelne Abschnitte zu den verschiedenen Gesellschaftsformen (Art. L223-1 ff. zur société à responsabilité limitée; Art. L 225-1 ff. zur société anonyme; Art. L227-1 ff. zur société par actions simplifiée). 42 Artikel 1.03 (2) EMCA schreibt vor, dass die Anteile einer „private company“ nicht öffentlich gehandelt werden dürfen. 43 Eine Legaldefinition der „traded company“ findet sich in Artikel 1.02 (9) EMCA. 44 Artikel 1.03 (3) EMCA: „Unless otherwise prescribed, this Act shall apply to private as well as public companies.“ 45 Dazu Antunes/Fuentes Naharro, ECFR 2016, 269 ff. 46 Dazu Hommelhoff, ECFR 2016, 254 ff. 47 Dazu Teichmann, ECFR 2016, 277 ff.

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An das Kapitel zur Auflösung und Liquidation schließt sich ein beachtlich innovatives Kapitel zum Konzernrecht an,48 bevor der EMCA mit Vorschriften zu nationalen und grenzüberschreitenden Zweigniederlassungen schließt. d) Inhaltliche und rechtsvergleichende Erläuterungen Hinzuweisen ist auch auf den umfänglichen Anmerkungsapparat des EMCA. Jedem Kapitel sind Erläuterungen vorangestellt, in denen die Verfasserinnen und Verfasser Auskunft über die besonderen Rahmenbedingungen der betreffenden Thematik geben. So wird zum Leitungsmodell auf die gescheiterte Strukturrichtlinie und auf weitere EU-Initiativen hingewiesen. Außerdem wird der Antagonismus von Vorstand/ Aufsichtsrats- und Board-Modell in den nationalen Rechtsordnungen dargelegt. Dabei wird erkennbar, in welch unterschiedlichen Spielarten die beiden Modelle anzutreffen sind. Die Aufteilung in nur zwei Rechtskreise ist eine Vereinfachung, die nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass die nationalen Leitungssysteme jeweils durchaus eigenständige Facetten vorzuweisen haben. Auf diese Einführung in das Kapitel „Management of the Company“ folgen die einzelnen Gesetzesvorschriften, die jeweils von einer kurzen Kommentierung begleitet werden. Regelmäßig finden sich dort rechtsvergleichende Hinweise zu den unterschiedlichen nationalen Bestimmungen, die in der EMCA-Arbeitsgruppe diskutiert wurden. Weiterhin erläutert die Arbeitsgruppe an dieser Stelle, aus welchen Gründen sie einem bestimmten nationalen Vorbild die Eignung zugesprochen hat, in das Modellgesetz aufgenommen zu werden. Als Beispiel mag Artikel 8.04 EMCA dienen, der in börsennotierten Gesellschaften eine Trennung von „Executive“ und „Non-Executive Directors“ vorschreibt. Der EMCA greift damit das Vorbild des britischen Rechts auf, weicht davon aber insoweit ab, als er die Aufteilung in geschäftsführende und nicht-geschäftsführende Direk­ toren gesetzlich festschreibt und nicht dem Corporate Governance Code überlässt. ­Außerdem entspricht die damit festgeschriebene Funktionsteilung jedenfalls für börsennotierte Gesellschaften einer Empfehlung der EU-Kommission.49

II. Struktur der Unternehmensverfassung nach dem EMCA 1. Wahlrecht aus verschiedenen Leitungsmodellen Der EMCA enthält zur Unternehmensverfassung ein Wahlrecht zwischen dem monistischen (Sec. 8.01 (2a) EMCA) und dem dualistischen System (Sec. 8.01 (2b) EMCA). Auch Mischsysteme wie z.B. das skandinavische Modell, sind denkbar (Sec. 8.01 (2c) 48 Dazu Conac, ECFR 2016, 301 ff. 49 Ziff. 3.1. der Empfehlung der Kommission vom 15.2.2005 zu den Aufgaben von nicht geschäftsführenden Direktoren/Aufsichtsratsmitgliedern börsennotierter Gesellschaften sowie zu den Ausschüssen des Verwaltungs-/Aufsichtsrats (2005/162/EG, ABl. EU, 25.2.2005, Nr. L 52/51).

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EMCA). Die EMCA-Arbeitsgruppe geht dabei von der Annahme aus, dass kein System dem anderen generell überlegen ist.50 Sec. 8.01 (2) EMCA lautet: “The company’s management structure should be determined in the articles of association. A company can choose between the following management structures: (a) A one-tier system according to the provisions in Part 1 of this Chapter, (b) A two-tier system according to the provisions in Part 2 of this Chapter, (c) Systems in between according to the provisions of this Chapter.” Das Wahlrecht gilt, gemäß der Grundkonzeption als Einheitsgesetz (vgl. oben I. 5. b), für Private Companies und Public Companies gleichermaßen. Dahinter steht die Auffassung, dass die Unterscheidung dieser beiden Varianten der Kapitalgesellschaft im Grunde nicht mehr zeitgemäß ist. Wichtiger ist die Größe des Unternehmens, weshalb eine nach dem EMCA organisierte Kapitalgesellschaft ihr Leitungsmodell an den spezifischen Bedürfnissen des eigenen Unternehmens ausrichten soll.51 Eine normative Wegmarke ist sodann die Börsennotierung einer Gesellschaft, die auch im EMCA punktuell den Anlass für Sonderregelungen liefert. Darauf wird im Folgenden jeweils an geeigneter Stelle gesondert hingewiesen werden. Das EMCA-Kapitel zum Leitungsmodell enthält sodann drei weitere Teile. Zunächst finden sich spezielle Regelungen für das monistische und das dualistische System, anschließend gemeinsame Vorschriften für beide Systeme. Diese Dreiteilung entspricht der Regelungstechnik in den Art. 38 ff. SE-Verordnung. An ihr ist grundsätzlich bemerkenswert, dass sie einen gemeinsamen Regelungskanon für beide Modelle voraussetzt. Ungeachtet der äußerlichen Differenzen gibt es offenbar einen Kernbestand an Regelungsprinzipien, der in einem Gesetzestext vor oder – wie hier – hinter die Klammer gezogen werden kann.52 Ein vierter Teil des EMCA-Kapitels zur Leitungsstruktur ist der Arbeitnehmerbeteiligung gewidmet. Allerdings verweist der EMCA hier lediglich auf das nationale Recht. An eine Synthese aus allen bekannten Mitbestimmungsmodellen hat sich selbst die ansonsten sehr ambitionierte EMCA-Arbeitsgruppe nicht herangewagt.53 Angesichts der oben dargelegten Pfadabhängigkeit der Mitbestimmungssysteme wäre eine allgemeingültige Vorgabe, die für alle Leitungsmodelle passt, wohl auch kaum denkbar. Da der EMCA als Modellgesetz nicht wortwörtlich übernommen werden muss, bestünde für Deutschland genügend Spielraum, in Anlehnung an den EMCA eine eigenständige Variante unter Einbeziehung mitbestimmungsrechtlicher Vorgaben zu entwickeln. 50 Comments zu Sec. 8.01 EMCA. 51 Comments zu Sec. 8.01 EMCA. 52 Vgl. Teichmann in Lutter/Hommelhoff/Teichmann (Hrsg.), SE-Kommentar, 2. Aufl. 2015, vor Art. 46 SE-VO Rz. 1. 53 General Comments zu Chapter 8, 3. Considerations (am Ende) EMCA; Comments zu 8.31 EMCA.

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2. Monistisches Leitungsmodell Im monistischen Leitungsmodell werden die Organmitglieder grundsätzlich von der Hauptversammlung bestellt (Sec. 8.02 EMCA). Die Satzung kann Entsendungsrechte für bestimmte Gesellschafter oder für Dritte regeln. In einer Aktiengesellschaft soll aber jedenfalls die Mehrheit der Organmitglieder von der Hauptversammlung bestellt werden. Außerdem sollen in börsennotierten Gesellschaften die Funktionen des Vorsitzenden der Geschäftsführung (Chief Executive) und des Vorsitzenden des Verwaltungsorgans (Chairman) mit verschiedenen Personen besetzt werden (Sec. 8.03 (3) EMCA). Der EMCA macht sich damit die Regelung des britischen Corporate Governance Code zu eigen54 und signalisiert die Bedeutung, die einer solchen Funktionstrennung für eine gute Corporate Governance beizumessen ist.55 Weiterhin schreibt Sec. 8.04 EMCA für börsennotierte Gesellschaften eine Trennung in geschäftsführende und nicht-geschäftsführende Mitglieder des Verwaltungsorgans vor. In börsennotierten Gesellschaften sollte es außerdem eine angemessene Zahl von unabhängigen nicht-geschäftsführenden Organmitgliedern geben (Sec. 8.05 (1) EMCA). Als unabhängig sind Personen anzusehen, die keine berufliche, familiäre oder andere Beziehung zur Gesellschaft, zum beherrschenden Gesellschafter oder zu Mitgliedern der Geschäftsleitung haben, die einen Interessenkonflikt begründen, der ihr unabhängiges Urteil trüben könnte (Sec. 8.05 (2) EMCA). Diese Regelungen entsprechen dem britischen Vorbild und der einschlägigen Empfehlung der Europäischen Kommission.56 Mitglieder des Verwaltungsorgans können ihr Mandat jederzeit niederlegen (Sec. 8.06 (1) EMCA). Sie können außerdem jederzeit von derjenigen Person oder Gruppe abberufen werden, die sie bestellt hat (Sec. 8.06 (2) EMCA). Organmitglieder, die nicht von der Gesellschafterversammlung bestellt wurden, können von dieser abberufen werden, wenn hierfür ein wichtiger Grund vorliegt (Sec. 8.06 (3) EMCA); als ein solcher Grund kommt namentlich eine Pflichtverletzung bei der Geschäftsführung in Betracht57. Unberührt von dieser gesellschaftsrechtlichen Regelung bleiben Ansprüche aus anderen Rechtsgründen, etwa Abfindungen aus Dienstvertrag.58 Weitere Regelungen zur Arbeitsweise des Organs können in einer Geschäftsordnung bestimmt werden (Sec. 8.07 EMCA). Diese kann beispielsweise die Aufteilung zwischen geschäftsführenden und nicht-geschäftsführenden Mitgliedern regeln, die Häufigkeit von gemeinsamen Sitzungen und die Überwachung des Tagesgeschäfts (Sec. 8.07 (1) EMCA). Die Delegation von Aufgaben an Ausschüsse ist vom Verwal-

54 Principle G (zweiter Satz): “There should be a clear division of responsibilities between the leadership of the board and the executive leadership of the company’s business.” Zum UK Corporate Governance Code s. bereits oben Fn. 10. 55 Vgl. Erläuterungen zu Sec. 8.03 EMCA. 56 Vgl. Erläuterungen zu Sec. 8.04 und Sec. 8.05 EMCA; Ziff. 3 der Empfehlung 2005/162/EG (o. Fn. 49). 57 Vgl. Erläuterungen zu Sec. 8.06 EMCA. 58 Vgl. Erläuterungen zu Sec. 8.06 EMCA.

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tungsorgan schriftlich festzulegen (Sec. 8.07 (3) ECMA). Ungeachtet dessen kann auch die Satzung hierzu Regelungen treffen.59 3. Dualistisches Leitungsmodell Betrachtet man die EMCA-Regelungen zum dualistischen Leitungsmodell mit einem vom deutschen Recht geprägten Blick, fällt zweierlei auf: Einerseits enthält der EMCA Strukturmerkmale, die einem Dualismus deutscher Prägung entsprechen (unter a); andererseits eröffnet der EMCA Gestaltungsmöglichkeiten, die – jedenfalls aus einer deutschen Perspektive – die klare Trennung von Vorstand und Aufsichtsrat zu verwischen drohen (unter b). Dies ist dem Einfluss derjenigen Rechtsordnungen geschuldet, die zwar gleichfalls dem Dualismus zuzuordnen sind, ihn aber weniger strikt umsetzen als das deutsche Aktiengesetz. a) Gemeinsamkeiten mit dem deutschen Modell Im Ausgangspunkt bedeutet „Dualismus“ auch im EMCA, dass es zwei Organe gibt, von denen eines die Geschäfte führt und das andere die Geschäftsführung beaufsichtigt (Sec. 8.08 (1) S. 1 EMCA). Der Vorstand („Management Board“) ist für die Geschäftsführung verantwortlich (Sec. 8.08 (1) S. 2 EMCA). Der Aufsichtsrat („Super­ visory Board“) überwacht den Vorstand (Sec. 8.08 (1) S. 3 EMCA). Die Übernahme von Geschäftsführungsaufgaben ist dem Aufsichtsrat verwehrt (Sec. 8.08 (1) S.  4 EMCA). Die Satzung kann festlegen, dass bestimmte bedeutsame Geschäfte nur mit Zustimmung des Aufsichtsrats vorgenommen werden dürfen (Sec. 8.08 (2) S. 1 EMCA).60 Mitglieder des Vorstands können nicht zugleich Mitglieder des Aufsichtsrats sein (Sec. 8.09 (1) EMCA). Aufsichtsratsmitglieder werden durch die Hauptversammlung bestellt (Sec. 8.10 (2) S. 1 EMCA), Vorstandsmitglieder durch den Aufsichtsrat (Sec. 8.10 (1) EMCA). Dies alles klingt vertraut; es entspricht der Konzeption des deutschen Aktiengesetzes. b) Auflockerungen des strikten Dualismus Allerdings öffnet sich der EMCA für eine gewisse Verschränkung der Organe, wie sie in einigen anderen dualistisch geprägten Rechtsordnungen möglich ist, so etwa in den Niederlanden.61 Diese Aufweichungen des strengen Dualismus ordnet der EMCA nicht selbst an, sondern überlässt sie dem Satzungsgeber. So kann die Satzung gestatten, dass einzelne Personen zugleich dem Vorstand und dem Aufsichtsrat angehören (Sec. 8.09 (2) S. 1 EMCA). Diese Satzungsautonomie wiederum ist begrenzt. Die Besetzung in Personalunion ist nur für eine Minderheit der Aufsichtsratsmitglieder ge59 Vgl. Erläuterungen zu Sec. 8.07 EMCA. 60 In den Erläuterungen zu Sec. 8.08 (2) EMCA heißt es, der Aufsichtsrat könne einen Zustimmungsvorbehalt auch selbst ad hoc bestimmen. Im Wortlaut der Norm findet sich dies allerdings nicht, es sei denn, man interpretiert die dort geregelte Satzungsautonomie in der Weise, dass der Satzungsgeber dem Aufsichtsrat dieses Recht zubilligen könne. 61 Vgl. Erläuterungen zu Sec. 8.08 EMCA.

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stattet (Sec. 8.09 (2) S. 2 EMCA). Außerdem darf der Aufsichtsratsvorsitzende nicht zugleich ein Mitglied des Vorstands sein (Sec. 8.11 (3) EMCA). Damit will die EMCA-­ Arbeitsgruppe einerseits eine gewisse Flexibilität bei der Aufgabenverteilung gewähren, andererseits die Überwachungsfunktion des Aufsichtsrates als zwingende Komponente des Dualismus aufrechterhalten.62 In vergleichbarer Weise gewährt der EMCA Satzungsautonomie hinsichtlich der Bestellung der Organmitglieder – in diesem Fall jedoch mit abgestufter Gestaltungsfreiheit für geschlossene und offene Kapitalgesellschaften (Private/Public Companies). Der Satzungsgeber hat generell die Möglichkeit, der Gesellschafterversammlung die Bestellungskompetenz für den Vorstand zuzuweisen (Sec. 8.10 (1) EMCA). Bezüglich des Aufsichtsrats kann für eines oder mehrere Mitglieder eine andere Bestellung als diejenige durch die Gesellschafterversammlung vorgesehen werden (Sec. 8.10 (2) S. 2 EMCA). Denkbar wären beispielsweise Entsendungsrechte, wie sie das deutsche Aktienrecht kennt (vgl. § 101 Abs. 2 AktG). Allerdings muss in einer Public Company sichergestellt sein, dass die Mehrheit der Aufsichtsratsmitglieder durch die Gesellschafterversammlung bestellt wird (Sec. 8.10 (3) EMCA).63 Über die Mitgliederzahl von Vorstand und Aufsichtsrat entscheidet die Satzung, wobei der Aufsichtsrat aus mindestens drei Personen zu bestehen hat (Sec. 8.10 (5) EMCA). In Gegensatz zum deutschen Aktienrecht sind die Mitglieder von Vorstand und Aufsichtsrat nach dem EMCA jederzeit und ohne besonderen Grund abberufbar (Sec. 8.13 (2) EMCA). Diese Abberufungsfreiheit gilt jeweils für diejenigen, die das Mitglied ursprünglich bestellt haben – für den Vorstand ist das regelmäßig der Aufsichtsrat, für den Aufsichtsrat die Gesellschafterversammlung. Sollten Aufsichtsratsmitglieder nicht von der Gesellschafterversammlung bestellt worden sein, so kann diese das betreffende Mitglied zumindest aus wichtigem Grund abberufen (Sec. 8.13 (3) EMCA). Mit der leichteren Abberufbarkeit von Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern weicht das dualistische Modell des EMCA vom deutschen Vorbild64 ab. Dies geschah bewusst.65 Ganz offenbar stieß die Vorstellung, dass derjenige, der ein Organmitglied bestellt, es anschließend nur unter erschwerten Bedingungen wieder soll abberufen können, auf wenig Verständnis bei den Vertretern der anderen Mitgliedstaaten. Dabei fällt naturgemäß ins Gewicht, dass der EMCA dem Einheitsmodell der Kapitalgesellschaft folgt, und die hier beschriebene Regelung auch für die Private 62 Vgl. Erläuterungen zu Sec. 8.09 EMCA. 63 Diese Regelung enthält den Vorbehalt, dass nationales Recht etwas Anderes regeln könne („unless national law provides otherwise“). Dieser Zusatz erscheint überflüssig. Es entspricht in allen seinen Teilen dem Modellcharakter des EMCA, dass ein nationaler Gesetzgeber ihn nicht „eins zu eins“ übernehmen muss. Die Erläuterungen zu Sec. 8.10 EMCA weisen da­ rauf hin, dass der Vorbehalt mit Rücksicht auf diejenigen Rechtssysteme aufgenommen wurde, die ein System der Mitbestimmung implementieren wollen. Konsequenterweise findet sich daher derselbe Vorbehalt in Sec. 8.02 (3) EMCA hinsichtlich der Bestellung des monistischen Organs. 64 Vorstandsmitglieder können nur aus wichtigem Grund (§ 84 Abs. 3 AktG), Aufsichtsratsmitglieder nur mit Dreiviertel-Mehrheit (§ 103 Abs. 1 AktG) abberufen werden. 65 Die Erläuterungen zu Sec. 8.13 EMCA legen die deutsche Rechtslage ausführlich dar. Sie stand der Arbeitsgruppe demnach bei Abfassung der Vorschrift durchaus vor Augen.

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Company gelten soll. Bezieht man die Regelung des GmbH-Gesetzes in den Vergleich mit ein (vgl. § 38 GmbHG) ist der konzeptionelle Gegensatz zum EMCA geringer als er auf den ersten Blick erscheint. Aus deutscher Sicht ist sodann bemerkenswert, dass der EMCA nicht nur personelle, sondern auch funktionale Verschränkungen von Vorstand und Aufsichtsrat zulässt. So soll es der Satzung gestattet sein, dem Aufsichtsrat Entscheidungskompetenzen hinsichtlich der Geschäftspolitik der Gesellschaft zuzuweisen (Sec. 8.08 (2) S. 2 EMCA). Das Primat des Vorstands, der nach deutschem Aktienrecht eigenverantwortlich die Leitlinien der Unternehmenspolitik festlegt66, wäre damit durchbrochen und auf den Aufsichtsrat verlagert. Auch hier sollte der Gegensatz jedoch nicht überzeichnet werden. Angesichts der vom deutschen Aktienrecht gewünschten und durch zahlreiche Berichtspflichten (vgl. §  90 AktG) geförderten engen Abstimmung zwischen Vorstand und Aufsichtsrat dürfte eine alleinige Strategiefestlegung durch den Vorstand ohnehin nicht mehr dem Leitbild des heutigen Aktienrechts entsprechen.67 Der Aufsichtsrat des EMCA hat einen Aufsichtsratsvorsitzenden (Sec. 8.11.  (1) EMCA), der die Sitzungen leiten und über die ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung wachen soll (Sec. 8.11 (2) EMCA). Ergibt sich bei Abstimmungen ein Patt, so zählt die Stimme des Vorsitzenden doppelt. Seine hervorgehobene Stellung findet sich nicht im Abschnitt über das dualistische Modell, sondern erst im nachfolgenden Abschnitt über die Beschlussfassung der Organe (Sec. 8.17 (2) S. 2 EMCA). Eine funktional vergleichbare Regelung existiert im deutschen Mitbestimmungsgesetz (§ 29 Abs. 2 MitbestG). Im allgemeinen Aktienrecht ist sie entbehrlich, weil die Mitgliederzahl im Aufsichtsrat durch drei teilbar sein muss (§ 95 AktG). Der EMCA gewährt auch hinsichtlich des Vorsitzenden Satzungsfreiheit (Sec. 8.11 (1) EMCA a.E.). Auf dieser Basis kann gegebenenfalls sogar völlig auf einen Vorsitzenden verzichtet werden.68 Die Organisation der internen Abläufe bleibt dann der Geschäftsordnung überlassen, die vom Aufsichtsrat zu erlassen ist. Sie regelt unter anderem die Aufgabenverteilung im Organ und die Organisation der Sitzungen (Sec. 8.12 (1) EMCA).69 4. Gemeinsame Regeln a) Grundkonzept Auf die Abschnitte zum monistischen und zum dualistischen Leitungsmodell folgt ein längerer Abschnitt mit Regeln, die für beide Systeme gleichermaßen gelten sollen. Dies entspricht der Regelungstechnik in der SE-Verordnung70 und trägt dazu bei, den 66 Dazu zusammenfassend Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, 2014, S. 2-16 (§ 1 Rz. 1-24). 67 Dazu bereits oben bei Fn. 18. 68 Vgl. Erläuterungen zu Sec. 8.11 EMCA. 69 Die Vorschrift ist allerdings nicht glücklich formuliert. Sie lehnt sich zu eng an diejenige zum monistischen System an (z.B. in der Aufgabenbeschreibung „monitoring the day-today business“) und passt nicht für ein Überwachungsorgan. 70 Vgl. Art. 46 ff. SE-Verordnung.

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bisweilen überstrapazierten Gegensatz von monistischen und dualistischen Struk­ turen zu relativieren. Umgekehrt besteht in der gesetzgeberischen Konzeption gemeinsamer Regeln hin und wieder doch die Notwendigkeit einer Anpassung an das konkret gewählte Leitungssystem. Insgesamt ist dieser Anpassungsbedarf jedoch erstaunlich gering, wie die nachfolgenden Erörterungen zur Mandatsdauer (unter b), zu den persönlichen Voraussetzungen der Organmitgliedschaft (unter c) und zum Verfahren der Beschlussfassung (unter d) aufzeigen.71 Vorausgeschickt sei, dass die Konzeption der gemeinsamen Regeln im EMCA noch nicht ganz gelungen ist. Dies liegt allerdings eher an redaktionellen Versäumnissen als an konzeptionellen Hürden. So wurde im Kontext der Vertretungsmacht (Sec. 8.27 EMCA) zwar einleuchtend geregelt, dass das monistische Board of Directors berechtigt ist, die Gesellschaft Dritten gegenüber zu vertreten, während der Aufsichtsrat im dualistischen Modell keine Vertretungsmacht hat. Allerdings findet der Vorstand (Management Board) als Vertretungsorgan keine Erwähnung. Dadurch ist das dualistische Modell ungewollt handlungsunfähig. Bei den Vorschriften über die Beschlussfassung wiederum wird in den Formulierungen nicht immer hinreichend deutlich, dass eigentlich beide Leitungssysteme gemeint sind. Bisweilen ist lediglich vom monistischen „Board of Directors“ die Rede, obwohl ganz offensichtlich auch der Aufsichtsrat erfasst sein sollte.72 b) Mandatsdauer Die Mandatsdauer für Organmitglieder von Public Companies bestimmt sich nach der Satzung, sollte eine Höchstgrenze von vier Jahren aber nicht übersteigen (Sec. 8.14 (1) EMCA). In Private Companies ist eine Bestellung auf unbestimmte Zeit möglich (Sec. 8.14 (2) EMCA). Der EMCA plädiert damit zumindest in der Aktiengesellschaft für eine regelmäßige Überprüfung der Eignung von Organmitgliedern.73 Er gibt allerdings insoweit der Satzung mehr Spielraum als das deutsche Aktienrecht. Dies gilt auch hinsichtlich der Bestellung von Ersatzmitgliedern, um die Funktionsfähigkeit des Organs aufrechterhalten (Sec. 8.15 EMCA). c) Persönliche Voraussetzungen der Organmitgliedschaft In einer recht knappen Vorschrift hält Sec. 8.18 EMCA fest, dass die folgenden Personen nicht Organmitglieder sein können: Minderjährige, Personen, die unter Betreuung stehen, und solche, über deren Vermögen das Insolvenzverfahren eröffnet wurde. 71 Nicht näher eingegangen wird auf die Regelungen zur Vergütung (Sec. 8.22 bis Sec. 8.24 EMCA), zur Gleichbehandlung der Gesellschafter und zur fehlenden Bindungswirkung von rechtswidrigen Gesellschafterbeschlüssen (Sec. 8.25 EMCA) sowie zu Verträgen mit Alleingesellschaftern (Sec. 8.26 EMCA). 72 Ein Beispiel ist Sec. 8.17 (3) EMCA zur schriftlichen oder elektronischen Beschlussfassung. Genannt wird nur das Board of Directors. Aus den Erwägungen lässt sich aber erkennen, dass auch an den Aufsichtsrat gedacht war (zur Begründung des Inhalts der Norm wird ausdrücklich auf das Vorbild in § 108 Abs. 4 AktG hingewiesen). 73 Vgl. Erläuterungen zu Sec. 8.14 EMCA.

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Das überrascht nicht. Bemerkenswert ist hingegen, dass auch juristischen Personen die Eignung als Organmitgliedschaft abgesprochen wird. Das entspricht zwar der deutschen Tradition (§§ 76 Abs. 3, 100 Abs. 1 AktG), ist im europäischen Vergleich aber keineswegs selbstverständlich. Nicht wenige Rechtsordnungen lassen juristische Personen als Organmitglieder zu.74 Darin kann beispielsweise ein Instrument der Konzernorganisation liegen, das man in einem europäischen Modellgesetzt nicht von vornherein verwerfen sollte. Allerdings bedarf die Zulassung juristischer Personen weitergehender Ausgestaltung. Insbesondere muss festgelegt werden, wer für die juristische Person die Organfunktionen wahrnimmt und damit als Adressat bestimmter Organpflichten anzusehen ist.75 d) Verfahren der Beschlussfassung Der EMCA entwickelt in mehreren Vorschriften allgemeine Regeln für die Beschlussfassung in Kollegialorganen. Abgesehen von einigen redaktionellen Pannen (hierzu bereits unter a) zeigt der Abschnitt, dass die Arbeitsweise des monistischen Board of Directors und des Aufsichtsrates im dualistischen System tatsächlich weitgehend nach denselben Verfahrensregeln organisiert werden kann: Die Sitzungen unterliegen ­gewissen Formalien bei der Einberufung (Sec. 8.16 EMCA), der Beschlussfassung (Sec. 8.17 EMCA) und der Protokollierung (Sec. 8.19 EMCA); die Tätigkeit kann in gewissem Umfang auf Ausschüsse verlagert werden (Sec. 8.20 EMCA); es ist Vertraulichkeit zu wahren (Sec. 8.21 EMCA). In den meisten dieser Fragen bleibt der EMCA seiner Linie treu, der Satzung weitgehende Gestaltungsfreiheit zuzuweisen, um die Verfahrensregeln abzuändern oder näher auszugestalten.76 Offen bleibt die Frage, ob auch der Vorstand diesen strengen Verfahrensregeln folgen muss. Dies müsste klargestellt werden, wenn man derartige Regeln in das nationale Aktienrecht übernehmen wollte.

III. Der EMCA und das deutsche Aktienrecht – zwei Welten stoßen aufeinander 1. Anpassungsbedarf im nationalen Aktienrecht a) Prägung des AktG durch das dualistische Leitungsmodell Auf den ersten Blick bietet der EMCA eine Blaupause für den deutschen Gesetzgeber, wenn er sich dereinst entschließen sollte, ein Wahlrecht zwischen dualistischer und monistischer Leitungsstruktur einzuführen. Auf den zweiten Blick ergeben sich allerdings Zweifel, ob es ausreichen würde, im vierten Teil des Aktiengesetzes („Verfassung der Aktiengesellschaft“) lediglich einen neuen Abschnitt zum monistischen Leitungsmodell einzufügen und anschließend der Satzung die freie Wahl zu überlassen. 74 Rechtsvergleichend jüngst del Val Talens, ECFR 2017, 609 ff. 75 Del Val Talens, ECFR 2017, 609, 631 ff. 76 S. nur Sec. 8.17 (1), (2) und (3) EMCA, Sec. 8.20 (2) EMCA.

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Denn was geschieht mit all jenen Regeln, die über das ganze Aktiengesetz verstreut und explizit auf das dualistische Modell zugeschnitten sind? Es handelt sich bei all diesen Normen bislang um zwingendes Recht. Mit der Wahlfreiheit zwischen beiden Modellen würden sie unversehens dispositiv. Denn alle Regelungen, die sich explizit auf den Aufsichtsrat beziehen, wären kraft satzungsautonomer Abschaffung des Aufsichtsrats nicht mehr anwendbar. Ein solcher Kahlschlag in der feinziselierten aktienrechtlichen Kompetenzverteilung will gut überlegt sein. Zunächst müsste man das Aktiengesetz Schritt für Schritt durchgehen und für jede Vorschrift prüfen, ob sie ihre Funktion in einem monistischen System noch gleichwertig erfüllen könnte. Die nachfolgend behandelten Beispiele machen deutlich, dass dies eine durchaus anspruchsvolle Aufgabe sein kann. b) Beispiele für das Zusammenwirken von Vorstand und Aufsichtsrat Die Unternehmensverfassung des deutschen Aktiengesetzes erschöpft sich nicht in den Vorschriften des Vierten Teils. Diese legen nur die Grundstruktur fest, die von vielen anderen – über das ganze Aktiengesetz verstreuten – Vorschriften immer dann aufgegriffen wird, wenn der Gesetzgeber eine wichtige Aufgabe nicht allein dem Vorstand überlassen will. Die nachfolgenden Beispiele sollen verdeutlichen, vor welcher Herkulesaufgabe der deutsche Gesetzgeber stünde, wenn er im System des heutigen Aktienrechts dem dualistischen ein gleichwertiges monistisches Modell zur Seite stellen wollte. Schon bei der Gründung der Gesellschaft bezieht sich der Gesetzgeber auf den Dualismus der Unternehmensverfassung. So haben die Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats den Hergang der Gründung zu prüfen (§ 33 Abs. 1 AktG). Diese Vorgabe ließe sich verhältnismäßig einfach an ein monistisches System anpassen: Für die Gründungsprüfung wären alle Mitglieder des monistischen Organs gemeinsam zuständig. Schwieriger erscheint der Transfer in ein monistisches System bei der sog. Nachgründung (§ 52 AktG). Hier geht es um bedeutsame Verträge mit wichtigen Aktionären, die im Zeitraum von zwei Jahren nach der Gründung abgeschlossen werden. Das Gesetz verlangt in Vorbereitung der Hauptversammlung, die dem Vertrag zustimmen muss, eine Überprüfung des Vertrages durch den Aufsichtsrat (§ 52 Abs. 3 AktG). In einer Gesellschaft, die sich für das monistische Modell entschieden hat, gibt es allerdings keinen Aufsichtsrat. Es erscheint wenig sinnvoll, im Kontext von § 52 Abs. 3 AktG nun das monistische Organ mit der Prüfung des Vertrages zu beauftragen, den es selbst abgeschlossen hat. Die Vorschrift bedarf daher einer Anpassung an die Verhältnisse eines monistischen Leitungsmodells. Ebenso rufen die Vorschriften über Jahresabschluss und Abschlussprüfung Anpassungsbedarf hervor. Nach aktueller Gesetzeslage sind Jahresabschluss und Lagebericht dem Aufsichtsrat zur Prüfung vorzulegen (§§  170, 171 AktG). Anschließend wird der Jahresabschluss von Vorstand und Aufsichtsrat gemeinsam festgestellt (§ 172 AktG). Gemäß §  124 Abs.  3 Satz 1 AktG obliegt es sodann dem Aufsichtsrat, der Hauptversammlung einen Prüfer zur Wahl vorzuschlagen. Dem von der Hauptversammlung gewählten Prüfer erteilt dann der Aufsichtsrat den Prüfungsauftrag (§ 111 945

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Abs. 2 Satz 3 AktG). All dies sind mit Bedacht gewählte Kontrollelemente im Verhältnis zwischen Aufsichtsrat und Vorstand, die einer Überarbeitung bedürfen, wenn dem jeweiligen Satzungsgeber die Abschaffung des Aufsichtsrats freigestellt werden soll. Die Reihe der Beispiele, die einen mehr oder weniger großen Anpassungsbedarf hervorrufen, ließe sich noch lange fortsetzen: Ein Abschlag auf den Bilanzgewinn darf nur mit vorheriger Zustimmung des Aufsichtsrats an die Aktionäre ausgezahlt werden (§ 59 Abs. 3 AktG). Der Aufsichtsrat legt die Bezüge der Vorstandsmitglieder fest (§ 87 AktG). Die Kreditgewährung an Vorstandsmitglieder setzt einen Aufsichtsratsbeschluss voraus (§  89 Abs.  1 AktG). Der Aufsichtsrat hat die Hauptversammlung einzuberufen, wenn das Wohl der Gesellschaft es erfordert (§ 111 Abs. 3 AktG). Die Befugnis zu Satzungsänderungen, die nur die Fassung betreffen, kann dem Aufsichtsrat übertragen werden (§ 179 Abs. 1 Satz 2 AktG). Aktien aus einer genehmigten Kapitalerhöhung sollen nur mit Zustimmung des Aufsichtsrats ausgegeben werden (§ 202 Abs. 3 Satz 2 AktG); die Bedingungen der Aktienausgabe unterliegen gleichfalls seiner vorherigen Zustimmung (§ 204 Abs. 1 Satz 2 AktG). Ebenso ist der Aufsichtsrat in die genehmigte Kapitalerhöhung gegen Sacheinlagen eingebunden (§ 205 Abs. 2 Satz 2 AktG). Zu guter Letzt müsste das Konzernrecht neu geschrieben werden. Denn in der faktisch abhängigen Gesellschaft kommt dem Aufsichtsrat die wichtige Kontrollfunktion der Überprüfung des Abhängigkeitsberichts zu (§ 314 AktG).77 2. Integration der Kontrollfunktion in das monistische Modell a) Trennung in geschäftsführende und nicht-geschäftsführende Mitglieder Für die konzeptionelle Anpassung des deutschen Aktienrechts an die Funktionsbedingungen eines monistischen Modells müsste das Rad nicht bei jedem der oben genannten Beispiele neu erfunden werden. Eine effiziente Überwachung ließe sich in den gesetzlich geregelten Sonderfällen durch einige strukturelle Vorkehrungen innerhalb des monistischen Organs weitgehend funktionsäquivalent ermöglichen. Im Mittelpunkt einer solchen Lösung stünde die Aufteilung in geschäftsführende und nicht-geschäftsführende Mitglieder. Diese hat sich (wie oben I. 3. angesprochen) international als Standard durchgesetzt und findet sich auch im EMCA (vgl. oben II.2.). Die nicht-geschäftsführenden Mitglieder weisen naturgemäß eine gewisse Distanz zum Tagesgeschäft auf und können dadurch in vielen Fällen ein Gegengewicht zu den geschäftsführenden Mitgliedern bilden. So mag es in einigen der oben genannten Vorschriften genügen, eine Entscheidung dem monistischen Organ als Ganzem zuzuweisen, um das Gewicht der nicht-geschäftsführenden Mitglieder in die Waagschale zu werfen. In anderen Fällen lässt sich die unabhängige Urteilsfindung dadurch ver77 Vgl. die Diskussion über die Integration des Konzernrechts in die monistische SE: Maul, ZGR 2003, 743 ff.; monographisch Ortolf, Die monistische SE-Konzerngesellschaft mit Sitz in Deutschland, 2012; weiterhin die Kommentierung des § 49 SEAG von Teichmann (in Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl. 2015) und Verse (in Habersack/ Drinhausen, SE-Recht, 2. Aufl. 2016).

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stärken, dass die nicht-geschäftsführenden Mitglieder als eigener Ausschuss tagen, dem die geschäftsführenden Mitglieder nicht angehören. Einem solchen Ausschuss ließen sich einige der Aufgaben zuweisen, die im bisherigen System der Aufsichtsrat übernimmt. Der Monismus würde damit immer noch seine Eigenart gegenüber dem Dualismus bewahren. Denn es macht sowohl für die alltägliche Arbeit als auch für das Selbstverständnis der Organmitglieder einen Unterschied, ob man demjenigen Organ angehört, das die strategischen Entscheidungen trifft und die Leitlinien der Geschäftsführung festlegt, oder demjenigen, das diese nur beratend und überwachend begleitet.78 Allenfalls wäre zu prüfen, ob man diese Regelungen kraft Gesetzes für jede monistisch geführte Aktiengesellschaft vorschreiben will oder nur für diejenigen, die börsennotiert sind. Dem klassischen Regelungsmodell des deutschen Rechts entspricht eine gesetzliche Regelung. Denn andernfalls gäbe es im Bereich der nicht-börsennotierten Aktiengesellschaften einen doch sehr deutlichen Qualitätsunterschied zwischen der streng geregelten dualistischen AG und der liberalen monistischen AG. b) Reduktion der Kontrolldichte im Aktiengesetz Die unter a) entwickelten Vorschläge beruhen allerdings auf der Prämisse, dass die Kontrollaufgaben des Aufsichtsrats in einem monistischen System möglichst gleichwertig abzubilden wären. Die rechtspolitische Diskussion könnte sich auch in eine andere Richtung entwickeln. Wenn man über die Einführung eines monistischen Modells nachdenkt, kommt zwangsläufig die Regelungsdichte des Aktiengesetzes als solche auf den Prüfstand. Wer das monistische Modell im internationalen Vergleich für das effizientere und straffere Leitungsmodell hält, wird Unbehagen empfinden, wenn es nunmehr in das enge Korsett eines vom Dualismus geprägten Aktiengesetzes eingefügt und mit zahlreichen zwingenden Vorgaben durchsetzt werden soll.79 Zwei Schlussfolgerungen daraus sind denkbar: Entweder entschlackt man bei dieser Gelegenheit das gesamte Aktiengesetz und reduziert auch den Aufsichtsrat auf eine Überwachung der Geschäftsführung im engeren Sinne. Oder man führt ein monistisches Modell ein, ohne die oben III. 1. b) angesprochenen Vorschriften durchgehend an dieses anzupassen. Dadurch würden vom Dualismus geprägte Vorschriften mittelbar dispositiv gestellt, weil man ihnen durch Wahl des monistischen Modells entkommen könnte. Rechtspolitisch mag man dies mit der unterschiedlichen Signalwirkung begründen, die sich anschließend aus der Wahl eines bestimmten Leitungsmodells ergäbe. Wer den Dualismus wählt, signalisiert besonders hohe Maßstäbe der Kontrolle und Überwachung; wer den Monismus wählt, gibt sich bewusst mit einer Verschränkung der Funktionen zufrieden. Für börsennotierte Gesellschaften müsste dann der Corporate Governance-Kodex die bislang ungewohnte Aufgabe überneh78 Zu diesem bei aller Konvergenz fortbestehenden Systemunterschied bereits Teichmann, Binnenmarktkonformes Gesellschaftsrecht, 2006, S. 570 ff. 79 In diesem Sinne etwa Merkt, ZGR 2003, 650, 654: bei Ausgestaltung der monistischen SE im deutschen SEAG sei eine wichtige Chance zur Flexibilisierung und Verschlankung nicht ausgeschöpft worden.

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men, für den Monismus ein System der Zusammenarbeit von geschäftsführenden und nicht-geschäftsführenden Mitglieder zu entwickeln, das qualitativ den Ansprüchen des internationalen Kapitalmarktes gerecht werden kann.80 c) Organschaftliche Vertretung Ein Sonderproblem, das bereits bei der Einführung der SE für Diskussionsstoff ­gesorgt hat, ist die organschaftliche Vertretung in einer monistisch organisierten Aktiengesellschaft. Nach traditioneller deutscher Dogmatik gibt es in einer Kapitalgesellschaft ein Vertretungsorgan, dem kraft Gesetzes die Befugnis zukommt, im Rechtsverkehr mit Dritten bindende Erklärungen abzugeben. Es erscheint konsequent, diese Rolle dem monistischen Organ zuzuweisen.81 Im Kontext der unternehmerischen Mitbestimmung ist allerdings zu bedenken, dass im monistischen Organ hin und wieder auch Arbeitnehmervertreter sitzen werden, die nach den allgemeinen Grundsätzen des Mitbestimmungsrechts dieselben Rechte und Pflichten genießen wie die Aktionärsvertreter. Das SE-Ausführungsgesetz löst diese Problematik mit der Figur des geschäftsführenden Direktors (vgl. §§ 40, 41 SEAG). Das ist einerseits als zu enge Anlehnung an den Dualismus kritisiert worden.82 Andererseits können ausländische Vorbilder, die keine dem deutschen Recht vergleichbare Mitbestimmung kennen, hier nur begrenzt weiterhelfen. Bislang ist keine bessere Lösung in Sicht, um die Vertretungsmacht hinreichend klar denjenigen zuzuweisen, die im Außenverhältnis für die Geschäftsführung zuständig sein sollen. 3. Öffnung des Dualismus für punktuelle Satzungsautonomie Abseits der Gretchenfrage, ob in das deutsche Aktienrecht ein monistisches Leitungsmodell aufgenommen werden soll, bietet der EMCA weitere Anregungen für das deutsche Aktienrecht. Die Analyse der Vorschriften, die im EMCA das dualistische Modell ausgestalten (oben II. 3.), hat an verschiedenen Stellen eine Offenheit für Satzungsgestaltungen ergeben, die das deutsche Recht in dieser Weise nicht kennt. Darin spiegelt sich der Erfahrungsschatz anderer Rechtsordnungen, die sich durchaus der Rechtsfamilie des dualistischen Leitungsmodells zugehörig fühlen, innerhalb des Dualismus aber eine gewisse Bandbreite zulassen. Zumindest in diesem Punkt sollte die deutsche Diskussion das Gesprächsangebot der EMCA-Arbeitsgruppe annehmen und die Übernahme einzelner Öffnungsklauseln in das deutsche Aktienrecht ernst80 Dies ist bislang nicht geschehen, obwohl börsennotierte monistische SE zumindest theoretisch denkbar sind. 81 Einige Autoren halten dies sogar unionsrechtlich für zwingend (Hoffmann-Becking, ZGR 2004, 355, 370; Schönborn, Die monistische Societas Europaea in Deutschland im Vergleich zum englischen Recht, 2007, S. 219 ff.). Andere verweisen darauf, dass die SE-VO die Vertretungsmacht nicht ausdrücklich regelt, weshalb nach der Regelungssystematik der Verordnung das nationale SEAG zur Anwendung komme (Teichmann in Lutter/Hommelhoff/ Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl. 2015, Art. 43 SE-VO Rz. 17 ff.; Verse in Habersack/ Drinhausen, SE-Recht, 2. Aufl. 2016, Art. 43 SE-VO Rz. 17). 82 Zur Diskussion zusammenfassend Bücker in Bergmann/Kiem/Mülbert/Verse/Wittig (Hrsg.), 10 Jahre SE, 2015, S. 203, 205 (m.w.N.).

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haft erwägen oder sich selbst darüber Rechenschaft ablegen, warum man dessen ungeachtet am strikten Dualismus des deutschen Aktiengesetzes festhalten will.

IV. Zusammenfassung Gegenüber dem Anpassungsdruck der internationalen Kapitalmärkte erweist sich die Dichotomie zwischen dem monistischen Board-Modell und dem dualistischen Vorstands-/Aufsichtsratsmodell als erstaunlich resistent. Beide Systeme bewegen sich in der Praxis zwar aufeinander zu. Eine gesetzliche Annäherung steht jedoch rechtspolitisch nicht auf der Tagesordnung. Das dürfte aus deutscher Perspektive auch daran liegen, dass sich die paritätische Mitbestimmung in eine monistische Leitungsstruktur bislang nicht adäquat einfügen lässt. Sollte der Gesetzgeber eine Modernisierung der Mitbestimmung erwägen, wie sie vielfach gefordert wird, könnte dies die Einführung eines Wahlrechts in der Unternehmensverfassung jedoch wieder auf die Tagesordnung setzen. Hierfür bietet sich der im Jahre 2017 vorgelegte European Model Company Act (EMCA) als Blaupause an. Der EMCA versteht sich als Modellgesetz, dessen Inhalt der nationale Gesetzgeber als Inspiration heranziehen kann, ohne ihn unverändert oder vollständig übernehmen zu müssen. Er regelt für die Unternehmensverfassung ein Wahlrecht, das die Gesellschafter in der Satzung ausüben. Dies flankierend enthält der EMCA Regelungen sowohl zum monistischen als auch zum dualistischen Leitungssystem, außerdem einen Abschnitt gemeinsamer Regeln für beide Leistungssysteme. Um seinem Anspruch gerecht zu werden, ein für beide Modelle funktionsfähiges System auszugestalten, muss er zwar an einigen Stellen noch nachgebessert werden. Ungeachtet dessen kann er schon heute als Anregung dafür dienen, wie ein solches Wahlrecht in der Aktiengesellschaft aussehen könnte. Ein Streifzug durch das Aktiengesetz zeigt allerdings, dass es mit der bloßen Einräumung eines Wahlrechts nicht getan sein wird. Denn das deutsche Aktienrecht ist durchgängig vom dualistischen Leitungsmodell geprägt. Gesetzgeber und Wissenschaft müssten klären, wie mit den unzähligen Vorschriften umzugehen ist, in denen das Aktienrecht die Existenz des Aufsichtsrats als Kontrollorgan voraussetzt. Zwar ließen sich in das monistische System durchaus Strukturelemente einbauen, die eine dem dualistischen System annähernd gleichwertige Kontrollfunktion ermöglichen. Die vielfach gepriesene Flexibilität und Effizienz des monistischen Systems würde darunter allerdings leiden. Es würde stattdessen wohl näher an das dualistische Modell herangerückt als es den Verfechtern eines Wahlrechts lieb wäre. Aus diesem Konflikt könnte sich der Aktiengesetzgeber dadurch befreien, dass er erhebliche Teile der bislang zwingend angeordneten Corporate Governance-Elemente dispositiv stellt. Das dualistische Modell bliebe das strengere System, dem man sich durch Ausübung des Wahlrechts aber entziehen könnte. Verbunden wäre damit ein weiterer Systemwechsel, nämlich die Verlagerung der Regelungsverantwortung für börsennotierte Aktiengesellschaften auf die Kommission, die den Corporate Governance-Kodex formuliert. Das deutsche Aktienrecht stünde dann tatsächlich im Lager 949

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derjenigen Rechtsordnungen, die schon lange in der Börsennotierung die entscheidende Schwelle sehen, nach deren Überschreiten die Unternehmensverfassung der Selbstregulierung durch den Kapitalmarkt überlassen bleiben sollte. Ob all dies Wirklichkeit werden soll und werden wird, kann hier nicht abschließend bewertet werden. Der Jubilar wird sich vermutlich glücklich schätzen, die damit ­verbundenen Herausforderungen einer hoffnungsfrohen Nachfolgerin oder einem hoffnungsfrohen Nachfolger überlassen zu dürfen und sich  – was ausdrücklich zu wünschen und zu begrüßen wäre – seinerseits als freischaffender Autor rein wissenschaftlich daran beteiligen zu können.

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Kapitalgesellschaftsrecht down under – deutsche Kolonialphantasien und die australische Limited im 19. Jahrhundert Inhaltsübersicht I. Zwei Zeitfenster für Deregulierung II. Kapitalflucht, Auswanderung und ­Kolonialpolitik 1. Die „Eröffnung neuer Kanäle für die ­Personen- und Kapitalvereinigung“ 2. Der „sogenannte gebildete Theil“ der ­Bevölkerung

III. Gesellschaftsrecht in Mutterland und ­Kolonien 1. Goldgräberstimmung 2. Vom Bubble Act zum Companies Act 3. Vom Goldrausch zur Immobilienblase 4. Dummies and puppets IV. Entangled Corporate Legal History

I. Zwei Zeitfenster für Deregulierung Zu Beginn dieses Jahrtausends beschäftigte sich Ulrich Seibert ganz gegen seine sonstige Gewohnheit1 einmal nicht mit der Reform des Aktienrechts. Das GmbH-Recht drohte durch „Missbräuche“ zum Schmuddelkind des deutschen Kapitalgesellschaftsrechts zu werden und sollte einer umfassenden „Modernisierung“ unterzogen werden.2 Dass die Ergebnisse dieser von Ulrich Seibert „MoMiG“3 genannten Reform seit Herbst 2008 im Bundesgesetzblatt nachzulesen sind4, führte er rückblickend darauf zurück, dass die Gesetzesverfasser – im wesentlichen also er selbst – ein „günstiges Zeitfenster“ zur Deregulierung genutzt hatten, welches sich mit der Insolvenz der Gebrüder Lehman wieder geschlossen hatte5. Mehr als ein Jahrhundert zuvor hatte der deutsche Gesetzgeber gleichfalls ein günstiges Zeitfenster zur Deregulierung genutzt, indem er der seit 1884 streng regulierten Aktiengesellschaft6 im Jahre 1892 die im Innenverhältnis liberalere GmbH an die Sei1 Seibert, AG 2015, 593, 594 f. 2 Seibert in Seibert (Hrsg.), Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen – MoMiG, 2008, S. 4 ff. 3 Zu den abgekürzten Gesetzesnamen Seibert in FS Kübler, 2015, S. 665 f. 4 Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) vom 23. Oktober 2008, BGBl. I 2008, 2006. 5 Seibert in Schröder (Hrsg.), Die Reform des GmbH-Rechts, 2009, S. 8; s. auch Seibert in FS Hopt, 2010, S. 2530 ff. Eine ähnliche Zäsur beschreibt – wenngleich gegenüber der Dere­ gulierung des Gesellschaftsrechts kritisch – McQueen, A Social History of Company Law. Great Britain and the Australian Colonies 1854-1920, 2009, S. 4 ff. 6 Gesetz, betreffend die Kommanditgesellschaften auf Aktien und die Aktiengesellschaften vom 18. Juli 1884, RGBl. 1884, 123 ff.

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te stellte7. Liest man Berichte zur Entstehungsgeschichte der GmbH, so kommt an prominenter Stelle fast immer ein nationalliberaler Reichstagsabgeordneter zu Wort, der noch in der ersten Lesung der Aktienrechtsnovelle von 1884 forderte, eine neue, freier konzipierte Gesellschaftsform „mit beschränkter Haftbarkeit“ einzuführen.8 Der berühmte Appell des Wilhelm Oechelhäuser9 endete mit einem emphatischen Bekenntnis: „Ich habe die feste Ueberzeugung, daß dasjenige Land, welches die sichersten, einfachsten und mannigfachsten Rechtsformen für die Vereinigung von Kapital und Personen bietet, vor anderen Nationen, die hierin zurückbleiben, einen wirthschaftlichen Vorsprung gewinnen muß. Viel zu lange […] sind wir im Gebiete des Handelsrechts auf französischen Bahnen gewandelt; – verlassen wir dieselben einmal und bilden wir die Organisationen aus, die auf deutschem Boden gewachsen sind; es wird zum Segen des Vaterlandes gereichen.“10

Was „auf deutschem Boden gewachsen“ war, beschrieb Oechelhäuser als eine „Nüance der individualistischen Aktiengesellschaft“. Das seit 1870 im Norddeutschen Bund und dann im Deutschen Reich geltende Aktienrecht11 stand „nicht im Wege, um jeden Augenblick Aktiengesellschaften von nur vier Personen mit einem Aktienkapital von zusammen 400 Thalern zu gründen, und wenn eine solche Gesellschaft eingetragen ist vom Registerrichter, so hat sie das einzige besorgt, was von Amtswegen erfordert wird, und sie braucht sich von da ab um die Aktiengesetzgebung nicht im mindesten mehr zu bekümmern, braucht thatsächlich keine Bilanzen einzureichen, keine Generalversammlungen abzuhalten, braucht nichts zu veröffentlichen u.s.w. ohne daß ihre Rechtsbeständigkeit nach innen und außen in Frage steht.[12] Denn wo kein Kläger ist, da ist auch kein Richter. Gesellschaften in dieser Form, und darunter höchst solide Gesellschaften mit bedeutendem Kapital und oft nur 3, 4, 5 Theilhabern bestehen […] auch bei uns schon und sind im Begriff sich 7 Gesetz, betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung vom 20. April 1892, RGBl. 1892, S. 477 ff. 8 Grundlegend für die neuere Literatur Schubert, Quaderni Fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno 11/12 (1982/83), S. 589 f., 594 ff.; ders. in FS 100 Jahre GmbH-Gesetz, 1992, S. 4 f.; Koberg, Die Entstehung der GmbH in Deutschland und Frankreich unter Berücksichtigung der Entwicklungen des deutschen und französischen Gesellschaftsrechts, 1992, S. 39 ff.; zuvor Fränkel, Die Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Eine volkswirtschaftliche Studie, 1915, S. 5 f., 13 f., 23; Feine in Ehrenberg (Hrsg.), Handbuch des gesamten Handelsrechts, Band III/3, 1929, S.  2, 5  ff.; Limbach, Theorie und Wirklichkeit der GmbH, 1966, S. 14 f.; Geldern, Wilhelm Oechelhäuser als Unternehmer, Wirtschaftspolitiker und Sozialpolitiker, 1971, S. 32 ff.; umfassend zuletzt Fleischer in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, Einleitung Rz. 55 f.; s. auch Thiessen in Duss u.a. (Hrsg.), Rechtstransfer in der Geschichte, 2006, S. 449 ff. 9 Zu dessen Person Plaum in Neue Deutsche Biographie, Band 19, 1999, S. 421 ff. 10 Auch für die folgenden Zitate soweit nicht anders gekennzeichnet Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, V. Legislaturperiode, IV. Session 1884, Erster Band, 1884, 11. Sitzung am 24. März 1884, S. 221. Schreibweise und Hervorhebungen in allen Zitaten folgen dem Original. 11 Gesetz, betreffend die Kommanditgesellschaften auf Aktien und die Aktiengesellschaften vom 11.  Juni 1870, BGBl. des Norddeutschen Bundes, S.  375; zur Entstehung Schubert, Vom Konzessions- zum Normativsystem. Materialien zur Aktienrechtsnovelle 1870, 2017, S. 2 ff. 12 S. aber Art. 239 f. ADHGB in der Fassung von 1870 (Fn. 11).

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Die australische Limited im 19. Jahrhundert weiter auszubreiten.13 Ich glaube aber, daß es Aufgabe der Gesetzgebung ist, diesem berechtigten und natürlichen Zug zur individualistischen Aktiengesellschaft, zur ‚Gesellschaft mit beschränkter Haftbarkeit‘, bei Zeiten eine gesunde gesetzliche Organisation zu geben, damit die Aktiengesetzgebung nicht mißbräuchlich zu Gesellschaftsbildungen benutzt wird, für die sie nicht vorgesehen ist.“

Das eigentliche Vorbild der Gesellschaften, die „auch bei uns schon“ bestanden und sich ausbreiteten, war aber keineswegs „auf deutschem Boden gewachsen“, sondern an ganz anderen Orten der Welt: „In England und seinen Kolonien werden bereits seit Jahren im weitesten und stets steigenden Umfange kleine Aktiengesellschaften (limited) von vielleicht 3, 4, 5000 Pfund Sterling Grundkapital gebildet, ohne daß die Gesellschaften irgendwie etwa als Gesellschaften II. Ordnung angesehen werden; im Gegentheil sie genießen besseren Kredit als die Handelsgesellschaften auf der Grundlage einer solidarischen Haftbarkeit, deren materielle Tragweite man nicht kennt. Zwei, drei oder mehr Personen, die ein bestimmtes Kapital disponibel haben, thun sich hierbei zur selbstthätigen Fruchtbarmachung ihres Kapitals zusammen, unter denselben geschäftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen und Voraussetzungen wie bei einer offenen Handelsgesellschaft. Es finden sich dabei leicht noch drei oder vier Strohmänner, die jeder nur ein Pfund Sterling zu zeichnen brauchen, um der zur englischen Aktiengesellschaftsbildung erforderlichen Minimalzahl von sieben Personen zu genügen. Mit der Eintragung in das Handelsregister ist dann diese kleine Aktiengesellschaft formell fertig. Von da an wird aber keine der Formen oder Vorschriften für Aktiengesellschaften mehr beobachtet, und die Theilhaberaktionäre arbeiten persönlich an der Fruchtbarmachung ihres Kapitals wie die Theilhaber einer gewöhnlichen Handelsgesellschaft.“

Oechelhäuser wollte also verhindern, dass England14 das Land sein oder bleiben würde, „welches die sichersten, einfachsten und mannigfachsten Rechtsformen für die Vereinigung von Kapital und Personen“ bot und so „vor anderen Nationen, die hierin zurückbleiben, einen wirthschaftlichen Vorsprung gewinnen“ musste. Zweifelhaft war für Oechelhäuser freilich, ob England die „sichersten“ Rechtsformen bereithielt, da dort „keine der Formen oder Vorschriften für Aktiengesellschaften mehr beobachtet“ wurden. Ihm kam es darauf an, „diese Umgehungen des Aktienrechts zu vermeiden“ – am „einfachsten“, indem man das auch in Deutschland verbreitete Phänomen der „individualistischen Aktiengesellschaft“ kurzerhand zum Gesetz erhob. Vier Jahre nach seiner ersten Intervention wiederholte Oechelhäuser, „der ungeheure Umfang, in welchem in England und seinen Kolonien das Aktiengesetz formal mißbraucht wird“, liefere einen „eklatanten Beweis für die wirthschaftliche Nothwendigkeit, Gesellschaftsformen auf indidividualistischer Grundlage aber mit beschränkter Haftbarkeit zu schaffen und es nicht darauf ankommen zu lassen, daß sich der formale Mißbrauch des Aktiengesetzes schließlich auch bei uns einbürgert, weil legale Wege

13 Zur Verbreitung der Gesellschaftsformen in Deutschland zwischen 1867 und 1932 Guinnane/Harris/Lamoreaux/Rosenthal, Enterprise and Society 8 (2007), 702. 14 Die auch heute nicht ganz leichte jurisdiktionelle Trennung von Großbritannien, England, Wales, Schottland und (Nord‑)Irland soll hier auf sich beruhen; gefolgt wird weitgehend der von Oechelhäuser verwendeten, nicht durchweg korrekten Bezeichnung „England“.

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für Erfüllung nothwendiger wirthschaftlicher Aufgaben nicht vorhanden sind“.15 Nun waren es schon die „zu Tausenden in England und seinen Kolonien emporschießenden Limited-Gesellschaften“, die zwar die „vorgeschriebene Form der Aktiengesellschaftsgründung“ beachteten, dies jedoch nur, indem die „eigentlichen Theilhaber“ mit Strohmännern zusammenwirkten und sich fortan „nicht im Mindesten mehr um die Vorschriften des Aktiengesetzes“ kümmerten. Im Reichstag erklärte Oechelhäuer: „Ich kann wohl sagen, daß es in den Kolonien geradezu Regel geworden ist, keine andere Gesellschaft mehr als eine formale Aktiengesellschaft (limited) überhaupt zu bilden.“16 Oechelhäuser nannte es „charakteristisch für die praktische und vor allem geschäftsmäßige englische Anschauungsweise, welche überhaupt als Grundprinzip die möglichste Freiheit der Assoziation anerkennt, wie ruhig die Regierung diesem ungeheuren formalen Mißbrauch des Aktiengesetzes, dessen bedenkliche Seite sie sich doch nicht verhehlen kann, zusieht, weil eben diese kleinen Pseudo-Aktiengesellschaften wirthschaftlich vortheilhaft, weil sie aus einem berechtigten Drang nach Verbindungen mit beschränkter Haftbarkeit hervorgegangen sind und sicherlich zum großen, vielleicht größten Theil auf dem Boden der Solidarhaft nicht entstanden sein würden“.

Er behauptete, es sei „nirgendwo die Erfahrung hervorgetreten, daß die Solidität der geschäftlichen Beziehungen durch diese zahlreichen Limited-Gesellschaften gelitten hätte“. Dennoch solle der deutsche Gesetzgeber nicht abwarten, bis er dem „ungeheuren formalen Mißbrauch des Aktiengesetzes“ mit Blick auf die wirtschaftlichen Vorteile nur noch zusehen könne: „Wenn man […] mit Recht fordern darf, daß eine weise Gesetzgebung der Erfahrung nicht vo­ raneilen, sondern gleichsam nur deren Resultate registriren, nur das sanktioniren soll, was bereits thatsächlich seine Lebenskraft bewiesen hat, so darf sicherlich behauptet werden, daß die oben erörterte Nothwendigkeit einer Erweiterung unseres Gesellschaftsrechts in den angedeuteten Richtungen auch in der Erfahrung bereits ihre Begründung findet.“17

Oechelhäuser beschwor die Reichstagsabgeordneten, „daß es einerseits ein Mißbrauch ist, der zu den schwersten Folgen führen muß, wenn sich nämlich die thatsächliche wirthschaftliche Entwickelung in ganz anderen Formen, auf einer ganz anderen Basis vollzieht, als wie die legale“, und dass mit Blick „auf die Bedeutung dieser Frage für unsere Kolonien […] die Engländer gerade durch diesen Mißbrauch einen großen Vorsprung vor uns haben. In den englischen Kolonien, hauptsächlich in Australien, wird durch diese Gesellschaftsbildungen ermöglicht, daß hunderte und tausende von kleinen Gesellschaften entstehen konnten, für die es bei uns in der That gar keine andere Form gibt, als wenn wir ebenfalls in solcher Weise den Mißbrauch unserer Aktiengesellschaften in die Praxis übersetzen wollten.“18 15 Auch für die folgenden Zitate soweit nicht anders gekennzeichnet Oechelhäuser An die preußischen Handelskammern und kaufmännischen Korporationen, 1888, in Verein zur Wahrung der wirthschaftlichen Interessen von Handel und Gewerbe, Die Erweiterung des Handelsrechts durch Einfügung neuer Gesellschaftsformen, 1991, S. 55 f. 16 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, VII. Legislaturperiode, II. Session 1887/88, Zweiter Band, 1888, 48. Sitzung am 28. Februar 1888, S. 1156. 17 Wie Fn. 15. 18 Wie Fn. 16.

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Hatte England also einen „Vorsprung durch Rechtsbruch“19 erlangt, so war es an Deutschland, einen „Vorsprung durch Technik“20, das heißt: Gesetzgebungstechnik, zu erreichen, oder wie Ulrich Seibert sagen würde: durch legal design, was mehr als Technik ist21. Freilich bestand die „weise Gesetzgebung“ im Sinne Oechelhäusers in diesem Fall darin, dass die Devianz zur Norm erklärt wurde, weil sie mehr „Lebenskraft bewiesen“ hatte als die bisherige Norm. Im Lichte dieser Zitate wurde Oechelhäuser bereits von Zeitgenossen als „der geistige Vater“ des GmbHG-Entwurfs von 1892 gefeiert22, wenngleich sein ursprüngliches Konzept von demjenigen des eigentlichen Gesetzesverfassers Eduard Hoffmann sehr stark abwich23. Zwei Fragen wurden bislang aber zumindest in Deutschland noch nicht gestellt. Woher wusste Oechelhäuser eigentlich so genau Bescheid über den „ungeheuren formalen Mißbrauch des Aktiengesetzes“ in „England und seinen Ko­ lonien“, „hauptsächlich in Australien“? Und vor allem: Stimmte es überhaupt, was Oechelhäuser den Reichstagsabgeordneten und den preußischen Vertretern des Handelsstandes so eindringlich über die Untätigkeit der viktorianischen Gesetzgebung vortrug? Oder sprach Oechelhäuser hier nur als geschickter Deregulierungslobbyist? Zur ersten Frage – derjenigen nach Oechelhäusers Quellen – ist die Antwort nicht mit letzter Sicherheit zu belegen. Schon Oechelhäuser Zeitgenosse Levin Goldschmidt wandte ein, es sei ihm „trotz mehrfacher Bemühungen […] zu ergründen nicht gelungen“, ob die kleinen, „angeblich erprobten Gesellschaften des Englischen Rechts mit beschränkter Haftbarkeit“ sich „in Wirklichkeit bewährt haben“.24 Oechelhäuser war freilich nicht nur ein ausgewiesener Shakespeare-Kenner, sondern auch ein vielbeschäftigter Unternehmer und Manager mit eigenen überseeischen Interessen bis hin zum Eisenbahnbau in Ostafrika:25 „Seit neunzehn Jahren an der Spi[t]ze der Deutschen Kontinental-Gas-Gesellschaft, und in vielfachen Geschäftsverbindungen gewerblicher und finanzieller Natur, habe ich unausgesetzt darnach gestrebt, meine theoretischen Kenntnisse zu erweitern und deren Richtigkeit am Maassstab [sic] 19 In Anlehnung an die lauterkeitsrechtliche Fallgruppe, dazu nur Ohly in Ohly/Sosnitza, 7. Aufl. 2016, § 3a UWG Rz. 3. 20 In Anlehnung an den markenrechtlich geschützten Werbeslogan, der in Großbritannien auch in der deutschen Fassung bekannt ist; dazu EuGH v. 21.1.2010 – C-398/08, GRUR 2010, 228; Vogenauer in Grundmann/Riesenhuber (Hrsg.), Private Law Development in Context. German Private Law and Scholarship in the 20th Century, 2018, S. 40. 21 Seibert in FS Wiedemann, 2002, S. 131 f. 22 So von dem Hamburger Bankier und Bürgerschaftspräsidenten Siegmund Hinrichsen, in Verhandlungen des Siebzehnten Deutschen Handelstages zu Berlin am 15. und 16. Januar 1892, Stenographischer Bericht, Mittheilungen an die Mitglieder, Jahrgang XXXII Nr. 5, 1892, S. 42; weitere Zitate sind nachgewiesen bei Fleischer (Fn. 8), Einleitung Rz. 55 mit Fn. 246. 23 Schubert, Quaderni Fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno 11/12 (1982/83), S. 594 ff., 616 ff. Zur Person Eduard Hoffmanns Lilla, Föderalismus in historisch vergleichender Perspektive, Band 1, 2014, S. 327. 24 Goldschmidt, Alte und neue Formen der Handelsgesellschaft. Vortrag in der Juristischen Gesellschaft zu Berlin gehalten den 19. März 1892, 1892, S. 20. 25 Plaum (Fn. 9); Oechelhäuser, Die Deutsch-Ostafrikanische Centralbahn, 1899.

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praktischer Erfahrung zu erproben.“26 Was er nicht aufgrund eigener Anschauung und eigener Beziehungen in Erfahrung brachte, mochte er durch die umfassenden  „Handels-Berichte“ der preußischen und kaiserlichen Konsulate ergänzen, die im  mehrfach umbenannten „Handels-Archiv“, „Preußischen Handels-Archiv“ bzw. „Deutschen Handels-Archiv“ publiziert27 und zeitgenössisch sehr geschätzt wurden: „Die Berichte, welche die Consuln über die Handelsverhältnisse der Länder, in welchen sie lebten, nach Hause sandten, haben sehr zur Aufklärung des heimischen Publikums beigetragen […].“28 Regelmäßig findet sich dort ein umfassender Bericht über „Wirthschaftliche Verhältnisse in England“.29 Allein für die „Erste Hälfte des ­Jahres 1878“ enthält dieser auf einundzwanzig Seiten buchstäblich erschöpfende Statistiken über Ein- und Ausfuhr, Zolleinnahmen, Lebensmittel- und Rohstoffpreise, Aus- und Einwanderung, öffentliche Armenpflege, Ernte und Staatshaushalt. Die „Verhältnisse der Arbeiterbevölkerung“ schlossen neben den „Vereinigten Gewerkvereinen“ die „Kooperativ-Genossenschaften“ und „Hülfskassen“ ein, deren Mitgliederzahl und „Antheilskapital“ erläutert wurden. Der gesellschaftsrechtlich interessierte Leser erfährt, welche Dividenden ein hypothetischer „Englischer Kapitalist“ erzielen konnte, „der an den zwölf bedeutenderen Englischen Eisenbahnunternehmungen […] gleichermaßen betheiligt ist“.30 Diese Akribie setzt sich bei den Kolonien fort. Ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass man in Deutschland über jedes Pfund Schafwolle Bescheid wusste, das von Australien in die Welt ging.31 Aber auch 26 Oechelhäuser, Die wirthschaftliche Krisis, 1876, S. VI. Das Vorwort datiert vom 15.11.1875. 27 Für den Hinweis auf die „Handels-Berichte“ danke ich herzlich Ewald Frie, für deren exemplarische Durchsicht einschließlich der Publikationen des Deutschen Handelstages Sophie Petry und Elisabeth Ruyter. 28 Woermann, Die deutsche Colonial-Politik, in Verhandlungen des Dreizehnten Deutschen Handelstages zu Berlin am 27. Januar 1885, 1885, S. 2. Zur Initiative für die Einrichtung einer „Auskunftsstelle für den Aussenhandel“ s. 27. Vollversammlung des Deutschen Handelstags in Berlin am 8. und 9. Januar 1901, Stenographischer Bericht, 1901, S. 67 ff.; zum weiteren Verlauf Schultes in Jäger/Höse/Oppermann (Hrsg.), Deutsche Außenpolitik. Sicherheit, Wohlfahrt, Institutionen und Normen, 2. Aufl. 2011, S. 349, 351 f. 29 Besonders umfangreich etwa Deutsches Handels-Archiv 1882, Teil 2, 495 ff.; 1885, Teil 2, 520 ff. 30 Preußisches Handels-Archiv 1878, Band 2, S. 427 ff., 436 ff., 443 f. Vgl. freilich den warnenden „Handelsbericht aus Liverpool für 1880“, Deutsches Handelsarchiv 1881, Band 2, 416: „Die Spekulation hat sich, wenn auch den Operationen in Waaren nicht ganz entfremdet, mehr auf Aktien, sowohl hiesiger als fremder Eisenbahnunternehmungen, geworfen, die leider wenig Aussicht geben, für die jetzt Betheiligten lohnend zu werden, während die ‚Gründer‘ sich mit ungemein großem Gewinn herausziehen.“ 31 S. nur aus willkürlich gegriffenen Jahrgängen „Bericht über die Handels- und volkswirthschaftlichen Verhältnisse der Kolonie Victoria im Jahre 1875“, Preußisches Handels-Archiv 1878, Band 1, 9 ff.; „Der Verkehr des Vereinigten Königreiches mit dem Auslande und mit den Britischen Kolonien im Jahre 1876“, Preußisches Handels-Archiv 1878, Band 1, 33 ff.; „Handels- und Schifffahrtsbewegung der Kolonie Tasmanien im Jahre 1876“, Preußisches Handels-Archiv 1878, Band 1, 69  ff.; „Zolltarif der Kolonie Victoria“, Preußisches Handels-Archiv 1878, Band 1, 440 ff.; „Bericht aus Sydney über die Verkehrs- und Produktionsverhältnisse von Neusüdwales im Jahre 1877, und statistische Uebersichten für 1876“, Preußisches Handels-Archiv 1878, Band 2, 50  ff.; „Schifffahrt und Handel der Kolonie Neuseeland im Jahre 1876“, Preußisches Handels-Archiv 1878, Band 2, 217 ff.

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über neue Gesetzgebung wurde informiert. So erschien der wichtige Limited Liability Act von 185532 mit nur einem Monat Verzögerung ins Deutsche übersetzt im „Handels-Archiv“33. Über die nur ein Jahr später erfolgende weitere Liberalisierung berichtete das Blatt bereits, als die Regierung dem Parlament in Westminster lediglich den Gesetzentwurf vorgelegt hatte.34 Ein weiteres Jahr später erschien in Berlin eine erste umfassende Monographie über das neue „Actien-Gesellschafts‑, Bank- und Versicherungs-Wesen in England“, verfasst im „Königl. Preuß. General-Consulat zu London“.35 Schon Oechelhäuser und seine Zeitgenossen verfügten also über reiches Anschauungsmaterial. Der zweiten Frage – derjenigen nach dem Wahrheitsgehalt von Oechelhäusers Informationen  – wird hier exemplarisch auf der Grundlage des „Handels-Archivs“ und anhand neuerer Forschungen australischer Rechtshistoriker nachgegangen. Oechelhäusers Texte sollen durch einen Faktencheck und einen Literaturbericht kontextualisiert werden.36

II. Kapitalflucht, Auswanderung und Kolonialpolitik 1. Die „Eröffnung neuer Kanäle für die Personen- und Kapitalvereinigung“ Oechelhäuser sah die starke Konkurrenz für die deutsche Wirtschaft nicht zufällig in „England und seinen Kolonien“.37 Das Empire lebte zu einem wesentlichen Teil von seinen weltweiten Besitzungen.38 Das erträumte und dann tatsächlich gegründete neue deutsche Kaiserreich sollte nach einer verbreiteteten patriotischen Stimmung nicht dahinter zurückstehen. Von deutschen Kolonien war Mitte der 1880er Jahre 32 Näher dazu unten bei Fn. 110. 33 Handels-Archiv. Wochenschrift für Handel, Gewerbe und Verkehrsanstalten 1855, Band 2, 187 ff., erschienen am 21.9.1855. 34 Preußisches Handels-Archiv 1856, Band 1, 183. 35 Schwebemeyer, Das Actien-Gesellschafts‑, Bank- und Versicherungs-Wesen in England, 1857; rezensiert in Preußisches Handels-Archiv 1857, Band 2, 274 f. Dort wird betont, dass das Buch „auch in Englischen Blättern, unter Anderem im ‚Economist‘, eine günstige Beurtheilung gefunden“ habe. Der Autor trat später hervor als Dichter eines Gründerzeitschauspiels, Schwebemeyer, Die Versuchung, oder: Der stille Theilnehmer, 1874. 36 Für zahlreiche Hinweise auf die neuere australische Literatur zur Gesellschaftsrechtsgeschichte danke ich herzlich Elizabeth Hicks. Hervorzuheben sind die mehrfach erweiterten, immer wieder neue Akzente setzenden Forschungen von Rob McQueen und Phillip Lipton sowie die Beiträge in Heft 2 des Federal Law Journal 27 (1999). Einen Überblick über die ältere Literatur gibt McQueen, Australian Journal of Corporate Law 5 (1995), 188 mit Fn. 1; aktualisiert in McQueen, A Social History of Company Law (Fn. 5), S. 6 f., 9 ff. 37 Wie Fn. 10. Detaillierte Darstellung zur Konkurrenzfähigkeit deutscher Unternehmer speziell im Verhältnis zu „England mit seinen vielen reichen Kolonien“ Deutsches Handels-Archiv 1881, Band 1, 579 ff. 38 Dilley in Stockwell (Hrsg.), The British Empire. Themes and Perspectives, 2008, S. 101 ff.; Darwin, The Empire Project. The Rise and Fall of the British World-System, 1830-1970, 2009, S. 112 ff.; Magee/Thompson, Empire and Globalisation. Networks of People, Goods and Capital in the British World, c. 1850-1914, 2010, S. 117 ff.

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freilich noch nicht viel zu sehen. Die hohe Politik mit Reichskanzler Bismarck an der Spitze hatte angesichts der ungewissen politischen, militärischen und nicht zuletzt wirtschaftlichen Aussichten lange gezögert, sich in Übersee zu engagieren. Die späteren Kolonien waren deshalb zunächst private Unternehmungen, denen erst ab 1884 – dem Jahr sowohl der großen Aktienrechtsnovelle als auch der Initiative Oechelhäusers  – nach und nach der hoheitliche Schutz durch das deutsche Reich zuerkannt wurde.39 Vor diesem Hintergrund kam es Oechelhäuser – noch – nicht darauf an, den wirtschaftlichen Erfolg von „England und seinen Kolonien“ eigens durch deutsche Kolonien zu kopieren. Seine Sorge galt neben der Stagnation der Gesellschaftsgründungen dem Umstand, dass „in immer größerem Maße unser Kapital nach dem Auslande wandert, wo wir vielleicht ein bis zwei Milliarden in Papieren des Auslandes angelegt haben“, und dass „jährlich 100 000 oft 200 000 und mehr Personen auswandern“. Es „dürfte sicherlich aller Anstrengung werth sein, durch Eröffnung neuer Kanäle für die Personen- und Kapitalvereinigung der Auswanderung von Kapital und Menschen entgegenzuarbeiten, damit sich diese nicht im Ausland, sondern im Inland zu produktiver Thätigkeit zusammenthun und, statt selbst auszuwandern, die materiellen Produkte dieser Einigung ins Ausland senden“.40 Ob mit oder ohne deutsche Kolonien – deutsches Finanz- und Humankapital sollte jedenfalls nicht länger „England und seinen Kolonien“ zugute kommen, was es bislang in hohem Maße tat.41 2. Der „sogenannte gebildete Theil“ der Bevölkerung Welches Bild deutsche Unternehmer von englischen Kolonien und von Kolonien überhaupt zu Oechelhäusers hatten, brachte der politisch einflussreiche Hamburger Überseehändler Adolph Woermann in einem langem Referat auf dem Deutschen Handelstag von 1885 zum Ausdruck, das Woermann viel Zustimmung eintrug, als das Gremium erstmals eingehend über Kolonialpolitik debattierte.42 Woermann un39 Speitkamp, Deutsche Kolonialgeschichte, 2005, S. 16 ff., 26 ff.; van Laak, Über alles in der Welt. Deutscher Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert, 2005, S. 51 ff., 66 ff.; Conrad, Deutsche Kolonialgeschichte, 2. Aufl. 2012, S. 19 ff., 22 ff., 27. 40 Wie Fn. 10. 41 Zu Ursachen und Umfang der überseeischen Migration aus Deutschland Plaß in Oltmer (Hrsg.), Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert, 2016, S. 292 ff.; speziell zur „Transmigration“ deutscher Kaufleute über England nach Übersee Kirchberger in Davis/Manz/Beerbühl (Hrsg.), Transnational Networks. German Migrants in the British Empire, 1670-1914, 2012, S. 61 ff.; zeitgenössisch Tille in Verhandlungen des Deutschen Kolonialkongresses 1902 zu Berlin am 10. und 11. Oktober 1902, 1903, S. 597 ff. Zur Person des Philosophen und Lobbyisten Alexander Tille Hellwig in Gerstein/Soénius (Red.), Rheinische und westfälische Handelskammersekretäre und -syndici vom 18. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts (= Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsbiographien Band 15), 1994, S. 296 ff. 42 Auch für die folgenden Zitate soweit nicht anders gekennzeichnet Woermann (Fn.  28), S. 2 ff. Zur Person Woermanns Kopitzsch/Brietzke (Hrsg.), Hamburgische Biographie. Personenlexikon, Band 1, 2001, S. 347 ff. Zur zeitgenössischen Bedeutung des Deutschen Han-

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terschied drei Arten von kolonialen Besitzungen danach, ob diese rein privat betrieben wurden, ob sie unter dem staatlichen militärischen Schutz des Herkunftslandes des Privatunternehmers standen oder ob sie als unmittelbarer Teil des Staatsgebiets und der Staatsgewalt der Kolonialmacht behandelt wurden. Zu diesem Zeitpunkt hatten die deutschen Kolonien die zweite dieser drei Stufen erreicht.43 Notwendig war dies laut Woermann vom wirtschaftlichen Standpunkt aus nur dort, wo eine „Anstellung von Berufsconsuln“ nicht in Betracht kam, so dass als „natürliche Folge der Anstellung von Berufsconsuln […] in solchen Ländern, in welchen keine civilisirte Regierung existirte, wo also ein Consul nicht eigentlich accreditirt werden konnte, eine consulare Vertretung eigentlich unmöglich war, und so ist denn von Firmen und Geschäftsleuten, welche in solchen Ländern etablirt waren, wiederholt an die Reichsregierung das Ersuchen ergangen, dort kräftiger vorzugehen und eine ständige Vertretung der Reichsregierung hinzusenden, womit dann zu gleicher Zeit verbunden war, daß dieser Vertreter auch die uncivilisirten, ungeordneten Verhältnisse in solchen Gegenden zu ordnen haben wird, und dort Ordnung und Ruhe schafft, wo dieselben bisher nicht existirten. Das ist, glaube ich, der Anfang, der ursprüngliche Grundgedanke der Colonialpolitik gewesen.“

Für die Wirtschaft war die politische Seite der Kolonien zunächst also insofern von Belang, als die Politik die Infrastruktur schaffen sollte, welche die Unternehmer vor Ort vermissten, um ungehindert Bergwerke oder Plantagen betreiben und mit deren Produkten handeln zu können.44 Oechelhäuser hätte sekundiert: „Auf dem Boden des modernen Rechtsstaates, und abgesehen davon, was die Gesetzgebung für Hebung der wirthschaftlichen Kräfte noch weiter zu thun vermag, bedarf es nur Einer Voraussetzung für die Entfaltung der höchsten wirthschaftlichen Blüthe, also der höchsten Gütererzeugung bei gleichmässigster Gütervertheilung, nämlich: Ruhe und Frieden, Abwesenheit störender Einflüsse von Aussen, Vertrauen in die Zukunft.“45 Im übrigen betonte Woermann die Bedeutung der Kolonien als Absatzmärkte. Er plädierte dafür, dem Handel mit den Kolonien möglichste Freizügigkeit einzuräumen. So sollten ausländische Unternehmer ebenso ohne übermäßige Zollschranken Handelsbeziehungen zu den deutschen Kolonien unterhalten können, wie er sich dies für deutsche Unternehmer insbesondere in den britischen Kolonien wünschte, die ihren Importund Kreditbedarf weit überwiegend aus dem Mutterland deckten und für den Export  ins Mutterland produzierten. Im Mittelpunkt von Woermanns Betrachtungen über die Handelsbeziehungen zu den britischen Kolonien standen Indien und Bridelstags Gehlen in Ambrosius/Henrich-Franke/Neutsch (Hrsg.), Föderalismus in historisch vergleichender Perspektive, Band 6, 2018, S. 139 ff. 43 Etwas abweichende Periodisierung bei Conrad (Fn. 39), S. 35 ff. Zu bloßen „Protectoraten“, mittels derer die Kolonialmacht die Herrschaft des Häuptlings garantierte, wenn dieser sein Land nicht an eine andere Macht abtrete, Woermann (Fn. 28), S. 6. Zeitgenössisch zu den Grundlagen des Kolonialrechts Zorn in Verhandlungen des Deutschen Kolonialkongresses 1902 zu Berlin am 10. und 11. Oktober 1902, 1903, S. 318 ff. 44 Zum Kontext van Laak, Imperiale Infrastruktur. Deutsche Planungen für eine Erschließung Afrikas 1880 bis 1960, 2004, S. 47 ff.; zur späten Umsetzung Schinzinger, Die Kolonien und das Deutsche Reich. Die wirtschaftliche Bedeutung der deutschen Besitzungen in Übersee, 1984, S. 61 ff., 94 ff.; Eckert/Pesek in Conrad/Osterhammel (Hrsg.), Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871-1914, 2. Aufl. 2006, S. 92 ff. 45 Oechelhäuser (Fn. 26), S. 7.

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tisch-Nordamerika/Kanada. Australien erwähnte Woermann nur am Rande, ausdrücklich im Zusammenhang mit dem Schutz von Kolonien durch die Marine46, zudem indirekt, indem er sich dezidiert dagegen aussprach, „Strafcolonien einzurichten, denn wo die Sträflinge nachher Land haben bebauen sollen, ist nie etwas darnach gekommen. Und nichts kann auch für die eingeborene Bevölkerung schädlicher sein als der Verkehr mit Sträflingen[…].“ An eine flächendeckende Ansiedlung deutscher Bauern und Handwerker in den Kolonien dachte Woermann ohnedies nicht. Um Investitionen, die dem Mutterland und den Kolonien zugute kamen, sollte es gehen, nicht um Auswanderung aus dem Mutterland. Denn „Ackerbau-Colonien“ in Ländern, „welche heute noch nicht cultivirt sind, und in welchen heute noch kaum eine Einwohnerschaft existirt“, vielmehr „eine Einwohnerschaft durch Einwanderung“ geschaffen werden müsste, würden „sehr oft dazu beitragen, dem Mutterlande eine gewisse Concurrenz zu machen“. Demgegenüber werde es bei „Handels-Colonien […] zunächst außer Frage sein, daß diese Colonien dem Mutterlande jemals Concurrenz bereiten können“. Gerade die „Handels-Colonien“ würden aber „dazu dienen, einen ganz naturgemäßen und richtigen Austausch von Producten zu erzeugen. Denn darin besteht doch eigentlich die Hauptsache des Handelsverkehrs, daß von beiden Seiten diejenigen, die Waaren gebrauchen […] die Waare mit Vortheil gegen andere austauschen. Wenn die Bewohner der Tropen europäische Waaren brauchen, die sie nicht herstellen können, nie herstellen werden, und wenn auf der andern Seite Europa Producte der Tropen braucht, es sei Kaffee, Thee, Palmöl, welche Europa niemals wird produziren können, so liegt gerade darin der Hauptvortheil dieser Handelsbewegung. […] Und es ist auf der andern Seite auch nicht ganz zu verkennen, daß es große Vortheile bietet, wenn man anfängt in einem Lande zu handeln, wo bereits eine Bevölkerung, zum Theil eine große Bevölkerung ist, die allmählich an Bedürfnisse gewöhnt werden kann. […] Wir haben in den Handelscolonien, besonders in den tropischen Handelscolonien des westlichen Afrikas, heute bereits eine zahlreiche Bevölkerung als Abnehmer unserer Industrie-Producte. Wir können diese Abnehmer daran gewöhnen, allmählich in jedem Jahr mehr Waaren aus Europa zu beziehen, so daß durch Vermehrung der Industrie der Arbeiter zu Hause mehr Beschäftigung findet.“

Woermann sah es demnach nicht als wünschenswert an, „für die deutsche Auswanderung einen Staat zu schaffen, welcher den deutschen Auswanderern dieselben Vortheile bietet, wie andere Länder jetzt“, da er verhindern wollte, „daß jetzt in jedem Jahr hundert bis zweimalhunderttausend Leute auswandern, von Deutschland hi­ nausziehen in fremde Länder und dort ihre Nationalität verlieren, eine fremde Sprache sprechen und sich an fremde Productionsverhältnisse gewöhnen, mit einem Wort, welche für das Mutterland verloren gehen“. Er hielt eine solche Auswande-

46 Zum Zusammenhang von Globalisierung, Finanz‑, Kolonial- und Flottenpolitik Wagner in Verhandlungen des Deutschen Kolonialkongresses 1902 zu Berlin am 10. und 11. Oktober 1902, 1903, S. 691 ff., der eine Flottenaufrüstung pathetisch befürwortete. Zur Person des Berliner Nationalökonomen Adolf (Adolph) Wagner Hainbuch/Tennstedt/Christl in Hansen/Tennstedt (Hrsg.), Biographisches Lexikon zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1871 bis 1945. Band 1, 2010, S. 167 f.

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rungskolonialpolitik aber auch für unrealistisch, denn „alle anderen Länder, welche“ – abgesehen vom ‚gelobten Land‘ in Nordamerika47 – „für eine Colonisation für die Auswanderung geeignet sein sollten, liegen sehr viel weiter, sie sind nicht so schnell zu erreichen. Und ob es möglich sein wird, in solchen Ländern ein Klima zu finden, welches demjenigen Nordamerikas gleichkommt, welches an Fruchtbarkeit dasselbe leistet wie Nordamerika, das ist eine Frage, die […] heute noch nicht gelöst ist […].“

Für den Traum von einem deutschen Staat auf amerikanischem Boden48 hingen die Zinfandel-Trauben zu hoch, und so richtete sich der deutsche Blick auf die „wenigen Länder, welche noch disponibel sind, d.h. jetzt noch nicht in den Händen europäischer Nationen sind“. Dortige Kolonien seien ungeachtet der fehlenden Eignung zur Massenauswanderung „doch nicht ganz so nutzlos für die überschüssige deutsche Bevölkerung, wie man häufig annimmt“. So fänden „[i]n Ostindien, in Niederländisch-Indien“ eine „ganze Menge Engländer resp. Holländer regelmäßig eine dauernde Beschäftigung, sei es als junge Kaufleute, sei es als Angestellte auf Plantagen, sei es als Beamte, die von der Regierung hingeschickt werden“. Es sei „gerade dieser Theil der Bevölkerung, der sogenannte gebildete Theil“, derjenige, den man „in Deutschland am allermeisten als den überschüssigen Theil bezeichnen“ könne: „[G]erade für diesen wird es am allerschwersten, zu Hause Anstellungen zu finden; wir sehen ja überall die große Anzahl von jungen Kaufleuten und Handlungscommis, welches Stellung suchen, die große Anzahl von Technikern und anderen Leuten, welche eine tüchtige Schulbildung genossen haben und welche Beschäftigung suchen, und in einem viel höheren Grade als überschüssige Bevölkerung zu bezeichnen sind, als wie die Ackerbauer und Arbeiter, welche ja auch in Europa und Deutschland ihre Beschäftigung finden können. […] Und für diesen Theil der Bevölkerung bietet gerade die Anlegung von Handelscolonien in tropischen Gegenden ganz besondere Vortheile. Heute sind für deutsche Firmen zusammen in Westafrika etwa zweihundertfünfzig bis dreihundert junge Deutsche engagirt, die Zahlen, welche der englische Verkehr mit Ostindien aufweist, die Zahlen, welche die Vermehrung des Verkehrs überhaupt aufweist, geben alle Chancen, daß in einigen Jahren der Handel nach dort verzehnfacht wird, dann würden einige Tausende von diesen Leuten Beschäftigung finden und wenn sie in den tropischen Ländern Beschäftigung finden, so bleiben sie jedenfalls ihrem Mutterlande erhalten; denn wenn sie irgend können, verzehren sie das verdiente Vermögen nicht in den tropischen Gegenden, sondern das, was sie verdient haben, bringen sie zurück, um es in der Hei­ math zu verzehren. Ich glaube, daß ein großer Theil der Prosperität Englands davon herrührt, daß diese Klasse von Menschen in den englischen Colonien die richtige Beschäftigung gefunden hat, und so meine ich, daß die tropischen Colonien sich auch in dieser Hinsicht als nützlich für Deutschland erweisen werden.“

Woermann übersetzte also ins Wirtschaftliche, was Oechelhäuser gesellschaftsrechtlich formuliert hatte  – Wohlstand im Mutterland durch Überseehandel bedeutete Wohlstand durch dafür geeignete Rechtsformen. Die Elite sollte sich im Überseehan-

47 Dazu Stolz, Neues Land – neue Hoffnung. Norddeutsche Amerika-Auswanderer im 19. und 20.  Jahrhundert, 2009, S.  19  ff.; Brunner, Nach Amerika. Die Geschichte der deutschen Auswanderung, 2009, S. 55 ff. 48 Zu diesbezüglichen zeitgenössischen Plänen Brunner (Fn. 47), S. 137 ff.

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del engagieren49, und sie sollte dafür den besten Rahmen bekommen. Zugleich warnte Woermann davor, die deutschen Kolonien in einer Weise auszubeuten, die er als kennzeichnend für eine verfehlte Bewirtschaftung französischer und zum Teil englischer Kolonien beschrieb. Dort nämlich würden rücksichtlos alle Rohstoffe abgebaut, ohne der einheimischen Bevölkerung eine dauerhafte Existenzgrundlage zu schaffen.50 Im Gegensatz dazu sollten die deutschen Kolonialunternehmer dafür sorgen, dass die Eingeborenen eine „productive Stellung einnehmen, um arbeiten zu lernen und sich der Production hinzugeben“, und so die wirtschaftliche Lage der Kolonien verbessern: „Denn wenn wir einmal Colonien haben, dann sollte es auch unser Bestreben sein, es besser zu machen als die anderen Nationen, dann sollten wir auch darnach streben, diese Colonien als solche so zu heben, daß sie auch für das Mutterland von Vortheil werden können[…]. So betrachte ich die Colonisation, […]daß der Nutzen dieser Colonien dem gesammten Deutschland mit zu Gute kommt.“51

Dieses letzte von Woermann skizzierte Ziel verfolgte die offizielle Kolonialpolitik allenfalls zwei Jahrzehnte später. In der Zwischenzeit war das deutsche Kolonialreich gewachsen und mit ihm die blutigen Konflikte mit der indigenen Bevölkerung.52 Zwar gab der Bonner Staats- und Kirchenrechtler Philipp Zorn53 auf dem regelmäßig tagenden „Deutschen Kolonialkongreß“ der „dankbaren Anerkennung gegenüber unserer Kolonialverwaltung […] warme[n] Ausdruck, dass sie sich redlich bemüht hat, die Eingeborenen zu menschenwürdigem Dasein zu erziehen und sie insbesondere gegen ihre eigenen verderblichen, ja selbstmörderischen Neigungen und Leidenschaften zu schützen“.54 Doch angesichts des Herrero-Aufstands räumte der Nationalökonom, damalige Kolonialpolitiker und spätere Finanz- und Innenstaatssekretär Karl Helfferich ein: „Die schweren Ereignisse der letzten Zeit sind für uns […] eine harte Lehre: sie zeigen, dass der Besitz von Kolonien Pflichten mit sich bringt, die nicht ungestraft vernachlässigt werden dürfen, und dass alles, was unsern Kolonien an den elementaren Bedürfnissen ihrer Entwicklung vorenthalten wird, zehnfach an Geld und Blut gebüsst werden muss.“55 49 Eindringlich in diesem Sinne auch Schinckel in Verhandlungen des Deutschen Kolonialkongresses 1902 zu Berlin am 10. und 11. Oktober 1902, 1903, S. 705 f. Zur Person des mit Woermann eng verbundenen Hamburger Bankiers Max Schinckel Müller in Neue Deutsche Biographie, Band 22, 2005, S. 784 f. 50 S. dazu noch unten bei Fn. 209. 51 Zum Kontext einer solchen Kolonialpolitik Conrad (Fn. 39), S. 25 f., 36 ff., 58 f., 70 ff.; Conrad, Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, 2. Aufl. 2010, S. 74 ff. 52 Conrad (Fn. 39), S. 36 ff. 53 Zu dessen Person Fuchs in Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Band 14, 1998, Sp. 584 ff. 54 Zorn (Fn. 43), S. 327 f. 55 Helfferich in Verhandlungen des Deutschen Kolonialkongresses 1905 zu Berlin am 5., 6. und 7. Oktober 1905, 1906, S. 584. Zur Person Helfferichs Born in Neue Deutsche Biographie, Band 8, 1969, S. 470 ff.; Williamson, Karl Helfferich 1872-1924. Economist, Financier, Politician, 1971, S. 3 ff., 62 ff.; Wixforth in Pohl (Hrsg.), Deutsche Bankiers des 20. Jahrhunderts, 2008, S. 195 ff.

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Konkurriende Mächte waren auf dem Kolonialkongress allgegenwärtig, insbesondere einmal mehr „England“ als „der grosse Lehrmeister, der der Welt gezeigt hat, welch’ kolossale Reichtümer aus Kolonien gewonnen werden können und zwar nicht nur für den Staat als solchen, sondern für Private. Der Reichtum eines Staates aber besteht stets in erster Linie darin, dass die Privaten reich sind. […] Nicht darauf kommt es an, wenigstens in erster Linie, dass die Kolonien als solche hohe Erträgnisse geben, sondern dass die dort arbeitenden Kaufleute, Industriellen, Farmer hohe Erträgnisse gewinnen. Die holländischen Kolonien stecken im Defizit, aber das Volk der Holländer ist durch den Erwerb aus seinen Kolonien ein reiches Volk geworden.“56

Dies war der wirtschaftsliberale Konsens, der Unternehmer-Politiker wie Oechelhäuser und Woermann einschloss. Die zur Jahrhundertwende erreichten Ergebnisse waren für Kolonial­euphoriker wie Helfferich allerdings ernüchternd: „Der Handel unserer Schutzgebiete […] bezifferte sich […] auf […] wenig mehr als ein halbes Prozent unseres deutschen Aussenhandels.“57 Freilich nahmen auch in Großbritanniens Handel „die vier am nächsten gelegenenen europäischen Staaten – Deutschland, Frankreich, Holland und Belgien – einen grösseren Raum ein, als sein gesamtes Kolonialreich einschliesslich Indiens“.58 Dennoch war es für Helfferich „[k]eine Frage, dass in dem immer noch friedlichen Ringen um die Regelung der internationalen Handelsbedingungen die Position derjenigen Staaten am günstigsten ist, die in ihren Herrschaftsgebieten die verschiedenartigsten Produktionsmöglichkeiten und die weitesten Absatzmärkte vereinigen.“59

III. Gesellschaftsrecht in Mutterland und Kolonien Zwischen Kolonialpolitik und Gesellschaftsrecht besteht traditionell ein enger Zusammenhang. Verbreitet gilt die Gründung der englischen und der niederländischen Ost-Indien-Handelskompagnien zu Beginn des 17. Jahrhunderts als eigentliche Geburtsstunde der Aktiengesellschaft.60 Ähnliche Unternehmungen gingen im 17. und 18. Jahrhundert von Brandenburg-Preußen aus.61 War das zunächst preußische und 56 Zorn (Fn. 43), S. 322 f. 57 Helfferich (Fn. 55), S. 572. Detailliert zur Handelsstatistik der deutschen Kolonien zur gleichen Zeit der Überseehändler Vietor in Verhandlungen des Deutschen Kolonialkongresses 1905 zu Berlin am 5., 6. und 7. Oktober 1905, 1906, S. 629 ff. Zu dessen Person Olpen, Johann Karl Vietor (1861-1934). Ein deutscher Unternehmer zwischen Kolonialismus, sozialer Frage und Christentum, 2014, S. 31 ff., 145 ff. 58 Helfferich (Fn. 55), S. 580. Vgl. Washbrook in Peers/Gooptu (Hrsg.), India and the British Empire, 2012, S. 50 ff. 59 Helfferich (Fn. 55), S. 577. 60 S. nur Fleckner in Badedow/Hopt/Zimmermann/Stier (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of European Private Law, Band 2, S. 1603; zu unmittelbaren Vorläufern Harris, Industrializing English Law. Entrepreneurship and Business Organization, 1720-1844, 2004, S. 40 ff.; Taylor, Creating Capitalism. Joint-Stock Enterprise in British Politics and Culture 1800-1870, 2006, S. 3. 61 Grundlegend hierzu Jahntz, Privilegierte Handelscompagnien in Brandenburg und Preußen. Ein Beitrag zur Geschichte des Gesellschaftsrechts, 2006, S. 30 ff.; maßgebliche Dar-

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dann deutsche Aktienrecht des 19. Jahrhunderts im Ausgangspunkt eine Reaktion auf den inländischen Eisenbahnbau und dessen Finanzierungsprobleme62, so stellte das deutsche Gesetz über Kolonialgesellschaften von 188863 einen wichtigen Zwischenschritt auf dem Weg zum GmbH-Gesetz von 1892 dar. Kolonialgesellschaften brauchten zwar eine Konzession, waren aber im Innenverhältnis ähnlich frei zu gestalten wie bald darauf die GmbH. Geradezu umgekehrt verhielt es sich mit den Aktiengesellschaften. Die Gründung war seit 1870 zwar konzessionsfrei, aber Innen- und Außenverhältnis waren ab 1884 umfassend von zwingendem Recht bestimmt.64 Oechelhäuser gab zu bedenken, „daß im großen und ganzen, sowohl in der Gründung von Aktiengesellschaften als sonstiger produktiven Kapitalvereinigung unzweifelhaft eine große Stagnation bei uns herrscht, daß dagegen eine immer mehr wachsende Hinneigung vorhanden ist, Kapital zu spekulativen Zwecken zu verwenden“.65 Die Stagnation beruhte wesentlich auf den schlechten Erfahrungen der Anleger in Gründerkrach und Gründerkrise ab 1873.66 Die von Oechelhäuser beschriebene „Hinneigung“ zur Spekulation war hierdurch zwar nicht erloschen, doch zweifelte das Publikum, ob Aktiengesellschaften in Deutschland eine lohnende Investition seien. Das strenge Aktienrecht von 1884 mochte das Vertrauen in die Rechtsform wiederherstellen, doch schreckte das nun durchregulierte Gründungsprozedere mit zahlreichen neuen Haftungsrisiken nicht nur viele externe Anleger, sondern vor allem viele Gründer ab. In der Folge fühlten sich zahlreiche Investoren auf andere, insbesondere ausländische Anlageformen verwiesen. Dies zu ändern war Oechelhäusers erklärtes Ziel. Traf aber Oechelhäusers Annahme zu, dass es in „England und seinen Kolonien“ durch Strohmanngründungen zu einem „ungeheuren formalen Mißbrauch des Aktiengesetzes“ gekommen sei, dem die pragmatische britische Regierung um der wirtschaftlichen Vorteile willen ungerührt zusehe, zumal „nirgendwo die Erfahrung ­hervorgetreten“ sei, „daß die Solidität der geschäftlichen Beziehungen durch diese zahlreichen Limited-Gesellschaften gelitten hätte“?67 Oder hatte Levin Goldschmidt stellungen aus dem späten 19.  Jahrhundert von Schück, Brandenburg-Preußens Kolonial-Politik unter dem Großen Kurfürsten und seinen Nachfolgern (1647–1721), 1889; Ring, Asiatische Handlungscompagnien Friedrichs des Grossen. Ein Beitrag zur Geschichte des preussischen Seehandels und Aktienwesens, 1890. 62 Kießling in Bayer/Habersack (Hrsg.), Aktienrecht im Wandel, Band 1, 2007, S. 98 ff., 126 ff., 193 ff. 63 Art. II des Gesetzes wegen Abänderung des Gesetzes, betreffend die Rechtsverhältnisse der deutschen Schutzgebiete, vom 17. April 1886, RGBl. S. 75, vom 15. März 1888, RGBl. S. 71, 73 f., §§ 8-10, dazu Schubert, Quaderni Fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno 11/12 (1982/83), S. 602 ff. Zu den deutschen Kolonialgesellschaften Czeguhn, Sartoniana 31 (2018), 37 ff. 64 Fleckner in Bayer/Habersack (Fn.  62), S.  1006  f.; Selgert in Ambrosius/Henrich-Franke/ Neutsch (Hrsg.), Föderalismus in historisch vergleichender Perspektive, Band 6, 2018, S. 154 ff., 163 ff. 65 Wie Fn. 10. 66 Burhop, Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs 1871-1918, 2011, S. 69 ff., 75 ff., 177. 67 Wie Fn. 15.

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recht, dass Oechelhäusers Behauptungen in der Praxis nicht nachprüfbar seien?68 Der spätere Vizepräsident des Berliner Kammergerichts Viktor Ring, auch er einer der „geistigen Väter“ der GmbH69, bestätigte immerhin anhand des Handelsregisters Oechelhäusers Bericht über „dutzendweise“ in Deutschland gegründete „Aktiengesellschaften mit kleinem Grundkapital“ oder „mit einer sehr beschränkten Anzahl von Aktien“. Zur Situation der limiteds in „England und seinen Kolonien“ sagte Ring nichts. Er stellte aber die naheliegende Frage, wie kleine Gesellschaften hinreichend Kapital erhalten sollten, und wollte dies für die in Deutschland neu zu schaffende Rechtsform den Gesellschaftern überlassen, denn „der deutsche Richter wird sich nicht darüber schlüssig machen können, ob eine Gesellschaft, welche in Afrika oder Australien Erwerbszwecke verfolgt, für diese neuer Mittel bedarf “.70 Warum aber sollte es etwa einem australischen Richter besser ergehen, selbst wenn er vor Ort war? 1. Goldgräberstimmung Kontrastiert man die neuere rechtshistorische Forschung zum australischen Gesellschaftsrecht mit der zeitgenössischen Wahrnehmung in Deutschland, so zeigt sich in jeder Hinsicht ein differenziertes Bild. Zunächst standen die britischen Kolonien auf dem australischen Kontinent nicht im Zentrum der kolonialen Wirtschaftspolitik, auch nicht für Großbritannien selbst.71 Die Sträflingskolonie war ein Ort der Verbannung, nicht der Investition. Dies änderte sich spätestens, als dort Goldvorkommen entdeckt wurden. Nun wurde Australien zu einem vielversprechenden Ziel von Kapitalgesellschaften, aber auch zu einem bevorzugten Ziel der Auswanderung.72 Dies galt auch für Deutsche: „Die Deutschen Kolonisten sind unter der ackerbauenden Klasse zahlreich vertreten und erfreuen sich, Dank der günstigen Bedingungen, unter denen Land erworben werden kann, und ihrer Thätigkeit und Frugalität im Ganzen eines unabhängigen und glücklichen Looses.“73 „Nach Überwindung der Anfangsschwierigkeiten leben die meisten [deutschen Einwanderer] heute in behaglichen Verhältnissen, haben ein freundliches Haus, Wagen und Pferde, bauen Weizen, Mais, Kartoffeln, Gemüse und Obst [an] und treiben Meiereiwirtschaft und Schwei68 Wie Fn. 24. 69 Schubert, Quaderni Fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno 11/12 (1982/83), S. 602 ff. 70 Ring, Archiv für Theorie und Praxis des allgemeinen deutschen Handels- und Wechselrechts 48 (1888), S. 32 f., 85. Zur Person Rings Göppinger, Juristen jüdischer Abstammung im ‚Dritten Reich‘. Entrechtung und Verfolgung, 2. Aufl. 1990, S. 228. 71 Bathurst, Australian Bar Review 37 (2013), 226. Zeitgenössisch zum folgenden Schanz in Verhandlungen des Deutschen Kolonialkongresses 1902 zu Berlin am 10. und 11. Oktober 1902, 1903, S.  679  ff. Schanz verfasste zahlreiche Texte zur Kolonialpolitik, speziell zur Baumwollproduktion, sowie Reiseberichte, s. auch Stoyke in Schröder/Höhler (Hrsg.), Welt-Räume. Geschichte, Geographie und Globalisierung seit 1900, 2005, S. 156. 72 Morgan, Building Better Britains? Settler Societies in the British World, 1783-1920, 2017, S. 39 ff.; Jupp, An Immigrant Nation Seeks Cohesion. Australia from 1788, 2018, S. 3 ff., 15 ff. 73 Preußisches Handels-Archiv 1878, Band 1, 9.

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nezucht, treulich unterstützt von ihren braven Frauen, welche im Gegensatz zu der modernen, putz- und vergnügungssüchtigen Australierin nicht die ‚Lady‘ spielen, sondern im Stall und im Hühnerhof, auf der Wiese und im [!] Felde wacker mit zugreifen.“74 Die Assimilierung der deutschen Einwanderer bestätigte aber, was Woermann befürchtet hatte, dass nämlich Deutsche „hinausziehen in fremde Länder und dort ihre Nationalität verlieren, eine fremde Sprache sprechen und sich an fremde Productionsverhältnisse gewöhnen, mit einem Wort, […] für das Mutterland verloren gehen“.75 „In den Städten bequemt sich schon der in Deutschland geborene Einwanderer englischem Wesen an, und seine in englischer Umgebung aufwachsenden Kinder sind in der Regel englische Australier, die sich leider, ähnlich wie in Nordamerika, nicht selten geradezu des Deutschtums ihrer Eltern schämen.“76 Zumindest fand Australien in Deutschland einige Aufmerksamkeit.77 Die Beurteilungen der einzelnen Kolonien fielen sehr unterschiedlich aus. So hieß es für New South Wales: „Wie schon aus den früheren Berichten […] hervorgeht, ist der Fortschritt dieser Kolonie mit einem jeden Jahre ein steigender […]“78, da „die Blüthe der Kolonie Neusüdwales mit Riesenschritten sich weiter entwickelt“79, und die Kolonie South Australia ging „langsam, aber mit sicheren Schritten einer glänzenden Zukunft entgegen“.80 Kritischer sah es bei den Nachbarn aus: „Die kommerziellen Verhältnisse der Kolonie Victoria waren […] wenig befriedigend […] und die Handelsunternehmungen haben durchaus nicht die Resultate gegeben, die von dem Kapital und der Arbeitskraft, die darin beschäftigt waren, erwartet werden konnten.“ Die Verbindung von New South Wales „mit den anderen Welttheilen läßt nichts zu wünschen übrig, da jetzt ein vierzehntäglicher Abgang der Postdampfer der verschiedenen Routen gesichert ist; ferner fahren andere große Dampfer zwischen hier und England, so daß die Kommunikation mit dem Mutterlande beinahe eine wöchentliche ist.“81 Dagegen waren in Victoria die Bemühungen „einer Englischen Firma von Schiffsrhedern“ erfolglos geblieben, „mittelst der besten Dampfer eine monatliche Verbindung zwischen England und Melbourne via Kap der guten Hoffnung mit einer Fahrzeit von 40 Tagen und mäßigen Preisen für den Transport von Emigranten einzurichten“. Darunter litt die Konjunktur. „Auch mit Bezug auf den Ackerbau ist der Fortschritt kaum dem Umfang der für die Getreidekultur geeigneten Flächen Landes angemessen. Die Herstellung neuer Verkehrswege mittels Eisenbahnen wird deshalb mit Eifer vorbereitet.“ Die Kommunikation war nicht minder gestört, und zwar in beiden Kolonien: „Die häufigen Unterbrechungen in der telegraphischen Verbindung mit Europa hat 74 Schanz (Fn. 71), S. 685 f. 75 Woermann (Fn. 28), S. 4. Zum Kontext derartiger Befürchtungen und zur gegenläufigen Inszenierung deutscher Identität Kundrus, Moderne Imperialisten. Das Kaiserreich im Spiegel seiner Kolonien, 2003, S. 174 ff. 76 Schanz (Fn. 71), S. 683. Vgl. Morgan (Fn. 72), S. 133 ff. 77 S. etwa den „Bericht über die deutschen Interessen in Queensland“, Deutsches Handels-Archiv 1882, Teil 2, 450 ff. 78 Preußisches Handels-Archiv 1878, Band 2, 50. 79 Preußisches Handels-Archiv 1877, Band 2, 217. 80 Deutsches Handelsarchiv 1881, Band 2, 617. 81 Preußisches Handels-Archiv 1878, Band 2, 50.

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die Aufmerksamkeit der Regierungen der Australischen Kolonien auf die Nothwendigkeit gelenkt, durch die Herstellung eines zweiten Kabels diesem Uebelstande ab­ zuhelfen.“ Zunächst blieb eine „in Sydney gehaltene Konferenz von Delegirten der Ministerien der verschiedenen Kolonien […] in Folge des Mangels eines Einverständnisses hinsichtlich der Beiträge […] ohne praktisches Resultat.“ Während die öffentliche Hand über den ‚Länderfinanzausgleich‘ verhandelte, „sind von Englischen Fa­ brikanten überseeischer Kabel Anerbietungen zur Legung eines neuen Kabels von der Nordwestküste Australiens nach Point de Galle (Ceylon) gemacht worden, so daß eine Verminderung der Isolirtheit dieses Erdtheils von der übrigen Welt gehofft werden darf.“82 Wieviel Gold „[s]eit der Entdeckung der Goldfelder […] in der Kolonie vermünzt und aus der Kolonie exportirt“ worden waren, war bekannt, jedoch enthielten die Berichte ein wiederkehrendes caveat: „Die Quantität des in der Kolonie gewonnenen und daselbst verarbeiteten Goldes kann nicht abgeschätzt werden.“ Als Gold nicht mehr angeschwemmt knapp unter der Erdoberfläche zu finden war, ging man zum eigentlichen Bergbau über. Dieser war weitaus kapitalintensiver als die buchstäbliche Goldgräberei. Den Ausschlag für den „bedeutende[n] Wechsel, welcher in der Ausbeutung der Goldfelder seit der Zeit stattgefunden hat, wo der erste Goldgräber mit seinem Spaten Gold entdeckte“, beruhte gerade darauf, dass Gold nicht mehr mit dem Spaten gefördert werden konnte: „Man fing nunmehr an, bei Bergbau-Unternehmungen Kapital mit Arbeit zu vereinen, und obschon die Goldgräber den Kapitalisten anfänglich mit argwöhnischen Augen ansahen, als wolle er sich den Löwenantheil sichern und ihre Unabhängigkeit zerstören, so verschwand dieses Vorurtheil doch bald, da es sich herausstellte, daß, ohne Kapital, die tiefen Lager […] nicht bearbeitet werden konnten“. Dies schien der Anfang einer unendlichen Erfolgsgeschichte zu sein: Die Aktiengesellschaft als Rechtsform wurde gebraucht, als der einzelne Goldgräber nicht weiterkam, und sie lieferte „die glänzenden Resultate“, die von ihr erwartet worden; „dies brachte ein ganzes Heer von Kapitalisten nach den Goldfeldern“. Überoptimistisch nahm man an, „es steht jetzt fest, daß die Goldminen die wichtigsten Ressourcen von Viktoria sind, die an Ausdehnung und Reichthum immer mehr zunehmen und einer Menge Leute wie großen Kapitalien Beschäftigung geben werden“.83 Doch auch dieser Boom hatte Grenzen: „Der Ertrag der Goldgruben fährt fort, eine bedeutende Abnahme zu zeigen […]. Die Anzahl der in den Goldgruben beschäftigten Arbeiter verringerte sich […]. Eine Anzahl von Expeditionen auf Staatskosten, neue Landstrecken behufs Auffindung goldführender Erde zu ex­ ploriren, blieb fast gänzlich erfolglos, während einige reiche Lager in einer Tiefe von 1500 bis 1900 Fuß entdeckt worden sind.“ 84

82 Preußisches Handels-Archiv 1878, Band 1, 9; Band 2, 50; zum Fortgang Preußisches Handels-Archiv 1879, Band 1, 408. 83 Preußisches Handels-Archiv 1865, Band 2, 769. 84 Für Victoria Preußisches Handels-Archiv 1878, Band 1, 9; ähnlich für New South Wales Preußisches Handels-Archiv 1878, Band 2, 52. 

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Eine günstige Prognose gab es hingegen für Queensland Stand 1876: „Fast jeden Tag werden neue Entdeckungen von Gold gemacht, und da noch viele hundert Quadratmeilen Gebirgsland hier sind, wo noch nie ein weißer Mann war, so ist fast sicher anzunehmen, daß noch viele neue Goldfelder gefunden werden.“85 Für 1880 hatte die „Ausbeute der Goldfelder in Victoria“ immerhin „zum ersten Male seit 1872 wieder eine Zunahme ergeben“86 aufgrund der „Entdeckung neuer Goldfelder, deren reicher Gehalt bisher unter den tiefen Lagen vulkanischen Gesteines verborgen gelegen hat“ und deren Entdeckung „zum großen Theil der Anwendung des Diamantbohrers (­diamond drill), der von der Regierung beschafft und in Anwendung gebracht wird, zu verdanken“ war87. New South Wales vermeldete für das gleiche Jahr: „Die Entdeckung mehrerer neuer Goldfelder in der Kolonie läßt für das laufende Jahr eine erhebliche Zunahme der Goldproduktion erwarten, sobald die Schwierigkeiten, welche der vorhandene Wassermangel einer rationellen Bearbeitung entgegensetzt, überwunden sein werden.“88 Das Jahr brachte ein ambivalentes Ergebnis: „Die Ausbeute von Gold hat wiederum zugenommen, obgleich neue Goldlager von irgend welcher Erheblichkeit nicht aufgefunden wurden.“ Die zunächst vermeldete Zahl von Personen, die „mit der Goldgewinnen beschäftigt gewesen sein“ sollten, wurde „nachträglich als eine übertriebene Zahl bezeichnet“. Zwei Faktoren hatten die effizientere Ausbeutung der bekannten Vorkommen begünstigt: „Die vermehrte Ausbeute der Goldfelder bei geringeren Arbeitskräften erklärt sich […] durch ausgedehntere Anwendung von Maschinenkräften. Die Ersetzung der einzelnen kapitallosen Goldgräber durch Aktiengesellschaften, die nach einem rationellen System und mit vervollkommeneten Werkzeugen arbeiten, hat […] weitere Fortschritte gemacht.“89 Dazu mochte beitragen, dass die Anlage in Aktien weitgehend steuerfrei war, da bis zu diesem Zeitpunkt Tasmanien „die einzige Australische Kolonie“ war, „die neben einer Abgabe auf Grundbesitz […] auch eine solche auf Dividenden von Aktiengesellschaften eingeführt“ hatte.90 Der Goldbergbau eignete sich wegen seiner hohen Kosten, aber auch wegen seiner ungewissen Gewinne und Risiken in idealer Weise, um in Form der Aktiengesellschaft betrieben zu werden – als Kapitalsammelbecken wie als Spekulationsvehikel.91 So wurden allein 1875 in Victoria „107 neue Aktiengesellschaften zur Bearbeitung von Goldgruben registrirt, mit 1,474,811 Aktien und einem Nominalkapital von 1,234,680 Pfd. Sterl.“, im Jahre 1876 94 Gesellschaften mit 1.548.833 Aktien und einem Nominalkapital von 1.349.696 Pfund, 1877 60 Gesellschaften mit 755.566 Aktien und einem Nominalkapital von 667.316 Pfund, 1879 167 Gesellschaften mit 2.277.276 Aktien und einem Nominalkapital von 1.286.674 Pfund, 1880 390 Gesellschaften mit 85 Preußisches Handels-Archiv 1879, Band 2, 412. 86 Deutsches Handels-Archiv 1881, Band 1, 384. 87 Deutsches Handelsarchiv 1881, Band 2, 603. 88 Deutsches Handelsarchiv 1881, Band 2, 368. 89 Deutsches Handelsarchiv 1882, Teil 1, 827. 90 Deutsches Handelsarchiv 1882, Teil 2, 148. 91 McQueen, Australian Journal of Corporate Law 1 (1991), 26; McQueen, Australian Journal of Corporate Law 5 (1995), 196; Lipton, Melbourne University Law Review 31 (2007), 817 ff.; Lipton, Melbourne University Law Review 31 (2007), 831; Lipton, Melbourne University Law Review 41 (2018), Advance Copy, 33 f.

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6.846.549 Aktien und einem Nominalkapital von 3.496.792 Pfund, 1881 sogar 448 Gesellschaften mit 9.290.895 Aktien und einem nominellen Grundkapital von 6.647.838 Pfund.92 Die Anzahl der Aktien überstieg also durchweg den Nennwert des Grundkapitals. Wenn Oechelhäuser angenommen hatte, jeder Aktionär müsse „nur ein Pfund Sterling zu zeichnen“93, so wurde offenbar diese praktische, aber im Companies Act nicht ausgesprochene Regel nicht für jede einzelne Aktie befolgt. Just zu der Zeit, als Oechelhäuser über „Die wirthschaftliche Krisis“94, „Die Nachtheile des Aktienwesens und die Reform der Aktiengesetzgebung“95 nachdachte, ging es mit der Kolonie temporär bergab: „Das Berichtsjahr [1879] wird in der Geschichte der Kolonie Victoria denkwürdig bleiben durch die Rückschritte, welche Handel und Industrie während desselben gemacht haben. Auf den raschen Aufschwung, welche die Kolonie nach der Entdeckung der Goldfelder genommen hatte, war freilich schon längere Zeit hindurch eine Periode der Stagnation erfolgt.“ Nun aber hatten die „Gesammtwerthe der Ein- und Ausfuhr […] sogar eine fallende Tendenz gezeigt[. …] Die geschäftliche Krise, welche die Kolonie […] durchmachte und deren Nachwehen noch nicht überwunden sind, gelangt auch in der Zahl der dort vorgekommenen Konkurse in charakteristischer Weise zum Ausdruck. […] 1007 Konkurse mit einer Schuldenmasse von 1,6555,485 Pfd. Sterl. in einer Bevölkerung von 890,000 Personen, die ein ausgedehntes und an natürlichen Hülfsquellen reiches Land bewohnen; das ist ein Resultat, welches nur die Folge übertriebener Spekulation und unsolider Geschäftsführung sein kann. […] Es dürfte daher allen Deutschen Fabrikanten, welche etwa in Folge der Melbourner Weltausstellung [1880] neue geschäftliche Verbindungen in der Kolonie Victoria anzuknüpfen suchen, große Vorsicht im Kreditgeben anzurathen sein.“96 Gab es hier einen Zusammenhang mit dem Gesellschaftsrecht? 2. Vom Bubble Act zum Companies Act Eine Aktiengesellschaft oder public company limited by shares im heutigen Sinne fehlte bis Mitte des 19. Jahrhunderts sowohl im englischen Recht als auch im australischen Kolonialrecht.97 Oechelhäuser nahm dies als Beleg, dass „das Privatgewerbe, 92 Preußisches Handels-Archiv 1878, Band 1, 9; 1879, Band 1, 109; 1879, Band 2, 171; Deutsches Handels-Archiv 1881, Band 1, 13; Band 2, 604; 1882, Teil 2, 584. 93 Wie Fn. 10. 94 Oechelhäuser (Fn. 26). 95 Oechelhäuser, Die Nachtheile des Aktienwesens und die Reform der Aktiengesetzgebung, 1878. 96 Deutsches Handelsarchiv 1881, Band 1, 9 f., 15. Zum anschließenden Aufschwung und den Ergebnissen der Weltausstellung in Melbourne Deutsches Handelsarchiv 1881, Band 2, 601 f. 97 Einen Überblick über die Entwicklung des englischen und australischen Kapitalgesellschaftsrechts gibt der Chief Justice von New South Wales, Bathurst, Australian Bar Review 37 (2013), 217 ff., 227 ff.; näher Ireland, in Adams (Hrsg.), Essays for Clive Schmitthoff, 1983, S. 29, 31 ff.; Taylor (Fn. 60), S. 3 ff.; Lipton, Monash University Law Review 40 (2014), 455 ff., 459 ff.; Lipton, Melbourne University Law Review 41 (2018), Advance Copy, 9 ff.; zeitgenössische deutsche Sicht in Preußisches Handels-Archiv 1865, Band 1, 622 f.; 1869, Band 2, 210.

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auch ohne die Aktiengesellschaften, in riesenhaftester Weise alle wirthschaftlichen Aufgaben zu erfüllen wusste“.98 Im Zuge der berüchtigten South Sea Bubble99 war die Gründung von kapitalmarktorientierten Aktiengesellschaften im Grundsatz verboten worden100. Selbst eine liberale Ikone der Nationalökonomie wie Adam Smith stand der Aktiengesellschaft kritisch gegenüber, weil sie Monopole gleichermaßen begünstige wie Missmanagement.101 Abseits von Gesellschaften, die über eine königliche charter oder ein individuelles, vom Parlament geschaffenes Privileg verfügten102, blieb nur die Form der partnership, nach deutschem Verständnis die offene Handelsgesellschaft. Allerdings waren findige Gesellschafter (darunter auch lizenzierte Freibeuter im Dienste der Krone103) und deren Rechtsberater dazu übergegangen, in die Gründungsverträge ihrer Gesellschaften Klauseln aufzunehmen, welche übertragbare Aktien und ein von den Gesellschaftern getrenntes Management vorsahen, Treuhänder mit der gerichtlichen Vertretung der anderen Gesellschafter bevollmächtigten und (im Außenverhältnis erfolglos) den Investoren eine Haftungsbeschränkung versprachen.104 Gesetzlich anerkannt wurde diese Praxis105 fast einhundertzwanzig Jahre spä 98 Oechelhäuser (Fn. 95), S. 23. 99 Dazu Paul, The South Sea Bubble. An economic history of its origins and consequences, 2011, S. 43 ff. 100 An Act for better securing certain Powers and Privileges intended to be granted by His Majesty by Two Charters for Assurance of Ships and Merchandizes at Sea, and for lending Money on Bottomry; and for restraining several extravagant and unwarrantable Practices therein mentioned, 11 June 1720, 6 Geo I c. 18. Zu den spezifischen Motiven und den begrenzten Wirkungen Harris, Journal of Economic History 54 (1994), S.  610  ff.; fortgeschrieben in Harris (Fn. 60), S. 60 ff.; zum Bubble Act als Katalysator der Kautelarjurisprudenz und zu deren späterer Entwicklung McQueen, A Social History of Company Law (Fn. 5), S. 17 ff., 30 ff., 238 ff. Der Bubble Act wurde aufgehoben durch An Act to repeal so much of an Act passed in the Sixth Year of His late Majesty King George the First, as relates to the restraining several extravagant and unwarrantable Practices in the said Act mentioned; and for conferring additional Powers upon His Majesty, with respect to the granting of Charters of Incorporation to trading and other Companies, 5 July 1825, 6 Geo. IV c. 91; dazu Harris (Fn. 60), S. 250 ff.; Taylor (Fn. 60), S. 107 ff.; McQueen, A Social History of Company Law (Fn. 5), S. 39 ff. 101 Smith, An Inquiry Into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, Band 3, 3. Aufl. 1784, S. 107 ff., 122 ff. Detaillierte Analyse bei Fleckner, Adam Smith on the Joint Stock Company, Working Paper of the Max Planck Institute for Tax Law and Public Finance No. 2016-1, https://ssrn.com/abstract=2721811 (zuletzt abgerufen am 28.3.2019). Zur Wirkungsgeschichte in der Debatte um limited liability Mitte des 19. Jahrhunderts McQueen, Australian Journal of Corporate Law 1 (1991), 30; McQueen, Canberra Law Review 3 (1996), 8; McQueen, A Social History of Company Law (Fn. 5), S. 41 ff., 87 f.; Lipton, Melbourne University Law Review 41 (2018), Advance Copy, 16. 102 Dazu McQueen, Australian Journal of Corporate Law 5 (1995), 195  f. mit Fn.  19; McQueen, A Social History of Company Law (Fn. 5), S. 25; Harris (Fn. 60), S. 140. 103 Andrews, Canberra Law Review 3 (1996), 15 f., 18 f.; s. auch Beattie, British Privateering Voyages of the Early Eighteenth Century, 2015, S. 92 ff., 101 ff., 209 f. 104 Bathurst, Australian Bar Review 37 (2013), 222 f.; Harris (Fn. 60), S. 139 ff., 143 f.; McQueen, A Social History of Company Law (Fn. 5), S. 20, 30 ff., 60. 105 Zur Übernahme von Geschäftspraktiken in das Fallrecht und die Gesetzgebung Andrews, Canberra Law Review 3 (1996), 16 ff.

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ter, als die rein vertraglich fundierten Gesellschaften auch ohne Charter durch Re­ gistereintrag formell „inkorporiert“ werden konnten  – freilich immer noch ohne Haftungsbeschränkung.106 Die australischen Kolonien kamen dem Mutterland zuvor.107 Ab 1848 inkorporierte New South Wales mehrere Banken, Bergbau- und Versicherungsunternehmen sowie Reedereien, in welchen die Haftung auf das Doppelte des Nennwerts der übernommenen Aktien beschränkt wurde. Im Jahr 1853 erkannten New South Wales und Victoria in gleichlautenden Gesetzen „Partnerships with Limited Liability“ an.108 Speziell für Bergbaugesellschaften griff Victoria ab 1855 auf das englische cost-book-Modell zurück, das den Gesellschaften auf der Grundlage einer Art Aktienregister ermöglichte, wegen nicht voll eingezahlter Anteile in das Vermögen des Gesellschafters zu vollstrecken oder nicht voll eingezahlte Anteile verkaufen zu lassen, wenn der offene Betrag uneinbringlich blieb.109 Im gleichen Jahr zog England nach.110 Die Haftung wurde auf den Nennwert der Aktien bzw. den darauf etwa noch nicht eingezahlten Betrag beschränkt; eine Lösung, die in der Kolonie Victoria 1858 auch für Bergbaugesellschaften festgeschrieben wurde.111 Zunächst verlangte das englische Recht für die Inkorporierung die nicht unerhebliche Anzahl von fünfundzwanzig Aktionären und schrieb ein nennenswertes Mindestkapital pro Aktie (10 Pfund), eine Mindesteinzahlung von 20 Prozent auf jede Aktie und eine Mindestzeichnung von 75 Prozent des Gesamtaktienkapitals sowie gewisse, zum Teil strafbewehrte Rechnungslegungs- und Publizitätspflichten vor, unter anderem die Firmierung als „Limited“ und eine Erklärung der Gründer über die Mindesteinzahlung sowie die Bestellung von Buchprüfern.

106 An Act for the Registration, Incorporation, and Regulation of Joint Stock Companies, 5 September 1844, 7 & 8 Vict. c. 110. Dazu eingehend Harris (Fn. 60), S. 282 ff.; Taylor (Fn. 60), S. 135 ff., 144 ff.; McQueen, A Social History of Company Law (Fn. 5), S. 44 ff. 107 Die Darstellung in diesem Abschnitt folgt Lipton, Melbourne University Law Review 31 (2007), 811 ff., 831; Lipton, Melbourne University Law Review 41 (2018), Advance Copy, 31 ff. 108 An Act to Legalize Partnerships with Limited Liability, 8 July 1853, New South Wales, 17 Vict No. 9; An Act to legalize partnerships with limited liability, 21 December 1853, Victoria, 17 Vict No. 5. 109 An Act for the better regulation of Mining Companies, 12 June 1855, Victoria, 18 Vic No.  42.  Zu weiteren Besonderheiten McQueen, Australian Journal of Corporate Law 1 (1991), 35 f.; McQueen, Australian Journal of Corporate Law 5 (1995), 203. 110 An Act for limiting the Liability of Members of certain Joint Stock Companies (Limited Liability Act 1855), 14 August 1855, 18 & 19 Vict c. 133. Näher Lipton, Melbourne University Law Review 41 (2018), Advance Copy, 20 f. 111 An Act to facilitate the Formation of Mining Associations and to amend and extend the provisions of an Act passed in the eighteenth year of the reign of Her present Majesty ­intituled an Act for the better Regulation of Mining Companies and to render certain Preferable Liens and Mortgages of Personality by Miners and Mining Companies valid without delivery and for other purposes (Mining Associations Act 1858), 4 June 1858, Victoria, 21 Vict. No. 56.

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Schon ein Jahr später wurden einige dieser Einschränkungen jedoch fallen gelassen. Das englische Recht wurde in puncto Kapitalaufbringung radikal liberalisiert, ungeachtet umfangreicher Formalia im übrigen.112 Nun man musste nur noch der „erforderlichen Minimalzahl von sieben Personen“ genügen  – ganz wie Oechelhäuser es dem Reichstag geschildert hatte.113 Mehr als die geleistete Einlage bzw. den Nennwert der übernommenen Aktien konnte man nicht verlieren. Allerdings haftete jeder einzelne Aktionär für alle Gesellschaftsschulden, wenn die Zahl der Aktionäre die Mindestzahl von sieben für mehr als ein halbes Jahr unterschritt; in diesem Fall konnte die Gesellschaft gerichtlich abgewickelt werden.114 Ungeachtet der geringen Mindestzahl von Aktionären dachte man in der englischen Gesetzgebungsdiskussion an Großunternehmen als natürliche Adressaten der haftungsbeschränkten Rechtsform; eine Annahme, die sich schon ab den 1860er Jahren als verfehlt erwies.115 Entsprechendes galt für die Anlegerstruktur: „Die Liebhaberei für Privat-Unternehmungen bleibt immer noch frisch und rege und es unterliegt keinem Zweifel, daß nicht nur bei den größeren, sondern auch bei den kleineren, dem Mittelstande angehörigen Kapitalisten, dieses verhältnißmäßig neue System der Aktiengesellschaften mit beschränkter Verbindlichkeit von Jahr zu Jahr mehr Anklang findet, indem die wirkliche oder in manchen Fällen auch nur anscheinend gute Sicherheit und die Aussichten auf vortheilhafte Verwerthung der Kapitalsanlage unzweifelhaft verlockend für sie sind.“116 Im Companies Act von 1862 wurden die Regeln von 1856 konsolidiert und erweitert.117 Nach und nach schlossen sich alle australischen Kolonialrechte diesem Regime an.118 Dies geschah zwar ohne besondere Debatten über die Eignung des engli112 An Act for the Incorporation and Regulation of Joint Stock Companies and other Associations, 14 July 1856, 19 & 20 Vict c. 47. Näher Lipton, Melbourne University Law Review 41 (2018), Advance Copy, 21 f. 113 Wie Fn. 10. Vgl. den ein Jahrhundert später ganz ähnlichen Befund bei McQueen, Federal Law Review 27 (1999), 194 f.: „Registration of a company under the Companies Act was merely a matter of satisfying the formalities required by the legislation, and upon registration the new corporate entity, rather than the individuals behind the enterprise, was the responsible body to creditors. If shareholders had large amounts of unpaid calls on their shares then they could be drawn upon, but it was the company and the company alone which was now responsible to creditors, and as such it was up to the creditors to ensure their position when an enterprise converted from a partnership with unlimited liability to a company with limited liability.“ 114 Joint Stock Companies Act 1856 (Fn. 112), ss. 39, 67 (3). 115 McQueen, Canberra Law Review 3 (1996), 13; McQueen, Federal Law Review 27 (1999), 185 ff., 195 ff.; Lipton, Monash University Law Review 40 (2014), 464 ff. 116 Preußisches Handels-Archiv 1866, Band 2, 64. 117 An Act for the Incorporation, Regulation, and Winding up of Trading Companies and other Associations, 7 August 1862, 25 & 26 Vict. c. 89. 118 Lipton, Melbourne University Law Review 31 (2007), 814 ff.; Lipton, Melbourne University Law Review 41 (2018), Advance Copy, 33; s. etwa An Act for the Incorporation, Regulation, and Winding up of Trading Companies and other Associations (Companies Act 1864), 9 December 1864, Victoria, 27 & 28 Vict. No. 13; An Act for the Incorporation Regulation and Winding up of Trading Companies and other Associations (Companies Act), New South Wales, 18 June 1874, 37 Vict. No. 19. Weitergehend betont McQueen, Australian Journal of Corporate Law 5 (1995), 188, 190, 192, 194, dass mit Ausnahme

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schen Rechts für die lokalen australischen Bedürfnisse.119 Gleichwohl erfolgte die Einführung der limited liability in England und Australien keineswegs auf einem geradlinigen Weg, sondern war im Gegenteil außerordentlich umstritten.120 Unternehmerische Freiheit und christlicher Sozialismus waren die ebenso heterogenen wie kontrovers diskutierten Motive für haftungsbeschränkte Kapitalbeteiligungen. Doch die verbreiteten Familienunternehmen bedurften nicht stets des Kapitalmarktes; im Gegenteil scheuten sie die damit verbundene Publizität. Etablierte Unternehmen fürchteten die rücksichtlose Konkurrenz spekulationsbereiter newcomer, die nicht dem – wohl eher in England als in Australien verbreiteten – Leitbild des ehrbaren Kaufmanns entsprachen.121 Positiv wurde die englische Reformfreudigkeit anfangs im „Handels-Archiv“ beurteilt. Die damit einhergehende „Einführung des Freihandels“ wurde 1856 umso euphorischer begrüßt, als „darunter nicht blos die Aufhebung von Prohibitionen und Schutzzöllen und die Zulassung von Fremden zu ihrem Markte“ verstanden wurde, „sondern die Befreiung jeder Art Gewerbthätigkeit von den Schranken, die eine bevormundende Gesetzgebung ihr gesetzt hatte“. Das Handels-Archiv illustrierte dies anhand der Diskussion, Kommanditgesellschaften einzuführen, die „andernwärts längst“ anerkannt war (unter anderem in New South Wales und Victoria): „Jetzt wird auch in England der Grundsatz adoptirt, daß es Jedermann überlassen bleiben muß, wie weit er sich an einem Geschäfte betheiligen will; daß es nicht Sache des Gesetzes ist, an sich unverfängliche Verträge zu hindern, weil ein unvorsichtiger Gläubiger ­unter ihnen leiden könnte; daß überhaupt für die Privat-Rechtsverhältnisse das ­Uebereinkommen der Betheiligten zunächst maßgebend sein muß.“122 Diesem Ideal entsprach die dann tatsächlich erfolgte Liberalisierung des Aktienrechts. Der „Hauptbericht des Preußischen General-Konsulats zu London“ war noch 1861 voller Bewuneinzelner kanadischer Provinzen „virtually all English colonies“ zwischen „Fiji and Newfoundland“ dem Companies Act 1862 folgten. 119 McQueen, Australian Journal of Corporate Law 1 (1991), 24; McQueen, Australian Journal of Corporate Law 5 (1995), 193. 120 Zu den rechtspolitischen Debatten und zur tatsächlichen Verbreitung der joint-stock companies ab Beginn des 19.  Jahrhunderts Harris (Fn.  60), S.  201  ff.; Taylor (Fn.  60), S. 21 ff., 93 ff. 121 McQueen, Australian Journal of Corporate Law 1 (1991), 29 f.; Waugh, University of New South Wales Law Journal 15 (1992), 384; McQueen, Australian Journal of Corporate Law 5 (1995), 200 f.; McQueen, Canberra Law Review 3 (1996), 12 ff.; McQueen, Federal Law Review 27 (1999), 185 ff.; McQueen, A Social History of Company Law (Fn. 5), S. 18 f., 23 ff., 34 f., 57 ff., 77 ff., 117 ff.; Taylor (Fn. 60), S. 148 ff., 154 ff.; Lipton, Melbourne University Law Review 41 (2018), Advance Copy, 12 ff., 15 ff., 25 f. Zur Reflexion in der zeitgenössischen Belletristik McQueen, Federal Law Review 27 (1999), 188 f. 122 Preußisches Handels-Archiv 1856, Band 1, 181, 183. Zur gleichzeitigen Debatte über die Einführung der „en commandite“ nach französischem Vorbild („sleeping partnership“) einerseits und der limited liability für joint stock companies andererseits Saville, Economic History Review 8 (1956), 418 ff.; s. dann An Act to establish Limited Partnerships, 28 August 1907, 7 Edw. 7 c. 24, historisch-rechtsvergleichend dazu Lamoureaux/Rosenthal, Harvard Law Review 119 (2005), 238, 239  ff.; zur Anerkennung der partnerships with ­limited liability in New South Wales und Victoria oben bei Fn. 108.

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derung für den Freihandel: „Eine Nation, die in der ersten Linie des Welthandels steht, hat es gewagt, mit kühner Hand praktisch ein Prinzip zur Anwendung zu bringen, welches viele Theoretiker sich schon gefürchtet haben, auf dem Papiere zu analysiren, und ungeachtet zahlreiche ängstliche Tendenzseher Englands Niederlage als das unvermeidliche Resultat dieses großartigen Schrittes verkündeten[…].“ Diese „Prophezeiung“ hatte „sich als entschiedene Täuschung erwiesen“. Doch gehörte zu den „bemerkenswerthesten“ Begleiterscheinungen nun „eine größere Anzahl von Bankerotten wie sonst“, die nicht dem Freihandel, wohl aber dem Aktienrecht angelastet wurden: „Die Folgen des neuen Gesetzes, welches die sogenannten limited liabilities-Gesellschaften kreirte, d.h. Gesellschaften, deren Aktionaire nur streng auf den Aktien-Betrag verantwortlich sind, sind auch im letzten Jahre [1860] ziemlich sichtbar hervorgetreten. Es ist nicht zu leugnen, daß das Gesetz die Formirung solcher Gesellschaften zu sehr erleichtert, daß es namentlich an hinreichender Kontrole fehlt, daß das angekündigte Geschäfts-Kapital wirklich bona fide vorhanden ist; […] es wäre ein großer Irrthum, die Mehrzahl dieser Gesellschaften für solide zu halten.“123

Im Angesicht des Sezessionskriegs zogen sich Investoren in großem Umfang aus dem nordamerikanischen Baumwoll- und Wertpapiermarkt zurück, was für den britischen Kapitalmarkt nicht ohne Folgen blieb: „Der Ueberfluß des so entstandenen, Beschäftigung suchenden Kapitals war die Ursache einer großen Thätigkeit in neuen Aktiengesellschaften mit beschränkter Verbindlichkeit (Companies with limited ­liability), von denen eine sehr große Anzahl im Lauf des letzten Jahres [1862] sich bildete, obwohl vielen von ihnen nur eine kurze Lebensfähigkeit zugesprochen werden kann.“124 Dieser Befund setzte sich zwar fort. Dennoch kam das Handels-Archiv zu einem günstigen Zwischenergebnis: „Das Prinzip der begrenzten Haftbarkeit (­limited liability) hat sich bis jetzt als ein gutes und mit Vortheilen verknüpftes bewährt, was der vernünftigen Anwendung desselben zuzuschreiben ist; besonders hat es Industriezweige in solchen Theilen Großbritanniens bezwecken und befördern helfen, welche bisher wegen Mangel an Kapital sehr vernachlässigt worden waren.“125 Die „Resultate des Handels“, die Großbritannien erziele, lieferten „genügende Beweise dafür, daß dem zunehmenden Wohlstand weder […] durch die Bankerotte einiger Dutzend Kaufmannsfirmen, oder durch die abnorme Ausdehnung, mit welcher Aktien-Gesellschaften jeglicher Art und in Beziehung auf beinahe alle Länder der civilisirten Welt ins Leben gerufen werden, ein Ziel gesetzt ist“. Jedenfalls im „Ganzen genommen“ hatten „die hauptsächlichsten neuen Gesellschaften finanzieller und industrieller Art ziemlich günstige Erfolge gehabt und den Aktien-Eigenthümern zu Klagen keine Veranlassung gegeben“. „Welches aber auch die Nachtheile sein mögen, die im Laufe der Zeit aus dieser Art Gewerbefreiheit entstanden sind, so werden sie doch von den sie begleitenden Vortheilen überwogen, und nirgend vielleicht stehen öffentliche Actien-Gesellschaften in so verdientem guten Rufe, als in England, wo sie 123 Preußisches Handels-Archiv 1861, Band 1, 351, 354. 124 Preußisches Handels-Archiv 1863, Band 1, 494. 125 Preußisches Handels-Archiv 1864, Band 1, 442 mit Einschränkung 443: „Vielen dieser Gesellschaften steht auch, in Ermangelung einer entsprechenden Fundirung, nur ein kurzes Dasein bevor.“

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als Vermittler der erfolgreichen Ausführung riesenhafter Unternehmungen, welche Civilisation und Verbesserung im Gefolge haben, zu betrachten sind.“126 Von den positiven Effekten war mehr als zwanzig Jahre später auch Oechelhäuser überzeugt. Die Insolvenzanfälligkeit aber, die sich hier bereits frühzeitig angedeutet hatte, zeigte sich im weiteren Verlauf mit unschöner Regelmäßigkeit. 3. Vom Goldrausch zur Immobilienblase Selbst nach ihrer Einführung wurde die neue Rechtsform in England und in Australien erst nach und nach angenommen.127 Die Gründerzahlen folgten in Australien zunächst den Goldfunden,128 umgekehrt der Goldrausch aber auch den Rechtsänderungen. Für 1863/64 schrieb das preußische Konsulat in Melbourne: „Der Goldbergbau hat in den letzten 12 Monaten durch das neue Gesetz für Aktiengesellschaften mit beschränkter Verantwortlichkeit (limited liability)[129] einen großen Aufschwung genommen […]. Wennschon zu erwarten steht, daß viele dieser Unternehmungen, wie viel sie auch versprechen mögen, nicht erfolgreich sein werden, so steht doch fest, daß der Bergbau auf Gold, durch vielfach gewonnene Erfahrungen bereichert, noch nie auf einer so sicheren Basis gestanden hat als jetzt; denn während derzeit hinlängliches Kapital für bona fide Unternehmungen mit größerer Leichtigkeit als sonst gefunden wird, hat gleichzeitig die für so Viele verderbliche wilde Spekulation einen soliden Charakter angenommen.“130

Wie gesehen, war aber nach dem langen Aufschwung längst Ernüchterung eingetreten – als „Folge übertriebener Spekulation und unsolider Geschäftsführung“.131 Die Investoren im aus­tralischen Goldbergbau hätten durch den Crash der Overend Gurney-Bank von 1866132 gewarnt sein können. Als Mitauslöser der Krise identifizierte das preußische Generalkonsulat in London die Liberalisierung des Aktienrechts: „England, dem früher andere als gewöhnliche Handelsgesellschaften unbekannt gewesen waren, hatte durch die Gesetze von 1856 und 1862 die Errichtung von Gesellschaften mit limitir126 Preußisches Handels-Archiv 1865, Band 1, 621, 623; ähnlich Preußisches Handels-Archiv 1866, Band 2, 64. 127 McQueen, Australian Journal of Corporate Law 1 (1991), 28 ff., 47 ff.; McQueen, Australian Journal of Corporate Law 5 (1995), 199 f.; Lipton, Melbourne University Law Review 31 (2007), 815  f., 818, 831; Lipton, Melbourne University Law Review 41 (2018), Advance Copy, 26 ff., 29 ff.; speziell zu kleinen Gesellschaften McQueen, Federal Law Review 27 (1999), 196 ff.; Ville, Federal Law Review 27 (1999), 208 ff., 212; Harris, Oxford Journal of Legal Studies 33 (2013), 343 ff.; zur Verbreitung ab 1844, 1855/56 bzw. in den 1870er und 1880er Jahren und darüber hinaus im Lichte der jeweiligen Reformschritte Guinnane/ Harris/Lamoreaux/Rosenthal, Enterprise and Society 8 (2007), 703 ff.; McQueen, A Social History of Company Law (Fn. 5), S. 50, 96 ff., 127 ff., 177 ff., 217 ff., 321 ff. 128 S. bereits oben nach Fn. 91. 129 Wie Fn. 117. 130 Preußisches Handels-Archiv 1865, Band II, 769. 131 S. oben bei Fn. 96. 132 Dazu Ville, Federal Law Review 27 (1999), 206 ff.; Taylor (Fn. 60), S. 176 ff.; McQueen, A Social History of Company Law (Fn. 5), S. 162 ff.; Lipton, Monash University Law Review 40 (2014), 462.

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Jan Thiessen ter Verbindlichkeit gestattet. In den folgenden Jahren wurde diese Art von Handelsvereinigungen eine förmliche Modesache. […] Im Anfange des Jahres 1866 fing man an, sich davon zu überzeugen, daß viele der limitirten Gesellschaften leichtsinnig gegründet worden waren und sich in Finanzspekulationen der gewagtesten Natur eingelassen hatten. Man begann, sich der Aktien zu entschlagen. […] Die eigentliche Krisis brach aber […] aus, als die weltberühmte Bank Overend Guerney u. Komp., die 9 Monate vorher in eine limitirte Gesellschaft ungewandelt worden war, ihre Zahlungen einstellte und durch ihren Sturz eine große Anzahl anderer Institute nöthigte, ebenfalls die Insolvenz zu erklären. […] In Folge der Krisis und der Enthüllungen über die abenteuerlichen Finanzspekulationen in den Vorjahren ist eine allgemeine Abneigung gegen jede limitirte Gesellschaft eingetreten. Man betrachtet diese Institute als unsolid und giebt den Handelsgesellschaften mit unbeschränkter Verbindlichkeit den entschiedenen Vorzug. […] Diese Abneigung gegen die Aktiengesellschaften ist ebenso übertrieben wie die frühere Vorliebe für dieselben. Die Verhältnisse auf dem Kontinent zeigen täglich, daß solche Gesellschaften vortheilhaft wirken, wenn bei der Gründung die erforderliche Vorsicht und bei der Verwaltung die nothwendige Sorgfalt angewendet wird. Allerdings sind aber auch die Gesetze fast aller Staaten des Kontinents strenger als die Englischen. Wenn die letzteren besser gewesen wären und namentlich die Freiheit der Gründung limitirter Gesellschaften eingeschränkt und die Kontrole der Direktoren durch die Aktionaire mehr organisirt hätten, wenn endlich die Vorschriften über die Konkurse solcher Gesellschaften strenger gewesen wären, so würde unzweifelhaft vielen Uebelständen vorgebeugt worden sein.“133

Als diese etwas selbstgerechte deutsche Generalkritik des Companies Act publiziert wurde, hatte der Kontinent seine eigene Gründerkrise, begünstigt durch eine neue „Freiheit der Gründung limitirter Gesellschaften“ und eine kaum wirksame „Kontrole der Direktoren durch die Aktionaire“, noch vor sich, ebenso wie die nachfolgende Stagnation:134 „Uebertriebene Vorsicht war das charakteristische Merkmal der der Krisis folgenden Zeit.“135 Ein dramatischer Anstieg der Gesellschaftsgründungen vollzog sich dann in Großbritannien wie in Australien in den 1880er Jahren, im Zeichen „stetige[r] Erleichterung und Vergrößerung des Handelsverkehrs mit überseeischen Ländern“136 – und pünktlich zu Oechelhäusers Reichstagsrede.137 In Großbritannien war freilich zur gleichen Zeit eine königliche Kommission damit beschäftigt, die Ursachen einer spürbaren „Handelsstockung“ zu ergründen. Danach hatten „die zahlreichen Aktiengesellschaften, welche aus Spekulationszwecken und ohne Rücksicht auf ein wirkliches Bedürfniß gegründet worden sind und oft ohne Aussicht auf günstige Resultate fortgearbeitet haben, zu einer ungesunden Steigerung der Produktion beigetragen.“138 Die Gesellschaftsgründer ließen sich davon umso weniger entmutigen, als sie zumindest in der Theorie nicht nur sich, sondern der Allgemeinheit nützten: „Die Tendenz zu Gunsten von Genossenschaften mit begrenzter Haftpflicht fährt fort, Ban­ kiers, Fabrikherren, Schiffsrheder und Industriebesitzer, welche vormals unter eigener Verantwortlichkeit zu Wohlstand und Reichthum gelangt waren, zu veranlassen, sich mehr und mehr 133 Preußisches Handels-Archiv 1869, Band 2, 210. 134 S. oben bei Fn. 66. 135 Preußisches Handels-Archiv 1869, Band 2, 210. 136 Deutsches Handels-Archiv 1885, Teil 2, 520. 137 Wie Fn. 10. 138 Deutsches Handels-Archiv 1887, Teil 2, 203.

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Die australische Limited im 19. Jahrhundert mit einem Theil ihres Vermögens zurückzuziehen und das Erbe ihrer Väter oder das in den 50er oder 60er Jahren ins Leben gerufene Unternehmen in eine sogenannte ‚Limited Society‘ umzuwandeln, wodurch der Gesammtreichthum der Nation vielleicht gesicherter erscheint, indem der Einzelne an der materiellen Wohlfahrt des Volkes direkter theilnimmt und im Falle eines Rückschlages der Verlust durch die Mehrheit getragen wird; allein ob die individuelle Arbeit, Thätigkeit und Leistungsfähigkeit durch die Zunahme von Aktiengesellschaften dieser Art gewinnen, steht dahin.“139

Ein „Bericht über die deutschen Interessen in Queensland“ stellte 1882 fest: „[D]ie Kolonie befindet sich in einer vollkommenen Gründerperiode, welche neben manchen Einrichtungen von dauerndem Nutzen auch viele übereilte Unternehmungen zu Tage fördert.“140 Für die australische Wirtschaft kam es auf Konsolidierung an. So ließ sich „nicht verkennen“, dass „die bisherigen Goldfelder […] mehr oder weniger erschöpft sind, und daß, falls nicht neue Entdeckungen stattfinden, die Goldproduk­ tion, soweit sie von einzelnen Bergleuten oder Goldwäschern betrieben werden kann, überhaupt und dauernd im Rückgange begriffen ist. Für Gesellschaften, die über größeres Kapital, ein geübtes technisches Personal und vervollkommnete Maschinen verfügen, bietet sich dagegen in den jetzigen Minendistrikten noch für lange Zeit ein lohnendes Feld der Thätigkeit.“ Zugleich trat die „Wichtigkeit der Mineralienschätze“, neben Gold und Silber auch Schiefer, Kupfer, Zinn und vor allem Kohle, „sowohl für die einheimische Industrie als auch für den auswärtigen Handel […] mit jedem Jahre deutlicher hervor“.141 Neben den Bergbaugesellschaften prägten vor allem Grundstücksgesellschaften und Banken das Bild.142 In dem Maße, wie der Gold(- und Silber‑)rausch verflog, trat der land boom an seine Stelle. So verzeichnete New South Wales für 1881 als „bemerkenswerte[n] Punkt der diesjährigen Geschäftsoperationen“ die „großen Land- und Grundstücksverkäufe“, die „sich auf etwa 4 500 000 Pfd. Sterl. belaufen haben“.143 Im Vertrauen auf einen anhaltenden Wirtschaftsaufschwung stiegen die Grundstückspreise exponentiell an, weil die Investoren mit einem Bevölkerungsanstieg in den Städten rechneten, so dass aus günstigen Agrarflächen Bauland werden sollte. Viele Banken sicherten Kredite mit Hypotheken ab: „In früheren Zeiten haben sich die Banken von Vorschüssen fern gehalten; das Jahr 1880 mit seiner außerordentlichen Anhäufung von Kapital die Nothwendigkeit hervorgerufen, keine gute hypothekarische Sicherheit zurückzuweisen, und sie verleihen jetzt Gelder einfach auf Immobilien von 5 pCt. an, höher auf 3 und sogar 5 Jahre Zeit. Dies ist nun freilich kein legitimes Bankgeschäft und gehört mehr in den Bereich der vielen anderen Kreditanstalten, wie Loan und Investiment, Land Mortgage Companies u. s. w. Wie lange ein solcher Zustand an139 Deutsches Handels-Archiv 1887, Teil 2, 803. 140 Deutsches Handels-Archiv 1882, Teil 2, 450. 141 Zitat zu Neusüdwales, Deutsches Handels-Archiv 1885, Teil 2, 30; dort auch zu Neu­ seeland; zu Victoria und Queensland Deutsches Handels-Archiv 1885, Teil 2, 354 ff. Zur Auffindung neuer Goldlager in Süd- und Westaustralien Deutsches Handels-Archiv 1887, Teil 2, 130. Zu einem ähnlichen Zitat bereits oben bei Fn. 89. 142 Zum folgenden Waugh, University of New South Wales Law Journal 15 (1992), 357  f.; Lipton, Melbourne University Law Review 31 (2007), 822 ff. 143 Deutsches Handels-Archiv 1882, Teil 2, 431.

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Jan Thiessen halten wird, ist natürlich nicht abzusehen, besonders deshalb nicht, weil sich auch die Tendenz Bahn zu brechen scheint, die großen Stationen in Aktiengesellschaften umzuwandeln, was denn hauptsächlich in London und mit Englischem Kapital geschieht, und da solche Besitz­ thümer in der Regel von 250 000 bis 1 000 000 Pfd. Sterl. und darüber in Anspruch nehmen, so läßt sich leicht ermessen, welchen großen Einfluß einige dieser bedeutenden Transaktionen auf unseren Geldmarkt haben müssen. [… D]ie Institute haben so viel Reservekapital und Liegenschaften, welche unter dem Werth angerechnet werden, daß auch bei einigen Jahren geringeren Verdienstes kein Unterschied zu machen nöthig ist.“144

So konservativ rechneten aber nicht alle der hier angesprochenen „Kreditanstalten“. Stiegen die Preise, wurde vielfach der Wertansatz der Immobilien in den Bilanzen erhöht. Sanken die Preise, fand jedoch keine Abschreibung statt. Auf diese Weise konnten die Hypothekenbankgesellschaften aus Einlagen neuer Anleger Dividenden zahlen, die scheinbar bilanziell, aber nicht wirtschaftlich gerechtfertigt waren.145 Hiervon profitierten vor allem die Gründer oder ihnen nahestehende Personen,146 unter ihnen zahlreiche hohe Politiker, die sich lange gegen eine Verschärfung der Gesetze wehrten.147 Drohten die Kurse zu fallen, etwa weil englische Kreditgeber oder Investoren sich zurückziehen wollten, kauften die Gesellschaften eigene Aktien zurück. Für Kapitalanleger ohne Insiderkenntnisse erwies sich die limited liability als Illusion. Häufig waren die Aktien zu hohen Nennwerten ausgegeben worden, die aber nur zu einem geringen Teil eingezahlt worden waren.148 Griff die allgemeine Krise auf 144 Zum Beginn dieser Entwicklung für Queensland Deutsches Handels-Archiv 1882, Teil 2, 155. 145 Waugh, University of New South Wales Law Journal 15 (1992), 376 f. 146 Waugh, University of New South Wales Law Journal 15 (1992), 371. 147 Waugh, University of New South Wales Law Journal 15 (1992), 360, 369, 376, 382 f.; McQueen, Australian Journal of Corporate Law 5 (1995), 205 f.; Lipton, Melbourne University Law Review 31 (2007), 824, 826. 148 Lipton, Melbourne University Law Review 31 (2007), 816 f., 819, 831; Lipton, Melbourne University Law Review 41 (2018), Advance Copy, 27 f., 34. So berichtete bereits das Preußische Handels-Archiv 1863, Band 1, 494, für englische Aktiengesellschaften, „daß nur eine sehr kleine Summe des Kapitals eingerufen ist, und daß man bei den Aktienbanken einen beträchtlichen Theil desselben als ruhende Verbindlichkeiten stehen läßt“. Entsprechend berechnete das Preußische Handels-Archiv 1864, Band 1, 447, „daß die Gesammt-Anzahlungen sich auf kaum neun Prozent des Nominal-Kapitals belaufen“. Das Preußische Handels-Archiv 1865, Band 1, 624, wiederholte, dass die „erstaunlichen Ziffern“ nicht „das angelegte Kapital des Publikums“, sondern „nur das nominelle Kapital angeben, wofür die Unterzeichner sich allerdings verbindlich machten, ohne aber jemals auf volle Einzahlung zu rechnen. Die Gesellschaftsstifter bedienen sich in ihrer Ankündigung dieser hochklingenden Summen, um das Publikum anzulocken und ihm große Hoffnungen vorzuspiegeln[…]. Es mag […] später zu Mißbräuchen Anlaß geben, daß so bedeutende gezeichnete Kapitalien uneingezahlt bleiben, da in Folge dieser geringen Zahlungen vielleicht viele unbemittelte Leute sich verleiten lassen, Aktieninhaber zu werden, ohne zu bedenken, welche, für ihre Mittel vielleicht schwere Verbindlichkeit im Falle eines ungünstigen Resultats auf ihnen lastet.“ Diese Befürchtung hatte sich beim Konkurs der Overend Guerney Bank realisiert (s. oben bei Fn. 132), Preußisches Handels-Archiv 1869, Band 2, 210: „Die Aktionaire hatten nur nöthig, einen kleinen Theil des gezeichneten Betrages baar einzuzahlen, den Rest blieben sie schuldig und nach den ertheilten Versicherungen hatten sie nicht zu befürchten, zu erheblichen Nachzahlungen angehalten zu wer-

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die Gesellschaften über, konnten die Aktionäre, darunter viele Kleinsparer, die nun eingeforderten Beträge nicht fremdfinanzieren, weil die Aktien aufgrund des Kursverfalls, aber auch aufgrund der fortgesetzten Einforderungen ebenso wie etwaiger Immobilienbesitz keinen hinreichenden Wert mehr boten, der versilbert werden oder als Sicherheit hätte dienen können. So kam es zu regelrechten Insolvenzkaskaden.149 Die Gründer oder sogenannte wreckers retteten, was zu retten war, durch übertragende Sanierung, d.h. durch Transfer von assets auf eine neue Gesellschaft, die häufig unter gleicher Firma, aber ohne Schulden das alte Unternehmen fortführte.150 Oechelhäusers ursprünglich vielleicht zutreffende Annahme, es sei „nirgendwo die Erfahrung hervorgetreten, daß die Solidität der geschäftlichen Beziehungen durch diese zahlreichen Limited-Gesellschaften gelitten hätte“,151 wurde also durch die Realität überholt, geht man davon aus, dass die gesetzliche Regelung oder zumindest die geringe Kontrolldichte mitursächlich dafür war, dass eine Spekulationsblase entstand und dass sie platzte.152 4. Dummies and puppets In einem anderen Punkt übertraf die australische Wirklichkeit Oechelhäusers kritischen Bericht sogar. Oechelhäuser hatte von Strohmännern gesprochen, mit denen die eigentlichen Gründer die Mindestgründerzahl auffüllten.153 Im Lichte der historischen Debatten um Einpersonengesellschaften stellt man sich in Deutschland unter Strohmännern reale Personen vor, die unter ihrem korrekten Namen als Gründer auftreten, um die Anteile nach der Gründung an die Geldgeber abzutreten.154 Den berühmtesten Fall des englischen Rechts in puncto Strohmanngründung konnte Oechelhäuser noch gar nicht kennen: Salomon v. A. Salomon & Co. Ltd., deren Gründer Aron Salomon zwar seine Ehefrau und seine fünf Kinder nominell beteiligt hatte, aber alle Fäden der von ihm eingebrachten Schuhmanufaktur in seinen Händen beden. Durch derartige Mittel wurde das Publikum, das sich gern verlocken ließ, und leider auch viele Elemente, die dem Handelsstande nicht angehört haben, zu diesen Unternehmungen heranzogen. […] Die fallirten Gesellschaften fingen an, die gezeichneten und bisher noch nicht eingezahlten Beträge einzufordern und die Aktionaire zeigten wenig Lust, ihre Mittel lediglich zur Befriedigung der Gläubiger an bankerotte Unternehmungen zu zahlen. Zahllose Prozesse und gerichtliche Prozeduren entstanden und noch heute sind die Streitigkeiten keineswegs beendet; Jahre werden jedenfalls noch vergehen, bis alle jene Angelegenheiten ausgetragen und abgewickelt sind.“ 149 Waugh, University of New South Wales Law Journal 15 (1992), 363 ff. 150 Zum Phänomen der wreckers Waugh, Melbourne University Law Review 18 (1991), 172; zu ‚phoenix companies‘ Lipton, Melbourne University Law Review 41 (2018), Advance Copy, 8, 45.  151 Wie Fn. 15. 152 Waugh, University of New South Wales Law Journal 15 (1992), 362, 368 ff., auch speziell zur Bankenregulierung. Zu den ökonomischen und sozialen Folgen der Krise Belich, ­Replenishing the earth. The Settler Revolution and the Rise of the Angloworld, 1783-1939, 2009, S. 356 ff. 153 Wie Fn. 10. 154 S. bereits Fränkel (Fn. 8), S. 290 f.

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hielt.155 Diese Konstruktion wurde erst in letzter Instanz durch das House of Lords gebilligt, das hier parallel zu zeitgenössischen Reformvorschlägen entschied und der bei Oechelhäuser wie in England verbreiteten Ansicht, Strohmanngesellschaften  – „one substantial person and six mere dummies“ oder „mere puppets“  – seien eine „Perversion“ des Gesetzes,156 eine klare Absage erteilte: „If the Legislature intended to prohibit something, you ought to know what that something is. […] In almost every company that is formed the statutory number is eked out by clerks or friends, who sign their names at the request of the promoter or promoters without intending to take any further part or interest in the matter. When the memorandum is duly signed and registered, though there be only seven shares taken, the subscribers are a body corporate ‚­capable forthwith,‘ to use the words of the enactment, ‚of exercising all the functions of an incorporated company.‘ […] If […] Mr. Salomon availed himself to the full of the advantages offered by the Act of 1862, what is there wrong in that?“157

In Australien aber bestand das Problem nicht allein in den „clerks und friends, who sign their names […] without intending to take any further part or interest in the matter“. Vielmehr erfanden die Gründer die zusätzlichen Namen einfach oder traten gar selbst unter einem falschen Namen auf. Es galt geradezu als töricht, den eigenen Namen anzugeben,158 da die Aktionäre, oftmals umherziehende Bergarbeiter, schwierig aufzuspüren waren und in Ruhe den Erfolg oder Misserfolg des Unternehmens abwarten konnten.159 Die Registerbehörden gingen vielfach weder gegen diese auf die Spitze getriebene Form des dummying vor noch gegen die verbreitete Praxis der Ge-

155 Gegen die Reduktion des Falls auf die Person Aron Salomons mit Blick auf die Mitarbeit der Familienmitglieder und die zeitgenössische rechtliche Position von Ehefrauen Spender, Federal Law Review 27 (1999), 217 ff. Grundlegend zu den familiären Hintergründen des Falls Rubin in Adams (Fn. 97), S. 99, 102 ff. 156 Court of Appeal, 28 May 1895, [1895] 2 Ch 323, 339, Lindley L.J.: „[S]uch attempts […] do infinite mischief; they bring into disrepute one of the most useful statutes of modern times, by perverting its legitimate use, and by making it an instrument for cheating honest creditors […], a device to defraud creditors“; 341, Lopes L.J.: „If we were to permit [a scheme like this] to succeed, te should be authorizing a perversion of the Joint Stock Companies Acts. […] It never was intended that the company to be constituted should consist of one substantial person and six mere dummies, the nominees of that person, without any real interest in the company […,] the mere puppets of an individual who, adopting the machinery of the Act, carried on his old business in the same way as before, when he was a sole trader. To legalize such a transaction would be a scandal.“ 157 House of Lords, 16 November 1896, Salomon v. A. Salomon & Co. Ltd., [1897] AC 22, für die Zitate Lord Halsbury LC (S. 32), Lord Magnaghten (S. 51 f.), bezogen auf s. 18, Companies Act 1862. Zum Hintergrund und zur Wirkungsgeschichte McQueen, Canberra Law Review 3 (1996), 13 f.; McQueen, Federal Law Review 27 (1999), 181 ff., 201 f.; Harris, Oxford Journal of Legal Studies 33 (2013), 364 ff.; Lipton, Monash University Law Review 40 (2014), 464 ff., 467 ff. 158 McQueen, Australian Journal of Corporate Law 1 (1991), 34; McQueen, Australian Journal of Corporate Law 5 (1995), 202. 159 Das dummying ist vielfach beschrieben, s. etwa McQueen, Australian Journal of Corporate Law 5 (1995), 106 f.; Lipton, Melbourne University Law Review 31 (2007), 819, 831; Lipton, Melbourne University Law Review 41 (2018), Advance Copy, 35.

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sellschaften, keine Jahresabschlüsse einzureichen.160 Zum Teil verwahrten sich die Registerbehörden sogar ausdrücklich dagegen, dass sie für diesbezügliche Nachforschungen zuständig seien,161 die ihnen – anders als die Registrierung von Gesellschaften und die Hinterlegung von Jahresabschlüssen als solche  – keine Gebühren einbrachten.162 In einem Extremfall löste ein Registerbeamter die Gebührenmarken für bereits registrierte Gesellschaften mit Wasserdampf ab, verkaufte sie illegal und fi­ nanzierte so seine Immobilienspekulationen, nachdem er die Akten der korrekt re­ gistrierten Gesellschaften vernichtet hatte.163 Gab es tatsächlich außenstehende Aktionäre, wurden deren Informationsverlangen seitens der Gesellschaften soweit wie möglich zurückgewiesen.164 Die Gesetzgeber blieben hingegen zumindest auf längere Sicht nicht so untätig, wie Oechelhäuser behauptet hatte. Das „Preußische Handels-Archiv“ berichtete, „bei der bedeutenden Anzahl neuer verpflichtungsbeschränkter (limited liability) Geld- und Industrie-Gesellschaften […] fehlte es natürlich auch nicht an manchen Unternehmungen höchst eigenthümlicher Art; dieselben fanden aber dennoch theilweisen Anklang, so lange nämlich die damit verbundenen leitenden Namen dem Publikum als respektabel und Vertrauen erregend galten, und so lange die Unternehmer Preis-Notirungen mit Prämien ermöglichen konnten. Natürlich wird nur ein kleiner Theil dieser neu geschaffenen Aktien-Unternehmungen den Erwartungen derer entsprechen, welche ihr Geld darin angelegt haben; um größeren Täuschungen vorzubeugen, wurden gesetzliche Bestimmungen nöthig, deren Zweck es ist, die sonst bestandenen Erleichterungen bei der Gründung solcher Aktiengesellschaften einigermaßen zu erschweren.“165

Ein virulentes Problem insbesondere bei den mit hohen Risiken behafteten Berg­ baugesellschaften waren wie gesehen nicht vollständig eingezahlte Anteile.166 Mit der Reform von 1867 gestattete das englische Recht zwar die Herabsetzung der offenen Beträge, sofern die Gesellschaftsgläubiger nicht widersprachen.167 Diese gesellschafterfreundliche Lösung brachte jedoch naturgemäß kein Geld in die Gesellschaftskasse. Da es zweifelhaft war, ob die Gesellschaften ihre Gesellschafter – in deutscher Terminologie  – ihrer Anteile verlustig erklären und die Anteile versteigern durften, schrieb die Kolonie Victoria dieses Verfahren 1871 ausdrücklich fest. Mit dem Instrument der „No-liability Companies“ führte Victoria zugleich ein Prozedere ein, das im 160 McQueen, Australian Journal of Corporate Law 1 (1991), 25, 27, 34, 37 ff.; Waugh, University of New South Wales Law Journal 15 (1992), 370 f. 161 McQueen, Australian Journal of Corporate Law 1 (1991), 39 ff.; McQueen, Australian Journal of Corporate Law 5 (1995), 207 ff. 162 Lipton, Melbourne University Law Review 31 (2007), 823 f. 163 McQueen, Australian Journal of Corporate Law 1 (1991), 39. 164 McQueen, Australian Journal of Corporate Law 1 (1991), 32 f.; Waugh, University of New South Wales Law Journal 15 (1992), 371, 377.  Zum Niedergang der “shareholder democracy” McQueen, A Social History of Company Law (Fn. 5), S. 195 ff. 165 Preußisches Handels-Archiv 1865, Band 1, 621; ähnlich Preußisches Handels-Archiv 1866, Band 2, 64. 166 S. oben bei Fn. 91, 109 und 148; außerdem McQueen, Federal Law Review 27 (1999), 195. 167 An Act to amend ‚The Companies Act, 1862‘, 20 August 1867, 30 & 31 Vict. c. 131, ss. 9, 13; näher dazu Lipton, Monash University Law Review 40 (2014), 462 f.

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deutschen GmbH-Gesetz als Abandon bekannt wurde und hier wie dort der Kaduzierung an die Seite gestellt wurde.168 Der Gesellschafter konnte der Haftung entrinnen, indem er den eingeforderten Betrag nicht zahlte, im „No-liability System“ nicht verklagt werden konnte und so den Anteil preisgab. Wie später in Deutschland wurden in Australien Regeln von Bergbaugesellschaften weiterentwickelt, den englischen cost book-Gesellschaften169 und den bergrechtlichen Gewerkschaften in Deutschland, und mit denen der Aktiengesellschaften verknüpft.170 Die Informations- und Rechnungslegungspflichten der Bergbaugesellschaften wurden verschärft. Konnten die Gesellschafter jederzeit ihre nicht volleingezahlten Anteile preisgeben, wenn sie die eingeforderten Beträge nicht aufbringen konnten, verminderte dies den Anreiz, sich hinter Decknamen zu verstecken. Allerdings hatten unzureichende administrative Vorkehrungen zur Kontrolle der Gründung das dummying erst begünstigt.171 Hinzu kam, dass im Vergleich zum Mutterland sich die australischen Kolonien durch eine größere Mobilität von Menschen – Gründern, Investoren, Gläubigern – auf größerer Fläche auszeichneten, welche notgedrungen nicht die gleiche administrative Infrastruktur aufweisen konnte wie England.172 Nachdem die Immobilienblase geplatzt war,173 übernahmen die australischen Kolonien entweder bereits bestehende englische Regeln, oder aber sie rezipierten englische Reformvorschläge noch vor deren Einführung in England.174 Zunächst erleichterten Victoria und New South Wales die freiwillige Liquidation von insolvenzbedrohten Gesellschaften, die einer zwangsweisen Liquidation und der damit verbundenen Frage nach Missmanagement entgehen konnten, wenn eine Mehrheit der Gläubiger mit der freiwilligen Liquidation einverstanden waren.175 Sanierung statt Zerschlagung war das erklärte, auch in Deutschland immer wieder angestrebte, auch in Australien

168 An Act for the Incorporation and Winding-up of Mining Companies (Mining Companies Act 1871), 23 November 1871, 35 Vict No. 409. 169 S. oben bei Fn. 109. 170 Entwurf eines Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung nebst Begründung und Anlagen, Amtliche Ausgabe, 1891, S. 38 f. 171 McQueen, Australian Journal of Corporate Law 1 (1991), 25, 27, 34 ff., 38 ff.; McQueen, Australian Journal of Corporate Law 5 (1995), 197 f. 172 McQueen, Australian Journal of Corporate Law 1 (1991), 25; McQueen, Australian Journal of Corporate Law 5 (1995), 192 f.; Lipton, Melbourne University Law Review 31 (2007), 822.  Zur frühen englischen Diskussion um Kontrolle und Publizität McQueen, Federal Law Review 27 (1999), 192 ff. 173 Dazu Waugh, University of New South Wales Law Journal 15 (1992), 363 ff. 174 McQueen, Australian Journal of Corporate Law 1 (1991), 36 ff.; Waugh, University of New South Wales Law Journal 15 (1992), 381 ff., 385 f.; McQueen, Australian Journal of Corporate Law 5 (1995), 205 ff.; Lipton, Melbourne University Law Review 31 (2007), 824 ff. 175 An Act to amend the Companies Act 1890 (Voluntary Liquidation Act 1891), 7 December 1891, Victoria, 55 Vict No. 1220; An Act to facilitate Compromises and Arrangements between Joint Stock Companies, Associations, or Societies liable to be wound up under the ‚Companies Act‘, and their creditors, and to amend the ‚Companies Act‘ and the ‚­Friendly Societies Act of 1873 (Joint Stock Companies Arrangement Act 1891), New South Wales, 12 January 1892, 55 Vict. No. 9.

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nicht immer erreichte Ziel.176 Nach dem reformierten Companies Act von 1896177 musste die Gründung umfassender dokumentiert und publiziert werden, Jahresabschlüsse mussten eingereicht und geprüft werden, irreführende Kapitalmarktinformationen sowie die Kreditbesicherung mit eigenen Aktien178 wurden verboten. Zugleich erkannte der Companies Act mit der proprietary company eine geschlossene Kapitalgesellschaft an, die sich nur durch ihre Mitglieder finanzieren durfte, aber im Gegenzug von den sonst geltenden strengen Rechnungslegungs- und Abschlussprüfungsvorschriften suspendiert war. Wiederum war die Kolonie Victoria hier schneller als das Mutterland.179

IV. Entangled Corporate Legal History Das deutsche Gesellschaftsrecht verdankt seine heutige Gestalt vielfach der Rezeption von oder der Auseinandersetzung mit ausländischen Vorbildern.180 Rechtsvergleichung prägte bereits die Kodifikationsbestrebungen vom Handelsgesetzbuchentwurf von 1849181 bis zur Aktienrechtsnovelle von 1884.182 Lediglich die GmbH wurde oft als deutsche Erfindung deklariert,183 als habe der Gesetzgeber von 1892 Oechelhäusers Postulat von 1884 eingelöst, „Organisationen aus[zubilden], die auf deutschem 176 Näher zu dieser Gesetzgebung Waugh, Melbourne University Law Review 18 (1991), 170 ff.; Lipton, Melbourne University Law Review 31 (2007), 825 f. Zu Deutschland s. Falk, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 131 (2014), 266, 307 ff. 177 An Act for further to amend the Companies Act 1890 and for other purposes (Companies Act 1896), 24 December 1896, 60 Vict. No. 1482. 178 Den eigentlichen Erwerb eigener Aktien hatte das House of Lords zuvor untersagt, House of Lords, 11 July 1887, Trevor v. Whitworth, [1887] 12 AC 409. 179 McQueen, Australian Journal of Corporate Law 1 (1991), 33; Waugh, University of New South Wales Law Journal 15 (1992), 384; McQueen, Federal Law Review 27 (1999), 201; zur Anerkennung der private company McQueen, A Social History of Company Law (Fn. 5), S. 233 ff., 268 ff.; Harris, Oxford Journal of Legal Studies 33 (2013), 364 ff. Zum Fortgang der australischen Gesetzgebung im 20. Jahrhundert McQueen, University of New South Wales Law Journal 15 (1992), 1, 15 ff. 180 Grundlegend dazu Hein, Die Rezeption US-amerikanischen Gesellschaftsrechts in Deutschland, 2008, S. 63 ff. 181 Entwurf eines allgemeinen Handelsgesetzbuches für Deutschland. Von der durch das Reichsministerium der Justiz niedergesetzten Commission, 1849. Dessen Motive führen für nahezu jeden Artikel vergleichbare Normen vorausgegangener deutscher und euro­ päischer Handelsgesetzbücher und Entwürfe auf. 182 S. die fast vierzigseitige Anlage A. „Ausländisches Aktienrecht“ zum Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Kommanditgesellschaften auf Aktien und die Aktiengesellschaften, vom 7. März 1884, abgedruckt in Schubert/Hommelhoff, Hundert Jahre modernes Aktienrecht. Eine Sammlung von Texten und Quellen zur Aktienrechtsreform 1884 mit zwei Einführungen, 1985, S. 522 ff. Das dort dokumentierte ausländische Aktienrecht wurde in der eigentlichen Entwurfsbegründung (a.a.O., S. 407 ff.) intensiv verarbeitet, s. die Auswertung bei Fleckner in Bayer/Habersack (Fn. 62), S. 1013 Fn. 26. 183 S. die Nachweise in Thiessen (Fn. 8), S. 446 Fn. 3.

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Boden gewachsen sind“.184 Tatsächlich ist aber auch diese Rechtsform nicht denkbar ohne den Anstoß, den die britisch-koloniale Praxis und deren Nachahmung in Deutschland der deutschen Reformdebatte gegeben haben. Deutschland ging lediglich besonders früh daran, diese – von Oechelhäuser zutreffend beschriebene – Praxis ausdrücklich zu legalisieren. Auf diese Weise bot das GmbH-Gesetz ein Muster, das andere Rechtsordnungen übernehmen oder adaptieren konnten. Die Rezeption der deutschen GmbH im Ausland stellte wiederum den deutschen Gesetzgeber vor die Frage, ob er sein Modell weiterentwickeln solle.185 Großbritannien gehörte freilich wie fast der gesamte Rechtskreis des common law186 zu den Ländern, die sich nicht oder jedenfalls nicht ausdrücklich an der deutschen GmbH orientierten.187 Ironischerweise kann der große wirtschaftliche Vorteil, den Oechelhäuser in den „kleinen Pseudo-Aktiengesellschaften“ englisch-kolonialer Provenienz sah,188 auch als gravierender Nachteil gedeutet werden, da die freundliche Haltung des House of Lords von 1896 und des Companies Act von 1907 zu kleinen private companies die Verbreitung von großen Aktiengesellschaften im Vergleich zu den Vereinigten Staaten und Deutschland gebremst haben mag.189 Dabei ist zu berücksichtigen, dass das hoch­ gelobte deutsche GmbH-Gesetz von 1892 ein in damaliger Kaufkraft enorm hohes Mindeststammkapital verlangte, welches das rechnerische Mindestgrundkapital der deutschen Aktiengesellschaft nach der Novelle 1884 um das vier- bis zwanzigfache übertraf.190 Gesellschaftsrechtsvergleichung als Vergleich auch der Unternehmenspraxis war in Deutschland nur möglich, weil jedenfalls bis 1914,191 zunehmend eingeschränkt bis 1933 oder sogar bis 1939192 globale Handelsbeziehungen bestanden, innerhalb derer die Unternehmer und ihre organisierten Vertreter die Praxis ihrer Handelspartner und Konkurrenten genau beobachteten und sich die Ministerialbürokratie darüber unterrichten konnte. Mit mehr oder weniger großen Phasenverschiebungen waren alle Länder, zu denen Deutschland intensive Handelsbeziehungen unterhielt, von ähnlichen Konjunkturen und Krisen geprägt.193 Es liegt deshalb nahe, dass Konflikte und Lösungen einander ähneln und sich die in der Rechtsvergleichung oft beschriebene praesumptio similitudinis bestätigt.194 184 Wie Fn. 10. 185 Umfassend dazu Fleischer (Fn. 8), Einleitung Rz. 82 ff. 186 Zu den Verflechtungen speziell mit Blick auf Limited Liability McQueen, Australian Journal of Corporate Law 5 (1995), 187 f. 187 Guinnane/Harris/Lamoreaux/Rosenthal, Enterprise and Society 8 (2007), 705. 188 Wie Fn. 15. 189 Ville, Federal Law Review 27 (1999), 212 ff. 190 Thiessen (Fn. 8), S. 454 ff. 191 Zur Position Deutschlands in der globalisierten Wirtschaft vor 1914 Petersson in Conrad/ Osterhammel (Fn. 44), S. 49 ff. 192 Spoerer/Streb, Neue deutsche Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, 2013, S. 71 ff.; Henning, Deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Teil 1, 2003, S. 386 ff., Teil 2, 2013, S. 325 ff. 193 Plumpe/Dubisch, Wirtschaftskrisen. Geschichte und Gegenwart, 2010, S. 54 ff. 194 Vgl. Michaels in Reimann/Zimmermann (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, 2006, S. 369 ff.

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Die australische Limited im 19. Jahrhundert

Das Beispiel Australien zeigt aber auch einige Besonderheiten sowohl des kolonialen Zeitalters als auch solche der australischen Kolonien. Es liegt auf der Hand, dass Unternehmer in den Kolonien unter den gleichen rechtlichen Bedingungen agieren (und an den jeweiligen Börsen notiert werden) wollten wie im Mutterland.195 Dazu gab es im Gesellschaftsrecht zwei Wege. Entweder die Gesellschaft wurde in England gegründet. Dann unterlag sie, auch wenn sie in Australien tätig war, den vertrauten Anforderungen des englischen Rechts, das grundsätzlich in den australischen Kolonien galt.196 Oder die Gesellschaft wurde nach dem Recht der jeweiligen Kolonie gegründet, das ohne weiteres galt, soweit es nicht dem englischen Recht widersprach.197 Dann unterlag sie zwar dem Recht der jeweiligen Kolonie. Doch war es angesichts der engen Beziehungen zwischen Mutterland und Kolonie sowohl auf seiten der Gesetzgebung als auch in Unternehmerkreisen erwünscht, dass das englische und das koloniale Recht übereinstimmten.198 Dies galt insbesondere dann, wenn konkurrenzfähige eigene Lösungen im Recht der Kolonie oder konkurrenzfähige heimische Investoren fehlten.199 Für international ausgerichtete australische Produzenten empfahl es sich ohnehin, mit einer englischen Limited in England selbst und in anderen Kolonien mehr Akzeptanz zu finden als mit einer unbekannten kolonialen Rechtsform.200 Selbstverständlich war dies jedoch nicht. Zwischen „England und seinen Kolonien“ bestand keine rechtliche Vollharmonisierung. Die australischen Kolonien konnten neues (nicht widersprechendes) eigenes Recht setzen und machten hiervon auch Gebrauch. Dieses eigene Recht war zwar durchaus nicht immer pure Innovation, keineswegs aber auch bloße Kopie des englischen Rechts, insbesondere dann, wenn das noch geltende englische Recht den australischen Bedürfnissen nicht genügte.201 Fehlte es an tradierten Erwartungen an ehrbare Kaufleute, die für ihre Schulden selbst einzustehen hätten, so konnten Vorbehalte gegenüber beschränkter Haftung in der

195 McQueen, Australian Journal of Corporate Law 1 (1991), 24 f.; McQueen, Australian Journal of Corporate Law 5 (1995), 189 ff., 194. 196 An Act to provide for the Administration of Justice in New South Wales and Van Diemen’s Land, and for the more effectual Government thereof, and for other Purposes relating thereto (Australian Courts Act 1828), 25 July 1828, 9 Geo. IV c. 83: „be it further enacted that all laws and statutes in force within the realm of England at the time of the passing of this act […] shall be applied in the administration of justice in the courts of New South Wales and Van Diemen’s Land respectively so far as the same can be applied within the said colonies“. 197 Klargestellt durch An Act to remove Doubts as to the Validity of Colonial Laws, 29 June 1865, 28 & 29 Vict. c. 63. 198 Für das 20. Jahrhundert McQueen, Australian Journal of Corporate Law 1 (1991), 42 f. 199 McQueen, Australian Journal of Corporate Law 1 (1991), 25; McQueen, Australian Journal of Corporate Law 5 (1995), 194. 200 McQueen, Australian Journal of Corporate Law 1 (1991), 31; s. aber McQueen, Australian Journal of Corporate Law 5 (1995), 191 f. mit Fn. 8 f. Die dort zitierte Quelle sah die Inkorporierung in England oder den australischen Kolonien als gleichwertig an. 201 McQueen, Australian Journal of Corporate Law 1 (1991), 34; McQueen, Canberra Law Review 3 (1996), 10 ff.; Lipton, Melbourne University Law Review 31 (2007), 831; Lipton, Melbourne University Law Review 41 (2018), Advance Copy, 34 ff.

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Kolonie früher überwunden werden als in England.202 Einer der wichtigsten Förderer der Limited, der Vizepräsident des britischen Board of Trade Robert Lowe, hatte fast zehn Jahre in New South Wales als Anwalt praktiziert und brachte den „un-englischen“ Limited-Gedanken bei seiner Rückkehr nach England mit, zum Leidwesen konservativer Kritiker.203 War ein Wirtschaftszweig wie der Bergbau auf viele Anleger angewiesen, fehlte es aber an administrativen Strukturen, um außenstehende Anleger vor betrügerischen Gründern zu schützen,204 so konnten daraus besondere Formen wie die no liability company resultieren.205 Dominierte die „individualistische Ak­ tiengesellschaft“206 gegenüber dem Kapitalsammelbecken, wurde die proprietary company anerkannt.207 Die australischen Kolonien wurden zum Testgelände für neues Recht, das sich im Mutterland noch im Stadium einer diskutierten Option befand, also die Vorbildrolle vorwegnahm. Für eine solche Funktion war Australien als ein Ort prädestiniert, an welchem Europäer heimisch werden konnten – „[d]as Klima ist eines der gesundesten der Erde“.208 So verdrängten die Kolonialherren zwar wie in jeder Kolonie die einheimische Bevölkerung und zerstörten deren sozioökonomische Strukturen, zum Teil im Lichte eines missionarischen Zivilisierungspathos.209 Sie zogen aber  – anders als Kolonialherren in den tropischen Regionen Zentralafrikas  – nicht einfach weiter, nachdem sie die Ressourcen ausgebeutet hatten.210 Mit der dauerhaften europäischen Besiedelung entstanden ähnliche politische, wirtschaftliche 202 S. oben bei Fn. 121. 203 Andrews, Canberra Law Review 3 (1996), 15; s. auch McQueen, Federal Law Review 27 (1999), 187: „Lowe’s extreme liberalism“. 204 S. oben bei Fn. 171. 205 S. oben bei Fn. 168. 206 Wie Fn. 10. 207 S. oben bei Fn. 179. 208 Deutsches Handels-Archiv 1882, Teil 2, 433. S. dagegen den „Handelsbericht aus Lagos (Guinea) für 1880, Deutsches Handelsarchiv 1881, Band 2, 296: „Der Gesundheitszustand unter der weißen Bevölkerung ist kein günstiger zu nennen; es starben 14 Europäer.“ S.  dann Deutsches Handels-Archiv 1883, Teil 2, 529: „Der Gesundheitszustand war im verflossenen Jahr ein sehr gutere [sic][.] Die Zahl der hier anwesenden Deutschen betrug nach dem Census Ende 1882 35.“ Wie viele Angehörige der indigenen Bevölkerung lebten oder starben, ist hier nicht verzeichnet. Zur Wahrnehmung der afrikanischen Landschaft und des Klimas in der deutschen Kolonialbewegung Kundrus (Fn. 75), S. 138 ff., 162 ff. 209 Für Indien Rungta, The Rise of Business Corporations in India 1851-1900, 1970, S.  X, 212 ff.; daran anknüpfend McQueen, Australian Journal of Corporate Law 5 (1995), 188 ff.; McQueen, Canberra Law Review 3 (1996), 10 f.; näher insbesondere zu Australien Morgan (Fn. 72), S. 23 ff.; Lester/Dussart, Colonization and the Origins of Humanitarian Governance. Protecting Aborigines across the Nineteenth-Century British Empire, 2014, S. 21 ff., 61 ff., 91 ff., 104 ff.; Jupp (Fn. 72), S. 41 ff. Erst spät hat Australien einen Aboriginal Councils and Associations Act (Act No. 186 of 1976) verabschiedet, welcher es der indigenen Bevölkerung ermöglicht, politische Repräsentanz und Selbstverwaltung in der Form einer Aboriginal Corporation zu organisieren, heute Corporations (Aboriginal and Torres Strait Islander) Act 2006 (CATSI Act), Act No. 124 of 2006; näher Mantziaris, Federal Law Review 27 (1999), 304 ff. 210 Zu ökonomischen Erklärungsansätzen dieses Phänomens Lipton, Melbourne University Law Review 31 (2007), 829.

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und nicht zuletzt rechtliche Strukturen wie in Europa selbst, welche die Unabhängigkeit der vormaligen Kolonien überdauerten.211 ‚Der Westen‘, der aus eurozentrischer Perspektive einen fernöstlichen Kontinent wie Australien einschließt, ist verflochten durch gemeinsame Handelsbeziehungen, aber auch durch gemeinsame rechtliche Lernprozesse über Konjunkturen, Krisen und Jahrhundertgrenzen hinweg.212 Wenn die Lösungen ungeachtet ähnlicher Probleme sich im einzelnen doch unterscheiden, so beruht dies nicht allein auf ökonomischen Anreizen, sondern auch auf vergänglichen historischen Zufällen, die dann aber zu langandauernden Pfadabhängigkeiten führen können.213 Eine ‚Entangled Corporate Legal History‘ kann die Fäden enger Verflechtungen ebenso sichtbar machen wie die Stellen, an denen das Netz weniger dicht geknüpft ist. Eine solche „Legal History in a Global Perspective“214 setzt aber wenigstens voraus, dass an vielen Orten der Welt zu ähnlichen Fragen geforscht wird, damit ein Austausch stattfinden kann.215 Unter diesem Aspekt ist Australien geradezu ein Musterbeispiel für intensive gesellschaftsrechtshistorische Forschung. Zum zehnjährigen Jubiläum des GmbH-Reformgesetzes „MoMiG“ sinnierte Ulrich Seibert: „ist die Zeit so schnell vergangen? […] Was wird die Zukunft bringen? Kann sich das GmbH-Gesetz […] bis zur nächsten großen Reform gemütlich zurücklehnen – bzw. der Gesetzgeber und sein Gesetzgebungsreferent? Wohl kaum, die Zeiten sind schnelllebiger geworden.“216 Das deutsche Gesellschaftsrecht, das sich in den letzten vier Jahrzehnten sehr stark an europäischen Richtlinien und europäischen Gerichtsentscheidungen zu europäischen Grundfreiheiten orientiert hat, die gemeinsame Grundlagen geschaffen und nationale Gewissheiten erschüttert hat, wird im Angesicht des Brexit ähnliche Orientierungsfragen beantworten müssen, wie sie sich Gesetzesreformern im späten 19. Jahrhundert gestellt haben. Die Antworten werden andere sein, doch wird sich die Pendelbewegung von Regulierung und Deregulierung217 fortsetzen – je nach Zeitfenster.

211 Vgl. Jupp (Fn. 72), S. 33 ff. 212 McQueen, Australian Journal of Corporate Law 5 (1995), 187 f. 213 Dazu McQueen, Australian Journal of Corporate Law 1 (1991), 27 ff.; McQueen, Canberra Law Review 3 (1996), 7 ff.; McQueen, A Social History of Company Law (Fn. 5), S. 8, 21 f.; Andrews, Canberra Law Review 3 (1996), 22 f.; Lipton, Melbourne University Law Review 31 (2007), 831 ff.; Lipton, Melbourne University Law Review 41 (2018), Advance Copy, 36 ff., 39 ff. 214 Dazu Duve in Duve (Hrsg.), Entanglements in Legal History: Conceptual Approaches, 2014, S. 55 ff. 215 Weitergehend fordert Duve, International Journal of Legal Information 44 (2016), 32 f., „transnational legal scholarship“. 32 f. 216 Seibert, GmbHR 2018, R325 f. 217 Thiessen, ZGR 2015, 399 ff.

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Anpassung des Ausgleichs der außenstehenden Aktionäre bei grundlegender Verbesserung der Ertragslage? Inhaltsübersicht I. Fragestellung II. Grundlegende Verbesserung der Ertragslage als Störung der Geschäftsgrundlage? 1. Abgrenzung zu anerkannten Fallgruppen der Vertragsanpassung 2. Meinungsstand a) Keine eindeutigen Präzedenzfälle in der Rechtsprechung b) Uneinheitliches Meinungsbild im Schrifttum 3. Stellungnahme a) Ausgangspunkt: Gesetzliche Risikozuweisung als entscheidendes Kriterium b) § 297 Abs. 1 Satz 2 AktG als Beleg für eine eingeschränkte Reichweite des Stichtagsprinzips?

c) Stichtagsprinzip als abschließende ­Risikozuweisung 4. Ergebnis III. Pflicht des Vorstands zur Kündigung des Unternehmensvertrags? 1. Ausgangslage 2. Mögliche Anhaltspunkte für eine Pflicht des Vorstands zur Kündigung 3. Verpflichtung des Vorstands auf das ­Unternehmensinteresse a) Begrenzte Tragweite des § 299 AktG b) Zum Argument der „Symmetrie der Vertragsbeziehung“ 4. Konsequenzen aus der Bindung an das Unternehmensinteresse IV. Ergebnisse

I. Fragestellung Der Ausgleich, den die außenstehenden Aktionäre nach § 304 AktG bei einem Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag beanspruchen können, wird bekanntlich auf Grundlage einer Unternehmensbewertung zu einem bestimmten Bewertungsstichtag festgelegt. Maßgeblich ist dabei der Zeitpunkt, an dem die Hauptversammlung der Gesellschaft über die Zustimmung zu dem Unternehmensvertrag beschließt.1 Dieses sog. Stichtagsprinzip hat zur Folge, dass Entwicklungen, die erst nachträglich eintreten und in den Verhältnissen am Stichtag auch noch nicht erkennbar angelegt waren, für die Angemessenheit des Ausgleichs jedenfalls grund­sätzlich irrelevant sind.2 * Dem Beitrag liegen in Teilen Überlegungen zugrunde, die Verf. ursprünglich zu einer Anfrage aus der Praxis entwickelt hat. 1 Arg. § 305 Abs. 3 Satz 2 AktG, ganz h.M.; OLG Frankfurt a.M. AG 2002, 404; OLG München AG 2008, 28, 29; OLG Stuttgart AG 1994, 564; Hüffer/Koch, 13.  Aufl. 2018, §  304 AktG Rz. 10; Stephan in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 304 AktG Rz. 78 m.w.N. 2 Zum Stichtagsprinzip statt vieler BGHZ 138, 136, 139 f.; Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 304 AktG Rz. 10; eingehend Hüttemann/Meyer in Fleischer/Hüttemann, Rechtshdb. Unternehmensbewertung, 2015, § 12 Rz. 1 ff.; Riegger/Wasmann in FS Goette, 2011, S. 433 ff.; Ruthardt/Hachmeister, WPg 2012, 451 ff. (dort auch zu der schwierigen Abgrenzung, welche

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Vor diesem Hintergrund mag die im Titel dieses Beitrags aufgeworfene Frage, ob die außenstehenden Aktionäre u.U. doch eine Anpassung des Ausgleichs verlangen können, wenn sich die Ertragslage der Gesellschaft gegenüber der ursprünglichen Pro­ gnose grundlegend verbessert, auf den ersten Blick überraschen. Indes finden sich im Schrifttum einzelne Stellungnahmen, die einen solchen Anpassungsanspruch, der sich aus den Grundsätzen der Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) ergeben soll, befürworten.3 Dass diese Rechts­auffassung Begehrlichkeiten der außenstehenden Aktionäre weckt, wenn sich im Lauf der Zeit der Unternehmenswert drastisch erhöht, wird niemanden verwundern. So wird etwa, um ein prominentes Beispiel zu nennen, in den Hauptversammlungen der AUDI AG mit steter Regelmäßigkeit die Forderung erhoben, den ursprünglich im Jahr 1971 festgelegten und im Jahr 1990 von der Volkswagen AG freiwillig erhöhten Ausgleich deutlich anzuheben, da der aktuelle Unternehmenswert von AUDI – „Dieselgate“ hin oder her – heute von ganz anderer Dimension ist als seinerzeit.4 Dieser Befund mag es rechtfertigen, im Folgenden die Frage des Anpassungsanspruchs genauer unter die Lupe zu nehmen. Mit ihr eng verbunden ist die weitere Frage, ob der Vorstand der Gesellschaft im Interesse der außenstehenden Aktionäre ggf. verpflichtet ist, von einem bestehenden Recht zur Kündigung des Unternehmensvertrags Gebrauch zu machen, wenn sich die Wertverhältnisse grundlegend verschoben haben. Auch darauf wird in den nachfolgenden Überlegungen, die Ulrich Seibert mit allen guten Wünschen gewidmet sind, einzugehen sein.

II. Grundlegende Verbesserung der Ertragslage als Störung der Geschäftsgrundlage? 1. Abgrenzung zu anerkannten Fallgruppen der Vertragsanpassung Im Ausgangspunkt ist anerkannt, dass die außenstehenden Aktionäre in bestimmten Fallkonstellationen eine Anpassung des Ausgleichs verlangen können.5 Zu diesen anerkannten Fallgruppen zählen vor allem Kapitalmaßnahmen, die den festgelegten Ausgleich beeinträch­tigen. So besteht etwa Einigkeit, dass in Fällen, in denen ein variabler, an der Dividende der Obergesellschaft orientierter Ausgleich vereinbart ist (§ 304 Abs. 2 Satz 2 AktG), die außen­stehenden Aktionäre vor einer Verwässerung ihres Anspruchs zu schützen sind. Sofern die Obergesellschaft den variablen Ausgleich dadurch beeinträchtigt, dass sie im Rahmen einer Kapitalerhöhung neue Aktien Entwicklungen in Anwendung der sog. Wurzeltheorie als bereits in den Verhältnissen am Stichtag „angelegt“ anzusehen sind); kritisch Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktienund GmbH-Konzernrecht, 8. Aufl. 2016, § 304 AktG Rz. 27 f. 3 S. dazu im Einzelnen unter II. 2. b) bb). 4 S. etwa den Bericht von der ordentlichen Hauptversammlung 2018 auf www.boerse-online. de vom 10.5.2018: „Audi will bei E-Autos Nummer 1 werden – Freie Aktionäre kritisieren Mager-Dividende“. 5 Überblick über die anerkannten Fallgruppen bei Stephan in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, §  304 AktG Rz.  119  ff.; Koppensteiner in KölnKomm. AktG, 3.  Aufl. 2004, §  304 AktG Rz. 82 ff.

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unter Wert ausgibt und dadurch den auf die einzelne Aktie entfallenden Gewinn schmälert, wird daher im Schrifttum ganz überwiegend ein Anpassungs­anspruch bejaht.6 Ebenso ist anerkannt, dass die außenstehenden Aktionäre bei einem variablen Ausgleich durch entsprechende Anpassung davor geschützt werden müssen, dass sich ihr Anspruch durch eine missbräuchliche Dividendenpolitik der Obergesellschaft wider Treu und Glauben verringert.7 Aus diesen anerkannten Fallgruppen der Vertragsanpassung lässt sich jedoch für die hier interessierende Frage nichts ableiten. In den genannten Fällen geht es jeweils darum, den ursprünglich festgelegten Ausgleich in seiner wirtschaftlichen Substanz zu erhalten und vor Verwässerung zu schützen. Im vorliegenden Kontext geht es hingegen um die ganz andere Frage, ob die außenstehenden Aktionäre zusätzlich zu dem ursprünglich festgelegten Aus­gleich verlangen können, an einer nachträglich eingetretenen grundlegenden Verbesserung der Ertragslage zu partizipieren. 2. Meinungsstand Blickt man auf den Meinungsstand zu dieser Frage, zeigt sich ein uneinheitliches Bild. a) Keine eindeutigen Präzedenzfälle in der Rechtsprechung In der Rechtsprechung finden sich bisher keine eindeutigen Präzedenzfälle. Soweit ersichtlich ist lediglich in einer Entscheidung des OLG Stuttgart die Frage aufgeworfen worden, ob bei „völlig unvorhersehbaren“ Veränderungen der Ertragslage eine Anpassung des Ausgleichs wegen Störung der Geschäftsgrundlage (§  313 BGB) in Betracht kommt.8 Das OLG hat die Frage offengelassen, da in dem konkreten Fall derartige Umstände nicht vorlagen. Es hat aber immerhin erkennen lassen, dass allein der Umstand, dass sich die Erträge der Gesellschaft wesentlich besser entwickeln als bei der Berechnung des Ausgleichs prognostiziert, für sich genommen keine Anpassung rechtfertige. Eine solche Anpassung sei allenfalls dann in Betracht zu ziehen, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die tatsächliche Entwicklung auch ohne den Abschluss des Unternehmensvertrags so stattgefunden hätte; denn der Ausgleich solle die außenstehenden Aktionäre im Ergebnis (nur) so stellen, wie sie stünden, wenn der Vertrag nicht zustande gekommen wäre.9

6 Abgeleitet wird dieser Anspruch allerdings meist nicht aus § 313 BGB, sondern aus einer ergänzenden Vertragsauslegung oder aus dem Rechtsgedanken des § 216 Abs. 3 AktG; statt vieler Stephan in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 304 AktG Rz. 119, 126 ff.; Schnorbus, ZHR 181 (2017), 902, 937 ff.; jeweils mit zahlreichen Nachw. und dem zutr. Hinweis, dass ein die Grenzen des §  186 Abs.  3 Satz  4 AktG wahrender Kursabschlag noch keinen Anpassungsanspruch auslöst. 7 BVerfG NJW-RR 2000, 842, 843  – Hartmann & Braun (Rechtsgedanke des §  162 Abs.  1 BGB); Schnorbus, ZHR 181 (2017), 902, 944 ff. m.w.N. 8 OLG Stuttgart AG 2004, 43, 47 f. 9 OLG Stuttgart AG 2004, 43, 48. Zu der Maßgabe, dass es auf die Ertragsaussichten ohne den Vertrag ankommt, s. noch unter II. 3. c) bb).

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Wenig ergiebig ist daneben eine Entscheidung des OLG Frankfurt a.M., die im vorliegenden Zusammenhang bisweilen angeführt wird. Darin wird  – ausgehend vom Stichtagsprinzip – hervorgehoben, dass die außenstehenden Aktionäre „keinen Anspruch darauf [haben], dass der jährliche Ausgleich mit einer Anpassungsklausel versehen (…) wird.“10 Ob bei außer­gewöhnlichen Wertveränderungen ausnahmsweise doch Raum für eine Anpassung nach den Grundsätzen der Störung der Geschäftsgrundlage sein könnte, wird in der Entscheidung weder erwogen noch ausgeschlossen. b) Uneinheitliches Meinungsbild im Schrifttum aa) Im Schrifttum ist die Auffassung verbreitet, dass auch eine von der ursprünglichen Prog­nose nachhaltig abweichende Entwicklung der Ertragslage keine Anpassung wegen Störung der Geschäftsgrundlage zu rechtfertigen vermag.11 Zur Begründung wird im Wesentlichen angeführt, dass es wegen des in § 304 AktG verankerten Stichtagsprinzips nur auf die Ertragskraft der Gesellschaft zum Stichtag ankomme und unvorhersehbare künftige Ertrags­entwicklungen deshalb schon nicht zur Geschäftsgrundlage des Beherrschungs- und Gewinn­abführungsvertrags gehörten. Zudem wird auf die praktische Schwierigkeit verwiesen, von der tatsächlichen Ertragsentwicklung im Vertragskonzern auf die hypothetische Entwicklung der Gesellschaft ohne den Unternehmensvertrag zu schließen.12 In dieselbe Richtung weisen mehrere Stimmen im Schrifttum, die sich zu der Frage äußern, ob die Gesellschaft bei Verbesserungen der Ertragslage zu einer außerordentlichen Kündigung des Unternehmensvertrags aus wichtigem Grund (§  297 Abs.  1 AktG) berechtigt sein kann. Diese Frage wird ganz überwiegend verneint mit dem Argument, dass das Gesetz mit der Entscheidung für eine stichtagsbezogene Berechnung des Ausgleichs und gegen dessen perio­dische Anpassung eine klare Risikoverteilung vorgenommen habe, die mit der Annahme eines wichtigen Kündigungsgrunds unterlaufen würde.13 Folgt man dieser Argumentation und hält man die gesetzliche Risikoverteilung in Bezug auf Änderungen der Ertragslage für abschlie10 OLG Frankfurt a.M. ZIP 1990, 588, 591 f. 11 Deutlich insbes. Riegger/Mutter, DB 1997, 1603, 1606; ferner Schnorbus, ZHR 181 (2017), 902, 936; Stephan in K.  Schmidt/Lutter, 3.  Aufl. 2015, §  304 AktG Rz.  118; sowie Hirte/ Hasselbach in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2013, § 304 AktG Rz. 97, die das Fehlen einer Anpassungsmöglichkeit zwar als rechtspolitisch unbefriedigend ansehen, eine abweichende Lösung auf Grundlage des geltenden Rechts aber als „kaum möglich“ bezeichnen. 12 Riegger/Mutter, DB 1997, 1603, 1606. 13 So neben Riegger/Mutter, DB 1997, 1603, 1604 insbes. Mülbert in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2012, § 297 AktG Rz. 30; ferner Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 297 AktG Rz. 7 (unter Hinweis auf Stichtagsprinzip und Gleichbe­handlung mit dem Fall der Ertragsverschlechterung); Koppensteiner in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2004, § 297 AktG Rz. 18; Paschos in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2019, § 297 AktG Rz. 5; grundsätzlich auch Altmeppen in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2015, § 297 AktG Rz. 24-26 („im Regelfall“ kein Kündigungsgrund, aber Frage der Vertragsauslegung im Einzelfall); a.A. aber noch Geßler in Geßler/Hefermehl, 1976, § 304 AktG Rz. 76: Kündigungsrecht, wenn sich Prognosen als „völlig verfehlt“ herausstellen.

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ßend, erscheint es konsequent, neben der Kündigung aus wichtigem Grund auch eine Vertragsanpassung wegen Störung der Geschäftsgrundlage abzulehnen. bb) Verschiedentlich wird jedoch auch die Gegenposition vertreten, dass grundlegende unvor­hergesehene Änderungen der Ertragslage eine Pflicht des herrschenden Unternehmens zur Anpassung des Ausgleichs nach § 313 BGB auslösen können.14 Mit dieser Pflicht soll in Übereinstimmung mit den Grundsätzen, die auch sonst für Anpassungsansprüche aus § 313 BGB bei einem echten Vertrag zugunsten Dritter anerkannt sind,15 ein Anspruch sowohl der Gesellschaft als auch der einzelnen außenstehenden Aktionäre korrespondieren.16 Hinter dieser Auffassung steht ersichtlich die Vorstellung, dass eine Verabsolutierung des Stichtags­prinzips auf eine unangemessene Benachteiligung der außenstehenden Aktionäre hinausliefe, da auch die zunächst nicht absehbaren Ertragschancen zum Gesellschaftsvermögen gehörten und daher bei der Ausgleichsbemessung nicht gänzlich ausgeblendet bleiben dürften.17 Um eine Präzisierung, wann die Schwelle zu einer Störung der Geschäftsgrundlage erreicht sein soll, hat sich die von Marcus Lutter betreute Dissertation von Schwenn bemüht.18 Danach soll beim festen Ausgleich (§ 304 Abs. 2 Satz 1 AktG) zunächst der aktuelle Ertragswert der Gesellschaft ermittelt werden, und zwar bereinigt um alle Vor- und Nachteile, die sich aus der Abhängigkeit der Gesellschaft vom anderen Vertragsteil ergeben. Sofern sich dieser Wert um mindestens 150 % erhöht hat, soll in Anlehnung an die Rechtsprechung zur Geldentwertung19 die „Opfergrenze“ erreicht 14 Eingehend Schwenn, Der Ausgleichs- und Abfindungsanspruch der außenstehenden Ak­ tionäre im Unterneh­mensvertrag bei Eintritt neuer Umstände, 1998, S. 139 ff.; ferner Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 8. Aufl. 2016, § 304 AktG Rz. 28 i.V.m. Rz. 69 (bei „grundstürzender“ Veränderung); Veil/Preisser in Spindler/ Stilz, 4. Aufl. 2019, § 304 AktG Rz. 70; einschränkend Koppensteiner in KölnKomm. AktG, 3.  Aufl. 2004, §  304 AktG Rz.  48 (Störung der Geschäftsgrundlage nur im Hinblick auf Umstände denkbar, die nichts mit Entscheidungen des herrschenden Unternehmens zu tun haben). Für einen Anpassungsanspruch unmittelbar aus § 304 AktG Hüchting, Abfindung und Ausgleich im aktienrechtlichen Beherrschungsvertrag, 1972, S. 123 ff. 15 Nach h.M. steht bei einem echten Vertrag zugunsten Dritter der Anpassungsanspruch nicht nur dem Verspre­chensempfänger, sondern auch dem begünstigten Dritten zu; Finkenauer in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2019, § 313 BGB Rz. 86; Martens in Beck’scher Online-Großkomm. BGB, Stand 1.3.2019, § 313 BGB Rz. 126; s. auch BGH NJW 1972, 152, 153; a.A. Mäsch in Beck’scher Online-Großkomm. BGB, Stand 1.1.2019, § 328 BGB Rz. 51. 16 Schwenn, Der Ausgleichs- und Abfindungsanspruch der außenstehenden Aktionäre im Unternehmensvertrag bei Eintritt neuer Umstände, 1998, S. 196 f.; Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzern­recht, 8. Aufl. 2016, § 304 AktG Rz. 69. 17 So insbes. Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 8. Aufl. 2016, § 304 AktG Rz. 27a. 18 Schwenn, Der Ausgleichs- und Abfindungsanspruch der außenstehenden Aktionäre im Unternehmensvertrag bei Eintritt neuer Umstände, 1998, S. 165 ff., 170 ff. 19 Nach der zu Erbbaurechtsverträgen entwickelten Rechtsprechung des BGH ist die Grenze zu einer Störung der Geschäftsgrundlage durch Geldentwertung überschritten, wenn sich die Lebenshaltungskosten um 150 % erhöht haben, die zugesagte Geldleistung also 60 % ihres Wertes verloren hat; s. BGHZ 119, 220, 222 = BGH NJW 1993, 52; BGH NJW 2012, 526, 528; aus der Literatur etwa Finkenauer in MünchKomm. BGB, 8.  Aufl. 2019, §  313

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sein. Beim variablen Ausgleich (§ 304 Abs. 2 Satz 2 AktG) soll Entsprechendes gelten, wenn sich die für die Bemessung maßgebliche Verschmelzungswert­relation zwischen dem (bereinigten) Ertragswert der Gesellschaft und dem Ertragswert des anderen Vertragsteils um mindestens 150 % zugunsten der Gesellschaft verschoben hat. 3. Stellungnahme a) Ausgangspunkt: Gesetzliche Risikozuweisung als entscheidendes Kriterium Die Entwicklung der eigenen Stellungnahme zu dieser Streitfrage hat von der Feststellung auszugehen, dass eine Veränderung der Umstände nach §  313 Abs.  1 letzter Halbs. BGB nur dann einen Anpassungsanspruch zu begründen vermag, wenn einem Beteiligten „unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der vertraglichen oder gesetz­lichen Risikoverteilung, das Festhalten am unveränderten Vertrag nicht zugemutet werden kann.“ Die damit angesprochene Risikozuweisung ist für den Tatbestand der Störung der Geschäftsgrundlage von elementarer Bedeutung. Verwirklicht sich ein Risiko, das nach der vertraglichen oder gesetzlichen Risikoverteilung einer Partei zugewiesen ist, ist § 313 BGB unanwendbar.20 Ob man dieses Ergebnis darauf stützt, dass der betreffende Umstand bei Risi­kozuweisung an eine Partei schon nicht zur Geschäftsgrundlage geworden ist,21 oder statt­dessen annimmt, dass die Geschäftsgrundlage zwar tangiert ist, der mit dem Risiko belasteten Partei aber das unveränderte Festhalten am Vertrag zumutbar ist,22 ist dabei letztlich ohne Belang. Die entscheidende Frage lautet somit, ob dem in § 304 AktG verankerten Stichtagsprinzip eine gesetzliche Risikozuweisung zu entnehmen ist, die das Risiko unerwarteter Änderungen der Ertragslage abschließend regelt, oder ob das Gesetz bei außergewöhnlich großen Abweichun­gen von der prognostizierten Ertragsentwicklung Raum für eine Durchbrechung jenes Prinzips lässt. b) § 297 Abs. 1 Satz 2 AktG als Beleg für eine eingeschränkte Reichweite des Stichtagsprinzips? Unter den Stimmen, die einen Anpassungsanspruch bei grundlegender Verbesserung der Ertragslage für möglich halten, findet sich allein in der erwähnten Dissertation von Schwenn eine Auseinandersetzung mit dieser Frage. Er konzediert zwar, dass das Stichtagsprinzip eine gesetzliche Risikozuweisung enthält, die eine Berufung auf eine Grundlagenstörung bei nach­träglichen Änderungen des Unternehmenswerts grundBGB Rz. 192; Martens in Beck’scher Online Großkomm. BGB, Stand 1.3.2019, § 313 BGB Rz. 228. 20 Allg. Ansicht, s. nur Finkenauer in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2019, § 313 BGB Rz. 59; Martens in Beck’scher Online-Großkomm. BGB, Stand 1.3.2019, § 313 BGB Rz. 59. 21 So etwa Martens in Beck’scher Online-Großkomm. BGB, Stand 1.3.2019, § 313 BGB Rz. 59, 118. 22 So offenbar Schulze in Schulze, Handkomm. BGB, 10. Aufl. 2019, § 313 BGB Rz. 16; Krebs/ Jung in Nomos Komm. BGB, 3. Aufl. 2016, § 313 BGB Rz. 68 ff.

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sätzlich ausschließt. Diese Risikozuwei­sung gelte aber nicht ausnahmslos, wie das Gesetz in § 297 Abs. 1 Satz 2 AktG selbst erkennen lasse. Wenn dort geregelt sei, dass eine gravierende Verschlechterung der Vermögenslage des anderen Vertragsteils die Gesellschaft zu einer Kündigung aus wichtigem Grund berechtigt, so zeige sich daran, dass das Stichtagsprinzip das Risiko nachträglicher Änderungen der Ertrags­lage (in diesem Fall aufseiten des anderen Vertragsteils) nicht abschließend regele. Das aus §  304 AktG abgeleitete Stichtagsprinzip sei daher nicht als ausnahmslose, sondern nur als eingeschränkte („bedingte“) Risikozuweisung zu verstehen, die in gravierenden Fällen, in denen die Ertragsentwicklung außergewöhnlich stark (um mindestens 150 %, s.o.) von der Prognose abweicht, durchbrochen werden könne.23 Zu überzeugen vermag diese Argumentation allerdings nicht. Die Vorschrift des § 297 Abs. 1 Satz 2 AktG soll der Gesellschaft (und mittelbar den außenstehenden Aktio­ nären) das Risiko abnehmen, den Unternehmensvertrag durch Befolgung von Weisungen und Gewinnabfüh­rung weiterhin erfüllen zu müssen, obwohl der andere Vertragsteil seinerseits seine Vertrags­pflichten (Verlustausgleich gemäß §  302 AktG, Ausgleichs- und Abfindungszahlungen nach §§  304  f. AktG) voraussichtlich nicht mehr erfüllen kann. Die Vorschrift trägt damit dem Gedanken Rechnung, dass die jeweiligen Verpflichtungen nur als wechselseitige übernommen wurden; sie schützt das ursprünglich vereinbarte Äquivalenzverhältnis von Leistung und Gegenleistung, indem sie die Gesellschaft (und mittelbar die außenstehenden Aktionäre) davor bewahrt, ihre Leistungen ohne die vereinbarte Gegenleistung erbringen zu müssen. Im hier interessierenden Kontext geht es dagegen um die ganz andere Frage, ob das ursprünglich vereinbarte Verhältnis von Leistung und Gegenleistung nachträglich kraft Gesetzes abgeän­dert werden muss. Diese Frage wird in § 297 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht, auch nicht ansatzweise, angesprochen. Wenn man § 297 Abs. 1 Satz 2 AktG überhaupt irgendeine Aussage zu der hier interessierenden Frage abringen kann, dann geht diese Aussage eher in die gegenteilige Richtung: Die Vorschrift legt eher den Schluss nahe, dass dann, wenn die Gesellschaft von ihrem Kündigungsrecht keinen Gebrauch macht, alles beim Alten bleibt, d.h. der Vertrag weiterhin mit dem verein­barten Inhalt gilt – und das, obwohl sich bei wesentlicher Verschlechterung der Vermögens­lage des anderen Vertragsteils typischerweise auch die Relation der Unternehmenswerte, die der Berechnung des variablen Ausgleichs (§ 304 Abs. 2 Satz 2 AktG) zugrunde liegt, wesentlich verschoben haben wird. c) Stichtagsprinzip als abschließende Risikozuweisung Aber auch im Übrigen lassen sich dem Gesetz keine Anhaltspunkte für die These entnehmen, dass das in §  304 AktG verankerte Stichtagsprinzip das Risiko uner­ warteter Veränderungen der Ertragslage dem jeweils Benachteiligten nur bis zu einer bestimmten Wesentlichkeits­schwelle zuweist. Im Gegenteil zeigt eine nähere Betrach-

23 Schwenn, Der Ausgleichs- und Abfindungsanspruch der außenstehenden Aktionäre im Unternehmensvertrag bei Eintritt neuer Umstände, 1998, S. 158 f.

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tung, dass die mit dem Stichtags­prinzip verbundene Risikoverteilung nur als abschließend verstanden werden kann. aa) Einen ersten, für sich allein freilich nicht entscheidenden Hinweis gibt der Gesetzeswortlaut. In ihm hat das Stichtagsprinzip dadurch Ausdruck gefunden, dass § 304 AktG keine periodische Anpassung an veränderte Unternehmenswertverhältnisse vorsieht. Stattdessen stellt § 304 Abs. 2 Satz 1 AktG ausdrücklich auf den Betrag ab, der nach der bisherigen Ertragslage der Gesellschaft und ihren „künftigen“ Ertragsaussichten als durchschnittlicher Gewinnanteil auf die einzelne Aktie entfiele. Die Bezugnahme auf „künftige“ Ertragsaus­sichten impliziert, dass eine von einem bestimmten Stichtag aus prognostizierte Ertrags­entwicklung maßgeblich ist, nicht eine erst während der Vertragsdauer eingetretene. Anhalts­punkte dafür, dass diese Vorgabe nur mit dem Vorbehalt gelten soll, dass die ursprüngliche Prognose durch die spätere Entwicklung im Wesentlichen bestätigt wird, ergeben sich aus dem Wortlaut nicht. bb) Dass der Wortlaut des § 304 AktG nicht zufällig gewählt ist, sondern eine Anpassung an nachträgliche Veränderungen der Ertragslage bewusst nicht vorsieht, zeigt ein Blick in die Entstehungsgeschichte der Vorschrift. Im Vorfeld der Beratungen des AktG 1965 setzte die Ständige Deputation des Deutschen Juristentags eine Expertenkommission (sog. Studienkom­mission) ein, welche die bevorstehende Reform des Konzernrechts begleiten und zu den Gesetzesentwürfen Stellung beziehen sollte. Ausweislich der Gesetzesmaterialien haben die Beratungsergebnisse der Studienkommission die Ausgestaltung der konzernrechtlichen Bestimmungen des Regierungsentwurfs und die Vorschläge des Rechtsausschusses wesentlich beeinflusst.24 Vor diesem Hintergrund verdient der Umstand Beachtung, dass die Studienkom­mission sich explizit mit der Frage einer nachträglichen Anpassung des Ausgleichs befasst hat. Wörtlich heißt es in den Beratungsergebnissen der Kommission:25 „Keine Überprüfung während der Laufzeit des Unterordnungsvertrags: Es sollte nicht bestimmt werden, die Angemessenheit der Dividendengarantie während der Laufzeit des Unterordnungsvertrags zu überprüfen. Es wird als unmöglich angesehen, während der Laufzeit des Unterordnungsvertrags aus den dann möglicherweise völlig veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen abzuleiten, welche Dividende im Fall eines unverändert selbständigen Fortbestehens der abhängigen Gesellschaft angemessen wäre.“

Die vorstehende Passage zeigt, dass das Stichtagsprinzip eng mit der Grundkonzep­ tion des Gesetzes zusammenhängt, die Höhe des Ausgleichs danach zu bemessen, wie 24 Bericht des Rechtsausschusses bei Kropff, Aktiengesetz 1965, S. 375; allg. zum großen Einfluss der Studienkommission auf die Reform des Konzernrechts Dettling, Die Entstehungsgeschichte des Konzernrechts im Aktiengesetz von 1965, 1997, S. 265; Nörr, Die Republik der Wirtschaft, Teil I: Von der Besatzungszeit bis zur Großen Koalition, 1999, S. 251. 25 Bericht der Studienkommission des Deutschen Juristentags, Untersuchungen zur Reform des Konzernrechts, 1967, Rz. 552. Dieser Bericht wurde zwar erst 1967 in Buchform veröffentlicht; die Beratungsergebnisse lagen aber schon vorher vor (gleichzeitig mit der Stellungnahme zum Regierungsentwurf des AktG), s. Bericht der Studienkommission a.a.O., Rz. 005.

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die außen­stehenden Aktionäre im Fall des „unverändert selbständigen Fortbestehens der abhängigen Gesellschaft“, d.h. ohne den Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag, stünden. Dieser Leitgedanke, dass es auf die hypothetische Entwicklung ohne den Unternehmensvertrag ankommt, kommt auch in der Begründung des Regierungsentwurfs zum AktG 1965 deutlich zum Ausdruck.26 Ihm entspricht es, dass Verbundeffekte (Synergien) oder sonstige Effekte, die nur unter Geltung des Unternehmensvertrags und der dadurch ermöglichten weitgehenden Konzernintegration realisiert werden können, für die Ermittlung des angemessenen Aus­gleichsbetrags nach zutreffender, in ständiger Rechtsprechung anerkannter Ansicht irrelevant sind.27 Die tatsächliche Entwicklung der Ertragslage nach dem Bewertungsstichtag ist aber zwangs­läufig durch den Unternehmensvertrag beeinflusst, so dass – wollte man diese Entwicklung berücksichtigen – erst eine Bereinigung der Ergebnisse um die Auswirkungen des Vertrags stattfinden müsste, um daraus Schlüsse für die hypothetische Entwicklung ohne den Unter­nehmensvertrag ableiten zu können. Dass die Studienkommission eine solche Bereinigung im Vorfeld des AktG 1965 als unpraktikabel („unmöglich“) verworfen und daher eine periodische Überprüfung des Ausgleichs abgelehnt hat, leuchtet auch heute noch unmittelbar ein. Wenn man nun das Stichtagsprinzip nur bis zu einer bestimmten Grenze (etwa den von Schwenn vorgeschlagenen 150 % Wertveränderung) als maßgeblich akzeptieren würde, müsste in vielen Fällen doch wieder eine derartige Berechnung durchgeführt werden, die man mit dem Stichtagsprinzip gerade vermeiden wollte. Da die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Wertverhältnisse immer weiter von denjenigen im Bewertungsstichtag entfernen, umso mehr zunimmt, je länger der Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag in Kraft ist, würde sich die Notwendigkeit einer solchen Berechnung nicht zuletzt in Fällen ergeben, in denen der Unternehmensvertrag schon besonders lange besteht. Je länger der Unternehmensvertrag in Kraft ist, umso schwieriger wird es aber, aus der tatsächlichen Ertragsentwicklung auch nur ansatzweise auf die hypothetische Entwicklung ohne den Unternehmensvertrag zu schließen (was gerade der eingangs erwähnte Fall AUDI sehr trefflich illustriert28). Man würde also das Stichtagsprinzip gerade auch in solchen Fällen einschränken, in denen die im 26 Begr. RegE AktG bei Kropff, Aktiengesetz 1965, S. 395: „…den Betrag erhalten soll, auf den er, wenn der Vertrag nicht bestände, künftig als Gewinnanteil rechnen könnte“ (Hervorhebung vom Verf.). 27 BGHZ 138, 136, 140; BayObLG AG 1996, 127, 128; OLG Düsseldorf AG 2000, 323, 324; OLG Frankfurt a.M. AG 2014, 822, 825; OLG Stuttgart AG 2013, 724, 727; Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 305 AktG Rz. 33; Koppensteiner in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2004, § 305 AktG Rz. 65; Stephan in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 304 AktG Rz. 78 i.V.m. § 305 AktG Rz. 68; Decher in FS Hommelhoff, 2012, S. 115, 122 ff. m.w.N.; a.A. aber Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 8. Aufl. 2016, § 304 AktG Rz. 39 i.V.m. § 305 AktG Rz. 71; Krieger in MünchHdb. AG, 4. Aufl. 2015, § 71 Rz. 135; Paulsen in MünchKomm. AktG, §  305 AktG Rz.  138; Winner in Fleischer/Hüttemann, Rechtshdb. Unternehmensbewertung, 2015, § 14 Rz. 49 mit Fn. 2. 28 Eine Berechnung, wie sich AUDI seit 1971 (!) hypothetisch ohne den Unternehmensvertrag und die dadurch ermöglichte enge Integration in den VW-Konzern entwickelt hätte, liefe auf reine Spekulation hinaus.

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Vorfeld des AktG 1965 mit Recht gesehenen praktischen Schwierigkeiten am größten, ja unüberwindbar wären. Dass dies dem Willen des Gesetzgebers entsprechen soll, ist wenig überzeugend. cc) Gegen eine derartige Aufweichung des Stichtagsprinzips spricht zudem ein gesetzessystematisches Argument. Das Gesetz betrachtet Ausgleich (§ 304 AktG) und Abfindung (§ 305 AktG) ersichtlich als zumindest prinzipiell gleichwertige Instrumente zum Schutz der außen­stehenden Aktionäre.29 Für die Abfindung ist aber unstreitig, dass sie nicht an nachträgliche Änderungen der Ertragslage anzupassen ist, auch nicht bei gravierenden Änderungen. Auch diejenigen Stimmen, die beim Ausgleich eine Einschränkung des Stichtagsprinzips zu begründen versuchen, erkennen für die Abfindung ausdrücklich an, dass das Stichtagsprinzip eine abschließende Risikozuweisung trifft.30 Diese Beurteilung ist auch unmittelbar einsichtig, da sie allgemeinen Grundsätzen entspricht. Bei einem Kaufvertrag, wie er bei Annahme des Abfindungsangebots zustande kommt, ist auch sonst anerkannt, dass unvorhergesehene nachträgliche Wertsteigerungen des Kaufgegenstands dem Käufer zugutekommen, wie ihn umgekehrt auch das Risiko trifft, dass der Gegenstand an Wert verliert.31 Wenn aber das Stichtagsprinzip im Rahmen der Abfindung anerkanntermaßen eine abschließende Risikozu­weisung bezüglich späterer Änderungen der Ertragslage trifft, spricht das Postulat prinzipieller Gleichwertigkeit von Abfindung und Ausgleich dafür, dass dasselbe auch im Rahmen des Ausgleichs gelten muss. dd) Das sich damit deutlich abzeichnende Ergebnis, dass die außenstehenden Aktionäre an unvorhergesehenen Verbesserungen der Ertragslage selbst bei grundlegenden Änderungen nicht partizipieren, ist auch nicht aus Billigkeitsgründen korrekturbedürftig. Insbesondere läuft es nicht auf eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung der Aktionäre hinaus, wenn allein das herrschende Unternehmen von unvorhergesehenen Mehrerträgen der Gesellschaft profitiert.32 Zu erinnern ist vielmehr daran, dass das herrschende Unternehmen umgekehrt auch – bis hin zur unbeschränkten Verlustausgleichspflicht (§ 302 Abs. 1 AktG) – das Risiko trägt, dass sich die Erträge der Gesellschaft viel schlechter entwickeln als am Bewertungs­stichtag prognostiziert. Dass sich das herrschende Unternehmen in diesem Fall seinerseits nicht auf eine ­Störung der Geschäftsgrundlage berufen kann, wird im Übrigen auch von Autoren anerkannt, die im umgekehrten Fall für eine Anpassung zugunsten der außenstehen29 S. nur BGHZ 166, 195 Rz. 11 („Postulat grundsätzlicher Gleichwertigkeit der beiden Alternativen, die das Gesetz dem außenstehenden Aktio­när in § 304 und § 305 AktG zur Verfügung stellt“); Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 8. Aufl. 2016, § 304 AktG Rz. 25a; Koppensteiner in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2004, § 304 AktG Rz. 52 ff. 30 Schwenn, Der Ausgleichs- und Abfindungsanspruch der außenstehenden Aktionäre im Unternehmensvertrag bei Eintritt neuer Umstände, 1998, S. 201 ff.; ferner Hüchting, Abfindung und Ausgleich im aktienrechtlichen Beherrschungsvertrag, 1972, S. 121 f. 31 S. nur Martens in Beck’scher Online Großkomm. BGB, Stand 1.3.2019, § 313 BGB Rz. 232 f. m.w.N. 32 So aber Hüchting, Abfindung und Ausgleich im aktienrechtlichen Beherrschungsvertrag, 1972, S. 128.

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den Aktionäre eintreten.33 Herrschendes Unternehmen und außenstehende Aktionäre befin­den sich daher bei Bestehen eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrags in einer grundverschiedenen Ausgangsposition. Angesichts dessen ist es keine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung, sondern Ausdruck des althergebrachten Prinzips des Gleichlaufs von Chance und Risiko („commodum eius esse debet, cuius periculum est“),34 wenn unvorher­gesehene positive Ertragsentwicklungen demjenigen zugutekommen, der auch unvorherge­sehene nachteilige Ertragsentwicklungen zu tragen hat. ee) Nur der Vollständigkeit halber sei schließlich hinzugefügt, dass das gefundene Ergebnis auch durch verfassungsrechtliche Vorgaben nicht in Zweifel gezogen wird. Aus Art. 14 Abs. 1 GG folgt zwar bekanntlich das Gebot, die außenstehenden Aktionäre für den Eingriff in ihre Mitgliedschaftsrechte wirtschaftlich „voll“ zu entschädigen.35 Damit ist aber offensichtlich ebenfalls nur die volle Kompensation zu einem bestimmten Bewertungsstichtag gemeint.36 Es ist auch nicht ersichtlich, dass es irgendwelche verfassungsrechtlichen Gründe dafür geben könnte, die außenstehenden Aktionäre im Rahmen des §  304 AktG an unvorhergesehenen Verbesserungen der Ertragslage teilhaben zu lassen, obwohl das Risiko von Verschlech­terungen der Ertragslage vom herrschenden Unternehmen zu tragen ist. 4. Ergebnis In Summe spricht mithin alles dafür, dass das Risiko, dass sich die Ertragslage und damit der Unternehmenswert der Gesellschaft bzw. – beim variablen Ausgleich – die Relation der Unter­nehmenswerte der Gesellschaft und des herrschenden Unternehmens anders als prognosti­ziert entwickeln, auch bei außergewöhnlich großen Wertveränderungen kraft Gesetzes ausschließlich dem dadurch Benachteiligten zuge­ wiesen ist. Für eine auf die Grundsätze der Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) gestützte Anpassung des Ausgleichs an derartige Änderungen ist daher kein Raum.

33 Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 8. Aufl. 2016, § 304 AktG Rz.  68; ferner Hüchting, Abfindung und Ausgleich im aktienrechtlichen Beherrschungsvertrag, 1972, S. 124 f., der ebenfalls nur eine Anpassung zugunsten, nicht zulasten der außenstehenden Aktionäre in Betracht zieht; differenzierend aber Schwenn, Der Ausgleichs- und Abfindungsanspruch der außenstehenden Aktionäre im Unternehmensvertrag bei Eintritt neuer Umstände, 1998, S. 180 ff., 184 f. 34 Corpus Iuris Civilis, Inst. 3, 23, 3. Näher dazu Florstedt, Recht als Symmetrie, 2015, insbes. S. 5, 84, 118, 249 f., 269, 289. 35 Grundlegend BVerfGE 14, 263, 283 f. – Feldmühle; BVerfGE 100, 289, 303, 305 ff. – DAT/ Altana; BVerfG NJW-RR 2000, 842, 843 – Hartmann & Braun (mit der Präzisierung, dass Ausgleich und Abfindung diesem Gebot „je für sich gesehen“ genügen müssen); instruktiv Rölike/Tonner in Rensen/Brink, Linien der Rechtsprechung des BVerfG, 2009, S. 199 ff. 36 Vgl. nur BVerfGE 100, 289, 306 – DAT/Altana („zum Zeitpunkt des Unternehmensvertrags oder der Eingliederung“).

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III. Pflicht des Vorstands zur Kündigung des Unternehmensvertrags? 1. Ausgangslage Es bleibt die Frage, ob der Vorstand der Gesellschaft infolge der Verbesserung der Ertragslage verpflichtet sein kann, den Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag zu kündigen, um dadurch eine Situation herbeizuführen, in der das herrschende Unternehmen die vertragliche Beherrschung nur bei Abschluss eines neuen Unternehmensvertrags fortsetzen kann. Die Festsetzung von Ausgleich und Abfindung in diesem neuen Vertrag müsste dann an den aktuellen Wertverhältnissen Maß nehmen und damit die zwischenzeitlich eingetretene Verbesserung der Ertragslage reflektieren; im Ergebnis wäre damit dem Anliegen der außen­stehenden Aktionäre, den Ausgleich nach oben anzupassen, doch noch Rechnung getragen. Die verbesserte Ertragslage gibt dem Vorstand der Gesellschaft zwar kein Recht zur außer­ordentlichen (fristlosen) Kündigung aus wichtigem Grund, da sonst die mit dem Stichtags­prinzip verbundene – wie dargelegt abschließende – Risikoverteilung unterlaufen würde.37 In aller Regel wird aber nach Ablauf der üblichen fünfjährigen Mindestlaufzeit (§ 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 KStG) die Möglichkeit vorgesehen sein, den Vertrag zum Ende eines jeden Geschäftsjahrs ordentlich zu kündigen, sofern die außenstehenden Aktionäre der Kündigung durch Sonderbe­schluss zustimmen (§ 297 Abs.  2 AktG). Es stellt sich daher die Frage, ob der Vorstand nicht immerhin von diesem Recht Gebrauch machen muss, um den außenstehenden Aktionären die Chance auf eine höhere Ausgleichszahlung oder Abfindung zu eröffnen. 2. Mögliche Anhaltspunkte für eine Pflicht des Vorstands zur Kündigung Einzelne Stimmen im Schrifttum plädieren dafür, eine derartige Verpflichtung aus §  299 AktG abzuleiten.38 Wenn nach dieser Vorschrift die Entscheidung über die Kündigung des Unterneh­mensvertrags frei von Weisungen des herrschenden Unternehmens zu treffen ist, so folge daraus, dass der Vorstand nicht auf das Interesse des herrschenden Unternehmens, sondern auf dasjenige der außenstehenden Aktionäre verpflichtet sei. Er müsse daher den Unterneh­mensvertrag in deren Interesse kündigen, wenn die Ausgleichszahlung die verbesserte Ertragslage nicht mehr ausreichend widerspiegelt. Nur so lasse sich im Ergebnis eine unge­rechtfertigte Benachteiligung der außenstehenden Aktionäre abwenden. Im umgekehrten Fall einer Verschlechterung der Ertragslage sei nämlich der andere Vertragsteil seinerseits nicht gehindert, den Vertrag einseitig (ohne Zustimmung der außenstehenden Aktionäre) ordent­lich zu kündigen und anschließend einen Neuabschluss mit niedrigerer Ausgleichszahlung durchzusetzen.39 Aus Gründen der „Symmetrie der Vertragsbeziehung“ müsse 37 S. abermals die Nachw. in Fn. 13. 38   Zum Folgenden Wenger, ZIP 1994, 781  f.; Hecker/Wenger, ZBB 1995, 321, 331; Hecker, Regulierung von Unternehmensübernahmen und Konzernrecht, 2000, S. 358; in dieselbe Richtung wohl auch Koppensteiner in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2004, § 297 AktG Rz. 11. 39  Zur grundsätzlichen Zulässigkeit einer solchen Änderungskündigung durch den anderen Vertragsteil s. BGH AG 1979, 289 f.; BGHZ 122, 211, 233; näher dazu sogleich unter III. 3. b).

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dann im umge­kehrten Fall verbesserter Ertragsaussichten der Vorstand der Gesellschaft gehalten sein, den Vertrag im Interesse der außenstehenden Aktionäre zu kündigen, um eine Anpassung der Ausgleichszahlung nach oben zu ermöglichen; denn andernfalls würde im Ergebnis immer nur nach unten und nie nach oben angepasst. 3. Verpflichtung des Vorstands auf das Unternehmensinteresse Die soeben referierte Auffassung ist jedoch vereinzelt geblieben. Überwiegend steht das Schrifttum – wenngleich ohne nähere Begründung – auf dem Standpunkt, dass der Vorstand die Entscheidung über die Kündigung nicht am Interesse der außenstehenden Aktionäre auszurichten hat, sondern am Interesse der Gesellschaft.40 Diese Auffassung trifft, wie im Folgenden zu zeigen ist, im Ergebnis das Richtige. a) Begrenzte Tragweite des § 299 AktG Nicht zweifelhaft sollte zunächst sein, dass § 299 AktG jedenfalls für sich allein als Ableitungs­basis zu schmal ist, um daraus die behauptete Verpflichtung des Vorstands auf die Interessen der außenstehenden Aktionäre herzuleiten. Die Vorschrift beschränkt sich darauf, Entschei­dungen über die Änderung oder Beendigung des Unternehmensvertrags vom Weisungsrecht des herrschenden Unternehmens (§  308 AktG) auszunehmen.41 Daraus folgt aber nur, dass sich der Vorstand nicht am Interesse des herrschenden Unternehmens orientieren darf, nicht auch, dass er allein auf die Interessen der außenstehenden Aktionäre verpflichtet ist. Für den weisungsfreien Bereich ist vielmehr auch sonst anerkannt, dass der Vorstand nach allgemei­nen Regeln (§§ 76 Abs. 1, 93 Abs. 1 AktG) auf das Interesse seiner Gesellschaft verpflichtet ist.42 Maßgeblich sind danach nicht die Partikularinteressen einzelner Aktionäre oder Aktionärsgruppen, sondern das Interesse, für dauerhafte Rentabilität des Unternehmens zu sorgen.43 Hätte der Gesetzgeber bei Entscheidungen über die Beendigung von Unternehmens­verträgen von dieser allgemeinen Leitlinie abweichen wollen und eine Ausrichtung allein auf die Interessen der außenstehenden Aktionäre gewünscht, 40 Langenbucher in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 297 AktG Rz. 19 mit Fn. 45 und Rz. 26; Mülbert in Großkomm. AktG, § 297 AktG Rz. 10 (jeweils unter ausdrücklicher Ablehnung der von Wenger/Hecker aufgestellten These); ferner Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 8.  Aufl. 2016, §  297 AktG Rz.  7; Riegger/Mutter, DB 1997, 1603, 1604 f.; wohl auch Veil in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 297 AktG Rz. 29 mit Fn. 77 (Bezugnahme auf Riegger/Mutter). 41 Vgl. Begr. RegE AktG bei Kropff, Aktiengesetz 1965, S. 387. 42 S.  nur Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 8.  Aufl. 2016, §  308 AktG Rz.  54; Altmeppen in MünchKomm. AktG, 8.  Aufl. 2016, §  308 AktG Rz. 157 f. Auch der Hinweis in den Materialien zu § 299 AktG, dass der Gesellschaft die eigenverantwortliche Entscheidung des Vorstands erhalten bleiben soll (Begr. RegE AktG bei Kropff, Aktiengesetz 1965, S. 387), lässt sich nur als Bezugnahme auf die allgemeinen Regeln, namentlich § 76 Abs. 1 AktG, verstehen. 43 Näher dazu und zu der bekannten Streitfrage, ob neben Rentabilitätsinteressen auch die Interessen sonstiger Stakeholder und Gemeinwohlbelange zu berücksichtigen sind, statt vieler Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2016, § 76 AktG Rz. 28 ff.

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hätte es im Übrigen nähergelegen, die ordentliche Kündigung durch den Vorstand nicht nur unter den Vorbehalt der Zustimmung der außenstehenden Aktionäre zu stellen (§ 297 Abs. 2 AktG), sondern diesen das Recht zu gewähren, den Vorstand durch Sonderbeschluss zur Kündigung anzuweisen. Ein solches Recht sieht das Gesetz aber nicht vor. b) Zum Argument der „Symmetrie der Vertragsbeziehung“ Auch das zusätzlich angeführte Argument der „Symmetrie der Vertragsbeziehung“ rechtfertigt keine andere Beurteilung. Richtig ist zwar, dass insoweit eine Asymmetrie gegeben ist, als das herrschende Unternehmen eine Verschlechterung der Ertragsaussichten zum Anlass für eine ordentliche Kündigung nehmen kann, während umgekehrt die außenstehenden Aktionäre bei einer Verbesserung der Ertragslage keine Kündigung erzwingen können. Diese Asymmetrie nimmt das Gesetz aber sehenden Auges in Kauf. Wie sich aus den Gesetzesmaterialien ergibt, hat der Gesetzgeber die ordentliche Kündigung durch das herrschende Unternehmen anders als die Vertragsänderung oder -aufhebung (§§ 295 Abs. 2, 296 Abs. 2 AktG) ganz bewusst nicht von einem zustimmenden Sonderbeschluss der außenstehenden Aktionäre abhängig ge­ macht.44 Der BGH hat wiederholt ausgesprochen, dass diese Entscheidung des Gesetzgebers trotz der gegen sie erhobenen rechtspolitischen Bedenken zu respektieren ist.45 Im Ergebnis führt dies dazu, dass die außenstehenden Aktionäre die Kündigung auch dann hinnehmen müssen, wenn die Gesellschaft im Zeitpunkt der Vertragsbeendigung schlechter dasteht als bei Vertragsbeginn. Die außenstehenden Aktionäre sind insoweit nach der gesetzlichen Regelung allein durch den Verlustausgleich nach § 302 AktG geschützt. Aus rechtspolitischer Sicht ist dieser Schutz schon des Öfteren und mit Recht als unzureichend kritisiert worden, da § 302 AktG nur für die Erhaltung des bilanziellen Eigenkapitals sorgt, aber nicht davor schützt, dass der Unternehmenswert durch den Entzug stiller Reserven oder eine sonstige Verschlech­terung der Ertragsaussichten geschmälert worden ist.46 Nach der lex lata können die außen­ stehenden Aktionäre diesem Risiko aber nur ausweichen, indem sie das Abfindungsangebot annehmen.47 Auf einem anderen Blatt steht freilich, ob man diese vom Gesetzgeber sehenden Auges in Kauf genommene Asymmetrie noch dadurch vertiefen sollte, dass man neben der Kündigung auch ohne weiteres eine Änderungskündigung zulässt, die zum Ab44 Begr. RegE AktG bei Kropff, Aktiengesetz 1965, S. 386. 45 BGH AG 1979, 289  f.; BGHZ 122, 211, 233; ebenso (trotz verbreiteter rechtspolitischer Kritik) die allgemeine Ansicht im Schrifttum, etwa Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 8. Aufl. 2016, § 297 AktG Rz. 9; Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 297 AktG Rz. 18; jeweils m.w.N. 46 S. zu dieser Kritik etwa Koppensteiner in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2004, Vorb. § 300 AktG Rz. 6 f.; J. Vetter in Fleischer/Koch/Kropff/Lutter, 50 Jahre Aktiengesetz, 2016, S. 231, 244 f. 47 Nach Kropff in Fleischer/Koch/Kropff/Lutter, 50 Jahre Aktiengesetz, 2016, S. 1, 10, hat der Gesetzgeber gerade deshalb das Abfindungsangebot vorgesehen, weil er sich bewusst war, dass die in der Gesellschaft verbleibenden Aktionäre im Fall der Beendigung des Vertrags nicht umfassend geschützt sind.

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schluss eines neuen Unterneh­mensvertrags führt, der zeitlich unmittelbar an den alten Vertrag anschließt. Der BGH hat zwar vor längerer Zeit in zwei Entscheidungen auch solche Änderungskündigungen des herrschen­den Unternehmens gebilligt,48 obwohl sie im Ergebnis einer Vertragsänderung, für die § 295 Abs. 2 AktG einen Sonderbeschluss der außenstehenden Aktionäre verlangt, überaus nahe­kommen. In den beiden Entscheidungen ging es allerdings um Fälle, in denen die Änderungskün­ digung nicht durch eine Verschlechterung der Ertragslage, sondern durch andere verän­derte Umstände motiviert war.49 Es ist daher keineswegs ausgemacht, dass der BGH eine Änderungskündigung, die allein darauf abzielt, wegen einer unter der Ägide des herrschenden Unternehmens eingetretenen Verschlechterung der Ertragslage den Ausgleich abzusenken, nicht doch als rechtsmissbräuchliche Umgehung des § 295 Abs. 2 AktG beanstanden würde. Für eine solche Beurteilung sprächen im Gegenteil durchaus gute Gründe.50 Im vorliegenden Zusammenhang kann diese Frage indes auf sich beruhen. Dass der Schutz der außenstehenden Aktionäre bei Verschlechterung der Ertragslage im geltenden Recht nicht in befriedigender Weise geregelt ist, sollte Anlass sein, an dieser Stelle – wie schon wiederholt gefordert – de lege ferenda nachzubessern.51 Aber dieses rechtspolitische Defizit ist kein tragfähiger Grund, um in der umgekehrten Situation einer Verbesserung der Ertragslage entgegen allgemeinen Grundsätzen und ohne Anhaltspunkt im Gesetz Rechtsfortbildung zu betreiben und eine Verpflichtung des Vorstands allein auf die Interessen der außenstehenden Aktionäre zu konstruieren. Dazu besteht auch deshalb kein Anlass, weil eine rechtliche Ver­pflichtung des Vorstands, auf eine Verbesserung der Ertragsaussichten mit einer Kündigung des Unterneh48 S. die bereits angeführten Entscheidungen BGH AG 1979, 289 f.; BGHZ 122, 211, 233; auch insoweit zustimmend Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 8. Aufl. 2016, § 297 AktG Rz. 9; Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 297 AktG Rz. 18; jeweils m.w.N. 49 BGH AG 1979, 289 (Anpassung an die Körperschaftsteuerreform); BGHZ 122, 211 (Übergang von isoliertem Beherrschungsvertrag zu Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag mit höherem Ausgleich und höherer Abfindung). 50 Insbesondere ließe sich nicht einwenden, dass der Gesetzgeber ganz bewusst die ordentliche Kündigung des herrschenden Unternehmens unabhängig von der Zustimmung der außenstehenden Aktionäre zugelassen hat. Die betreffende Passage in den Materialien (Begr. RegE AktG bei Kropff, Aktiengesetz 1965, S. 386) äußert sich nämlich nicht zu dem Sonderfall der Änderungskündigung, die im Ergebnis auf eine Vertragsänderung hinaus­ läuft. 51 Erwägenswert erscheint insbesondere die Einführung einer Vorschrift, die das herrschende Unternehmen dazu verpflichtet, bei Beendigung des Vertrags erneut eine Abfindung in der ursprünglichen Höhe anzubieten; s. dazu J. Vetter in Fleischer/Koch/Kropff/Lutter, 50 Jahre Aktiengesetz, 2016, S. 231, 245, mit dem Hinweis, dass eine derartige Verpflichtung in der Praxis mitunter schon jetzt auf freiwilliger Basis in den Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag aufgenommen wird. Dagegen greift der verschiedentlich diskutierte Vorschlag, bei Vertragsbeendigung ein neuerliches Abfindungsangebot auf Basis des Unternehmenswerts im Beendigungs­zeitpunkt vorzuschreiben (Bericht über die Verhandlungen der Unternehmensrechtskommission, 1979, Rz. 1314; Sonnenschein, ZGR 1981, 429, 438), zu kurz; denn die Aktionäre müssten dann immer noch das Risiko von Werteinbußen während der Vertragsdauer tragen.

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mensvertrags zu reagieren, sehr fragwürdige Anreize setzen würde. Der andere Vertragsteil hätte bei einer solchen Rechtslage nämlich einen starken Anreiz, es gar nicht zu einer Verbesserung der Ertragslage kommen zu lassen, sondern mithilfe seines Weisungs­rechts Geschäfts- und Entwicklungschancen der Gesellschaft konsequent auf sich selbst oder eine andere Konzerngesellschaft überzuleiten, um entsprechende Wertschöpfungspotenziale dort heben zu können. Dem Interesse der außenstehenden Aktionäre wäre damit in keiner Weise gedient; im Gegenteil würden die Gefahren, denen die außenstehenden Aktionäre im Fall einer Vertragsbeendigung ausgesetzt sind, durch derartige Anreize noch verschärft. 4. Konsequenzen aus der Bindung an das Unternehmensinteresse Bewendet es somit dabei, dass der Vorstand bei der Entscheidung über die Kündigung oder Fortführung des Unternehmensvertrags nicht auf das Interesse einzelner Aktionäre oder Aktionärsgruppen, sondern auf das Interesse seiner Gesellschaft verpflichtet ist, so hat dies zur Konsequenz, dass er die Entscheidung daran auszurichten hat, ob es dem Ziel nachhaltiger Wertschöpfung seines Unternehmens besser entspricht, den Unternehmensvertrag zu kündi­gen oder fortzusetzen. Der Vorstand muss also im Rahmen einer – den Schutz der Business Judgment Rule genießenden – unternehmerischen Entscheidung (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG) die Vor- und Nachteile abwägen, die der Unternehmensvertrag für die Geschäftsentwicklung seines Unternehmens mit sich bringt. Als mögliche Vorteile kommen insbesondere der Gesellschaft zugutekommende Synergieeffekte in Betracht,52 soweit sie nur auf Grundlage des Unternehmensvertrags und der dadurch ermöglichten besonders weitreichenden Konzern­integration rechtssicher realisiert werden können,53 ggf. auch verbesserte Finanzierungs­konditionen sowie das Entfallen des Prüfungs- und Dokumentationsaufwands, den das Regelungsregime der §§ 311 ff. AktG im faktischen Konzern mit sich bringt. Diesen möglichen Vorteilen sind etwaige Nachteile der Fortsetzung des Unternehmensvertrags für die Gesell­schaft gegenüberzustellen, z.B. nachteilige Weisungen des herrschenden Unternehmens, welche die Gesellschaft an der Erschließung bestimmter Märkte hindern oder in sonstiger Weise ihr Ertragspotenzial schmälern. Sollte der Vorstand bei dieser Abwägung zu der Einschätzung neigen, dass sich seine Gesell­schaft ohne den Unternehmensvertrag besser entwickeln könnte, wird er freilich mit in Rechnung stellen müssen, dass das herrschende Unternehmen – sofern es weiterhin eine qualifizierte Mehrheit hält – über einen Hauptversammlungsbeschluss nach § 83 Abs. 1 Satz 2 AktG sogleich wieder den Abschluss eines neuen Unterneh52 Nähere Auffächerung möglicher Synergieeffekte bei Riegger/Mutter, DB 1997, 1603, 1605. 53 Dabei ist zu bedenken, dass im faktischen Konzern die Quantifizierung und Ausgleichsfähigkeit etwaiger Nachteile gerade bei weitreichenden konzernintegrativen Maßnahmen (wie z.B. der Zentralisierung wichtiger unternehmerischer Funktionen) erhebliche Schwierigkeiten bereiten kann, so dass sie sich nur im Vertrags­konzern rechtssicher durchführen lassen; s.  nur Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 8. Aufl. 2016, § 311 AktG Rz. 58 m.w.N.

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Ausgleich außenstehender Aktionäre

mensvertrags verlangen kann.54 Ein solches Verlangen wäre nur in eng begrenzten Ausnahmefällen als rechtsmissbräuchlich anzusehen (namentlich dann, wenn das herrschende Unternehmen nicht mehr in der Lage ist, seine vertraglichen Verpflichtungen zu erfüllen). Sieht man von dieser Sonderkonstellation ab, bleibt es dabei, dass sich die Gesellschaft gegen den Willen eines mit qualifizierter Mehrheit beteiligten herrschenden Unternehmens nur aus dem jeweiligen Vertrag, aber nicht auf Dauer aus der vertraglichen Beherrschung lösen kann. Solange das herrschende Unternehmen auf der Fortführung des Vertragskonzerns besteht und zu erwarten ist, dass es bei einer Kündi­gung den Abschluss eines neuen Vertrags erzwingen würde, erschöpft sich der Effekt einer Kündigung aus Sicht der Gesellschaft somit darin, Kosten für den Neuabschluss des Vertrags zu verursachen. Eine solche Kündigung liegt ersichtlich nicht im Interesse der Gesellschaft. Dass der Neuabschluss u.U. zu einer höheren Festsetzung von Abfindung und Ausgleich führen würde, ist dabei unerheblich, da dadurch das Interesse der Gesellschaft nicht befördert wird. Eine Anhebung des Ausgleichs würde nur zu einer Vermögensverschiebung im Verhältnis der Aktionäre untereinander (zugunsten der außenstehenden Aktionäre und zulasten des herr­ schenden Unternehmens) führen, die Ertragskraft des Unternehmens aber in keiner Weise verbessern. Nach alledem wird sich das unternehmerische Ermessen des Vorstands nur in sehr eng be­grenzten Sonderfällen dahin verdichten, dass von einem bestehenden Kündigungsrecht auch Gebrauch gemacht werden muss. Allein der Umstand, dass sich die Ertragsaussichten der Gesellschaft erheblich oder gar grundlegend verbessert haben und die außenstehenden Aktionäre daher bei einem Neuabschluss des Vertrags eine deutlich höhere Abfindung oder Ausgleichszahlung erhalten würden, vermag die Annahme einer Kündigungspflicht jedenfalls nicht zu rechtfertigen.

IV. Ergebnisse 1. Entgegen einer im Schrifttum vertretenen Auffassung führt eine unvorhergesehene grund­legende Verbesserung der Ertragslage einer vertraglich konzernierten Gesellschaft nicht dazu, dass die außenstehenden Aktionäre eine Erhöhung der Ausgleichzahlung (§ 304 AktG) verlan­gen können. Für eine Anwendung der Grundsätze der Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) ist kein Raum, da das in § 304 AktG verankerte Stichtagsprinzip eine in Bezug auf Verän­derungen der Ertragslage abschließende Risikozuweisung trifft. 2. Ebenso wenig begründet eine – sei es auch grundlegende – Verbesserung der Ertragslage eine Pflicht des Vorstands der Gesellschaft, im Interesse der außenstehenden Aktionäre von einem Recht zur ordentlichen Kündigung des Unternehmensvertrags 54 Riegger/Mutter, DB 1997, 1603, 1605. Dass § 83 Abs. 1 Satz 2 AktG der Hauptversammlung ein solches Initiativ­recht gewährt, den Vertragsabschluss notfalls auch gegen den Willen des Vorstands durchzusetzen, ist allgemein anerkannt; s. etwa Habersack/Foerster in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 83 AktG Rz. 8; Fleischer in Spindler/Stilz, 3. Aufl. 2015, § 83 AktG Rz. 5.

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Gebrauch zu machen. Der Vorstand ist nicht auf das Interesse der außenstehenden Aktionäre verpflichtet, sondern auf das Interesse der Gesellschaft. Er hat sich daher bei seiner Entscheidung für oder gegen eine Kündigung daran zu orientieren, welches Vorgehen dem Ziel nachhaltiger Wertschöpfung seines Unternehmens besser entspricht, nicht daran, ob eine Kündigung den außenstehenden Aktionären eine höhere Dividende oder (bei Abschluss eines neuen Vertrags) eine höhere Aus­gleichszahlung oder Abfindung bescheren würde. Bei Abwägung der Folgen einer Kündigung hat er zudem zu berücksichtigen, dass das herrschende Unternehmen unter den Vorausset­ zungen des § 83 Abs. 1 Satz 2 AktG jederzeit den Abschluss eines neuen Unternehmensvertrags verlangen kann und die Kündigung für die Gesellschaft daher ggf. nur den Effekt hätte, Kosten für den Neuabschluss des Vertrags zu verursachen.

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Der Bericht des Aufsichtsrats gemäß § 171 Abs. 2 AktG an die Hauptversammlung und die CSR-Berichterstattung Inhaltsübersicht  Vorbemerkung I. Funktion der Berichterstattung des ­Aufsichtsrats gemäß § 171 Abs. 2 AktG II. Berichterstattung zu den nichtfinanziellen Aspekten der Unternehmenstätigkeit 1. CSR-Berichterstattung als Teil der ­Geschäftsführung 2. Gegenstand der CSR-Berichtspflicht des Vorstands 3. Form der CSR-Berichterstattung des ­Vorstands III. Bericht des Aufsichtsrats gemäß § 171 Abs. 2 AktG hinsichtlich der CSR-Berichterstattung 1. Prüfungsverantwortung des Aufsichtsrats hinsichtlich der CSR-Berichterstattung nach § 171 Abs. 1 AktG

a) CSR-Prüfungsgegenstand im Allgemeinen b) Intensität der CSR-Prüfung durch den Aufsichtsrat 2. Bericht des Aufsichtsrats über seine ­Prüfung der CSR-Berichterstattung des Vorstands a) Regelberichterstattung des Aufsichtsrats b) Bericht des Aufsichtsrats bei fehlender Billigung der CSR-Berichterstattung c) Berichtspflicht des Aufsichtsrats zu ­besonderen Prüfungsmaßnahmen hinsichtlich der CSR-Berichterstattung 3. Mündliche Erläuterung des Aufsichtsratsvorsitzenden nach § 176 Abs. 1 Satz 2 AktG IV. Schluss

Vorbemerkung Ulrich Seibert, dem dieser Beitrag aus Anlass seines Ausscheidens aus dem aktiven Dienst im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz gewidmet ist, hat sich über Jahrzehnte hinweg dem Gesellschaftsrecht gewidmet und nicht nur in der Werkstatt des Gesetzgebers oder in der Sprache des Jubilars im Atelier des legal designers,1 sondern auch als Autor sowie als Vermittler des gesetzgeberischen Regelungsanliegens auf zahlreichen Veranstaltungen intensiv an der Fortentwicklung des Rechts beteiligt. Ein Schwerpunkt seiner produktiven Tätigkeit bildet das Aktienrecht, das sich durch eine Reform in Permanenz auszeichnet und dessen Meilensteine mit prägnanten Akronymen bestens in Erinnerung bleiben. Zu nennen ist etwa das KonTraG (1998),2

1 Seibert in FS Wiedemann, 2002, S. 123, 131. 2 Seibert, AG 1997, Sonderheft, S. 65. 

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das NaStraG (2001),3 das TransPuG (2002),4 das UMAG (2005),5 das VorstOG (2005), das EHUG,6 das ARUG (2009)7 sowie das VorstAG (2009).8 Im Folgenden wird auf den Bericht des Aufsichtsrats an die Hauptversammlung gemäß § 171 Abs. 2 AktG eingegangen, der unter der Verantwortung von Ulrich Seibert durch das KonTraG9 und das TransPuG10 sowie durch die Empfehlungen des Deutschen Corporate Governance Kodex verschiedene Änderungen erfahren hat. Nachdem im Jahre 2017 die Vorgaben der CSR-Richtlinie vom 22.10.201411 durch das ­Gesetz zur Umsetzung der CSR-Richtlinie12 in deutsches Recht umgesetzt wurden, stellt sich die Frage, inwieweit der Aufsichtsrat verpflichtet ist, in seinem Bericht an die Hauptversammlung der Berichterstattung über die nichtfinanziellen Aspekte der Unternehmenstätigkeit – Corporate Social Responsibility (CSR) in besonderer Weise Rechnung zu tragen.

I. Funktion der Berichterstattung des Aufsichtsrats gemäß § 171 Abs. 2 AktG Nach §  171 Abs.  2 Satz 1 AktG hat der Aufsichtsrat gegenüber der ordentlichen Hauptversammlung schriftlich zu berichten. Der Bericht bildet eine wesentliche Informationsgrundlage der Aktionäre und soll sie nach § 171 Abs. 2 Satz 3 und 4 AktG nicht nur über das Ergebnis der Prüfung des vom Vorstand aufgestellten Jahresabschlusses und des Konzernabschlusses sowie des vorlegten Lageberichts und Konzernlageberichts durch den Aufsichtsrat in Kenntnis setzen,13 sondern soll sie § 171 Abs. 2 Satz 2 AktG auch darüber informieren, in welcher Art und in welcher Weise der Aufsichtsrat im abgelaufenen Geschäftsjahr seiner gesetzlichen Überwachungspflicht gegenüber der Geschäftsleitung nachgekommen ist.14

3 Seibert, ZIP 2001, 53. 4 Seibert, NZG 2002, 608. 5 Seibert, BB 2005, 1457. 6 Seibert/Decker, DB 2006, 2446. 7 Seibert/Florstedt, ZIP 2008, 2145. 8 Seibert, WM 2009, 1489. 9 Begründung RegE KonTraG, BT-Drucks. 13/9712, S. 22. 10 Begründung RegE TransPuG, BT-Drucks. 14/8769, S. 22. 11 Richtlinie 2014/95/EU des europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2014 zur Änderung der Richtlinie 2013/34/EU im Hinblick auf die Angabe nichtfinanzieller und die Diversität betreffender Informationen durch bestimmte große Unternehmen und Gruppen, ABl. EU Nr. L 330 v. 15.11.2014, S. 1. 12 Gesetz zur Stärkung der nichtfinanziellen Berichterstattung der Unternehmen in ihren Lage- und Konzernlageberichten (CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz) vom 11. April 2017, BGBl. I 2017, 802. 13 Hennrichs/Pöschke in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 171 Rz. 183; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 171 Rz. 17; E. Vetter in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 171 Rz. 206. 14 BGH v.21.6.2010 – II ZR 24/09, AG 2010, 632 Rz. 22; Ekkenga in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2012, § 171 Rz. 65; Hennrichs/Pöschke in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 171 Rz. 184;

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Aufsichtsratsbericht an die HV und CSR-Berichterstattung

Ziel der Berichterstattung des Aufsichtsrats ist es, den Aktionären im Hinblick auf die Beschlüsse der Hauptversammlung über die Entlastung der Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats, zur Wahl und Abberufung von Aufsichtsratsmitgliedern sowie über die Verwendung des Bilanzgewinns ein Bild darüber zu vermitteln, wie die Auffassung des Aufsichtsrats zu dem vom Vorstand aufgestellten Jahresabschluss und Konzernabschluss sowie dem Lagebericht und Konzernlagebericht ist und wie er seine Überwachungsaufgabe erfüllt hat. Wie sich aus dem neu eingefügten § 171 Abs. 1 Satz 4 AktG ergibt, zählt auch die Prüfung der CSR-Berichterstattung zur gesetzlichen Aufgabe des Aufsichtsrats. Was die inhaltlichen Anforderungen an den Aufsichtsratsbericht anbetrifft, entsprechen nach allgemeiner Ansicht formelhafte Berichte nicht einer ordnungsgemäßen Berichterstattung, sondern es sind konkrete Aussagen des Aufsichtsrats über die Wahrnehmung der Überwachungsaufgabe und die Prüfung von Jahresabschluss und Lagebericht sowie von Konzernabschluss und Konzernlagebericht erforderlich.15

II. Berichterstattung zu den nichtfinanziellen Aspekten der Unternehmenstätigkeit 1. CSR-Berichterstattung als Teil der Geschäftsführung Bevor der Frage nach den spezifischen Berichtspflichten des Aufsichtsrats gegenüber der Hauptversammlung über seine Aufgaben bezüglich der nichtfinanziellen Aspekte der Unternehmenstätigkeit nachgegangen werden kann, bedarf es zunächst einer knappen Darstellung der Berichtspflicht des Unternehmens zu den nichtfinanziellen Aspekten seiner Tätigkeit gemäß §§ 289b ff. und 315b ff. HGB. Auch wenn sich weder im HGB noch im AktG eine ausdrückliche Regelung zur Kompetenzverteilung hinsichtlich der CSR-Berichterstattung findet, lässt sich aus § 289b Abs. 1 Satz 1 HGB schließen, dass die Berichterstattung insoweit – ebenso wie die Aufstellung des Jahresabschlusses und die Erstellung des Lageberichts gemäß § 264 Abs. 1 HGB – Teil der Geschäftsführung ist und damit in den Zuständigkeits- und Verantwortungsbereich des Vorstands fällt.16 2. Gegenstand der CSR-Berichtspflicht des Vorstands Kapitalmarktorientierte Aktiengesellschaften, die im Jahresdurchschnitt insgesamt mindestens 501 Arbeitnehmer beschäftigen,17 haben nach §§ 289b, 315b HGB eine Lutter, AG 2008, 1; E. Vetter in Großkomm. AktG, 5.  Aufl. 2018, §  171 Rz.  209; zuletzt Hommelhoff in FS Marsch-Barner, 2018, S. 261 ff. 15 OLG Stuttgart v. 15.3.2006 – 20 U 25/05, AG 2006, 379, 381 (RTV Family Entertainment); LG München I v. 10.3.2005 – 5 HKO 18110/04, AG 2005, 408 (Para); Marsch-Barner in FS Stilz, 2014, S. 397, 399; Maser/Bäumker, AG 2005, 906, 907; E. Vetter, ZIP 2006, 257, 258. 16 Bachmann, ZGR 2018, 231, 238; Fleischer, AG 2017, 509, 522; Hennrichs/Pöschke, NZG 2017, 121, 123; E. Vetter in FS Marsch-Barner, 2018, S. 559, 564. 17 Entsprechendes gilt für kapitalmarktorientierte Mutterunternehmen i.S.v. § 290 HGB mit konzernweit mindestens 501 Mitarbeitern.

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nichtfinanzielle Erklärung abzugeben, in der zusätzlich zu den Finanzkennzahlen auch Informationen über die nichtfinanziellen Aspekte ihrer Unternehmenstätigkeit darzustellen sind. Gemeint sind dabei nichtfinanzielle Aspekte, die für das Verständnis des Geschäftsverlaufs und des Geschäftsergebnisses, der Lage sowie der Auswirkung der Unternehmenstätigkeit erforderlich sind. Hierdurch soll den Investoren und anderen Stakeholdern über die bloßen Finanzkennzahlen hinaus eine breite Beurteilung der Geschäftstätigkeit des Unternehmens und seiner Lage ermöglicht werden.18 Die von § 289b Abs. 1 HGB erfassten Unternehmen bzw. betroffene Mutterunternehmen gemäß § 315c Abs. 1 i.V.m. § 289b Abs. 2 HGB haben in ihrer nichtfinanziellen Erklärung ihr Geschäftsmodell zu beschreiben und nach § 289b Abs. 2 HGB Angaben zu folgenden Aspekten ihrer Geschäftstätigkeit zu machen.19 –– Umweltbelange: z.B. Treibhausgasemissionen, Wasserverbrauch, Luftverschmutzung, Nutzung erneuerbarer und nicht erneuerbarer Energien, Schutz der biologischen Vielfalt, –– Arbeitnehmerbelange: z.B. Geschlechtergleichstellung, Arbeitsbedingungen, Umsetzung von Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation, Achtung der Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf Information und Konsultation, sozialer Dialog, Achtung der Rechte der Gewerkschaften, Gesundheitsschutz, Sicherheit am Arbeitsplatz, –– Sozialbelange: z.B. Dialog auf kommunaler oder regionaler Ebene, Sicherstellung des Schutzes und der Entwicklung lokaler Gemeinschaften, –– Menschenrechte: Achtung der Menschenrechte, z.B. Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen, –– Bekämpfung von Korruption und Bestechung: z.B. Instrumente zur Bekämpfung von Korruption und Bestechung. Zu den vorstehenden Kategorien sind diejenigen Angaben zu machen, die für das Verständnis des Geschäftsverlaufs, des Geschäftsergebnisses, der Lage des Unternehmens bzw. des Konzerns sowie der Auswirkungen seiner Tätigkeit auf diese Aspekte von Bedeutung sind. Die Angaben gemäß § 289c Abs. 3 HGB sollen zusammen mit einer Beschreibung des Geschäftsmodells und der verfolgten Konzepte20 sowie der dabei im abgelaufenen Geschäftsjahr erzielten Ergebnisse die wesentlichen Risiken der Geschäftstätigkeit in Bezug auf diese Aspekte und die damit verbundenen negativen Auswirkungen auf die Geschäftsbeziehungen zu Dritten aufzeigen. Nur in extremen Ausnahmefällen wird von der Gesellschaft zu den genannten Aspekten insge-

18 Böcking/Althoff, Der Konzern 2017, 246, 250; Hennrichs, NZG 2017, 841, 842; Mock in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht Kommentar, 2018, §  289c HGB Rz.  2; Seibt, DB 2016, 2707, 2708. 19 S. auch Blöink/Halbleib, Der Konzern 2017, 182, 185 ff.; Mock, ZIP 2017, 1195, 1198. 20 Art. 19a CSR-Richtlinie spricht in der englischen Fassung von „policies“.

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samt kein Konzept verfolgt werden; gemäß § 289c Abs. 4 HGB ist dies in der Erklärung offenzulegen und zu begründen (comply or explain).21 3. Form der CSR-Berichterstattung des Vorstands Was die Form der Berichterstattung anbetrifft, können die Gesellschaften ihrer gesetzlichen CSR-Berichtspflicht auf drei unterschiedlichen Wegen nachkommen.22 Sie können den Lagebericht oder Konzernlagebericht um entsprechende Ausführungen zu den nichtfinanziellen Aspekten ihrer Geschäftstätigkeit erweitern. Hierbei besteht zum einen die Möglichkeit die Ausführungen gemäß § 289b Abs. 1 Satz 1 HGB an den jeweils passenden Stellen in die allgemeine Berichterstattung im Lagebericht oder Konzernlagebericht zu integrieren, die den verschiedenen Einzelaspekten der CSR-Berichterstattung entsprechen (sog. vollintegrierte Berichterstattung).23 Dies setzt allerdings voraus, dass die entsprechenden Ausführungen zu den nichtfinanziellen As­ pekten im Bericht jeweils erkennbar sind, z.B. durch farbliche oder graphische Differenzierung.24 Zum anderen ist es der Gesellschaft nach § 289b Abs. 1 Satz 2 HGB aber auch freigestellt, die CSR-Berichterstattung in einen besonderen Abschnitt des Lageberichts aufzunehmen und dort die nichtfinanziellen Aspekte zusammenfassend zu erläutern.25 In beiden Fällen bildet die Erklärung unzweifelhaft einen Bestandteil des Lageberichts. Schließlich kann die Gesellschaft gemäß § 289b Abs. 3 HGB aber auch wählen, der Berichtspflicht hinsichtlich der in §  289c Abs.  2 HGB genannten Inhalte außerhalb des Lageberichts in einem gesonderten öffentlich zugänglichen Bericht nachzukommen. Erfolgt die öffentliche Zugänglichmachung des gesonderten nichtfinanziellen Berichts nicht zusammen mit dem Lagebericht gemäß § 325 HGB, sondern durch Veröffentlichung auf der Internetseite der Gesellschaft, ist hierauf nach §  289b Abs.  3 Satz 1 Nr.  2b HGB im Lagebericht hinzuweisen. Gleiches gilt nach §§ 315b ff. HGB für Mutterunternehmen hinsichtlich der Berichterstattung im Konzern. In welchem Berichtsformat das Unternehmen seiner gesetzlichen CSR-Berichtspflicht gemäß §§ 289b ff. und 315b ff. HGB nachkommen will, ist, ebenso wie etwa die Entscheidung gemäß § 315 Abs. 3 i.V.m. § 298 Abs. 2 HGB, ob der Konzernlagebericht mit dem Lagebericht des Mutterunternehmens zusammengefasst wird, eine Frage der

21 Kumm/Woodtli, Der Konzern 2016, 218, 223; Merkt in Baumbach/Hopt, HGB, 38.  Aufl. 2018, § 289c Rz. 16. 22 Rechtstatsächliche Hinweise z.B. bei Wadewitz, Börsen-Zeitung v. 16.5.2018 S. 8. 23 Winkeljohann/Schäfer in Beck‘scher Bilanz-Kommentar, 11. Aufl. 2018, § 289b HGB Rz. 27; Kajüter, IRZ 2016, 507, 509; a.A. wohl Mock in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht Kommentar, 2018, § 289b HGB Rz. 36; Ruhnke/Schmidt, DB 2017, 2557, 2561; kritisch auch Haaker, DB 2017, 922. 24 S. z.B auch Winkeljohann/Schäfer in Beck‘scher Bilanz-Kommentar, 11. Aufl. 2018, § 289b HGB Rz. 27. 25 Mock in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht Kommentar, 2018, § 289b HGB Rz. 36; Winkeljohann/Schäfer in Beck‘scher Bilanz-Kommentar, 11. Aufl. 2018, § 289b HGB Rz. 25.

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Form der Rechnungslegung und Berichterstattung.26 Sie liegt in den Händen der Unternehmensleitung und ist vom Vorstand im Rahmen seiner Verantwortung gemäß §§  76, 77 AktG zu entscheiden.27 Nach dem Gesetz ist es nicht geboten bei dieser Entscheidung den Aufsichtsrat zu beteiligen; ihm obliegt gemäß der aktienrechtlichen Kompetenzverteilung gemäß § 171 Abs. 1 Satz 1 und 4 AktG die spätere Prüfung der vom Vorstand vorgelegten Berichterstattung unter den Gesichtspunkten der Rechtmäßigkeit wie auch Zweckmäßigkeit.

III. Bericht des Aufsichtsrats gemäß § 171 Abs. 2 AktG hinsichtlich der CSR-Berichterstattung Hinsichtlich der Berichterstattung über die nichtfinanziellen Aspekte der Geschäftstätigkeit des Unternehmens oder des Konzerns und der diesbezüglichen Verantwortung des Aufsichtsrats stellt sich die Frage, in wieweit der Aufsichtsrat in seinem Bericht an die Hauptversammlung nach § 171 Abs. 2 Satz 1 AktG hierauf einzugehen hat. Bevor auf diese Frage näher eingegangen werden kann, ist als Vorfrage zu klären, welche Prüfungsverantwortung den Aufsichtsrat hinsichtlich der CSR-Berichterstattung des Unternehmens trifft. 1. Prüfungsverantwortung des Aufsichtsrats hinsichtlich der CSR-Bericht­ erstattung nach § 171 Abs. 1 AktG a) CSR-Prüfungsgegenstand im Allgemeinen Nach § 171 Abs. 1 Satz 1 AktG unterliegen der Jahresabschluss und der Lagebericht sowie bei Mutterunternehmen auch der Konzernabschluss nebst Konzernlagebericht der Prüfung durch den Aufsichtsrat. Damit werden zwangsläufig auch die Ausführungen zu den nichtfinanziellen Aspekten der Unternehmenstätigkeit, sofern sie gemäß §§ 289b Abs. 1, 315b Abs. 1 HGB im Lagebericht bzw. Konzernlagebericht enthalten sind, erfasst, ohne dass es dazu einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung bedarf.28 Entscheidet sich der Vorstand zur Erfüllung der CSR-Berichterstattungspflicht außerhalb des Lageberichts oder Konzernlageberichts durch Vorlage eines gesonderten nichtfinanziellen Berichts gemäß § 289b Abs. 3 HGB  oder eines gesonderten nichtfinanziellen Konzernberichts gemäß § 315b Abs. 3 HGB, geht die durch § 171 Abs. 1 Satz 1 AktG angeordnete Pflicht des Aufsichtsrats zur Prüfung von Lagebericht und Konzernlagebericht ins Leere. Deshalb sieht § 171 Abs. 1 Satz 4 AktG für diesen Fall ausdrücklich die Prüfung der Berichte durch den Aufsichtsrat vor. Hierbei handelt es 26 Erste empirische Befunde bei Hillmer, ZCG 2018, 138. 27 Hecker/Bröcker, AG 2017, 761, 765; Hennrichs/Pöschke, NZG 2017, 121, 123; E. Vetter in FS Marsch-Barner, 2018, S. 559, 564; E. Vetter in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 170 Rz. 29; Winkeljohann/Schäfer in Beck‘scher Bilanz-Kommentar, 11. Aufl. 2018, § 289b HGB Rz. 20; a.A. Pellens, Audit Committee Quarterly 2017 extra, 28, 29. 28 Hennrichs/Pöschke, NZG 2017, 121, 123; Kajüter, DB 2017, 617, 625.

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sich nur um eine gesetzliche Klarstellung29 hinsichtlich der allgemeinen Kontrollfunktion des Aufsichtsrats gemäß §  111 Abs.  1 AktG und seiner spezifischen Prüfungspflicht nach §  171 Abs.  1 AktG bezüglich der nichtfinanziellen Berichterstattung.30 Denn der Gesetzesbegründung lässt sich nicht entnehmen, dass dieser neu eingefügte Satz eine gegenüber der gemäß § 171 Abs. 1 Satz 1 AktG bestehenden generellen Prüfungspflicht des Aufsichtsrats besonders intensive Prüfung vorschreibt. Im Übrigen wäre es mit der aktienrechtlichen Kompetenzordnung nicht zu vereinbaren, wenn der Vorstand durch seine Entscheidung, ob die CSR-Berichterstattung im Lagebericht oder Konzernlagebericht erfolgt oder in einem gesonderten Bericht stattfindet, die Reichweite der Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats und den Umfang und die Intensität seiner Prüfung hinsichtlich der Berichterstattung über die nichtfinanziellen Aspekte der Geschäftstätigkeit bestimmen könnte.31 b) Intensität der CSR-Prüfung durch den Aufsichtsrat aa) Gesetzliche Ausgangssituation Die Anordnung der Prüfungspflicht des Aufsichtsrats führt automatisch zur Frage, mit welcher Intensität der Aufsichtsrat die Prüfung der CSR-Berichterstattung vorzunehmen hat. Den durch das CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz im Jahre 2017 ein­ geführten Vorschriften lässt sich dazu keine Aussage entnehmen. Aus § 317 Abs. 2 Satz 4 HGB lässt sich allerdings klar ableiten, dass sich der Aufsichtsrat – im Unterschied zur Prüfung des Jahresabschlusses und des Lageberichts bzw. des Konzernabschlusses und des Konzernlageberichts  – bei seiner Prüfung nicht auf einen Prüfungsbericht des Abschlussprüfers über die inhaltliche Prüfung der nichtfinanziellen Berichterstattung stützen kann. Etwas anderes gilt nur, soweit es sich um nichtfinanzielle Angaben handelt, die nach §§ 289 Abs. 3 und 315 Abs. 3 HGB zu den prüfungspflichtigen Pflichtinhalten des Lageberichts zählen. Der Abschlussprüfer hat im Übrigen nach § 317 Abs. 2 Satz 4 HGB lediglich zu prüfen, ob die nichtfinanzielle Erklärung abgegeben worden ist; eine Pflicht zur inhaltlichen Prüfung der CSR-Aussagen besteht nicht,32 und zwar unabhängig davon, ob die CSR-Berichterstattung in den Lagebericht oder Konzernlagebericht integriert ist oder im Wege eines gesonderten nichtfinanziellen Berichts oder eines gesonderten nichtfinanziellen Konzernberichts erfolgt.33 Angesichts dieser normativen Ausgangslage ist die Intensität, mit der der Aufsichtsrat die inhaltliche Prüfung durchzuführen hat, umstritten.34

29 Gundel, Wpg 2018, 108, 109; Hennrichs/Pöschke, NZG 2017, 121, 123; Mock, ZIP 2017, 1195, 1201. 30 Begründung des RegE zum CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz, BT-Drucks. 18/9982, S. 65. 31 Ebenso Hommelhoff, NZG 2017, 1361, 1364; anders wohl Pellens, Audit Committee Quarterly 2017 extra, 28, 29. 32 Burg in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht Kommentar, 2018, §  317 HGB Rz.  91; Schmidt/Almeling in Beck‘scher Bilanz-Kommentar, 11.  Aufl. 2018, §  317 HGB Rz. 70. 33 A.A. Ruhnke/Schmidt, DB 2017, 2557, 2563. 34 Zum Meinungsspektrum s. jüngst z.B. Gundel, WPg 2018, 108, 109; Hennrichs, ZGR 2018, 206, 222.

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Hält man sich den vom Gesetzgeber anerkannten35 nebenamtlichen Charakter der Aufsichtsratstätigkeit und die im Regelfall fehlende Expertise der Aufsichtsratsmitglieder zur umfassenden Prüfung der CSR-Berichterstattung vor Augen, kann vom Aufsichtsrat keinesfalls die inhaltliche Prüfung der nichtfinanziellen Erklärung mit derselben Intensität verlangt werden, wie dies der Prüfung des Jahresabschlusses und des Lageberichts durch den Abschlussprüfer entspricht. Der Aufsichtsrat kommt seiner Prüfungspflicht vielmehr ordnungsgemäß nach, wenn er prüft, ob im Rahmen der CSR-Berichterstattung allen im Gesetz genannten nichtfinanziellen Aspekten der Unternehmenstätigkeit, nämlich Umwelt-, Arbeitnehmer- und Sozialbelangen, Menschenrechten sowie der Bekämpfung von Korruption und Bestechung sowie gege­ benenfalls weiteren Aspekten nichtfinanzieller Art Rechnung getragen worden ist. Weiterhin hat er zu prüfen, ob bei den Erläuterungen zur allgemeinen Unternehmensstrategie die nichtfinanziellen Ziele des Unternehmens und die verfolgten Umsetzungskonzepte einbezogen worden sind und dabei auch auf die bestehenden ­Risiken eingegangen worden ist. Im Übrigen genügt der Aufsichtsrat seiner Prüfungsverantwortung durch kritische Durchsicht der CSR-Berichterstattung auf Vollständigkeit und Plausibilität sowie auf Konsistenz im Verhältnis zur verabschiedeten Strategie und Unternehmenspolitik einerseits sowie zu den nichtfinanziellen Zielen andererseits.36 Schließlich hat der Aufsichtsrat auch auf die Widerspruchsfreiheit der CSR-Berichterstattung im Hinblick auf die Ausführungen im Lagebericht und Konzernlagebericht über die Chancen und Risiken der künftigen Entwicklung gemäß §§ 289 Abs. 1 Satz 4 und 315 Abs. 1 Satz 5 HGB zu achten.37 bb) Externe Prüfung als Ausnahme Im Hinblick auf die Komplexität der CSR-Berichterstattung und der nicht selten fehlenden begrifflichen Schärfe der gesetzlichen Vorgaben der §§ 289b ff., 315b ff HGB zu den einzelnen Aspekten der nichtfinanziellen Berichterstattung wird sich der Aufsichtsrat zu fragen haben, ob er die für die Geschäftstätigkeit des Unternehmens besonders bedeutsamen Aspekte der nichtfinanziellen Berichterstattung regelmäßig oder in bestimmten Abständen einer gesonderten Prüfung durch unabhängige Dritte unterziehen soll. Eine generelle gesetzliche Verpflichtung dazu besteht jedoch nicht.38 Auch wenn die Unterstützung durch externe Dritte bei der Prüfung der CSR-Berichterstattung im ersten Jahr der Geltung der neuen Vorschriften in der Praxis nicht zuletzt durch entsprechende Äußerungen im Schrifttum relativ weit verbreitet ist,39 gilt 35 §§ 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 110 Abs. 3 Satz 1 AktG; RegE TransPuG, BT-Drucks. 14/8769, S. 18. 36 Ebenso Hecker/Bröcker, AG 2017, 761, 766; Hennrichs, ZGR 2018, 206, 223; Hennrichs/ Pöschke, NZG 2017, 121, 127; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 171 Rz. 8a; Rieckers, DB 2017, 2786, 2792; E. Vetter in FS Marsch-Barner, 2018, S. 451, 463. 37 Velte, NZG 2014, 1046, 1047. 38 Blöink/Halbleib, Der Konzern 2017, 182, 185; Hennrichs/Pöschke in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 171 Rz. 59a; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, 111 Rz. 24a; Mock, ZIP 2017, 1195, 1200; E. Vetter in FS Marsch-Barner, 2018, S. 559, 571. 39 Erste rechtstatsächliche Aussagen z.B. bei Fischer/Auer, Audit Committee Quarterly 2017 extra, 26, 27; Hillmer, ZCG 2018, 138, 139; Wadewitz, Börsen-Zeitung v. 16.5.2018 S. 8.

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es zu betonen, dass insoweit weder rechtlich noch faktisch eine generelle Prüfungspflicht besteht. Es liegt vielmehr im Ermessen des Aufsichtsrats, ob er sich nach § 111 Abs. 2 Satz 4 AktG zu seiner eigenen Vergewisserung und zur Vorbereitung seiner eigenen Prüfung für die Beauftragung eines Wirtschaftsprüfers entscheidet, der die nichtfinanzielle Berichterstattung des Vorstands einer inhaltlichen Prüfung unterzieht.40 Allein schon aus Gründen der Koordination mit der Abschlussprüfung wird sich der Aufsichtsrat in der Praxis mit der Frage der Erteilung eines externen Prüfungsauftrages hinsichtlich der CSR-Berichterstattung zum selben Zeitpunkt befassen müssen, wenn im Aufsichtsratsplenum oder im Prüfungsausschuss die Entscheidung dazu ansteht, wer der Hauptversammlung als Abschlussprüfer vorgeschlagen werden soll, auch wenn für die Erteilung des Prüfungsauftrags hinsichtlich der CSR-Berichterstattung nach § 111 Abs. 2 Satz 4 AktG kein Hauptversammlungsbeschluss erforderlich ist.41 Bei der Frage nach der Veranlassung einer externen Prüfung der nichtfinanziellen Berichterstattung geht es nicht nur um die Grundfrage, ob z.B. der Abschlus­s­ prüfer oder ein anderer unabhängiger Erbringer von Bestätigungsleistungen die ­Prüfung der CSR-Ausführungen des Vorstands durchführen soll, sondern auch um die Frage, ob die Prüfung mit einem Ergebnis im Sinne einer reasonable assurance, das heißt mit hinreichender Sicherheit abgeschlossen werden soll oder ob auch eine limited assurance42 ausreicht, die das Prüfungsergebnis lediglich mit begrenzter Sicherheit bescheinigt.43 cc) Prüfung in Sondersituationen Für den Aufsichtsrat kommt nicht nur die Beauftragung eines externen Prüfers für die gesamte CSR-Berichterstattung in Betracht, er kann sich auch dafür entscheiden einzelne ausgewählte Berichtselemente der in § 289c HGB genannten nichtfinanziellen Aspekte der externen Prüfung zu unterwerfen. Dies bietet sich insbesondere für die Prüfung der Berichtswege und des Prozesses der Datenerfassung als Vorfrage der CSR-Berichterstattung an (z.B. Lieferkette oder Kette von Subunternehmen, Korruptionsbekämpfung). Denn ohne Überwachung des Erfassungs- und Erstellungsprozesses ist die Prüfung des vorgelegten Berichts nicht möglich.44 Die Beauftragung einer externen Prüfung kann sich auch anbieten, wenn der Vorstand für die CSR-Berichterstattung nicht auf ein anerkanntes Rahmenwerk zurück40 S. auch Hennrichs, ZGR 2018, 206, 222; Euler/Klein in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 171 Rz. 62b. 41 Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, 111 Rz. 24a; Pellens, Audit Committee Quarterly 2017 extra, 28, 31. 42 S. dazu z.B. Gundel, WPg 2018, 108, 110; Kirsch/Huter, WPg 2017, 1017, 1024; Pellens, Audit Committee Quarterly 2017 extra, 28, 31. 43 S. zur tatsächlichen Verbreitung z.B. Fischer/Auer, Audit Committee Quarterly 2017 extra, 26, 27; Hillmer, ZCG 2018, 138, 139. 44 Gleichsinnig z.B. hinsichtlich des Rechnungslegungsprozesses Nonnenmacher in FS Haarmann, 2015, S. 145, 150.

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gegriffen, sondern dabei eine individuelle Berichtssystematik verwendet hat. Die CSR-­Richtlinie nennt im Erwägungsgrund 9 namentlich verschiedene international anerkannte Rahmenwerke, wie z.B. das unionsbasierte Umweltmanagement- und Betriebsprüfungssystem (EMAS), den Global Compact der Vereinten Nationen, die Leitlinien der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) für multinationale Unternehmen, die Norm der Internationen Organisation für Normung ISO 26000 sowie Global Reporting Initiative. Auch wenn durch die Verwendung von Rahmenwerken die Vergleichbarkeit der CSR-Berichterstattung wesentlich erleichtert wird, ist die berichtspflichtige Gesellschaft nicht verpflichtet, bei ihrer Berichterstattung einem bestimmten internationalen Rahmenwerk zu folgen.45 Die Abweichungen gegenüber den Rahmenwerken sind zwar nach §  289d Satz 2 HGB in der nichtfinanziellen Erklärung zu erläutern und zu begründen (comply or explain).46 gleichwohl wird der Aufsichtsrat vielfach gut beraten sein, in diesen besonderen Fällen sowohl zur Prüfung der CSR-Berichterstattung selbst wie auch zum Verständnis der der Abweichung zugrundeliegenden Überlegungen des Vorstands externe Hilfe in Anspruch zu nehmen. Gegenüber der generellen Pflicht des Aufsichtsrats zur Prüfung der CSR-Berichterstattung i.S.v. § 171 Abs. 1 AktG erwächst die Pflicht zur weitergehenden und intensiveren Prüfung, wenn die CSR-Berichterstattung des Vorstands erkennbar Mängel aufweist. Ist sie etwa nach Ansicht des Aufsichtsrats unvollständig, unrichtig oder enthält sie Widersprüche gegenüber der verabschiedeten Unternehmensstrategie, den unterjährigen Berichten des Vorstands gemäß § 90 Abs. 1 und Abs. 3 AktG oder zur mündlichen Berichterstattung des Vorstands in den Sitzungen des Aufsichtsrats oder seiner Ausschüsse, sind in der Regel besondere Prüfungs- und Untersuchungsmaßnahmen des Aufsichtsrats gemäß § 111 Abs. 2 Satz 2 AktG angezeigt.47 2. Bericht des Aufsichtsrats über seine Prüfung der CSR-Berichterstattung des Vorstands Angesichts der Tatsache, dass – wie ausgeführt – der Aufsichtsrat nicht automatisch zur umfassenden inhaltlichen Prüfung der Berichterstattung des Vorstands zu den nichtfinanziellen Aspekten der Geschäftstätigkeit des Unternehmens oder des Konzerns verpflichtet ist, wird man bei der Berichtspflicht des Aufsichtsrats gegenüber der Hauptversammlung nach § 171 Abs. 2 AktG zu differenzieren haben. a) Regelberichterstattung des Aufsichtsrats Unabhängig davon, ob die Berichtspflicht hinsichtlich der nichtfinanziellen Aspekte der Unternehmenstätigkeit im Rahmen des Lageberichts oder Konzernlageberichts 45 Begründung des RegE zum CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz, BT-Drucks. 18/9982, S. 52; ablehnend gegenüber den existierenden Rahmenwerken Mock, ZIP 2017, 1195, 1199. 46 Hecker/Bröcker, AG 2017, 761, 765; Mock, ZIP 2017, 1195, 1199. 47 Arbeitskreis Bilanzrecht Hochschullehrer Rechtswissenschaft, NZG 2016, 1337, 1338; Hennrichs, NZG 2017, 841, 846; Hennrichs/Pöschke, NZG 2017, 121, 127; E. Vetter in FS Marsch-Barner, 2018, S. 559, 572.

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erfüllt wird oder ob die Berichterstattung zu den CSR-Aspekten in einem entsprechenden gesonderten nichtfinanziellen Bericht stattfindet, hat der Aufsichtsrat über die von ihm insoweit ausgeübte Kontrolltätigkeit gegenüber der Hauptversammlung zu berichten. Dabei ist gemäß §  171 Abs.  2 AktG zu unterscheiden. Gemäß §  171 Abs. 2 Satz 1 AktG hat der Aufsichtsrat generell über das Ergebnis seiner Prüfung zu berichten. Diese Regelung bezieht sich auf die Prüfungspflichten des Aufsichtsrats gemäß § 171 Abs. 1 Satz 1 und Satz 4 AktG48 zur Prüfung des Jahresabschlusses und Lageberichts, bzw. bei Mutterunternehmen auch des Konzernabschlusses und des Konzernlageberichts sowie einer eventuellen gesonderten CSR-Berichterstattung.49 Darüber hinaus begründet § 171 Abs. 2 Satz 2 AktG eine Berichtspflicht hinsichtlich der vom Aufsichtsrat durchgeführten unterjährigen Prüfungs- und Überwachungsmaßnahmen. Ist die CSR-Berichterstattung gemäß § 289b Abs. 1 HGB Teil des Lageberichts oder Konzernlageberichts, sind dazu besondere Ausführungen im Aufsichtsratsbericht, sofern der Aufsichtsrat insoweit keine besonderen Feststellungen oder Beanstandungen vorgenommen hat, entbehrlich. Die Prüfung der CSR-Berichterstattung nach § 171 Abs. 1 Satz 1 AktG ist zwangsläufig Teil der Prüfung des Lageberichts bzw. Konzernlageberichts durch den Aufsichtsrat.50 Auch wenn die CSR-Berichterstattung unabhängig vom Berichtsformat nach § 317 Abs. 2 Satz 4 HGB nur der förmlichen – nicht aber der inhaltlichen – Prüfung durch den Abschlussprüfer unterliegt, ergeben sich insoweit keine besonderen Berichtspflichten des Aufsichtsrats gegenüber der Hauptversammlung. Der Aufsichtsrat kommt seiner Berichtspflicht im erforderlichen Umfang nach, wenn er in seinem Bericht an die Hauptversammlung mitteilt, dass er den vorgelegten Lagebericht bzw. Konzernlagebericht geprüft hat und dazu keine Einwände bestanden; es bleibt ihm allerdings unbenommen über das Mindestmaß hinauszugehen und zusätzliche Aussagen zur Prüfung der CSR-Berichterstattung zu machen. Der Aufsichtsrat braucht zu dem Umstand, dass er für seine Prüfung im Unterschied zum Lagebericht im Übrigen nicht auf einen Prüfungsbericht des Abschlussprüfers mit entsprechenden inhaltlichen Aussagen zur CSR-Berichterstattung zurückgreifen konnte und ihm damit insoweit keine vorstandsunabhängige ­Informationsgrundlage zur Verfügung stand, grundsätzlich keine näheren Ausführungen zu machen.51 Die Unterschiede der Prüfungsintensität des Aufsichtsrats hinsichtlich des Lageberichts und der CSR-Berichterstattung sind im Gesetz angelegt und damit systemimmanent; zusätzliche Ausführungen im Bericht des Aufsichtsrats sind insoweit nicht erforderlich.52

48 Die in § 171 Abs. 1 Satz 1 AktG ebenfalls angeordnete Pflicht zur Prüfung des Gewinnverwendungsvorschlags ist in unserem Kontext ohne Bedeutung. 49 Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 171 Rz. 19; E. Vetter in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 171 Rz. 224 und 243. 50 E. Vetter in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 171 Rz. 244; a.A. wohl Hennrichs/Pöschke, NZG 2017, 121, 123. 51 E. Vetter in FS Marsch-Barner, 2018, S. 559, 574. 52 A.A. wohl Hecker/Bröcker, AG 2017, 761, 767.

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Erfolgt die CSR-Berichterstattung gemäß § 289b Abs. 3 HGB im Wege eines gesonderten nichtfinanziellen Berichts oder gemäß § 315b Abs. 3 HGB eines gesonderten nichtfinanziellen Konzernberichts, gilt im Grundsatz nichts Anderes; auch insoweit trifft den Aufsichtsrat die Berichtspflicht gemäß § 171 Abs. 2 Satz 1 AktG. Die Erstellung eines gesonderten nichtfinanziellen Berichts außerhalb des Lageberichts nimmt diesem nicht den Charakter als funktionaler Teil des Lageberichts bzw. Konzernlageberichts.53 Mangels besonderer Vorkommnisse genügt es für die Berichterstattung, wenn der Aufsichtsrat in seinem Bericht an die Hauptversammlung mitteilt, dass er neben dem Lagebericht bzw. Konzernlagebericht auch den gesonderten nichtfinanziellen Bericht bzw. den gesonderten nichtfinanziellen Konzernbericht geprüft hat und sich keine Einwände ergeben haben.54 Nach § 171 Abs. 2 Satz 2 AktG hat der Aufsichtsrat in seinem Bericht an die Hauptversammlung unter anderem auch mitzuteilen, welche Ausschüsse gebildet worden sind. Dies schließt die Angabe ein, welche Aufgaben und Funktionen ihnen zugewiesen sind.55 Daraus ergibt sich, dass der Aufsichtsrat auch anzugeben hat, wenn er die Vorbereitung seiner eigenen Prüfung der nichtfinanziellen Berichterstattung an einen Ausschuss – typischerweise den Prüfungsausschuss – delegiert hat. Denn es erschließt sich nicht von selbst, dass diese Aufgabe zu dessen Kernaufgaben zählt. Hat der Aufsichtsrat eine freiwillige Prüfung der CSR-Berichterstattung durch den Abschlussprüfer oder einen anderen unabhängigen Erbringer von Bestätigungsleistungen entweder als Prüfung mit reasonable assurance oder als limited assurance in Auftrag gegeben,56 hat er in seinem Bericht an die Hauptversammlung gemäß § 171 Abs. 2 Satz 2 AktG auf die Auftragserteilung sowie auf das Ergebnis der freiwilligen Prüfung durch den Sachverständigen im Aufsichtsratsbericht einzugehen und seine eigene Auffassung darzulegen, und zwar unabhängig davon, ob diese Prüfung die Ordnungsmäßigkeit der nichtfinanziellen Berichterstattung bestätigt hat oder ob sie zu Beanstandungen geführt hat.57 Diese Verpflichtung entfällt nicht deshalb, weil das Prüfungsergebnis gemäß § 289b Abs. 4 HGB ohnehin öffentlich zugänglich zu machen ist,58 denn für die Aktionäre ist die Kenntnis der Auffassung des Aufsichtsrats für ihre Beschlussfassung in der Hauptversammlung (z.B. Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat, Wahl des Aufsichtsrats) von besonderer Bedeutung. b) Bericht des Aufsichtsrats bei fehlender Billigung der CSR-Berichterstattung Hält der Aufsichtsrat die Berichterstattung des Vorstands zu den nichtfinanziellen Aspekten der Unternehmenstätigkeit für unzureichend oder etwa nach Hinweisen 53 So wohl auch Hennrichs/Pöschke, NZG 2017, 121, 123. 54 Ebenso wohl Bachmann, ZGR 2018, 231, 240. 55 Grigoleit/Zellner in Grigoleit, AktG, 2013, §  171 Rz.  19; Hennrichs/Pöschke in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 171 Rz. 202; Marsch-Barner in FS Stilz, 2014, S. 397, 407. 56 S. oben unter III.1.b.bb. 57 Im Ergebnis ebenso Böcking/Althoff, Der Konzern 2017, 246, 251, die die Mitteilungspflicht mit haftungsrechtlichen Überlegungen begründen wollen. 58 § 289b Abs. 4 HGB ist am 1.1.2019 in Kraft getreten und gilt erstmals für Geschäftsjahre, die nach dem 31.12.2018 beginnen.

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des Abschlussprüfers gemäß §  322 Abs.  3 Satz 2 HGB gar für mangelhaft und beschließt er die Berichterstattung zu beanstanden, wird er dem Vorstand seine Bedenken mitteilen und gegebenenfalls Änderungen des nichtfinanziellen Berichts anregen. Der Vorstand ist jedoch zu Änderungen seines CSR-Berichts nicht verpflichtet.59 Der Umstand, dass die Beanstandungen des Aufsichtsrats im Aufsichtsratsbericht offengelegt werden, werden den Vorstand möglicherweise veranlassen, Änderungen in seinem Bericht vorzunehmen, soweit dies im vorgelegten Bericht noch umsetzbar ist, was in der Praxis nur in Ausnahmefällen in Betracht kommen dürfte. Nimmt der Vorstand in seiner CSR-Berichterstattung Korrekturen vor und sind dadurch die Bedenken des Aufsichtsrats ausgeräumt, braucht hierauf im Aufsichtsratsbericht nicht mehr eingegangen zu werden.60 Lehnt der Vorstand jedoch Veränderungen in der Berichterstattung zu den nichtfinanziellen Aspekten der Unternehmenstätigkeit ab oder hält der Aufsichtsrat trotz der erfolgten Änderungen an seinen Beanstandungen fest, ist hierüber im Bericht des Aufsichtsrats gemäß § 171 Abs. 2 Satz 2 AktG zu berichten.61 Der Vorstand hat den Abschlussprüfer über die Änderung der nichtfinanziellen Berichterstattung zu unterrichten unabhängig davon, ob die Erklärung gemäß § 289b Abs. 1 HGB im Lagebericht selbst erfolgt oder nach § 289b Abs. 2 HGB im Wege des gesonderten Berichts abgegeben wird. Vor dem Hintergrund der gemäß § 317 Abs. 2 Satz 4 HGB auf die Prüfung der formalen Vorlage der Erklärung beschränkten Aufgabe des Abschlussprüfer scheidet eine Nachtragsprüfung des Abschlussprüfers i.S.v. § 316 Abs. 2 Satz 1 HGB aus. c) Berichtspflicht des Aufsichtsrats zu besonderen Prüfungsmaßnahmen hinsichtlich der CSR-Berichterstattung Verlangt der Aufsichtsrat im Rahmen seiner laufenden Überwachung vom Vorstand hinsichtlich der nichtfinanziellen Aspekte der Geschäftstätigkeit die Erstattung zusätzlicher Berichte i.S.v. § 90 Abs. 3 AktG, ist dies im Bericht an die Hauptversammlung mitzuteilen.62 Macht er bei seiner Prüfung der CSR-Berichterstattung des Vorstands besondere Feststellungen (wie z.B. Widersprüche zur beschlossenen Strategie, signifikant unvollständige oder fehlerhafte Berichterstattung) und entscheidet sich der Aufsichtsrat im Hinblick darauf gemäß § 111 Abs. 2 Satz 2 AktG zur Erteilung eines speziellen Prüfungsauftrags an den Abschlussprüfer oder einen unabhängigen Erbringer von Bestätigungsleistungen, hat er hierüber in seinem Bericht an die 59 Zur Parallelsituation beim Lagebericht s. z.B. Euler/Klein in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 171 Rz. 48; Hennrichs/Pöschke in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 171 Rz. 60; E. Vetter in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 171 Rz. 89. 60 S. dazu generell z.B. Drygala in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 171 Rz. 17; Ekkenga in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2012, § 171 Rz. 74; Sünner, AG 2008, 411, 413. 61 E. Vetter in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 171 Rz. 245. 62 Ekkenga in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2012, § 171 Rz. 75; Hennrichs/Pöschke in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 171 Rz. 194; E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 4. Aufl. 2018, Rz. 26.55.

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Hauptversammlung zu berichten.63 Insoweit ergeben sich keine Unterschiede gegenüber der bisherigen Unternehmenspraxis der Berichterstattung des Aufsichtsrats über die Durchführung besonderer Überwachungsmaßnahmen, die er gemäß §§ 90 Abs. 3 und 111 Abs.  2 Satz 2 AktG beschlossen hat und über die er grundsätzlich an die Hauptversammlung zu berichten hat.64 3. Mündliche Erläuterung des Aufsichtsratsvorsitzenden nach § 176 Abs. 1 Satz 2 AktG Der Aufsichtsratsvorsitzende soll gemäß §  176 Abs.  1 Satz 2 AktG zu Beginn der Hauptversammlung den Bericht des Aufsichtsrats mündlich erläutern. Inhalt und Umfang seiner Ausführungen bestimmt er im Rahmen seiner Verantwortung selbst. Ob er dabei auf die Prüfung der nichtfinanziellen Berichterstattung durch den Aufsichtsrat näher eingeht, bleibt seiner persönlichen Entscheidung überlassen, da es sich bei der Aufgabe nach § 176 Abs. 1 Satz 2 AktG um eine persönliche Pflicht des Aufsichtsratsvorsitzenden handelt.65 Insoweit ergeben sich hinsichtlich der CSR-Thematik keine Besonderheiten.

IV. Schluss Die Pflicht zur Berichterstattung über die nichtfinanziellen Aspekte der Unternehmenstätigkeit nach den §§  289b  ff. und 315b  ff. HGB infolge der Umsetzung der CSR-Richtlinie im Jahre 2017 hat auch zu einer Erweiterung der Prüfungs- und Überwachungstätigkeit des Aufsichtsrats gemäß §§ 171 Abs. 1 und 111 Abs. 1 AktG geführt. Dem muss im Interesse der Unterrichtung der Aktionäre auch durch eine entsprechende Berichterstattung im Bericht des Aufsichtsrats an die Hauptversammlung gemäß § 171 Abs. 2 AktG Rechnung getragen werden. Dabei ergeben sich aber gegenüber der bisherigen Praxis der Berichterstattung des Aufsichtsrats über seine Prüfungs- und Überwachungstätigkeit hinsichtlich der nichtfinanziellen Berichterstattung keine signifikanten Abweichungen.

63 E. Vetter in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 171 Rz. 245. 64 S. z.B. OLG Stuttgart v. 15.3.2006 – 20 U 25/05, AG 2006, 379, 381 (RTV Family Entertainment); Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 171 Rz. 20; E. Vetter, ZIP 2006, 257, 259; Waclawik in Hölters, AktG, 3. Aufl. 2017, § 171 Rz. 19. 65 Ekkenga in KölnKomm. AktG, 3.  Aufl. 2012, §  176 Rz.  13; Hüffer/Koch, AktG, 13.  Aufl. 2018, §  176 Rz.  4; E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 4. Aufl. 2018, Rz. 26.59.

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Mehr Demokratie wagen? Überlegungen zu einer Erweiterung der Entscheidungs­ kompetenzen der Hauptversammlung Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Aktuelle Trends zu mehr Aktionärs­ demokratie III. Historische Entwicklung IV. Gründe für und Chancen einer stärkeren Beteiligung der Hauptversammlung 1. Aus Sicht der Aktionäre 2. Aus Sicht der Verwaltung V. Nachteile von Beschlusskompetenzen der Hauptversammlung 1. Ineffizienz 2. Schwerfälligkeit 3. Beschlussmängelrecht

4. Berücksichtigung der Interessen sonstiger Stakeholder 5. Eignung der Hauptversammlung, ­komplexe Entscheidungen zu treffen 6. Qualitätssicherung der Entscheidungsfindung a) Haftung b) Zusammensetzung des Entscheidungsgremiums c) Ausrichtung des Entscheiders auf Langfristigkeit 7. Relativierung VI. Versuch einer Konkretisierung

I. Einleitung Kaum eine andere Persönlichkeit hat das deutsche Kapitalgesellschaftsrecht in den letzten 25 Jahren so geprägt wie Ulrich Seibert, und zwar nicht in einem dominanten Sinne, sondern zwar mit klaren Überzeugungen, aber doch zuhörend und offen für neue Ideen. Ihm sollen die folgenden rechtspolitischen Überlegungen zu einem Grundthema der Corporate Governance gewidmet werden. In der Politik stellt sich in regelmäßigen Abständen die Frage, wie repräsentativ sie ausgestaltet sein soll und wie viele unmittelbare Entscheidungsbefugnisse dem Volk als Souverän zugetraut und zugemutet werden können. Dabei lassen sich die Vorschläge für eine stärkere Beteiligung des Bürgers an Entscheidungen durch Volksbegehren, Volksentscheide oder Direktwahlen, vom Bürgermeister bis zum Bundespräsidenten, nicht in das klassische Rechts-Links-Schema einordnen. Ganz ähnliche Fragen stellen sich zur Aktionärsdemokratie und der Befugnis der Aktionäre als Souverän, Grundlagengeschäfte und sonstige für das Unternehmen relevante Fragen selbst zu entscheiden. Auch im Gesellschaftsrecht lassen sich die entsprechenden rechtspolitischen Vorschläge nicht klar bestimmten politischen Richtungen oder wirtschaftlichen Interessen zuordnen. 1021

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Ähnlich wie die Politik und das Grundgesetz steht auch das deutsche Aktienrecht unmittelbaren Kompetenzen des Souveräns vergleichsweise zurückhaltend gegenüber. Die Macht geht zwar vom Souverän aus, wird aber doch vermittelt durch Organe, im Aktienrecht den Aufsichtsrat. Die Beschlusskompetenzen der Hauptversammlung beschränken sich auf –– Grundlagengeschäfte wie z.B. Satzungsänderungen, Strukturmaßnahmen wie Verschmelzungen, Spaltungen, Formwechsel, Unternehmensverträge, Squeeze-out und Auflösung; –– Maßnahmen der Kapitalausstattung und Finanzierung (§§ 182 ff., 222 ff., 71 Abs. 1 Nr. 8, 221 AktG); –– in der Praxis unübliche Beschlüsse im Zusammenhang mit Aktienerwerben (§ 68 Abs. 2 Satz 3 AktG, §§ 16 Abs. 3, 33 Abs. 2, 33a Abs. 2 Nr. 1 WpÜG); –– vereinzelte Fragen der Personalkompetenz wie die Wahl und Abberufung von Aufsichtsratsmitgliedern (§ 103 Abs. 1 AktG), die Vergütung der Aufsichtsratsmitglieder (§ 113 AktG) und Vorstandsmitglieder (bisher § 120 Abs. 4 AktG, in Zukunft § 120a AktG i.d.F. des ARUG II1), den Verzicht auf die individualisierte Offenlegung der Vorstandsvergütung nach §  286 Abs.  5 HGB,2 die Entlastung der Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder, den Entzug des Vertrauens gegenüber Vorstandsmitgliedern (§  84 Abs.  3 Satz  2 AktG) sowie Entscheidungen über die Geltendmachung von Ersatzansprüchen (§ 93 Abs. 4, § 147 AktG); –– die Wahl des Abschlussprüfers und etwaiger Sonderprüfer (§ 142 Abs. 1 AktG); –– die Gewinnverwendung sowie –– Beschlüsse, die die innere Ordnung der Hauptversammlung und das zu beachtende Verfahren betreffen.3 Über sonstige wichtige strategische oder operative Maßnahmen kann die Hauptversammlung nicht autonom entscheiden; nur der Vorstand kann insoweit nach § 119 Abs. 2 AktG die Initiative ergreifen und eine Geschäftsführungsfrage der Hauptversammlung zur Entscheidung vorlegen. In dem Sonderfall, dass der Aufsichtsrat seine Zustimmung zu einer Maßnahme verweigert hat, ergibt sich diese Befugnis aus § 111 Abs. 4 Satz 3 AktG. Holzmüller/Gelatine-Entscheidungen4 sind bei genauer Betrachtung nicht als Geschäftsführungsmaßnahmen zustimmungspflichtig, sondern weil sie 1 S. den RegE eines Gesetzes zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II) v. 20.3.2019. 2 Der aber im Rahmen der Umsetzung der Änderungsrichtlinie zur Aktionärsrechterichtlinie (Richtlinie (EU)  2017/828 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17.5.2017) durch das ARUG II aufgehoben wird. 3 Wie den Erlass einer Geschäftsordnung für die Hauptversammlung nach § 129 Abs. 1 AktG oder Verfahrensanträge wie die Abstimmung über Einzelentlastung nach § 120 Abs. 1 Satz 2 AktG oder die Vertagung der Hauptversammlung oder eines Beschlussgegenstands. 4 BGH v. 25.2.1982 – II ZR 174/80 (Holzmüller), BGHZ 83, 122; BGH v. 26.4.2004 – II ZR 154/02 und 155/02 (Gelatine I und II), BGHZ 159, 30 und WM 2004, 1085.

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Entscheidungskompetenzen der Hauptversammlung

in ihrem Gesamtgepräge den in die Kompetenz der Hauptversammlung fallenden Grundlagengeschäften und Strukturmaßnahmen so nahe kommen, dass sie ebenso zu behandeln sind.5 Anders als die Gesellschafterversammlung der GmbH hat die Hauptversammlung kein Initiativrecht im Hinblick auf Geschäftsführungsmaßnahmen. Weisungen können weder an den Aufsichtsrat noch an den Vorstand erteilt werden. Eine Initiative ist lediglich im Rahmen des § 83 Abs. 1 und 2 AktG für Maßnahmen möglich, die ohnehin aufgrund anderer Rechtsnormen in die Kompetenz der Hauptversammlung fallen; in Fragen der Geschäftsführung besteht grundsätzlich keine Kompetenz der Hauptversammlung und damit auch kein Initiativrecht nach § 83 AktG.6 Auch bei den grundsätzlich in die originäre Kompetenz der Hauptversammlung fallenden Entscheidungen ist der Entscheidungsspielraum der Hauptversammlung vergleichsweise begrenzt: –– Bei der Gewinnverwendung ist die Hauptversammlung an den festgestellten Jahresabschluss gebunden und muss insbesondere weitreichende Rücklagendotierungen durch die Verwaltung hinnehmen (§ 58 Abs. 2 AktG). –– Eine Feststellung des Jahresabschlusses durch die Hauptversammlung ist nur ausnahmsweise vorgesehen (§ 173 AktG); die Hauptversammlung hat keine Möglichkeit, der Verwaltung die Kompetenz zur Feststellung von sich aus zu entziehen. –– Die Verweigerung von Entlastungsbeschlüssen hat keine rechtliche Konsequenz. –– Aufsichtsratswahlen finden regelmäßig nur alle fünf Jahre statt, während in anderen Rechtsordnungen häufig eine jährliche Wahl anzutreffen ist.7 –– Auf die Auswechslung von Vorstandsmitgliedern kann die Hauptversammlung nur mittelbar durch einen Entzug des Vertrauens Einfluss nehmen; die Abberufung selbst obliegt stets dem Aufsichtsrat (§ 84 Abs. 3 AktG). –– Die Kompetenz der Hauptversammlung nach §  147 Abs.  1 und 2 AktG zur Beschlussfassung über die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen (durch besondere Vertreter) hat in der Praxis bisher nur in Konzernverhältnissen Bedeutung erlangt.8 5 Während der BGH bei der Holzmüller-Entscheidung die Grundlage noch in einer Reduktion des Ermessens nach § 119 Abs. 2 AktG auf Null sah (vgl. BGH v. 25.2.1982 – II ZR 174/80, BGHZ 83, 122, 131 f.), stützte er die Gelatine-Entscheidungen weder auf eine Ermessensreduzierung auf Null noch auf eine Gesamtanalogie zu sonstigen Grundlagenbeschlüssen der Hauptversammlung, sondern bezeichnete seine Rechtsprechung als offene Rechtsfortbildung, die Elemente beider Ansichten kombiniert, s. BGHZ 159, 30, 41 ff. 6 S. nur Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 3. Aufl. 2015, § 83 AktG Rz. 3; Koch/Hüffer, AktG, 13. Aufl. 2018, § 83 AktG Rz. 2; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 83 AktG Rz. 9; Spindler in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, § 83 AktG Rz. 6. 7 Vgl. z.B. für die Vereinigten Staaten Sec. 8.03 lit. (c) des Model Business Corporation Act der American Bar Association oder für das Vereinigte Königreich Sec. 21 Abs. 2 The Companies (Model Articles) Regulations 2008, wonach ein Director spätestens nach zwei Jahren neu zu ernennen ist. 8 Ausführlicher Rieckers/Vetter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2014, § 147 AktG Rz. 56 ff.

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–– Die Entscheidung über das System der Vorstandsvergütung (§ 120 Abs. 4 AktG) ist schon bisher nicht nur rechtlich folgenlos, sondern auch unanfechtbar (§  120 Abs. 4 AktG). Daran wird sich auch nach Ersetzung dieser Norm durch das Votum zum Vergütungssystem und zum Vergütungsbericht nach § 120a AktG i.d.F. des ARUG II nichts ändern. Die Verwaltungen selbst scheuen in der Praxis die Beteiligung der Hauptversammlung. Die Möglichkeit des Vorstands, nach § 119 Abs. 2 AktG Geschäftsführungsangelegenheiten der Hauptversammlung zur Beschlussfassung vorzulegen, hat keine praktische Bedeutung erlangt, obwohl § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG die Möglichkeit für den Vorstand vorsieht, sich durch einen Hauptversammlungsbeschluss zu enthaften.9

II. Aktuelle Trends zu mehr Aktionärsdemokratie Derzeit sind verschiedene, voneinander unabhängige Trends zu einer Erweiterung der Hauptversammlungskompetenzen erkennbar: –– Im internationalen Vergleich dürfte die deutsche Praxis als eher restriktiv, aber sicher auch nicht solitär10 einzuordnen sein. Andere Länder11 sind entweder mutiger oder haben effizientere Verfahren zur Beteiligung der Hauptversammlung, die weniger Anlass geben, eine Beteiligung der Hauptversammlung restriktiver auszugestalten. Die internationale Praxis beeinflusst deutsche Aktiengesellschaften einerseits über europäische Gesetzgebungsakte, andererseits über Erwartungen des immer internationaler werdenden Aktionariats. 9 Dietz-Vellmer, NZG 2014, 721 ff.; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 119 AktG Rz. 13. 10 Tendenziell restriktiv ist etwa auch das U.S.-amerikanische Gesellschaftsrecht, in dem jegliche Entscheidungsmacht grundsätzlich dem board of directors zukommt, vgl. Sec. 141 (a) Delaware General Corporation Law: „The business and affairs of every corporation … shall be managed by or under the direction of a board of directors, except as may be otherwise provided in this chapter or in its certificate of incorporation”; s. hierzu etwa Hellgardt/Hoger, ZGR 2011, 38, 40 ff. Machtverluste der Hauptversammlung sind auch im von einem „hands off approach“ des Gesetzgebers geprägten Aktienrecht im Vereinigten Königreich zu beobachten, vgl. Fleischer in Bayer/Habersack, Aktienrecht im Wandel, Band II, 2007, Kapitel 9, Rz. 34 ff. 11 So enthält die Schweizer Verfassung seit 2013 infolge einer Volksabstimmung den neuen Art. 95 Abs. 3, der der Generalversammlung weitreichende Kompetenzen einräumt, vgl. dazu Löbbe/Fischbach, WM 2013, 1625, 1626 f. Auch in China und Japan hat die Hauptversammlung mehr Rechte als in Deutschland, vgl. Basch/Wang, NZG 2013, 1169, 1169 f. Zu einer Analyse des Aktionärsschutzes in Frankreich, Deutschland, Indien, dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten s. Siems/Lele, ZHR 173 (2009), 119 (zum Aktionärsschutz im Allgemeinen) und Lele/Siems, CBR Shareholder Protection Index for the UK, the US, Germany, France and India, 2007, verfügbar unter https://www.cbr.cam.ac.uk/ fileadmin/user_upload/centre-for-business-research/downloads/research-projects-out​ put/shareholder-protection-index-references-5-countries.pdf (für die detaillierten Datenpunkte); speziell zur Einführung eines verbindlichen Say-on-pay-Votums im Vereinigten Königreich Verse, NZG 2013, 921, 924; rechtsvergleichend Lieder/Fischer, ECFR 2011, 376, 381 ff.

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–– Ein Beispiel für einen solchen europarechtlichen Einfluss ist die Umsetzung der Änderungsrichtlinie zur Aktionärsrechterichtlinie („2. ARRL”),12 durch die Hauptversammlungskompetenzen an zwei Stellen berührt werden: Zunächst ist die zwingend vorgesehene Beschlussfassung der Hauptversammlung über die Vergütungspolitik und den Vergütungsbericht gemäß Art. 9a, 9b Abs. 4 2. ARRL zu beachten. Die Regelung ist zwingend, offen ließ der europäische Gesetzgeber allein, ob die Zustimmung der Hauptversammlung bindenden Charakter hat.13 Daneben sieht die Richtlinie fakultativ eine Beschlussfassung der Hauptversammlung über Related Party Transactions in Art. 9c 2. ARRL vor. Diese Regelung wurde schon erheblich, maßgeblich auch infolge der Einflussnahme Deutschlands, entschärft. Die Ausgangsentwürfe sahen noch eine zwingende und nicht durch eine Zustimmung des Aufsichtsrats oder einen seiner Ausschüsse ersetzbare Legitimierung von Related Party Transactions durch die Hauptversammlung vor.14 –– Auch die Rechtsprechung ist in den letzten Jahren eher zurückhaltend, ungeschriebene zwingende Hauptversammlungskompetenzen anzuerkennen. Eine erhebliche Stärkung der Hauptversammlung brachte zwar die Holzmüller-Entscheidung von 1983,15 die durch tatkräftige Unterstützung der Literatur und einer vorsichtigen Beratungspraxis in der Folge erheblich ausgeweitet wurde mit der Folge, dass ihr Tatbestand verfranzte und viele Maßnahmen zumindest aus Gründen der Vorsicht der Hauptversammlung vorgelegt wurden.16 Dem hat die Rechtsprechung durch die Gelatine-Entscheidungen von 2004 aber einen Riegel vorgeschoben und die Kompetenzen der Hauptversammlung auf grundlegende Geschäfte zurückgeführt.17 Ein noch deutlicherer Richtungswechsel zeigt sich an der grundlegenden Änderung der Rechtsprechung zum Delisting.18 12 Richtlinie (EU) 2017/828 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17.5.2017 zur Änderung der Richtlinie 2007/36/EG im Hinblick auf Förderung der langfristigen Mitwirkung der Aktionäre, veröffentlicht im Amtsblatt der Europäischen Union vom 20.5.2017, L 132. 13 Der deutsche Gesetzgeber sah nach Einführung des Say on Pay in § 120 Abs. 4 AktG keine weitergehende Veranlassung, die Befugnisse der Hauptversammlung in Vergütungsfragen zu stärken. Bei der Umsetzung der 2. ARRL wird er vermutlich von dem ihm eingeräumten Spielraum dahingehend Gebrauch machen, keine zwingenden Hauptversammlungskompetenzen vorzusehen und die Befugnisse der Hauptversammlung nicht weiter als zwingend von der Richtlinie gefordert zu erweitern, s. § 120a AktG-E i.d.F. des RegE des ARUG II vom 20.3.2019, außerdem bereits Seibert, BOARD 2018, 90, 91 f. 14 Ausführlicher Bayer/Selentin, NZG 2015, 7 ff.; Renner, AG 2015, 513, 514 ff.; Spindler/Seidel, AG 2017, 169, 170 ff.; J. Vetter, ZHR 179 (2015), 273 ff. m.w.N. 15 BGH v. 25.2.1982 – II ZR 174/80, BGHZ 83, 122 = NJW 1982, 1703.  16 Zu einem Überblick über Rechtsprechung und Literatur etwa Mülbert in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1999, § 119 AktG Rz. 30. 17 BGH v. 26.4.2004 – II ZR 155/02, BGHZ 159, 30 = NJW 2004, 1860; BGH v. 26.4.2004 – II ZR 154/02, WM 2004, 1085. 18 Während der BGH in der Macrotron-Entscheidung v. 25.11.2002 – II ZR 133/01, BGHZ 153, 47 = AG 2003, 273, noch einen Beschluss der Hauptversammlung verlangte, verzichtete er hierauf in der Frosta-Entscheidung v. 8.10.2013 – II ZB 26/12, AG 2013, 877; s. hierzu etwa Mülbert in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2017, § 119 AktG Rz. 142 ff.; Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 119 AktG Rz. 86 ff.

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–– Derzeit wird intensiv diskutiert, ob bedeutende Unternehmenskäufe, Fusionsvereinbarungen oder Business Combination Agreements, die im Zusammenhang mit einer Übernahme abgeschlossen werden, der Legitimation durch die Hauptversammlung bedürfen. Dies wurde für den Erwerb der Dresdner Bank durch die Commerzbank gefordert, letztlich aber vom OLG Frankfurt abgelehnt19 und ist, bisher ohne gerichtliche Auseinandersetzung, auch für die Übernahme von Mon­ santo durch Bayer im Wege des Barkaufs proklamiert worden.20 Zum Zusammenschlussvorhaben zwischen Linde und Praxair ist eine Feststellungsklage von Ak­ tionären anhängig, die maßgeblich von der DSW koordiniert werden,21 mit dem Ziel, festzustellen, dass das der Transaktion zugrunde liegende Business Combination Agreement der Zustimmung der Linde-Hauptversammlung bedurft hätte. Das Landgericht München hat die Klage erstinstanzlich vollumfänglich abgewiesen.22 Die aktuelle literarische Diskussion des Linde/Praxair Business Combination Agreement nahm ihren Anfang mit einem Beitrag von Strohn,23 der eine extreme Erweiterung der Hauptversammlungskompetenzen im Zusammenhang mit Zusammenschlüssen und Übernahmeangeboten fordert. –– Auch Aktionäre fordern oder fördern teilweise mehr und mehr eine verstärkte Einbindung der Hauptversammlung in Entscheidungen. Sie können zwar das geltende Recht nicht ändern, wohl aber beeinflussen, inwieweit von Spielräumen Gebrauch gemacht wird, die das geltende Recht einräumt. Tendenziell unterstützen internationale und deutsche Investoren, gerade auch institutionelle Investoren, weitergehende Hauptversammlungskompetenzen beispielsweise im Hinblick auf die Vorstandsvergütung. Für die Praxis wichtiger noch ist eine zu beobachtende schleichende Verschiebung von Kompetenzen weg von der Verwaltung hin zu der Hauptversammlung. Die von § 202 Abs. 3 AktG eröffnete Möglichkeit, ein genehmigtes Kapital bis zur Höhe von 50 % des Grundkapitals zu beschließen, wurde früher in deutlich weitergehendem Umfang genutzt. Heute sehen die internen Richtlinien großer institutioneller Investoren und insbesondere die Richtlinien der großen Stimmrechtsberater deutlich engere Grenzen vor, die noch dazu immer weiter verschärft

19 OLG Frankfurt, NZG 2011, 621; demgegenüber hatte die Vorinstanz LG Frankfurt noch eine ungeschriebene Hauptversammlungskompetenz bejaht, LG Frankfurt, ZIP 2010, 429. 20 S. dazu etwa „Fusion mit Monsanto – Protest und Popcorn zur Bayer-Hauptversammlung“, Frankfurter Allgemeine Zeitung Online vom 28.4.2017, http://www.faz.net/aktuell/wirt​ schaft/unternehmen/fusion-mit-monsanto-so-verlief-das-aktionaerstreffen-von-bayer-​ 14992257.html (zuletzt abgerufen am 25.3.2019); Stephan/Strenger, AG 2017, 346 ff., die diese Übernahme zum Anlass für einen Gesetzgebungsvorschlag zur Beteiligung der Hauptversammlung nahmen. 21 https://www.dsw-info.de/presse/archiv-pressemitteilungen/pressemitteilungen-2017/dsw-​ reicht-feststellungsklage-gegen-linde-ein/ (zuletzt abgerufen am 25.3.2019). 22 Urteil v. 20.12.2018 – 5 HKO 15236/17. 23 Strohn, ZHR 182 (2018), 114 ff.; seitdem etwa Wilsing in FS Marsch-Barner, 2018, S. 595 ff. mit ausführlichen Nachweisen zum bisherigen Meinungsstand; Schmolke in VGR (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2018, 2019, S. 137 ff.; Zetzsche in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2019, § 179a AktG Rz. 37 ff.; demnächst Koch in Heft 4 der ZGR 2019.

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werden.24 Ähnlich werden auch eigene, über das Gesetz hinaus gehende Grenzen für die Ermächtigung des Vorstands zum Erwerb eigener Aktien vorgesehen.25

III. Historische Entwicklung Die aktuellen Trends zeichnen eine andauernde Pendelbewegung in der Geschichte des Aktienrechts fort. Im frühen Aktienrecht war die Generalversammlung einerseits unangefochtener Souverän, hatte andererseits aber keine gesetzlich als zwingend vorgesehenen Kompetenzen.26 Dies änderte sich im Nachgang zur Gründerkrise der 1870er Jahre:27 Die 2. Aktienrechtsnovelle von 1884 stärkte die Generalversammlung in der Hoffnung, mit einer lebendigeren Teilhabe der Aktionäre dem Missbrauch der Rechtsform Einhalt gebieten zu können.28 Auch das Reichsgericht war ersichtlich von diesem Gedanken geleitet, als es noch zur Rechtslage von 1870 eine ungeschriebene Kompetenz der Generalversammlung in Bezug auf „wichtige, kostspielige, riskante und deshalb das Interesse der Aktionäre in besonderem Maße berührende Unternehmungen“ bejahte.29 Bereits 80 Jahre vor Holzmüller entfachte diese Entscheidung eine rege Diskussion über das Machtverhältnis innerhalb der Aktiengesellschaft.30

24 Aktuell akzeptieren ISS und GLASS LEWIS beispielsweise Ermächtigungsbeschlüsse, die zusammen mit schon bestehenden Ermächtigungen und teilweise auch sonstigen Ermächtigungen wie Bedingten Kapitalia 10 % (ISS) bzw. 20 % (GLASS LEWIS) des Grundkapitals ausmachen; vgl. ISS, Europe Proxy Voting Guidelines 2019, S. 16, https://www.issgovernance.​ com/file/policy/active/emea/Europe-Voting-Guidelines.pdf (zuletzt abgerufen am 25.3.2019) und GLASS LEWIS, Guidelines Germany 2019, S. 19, http://www.glasslewis.com/wp-con​ tent/uploads/2018/11/2019_GUIDELINES_Germany.pdf (zuletzt abgerufen am 25.3.2019). 25 ISS, Europe Proxy Voting Guidelines 2019, S. 18 f.; GLASS LEWIS, Guidelines Germany 2019, S. 19 f. 26 Treffend die zeitgenössische Darstellung von Auerbach, Das Actienwesen, 1873, S.  173: „Hinsichtlich der Gegenstände der Berathung und Beschlussfassung der Generalversammlung, der Materie ihrer Competenz, läßt sich eigentlich nur die Grenze ziehen, dass sie an den Statuten … ihre Schranke findet …. Hiermit ist jedoch nicht ausgeschlossen, … dass die Statuten (wie es auch die meisten thun) einzelne bestimmte Gegenstände … der Competenz … entziehen ….“; vgl. auch Fleischer in Bayer/Habersack, Aktienrecht im Wandel, Band II, 2007, Kapitel 9, Rz. 3 ff. 27 Zu Entwicklung und Ausmaß der Gründerkrise ausführlich die Allgemeine Begründung zum Entwurf eines Gesetzes betreffend die KGaA und AG (1884), § 2, abgedruckt bei Schubert/Hommelhoff, Hundert Jahre modernes Aktienrecht, 1985, S. 404, 408 ff.; zusammenfassend zu den Mängeln des Aktienrechts von 1870 Assmann in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2004, Einleitung Rz. 83 ff. 28 Assmann in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2004, Einleitung Rz. 97; Hofer in Bayer/Habersack, Aktienrecht im Wandel, Band I, 2007, Kapitel 11, Rz. 35; Hommelhoff in Schubert/Hommelhoff, Hundert Jahre modernes Aktienrecht, 1985, S. 85 ff. 29 RG HoldheimsZ 1902, 26 f.; 1903, 197. 30 Zum Ganzen Fleischer in Bayer/Habersack, Aktienrecht im Wandel, Band II, 2007, Kapitel 9, Rz. 16 f.; s. auch Schubel, Verbandssouveränität und Binnenorganisation der Handelsgesellschaften, 2003, S. 368 ff.

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Wieder zurück bewegte sich das Pendel zunächst nur langsam. Im Lichte eines „Auseinanderklaffen[s] von gesetzgeberischer Vorstellung und Realität“31 folgte auf den Ersten Weltkrieg und die Weltwirtschaftskrise eine Periode intensiver rechtswissenschaftlicher Auseinandersetzung mit dem Aktienrecht, die schließlich in den Entwürfen eines Aktiengesetzes von 1930 und 1931 mündete.32 Bereits hier fand die Tendenz Einzug, die Willensbildungsprozesse in der Aktiengesellschaft stärker auf ihre Verwaltung zu verlagern.33 Entsprechend kann auch die endgültige Entthronung der Hauptversammlung durch das Aktiengesetz von 1937 nicht als rein nationalsozialistisches Recht gesehen werden,34 obwohl sie zweifellos auch einer Durchsetzung des Führerprinzips dienen sollte.35 Damals wie heute waren aber die wichtigsten Argumente gegen eine übermächtige Stellung der Aktionäre deren fehlende Sachkunde, die niedrige Anwesenheitsquote bei Hauptversammlungen sowie die tatsächlichen Machtverhältnisse.36 Entsprechend rüttelte auch die Aktienrechtsreform von 1965 trotz ihrer Bemühungen um eine Entnazifizierung des Aktienrechts nicht grundsätzlich an dieser Kompetenzverteilung.37

IV. Gründe für und Chancen einer stärkeren Beteiligung der Hauptversammlung 1. Aus Sicht der Aktionäre Aus Sicht der Aktionäre liegt eine stärkere unmittelbare Beteiligung an für die Ak­ tiengesellschaft wichtigen Entscheidungen auf der Hand: Die Aktionäre sind der ­Souverän. Es geht um ihr Unternehmen und wirtschaftlich ihr Vermögen. Sie tragen wirtschaftlich die Chancen und Risiken der Geschäftstätigkeit und damit auch die Folgen von Entscheidungen der Geschäftsleitungsorgane. Dies gilt insbesondere für Änderungen der Satzung und dem vergleichbare Grundlagengeschäfte sowie Maßnahmen, die unmittelbar Aktionärsrechte berühren.38 Daneben ist die Möglichkeit zur Intervention durch die Hauptversammlung wichtig, soweit die primär zur Entscheidung berufenen Organe Vorstand und Aufsichtsrat möglicherweise einem Interessenkonflikt unterliegen. Als Beispiel ist auf die Be31 Assmann in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2004, Einleitung Rz. 117. 32 Ausführlich Nörr, ZHR 150 (1986), 155, 156 ff. 33 Zu den Entwürfen von 1930/31 Spindler in Bayer/Habersack, Aktienrecht im Wandel, Band I, 2007, 13. Kapitel, Rz. 83 ff. 34 Assmann in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2004, Einleitung Rz. 152. 35 Assmann in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2004, Einleitung Rz. 157; Bayer/Engelke in Bayer/ Habersack, Aktienrecht im Wandel, Band I, 2007, 15. Kapitel, Rz. 17 ff., 63 ff. 36 Zeitgenössisch etwa Veit Simon, DJZ 1904, 778, 779; s. auch Fleischer in Bayer/Habersack, Aktienrecht im Wandel, Band II, 2007, 9. Kapitel, Rz. 8 m.w.N. 37 Assmann in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2004, Einleitung Rz. 195; Kropff in Bayer/Habersack, Aktienrecht im Wandel, Band I, 2007, 16.  Kapitel, Rz.  58  ff.; so auch ausdrücklich Begr. RegE bei Kropff, AktG 1965, S. 96: „Die Aktionäre haben im Allgemeinen weder die Zeit noch die Übersicht, um Geschäftsführungsfragen unter Berücksichtigung aller Gesichtspunkte entscheiden zu können.“ 38 Ausführlicher Renner, AG 2015, 513, 517.

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schlüsse nach §  147 Abs.  1 und 2 AktG zur Geltendmachung von Organhaftungsansprüchen und die Bestellung eines besonderen Vertreters zu verweisen.39 Auch wenn die praktische Bedeutung des § 147 AktG jedenfalls außerhalb von Konzernverhältnissen gering ist, handelt es sich um eine systemgerechte Norm.40 Die Beteiligung an Entscheidungen kann einer Politikverdrossenheit entgegenwirken. Allerdings würde ich diesen Aspekt im Aktienrecht nicht überbewerten. Die Deutschen mögen zwar noch keine flächendeckende intime Beziehung zu Aktieninvestments entwickelt haben; die Gründe dafür dürften aber eher in Risikoaversion und abweichenden Gewohnheiten als in dem Gefühl der machtlosen Fremdbestimmung liegen. Maßgebliche Aktionäre benötigen kein Stimmrecht in der Hauptversammlung, um ihren Einfluss geltend zu machen. Investorentage sowie unmittelbarer Zugang zum Vorstand und häufig auch zum Aufsichtsratsvorsitzenden genügen, um das Gefühl zu haben, mitbestimmen und Einfluss geltend machen zu können. 2. Aus Sicht der Verwaltung In der Praxis wird die Beteiligung der Hauptversammlung kaum freiwillig über den gesetzlich geforderten Mindestumgang hinaus ausgedehnt. Dies ist insbesondere im Hinblick auf die Unzulänglichkeiten des Beschlussmängelrechts (hierzu nachf. V.3.) verständlich, hat aber für die Verwaltung auch Nachteile zur Folge. An sich ist ein enger Austausch zwischen Gutsverwalter und Gutsherren auch für den Gutsverwalter von Vorteil. Im Aktiengesetz kommt dieser Gedanke in § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG (i.V.m. § 116 Satz 1 AktG) zum Ausdruck, wonach die Ersatzpflicht der Organmitglieder gegenüber der Gesellschaft nicht eintritt, wenn die Handlung auf einem gesetzmäßigen Beschluss der Hauptversammlung beruht. Ein Votum der Hauptversammlung könnte darüber hinaus auch eine befriedende und Rechtssicherheit schaffende Klärung von unterschiedlichen strategischen Vorstellungen im Aktionärskreis bewirken. Solange die Hauptversammlung keine Entscheidung, beispielsweise über die Aufspaltung eines Unternehmens oder den Verkauf von Aktivitäten, getroffen hat, werden Aktionäre, die dies fordern, ihren Einfluss auf Vorstand und Aufsichtsrat auf anderen Wegen ausüben, etwa durch die Entfachung öffentlicher Kampagnen, die kontinuierliche mündliche und schriftliche Kontaktierung sowie die Drohung mit Schadenersatzansprüchen.

V. Nachteile von Beschlusskompetenzen der Hauptversammlung Die Entscheidung wichtiger Fragen durch die Hauptversammlung hat allerdings auch gravierende Nachteile. Diese sollen, teilweise exemplarisch am Beispiel der Entschei39 Prägnant Begr. RegE UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 20: „Es kann typischerweise nicht erwartet werden, dass derjenige Ansprüche verfolgt, der dem Ersatzpflichtigen kollegial oder geschäftlich verbunden, ihm für seine eigene Bestellung zu Dank verpflichtet ist oder der Gefahr läuft, dass im Verfahren seine eigenen Versäumnisse aufgedeckt werden.“ 40 Rieckers/Vetter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2014, § 147 AktG Rz. 16 ff., 61.

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dung der Hauptversammlung über das System der Vorstandsvergütung, im Folgenden skizziert werden. 1. Ineffizienz Eine Entscheidung durch die Hauptversammlung bedeutet, dass sich eine Vielzahl von Individuen mit der zu entscheidenden Frage befassen müssen, Vorlagen studieren, Pros und Cons abwägen, um dann zu einer Entscheidung zu kommen. Liegen der Hauptversammlung dieselben Vorlagen beispielsweise zur Vorstandsvergütung vor wie dem Aufsichtsrat, müssen sich vielleicht statt 12 1200 Personen damit befassen. Das ist ineffizient, da im Beispiel die gleiche Qualität der Vorbereitung das 100fache des Zeiteinsatzes erfordern würde. Unterstellt man, dass ein Großteil der Aktionäre die vorbereitenden Unterlagen nicht liest, bedeutet dies, dass die Entscheidungsträger zumindest zum Teil uninformiert entscheiden, was der Qualität der Entscheidungsfindung abträglich ist und die demokratische Legitimation der Entscheidung in Zweifel zieht.41 Die vorstehenden Bedenken greifen dabei umso weniger, je einfacher die Entscheidung und die ihr zugrundeliegenden Entscheidungsparameter sind. 2. Schwerfälligkeit Im Vergleich zu Vorstand und Aufsichtsrat ist die Hauptversammlung jedenfalls einer börsennotierten Gesellschaft ein extrem schwerfälliges und langsames Entscheidungsgremium. Hauptversammlungen müssen regelmäßig mit einer Frist von etwa sechs Wochen einberufen werden (im Einzelnen § 123 Abs. 1 und 2 AktG). Die zur Entscheidungsvorbereitung vorgesehenen Unterlagen, beispielsweise die Vorstandsberichte bei Strukturmaßnahmen, müssen den Aktionären mit Einberufung zu­ gänglich gemacht werden (s. insb. § 124 Abs. 2 und 3 AktG). Eine Aktualisierung von Unterlagen vor der Hauptversammlung oder eine Möglichkeit, Unterlagen mit abgekürzter Frist vorzulegen, ist im Gesetz nicht vorgesehen. 3. Beschlussmängelrecht Noch größer ist die zeitliche Unsicherheit im Anschluss an die Hauptversammlung. Jeder Aktionär mit nur einer Aktie kann jeden Hauptversammlungsbeschluss (mit Ausnahme des Beschlusses über das Vergütungsvotum nach § 120 Abs. 4 AktG bzw. § 120a AktG i.d.F. des ARUG II) anfechten. Eine erfolgreiche Anfechtungsklage führt zwingend zur Kassation des Beschlusses mit Ex-tunc-Wirkung. Ob eine Anfechtungsklage Erfolg hat, stellt sich erst nach Durchführung des gerichtlichen Verfahrens heraus, für das drei Instanzen zur Verfügung stehen können. Damit führt auch jede am Ende unbegründete Anfechtungsklage zu erheblicher und lang andauernder Rechtsunsicherheit. 41 Als „Qualitätsproblem“ der Hauptversammlung bezeichnet dies Kubis in MünchKomm. AktG, 4.  Aufl. 2016, §  118 AktG Rz.  27; explizit zum Legitimationsproblem Seibert, BB 1998, 2536, 2537; dazu auch Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 118 AktG Rz. 5.

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Diese erhebliche Zeitdauer von Beschlussmängelverfahren ist im immer schneller werdenden Wirtschaftsleben für die Gesellschaft und die Gesellschaftermehrheit äußerst nachteilig, und zwar nicht nur wegen der dadurch eröffneten Missbrauchsmöglichkeiten.42 Das Freigabeverfahren führt zwar bei den eintragungs­bedürftigen Maßnahmen, bei denen es eröffnet ist, zu einer erheblichen Beschleunigung; aber auch eine Rechtsunsicherheit von 6 bis 7 Monaten ist bei vielen Entscheidungen des Wirtschaftslebens nicht hinnehmbar. Die lang andauernde Rechtsunsicherheit und das hohe Risiko, ein Anfechtungsverfahren führen zu müssen, dürfte ein maßgeblicher Grund dafür sein, dass von der derzeit schon bestehenden Möglichkeit, die Hauptversammlung in stärkerem Umfang an Entscheidungen nach § 119 Abs. 2 AktG zu beteiligen, kein Gebrauch gemacht wird. Dem aktienrechtlichen Beschlussmängelrecht wird daher zu Recht kein gutes Zeugnis ausgestellt.43 Der Gesetzgeber hat sich an einer Reform bereits mehrfach versucht und eine Vielzahl von rechtspolitischen Vorschlägen steht zur Diskussion.44 Intensiv hat sich die wirtschaftsrechtliche Abteilung des 72.  DJT  2018 in Leipzig auf der Grundlage eines Gutachtens von Jens Koch und Referaten von Marc Löbbe, Thomas Heidel und Jessica Schmidt befasst.45 Bei allen Kontroversen um die „richtige“ Reform des Beschlussmängelrechts ist aus meiner Sicht unbestreitbar, dass diese eine unabdingbare Voraussetzung für eine Stärkung der Aktionärsdemokratie in Deutschland wäre. 4. Berücksichtigung der Interessen sonstiger Stakeholder Der Aufsichtsrat ist so konzipiert, dass er, von der Mitbestimmung abgesehen, vergleichsweise unabhängig von Partikularinteressen bestimmter Stakeholder ist. Zwar wählen die Aktionäre die Anteilseignervertreter mit einfacher Mehrheit, so dass eine Ausrichtung der Anteilseignervertreter an den Interessen der Aktionärsmehrheit oder gar des Mehrheitsaktionärs nicht von der Hand zu weisen ist. Durch verschiedene Instrumente wird die Ausrichtung der Aufsichtsratsmitglieder allein auf die Inte­ ressen der Aktionäre aber begrenzt: Hier ist zunächst die regelmäßig fünfjährige Amtszeit kombiniert mit dem, allerdings dispositiven, Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit für eine vorzeitige Abberufung (§ 103 Abs. 1 AktG) zu erwähnen. Hinzu kommt die Weisungsunabhängigkeit aller Aufsichtsratsmitglieder, ihre Verpflichtung auf das Unternehmensinteresse und die scharfe Sanktionierung von Pflichtverstößen 42 Zum Missbrauch des Anfechtungsrechts s. nur Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 245 AktG Rz. 22 ff. 43 S. etwa Koch, Gutachten zum 72. DJT, 2018, S. 9, 11. 44 S. etwa Arbeitskreis Beschlussmängelrecht, AG 2008, 617 ff.; Bayer/Fiebelkorn, ZIP 2012, 2181  ff.; Dornbach, Die aktienrechtliche Anfechtungsklage, 2013, S.  281  ff.; Hirte in FS Meilicke, 2010, S.  201, 212  ff.; Schatz, Der Missbrauch der Anfechtungsbefugnis, 2012, S. 227 ff.; Noack/Zetzsche in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2018, Vor § 245 AktG Rz. 73 ff.; an dieser Diskussion hat sich auch der Jubilar vielfältig beteiligt, s. etwa Seibert, BB 2005, 1457; NZG 2007, 841  ff.; FS Uwe. H. Schneider, 2011, S.  1211  ff.; FS Stilz, 2014, S.  585  ff.; FS Marsch-Barner, 2018, S. 525 ff. 45 Abgedruckt in den Verhandlungen des 72. DJT, 2019. 

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durch die strenge Haftung nach §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 2 AktG. Durch diese Instrumente wird in nicht unerheblichem Umfang eine Orientierung am Unternehmens­ interesse unter Berücksichtigung dessen unterschiedlicher Facetten erreicht.46 Anders als der Aufsichtsrat ist die Hauptversammlung ein im Hinblick auf die unterschiedlichen Stakeholder-Interessen homogen zusammengesetztes Organ. Bei der Entscheidungsfindung ist allein eine Stakeholder-Gruppe, die Aktionäre, vertreten. Eine bindende Kompetenz der Hauptversammlung leistet dem Shareholder-Value-Ansatz zumindest tendenziell erheblichen Vorschub.47 Dabei ist zu beachten, dass die meisten unternehmerischen Entscheidungen gerade nicht nur die Interessen der Aktionäre berühren. Zwar sind beispielsweise von der Höhe der Vorstands- und Aufsichtsratsvergütung primär die Aktionäre betroffen, da der Vergütungsaufwand den ausschüttungsfähigen Gewinn mindert. Die Angemessenheit der Vergütung der Unternehmensleitung ist aber auch für andere Stakeholder, und zwar nicht nur die Arbeitnehmer, von großer Bedeutung. Insbesondere sollen die Mitglieder der Unternehmensleitung durch die Ausgestaltung der Vergütung nicht dazu angehalten werden, auf Kosten der Gläubiger übermäßige Risiken zugunsten der Eigenkapitalgeber einzugehen.48 Es besteht die Gefahr, dass bei einer einseitigen Ausrichtung auf den wirtschaftlichen Vorteil für die Aktionäre Ziele wie Legalität und erst recht Legitimität und Integrität unternehmerischen Handelns vernachlässigt werden. Zur Berücksichtigung der Interessen anderer Stakeholder sind die Aktionäre nicht verpflichtet. Demgegenüber sind die Mitglieder des Aufsichtsrats dem Unternehmensinteresse verpflichtet, bei dessen Bestimmung nach überwiegender Auffassung nicht allein die Aktionärsinteressen heranzuziehen sind.49 Darüber hinaus hat der Gesetzgeber die Möglichkeit genutzt, die Berücksichtigung von sonstigen Stakeholder-Interessen, und zwar konkret der Arbeitnehmer, durch Regulierung der Aufsichtsratszusammensetzung zu institutionalisieren, indem die Mitbestimmungsgesetze eine unter bestimmten Voraussetzungen zwingende Beteiligung von Arbeitnehmervertretern und teilweise auch Gewerkschaftsvertretern vorsehen. Durch eine Verlagerung von Entscheidungskompetenzen des Aufsichtsrats zur Hauptversammlung wird damit auch der Einfluss der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat gemindert. Gleiches gilt für die Möglichkeit der Gewerkschaften, konzertiert über ihre Beteiligung an einer Vielzahl von Aufsichtsratsmandaten bei verschiedenen Unternehmen Einfluss zu nehmen. Dies dürfte ein maßgeblicher Grund dafür gewesen sein, warum der erste Versuch, eine stärkere Mitsprache der Hauptversammlung 46 So auch Habersack in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, § 116 AktG Rz. 11; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2012, § 116 AktG Rz. 3.  47 S.  auch Vogt in Fleischer/Kalss/Vogt (Hrsg.), Konvergenzen und Divergenzen im deutschen, österreichischen und schweizerischen Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht, 2011, S.  3, 19  f.; s. zum Shareholder-Value-Konzept allgemein etwa Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 3. Aufl. 2015, § 76 AktG Rz. 29 ff.; Seibert, AG 2002, 417, 419.  48 BT-Drucks. 16/12278, S. 1, 5 f. 49 Merten/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2012, § 116 AktG Rz. 3; Spindler in Spindler/ Stilz, AktG, 3. Aufl. 2015, § 116 AktG Rz. 27; Wiesner in MünchHdb. GesR, Band 4: AG, 4. Aufl. 2015, § 19 Rz. 20 ff.; Mülbert, AG 2009, 766, 770 ff.

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bei der Vorstandsvergütung durch das Gesetz zur Verbesserung der Kontrolle der Vorstandsvergütung und zur Änderung weiterer aktienrechtlicher Vorschriften (VorstKoG) aus dem Jahr 2012 festzuschreiben, gescheitert ist.50 5. Eignung der Hauptversammlung, komplexe Entscheidungen zu treffen Im Hinblick auf die Frage, welche Komplexität der Hauptversammlung zugemutet werden kann, ist das zeitliche und organisatorische Setup einer Hauptversammlung zu beachten. Zwar werden Informationen in Form von Berichten mit der Einladung ca. sechs Wochen vorher zur Verfügung gestellt. In der Hauptversammlung ist aber nur sehr begrenzt Zeit zur Diskussion. Die Zeit der Generaldebatte und die Anzahl von Fragen müssen nicht selten begrenzt werden, um die Hauptversammlung in einer noch zumutbaren Zeit durchzuführen. In der Hauptversammlung treffen vorbereitete auf unvorbereitete Aktionäre. Fragen werden nicht selten gerade auch von denen gestellt, die sich im Vorfeld nicht ausführlich vorbereitet haben. Dies mindert die Zeit für einen qualifizierten Austausch zusätzlich.51 Die Aktionäre als Entscheider sind mit dem Unternehmen und der Sachmaterie typischerweise weit weniger vertraut als Mitglieder der Verwaltung;52 entsprechend können sie die Auswirkungen ihrer Entscheidung auf das Unternehmen weniger gut beurteilen. Ihnen fehlt auch die Möglichkeit, den Gegenstand zunächst in separaten Sitzungen vorbereitend zu diskutieren, um darüber dann nach Abschluss des Entscheidungsfindungsprozesses in einer weiteren Sitzung zu beschließen. Beispiel: Das System der Vorstandsvergütung ist sehr komplex und muss mit den Zielgrößen oder Key Performance Indicators für die Unternehmensführung abgestimmt werden. Das Aktiengesetz macht in § 87 Abs. 1 AktG teils zwingende, teils jedenfalls für den Regelfall zu beachtende Vorgaben, die allerdings interpretationsbedürftig sind. Dazu gibt der Deutsche Corporate Governance Kodex 2017 in den Ziffern 4.2.2 bis 4.2.4 verschiedene Empfehlungen und Anregungen, die den Entscheidern jedenfalls bekannt sein müssen. Gerade bei der Festsetzung der Vergütung ist die Kenntnis unterschiedlicher Vergütungskonzepte, die bei anderen Unternehmen angewandt werden, aber auch der im eigenen Unternehmen zur Anwendung gebrachten Prinzipien wichtig. Es verwundert daher nicht, dass sich Aufsichtsräte in Vergütungsfragen häufig von Vergütungsberatern und/oder Rechtsanwälten beraten lassen. Die Hauptversammlung dürfte mit einer solch komplexen Entscheidung überfordert sein. 50 S. zum Gesetzesbeschluss des Bundestags BT-Drucks. 17/8989 sowie zur wegen Ablaufs der Legislaturperiode erfolglosen Anrufung des Vermittlungsausschusses BR-Drucks. 637/13. 51 S. etwa Gehling in Semler/Volhard/Reichert, Hauptversammlung-Hdb., 4. Aufl. 2018, § 9 Rz. 260 f.; Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 118 AktG Rz. 26. 52 Sehr plakativ insoweit schon Veit Simon, DJZ 1904, 778, 779: „die Abstimmung der Aktio­ näre ist präsumtiv von keiner Sachkunde getrübt“ ähnlich Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 118 AktG Rz. 27; für bestimmte Konstellationen positiver Fleischer in Fleischer/Kalss/Vogt (Hrsg.), Konvergenzen und Divergenzen im deutschen, österreichischen und schweizerischen Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht, 2011, S. 81, 90 f.

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Die Qualität einer Entscheidung wird auch durch die Art der Diskussion beeinflusst. Ein Aufsichtsrat kann offen und kontrovers diskutieren, eine Hauptversammlung mit mehreren hundert oder tausend Teilnehmern allenfalls ausnahmsweise. Hinzu kommt, dass Aktionäre, und zwar gerade maßgeblich beteiligte, sich häufig davor scheuen, in der Hauptversammlung in eine offene Diskussion einzutreten. Insbesondere institutionelle Aktionäre lassen ihre Vorstellungen außerhalb der Hauptversammlung in Gesprächen mit den Vorstands- und Aufsichtsratsvorsitzenden einfließen. 6. Qualitätssicherung der Entscheidungsfindung a) Haftung Die Qualität insbesondere von komplexen und wichtigen Entscheidungen kann durch Anreize verbessert werden, dass sich die Entscheidungsträger gründlich mit den Entscheidungsgrundlagen befassen. Dies kann durch die Verpflichtung zur sorgfältigen Befassung mit der Sache kombiniert mit einer Haftung für Pflichtverletzungen erreicht werden. Die wesentliche Funktion der Organhaftung ist nach zutreffendem Verständnis die Prävention: die Organmitglieder sollen von vornherein incentiviert werden, sich sorgfältig zu verhalten.53 Im Beispiel der Vorstandsvergütung hat der Gesetzgeber mit der Ausformung der materiellen Anforderungen an die Angemessenheit der Vergütung durch das VorStAG von 200954 zugleich auch die Haftung des Aufsichtsrats – nach zutreffender Ansicht deklaratorisch55 – näher ausgeformt, indem er in § 116 Satz 3 AktG bestimmt hat, dass die Aufsichtsratsmitglieder namentlich zum Ersatz verpflichtet sind, wenn sie eine unangemessene Vergütung festsetzen. Der Gedanke der Qualitätssicherung durch Haftung liefe bei der Hauptversammlung leer. Hier fehlt es schon an einer materiell-rechtlichen Haftungsgrundlage, sieht man einmal von Sonderkonstellationen wie §§ 117 oder 317 AktG ab. b) Zusammensetzung des Entscheidungsgremiums Ein weiteres Mittel zur Verbesserung der Qualität von Entscheidungen ist die Absicherung der Qualität der Entscheider. In einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung, die das Eigentum grundrechtlich verbürgt, sollte der Staat im Grundsatz keinen Einfluss auf die Zusammensetzung des Gesellschafterkreises privatrechtlich verfasster Unternehmen nehmen. Entsprechend sind die Ausnahmen gering und allesamt im öffentlichen Interesse begründet.56 Im Übrigen wären Anforderungen an eine besondere 53 Ausführlich zur präventiven, verhaltenssteuernden Wirkung der Haftung Wagner, ZHR 178 (2014), 227, 252 ff.; außerdem bereits Seibert, WM 1997, 1, 5. 54 Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung vom 31.7.2009, BGBl. I 2009, 2509; zu dessen rechtspolitischem Hintergrund Seibert in FS Hüffer, 2010, S. 955 ff. 55 S. nur Koch/Hüffer, AktG, 13. Aufl. 2018, § 116 AktG Rz. 18; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2013, § 116 AktG Rz. 76. 56 S. § 55 Abs. 1 der Außenwirtschaftsverordnung (AWV) sowie den Monatsbericht 10/2017 des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie, Aktuelle Entwicklungen im Investi­ tionsprüfungsrecht, https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Downloads/Monatsbericht/Mo​

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Expertise oder Erfahrung von Aktionären rechtstechnisch nur schwierig sicherzu­ stellen. Demgegenüber sind Eingriffe in die Zusammensetzung des Aufsichtsrats rechtstechnisch leicht umzusetzen. § 100 AktG stellt persönliche Voraussetzungen für Aufsichtsratsmitglieder auf, die das Risiko gewisser Interessenkonflikte und unzureichender zeitlicher Verfügbarkeit mindern sollen, in Abs. 5 aber auch echte Anforderungen an die Expertise (Sachverstand auf den Gebieten Rechnungslegung oder Abschlussprüfung). Darüber hinaus nimmt der Gesetzgeber mittelbar über § 161 AktG und den Deutschen Corporate Governance Kodex Einfluss auf den Sachverstand des Aufsichtsrats. Hervorzuheben sind hier die Empfehlungen eines Kompetenzprofils und der Berücksichtigung von Diversität bei der Zusammensetzung (Ziff. 5.4.1 DCGK 2017) sowie der Beteiligung einer angemessenen Anzahl unabhängiger Mitglieder (Ziff. 5.4.2 DCGK 2017). c) Ausrichtung des Entscheiders auf Langfristigkeit Bei den meisten unternehmerischen Entscheidungen ist eine Orientierung an den langfristigen Folgen eher wünschenswert als ein Kurzfristdenken. Eine solche Langfristorientierung ist bei der Hauptversammlung nicht sichergestellt. Die wirtschaftlichen Interessen von Aktionären können eher kurz- oder ehr langfristig orientiert sein. Eine Mehrheit von spekulativ investierenden, auf die Erzielung von schnellen Kursgewinnen ausgerichteten Investoren würde die variable Vorstandsvergütung vermutlich deutlich stärker an der Erreichung kurzfristiger Ziele ausrichten als ein langfristig orientierter, eher an konstanten Dividenden interessierter Aktionär. Dem Aufsichtsrat wohnt demgegenüber eine gewisse Konstanz und Langfristorientierung inne. Aufsichtsratsmitglieder werden meist für die gesetzliche Höchstdauer von rund fünf Jahren bestellt. Sie sind jedenfalls nach dem gesetzlichen Regelfall gegen eine vorzeitige Abberufung durch das Erfordernis des wichtigen Grunds gemäß §  103 Abs. 1 Satz 2 AktG geschützt. Wiederwahlen von Aufsichtsratsmitgliedern sind eher die Regel als die Ausnahme. Von einer in der Praxis eher unüblichen, an kurzfristigen Zielen ausgerichteten variablen Aufsichtsratsvergütung abgesehen, fehlt es an Anreizen, bei der Entscheidungsfindung die kurzfristigen Folgen höher zu gewichten als die mittel- und langfristigen. 7. Relativierung Nach der vorstehenden Argumentation könnte der Eindruck entstanden sein, die Hauptversammlung sei als Entscheidungsorgan völlig ungeeignet. Die vorstehende Darstellung der Bedenken lässt allerdings, ähnlich wie häufig auch Überlegungen zur Lehre von der Organadäquanz und der institutionsökonomischen Agency-Theorie,57 außer Betracht, dass Hauptversammlungskompetenzen eine Entscheidung des Aufsichtsrats typischerweise nicht verdrängen, sondern ergänzen. Ebenso wie die Zustimmung des Aufsichtsrats nach §  111 Abs.  4 Satz 2 AktG eine Entscheidung des natsbericht-Themen/2017-10-2-investitionspruefungsrecht.pdf?__blob=publicationFile​ &v=6 (zuletzt abgerufen am 25.3.2019). 57 Ausführlich Renner, AG 2015, 513, 516 ff.

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Vorstands nicht ersetzt, setzt auch praktisch jede Beschlussfassung der Hauptversammlung eine Entscheidung des Aufsichtsrats und meist auch des Vorstands voraus. Diese haben nach § 124 Abs. 3 Satz 1 AktG zu jedem Gegenstand der Tagesordnung, über den die Hauptversammlung beschließen soll, Vorschläge zur Beschlussfassung zu machen. Know-how, Expertise und Erfahrung der Aufsichtsratsmitglieder und des Vorstands fließen somit in die Entscheidungsfindung der Hauptversammlung ein. Für die sorgfältige Vorbereitung des Beschlussvorschlags gelten §§ 93 Abs. 1 und 2, 116 AktG.58 In der Praxis folgt die Hauptversammlung ganz typischerweise den Beschlussvorschlägen der Verwaltung. Eine solche Billigung einer von einem anderen Organ vorbereiteten und empfohlenen Entscheidung birgt deutlich weniger Gefahren als die originäre Entwicklung eines Entscheidungsvorschlags, zu der die Hauptversammlung sicher nicht geeignet ist. Darüber hinaus sind die Hauptversammlungen heute ganz überwiegend und mit steigender Tendenz von institutionellen Investoren dominiert, die sich professionell um ihr Investment kümmern, dabei in verstärktem Umfang eigene Governance- und Ethikregeln befolgen59 und typischerweise Erfahrungen aus anderen Gesellschaften, an denen sie beteiligt sind, mitbringen. Auch wenn sich die Aktionäre zeitlich nicht so intensiv mit einer Entscheidungsvorlage befassen können, wie dies Vorstand und Aufsichtsrat möglich ist, können sie doch jedenfalls als intuitiver Filter einer (hoffentlich) sehr analytisch vorbereiteten Entscheidung der Verwaltung dienen und diese auf Plausibilität überprüfen.60 Dem Erfordernis der Billigung einer Verwaltungsentscheidung durch die Hauptversammlung kann daher trotz der unbestreitbaren Defizite der  Hauptversammlung als Entscheidungsgremium ein potentieller Zusatznutzen bei überschaubaren Zusatzkosten nicht abgesprochen werden, soweit dadurch nicht dringende Entscheidungen unangemessen aufgeschoben werden.

VI. Versuch einer Konkretisierung Berücksichtigt man, dass die Hauptversammlung die sachkundige Befassung von Vorstand und Aufsichtsrat mit der Entscheidung nicht verdrängt, sondern auf ihr aufbaut, besteht kein Grund, zusätzliche Hauptversammlungskompetenzen rechtspolitisch generell wegen der deutlich geminderten Kompetenz der Hauptversammlung abzulehnen. Nach einer Reform des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts, die zeitnah Klarheit über die Wirksamkeit angefochtener Hauptversammlungsbeschlüsse schafft, besteht rechtspolitischer Gestaltungsspielraum für zusätzliche Hauptversammlungskompetenzen. Bei der Frage, ob und in welchem Umfang diese anerkannt werden sollten, sind die folgenden Kriterien mit zu berücksichtigen: 58 Habersack in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, § 116 AktG Rz. 17, 19; Grigoleit/Tomasic in Grigoleit, AktG, 2013, § 116 AktG Rz. 3; s. auch Hopt/Wiedemann in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2006, § 116 AktG Rz. 123. 59 Ausführlicher Fleischer, AG 2012, 2 ff.; Mense/Klie, GWR 2016, 111, 113 f.; Kleinmanns, IRZ 2016, 341, 342 ff. 60 Zu Bedeutung, Nutzen und Grenzen intuitiver unternehmerischer Entscheidungen s. J. Vetter in FS Bergmann, 2018, S. 815, 818 ff. m.w.N.

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–– Geboten sind originäre Hauptversammlungskompetenzen nur dort, wo entweder subjektive Rechte von Aktionären betroffen sind, wie dies bei einer Mediatisierung von Mitgliedschaftsrechten der Fall ist, oder über eine Veränderung der statutarischen Grundlagen und vergleichbare Grundlagengeschäfte zu entscheiden ist.61 Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber beide Bereiche bereits umfassend kodifiziert hat und die Rechtsprechung daher zu Recht zurückhaltend ist, die Hauptversammlungskompetenzen richterrechtlich zu erweitern. Dies gilt beispielsweise für etwas artifiziell anmutende Konstrukte wie einer „Mediatisierung von Mitgliedschaftsrechten nach oben“.62 Gemeint sind Vereinbarungen der Aktiengesellschaft mit Investoren oder Fusionspartnern, die auf die Durchführung eines Übernahmeangebots zielen. Nach oben können keine Rechte mediatisiert werden; im Übrigen entscheidet über derartige Maßnahmen jeder Aktionär individuell durch Annahme oder Ablehnung des Übernahmeangebots. Hier wäre es geradezu aktionärsdemokratiefeindlich, wenn eine qualifizierte Mehrheit in der Hauptversammlung allen Aktionären die individuelle Möglichkeit der Entscheidung über das Übernahmeangebot verwehren könnte.63 Nicht ausgeschlossen ist eine gesetzliche Regelung zur Beteiligung der Hauptversammlung dagegen bei strukturändernden M&A-Transaktionen, an denen die Aktionäre nicht individuell durch Annahme eines öffentlichen Übernahmeangebots zu beteiligen sind.64 –– Kein Raum für Hauptversammlungsentscheidungen besteht dort, wo neben den Interessen der Aktionäre auch Interessen anderer Stakeholder berücksichtigt werden sollten. In welchem Umfang bei einer Entscheidung auch Interessen anderer Stakeholder zu berücksichtigen sind, ist eine rechtspolitische Frage. Sofern der Gesetzgeber der Meinung sein sollte, dass auch Drittinteressen neben den Aktionärs­ interessen berührt sind, ist die Hauptversammlung als homogen an den Aktionärs­ interessen orientiertes Entscheidungsorgan ungeeignet. Dies gilt beispielsweise für die verbindliche Ausgestaltung des Vergütungssystems, einschließlich seiner variablen Vergütungsbestandteile (hierzu bereits oben V.4.). Ein Gegenstand, für den eine Zustimmung der Aktionäre aufgrund Betroffenheit individueller Rechte der Aktionäre, aber nicht Dritter, und typischerweise fehlenden Zeitdrucks gut vertretbar gewesen wäre, ist das Delisting.65 Diese verfassungsrechtlich nicht gebotene66 und daher nicht zwingende, aber immerhin verständliche Entscheidung hat der Gesetzgeber bekanntlich anderweitig getroffen (s. § 39 Abs. 2 BörsG).67

61 Renner, AG 2015, 513, 517 f. 62 S. hierzu Strohn, ZHR 182 (2018), 114, 148 ff. 63 So auch Wilsing in FS Marsch-Barner, 2018, S. 595, 603 ff. 64 Ausführlicher Stephan/Strenger, AG 2017, 346 ff. 65 Nachweise zur Macrotron- und zur Frosta-Entscheidung des BGH oben in Fn. 18. 66 Das BVerfG hatte mit Urteil v. 11.7.2012 – 1 BvR 3142/07 und 1 BvR 1569/08, BVerfGE 132, 99 = AG 2012, 557 entschieden, dass die Handelbarkeit der Aktie von Art. 14 GG nicht geschützt sei, grundrechtlich geschützt sei nur die durch die Aktie vermittelte Beteiligung an der Gesellschaft in ihrer Substanz, nicht aber ihrem Wert. Da ein Rückzug von der Börse die Beteiligung als solche nicht verändert, sei die Eigentumsgarantie nicht berührt. 67 S. hierzu etwa den alternativen Gesetzgebungsvorschlag von Bayer, ZfPW 2015, 163, 220 ff.

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–– Rechtspolitisch schwieriger zu beurteilen ist die Beteiligung der Hauptversammlung an der Entscheidung über Geschäftsführungsmaßnahmen, die Interessen anderer Stakeholder nicht in einem besonders zu schützenden Umfang berühren. Hier ist dem Gesetzgeber aus den oben unter V. geschilderten Gründen im Grundsatz Zurückhaltung anzuraten. Allerdings besteht auch insoweit Spielraum, sofern besondere Gründe für eine Involvierung der Hauptversammlung sprechen. –– So kann überlegt werden, ob nicht die intuitive Kontrolle einer Verwaltungsentscheidung durch die Aktionäre durchaus Sinn machen kann. Dies gilt umso mehr, soweit es nicht nur um die Berücksichtigung objektiver Kriterien geht, sondern auch subjektive Grundüberzeugungen einfließen und die Komplexität der Entscheidung überschaubar ist. Beispiel: Auch wenn die Entscheidung über die konkrete Ausgestaltung der Vorstandsvergütung nicht der Hauptversammlung überlassen werden sollte, bestehen keine Bedenken, die Hauptversammlung über eine maximale Obergrenze der Gesamtvergütung entscheiden zu lassen. Ob ein Vorstandsmitglied maximal 200000, 2000000 oder 20000000 Euro im Jahr verdienen soll, berührt Drittinteressen allenfalls marginal; dafür ist vielmehr maßgeblich, von welchen Zielen die variable Vergütung abhängt. Im Vergleich zur Ausgestaltung der variablen Vergütung ist die Bestimmung einer Obergrenze auch deutlich weniger komplex. Die objektiven Kriterien für diese Entscheidung, wie die Gesamtvergütung bei anderen Unternehmen oder die Gesamtvergütung für Mitarbeiter und Führungskräfte im eigenen Unternehmen, sind leicht vermittelbar. Darüber hinaus beinhaltet die Festsetzung einer Obergrenze ein zumindest teilweise subjektives Angemessenheitsurteil. Aus diesen Gründen wäre es zwar nicht erforderlich, aber auch nicht systemwidrig, der Hauptversammlung eine verbindliche Entscheidung über die Obergrenze der Gesamtvergütung zu übertragen.68 –– Nicht ausgeschlossen erschiene mir eine Beteiligung der Hauptversammlung auch im Hinblick auf die Billigung von CSR-Bemühungen. So wäre, vergleichbar dem Vergütungsbericht, auch eine Billigung der nichtfinanziellen Erklärung nach § 289c HGB grundsätzlich denkbar. Gleiches würde für die Billigung einer in die Zukunft gerichteten CSR-Politik gelten. Auch hier wären zwar primär der Vorstand und gegebenenfalls der Aufsichtsrat in der Pflicht. Allerdings sprächen für eine Beteiligung der Hauptversammlung (i) das zunehmende Interesse von Aktionären an CSR-Bemühungen derjenigen Gesellschaften, in die sie investiert sind,69 68 Ablehnend Seibert in FS Hüffer, 2010, S. 955, 970 zu dem entsprechenden Antrag der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen vom 12.12.2007, BT-Drucks. 16/7530. 69 Als Beispiele sei nur auf die Investitionsleitlinien großer institutioneller Investoren wie der Allianz-Gruppe (s. deren Sustainability Report 2016, S. 26 ff.), AXA (s. Erklärung zum Responsible Ownership in AXA, Group Global RI Policy 2013, S. 3) oder Deutscher Bank (s. Geschäftsbericht 2015, S.  249 sowie Unternehmerische Verantwortung Bericht 2016, S.  12  ff.) verwiesen. In den Investitionsrichtlinien des größten Staatsfonds der Welt, des Norwegischen Pensionsfonds, findet sich ein besonders strenges Regelwerk, das die Standards für ethisches Investmentverhalten aus Sicht der norwegischen Regierung festlegt (abrufbar unter: https://www.regjeringen.no/en/topics/the-economy/the-government-pension-​

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sowie (ii) die bestehende Rechtsunsicherheit der Verwaltung de lege lata im Hinblick darauf, ob und in welchem Umfang sie berechtigt sind, ethische Entscheidungen unabhängig von deren Auswirkungen auf Unternehmenswert und Rendite zu treffen.70 –– Keine Bedenken bestehen gegen die vom Gesetzgeber bei der Say-on-pay-Entscheidung des § 120 Abs. 4 AktG erstmals gewählte Zwitterlösung, einen Beschluss zu fordern, der keine Rechte und Pflichten begründet und nicht anfechtbar ist (§ 120 Abs. 4 AktG in der bis zur Umsetzung der 2. ARRL geltenden Fassung und § 120a AktG i.d.F. des ARUG II). –– In Fortsetzung dieser Entwicklung besteht auch kein Grund, nicht auch weitere rechtlich unverbindliche Beschlüsse der Hauptversammlung zu Geschäftsführungsmaßnahmen zuzulassen.71 Nach herrschender Meinung kann der Vorstand der Hauptversammlung im Wege des A-maiore-ad-minus-Schlusses nach §  119 Abs. 2 AktG nicht nur konkrete, beschlussreife und umsetzungsfähige Maßnahmen vorlegen, sondern auch noch weniger weit fortgeschrittene Überlegungen, bei denen er lediglich ein unverbindliches Sounding einholt.72 Auch kann sich die Hauptversammlung nach zutreffender Ansicht bei Vorlage einer Geschäftsführungsfrage durch den Vorstand von sich aus auf eine unverbindliche Meinungsäußerung beschränken.73 Deutlich kritischer beurteilt die Literatur Initiativbeschlüsse, die aus den Kreisen der Aktionäre veranlasst werden.74 In der Tat sieht das AktG keine entsprechende Hauptversammlungskompetenz vor. Jedenfalls rechtspolitisch ist diese Skepsis allerdings nicht geboten.75 Aktionäre äußern ihren Willen fund/responsible-investments/id446948/, zuletzt abgerufen: 25.3.2019). Aufsehen erregt hat auch der Brief des Gründers und CEO von Blackrock an die CEOs der weltweit größten Unternehmen, in denen er sie auffordert, neben der finanziellen Performance auch ihren positiven Beitrag zum Gemeinwohl nachzuweisen (abzurufen unter https://www.black​ rock.com/corporate/investor-relations/larry-fink-ceo-letter, zuletzt abgerufen: 25.3.2019). 70 Hierzu etwa aktuell Simons, ZGR 2018, 316, 329 ff.; J. Vetter, ZGR 2018, 338, 344 ff. jeweils m.w.N. sowie die jeweils anschließende Diskussion, zusammengefasst in ZGR 2018, 334, 336 f. und 403, 406 ff. 71 S. den Gesetzgebungsvorschlag von Stephan/Strenger, AG 2017, 346 f., 351 zu strukturändernden M&A-Transaktionen; ausführlich und rechtsvergleichend Fleischer, AG 2010, 681 ff. 72 Fleischer, AG 2010, 681, 689; Kubis in MünchKomm. AktG, 4.  Aufl. 2018, §  119 AktG Rz. 23; Mülbert in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2017, Vorbem. 118 AktG Rz. 57; Reger in Bürgers/Körber, AktG, 4. Aufl. 2017, § 119 AktG Rz. 8; Spindler in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 119 AktG Rz. 5.  73 Fleischer, AG 2010, 681, 689 m.w.N.; Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 119 AktG Rz. 26. 74 Nichtigkeit solcher Beschlüsse annehmend Fleischer, AG 2010, 681, 689  f.; Hoffmann in Spindler/Stilz, AktG, 3. Aufl. 2015, § 119 AktG Rz. 54; Koch/Hüffer, AktG, 13. Aufl. 2018, § 119 AktG Rz. 13; Mülbert in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2017, § 119 AktG Rz. 214; Zöllner in KölnKomm. AktG, 1. Aufl. 1973, § 119 AktG Rz. 33; derartige Beschlüsse jedenfalls für zulässig, aber selbstverständlich unverbindlich haltend Drinhausen in Hölters, AktG, 3. Aufl. 2017, § 119 AktG Rz. 11. 75 Hierzu ausführlicher (ergebnisoffen) Fleischer, AG 2010, 681, 690 f.

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ohnehin; vom Vorstand als wichtig erachtete Aktionäre finden auch das Ohr des Vorstands. Dann spricht nichts gegen eine Willensäußerung der Hauptversammlung über die Summe individueller Äußerungen einzelner Aktionäre hinaus, auch wenn ein solcher Beschluss selbstverständlich nicht bindend wäre. Dass auch nicht bindende Beschlüsse der Hauptversammlung faktische Wirkung entfalten können, zeigen die nach § 120 Abs. 4 AktG abgelehnten oder mit nur knapper Mehrheit gebilligten Vergütungssysteme.76 In die Rechte der Verwaltung wird hierdurch nicht eingegriffen. Ein solcher Beschluss kann vielmehr ein befriedendes Mittel sein, unterschiedliche Auffassungen im Aktionärskreis einer Mehrheitsmeinung zuzuführen. Zugleich wird allen Aktionären die Möglichkeit geboten, gleichberechtigt an Versuchen zur Einflussnahme auf die Verwaltung teilzuhaben.

76 So haben alle drei DAX30-Gesellschaften, deren Vergütungssystem in der Hauptversammlungssaison 2017 abgelehnt oder nur sehr knapp gebilligt wurde, dieses überarbeitet und der Hauptversammlung in 2018 erneut zur Billigung vorgelegt, s. die betreffenden Hauptversammlungseinladungen von SAP SE: (https://www.sap.com/docs/download/investors/​ 2018/sap-gov-hv-2018-einladung.pdf, zuletzt abgerufen am 25.3.2019), S. 7; ProSiebenSat1 Media SE (https://www.prosiebensat1.com/uploads/2018/03/27/P7S1_Einladung_oHV18​ _DE.pdf, zuletzt abgerufen am 25.3.2019) S.  5, und MunichRe (https://www.munichre. com/site/corporate/get/documents_E1349840911/mr/assetpool.shared/Documents/0_ Corporate_Website/Financial_Reports/2018/annual-general-meeting-2018/HV_Einla​ dung_Langfassung_2018_de.pdf, zuletzt abgerufen am 25.3.2019), S. 4.

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It’s procedure, stupid!1 Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Beispiele 1. Beschlussfassung mit oder ohne ­Versammlungsleiter a) Aktienrecht b) GmbH c) Personengesellschaft d) Gesellschafterversammlung ohne physische Präsenz

2. Einziehung von Anteilen a) Einziehungsklauseln im Gefüge des Gesellschaftsvertrags b) Parameter von Einziehungsklauseln c) Wirksamkeit der Einziehung als ­Bezugspunkt d) Praxisfolgen e) Gestaltungsvorschlag III. Fazit

I. Einleitung Sturm auf den Krak des Chevaliers. In schweren Rüstungen kämpfen sich die Krieger des Sultans in der sengenden Sonne Syriens bergauf. Oben warten die Johanniterritter, gut geschützt hinter Mauern und Zinnen, um die Angreifer mit Pfeilen, Pech und kochendem Wasser zu empfangen. Da hilft nur noch Aushungern. So ähnlich mag man sich auch manche gesellschaftsrechtliche Streitigkeit vorstellen. Zu diesem Bild, geprägt eher durch Ritterfilme als durch die Realität des Hochmittelalters, gesellt sich ein anderes: das des Robin Hood, der sich mit seinem Guerillakrieg gegen den Sheriff von Nottingham uneigennützig für die Schwachen einsetzt. So stilisieren sich gern die von ihren Gegnern so genannten „räuberischen Aktionäre“. Was hat das mit Recht im Allgemeinen und mit Ulrich Seibert im Besonderen zu tun. Ob im Ritterfilm oder im Gesellschaftsrecht, in beiden Fällen haben wir es mit Konflikten zu tun. Die Aufgabe von Recht besteht zum einen darin, soziale Komplexität zu reduzieren, zum anderen – und darum geht es in diesem Beitrag – darin, im Rahmen dieser Konfliktlagen die Parteirollen angemessen zu verteilen. Mit den Parteirollen einher geht die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast. Welche Seite ist die, die bergauf gegen die Sonne kämpfen muss? Welche Ressourcen haben die Verteidiger hoch oben auf den Zinnen der Burg zur Verfügung? Die Antwort des Rechts auf diese Frage kann mitunter folgenreicher sein als das, was materiell-rechtlich gewährt wird. Neben Rechtswissenschaft und Rechtsprechung übernimmt vor allem der Gesetzgeber das „Casting“ in diesem Ritterepos. In seiner Funktion als Leiter des für das nati1 Nach dem Slogan „The economy, stupid“, geprägt im Präsidentschaftswahlkampf von Bill Clinton 1992, hierzu https://en.wikipedia.org/wiki/It%27s_the_economy,_stupid, abgerufen am 4.2.2019.

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onale Gesellschaftsrecht zuständigen Referats im Bundesministerium der Justiz hat Seibert über Jahrzehnte die Drehbücher für diverse gesellschaftsrechtliche Ritterfilme geschrieben. Ihm und speziell seiner „Aktienrechtsreform in Permanenz“2 ist es zu verdanken, dass der aktienrechtliche Sherwood Forest deutlich lichter geworden ist und daher die heutigen selbsternannten Robin Hoods des Aktienrechts darin weniger Deckung finden. Allerdings ist damit zum einen die Willkürherrschaft der aktienrechtlichen Sheriffs von Nottingham nicht in die Schranken gewiesen, wie etwa die Entwicklung von Macrotron3 zu Frosta4 zeigt. Zum anderen fangen die Angreifer an, die Burgen von unten her zu unterminieren, und vertreiben die Anführer der Verteidiger – professionelle Stimmrechtsberater und activist shareholders sind die Stichworte dieser Tage hierzu. Diese haben ihr eigenes Wohl und nicht das der Gesellschaften im Blick. Für potente Investoren sind Quoren kein Problem und über ihre Analysten beherrschen sie den Diskurs im Aktionärskreis. Deren einzige Sorge ist babylonische Gefangenschaft aufgrund zu großer Marktenge. Eine allein am Recht orientierte präventive Kontrolle findet im Aktienrecht letztlich auch heute allenfalls nur dann statt, wenn ein Notar die Niederschrift aufnimmt. Seiberts Welt war und ist die der Krak des Chevaliers des Aktienrechts, die der großen Linien und Konflikte. Das Problem der richtigen Zuweisung der Parteirollen besteht aber auch in der Welt des gesellschaftsrechtlichen Kleinadels, in der Welt der Houses und Manors der GmbH. Diese Welt soll hier anhand zweier Beispiele ein wenig in den Blick genommen werden.

II. Beispiele 1. Beschlussfassung mit oder ohne Versammlungsleiter a) Aktienrecht aa) Ausgangspunkt Die Überlegungen nehmen ihren Ausgang wieder beim Aktienrecht. Jede Hauptversammlung hat einen Versammlungsleiter.5 Wenn sie keinen hat, beginnt sie mit dessen Wahl.6 2 Der seit einem Vierteljahrhundert sprichwörtliche Begriff wurde geprägt durch Zöllner, AG 1994, 336.  3 BGH v. 25.11.2002 – II ZR 133/01, AG 2003, 273 = DB 2003, 544 = ZIP 2003, 387. 4 BGH v. 8.10.2013 – II ZB 26/12, AG 2013, 877 = DB 2013, 2672 = ZIP 2013, 2254. Bilanz des hierdurch verursachten volkswirtschaftlichen Schadens bei Bayer, ZfPW 2015, 163. S. auch Bayer, ZIP 2015, 853; Buckel/Vogel, AG 2015, 373; Groß, AG 2015, 812; Wienecke/Schulz, AG 2016, 809. Offen gegen den BGH stellte sich das OLG Düsseldorf v. 19.11.2015 – 26 W 4/15 (AktE), AG 2016, 366.  5 So apodiktisch Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. München 2018, § 129 Rz. 18, der dies aus §§ 118 Abs. 4,122 Abs. 3 Satz 2 und 130 Abs. 2 Sätze 1 und 3 AktG schließt. Ausnahme nur bei der Einmann-AG (a.a.O.). 6 Hüffer/Koch, § 129 Rz. 20.

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Der normative Ausgangspunkt hierfür ist unscheinbar, eher beiläufig. § 130 Abs. 2 Satz 1 AktG erwähnt die „Feststellung des Vorsitzenden über die Beschlussfassung“. Damit ist impliziert,7 dass die Hauptversammlung der Aktiengesellschaft einen Vorsitzenden haben muss. § 130 Abs. 2 Satz 3 AktG nennt diesen den „Versammlungsleiter“. §§ 129 Abs. 1 Satz 1, 131 Abs. 2 Satz 2 AktG räumen der Hauptversammlung die Befugnis ein, sich mit qualifizierter Mehrheit eine „Geschäftsordnung mit Regeln für die Vorbereitung und Durchführung der Hauptversammlung“ zu geben. § 118 Abs. 4 AktG regelt die Befugnis des Versammlungsleiters, „die Bild- und Tonübertragung der Versammlung zuzulassen.“ Die genannten durch UMAG8 und ARUG9 neugefassten Vorschriften sind Belege für Seiberts bevorzugtes Publikationsorgan, das Bundesgesetzblatt. Sie stoßen auf eine seit den Tagen des Preußischen Aktiengesetzes von 1843 – um es mit dem damaligen preußischen Staatsminister Friedrich Carl von Savigny zu sagen, „organisch“10 gewachsene Praxis. Selbstverständlich oblag die Leitung der bis 1937 so genannten Generalversammlung der AG deren Aufsichtsratsvorsitzendem, bis dahin (und teils heute noch) deren eigentlichem „starken Mann“ (dorthin ist das gender mainstreaming bis heute nicht vorgedrungen). Wer aber „Vorsitzender“ bzw. „Versammlungsleiter“ der Hauptversammlung sein soll, dazu schweigt das Aktiengesetz.11 Im Gegensatz zu § 7 VersammlungsG ist ein solcher im Aktienrecht noch nicht einmal vorgeschrieben. In den Satzungen der AG werden zumeist die Person des Versammlungsleiters, etwaige Ersatzpersonen sowie Verfahren für die Wahl eines Versammlungsleiters geregelt. In nicht mitbestimmten AG ist zumeist der stellvertretende Vorsitzende des Aufsichtsrats zugleich der Ersatzversammlungsleiter. Da in nach dem MitbestG 1976 mitbestimmten Aktiengesellschaften der stellvertretende Vorsitzende des Aufsichtsrats von der Arbeitnehmerseite gestellt wird, wird nach deren Satzungen eine Hauptversammlung mit abwesendem Aufsichtsratsvorsitzenden meist vom Vorstand eröffnet, der den Vorsitzenden vorschlägt und durch die Versammlung wählen lässt. Fast immer ist dies dann ein anderes Mitglied der Arbeitgeberbank im Aufsichtsrat. Die Eröffnung der Hauptversammlung durch den beurkundenden Notar hat gegenüber dieser Lösung zwar den Vorteil der größeren Neutralität, wird jedoch wegen der damit verbundenen Vermischung von Protokollierungs- und Leitungsfunktion mit nicht nur guten, sondern wohl besseren Gründen in Zweifel gezogen.12 Allerdings hat 7 Vgl. zur Hauptversammlung der SE auch Bunz, AG 2018, 466, 469-470. 8 Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG) v. 22.9.2005, BGBl. I 2005, 2802. 9 Gesetz zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie v.30.7.2009, BGBl. I 2009, 2479.  10 Friedrich Carl von Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Heidelberg 1814, 32: „Darum zeigt die Geschichte des Römischen Rechts bis zur classischen Zeit überall allmähliche, völlig organische Entwicklung.“ Selbst auf die von Seibert maßgeblich geprägte Entwicklung des Aktienrechts im letzten Vierteljahrhundert wird dies nicht durchweg zutreffen. 11 Vgl. Hüffer/Koch, § 129 Rz. 18. 12 Hierzu Hüffer/Koch, § 129 Rz. 20 unter Hinweis auf KG v. 15.12.2010 – 23 AktG 1/10, AG 2011, 170, 172 = MDR 2011, 311. 

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der Verfasser, gestützt auf eine solche Satzungsbestimmung, einmal eine Hauptversammlung eröffnet,13 in der der gesamte Aufsichtsrat das Hasenpanier ergriffen hatte. Anwesend war alles, was in dieser Republik unter den „kritischen Aktionären“ Rang und Namen hat. Die Amtsautorität des Notars scheint jegliche Diskussion über diesen Punkt unterbunden zu haben. In der Diktion von Seiberts erstem Dienstsitz: „Et hätt noch mal joot jejange.“ bb) Rechtsfolgen Ob eine Hauptversammlung einen Versammlungsleiter hat oder nicht, hat durchaus einschneidende Konsequenzen.14 Denn nur ein Versammlungsleiter kann von der Versammlung gefasste Beschlüsse „feststellen“, § 130 Abs. 2 AktG.15 Mit der Feststellung erwächst der Beschluss in Bestandskraft. Seine Unwirksamkeit kann in der Regel nicht mehr mit der Klage auf Feststellung seiner Unwirksamkeit (Nichtigkeitsklage, § 241 AktG), sondern nur mit der aktienrechtlichen Anfechtungsklage (§ 243 AktG) geltend gemacht werden.16 Von der auf Feststellung gerichteten Nichtigkeitsklage unterscheidet sich die Anfechtungsklage nicht nur dadurch, dass sie, falls ein Aktionär klagt, in der Regel voraussetzt, dass dieser „gegen den Beschluss Widerspruch zur Niederschrift erklärt hat“, § 245 Nr. 1 AktG. Zudem ist die Klage nicht auf Feststellung der Nichtigkeit, sondern darauf gerichtet, dass ein gefasster Beschluss für unwirksam erklärt wird. Die Anfechtungsklage ist mithin eine materiell-rechtliche Gestaltungsklage. § 246 Abs. 4 AktG ordnet wegen ihrer Wirkung erga omnes deren Bekanntmachung an und begründet den anderen Aktionären eine Nebeninterventionsbefugnis. Im Gegensatz zur Nichtigkeitsklage steht der Gesellschaft als Verteidigungsmittel gegen die Anfechtungsklage das Freigabeverfahren nach § 246a AktG zur Verfügung, das bei für die Gesellschaft oft existenzsichernden Kapitalmaßnahmen deren Handelsregistervollzug sichert. Gerade in diesen Vorschriften hat Seibert bleibende Spuren hinterlassen. Versammlungsleiter oder kein Versammlungsleiter, diese Weichenstellung determiniert damit die Verteilung der Parteirollen bei aktienrechtlichen Streitigkeiten und verteilt die „Waffen“, die das Recht beiden Seiten zur Verfügung stellt. Der Verfasser hat selbst einmal die Hauptversammlung einer „kleinen AG“ protokolliert, auf deren Tagesordnung ein dringend notwendiger Kapitalschnitt mit anschließender Kapital­ erhöhung stand. Ein Aktionär mit Sperrminorität opponierte, weil er den Abkauf seiner Aktien erzwingen wollte. Der Vorsitzende stellte – auch aufgrund entsprechenden Rats des Verfassers hin – den gefassten Beschluss über den „coup d’accordéon“17 fest 13 Da der Verfasser diese Satzung selbst entworfen hatte, hätte er sich dieser Aufgabe schlecht mit Hinweis auf rechtliche Bedenken entziehen können. 14 Instruktiv zur GmbH Noack, GmbHR 2017, 792-800.  15 Zum Begriff und zu den Rechtsfolgen der „Feststellung“ Hüffer/Koch, § 130 Rz. 22-23b. 16 Zur GmbH BGH v. 21.3.1988 – II ZR 308/87, DB 1988, 1260 = GmbHR 1988, 304 = ZIP 1988, 703; Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. Köln 2016, § 47 Rz. 33. 17 So die schöne französische Begriffsbildung für den Kapitalschnitt mit anschließender ­Kapitalerhöhung, vgl. Cozian/Viandier/Deboissy, Droit des sociétés, 29.  ed. Paris 2016, Rz. 1138. 

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und wertete die Gegenstimmen des Opponenten wegen Treuwidrigkeit nicht. Trotz Widerspruchs zur Niederschrift wurde der Beschluss nicht angefochten. Die Kapitalmaßnahme wurde durchgeführt. Einige Zeit später konnte die so „gerettete“ AG zu einem annehmbaren Preis verkauft werden. cc) Abwahl des Versammlungsleiters Von daher verwundert es nicht, dass sich seit einigen Jahren Streitigkeiten über die Person des Versammlungsleiters häufen.18 Oft beginnt die Hauptversammlung schon mit einem als „Sperrfeuer“ gedachten entsprechenden Antrag auf Abwahl des Vorsitzenden. Sichtet man die gerichtliche Spruchpraxis hierzu, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier die Richter die für sie selbst geltenden Maßstäbe der Befangenheit an den Versammlungsleiter anlegen. Dies scheint zu kurz geschlossen. Der Richter vertritt die Göttin Justitia mit Waage und Augenbinde, also ein zumindest scheinbar objektives Interesse. Der Versammlungsleiter vertritt kein solches, sondern hat schlicht im Interesse der Gesellschaft die Wahrung der Versammlungsformalia sicherzustellen. Hierzu gehört die Gewährung angemessener Partizipationschancen für die Teilnehmer und die Wahrung des Hausrechts (vgl. § 7 Abs. 4 VersammlungsG). Im Gegensatz zum Richter darf er aber auch die treuwidrige Verfolgung von Eigeninteressen durch Aktionäre ansprechen und ggfls. sanktionieren. dd) „Geschäftsordnung“ Schon vor Schaffung der §§ 129 Abs. 1 Satz 1, 131 Abs. 2 Satz 2 AktG waren Leitungsbefugnisse des Versammlungsleiters unbestritten, etwa zur Beschränkung der Redezeit.19 Der Deutsche Notarverein20 befürchtete im Gesetzgebungsverfahren die Möglichkeit eines Umkehrschlusses und somit einen Zwang für alle Aktiengesellschaften, in die Satzung entsprechende Befugnisse aufzunehmen und/oder eine „Hauptversammlungsordnung“ zu erlassen. Diese Befürchtungen haben sich einerseits nicht in vollem Umfang21 bewahrheitet. Andererseits gibt es auch kaum „Hauptversammlungsordnungen“. Die genannten Vorschriften scheinen bislang „totes Recht“ zu sein, die bisherige – auf Gewohnheitsrecht gestützte – Praxis wird soweit ersichtlich bruchlos fortgesetzt.

18 Eingehend Hüffer/Koch, § 129 Rz. 21. Zur Abwahl des Versammlungsleiters bei der GmbH Noack, GmbHR 2017, 799 f. und Bayer in Lutter/Hommelhoff, § 48 Rz. 15-15c. 19 Zu den Befugnissen des Vorsitzenden ausführlich Hüffer/Koch, § 129 Rz. 22-24 und § 131 Rz. 42-53.  20 Stellungnahme vom 31.3.2004, 8 (abrufbar unter www.dnotv.de  Dokumente  Stellungnahmen). 21 Allerdings differenziert die h.M. zwischen Befugnissen des Vorsitzenden aufgrund oder ohne „Geschäftsordnung“, vgl. Hüffer/Koch, § 131 Rz. 50-52 („tendenziell großzügigere Bemessung der Redezeit geboten“).

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Auch die Bild- und Tonübertragung der Hauptversammlung22 wird, abgesehen von der Rede des Vorstands, von der Praxis eher vorsichtig gehandhabt. Grund hierfür dürfte das teilweise abenteuerlich niedrige Niveau der Diskussionsbeiträge einzelner Aktionäre sein. Gerade in den Jahren, in denen die Beteiligung von Gesellschaften am Entschädigungsfonds für NS-Zwangsarbeiter auf Hauptversammlungen diskutiert wurde, äußerten sich einzelne Aktionäre in ihrem Selbstdarstellungsdrang in einer Weise, die die Gesellschaften nicht im Internet übertragen wissen wollten. b) GmbH aa) Ausgangslage Was einen „Versammlungsleiter“ bei der GmbH betrifft, hüllt sich das Gesetz in Schweigen. Immerhin sehen die §§ 45-51 GmbHG eine Gesellschafterversammlung als Forum für die „von den Gesellschaftern in den Angelegenheiten der Gesellschaft zu treffenden Bestimmungen“ vor. Dort werden diese Bestimmungen durch „Beschlussfassung“ getroffen, §§ 47 Abs. 1, 48 Abs. 1 GmbHG. Das Gesetz schafft einen Mindeststandard für die Einberufung (§§  49-51 GmbHG). Im Gegensatz zum Aktienrecht (§  130 AktG) ist für Mehrpersonengesellschaften noch nicht einmal eine Niederschrift vorgesehen, §  48 Abs.  3 GmbHG (mit dieser Vorschrift trägt das deutsche Recht auch nur europarechtlichen Vorgaben Rechnung).23 Im Übrigen verweist das Gesetz in § 45 GmbHG auf den Gesellschaftsvertrag und damit auf die Kautelarjuris­ prudenz.24 bb) Möglichkeit eines Versammlungsleiters Die genannten Vorschriften des GmbHG eröffnen jedoch weite Gestaltungsspielräume. Denkbar sind detaillierte Regelungen über Gesellschafterversammlungen, ihre Einberufung, ihre Zuständigkeit, ihre Beschlussfassung samt Dokumentation derselben und auch über die Leitung.25 Insbesondere kann auch, dem aktienrechtlichen Vorbild folgend, eine Feststellung der Beschlussfassung durch den Versammlungsleiter vorgesehen werden.26 Weiter

22 Hierzu Hüffer/Koch, § 118 Rz. 30.  23 Bayer in Lutter/Hommelhoff, § 48 Rz. 18 und 35. 24 Zu den kautelarjuristischen Optionen Wicke, GmbHR 2017, 777-788, 784-785 sowie Noack, GmbHR 2017, 792-800.  25 Beispiel aus der Kautelarpraxis: BGH v. 25.10.2016  – II ZR 230/15, AG 2017, 316 = DB 2017, 301 = ZIP 2017, 281; nahezu gleichlautend BGH v. 25.10.2016 – II ZR 231/15, JurionRS 16, 32199. Vgl. auch Jaletzke in Gummert/Weipert, Münchner Handbuch des Gesellschaftsrechts, Band 2, 4. Aufl. München 2016, § 66 Rz. 2-8, 29, der allerdings auch bei einer kassatorischen Beschlussanfechtungsklage nicht explizit auf eine Beschlussfeststellung durch einen Versammlungsleiter eingeht. 26 Eingehend Noack, GmbHR 2017, 792-800; Bunz, NZG 2017, 1366-1370; Bayer in Lutter/ Hommelhoff, § 48 Rz. 14.

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können an diese Feststellungen Rechtsfolgen für den Rechtsschutz gegen Gesellschafterbeschlüsse geknüpft werden, die sich am aktienrechtlichen Modell orientieren.27 Zwei prominente Beispiele für die Fernwirkungen, die das Vorhandensein eines Versammlungsleiters haben kann, sind die Entscheidung des BGH vom 24.3.2016 – IX ZB 32/1528 und des KG vom 12.10.2015 – 22 W 74/15.29 Beginnen wir mit dem BGH. Der Leitsatz des Senats sagt fast schon alles: „Gesellschafterbeschlüsse, die in den Räumen eines verfeindeten Gesellschafters gefasst werden, sind in der Regel wirksam, aber anfechtbar, sofern ein bestimmtes Beschlussergebnis festgestellt wurde.“ Der Einstieg in den Fall erfolgt über die Beschwerde gegen die Ablehnung eines Antrags auf Einstellung eines Insolvenzverfahrens nach § 212 InsO. Dieser muss von den organschaftlichen Vertretern der Gemeinschuldnerin in vertretungsberechtigter Zahl gestellt werden. Ob das der Fall war, hing in casu davon ab, ob eine Geschäftsführerin wirksam abberufen war. Die Abberufung geschah im Rahmen einer Gesellschafterversammlung, die in die Wohnung einer der untereinander wohl heillos zerstrittenen Gesellschafterinnen30 einberufen war. Die als Geschäftsführerin abzuberufende Gesellschafterin sah dies als unzumutbar an und leistete der Abberufung nicht Folge. In dieser Versammlung beschloss die weitere Gesellschafterin die Abberufung. Im Verfahren nach § 212 InsO kam es nun darauf an, ob dieser Beschluss nichtig oder nur anfechtbar war. Anfechtbarkeit bedeutet, dass für den Antrag nach § 212 InsO der Beschluss als zunächst wirksam und die Beteiligte als zunächst einmal abberufen anzusehen war.31 Der BGH entschied sich für Letzteres und begründete seine Entscheidung in zwei Schritten. Im ersten Schritt argumentierte er, eine Einberufung in die Räume eines verfeindeten Gesellschafters begründe in der Regel keinen so schwerwiegenden Einberufungsmangel, dass dort gefasste Beschlüsse als nichtig anzusehen seien. Zur Anfechtbarkeit gelangte der Senat aber über eine analoge Anwendung der 27 De lege ferenda J. Koch, Verhandlungen des 72. Deutschen Juristentages, Band I Gutachten, 2018, F74-F76 und F76-F81. 28 BGH v. 24.3.2016 – IX ZB 32/15, AG 2016, 582 = GmbHR 2016, 587 = ZIP 2016, 817 = DB 2016, 1007. 29 KG v. 12.10.2015 – 22 W 74/15, GmbHR 2016, 58 = ZIP 2016, 422. 30 Da offenbar auch die Einbeziehung der Ehemänner der Beteiligten (als Vermieter der Geschäftsräume der Gesellschaft) nicht deeskalierend wirkte, erscheint die Frage müßig, ob hier eine Geschlechterquote im Gesellschafterkreis analog § 96 Abs. 2 und 3 AktG etwas bewirkt hätte. Auch diese Vorschriften sind letztlich das Werk Seiberts, hier eher in seiner Rolle als pflichtbewusster Beamter. 31 Die Folgefragen (Einberufung einer Gesellschafterversammlung durch einen zu Unrecht noch im Handelsregister eingetragenen Geschäftsführer) beschäftigen den BGH in seinen Entscheidungen v. 8.11.2016 – II ZR 304/15, DB 2017, 116 = GmbHR 2017, 188 = ZIP 2017, 131 und v. 25.10.2016 – II ZR 230/15, DB 2017, 301 = ZIP 2017, 281 = NotBZ 2017, 180 (Anm. Lange); hierzu Liebscher/Steinbrück, GmbHR 2017, 497-505; Bayer/Illhardt, NZG 2017, 801-810.  Hier wird man bei einem durch einen Versammlungsleiter festgestellten, also bloß anfechtbaren Abberufungsbeschluss davon ausgehen müssen, dass der abberufene Geschäftsführer ab Beschlussfeststellung nicht mehr einberufungsberechtigt ist.

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§§ 241 ff. AktG, da der Beschluss in der entsprechenden Versammlung förmlich festgestellt worden war. Das aber setzt voraus, dass es dort einen Versammlungsleiter gegeben hatte.32 Um das Versammlungsprotokoll auf eine solche Feststellung hin zu prüfen, wurde das Beschwerdeverfahren zurückverwiesen. Die Entscheidung des KG ist zwar vor dem Beschluss des BGH ergangen, könnte aber dessen Fortentwicklung sein. Dort ging es um die Feststellung eines Kapitalerhöhungsbeschlusses durch einen „ad hoc“ bestellten Versammlungsleiter. Eingekleidet ist der Streit in eine Registerbeschwerde. Der Versammlungsleiter hatte die Gegenstimmen eines Gesellschafters wegen Verstoßes gegen die Treuepflicht nicht gewertet. Das Kammergericht hielt zwar auch ohne ausdrückliche Satzungsbestimmung einen Versammlungsleiter bei einer GmbH-Gesellschafterversammlung grundsätzlich für möglich. Jedoch müssten dessen Befugnisse durch die Gesellschafterversammlung spezifiziert werden. Die Befugnis zur Beschlussfeststellung müsse ihm gesondert übertragen werden. Eine Analogie zum Aktienrecht sei abzulehnen. Hierzu das KG: „Soweit geltend gemacht wird, die Rechtssicherheit verlange, dass generell von entsprechenden Befugnissen des Versammlungsleiters ausgegangen wird, mag dies für die Aktiengesellschaft gelten, die auch entsprechende Regelungen vorsieht. Für die Gesellschaft mit beschränkter Haftung ist dies nicht gerechtfertigt. Dies führt auch nicht zu einem unerträglichen Rechtsverlust. Es besteht die Möglichkeit positive Beschlussfeststellungsklage zu erheben (vgl. dazu BGH, Urt. vom 28. Januar 1980, II ZR 84/70, BGHZ 76, 154 = NJW 1980, 1527; Urt. vom 1. März 1999, II ZR 205/98, NJW 1999, 2298).“33 Allerdings führte das KG aus, eine solche Befugnis könne dem Versammlungsleiter „nach allgemeinen Regeln auch stillschweigend“ übertragen werden. In der inkonsequenten Anwendung dieses Obersatzes liegt der Fehler der Entscheidung.34 Angesichts des allseits bekannten aktienrechtlichen Modells ist von einer stillschweigenden Übernahme des aktienrechtlichen Konzepts auszugehen, wenn die Gesellschafter einer GmbH einen Versammlungsleiter bestellen. Ein „Versammlungsleiter light“ ist lebensfremd. Der überstimmte Gesellschafter kann sich mit einer Anfechtungsklage, einem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz (Nichtvollzug des Beschlusses beim Handelsregister) und einer Schutzschrift an das Handelsregister wehren. Von einem „unerträglichen Rechtsverlust“ kann überhaupt keine Rede sein. Die Haftung nach §  945 ZPO ist nicht etwa unerträglich, sondern ein angemessenes Korrektiv gegen Erpressungsversuche. Für die Kautelarpraxis bedeutet die Entscheidung des KG, dass die Satzungen wieder länger werden. Denkbar ist etwa folgende Klausel: „Der jeweils dienstälteste anwesende Geschäftsführer leitet die Gesellschafterversammlung. Ist kein Geschäftsführer anwe32 BGH v. 24.3.2016 – IX ZB 32/15, AG 2016, 582 = GmbHR 2016, 587 = ZIP 2016, 817 = DB 2016, 1007, Rz. 33 unter Hinweis auf BGH v. 23.9.1996 – II ZR 126/95, NJW 1997, 318, 320 und v. 11.2.2008 – II ZR 1987/06, ZIP 2008, 757 Tz. 24.  33 KG v. 12.10.2015 – 22 W 74/15, GmbHR 2016, 58 = ZIP 2016, 422, sub II. 2.c). 34 Anders die wohl h.M., vgl. Wicke, GmbHR 2017, 785 bei Fußnote 143; Bunz, NZG 2017, 1366, 1368-1370 mit ausf. Begr. Zur Gegenmeinung prominent Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl. München 2017, § 48 Rz. 17.

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send, wird der Versammlungsleiter in der Gesellschafterversammlung gewählt. Die ­Befugnisse des Versammlungsleiters entsprechen denen des Vorsitzenden der Hauptversammlung einer Aktiengesellschaft.“ Leider scheint im Fall des KG die von ihm zugelassene Rechtsbeschwerde zum BGH nicht eingelegt worden zu sein. c) Personengesellschaft Noch weniger zur Gesellschafterversammlung findet sich im Personengesellschaftsrecht. Dort sind im Grundsatz weder Beschlussfassungen noch Gesellschafterversammlungen vorgesehen. Grund ist das als Regelfall vorherrschende Einstimmigkeitsprinzip, § 709 Abs. 1 BGB, §§ 114, 115, 161 Abs. 2 HGB.35 Ausnahmen enthalten nur die §§ 13 Abs. 1 Satz 2, 43, 45d, 125, 193 Abs. 1 Satz 2, 216, 217, 225c UmwG, nach denen die Fassung eines Beschlusses über Verschmelzung, Spaltung oder Formwechsel eine Gesellschafterversammlung erfordert. Demgemäß kennt das kodifizierte Personengesellschaftsrecht auch keinen Versammlungsleiter. Die § 109 HGB, §§ 705, 709 Abs. 2 BGB eröffnen jedoch der Kautelarjuris­ prudenz noch weitere Gestaltungsspielräume als bei der GmbH. 36 Diese besetzt das Feld denn auch, ausgehend von der Publikumspersonengesellschaft. Für diese haben Vertragsgestaltung, Rechtsprechung und Rechtswissenschaft (in dieser Reihenfolge) ein Sonderrecht entwickelt, das sich stark an das aktienrechtliche Modell anlehnt. Beschlüsse von Publikumspersonengesellschaften sind im Grundsatz zwar nur mit der Nichtigkeitsklage angreifbar.37 Der Gesellschaftsvertrag kann jedoch hinsichtlich der Klagefristen auf das aktienrechtliche Modell rekurrieren.38 Ein Versammlungsleiter ist möglich, aber allenfalls dann erst zwingend, wenn im Personengesellschaftsrecht eine Beschlussanfechtungsklage eingeführt würde. Möglich ist jedoch auch die Fassung eines Umlaufbeschlusses, der nach Ablauf einer im Gesellschaftsvertrag vorgesehenen Äußerungsfrist der Gesellschafter durch die Geschäftsführung festgestellt wird.39 d) Gesellschafterversammlung ohne physische Präsenz Mit der nicht abebbenden Diskussion über eine Reform des Beschlussmängelrechts steht auch die Rolle des Versammlungsleiters im Fokus der wissenschaftlichen Dis35 S. nur Jaletzke in Gummert/Weipert, Band 2, § 66 Rz. 2.  36 Vgl. zur Einschränkung des § 166 Abs. 1 HGB OLG München v. 31.1.2018 – 7 U 2600/17, ZIP 2018, 425 mit Anm. Vosberg, EWiR 2018, 295.  37 Statt aller (mit Vorschlägen de lege ferenda) J. Koch, ZHR 182 (2018), 378, 403. 38 Roth in Baumbach/Hopt, HGB, 38. Aufl. München 2018, § 119 HGB Rz. 31-32; Grunewald in K. Schmidt, Münchener Kommentar zum HGB, Band 3, 3. Aufl. München 2012, § 161 HGB Rz. 35 und 137-139. Beispiel: BGH v. 25.10.2016 – II ZR 230/15, DB 2017, 301 = NZG 2017, 303 = ZIP 2017, 281. 39 Roth in Baumbach/Hopt, § 119 HGB Rz. 32; Jaletzke in Gummert/Weipert, Band 2, § 66 Rz. 29; Grunewald in K. Schmidt, Band 3, a.a.O. Beispiel: BGH v. 16.10.2012 – II ZR 70/11, JurionRS 2012, 29330, Rz. 2 (§ 17 des Gesellschaftsvertrags).

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kussion. Zum einen verlöre die Beschlussfeststellung an Bedeutung, würde man die traditionelle Dichotomie zwischen Nichtigkeit und Anfechtbarkeit aufgeben. Zum anderen stößt die herkömmliche Dogmatik des Stimmrechtsausschlusses bei Betroffenheit in den Fällen an ihre Grenzen, in denen zielgerichtet eine bestimmte Person zum Versammlungsleiter gewählt wird, die dann die Stimmen unliebsamer Opponenten wegen Treuepflichtverstoßes nicht wertet.40 Die Kritik am Versammlungsleiter krankt jedoch daran, dass sie kein Surrogat für dessen unbestreitbaren Vorteil liefert: Die Feststellung und damit verbundene Fixierung eines bestimmten Beschluss­ inhalts schafft Rechtssicherheit.41 Eine virtuelle Gesellschafterversammlung, sei es als Videokonferenz oder gar in einem Chatroom, wird diese Rechtssicherheit in viel stärkerem Maß benötigen.42 Die Empirie43 zeigt, dass Verhandlungen unter nicht physisch präsenten Teilnehmern in erheblich stärkerem Maße einer Moderation44 bedürfen, damit sie nicht in endlose Monologe bzw. bloße Konfrontation ausarten.45 Während in Präsenzversammlungen Fehler des Versammlungsleiters bei der Beschlussfeststellung nahezu zeitgleich durch andere Versammlungsteilnehmer korrigiert werden können, ist hier die Intervention anderer Teilnehmer erheblich schwieriger. Die fehlende soziale Kontrolle durch physisch anwesende Teilnehmer macht anfälliger für die Verführung interessegeleiteter Willkür. Mit dem Vordringen von Online-Verfahren im Gesellschaftsrecht steigen also sowohl die Notwendigkeit eines Versammlungsleiters als auch die Anforderungen an dessen 40 Instruktiv hierfür ist etwa der von Altmeppen, NJW 2016, 2833 gebildete Ausgangsfall. Kein Feststellungsverbot trotz Betroffenheit nimmt das OLG München v. 12.1.2017  – 23 U 1994/16, GmbHR 2017, 469 = ZIP 2017, 1467 an. Hierzu auch Bayer in Lutter/Hommelhoff, § 48 Rz. 15. Nach Auffassung des BGH v. 21.6.2010 – II ZR 230/08, DB 2010, 1811 = GmbHR 2010, 977 = ZIP 2010, 1640 unterliegt der satzungsgemäß berufene Versammlungsleiter auch bei einem Interessenkonflikt (hier: Abstimmung über die Abberufung des Versammlungsleiters) keinem Stimmverbot nach § 47 Abs. 4 GmbHG. 41 Daher halten Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, §  48 Rz.  38 eine Beschlussfeststellung auch bei Umlaufbeschlüssen jedenfalls für „zweckmäßig“. 42 Hierzu Spindler, ZGR 2018, 17-55, 24-32, der jedoch auf die Beschlussfeststellung und Versammlungsleitung nicht weiter eingeht. Gleiches gilt für Simons, NZG 2017, 567-572, der im Wesentlichen nur technische Fragen der Übermittlung von Online-Stimmabgaben behandelt. Vgl. auch Bayer in Lutter/Hommelhoff, §  48 Rz.  27 unter Hinweis auf BGH v. 16.1.2006 – II ZR 135/04, DB 2006, 1048 = GmbHR 2006, 706 = ZIP 2006, 852. Die Entscheidung behandelt allerdings nur die Zulässigkeit kombinierter Beschlussfassungen (Satzungsermächtigung erforderlich). 43 In den juristischen Diskurs wurden diese Erkenntnisse eingeführt durch die Dissertation von Benjamin Glunz, Psychologische Effekte beim gerichtlichen Einsatz von Videotechnik, Tübingen 2012 (i.F. „Videotechnik“). In der Diskussion über die Digitalisierung des Gesellschaftsrechts (insbesondere die Online-Gründung von Gesellschaften) werden diese Erkenntnisse bislang nicht verwertet, s. etwa Bormann, ZGR 2017, 621, bes. 642-647 oder Teichmann, GmbHR 2018, 1-15. Man sieht die Problematik einer Online-Gründung allein in der sicheren Identifizierung der Gründer. 44 Glunz, Videotechnik, S. 120-122, 235-126, 131, 133, 136-140. 45 Glunz, Videotechnik, S. 93-97, 99-100.

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Fachkompetenz und Neutralität. Nach dem Grundsatz „hard cases make bad law“ darf man gespannt sein, wohin sich die Dogmatik der Gesellschafterversammlung entwickelt. Die Online-Gesellschafterversammlung könnte sogar auf eine Stärkung der Rolle des Notars hinauslaufen, nicht nur als bloße Urkundsperson, sondern als gestaltender neutraler Moderator. Auch ohne Digitalisierung hat die letzte Runde der Betriebsratswahlen in Deutschland den Notar als „Wahlbeobachter“ vor neue Aufgaben gestellt. Hier sollte er in einem von gegenseitigem Misstrauen und von Verschwörungstheorien geprägten Gegeneinander verschiedener Fraktionen im Arbeitnehmerlager Vertrauen in die Funktionsfähigkeit demokratischer Legitimation durch Wahlen schaffen. Der Stellenwert notariell beurkundeter Auszählungen von Betriebsratswahlen vor den Arbeitsgerichten spricht für ein Erfolgsmodell.46 Eine Mehrung notarieller Aufgaben durch Digitalisierung wäre nach aller Erkenntnis aus jahrelanger Zusammenarbeit allerdings so ziemlich das Letzte, was Seibert und andere Notarskeptiker im Gesellschaftsrecht im Sinne haben. Der Geschichte ist Ironie allerdings nicht völlig fremd. 2. Einziehung von Anteilen a) Einziehungsklauseln im Gefüge des Gesellschaftsvertrags Ein Gesellschaftsvertrag lässt sich gut mit einer Kommode mit drei Schubladen vergleichen. Die oberste und schmalste Schublade enthält den gesetzlichen Mindestinhalt. Die mittlere, schon etwas größere Schublade enthält die Vorschriften für die Rechtsbeziehungen der Gesellschafter, Aufsichts- und Vertretungsorgane unter- und miteinander. Auf der unteren und zugleich größten Schublade, der für die Bettwäsche, steht geschrieben: „Wie komme ich aus dieser Nummer wieder heraus?“ Wichtiger Bestandteil des Regelungspakets der dritten Schublade sind Einziehungsklauseln. Sie ermöglichen, einzelne Gesellschafter einer Kapitalgesellschaft gegen ihren Willen „loszuwerden“. Was den Inhalt solcher Bestimmungen betrifft, verhält sich der Gesetzgeber zurückhaltend, vgl. § 34 GmbHG. Weder das AktG noch das GmbHG enthalten subsidiär geltende Einziehungsregeln. Es ist Sache der Gesellschafter, diese in ihren Gesellschaftsvertrag bzw. ihre Satzung aufzunehmen. Soweit dies nicht bei Gründung der Gesellschaft schon geschehen ist, wirken sie nur gegen die Gesellschafter, die ihrer Aufnahme zugestimmt haben, sei es bei oder außerhalb der Beschlussfassung.47 b) Parameter von Einziehungsklauseln Einziehungsklauseln regeln die Voraussetzungen, das Verfahren und die Rechtsfolgen der Einziehung. Dazu gehören neben Einziehungsgründen Bestimmungen über Be46 Zur Niederschrift nach § 18 Abs. 3 BetrVG Fitting/Engels/Schmitt/Trebinger/Linsenmaier, BetrVG, 29. Aufl. München 2018, § 18 BetrVG Rz. 28-31. 47 Fastrich in Baumbach/Hueck, § 34 Rz. 5-6.

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schlussmehrheiten und Stimmrechtsausschlüsse,48 über die Wirksamkeit der Einziehung und über die Höhe und Zahlungsweise des Einziehungsentgelts. Bei den Einziehungsgründen differenziert die Kautelarpraxis zwischen einverständlicher Einziehung und Zwangseinziehung (etwa bei Insolvenz eines Gesellschafters, Tod, Pfändung seines Anteils an der Gesellschaft oder dessen Einbeziehung in einen Streit über güterrechtliche Folgen einer Ehescheidung). Oft ist die Höhe des Einziehungsentgelts von den Einziehungsgründen abhängig. Dieses wird meist in Raten fällig. Das führt dazu, dass sich an den Einziehungsbeschluss eine mehr oder minder lange „Hängepartie“ anschließt, bis zwischen der Gesellschaft und dem aus ihr durch Einziehung ausgeschlossenen Gesellschafter keine Rechtsbeziehungen mehr bestehen. Gesetz und Rechtsprechung greifen an vielen Stellen in diese Gemengelage ein. So ist insbesondere der „wichtige Grund“ für die Einziehung im Rahmen der materiellen Beschlusskontrolle in vollem Umfang justiziabel.49 Die Maßstäbe entsprechen denen der §§ 626, 723 BGB. Erforderlich ist die Unzumutbarkeit des weiteren Verbleibens des von der Einziehung betroffenen Gesellschafters in der Gesellschaft. Die Höhe und Zahlungsweise des Abfindungsentgelts unterliegt einer fein ziselierten richterlichen Überprüfung, sei es als rigide Inhalts- oder eher kursorische Ausübungskontrolle.50 Viele Gesellschaftsverträge eröffnen in dieser Situation dem von der Einziehung betroffenen Gesellschafter die Möglichkeit, gegen eine höhere Abfindung seine Mitgliedschaft zu kündigen. Das hat den Vorteil, dass nicht mehr über die Tatsache des Ausscheidens als solche gestritten wird, was die weitere unternehmerische Tätigkeit der Gesellschaft enorm erleichtert. Der Streit beschränkt sich auf das Delta zwischen dem Einziehungsentgelt eines „Bad Leaver“ und der Abfindung eines „Good Leaver“. Mit vernünftigen Anwälten können die „Kampfhähne“ sehr viel schneller getrennt und Rechtsfrieden hergestellt werden. c) Wirksamkeit der Einziehung als Bezugspunkt Ein entscheidender gesellschaftsrechtlicher Angelpunkt in diesem System ist vor allem die Wirksamkeit der Einziehung. Ab diesem Zeitpunkt ist der von ihr Betroffene nicht mehr Gesellschafter der Gesellschaft. Ihm steht weder ein Stimmrecht zu noch kommt er in den Genuss der gesetzlich zwingend ausgestalteten Informationsrechte nach § 51a GmbHG. Das bedeutet, dass er ab diesem Zeitpunkt keinen Einfluss auf die Geschicke der Gesellschaft mehr hat. Mangels Zugang zu den Geschäftsbüchern der Gesellschaft hat er auch keine Möglichkeit mehr, die Berechnung des Einzie48 Zum Stimmverbot des Betroffenen bei Beschlussfassungen aus „wichtigem Grund“ Bayer, GmbHR 2017, 665-670.  Ausgleich über die Darlegungs- und Beweislast durch BGH v. 4.4.2017 – II ZR 77/16, DB 2017, 1256 = GmbHR 2017, 701 = ZIP 2017, 1065 mit Anm. Haase, BB 2017, 1807.  49 Beispiel: BGH v. 24.9.2013 – II ZR 216/11, DB 2013, 2675 = GmbHR 2013, 1315 = ZIP 2013, 393.  50 Hierzu Lutter/Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, §  34 Rz.  78-99; Fastrich in Baumbach/ Hueck, § 34 Rz. 25-38.

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hungsentgelts nachzuprüfen. Ist ein Gesellschafter aus der Gesellschaft ausgeschieden, ohne das ihm zustehende Einziehungsentgelt erhalten zu haben, hat er vorgeleistet, und das in der Regel ungesichert. Man erkennt die enorme wirtschaftliche Bedeutung der Frage, wann eine Einziehung wirksam ist.51 Stellt man mit der früheren Meinung auf die Zahlung der Abfindung ab, so muss das Interesse der Mitgesellschafter auf eine möglichst frühzeitige Befriedigung des „Störenfrieds“ gerichtet sein. Denn dieser gehört nicht zu den Angreifern auf die Burg, sondern zu den Meuterern innerhalb der Burgmauern. Kommt es mit der neueren BGH-Rechtsprechung52 hingegen auf die Wirksamkeit des Einziehungsbeschlusses an, so gerät der von der Einziehung Betroffene schlagartig in die Rolle desjenigen, der von außen bergauf gegen die Sonne kämpfen muss. Seine prekäre Situation verschärft sich, wenn der Einziehungsbeschluss in einer Gesellschafterversammlung mit einem Versammlungsleiter gefasst und von diesem fest­ gestellt wurde. Denn dann ist er erst einmal solange als wirksam zu betrachten, bis die Anfechtungsklage Erfolg hat. § 51a GmbHG läuft bis dahin leer und kann allenfalls über den dornenreichen Weg einstweiligen Rechtsschutzes erzwungen werden.53 Ohne Einsichtsrecht sind Inhalts- und Ausübungskontrolle von Abfindungsklauseln aber weitgehend entwertet, da der Außenstehende noch nicht einmal seiner Substantiierungslast im Zivilprozess genügen kann, es sei denn, er hat schon im Vorfeld des Einziehungsbeschlusses nächtens die Kopierer „heißlaufen“ lassen. Die Rechtsprechung des BGH, die ursprünglich wohl im Fall eines „Störenfrieds“ entwickelt wurde, wurde in der Folgeentscheidung vom 10.5.2016 auf den Fall eines Ausscheidens im Guten erstreckt. Sie macht die Lage des den Ausscheidenswilligen beratenden Rechtsanwalts alles andere als einfach. Man denke an den Fall, dass jemand aus Altersgründen aus der Gesellschaft ausscheiden will, aber keinen Nachfolger hat. Sein Anteil soll eingezogen und er in Raten abgefunden werden. Niemand will über rasche Liquiditätsabflüsse die Existenz der Gesellschaft gefährden. Sicherheiten aus dem Gesellschaftsvermögen beinträchtigen deren Finanzierungsspielraum, was auch keiner der Beteiligten will. Lässt sich der weichende Gesellschafter aus Anständigkeit auf eine sofortige Einziehung mit anschließender Ratenzahlung ein, ist er zum einen auf den guten Willen seiner Mitgesellschafter angewiesen, zum anderen trägt er das Unternehmerrisiko der verbleibenden Gesellschafter mit. Ein Rechtsanwalt des Aus51 Zum Hinausdrängen des Mehrheitsgesellschafters mittels Einziehung KG v. 24.8.2015 – 23 U 20/15, GmbHR 2016, 416 mit Anm. Otto und v. 20.12.2015 – 23 U 99/15, GmbHR 2016, 416 = ZIP 2016, 1166 sowie Otto, GmbHR 2018, 123-134.  52 BGH v. 24.1.2012 – II ZR 109/11, DB 2012, 504 = GmbHR 2012, 387 = ZIP 2012, 422 und v. 10.5.2016 – II ZR 342/14, DB 2016, 1366 = GmbHR 2016, 754 = ZIP 2016, 1160. Hierzu meine Anm. in NotBZ 2016, 412. Zum Rechtsschutz des Betroffenen über klageweises Vorgehen gegen die Gesellschafterliste Kleindiek, GmbHR 2017, 815-825.  53 Vgl. neben den in der vorausgehenden Fußnote zitierten Entscheidungen des KG etwa OLG Dresden v. 25.8.2016 – 8 U 347/16, DB 2016, 2222 = GmbHR 2016, 1149 = ZIP 2016, 2062; KG v. 9.11.2017 – 23 U 67/15, GmbHR 2018, 361 mit Anm. Otto, a.a.O., 367 (die Entscheidung ist in demselben Gesellschafterstreit ergangen wie die beiden Beschlüsse in der vorausgehenden Fußnote).

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scheidenden, der eine solche Lösung toleriert oder gar empfiehlt, riskiert einen Haftpflichtfall. Die jüngste Entscheidung des BGH54 gibt Anlass zur Vermutung, dass sich der Senat der gravierenden Folgen seines Kurswechsels im Jahr 2012 bewusst wird. Verfügt die Gesellschaft im Zeitpunkt des Einziehungsbeschlusses nach bilanzieller Betrachtungsweise, also ohne Aufdeckung stiller Reserven, nicht über hinreichend freie Rücklagen, aus denen die Abfindung an den ausscheidenden Gesellschafter geleistet werden kann, so ist der Einziehungsbeschluss nichtig. Auch spätere Einlagen der Mitgesellschafter helfen nicht. Damit ist die prozessuale Situation des von der Einziehung betroffenen Gesellschafters erheblich verbessert. Zur Substantiierung seiner (nunmehr statthaften) Nichtigkeitsklage dürfte es ausreichen, mit Hinweis auf das bilanzielle Eigenkapital nach der letzten Bilanz darzutun, dass nicht ausreichend freies Vermögen für die Abfindung vorhanden ist. Es ist dann Sache der Gesellschaft, eine entscheidende Verbesserung der Situation darzulegen und zu beweisen. d) Praxisfolgen Die Rechtsprechung, die sich ihre Fälle nicht aussuchen und nur bedingt in die Zukunft hinein gestalten kann, hat der Rechtspraxis hier eine schwierige Lage geschaffen. Die zunehmende Bedeutung einstweiligen Rechtsschutzes im Beschlussmängelrecht belegt die „Risiken und Nebenwirkungen“. Der Gesetzgeber kann nicht einfach par ordre du Mufti eingreifen, sondern muss auf politisch günstige Gelegenheiten warten. Die Aufgabe, einen gerechten Interessenausgleich zu finden, obliegt im Vorfeld der rechtsprechenden Gewalt den iudices cautelarios, der Vertragsgestaltung. Diese hat die Rechtsprechungsänderung des BGH im Einziehungsrecht vor enorme Herausforderungen gestellt. Hunderttausende von GmbH-Satzungen enthalten Einziehungsklauseln, die auf die frühere Rechtslage (Wirksamkeit erst mit Zahlung des Entgelts) zugeschnitten sind. Typischerweise lassen sich solche Regelungen daran erkennen, dass die Abfindung verzinst und der Gesellschaft die Möglichkeit früherer Zahlung zugebilligt wird. Diese Klauseln sind jetzt anzupassen, wozu erst einmal Überzeugungsarbeit bei den Gesellschaftern geleistet werden muss. Meist gelingt das nur, wenn der Gesellschaftsvertrag in anderen Punkten geändert werden soll. e) Gestaltungsvorschlag Ein denkbares Modell könnte eine an den Einziehungsgründen orientierte differenzierte Regelung etwa nach folgender Tabelle sein:

54 BGH v. 26.6.2018 – II ZR 65/16, ZIP 2018, 1540 mit Anm. Vossius, NotBZ 2018, 418. 

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It’s procedure, stupid! Regelungsgegenstand

„Bad Leaver“

„Good Leaver“

Einziehungsgrund

Insolvenz, Pfändung, wichtiger Grund, kein Ehevertrag.

Zustimmung zur Einziehung, Tod, Berufsunfähigkeit.

Einziehungsverfahren

Ausschluss des Betroffenen vom Stimmrecht.

Ausschluss nur der Erben vom Stimmrecht, evtl. auch des Berufsunfähigen.

Abfindungshöhe

50 % des wirklichen Wertes (IdW S1).55

100 % des wirklichen Wertes (IdW S1).

Abfindungszahlung

3-5 Jahresraten.

max. 3 Jahresraten.

Wirksamkeit der ­Einziehung

Variante 1:

Variante 1:

sofort

erst mit Zahlung, evtl. flankiert mit Stimmbindung bei den „normalen“ Beschlüssen.

Variante 2: sofort, aber bis zur Zahlung des Einziehungsentgelts dürfen Einsichtsrechte durch beauftragten WP/StB auf Kosten des Betroffenen ausgeübt werden.

Variante 2: sofort, aber Einsichtsrecht entsprechend § 51a GmbHG bis zur Zahlung des Einziehungsentgelts, auf erstes Anfordern zahlbares Aval der Mitgesellschafter.

III. Fazit Die beiden Beispiele zeigen eines: Materielles Gesellschaftsrecht ist nur eine Seite dieses Rechtsgebietes. Mindestens ebenso wichtig, wenn nicht gar wichtiger, sind Verfahrensfragen. Sie bestimmen zum einen die Ausgangssituation der Parteien im Rechtsstreit über Substantiierungs- und Beweislast. Sie bestimmen zum anderen, für und gegen wen die Zeit arbeitet. Es sind nicht immer nur die „großen Fragen“, wie etwa das im Nachbarreferat von Seiberts unvergessenem Kollegen Joachim Ganske entwickelte und im UmwG 1995 erstmals umgesetzte Freigabeverfahren,56 dem Ulrich Seibert mit dem UMAG von

55 Wegen der Risiken der Inhaltskontrolle sind Buchwertklauseln allenfalls in den Satzungen neu gegründeter GmbH empfehlenswert. 56 Der Diskussionsentwurf des UmwG 1995 enthielt diesen § 16 Abs. 3 UmwG noch nicht. Die Vorschrift tauchte erstmals im Referentenentwurf auf und knüpft insbesondere an die damalige BGH-Rspr. zu offensichtlich aussichtslosen bzw. missbräuchlichen Klagen an, vgl. die amtliche Begr. des Referentenentwurfs Stand 15.4.1992, S. 60-63 mit Hinweis auf BGHZ 112, 9 sowie BGH v. 22.5.1989 – II ZR 206/88, ZIP 1989, 980 (Kochs Adler) und BGH v. 29.10.1990 – II ZR 146/89, ZIP 1990, 1560 (SEN).

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200557 und dem ARUG von 200958 einen weiten Anwendungsbereich im Aktienrecht mit so großem Erfolg eröffnet hat, dass er selbst weitere Reformen des Beschlussmängelrechts für nicht dringlich hielt.59 Unabhängig vom Streit hierüber soll an Folgendes erinnert werden: Diese beiden Reformen sind über eine bereits gefestigte Praxis der Registergerichte hinweggegangen. In geeigneten Fällen haben Registerrichter den Anfechtungsklägern vor dem UMAG die Eintragung durch Vorbescheid angekündigt, falls sie nicht binnen einer hierin bestimmten Frist den weiteren Vollzug der Registeranmeldung durch einstweilige Verfügung untersagen ließen. Wegen §  945 ZPO waren Parteirollen und Prozessrisiko damals erheblich besser verteilt als im später eingeführten Freigabeverfahren.60 Auch relativ unscheinbare Parameter haben also enorme Hebelwirkung, je nachdem, wie deren „Stellschrauben“ eingestellt sind. Sie können dazu führen, dass „große“ Rechtsinstitute wie „materielle Beschlusskontrolle“ oder „Inhalts- und Ausübungskontrolle“ in ihrer praktischen Anwendung leerlaufen. Das Bild vom biblischen David und seinem Gegenspieler Goliath drängt sich auf. It‘s procedure, stupid!

57 S. oben bei Fußnote 8. 58 S.  oben bei Fußnote 9.  Erst mit diesem Gesetz wurde die zeitliche Lästigkeit der Beschlussanfechtungsklage soweit verringert, dass die Zahl der „Berufskläger“ und der durch sie angestrengten Beschlussmängelklagen statistisch signifikant zurückging; hierzu Bayer/ Möller, NZG 2018, 801, 803. 59 Seibert/Hartmann, in Habersack/Huber/Spindler, Festschrift für Eberhard Stilz, München 2014, S. 585, 599 f. Dezidiert a.A. J. Koch, Verhandlungen des 72. Deutschen Juristentages, Band I Gutachten, F 9; ders., ZHR 182 (2018), 378; Bayer, NZG 2018, 801. 60 Zu dieser Praxis Vossius, ZGR 2009, 366, 408-409.

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Corporate Governance und Ownership Zwingt uns das Wachstum und der Einfluss institutioneller Aktionäre dazu, unsere Corporate Governance zu ­überdenken? Inhaltsübersicht I. Corporate Governance Definition II. Verschärfung der Governance für ­Vorstände und Aufsichtsräte III. Institutionelle Investoren IV. Investorendialog mit dem Aufsichtsrat V. Stewardship Regeln 1. Britischer Stewardship Code 2. Diskussion in Deutschland

VI. Änderung der Aktionärsrechte-­ Richtlinie VII. Stärkung der Rechte und Pflichten der Organvertreter VIII. Shareholder Activism und Augenhöhe der Organvertreter IX. Corporate Governance Definition – revisited

Kaum einer kennt die Entwicklung der Corporate Governance im deutschen Gesellschaftsrecht wie Ulrich Seibert. Er treibt sie in Berlin, findet dabei schlagkräftige Namen und Abkürzungen für die neuen Gesetze und verfolgt und begleitet die Corporate Governance Entwicklung in Brüssel; er nimmt seit Jahrzehnten teil an der europäischen Debatte zu den vielen großen und kleinen Themen. Was aber ist Corporate Governance und was soll Corporate Governance gerade jetzt und in den nächsten Jahren leisten?

I. Corporate Governance Definition Die gängige Definition wird immer noch den OECD-Grundsätzen entnommen, die ich auch hier zitieren möchte: „Corporate Governance Praktiken betreffen das ganze Geflecht der Beziehungen zwischen dem Management eines Unternehmens, dem Aufsichtsorgan, den Aktionären und anderen Unternehmensbeteiligten (Stakeholder). Die Corporate Governance liefert auch den strukturellen Rahmen für die Festlegung der Unternehmensziele, die Identifizierung der Mittel und Wege zu ihrer Umsetzung und die Modalitäten der Erfolgskontrollen.“1 1 OECD, Grundsätze der Corporate Governance, 2015, S. 9: “Corporate governance involves a set of relationships between a company’s management, its board, its shareholders and other stakeholders. Corporate governance also provides the structure through which the objectives

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Daniela Weber-Rey

Es geht also um Beziehungen und um Strukturen. Hinsichtlich der ‚Beziehungen‘ gilt es festzuhalten, dass wir uns befassen mit –– dem ganzen Geflecht der Beziehungen –– zwischen dem Management und dem Aufsichtsorgan –– zwischen dem Management und den Aktionären –– zwischen dem Aufsichtsorgan und den Aktionären –– zwischen allen Vorgenannten zusammen –– und es spielen andere Unternehmensbeteiligte eine Rolle. Zu den ‚Strukturen‘ komme ich später.

II. Verschärfung der Governance für Vorstände und Aufsichtsräte Schon vor der Finanzmarktkrise, d.h. vor mehr als 10 Jahren, hat sich die Corporate Governance im Aktienrecht sehr darauf konzentriert, die Anforderungen an das Management, d.h. den Vorstand und seine Mitglieder, und an den Aufsichtsrat und seine Mitglieder detaillierter zu fassen und Schritt für Schritt deutlich zu verschärfen. ­Häufig wird behauptet, diese Entwicklung sei der europäischen Entwicklung, d.h. Richtlinien und auch Verordnungen der Europäischen Kommission geschuldet. Die Annahme ist dann öfters, das Übel liege im fehlenden Verständnis für das deutsche zweistufige System der Unternehmensleitung und -kontrolle durch Vorstand und Aufsichtsrat im Gegensatz zum einstufigen Board System. Ich bin nicht der Ansicht, dass dies zutrifft – weder hinsichtlich eines Treibens in allenfalls für das Board System passende Entwicklungen und Verschärfungen, noch hinsichtlich der quasi alleinigen Verantwortung in Brüssel für die Flut von Regulierung in der Corporate Governance betreffend die Vorstände, vor allem aber auch die Aufsichtsräte. Manch eine Neuerung mag in Brüssel angestoßen worden sein, ist aber dann auch von den Mitgliedstaaten nicht mit Verve zurückgewiesen worden.2 Manche Neuerungen in Deutschland sind aber gerade auch einem ganz eigenständigen Bedürfnis in unserem Land entsprungen, den Skandalen von Arthur Andersen und Neuer Markt, über Siemens und die Banken, bis hin zu VW durch verschärfte Regulierung und immer neue Kontrollen über die Kontrollen Einhalt zu gebieten, um solches wahrgenommenes Fehlverhalten zukünftig zu verhindern.

of the company are set, and the means of attaining those objectives and monitoring performance are determined.” 2 Vgl. auch Weber-Rey, Verbesserungen der Corporate Governance in Europa – dualistisches und monistisches System vor dem Hintergrund jüngster Entwicklungen, in Audit Committee Quarterly II/2017 der KPMG, S. 28-32.

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Das Ziel war und ist ein hehres. Die Frage ist nur, ob wir auch signifikante Besserungen der Corporate Governance gerade bei Vorstand und Aufsichtsrat erreicht haben. Ich fürchte, die Antwort lautet ‚Nein‘. Die Regulierung im Finanzsektor, oft zwischen Compliance und Corporate Governance angesiedelt, mag positiv zu beurteilen sein. Zu viel ist aber unnötigerweise herübergeschwappt in die Corporate Governance aller börsennotierter Unternehmen, zwingt uns ein Korsett auf, das unternehmerische Freiheiten unangemessen beschneidet (allein schon durch die Kleinteiligkeit der Regelungen), das System der Unternehmensführung stört und den Aufsichtsrat schwächt (z.B. Rolle der Hauptversammlung bei Vergütungsthemen), Selbstverständlichkeiten regulatorisch erfasst (z.B. die zeitliche Verfügbarkeit von Aufsichtsratsmitgliedern), schlicht Zeit und Nerv derjenigen bindet, die sich doch um Strategie und Management kümmern sollten. Vorstand und Aufsichtsrat sehen sich veranlasst, viel zu viel Zeit auf Vorschriften (und auch Empfehlungen, also Soft Law) zu verwenden, Berater in Anspruch zu nehmen und sich abzusichern. Was oft zu fehlen scheint aber ist Zeit für und der Fokus auf die wichtigen Themen für die Unternehmen: Die Strategie des Unternehmens mittel- und langfristig, das Unternehmen in seiner Raison d‘être, seinem Sinn/seiner Rolle (Purpose) in der Gesellschaft, seiner Wettbewerbsfähigkeit und damit auch die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands.3 Frankreich und das Vereinigte Königreich machen sich intensiv und schon länger Gedanken über die Raison d‘être bzw. Sinn und Rolle der Unternehmen in der Gesellschaft (Purpose), was bisher in Deutschland nicht der Fall zu sein scheint. Es geht letztlich um die ‚licence to operate‘‘, also das Recht der gewerblichen Betätigung, die von öffentlicher Stelle oder der Gesellschaft gewährt wird (gesellschaftliche Betriebslizenz) – und eben auch entzogen werden kann, wenn die Grundlage der Gewährung entfällt.4 Dieses (auch wichtige) Thema soll hier allerdings nicht der Schwerpunkt sein.5 3 Der aktuelle Entwurf der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex für die Neufassung des Kodex nimmt nun (wenigstens) das Thema der ‚gesellschaftlichen Verantwortung‘ für Unternehmen und deren Organe an zwei Stellen auf – in der Präambel und in der Kodexbegründung. Entwurf des in seiner Struktur völlig, im Inhalt teilweise überarbeiteten und gekürzten Kodex, vorgestellt für die Konsultation am 6. November 2018: Präambel Abs. 2, „Das Unternehmen und seine Organe haben sich in ihrem Handeln der Rolle des Unternehmens in der Gesellschaft und ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst zu sein….“. Begründung zu Grundsatz 23, Abs. 2, Satz 2, „Die in Absatz 2 der Präambel angesprochene Rolle der Unternehmen in der Gesellschaft bedingt, dass bei der Vergütung der Vorstandsmitglieder auf die gesellschaftliche Akzeptanz geachtet wird.“ 4 Vgl. David Rodin in British Academy Review, Nr. 34 (Herbst 2018), S. 8-11, der von “honest assessment of social harms and social goods” spricht, S. 11. 5 Vgl. aber hierzu Daniela Weber-Rey in British Academy Review, Nr. 34 (Herbst 2018), S. 1418, Lost in detail: setting priorities for corporations in challenging times; sowie generell die Seiten 3-25 dieses Heftes unter Hinweis auf das Programm der British Academy ‚The Future of the Corporation‘ unter Leitung von Colin Mayer, das sich mit der Rolle der Unternehmen in der Gesellschaft (Purpose) befasst und den notwendigen Reformen, um das verlorene Vertrauen der Gesellschaft wiederzugewinnen  – s. zu diesem Projekt auch „Reforming ­Business for the 21st Century – A Framework for the Future of the Corporation“, erschienen

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Zurück zur Regulierung: Immer mehr Regulierung führt nicht notwendig zu besserer Unternehmensleitung und -kontrolle, zu besseren Vorständen und Aufsichtsräten, sondern auch dazu, dass immer weniger Verantwortungsbewusstsein droht (weil gehemmt durch Regulierung und Auflagen, weil Grenzen zwischen Aufsichtsratsverantwortung und Hauptversammlung verwischt werden) und durch die Vielzahl und die Vielschichtigkeit, teils Widersprüchlichkeit der Kontrollen (vom Aufsichtsrat und seinen immer spezialisierteren Ausschüssen zur Hauptversammlung/den Aktionären, den Wirtschaftsprüfern und den Aufsichtsbehörden). Am Ende ist es Niemand gewesen. Es droht die Verantwortungslosigkeit. Wir wollen aber, dass Vorstand und Aufsichtsrat vor allem ihrem Auftrag gerecht werden können, dem Wohl des Unternehmens zu dienen. Was sind aber aktuell die wichtigen Herausforderungen für börsennotierte Unternehmen?

III. Institutionelle Investoren Wir können gerade in Deutschland beobachten, dass viele unserer börsennotierten Unternehmen eine immer breitere Aktionärsbasis haben, immer mehr ausländische Aktionäre, immer mehr institutionelle Anleger und immer mehr aktivistische Aktionäre. So sollen institutionale Investoren aktuell mindestens 60 % der Aktien der größten börsennotierten deutschen Unternehmen halten, insbesondere der DAX30 Unternehmen. Mehr noch sollen es auf anderen – auch europäischen – Kapitalmärkten sein.6 In Deutschland halten die 20 größten Investorengruppen im Dezember 2016 bereits mehr als 50 % der Anteile an den DAX-notierten Unternehmen.7 Diese erstaunlichen Prozentsätze kommen zustande, obwohl institutionelle Investoren üblicherweise nicht mehr als 10 %, teils deutliche weniger, aller Aktien ihrer Portfolio-/ Beteiligungsgesellschaften halten.8 Kaum etwas beschäftigt die Wirtschaftspresse gerade in diesen Wochen der Abgabe dieses Beitrags so sehr, wie die Veränderung der Unternehmenslandschaft  – in bei der British Academy in 2018, abrufbar unter thebritishacademy.ac.uk/publications/refor​ ming-business-21st-century-framework-future-corporation; in der deutschen Presse auch Carsten Kratz, „Mehr als eine Frage der Kultur“, Handelsblatt vom 28. August 2018, S. 48. 6 Vgl. mit vielen Details: Marco Becht, Julian Franks, Jeremy Grant, Hannes F. Wagner; Returns to Hedge Fund Activism: An International Study, The Review of Financial Studies, Volume 30, Issue 9, 1 September 2017, S.  2933–2971, abrufbar unter https://doi.org/10.1093/rfs/ hhx048; zuletzt für Deutschland vor allem die Monopolkommission in ihrem XXII. Hauptgutachten gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 GWB vom 3. Juli 2018, abrufbar in deutscher Sprache unter http://www.monopolkommission.de. 7 Monopolkommission, s. oben, S.  7 in dem Auszug „Common ownership“ von Kapitel II, Schaubild II.1, abrufbar unter /images/HG22/Main_Report_XXII_Common_Ownership. pdf. 8 Monopolkommission, s. oben, S. 6, Fn. 166, und S. 38, Rn. 535, in dem Auszug „Common ownership“ von Kapitel II, Schaubild II.1, abrufbar unter /images/HG22/ Main_Report_ XXII_Common_Ownership.pdf.

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Deutschland, aber auch in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union, neuerdings Frankreich, und in den USA – durch Kapital und Liquidität der institutionellen Investoren, die mit viel Energie und Ausdauer vor unserer Haustür tätig werden. Diese institutionellen Investoren versprechen sich hier großes Potential, nachdem sie in den USA schon für ihre Renditen erfolgreich und flächendeckend tätig waren und die Investitionsmöglichkeiten nicht mehr so reichhaltig sind.9 Während die oben aufgeführte Corporate Governance Definition schon immer einen – wie der Wortlaut nahelegt – gleichberechtigten Schwerpunkt auf die Rolle der Aktionäre in diesem Geflecht legt, haben wir uns in Deutschland zu wenig dem gewandelten Umfeld und den daraus folgenden neuen Themen und Herausforderungen gewidmet. Das muss jetzt nachgeholt werden. Druck auf die Erträge in einem Niedrigzinsumfeld, demographischer Wandel, Digitalisierung und mehr: Institutionelle Investoren, deren Anleger überdurchschnittliche Erträge erwarten, können nicht mehr allein durch passives Verhalten liefern. Sie müssen nach neuen Wegen suchen, die gewünschten Erträge zu generieren. Methoden gibt es viele – von Themen der Kapitalallokation, wie Dividenden und Aktienrückkaufen, und Refinanzierungen, über Unternehmenskombinationen und Aufspaltungen, die Einführung von Holding-Strukturen, bis zu den aktivistischen Formen wie Druck auf Änderung der Governance (Unternehmensleitung und Aufsichtsorgan), neue Stra­ tegie oder Verkauf von Unternehmensteilen. Wir werden noch mehr Interesse inund  ausländischer institutioneller Investoren (und Vermögensverwalter) sehen, die Deutschlands Unternehmenslandschaft ertragreicher machen wollen, Potential dafür auch in unseren festgefahrenen Governance Strukturen vermuten, Umwälzungen lostreten wollen, um dann Erträge herauszuziehen – und vor allem ins Ausland zu tragen. Es sind nicht nur die aktivistischen, oft isoliert kritisierten ausländischen Hedgefonds, Private Equity Fonds, Vermögensverwalter und anderen institutionellen Investoren (manchmal alle gemeinsam als Berufsaktionäre bezeichnet). Es werden sich auch mehr und mehr Trittbrettfahrer aus dem traditionellen Umfeld der Institutionellen finden, die sich diese höheren Erträge nicht entgehen lassen können und wollen. Wir sehen auch solche aktivistischen Aktionäre, die das ‚free-riding‘ als Trittbrettfahrer zum Geschäftsmodell erhoben haben und weiter verbreiten werden, um ihr Geld 9 Vgl. nur das Handelsblatt am 30. und 31. August 2018: zu BlackRock und Friedrich Merz, Aufsichtsratsvorsitzender Blackrock Deutschland, „Was machen wir draus?“, Handelsblatt, 30. August 2018, S. 9; zur Renditenot „Wohin mit dem vielen Geld?“, Handelsblatt, 30. August 2018, S. 30/31; Theodor Weimer zu „Finanzplatz Deutschland“ und incidenter zu Blackrock, in Sonderveröffentlichung zum Thema „Banking“, Handelsblatt Journal, August 2018, S. 12; Interview mit Mortimer Buckley, Chef des zweitgrößten Vermögensverwalters weltweit, Vanguard, Handelsblatt, 31. August 2018, S. 32; „Die neue Macht der Fonds“ von Dennis Kremer in Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 4. November 2018, S. 35; das Handelsblatt vom 11.  Dezember 2018 zu Abspaltungen und aktivistischen Investoren: „Konzerntöchter streben an die Börse“ und „Aktivisten machen Druck“, S. 28 bzw. S. 29, die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. Dezember 2018 zum Fall Nestlé: „Investoren heizen Nestlé ein“, S. 26 und vom 13. Dezember 2018 zum Fall Pernod Ricard in Frankreich: „Elliott knöpft sich jetzt Pernod Ricard vor“, S. 26; zuletzt Interview mit James Norris, Vanguard, „Wir haben Macht“, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 3. Februar 2019, S. 27.

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(cashing in) im Gefolge des First Movers, des Vorreiters, zu machen oder aber kurzfristigen Profit aus möglichen Teilverkäufen zu erzielen oder auch schlicht und ausschließlich aus der öffentlichen Debatte und den sich hieraus ergebenden Kursschwankungen ihren Vorteil zu ziehen. Der Druck auf unsere Unternehmen wird sich wohlmöglich noch sehr erhöhen. Das muss nicht zu unser aller Schaden sein, könnte aber einigen Schaden anrichten und sollte von uns genauestens beobachtet werden. Vorstände und Aufsichtsräte müssen sich darauf einstellen.10 Wir müssen uns vor­ bereiten und Maßnahmen treffen  – auch und gerade solche auf dem Gebiet der ­Corporate Governance und des Gesellschaftsrechts. Wir müssen unser Corporate Governance Denken nachkalibrieren. Wir müssen eine öffentliche Debatte darüber beginnen, was wir für uns in Deutschland wollen. Das ist leichter gesagt, als getan. Ich möchte hier bei Themen der Governance bleiben. Natürlich muss in diesem Zusammenhang auch z.B. über eine Investitionsprüfung nach Aussenwirtschaftsrecht bzw. sog. Investment Screenings oder über Verbraucherschutz nachgedacht werden. Hierbei handelt es sich aber nicht um Governance Themen. Diese Aspekte sollen hier außer Betracht bleiben. Gleichermaßen sollen Fragen des wettbewerbswidrigen Verhaltens hier außen vorbleiben ebenso wie auch das große wieder aufgeflammte Thema der Industriepolitik.11

IV. Investorendialog mit dem Aufsichtsrat Es ist jedenfalls nicht getan mit einem verstärkten Austausch zwischen dem Aufsichtsratsvorsitzendem und evtl. weiteren Aufsichtsratsmitgliedern mit den Aktionären.12 Die immer noch jungen ‚Leitsätze für den Dialog zwischen Investor und Aufsichtsrat‘ haben nachgezeichnet, was bereits weitgehend Unternehmensrealität war. Aktionäre wollen zu Recht manche Informationen, die nur der Aufsichtsrat vertreten durch seinen Vorsitzenden ihnen geben kann. Das soll weder die Zuständigkeit des Vorstands beschneiden, Herr über die Kommunikation zu sein, noch die Hauptversammlung schwächen oder ihr Lebendigkeit nehmen. Der Investorendialog wurde daher auch 10 S. hierzu mehrere Beiträge in Audit Committee Quarterly, IV/2018 „Investoren und Stimmrechtsberater“, S. 4-21. 11 Vgl. hierzu Monopolkommission, „Common ownership“, s. oben, die nach Abwägung den Vorschlag von Maßnahmen zum jetzigen Zeitpunkt für verfrüht hält, obwohl das Risikopotential gesehen wird, S. 40; ähnlich C. Scott Hemphill und Marcel Kahan, „The Strategies of Anticompetitive Common Ownership“, ecgi Law Working Paper Nr.  423/2018, abrufbar unter http://ssrn.com/abstract_id=3210373, zu den USA, die auch vorsichtig sind, nicht die Schlussfolgerung „better safe than sorry“, S. 76, ziehen wollen, weil sie auch wettbewerblichen Nutzen der institutionellen Investoren sehen; in Verteidigung institutioneller Investoren ein kurzes Statement des Bundesverbands Investment und Asset Management e.V., (BVI), „Common Ownership: Impact of institutional investors‘ minority shareholding on competition in an industry sector“, 21. August 2018; wobei unter ‚common ownership‘ die indirekte Verbindung zwischen Wettwerbern durch parallele nicht-industrielle Beteiligungen zu verstehen ist. 12 Vgl. Leitsätze für den Dialog zwischen Investor und Aufsichtsrat vom 5. Juli 2016.

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2017 (wenn auch zaghaft) als Anregung in den Deutschen Corporate Governance Kodex aufgenommen 13 oder auch das große, wieder aufgeflammte Thema der Industriepolitik. Aber dies ist nur ein notwendiger Schritt unter den ersten Schritten. Er zeigt aber auch das gewachsene Interesse der Aktionäre, gerade auch der institutionellen Investoren, die Entwicklung ihrer Portfoliogesellschaften aktiver zu begleiten.14

V. Stewardship Regeln Es ist auch nicht ausreichend, sich auf einen Stewardship Code zu verlassen, der sich ‚nur‘ mit einer Verschärfung der Pflichten der institutionellen Investoren befasst. Es wäre notwendig, auch die Rechte und Pflichten der Verwaltung, der Geschäftsleitung sowie deren Grenzen im Verhältnis zu den institutionellen Investoren zu klären, die ihren makroökonomischen Einfluss auf die Kapitalmärkte und mikroökonomisch auf die Gesellschaften verstärkt und immer kreativer nutzen. 1. Britischer Stewardship Code Der britische Stewardship Code wurde erstmals 2010 veröffentlicht und legt die Grundsätze für eine verantwortungsvolle, effektive Verwaltung der Beteiligungen institutioneller Anleger in britischen börsennotierten Unternehmen fest. Diese Grundsätze haben in Großbritannien eine lange Vorgeschichte. Schon 1991 befasste sich das Institutional Shareholders‘ Committee (ISC) mit der Verantwortung institutioneller Aktionäre im Vereinigten Königreich. Der britische Stewardship Code schreibt den institutionellen Investoren die dauernde Überwachung der Geschäftsleitung ihrer Portfoliounternehmen vor, verpflichtet sie zum aktiven Dialog mit ihnen, verlangt Übermittlung vom Investor gesehener kritischer Punkte an das Beteiligungsunternehmen, ggfls mit Eingreifpflicht und verlangt die Entwicklung einer Strategie des Investors zum Umgang mit seinen Beteiligungsunternehmen. 13 Ziffer 5.2 Abs. 2 DCGK, eingeführt mit der Fassung 2017: „Der Aufsichtsratsvorsitzende sollte in angemessenem Rahmen bereit sein, mit Investoren über aufsichtsratsspezifische Themen Gespräche zu führen.“ Der neue Kodexentwurf vom 6.  November 2018 übernimmt diese Anregung in A.2. 14 Vgl. hierzu eine ganze Handvoll an Working Papers des European Corporate Governance Institute (ecgi) aus dem Jahr 2018: allen voran Jill Fisch, gemeinsam mit Assaf Hamdani und Steven Davidoff Solomon, “Passive Investors”, ecgi Law Working Paper Nr. 414/2018, abrufbar unter http://ssrn.com/abstract_id=3192069, und gemeinsam mit Simone M. Sept, “Shareholder Collaboration”, ecgi Law Working Paper Nr. 415/2018, abrufbar unter http:// ssrn.com/abstract_id=3227113, beide August 2018; aber auch Hemphill und Kahan, “The  Strategies of Anticompetitive Common Ownership”, s. oben; Ed de Haan, David ­Larcker und Charles McClure, “Long-Term Economic Consequences of Hedge Fund ­Activist Interventions”, ecgi Finance Working Paper Nr. 577/2018, abrufbar unter http:// ssrn.com/abstract_id=3260095.

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2. Diskussion in Deutschland Deutschlands Rechtswissenschaftler und Unternehmensjuristen betrachteten die damalige Entwicklung in Großbritannien und die inhaltlichen Regelungen mit großen Zweifeln. Es war die Zeit der Reaktion auf die Finanzmarktkrise und eine Lawine europäischer Gesetzgebungsprozesse war in vollem Gang, angefangen mit Grünbüchern der Kommission, Stellungnahmen, Anhörungen, Whitepapers, EU-Verordnungen, Richtlinien und Empfehlungen. Ein Stewardship Code für institutionelle Investoren, die für die Finanzmarktkrise mit verantwortlich gemacht wurden, weil sie sich zu passiv verhalten haben sollen, wurde als allenfalls im monistischen System passend angesehen und es wurden „schwere Verwerfungen in der deutschen dualistischen Unternehmensverfassung“ befürchtet.15 Immer wieder wurde auf das „Recht für unternehmerisches Desinteresse“ auch institutioneller Investoren verwiesen und auf einen „Eingriff in die Machtbalance der Organe“ hinsichtlich des eigenverantwortlichen Handelns des Vorstands im Verhältnis zur Hauptversammlung, der Problematik der Aktionärsinformation vor dem Hintergrund der informationellen Gleichbehandlung aller Aktionäre, einer möglichen Aushöhlung der Überwachung durch den Aufsichtsrat, der Rolle des Aufsichtsrats als Repräsentant aller Aktionärsinteressen, mündend letztlich in die Frage: „Verliert dann nicht im dualistischen System der Aufsichtsrat über kurz oder lang seine Funktion als Dialogpartner des Vorstands in strategischen Angelegenheiten?“16 Seither ist viel Zeit vergangen. Trotz der nachstehend angesprochenen Änderung der EU-Aktionärsrechte-Richtlinie und des deutschen Umsetzungsgesetzes (ARUG II) könnte es durchaus sinnvoll sein, nun doch auch in Deutschland einen Stewardship Code zu entwickeln und einzuführen, schon alleine, um einem internationalen Standard zu entsprechen, gleichzeitig aber auch die Besonderheiten des deutschen zwei­ stufigen Governance-Systems Rechnung zu tragen.

VI. Änderung der Aktionärsrechte-Richtlinie Der britische Stewardship Code ist erfolgreich und breit zur Anwendung gelangt und ist trotz der Bedenken in Deutschland Vorbild gewesen für die Änderung der Aktionärsrechte-Richtlinie mit dem Kernziel der Förderung der Langfristorientierung von 15 Peter Hommelhoff/Stefan Suchan, Der britische Stewardship Code: eine Revolution im deutschen Aktienrecht?, S. 5, in Audit Committee Quarterly I/2011, S. 4-7 mit dem Schwerpunktthema: Der britische Stewardship Code, S. 1-16, mit etlichen weiteren, meist kritischen Beiträgen. 16 Peter Hommelhoff/Stefan Suchan, Der britische Stewardship Code: eine Revolution im deutschen Aktienrecht? in Audit Committee Quarterly I/2011, S.  4-7, S.  6-7, und viele mehr, etwa Holger Fleischer, AG 2011, 221-233, der ebenfalls begründet, warum der UK Stewardship Code nicht als Vorlage für entsprechende Regelungen auf deutscher oder europäischer Ebene dienen kann, und fragt, warum passive Investitionsstrategien einem Rechtfertigungsdruck unterliegen sollen.

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Gesellschaften und Aktionären sowie mehr Transparenz und verstärkten Engagements der Aktionäre.17 Beiträge in der Literatur befassen sich vorallem mit den kapitalmarktrechtlichen Aspekten der Richtlinie und den Möglichkeiten und Grenzen, die das deutsche Gesellschaftsrecht den institutionellen Investoren hinsichtlich ihres Einflusses auf ihre Beteiligungsunternehmen aufzeigt.18 Die Regelungsschwerpunkte der Aktionärsrechte-Richtlinie drehen sich um die Vergütungspolitik, Related Party Transactions (d.h. Transaktionen zwischen einer Kapi­ talgesellschaft und Gesellschaftern, Vorstands- oder Aufsichtsratsmitgliedern), die Identifikation von Aktionären und die Ausübung von Aktionärsrechten sowie die Transparenz von institutionellen Anlegern, Vermögensverwaltern und Stimmrechtsberatern. Erklärtes Ziel ist es, mehr Engagement der Aktionäre zu stimulieren. Am 20. März 2019 wurde nun der Regierungsentwurf des Umsetzungsgesetzes vorgelegt (ARUG II). Es geht um „eine weitere Verbesserung der Mitwirkung der Aktionäre bei börsennotierten Gesellschaften sowie (um) … eine Erleichterung der grenzüberschreitenden Information und Ausübung von Aktionärsrechten“.19 Klar ist, dass mit der Umsetzung deutlich erhöhte Transparenz hinsichtlich Mitspracherechten und Mitwirkungspflichten sowie Abstimmungsverhalten und Offenlegungspflichten von Aktionären in vielerlei Hinsicht herrschen wird. Natürlich sind dies alles wichtige Themen. Vielleicht dienen die Regelungen einem Abbau „übermäßiger Risikobereitschaft“ von Aktionären und Vermögensverwaltern, wie sie schon in den Grünbüchern 2010 und 2011 und der Richtlinie als Hauptur­ sachen der Finanzmarktkrise ausgemacht wurden.20 Diese neuen Transparenzpflichten, teils gepaart mit einem „comply-or-explain“ Ansatz, für institutionelle Investoren, Vermögensverwalter und Stimmrechtsberater sind sicherlich ein wichtiger Schritt, um Unternehmen und ihre Organe in die Lage zu versetzen, sich besser auf Tätigkeiten bis hin zu Agitationen dieser Aktionärsgruppen vorzubereiten und ihnen zu begegnen. Das gleiche gilt für andere, traditionelle Aktionäre. Diese gesetzgeberischen Maßnahmen schaffen aber noch kein level playing

17 EU-Richtlinie 2017/828 vom 17.  Mai 2017 zur Änderung der Richtlinie 2007/36/EG im Hinblick auf die Förderung der langfristigen Mitwirkung der Aktionäre. 18 Zuletzt etwa Hauke Hein, Die Stewardship-Verantwortung institutioneller Investoren  – Plädoyer für einen aktienrechtskonformen Deutschen Stewardship Kodex, Dissertation 2017, m.v.w.N.; aktuell mit vielen kritischen Beiträgen zu „Investoren und Stimmrechtsberater“ das Audit Committee Quarterly IV/2018. 19 Vgl. Regierungsentwurf für das Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie vom 20. März 2019 (ARUG II). 20 Grünbuch der EU Kommission, „Corporate Governance in Finanzinstituten“, KOM (2010) 284, Einleitung S.  2, Ziffern 3.5 und 5.5; Grünbuch der EU Kommission, „Europäischer Corporate Governance-Rahmen“, KOM (2011) 164, Einleitung S. 3, Ziffer 2; EU Richtlinie 2017/828 vom 17. Mai 2017 zur Änderung der Richtlinie 2007/36/EG im Hinblick auf die Förderung der langfristigen Mitwirkung der Aktionäre.

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field, keine Augenhöhe für Vorstand und auch Aufsichtsrat im Austausch mit und in Reaktion auf Vorschläge und Forderungen der institutionellen Investoren.21

VII. Stärkung der Rechte und Pflichten der Organvertreter Es sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass die aufgeführten Maßnahmen solche der externen Corporate Governance sind, die nicht die Rechte und Pflichten der Organe regeln, etwa wie richtig mit Aktionären, gerade auch institutionellen Aktionären und aktivistischen Investoren umzugehen ist. Im Versuch, vor Risiko zu schützen, könnten wir neue, erhebliche Risiken aufbauen, weil wir unsere nationalen Unternehmensleitungen anfälliger machen, sich dem Einfluss von Aktionären mit meist verhältnismäßig kleinen, gar sehr kleinen Stimmanteilen ungewollt auszusetzen. Durch die sich aus ARUG II ergebende höhere Transparenz werden (ohne jede Wertung zu beabsichtigen) institutionelle Investoren noch mehr legitimiert in ihrem Vorgehen. Das allein hilft aber nicht Vorstand und Aufsichtsrat, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Sie müssen selbst mehr in die Lage versetzt werden, nach gehöriger Ab­wägung eigener Strategien und der Vorschläge institutioneller Investoren Entscheidungen im besten Interesse des Unternehmens bzw der Unternehmensgruppe zu treffen – ohne sich unangemessenem Druck durch die Aktionäre oder die Presse ausgesetzt zu sehen. Erforderlich ist es daher jetzt, darüber nachzudenken und mit unseren Unternehmensspitzen darüber zu diskutieren, welche Rechte und Pflichten einerseits der Vorstand, andererseits auch der Aufsichtsrat hat bzw zukünftig haben sollte, um etwa –– rechtzeitig und umfassend genug mit den Aktionären, insb auch den institutionellen Investoren in Austausch zu treten, –– häufiger über die dem wirtschaftlichen Umfeld entsprechende Zusammensetzung des Topmanagements (und des Aufsichtsrats) nachzudenken, –– die Strategie immer wieder in Frage zu stellen, aber dabei im besten Interesse des Unternehmens/der Unternehmensgruppe und nach Abwägung verschiedener Optionen nicht (nur) modische Maßnahmen  – derzeit z.B. Aktienrückkäufe oder Holdingstrukturen – zu treffen, sondern vor allem auch die mittel- und langfristige Entwicklung im Auge zu behalten und versuchen zu antizipieren,22

21 Auch weil „der gesellschaftliche Druck, der auf Unternehmen lastet, (noch nie) so groß wie heute (war). Und noch nie zuvor hat der gesellschaftliche Druck so unmittelbar auf das wirtschaftliche Abschneiden eines Unternehmens gewirkt“, so Andrea Rexe, „Die Rückkehr der Ungewissheit“, Handelsblatt vom 21./22. Dezember 2018, S. 18 f., S. 19. 22 Zu Recht weist Georg Gisberg im Editorial des Audit Committee Quarterly, IV/2018, zu „Investoren und Stimmrechtsberater“ darauf hin, dass der Vorstand zum Schutz des Unternehmens auf Diversifizierung achtet, während Aktionäre, gerade Berufsaktionäre, stattdessen im Anlageportfolio diversifizieren.

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–– die Unabhängigkeit der Vertreter institutioneller Investoren, auch mit klein(st)en Beteiligungen in Frage zu stellen,23 –– die passende Vergütungsstruktur und eine angemessene Vergütung für den Vorstand mit klaren Ziel- und Maximalgrößen unter absoluter Transparenz zu entwickeln, –– die Risiken des Geschäftsmodells klar verständlich offenzulegen und dabei –– die Rolle des Unternehmens in der Gesellschaft zu reflektieren, sich also der gesellschaftlichen Verantwortung als Organvertreter bewusst zu sein. Dabei kommt es sicherlich auch auf den so vielbeschworenen Kulturwandel an. Es geht allerdings nicht nur um die aktuelle Thematik der Rolle/des Sinns (purpose) der Unternehmen in der Gesellschaft. Vielmehr müssen wir auch unser Gesellschaftsrecht, insb das Aktienrecht frisch betrachten, ob es geänderten Verhältnissen noch gerecht wird. Dies gilt auch vor dem Hintergrund der Globalisierung gesellschaftsrechtlicher Beziehungen. Dh wir müssen u.U. auch z.B. mit Informationsasymmetrie anders umgehen und das Auskunftsrecht der Aktionäre sowie den Gleichbehandlungsgrundsatz diskutieren und den neuen Herausforderungen ebenso wie den digitalen Möglichkeiten anpassen. Es geht nicht darum, anglo-amerikanische Regeln unbedacht zu übernehmen. Wir müssen aber öffentlich darüber diskutieren, was in Deutschland und was in der Europäischen Union sinnvolle Reaktionen sein können. Dabei geht es um die interne Governance, also nicht um die Stärkung bzw Verschärfung der Rechte und Pflichten der Aktionäre, einschl der institutionellen Investoren, auch bei Kleinbeteiligungen, sondern darum, Vorstand und Aufsichtsrat zu rüsten für eine neue Zeit. Unsere Unternehmensspitzen dürfen nicht zu Gejagten werden, getrieben von institutionellen Investoren und Vermögensverwaltern. Diese Aktionärsgruppen nehmen mittlerweile Fragen der guten Unternehmensführung meist sehr ernst nehmen, folgen dabei aber doch einem eher kurzfristigen und der eigenen Ertragsmaximierung dienenden Handeln. Jedenfalls sollten und müssen wir uns den von den institutionellen Investoren angestoßenen Themen durchaus stellen, aber die Kontrolle behalten und das Tempo vorgeben (können), ob in der Unternehmensleitung oder im Aufsichtsorgan. Einige Denkansätze gibt es hier und da. So wird gerade in diesen Tagen in der British Academy im Rahmen des Projektes 'The Future of the Corporation' unter der Leitung von Professor Colin Mayer, auch über dieses Thema unter dem Stichwort 'Ownership Matters' diskutiert.24 23 Zu Vertretern von Kleinbeteiligungen im Kontrollgremium s. jüngst Lucian Bebchuk und Kobi Kastiel, „The Perils of Small-Minority Controllers“, ecgi Law Working Paper Nr. 434/2018, abrufbar unter http://ssrn.com/abstract_id=3128375. 24 Breakfast Briefing am 6. September 2018 „Why does ownership matter?“ mit der Diskussion zwischen drei Gästen: Gregory Hodkinson, Chairman der ARUP Group, Carine Smith ­Ihenacho, Chief Corporate Governance Officer der Norges Bank Investment Management, und Marco Becht, Professor für Finance und Corporate Governance, an der Université libre von Brüssel.

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Hier werden wichtige Fragen aufgeworfen: Ist die Angst vor Übernahmen oder nur Anteilserwerb durch institutionelle Investoren berechtigt? Droht eine Veränderung der Anteilsverhältnisse unter Beteiligung institutioneller Investoren mit potentiell aktivistischem Gebaren, eine Änderung auch von Rolle, Sinn und Kultur der Geschäftstätigkeit des betroffenen Unternehmens und der Gesellschaft? Sicherlich kommt es sehr auf die Eigentumsverhältnisse, dh die Aktionärsstruktur an. Diese Aktionärsstruktur unterscheidet sich gehörig unter den verschiedenen Ländern der westlichen Welt – und verändert sich gegenwärtig enorm. Das Wachstum der Indexfonds hängt zusammen mit wachsendem Interesse an passiven Investments  – im Gegensatz zu aktiven Investments –, was vorallem an der günstigeren Kostenstruktur liegen soll.25 Sollen auch passive Investoren, die nicht einfach aus dem Investment aussteigen können, verpflichtet sein oder werden, auf bestimmte Aspekte der Unternehmensführung ‚ihrer‘ Beteiligungsunternehmen zu achten? Dies wäre ein wahres Novum und eine Abkehr vom Recht des Investors auf Passivität, zumal er nicht eigene Interessen, sondern jene der Investoren vertritt.26

VIII. Shareholder Activism und Augenhöhe der Organvertreter Sog. Shareholder Activism reicht vom verstärkten Engagement bis zu aktivistischen Maßnahmen, die massiven Druck erzeugen sollen. Er soll in Europa erstmalig die magische Zahl von US-Dollar 100 Mrd. durchbrochen haben. Auch große börsennotierte Unternehmen geraten nun unter Druck und nicht einmal die schwer regulierten Finanzinstitute sind vor den Ambitionen der Aktivisten geschützt.27 Ist die Politik bereit, Europas und Deutschlands Konzerne, die Aushängeschilder der Nation, vor dem Druck der institutionellen Investoren zu schützen – auch indem sie sich daran wagt, die Rechte und Pflichten von Vorstand und Aufsichtsrat im Verhältnis zu Aktionären, auch solchen mit klein(st)en Beteiligungen zu stärken und auszuweiten? Dann muss u.a. verstärkt über die Kommunikation mit einzelnen Aktionären durch Vorstand und auch den Aufsichtsrat, zumindest seinem Vorsitzenden, ebenso nachgedacht werden wie über die Folgen für den Gleichbehandlungsgrundsatz bei der Kommunikation mit den Aktionären (§ 131 AktG). Wir müssen die Debatte auf 25 Jill Fisch und Kollegen, „Passive Investors“, s. oben, vertreten allerdings die Ansicht, dass der Wettbewerb zwischen den passiv und aktiv verwalteten Fonds nicht auf Kostenbasis geführt wird, sondern dass es darum gehe, die meisten Vermögenswerte zu verwalten (assets under management), also Wechsel zu den jeweils anderen Fonds zu vermeiden, da zwar die Indexfonds selbst in ihren Beteiligungen gefangen sind, nicht aber ihre Investoren. 26 Friedrich Merz, Handelsblatt 30.8.2018, S.  9, lässt sich als Aufsichtsratsvorsitzender von Blackrock Deutschland wie folgt zitieren: „Ich bin sehr dafür, dass wir gegenüber den Unternehmen unsere Verantwortung wahrnehmen….Das [d.h. die Vertretung ‚nur‘ der Interessen der Investoren] macht die Sache doppelt schwierig, aber dieser Verantwortung wollen wir uns stellen.“ 27 Marco Becht, The Rise of Large Cap Activism in Europe: Stylised Facts, Conference Presentation, ICGN Annual Conference Milan, 26 June 2018, UniCredit Pavilion, Milano, Italy; Monopolkommission, “Common ownership”, s. oben, S. 6, Schaubild II.35.

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diesem Gebiet und hinsichtlich etlicher Detailthemen öffnen. Wir dürfen dabei auch nicht vergessen, dass in Deutschland der Anteil der Industrieunternehmen am GDP deutlich größer ist (30,1 %), als in anderen Staaten der westlichen Welt, wie den USA (18,95 %), Großbritannien (19 %) und Frankreich (20,1 %).28 Wir müssen uns auch vertraut machen mit den großen Investmentfonds bzw. Fonds-Sponsoren. Am bedeutendsten sind in den USA und auch in die Deutschland die drei großen auf passive Fonds (Indexfonds) spezialisierten und stark aktivistisch tätigen Sponsoren/Vermögensverwalter Vanguard, BlackRock und State Street – die Big Three, wobei die Monopolkommission darauf hinweist, dass Norges Bank, Norwegens Zentralbank, als weltweit größter Staatsfonds (Sovereign Wealth Fund) als größter Einzelinvestor tätig ist. 29 Zwischen 2013 und 2018 stand Deutschland in Europa nach den UK an zweiter Stelle aktivistischen Engagements, auch bei großen börsennotierten Unternehmen.30 Die Presse berichtet über „Kritik an den boomenden Indexfonds und die wachsende Macht großer Fondshäuser“.31 Vor allem in den USA, der Heimat der Big Three und anderer führender passiver und aktivistischer Investoren wird noch viel konkretere Kritik geäußert und in Folge dessen Forschung betrieben, die sich mit hier noch wenig, vorallem nicht breit diskutierten Themen befassen, wie etwa die zu beobachtende Zusammenarbeit der passiven Investoren, der aktivistischen Hedge Funds untereinander.32 28 Statista, Anteil der Wirtschaftssektoren am Bruttoinlandsprodukt (BIP) in den wichtigsten Industrie- und Schwellenländern im Jahr 2017. 29 Zu der Bezeichnung ‚Big Three‘, Jill Fisch und Kollegen, s. oben, „Passive Investors“, S.  2 m.w.N.; zu diesen großen Dreien und auch Norges, Monopolkommission, „Common owner­ ship“, s. oben, S.  6, Rn.  418; zuletzt Interview mit James Norris, Vanguard, „Wir haben Macht“, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 3. Februar 2019, S. 27. 30 Marco Becht, The Rise of Large Cap Activism in Europe: Stylised Facts, Conference Presentation, ICGN Annual Conference Milan, 26 June 2018, UniCredit Pavilion, Milano, Italy, Slide 5; etliche Details zu den Big Three z.B. bei Jill Fisch und Kollegen, s. oben, „Passive Investors“, S. 9 m.w.N. und ihren unterschiedlichen Geschäftsmodellen; wichtig auch der Hinweis, dass diese Big Three in den USA in 40 % aller börsennotierten Unternehmen zusammen die größte Gesellschaftergruppe ausmachen, Jill Fisch und Kollegen, s. oben, „Shareholder Collaboration“, S.  15 m.w.N.; vgl auch Monopolkommission, „Common owner­ship“, s. oben, wonach die 20 größten Investorengruppen unter den institutionellen Investoren zusammen per Dezember 2016 über 50 % Anteil an den DAX-notierten Unternehmen halten. 31 Handelsblatt, 31. August 2018, S. 32 mit eine Interview von Mortimer Buckley, Chef von Vanguard, dem zweitgrößten Vermögensverwalter weltweit; vgl. zu den USA Jill Fisch und Kollegen, s. oben, „Passive Investors“, S. 3 m.w.N.: „A number of commentators have expressed concern, even alarm, over the growth of passive investors and its implications for capital markets efficiency and corporate governance.“; abwehrend aber BVI, s. oben. 32 Jill Fisch und Kollegen, s. oben, „Shareholder Collaboration“, unter Hinweis auf die sich daraus ergebenden Machtverschiebungen zwischen Organvertretern einerseits und Gesellschaftern andererseits, veränderte Informationsflüsse, neue Formen der Zusammenarbeit zwischen sog. corporate insiders und Gesellschaftern, Interessenkonflikte und die daraus folgende Notwendigkeit, das Kapitalmarktrecht und auch das Gesellschaftsrecht den geänderten Gegebenheiten anzupassen; und auch Jill Fisch und Kollegen, s. oben, „Passive Inves-

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Erst jüngst ist ein Beitrag in den Law Working Papers des European Corporate Governance Institute (ecgi) erschienen, der provokativ gar vom Tod des Gesellschaftsrechts handelt, wenn auch auf die USA bezogen.33 Wir mögen in Deutschland noch nicht in gleichem Maße von dem Siegeszug der institutionellen Investoren betroffen sein, aber es kommt für uns erschwerend hinzu, dass durch diese Investitionen in Deutschland ein sehr großer Anteil des Ertrags und der Wertsteigerung deutscher Unternehmen in das Ausland (dh die dortigen Renten und Pensionen, nicht die unsrigen) getragen wird. Umso mehr müssen wir hinterfragen, ob wir unser Aktienrecht und vielleicht auch das Kapitalmarktrecht so ausgestaltet bzw angepasst haben oder müssen, dass unsere Unternehmen über ihre Organvertreter wirklich auf Augenhöhe mit den institutionellen Investoren über die Zukunft unserer Unternehmen ‚verhandeln‘. Nun wurde lange angenommen, dass aktivistische Hedge Funds durchaus im Interesse der Unternehmen für langfristige Erträge und operative Ertragsverbesserungen durch ihre aktivistischen Interventionen sorgen und daher von langfristigem Nutzen seien. Dies wird in einer gerade erschienenen Analyse für die USA differenziert dargestellt, mündend in den Satz: „.we find no evidence of abnormal post-activism performance improvements. Overall, our results do not strongly support the hypothesis that activist interventions drive long-term benefits for the typical shareholder“, d.h. es wurde kein Nachweis für ungewöhnliche Ertragssteigerungen nach aktivistischen Interventionen gefunden.34 Insbesondere Indexfonds und deren börsennotierte Variante, die ‚Exchange Traded Funds‘ (ETFs), die besonders von Vanguard und Blackrock aufgelegt werden, müssen in ihrer Wechselwirkung auf die Unternehmenslandschaft besser analysiert, besser verstanden werden. Es handelt sich durchaus um langfristige Aktionäre, die aber mehr und mehr Druck ausüben (wollen) und politisch dazu angehalten werden, sich mehr bei ihren Beteiligungsunternehmen einzubringen. Sie handeln in treuhänderischer Verantwortung für ihre Investoren, aber ihr Einfluss und das Risiko auch von Interessenkonflikten ist nicht zu unterschätzen, wenn sie an etlichen Unternehmen, auch Wettbewerbern, 2 bis 3 % Anteile halten (in den USA gar ca. 7 % und damit meist größter Anteilseigner sind) und mit diesen vermeintlich kleinen Beteiligungen ganz erheblichen Druck auf die Unternehmen ausüben können – und sei es nur über die Presse infolge von Interviews, Maßnahmen und ständiger Präsenz im Markt. Sind tors“, S. 5 und unter Hinweis auf die Folgen von „governance through voice“ (da Indexfonds nicht die sonst übliche Möglichkeit des Exit, d.h. des Ausstiegs, aus dem Investment haben, nutzen sie andere Formen des sog. Shareholder Engagement, u.a. die Möglichkeit, ihrer Stimme laut Ausdruck verleihen, disproportional zu ihrem (immer kleinen) Anteil; Erläuterungen hierzu in Monopolkommission, s. oben, S. 18 f., Ziffer 4.3.4.2, in dem Auszug „Common ownership“ von Kapitel II. 33 Zohar Goshen und Sharon Hannes, “The Death of Corporate Law”, ecgi Law Working Paper Nr. 402/2018, abrufbar unter http://ssrn.com/abstract_id=3171023. 34 Ed de Haan, David Larcker und Charles McClure, “Long-term Economic Consequences of Hedge Fund Activist Interventions”, ecgi Finance Working Paper Nr. 577/2018, abrufbar unter http://ssrn.com/abstract_id=3260095.

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deutsche Vorstände und Aufsichtsrat durch unser Gesellschaftsrecht und unsere Corporate Governance gleichberechtigte Partner auf dem Parkett im Ringen um die richtige Strategie und die richtige Unternehmensführung?

IX. Corporate Governance Definition – revisited In der eingangs zitierten OECD-Definition, die Grundlage ähnlicher Definitionen ist, geht es um Beziehungen und Strukturen. Wenden wir uns den ‚Strukturen‘ zu – zur Erinnerung: „Die Corporate Governance liefert auch den strukturellen Rahmen für die Festlegung der Unternehmensziele, die Identifizierung der Mittel und Wege zu ihrer Umsetzung und die Modalitäten der Erfolgskontrollen.“ Es geht bei den ‚Strukturen‘ also um –– den strukturellen Rahmen, –– die Festlegung der Unternehmensziele, –– die Identifizierung der Mittel und Wege zur Umsetzung der Unternehmensziele und –– die Modalitäten der Erfolgskontrolle. Wenn wir uns nur an diesen Aspekten der Definition der Corporate Governance orientieren, kommen wir schon zu guten Fragen, die wir uns, unserem Gesellschaftsrecht und der Corporate Governance stellen müssen: i. Ist klar genug, wer den strukturellen Rahmen des Unternehmens oder des Konzern festlegt und wo Inhalt und Grenzen des Einflusses von Aktionären, insbesondere Aktionären mit niedrigprozentigen Anteilen, liegen? ii. Wer legt die Unternehmensziele fest, was m.E. auch Rolle und Sinn des Unternehmens (purpose) umfasst, wie erfolgt die Kommunikation mit den Aktionären auch unterjährig und wie können sich die Organe gegen u.U. schädliches Kurzfristdenken schützen, ohne die Auseinandersetzung mit anderen, fremden und frischen Ideen zu scheuen? iii. Dasselbe gilt für die Identifizierung der Mittel und Wege zur Umsetzung der Unternehmensziele. iv. Und wie kann sichergestellt werden, dass die Erfolgskontrolle in erster Linie beim Vorstand, über die Aufsicht dann in zweiter Linie beim Aufsichtsrat liegt und nicht den oft zu kurzfristig und auf die eigenen Anleger (der institutionellen Investoren) statt aller Stakeholder (Unternehmensbeteiligten) des Unternehmens achtenden Aktionären mit kleinen Beteiligungen?

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Einverständnis besteht weitgehend, dass passive Investoren unsere Unternehmenslandschaft verändern und dass mehr Studien und wissenschaftliche Forschung erforderlich sind.35 In jedem Fall gilt: “However good the corporate governance, it can‘t make up for bad ownership.”36 Kurzum, wir müssen nicht nur den institutionellen Investoren mehr Transparenz, uU auch mehr Pflichten hinsichtlich ihrer Portfoliounternehmen auferlegen, sondern auch unsere Unternehmen und Organvertreter besser ermächtigen und sie in die Lage versetzen, gegenüber diesen Kleinaktionären auf Augenhöhe zu agieren und ihren Vorstellungen im mittel- und langfristigen Interesse des Unternehmens mehr Gewicht und Durchsetzungskraft zu verleihen.

35 Jill Fisch und Kollegen, “Passive Investors”, s. oben, S.  45 zu der Situation in den USA: “­Passive investors are the new king of our capital markets, The recent and continued growth of passive investing will no doubt change our capital markets and firm governance and is a development which requires further empirical study and research”; ähnlich Monopolkommission, “Common ownership”, s. oben, zur Frage des wettbewerbswidrigen Verhaltens, S. 38 ff. 36 So Colin Mayer, 6. Sept. 2018, bei einem Breakfast Briefing der British Academy zum Thema “Why does ownership matter for the future of the corporation?”

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Divergenzen bei der Ausgestaltung der ­Handelsregister in Europa Herausforderungen de lege lata, ­ Entwicklungsperspektiven de lege ­ferenda Inhaltsübersicht I. Einführung II. Illustrationsfall III. Zentrale Herausforderung de lege lata: Beurteilung der Gleichwertigkeit ­ausländischer Handelsregister 1. In Betracht kommende Kriterien a) Registerführende Institution b) Prüfung der Identität des ­Anmeldenden

c) Materielle Prüfungskompetenz d) Publizitätswirkung 2. Stellungnahme IV. Entwicklungsperspektiven de lege ferenda 1. Positive Publizität 2. Registerführende Institution und ­materielle Prüfungskompetenz 3. Prüfung der Identität des Anmeldenden V. Zusammenfassung

I. Einführung Handelsregister sind für den Rechtsverkehr immens wichtig, da sie bedeutsame Informationen über Geschäftspartner liefern. Dementsprechend blicken auch einige Staaten sehr stolz auf ihre Handelsregister: „in Österreich in einer dem Grundsatz der Rechtssicherheit entsprechenden vorbildhaften Weise […] geregelt“.1 „Avec ce répertoire, la France dispose d’un outil remarquable et envié pour son efficience et sa fiabilité.“2 – zu Deutsch: „Mit diesem Register verfügt Frankreich über ein bemerkenswertes Hilfsmittel, um das es für seine Effizienz und Zuverlässigkeit beneidet wird.“ Und man kann sogar einigen Ruhm erwerben, wenn man sich für die Optimierung des Handelsregisterwesens einsetzt: Ermanno Bocchini, der geistige Vater des 1993 in Italien eingeführten einheitlichen Handelsregisters, kann sich darin sonnen, als „Michel­ angelo dell’informazione“ bezeichnet zu werden.3

1 Reichelt in Reichelt, Europäisches Handelsregister II, 2001, S. 5. 2 Beder in Répertoire de Droit Commercial Dalloz, Stand: Februar 2018, Registre du commerce et des sociétés Rz. 1. 3 Vgl. Grundmann in Reichelt, Perspektiven eines einheitlichen europäischen Handelsregisters, 2003, S. 11, 12.

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Im internationalen Rechtsverkehr wird allerdings das Problem virulent, dass rund um den Globus Ausgestaltung und Zuverlässigkeit der Handelsregister erheblich divergieren. Auch innerhalb der EU weisen die nationalen Handelsregisterrechte große Unterschiede auf. Die – mittlerweile in der Gesellschaftsrechtsrichtlinie (GesR-RL)4 enthaltene – Publizitätsrichtlinie, die bereits aus dem Jahr 1968 datiert5 und die einen Mindeststandard für die Veröffentlichung von Informationen über Kapitalgesellschaften der EU setzt, hat zwar erste Angleichungserfolge erzielt. Dennoch verbleiben gravierende Unterschiede. Die unterschiedliche Ausgestaltung der Handelsregister bringt für die Praxis große Herausforderungen mit sich. Einen besonders schwerwiegenden Problemfall stellt die Eintragung ausländischer Kapitalgesellschaften ins deutsche Grundbuch dar. Die Praxis „wurschtelt“ sich bei seiner Bewältigung „irgendwie durch“, wobei es erhebliche Inkonsistenzen gibt und es oftmals an einer hinreichenden Analyse des ausländischen Rechts mangelt. Der vorliegende Beitrag zeigt zunächst die Herausforderungen auf, welche die unterschiedliche Ausgestaltung der Handelsregister in der EU für die Eintragung ausländischer Kapitalgesellschaften ins deutsche Grundbuch in der Praxis mit sich bringt. In diesem Rahmen identifiziert er signifikante Unterschiede bei der Ausgestaltung der Handelsregister in der EU. Anschließend richtet er den Fokus auf die Entwicklungsperspektiven de lege ferenda und lotet realistische Möglichkeiten aus, die Probleme der Praxis mittels Angleichung der Registerrechte in der EU zu beseitigen. Der Jubilar hat als Leiter des Referats für Gesellschaftsrecht und Corporate Governance im Bundesministerium der Justiz das Gesetz über elektronische Handelsregister und Genossenschaftsregister sowie das Unternehmensregister (EHUG)6 vorbereitet, das er selbst plastisch als „Big Bang“ im Recht der Unternehmenspublizität bezeichnet hat.7 Es ist zu hoffen, dass es im Handelsregisterrecht noch weitere Umwälzungen geben wird.

II. Illustrationsfall Zum Einstieg folgendes Beispiel: Eine italienische GmbH, die Venezia S.r.l., hat – vertreten durch ihren alleinigen Geschäftsführer G – in Münster ein Grundstück gekauft. G beantragt nun die Eintragung der Venezia S.r.l. als Eigentümerin im Grundbuch. Das Grundbuchamt Münster wird diesem Eintragungsantrag nur entsprechen, wenn 4 Richtlinie (EU) 2017/1132 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2017 über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts. 5 Ursprüngliche Fassung: Erste Richtlinie 68/151/EWG des Rates vom 9. März 1968 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten. 6 BGBl. I 2006, 2553. 7 Seibert/Decker, DB 2006, 2446.

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ihm die Voraussetzungen für den Eigentumswechsel hinreichend nachgewiesen sind (§ 29 GBO). Zu den nachzuweisenden Voraussetzungen gehört (vgl. § 32 GBO), –– dass die Venezia S.r.l. überhaupt besteht und –– dass G hinreichende Vertretungsmacht hat. Wie kann der Nachweis dieser beiden Voraussetzungen bewerkstelligt werden? Genügt die Vorlage eines ausländischen Handelsregisterauszugs? Auch wenn die dogmatische Herleitung einige Fragen aufwirft, ist man sich in Rechtsprechung und Literatur im Ergebnis zu Recht weitgehend einig: Ein ausländischer Handelsregisterauszug genügt, sofern das ausländische Handelsregister dem deutschen Handelsregister gleichwertig ist.8

III. Zentrale Herausforderung de lege lata: Beurteilung der Gleichwertigkeit ausländischer Handelsregister Im Zentrum steht damit folgendes Problem: Was heißt Gleichwertigkeit? Unter welchen Voraussetzungen ist ein ausländisches Handelsregister gleichwertig? Die Beantwortung dieser Fragen ist alles andere als einfach. Rechtsprechung und Literatur bieten hier nur eine eingeschränkte Orientierungshilfe: Einen klaren Kriterienkatalog haben sie bislang nicht herausgebildet.9 Die Entscheidungen, in denen Gerichte eine Gleichwertigkeit angenommen haben – so im Fall des schwedischen Handelsregisters das OLG Schleswig10 und im Fall des italienischen Handelsregisters das Kammergericht11 – sind nur von begrenzter Aussagekraft. Das OLG Schleswig begnügt sich mit der lapidaren Feststellung: „Der Notar hat im Einzelnen überzeugend dargelegt, dass das schwedische Handelsregister in Bezug auf seine Zuverlässigkeit dem deutschen Handelsregister entspricht.“12 In der Entscheidung des Kammergerichts findet sich eine allgemeine Beschreibung der Charakteristika des italienischen Handelsregisters, ohne dass das Gericht klarstellt, auf 8 KG v. 18.10.2012 – 1 W 334/12, Rpfleger 2013, 196, 197; Demharter in Demharter, GBO, 30. Aufl. 2016, § 32 GBO Rz. 8; Schöner/Stöber, Grundbuchrecht, 15. Aufl. 2012, Rz. 3636b; Suttmann, notar 2014, 273, 274. Nach manchen Äußerungen in der Literatur könnte man meinen, dass ein beglaubigter ausländischer Registerauszug in jedem Fall genügt, vgl. etwa Heggen in Würzburger Notarhandbuch, 4. Aufl. 2015, Teil 7 Kap. 6 Rz. 1; Schmidt/Sikora/ Tiedtke, Praxis des Handelsregister- und Kostenrechts, 7. Aufl. 2014, Rz. 234. Dies begründete aber eine nicht zu erklärende Divergenz zum einhelligen Meinungsbild bei §  21 ­BNotO, wonach die Gleichwertigkeit des Handelsregisterauszugs Voraussetzung für die Erteilung einer Notarbescheinigung über das Bestehen einer juristischen Person und die Vertretungsmacht ist, vgl. zum dortigen Meinungsbild Bord in beck-online.Großkomm., Stand: 1.3.2018, § 12 BeurkG Rz. 35 m.w.N. 9 Vgl. Apfelbaum, DNotZ 2008, 711, 712; Vossius, notar 2016, 60, 62 f. 10 OLG Schleswig v. 13.12.2007 – 2 W 198/07, Rpfleger 2008, 498. 11 KG v. 18.10.2012 – 1 W 334/12, RPfleger 2013, 196. 12 OLG Schleswig v. 13.12.2007 – 2 W 198/07, Rpfleger 2008, 498.

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welche dieser Charakteristika es entscheidend ankommt.13 Etwas hilfreicher sind die mannigfaltigen OLG-Entscheidungen, die eine Gleichwertigkeit der Handelsregister des Vereinigten Königreichs verneinen.14 Aus den dortigen Ausführungen lassen sich immerhin manche kritisch zu hinterfragende Rückschlüsse ziehen – eine nützliche Nachwirkung der EU-Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs. Bei näherer Betrachtung lassen sich aus der Judikatur vier Gesichtspunkte herausschälen, die für die Beurteilung der Gleichwertigkeit eines ausländischen Handelsregisters von Relevanz sein könnten: registerführende Institution, Prüfung der Identität des Anmeldenden, materielle Prüfungskompetenz der registerführenden Institution, Publizitätswirkung der Handelsregistereintragung. Die folgenden Ausführungen arbeiten zunächst bei jedem dieser vier Punkte die Unterschiede bei der Ausgestaltung in den Handelsregisterrechten der EU heraus und zeigen die Problematik im Hinblick auf die Gleichwertigkeit auf, wobei auch die widersprüchliche diesbezügliche Rechtsprechung vorgestellt wird. Eine Stellungnahme zur Relevanz der vier Punkte für die Gleichwertigkeitsbeurteilung erfolgt daran anschließend im Rahmen einer übergreifenden Würdigung. Die Ausführungen werden – wegen der erwähnten nützlichen Rechtsprechung – auch das Handelsregister des Vereinigten Königreichs umfassen, zumal Schottland und Nordirland vielleicht in der EU verbleiben. 1. In Betracht kommende Kriterien a) Registerführende Institution In Deutschland werden die Handelsregister von den Amtsgerichten geführt (§  8 Abs. 1 HGB, § 1 HRV). Zuständig sind dort Richter bzw. – ebenso wie Richter weisungsunabhängige – Rechtspfleger (§§ 3 Nr. 2 lit. d, 17 RPflG). Dies ist keine Selbstverständlichkeit: Um die Jahrtausendwende gab es eine intensive Debatte über die Verlagerung dieser Aufgabe an die Industrie- und Handelskammern.15 Mittlerweile sind diese Reformvorschläge vom Tisch. Grund für ihr Scheitern war insbesondere das Risiko einer gravierenden Qualitätseinbuße der deutschen Handelsregister: Die Unabhängigkeit der Justiz gilt als unverzichtbarer Qualitätsgarant.16

13 KG v. 18.10.2012 – 1 W 334/12, RPfleger 2013, 196, 197. 14 OLG Düsseldorf v. 21.8.2014 – 3 Wx 190/13, NZG 2015, 199; OLG Nürnberg v. 26.1.2015 – 12 W 46/15, RNotZ 2015, 240; v. 25.3.2014 – 15 W 381/14, DNotZ 2014, 626; OLG Köln v. 25.9.2012  – 2 Wx 184/12, FGPrax 2013, 18; KG v. 20.4.2010  – 1 W 164-165/10, DNotZ 2012, 604; Thüringer OLG v. 22.1.2018 – 3 W 322/17, juris. 15 Entwurf des Bundesrats eines Gesetzes zur Umsetzung des Artikels 125a Abs. 2 des Grundgesetzes, BT-Drucks. 14/2442, Art. 7, 9, S. 12; Entwurf des Bundesrats eines Register-Führungsgesetzes, BR-Drucks. 325/03; Borchert, BB 2003, 2642; Dieckmann, ZRP 2000, 44; Schöpe, ZRP 1999, 449; Ulmer, ZRP 2000, 47. 16 Vgl. Borchert, BB 2003, 2642; Ulmer, ZRP 2000, 47, 51 f. S. auch Ries, ZIP 2013, 866, 870.

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Eine Registerführung durch Richter bzw. Rechtspfleger findet sich auch in einigen anderen EU-Staaten, etwa in Belgien,17 Estland,18 Kroatien,19 Österreich,20 Polen,21 der Slowakei22 und Slowenien.23 Die IHKs sind hingegen zuständig in den Niederlanden24 und auch in Italien,25 in Italien unterstehen sie allerdings der Aufsicht abgeordneter Richter. In anderen Staaten obliegt die Registerführung als Verwaltungsaufgabe Behörden, die unter Bezeichnungen wie Registeramt oder Gewerbe- und Gesellschaftsamt firmieren und dem Justiz- oder dem Wirtschaftsministerium unterstehen. Zu diesen Staaten gehören etwa das Vereinigte Königreich,26 Dänemark,27 Finnland,28 Schweden,29 Portugal,30 und Spanien.31 Das rechtsvergleichende Panorama offenbart auch diverse Sondermodelle. So fällt etwa in Luxemburg die Führung der Handelsregister in die Zuständigkeit einer Wirt17 Hausmann in Reithmann/Martiny, Internationales Vertragsrecht, 8. Aufl. 2015, Rz. 7.195. 18 https://e-justice.europa.eu/content_business_registers_in_member_states-106-ee-de.do?​ member=1. 19 Lagler/Cvirn Adamčić in Süß/Wachter, Handbuch des internationalen GmbH-Rechts, 3. Aufl. 2016, Kroatien Rz. 48. 20 § 7 österreichisches UGB. 21 Vgl. Bogen/Siekierzyński in Süß/Wachter, Handbuch des internationalen GmbH-Rechts, 3.  Aufl. 2016, Polen Rz.  11; Glicz, WiRO 2010, 1, 2; Leutner in Schmidt-Kessel/Leutner/ Müther, Handelsregisterrecht, 2010, Polen Rz. 2. 22 § 4 slowakisches HandelsregisterG (Übersetzung bei Bohata, WiRO 2005, 113, 114 ff.); vgl. auch Sovova in Süß/Wachter, Handbuch des internationalen GmbH-Rechts, 3. Aufl. 2016, Slowakei, Rz. 55. 23 Lagler/Prušnik/Moggi in Süß/Wachter, Handbuch des internationalen GmbH-Rechts, 3. Aufl. 2016, Slowenien Rz. 45. 24 Rademakers/de  Vries in Süß/Wachter, Handbuch des internationalen GmbH-Rechts, 3. Aufl. 2016, Niederlande Rz. 103; Hausmann in Reithmann/Martiny, Internationales Vertragsrecht, 8.  Aufl. 2015, Rz.  7.238; Süß/Zimmermann in Beck’sches Notarhandbuch, 6. Aufl. 2015, H Rz. 317N. 25 Art. 2188 Abs. 2 Codice Civile; https://e-justice.europa.eu/content_business_registers_in_ member_states-106-it-de.do?member=1; Kindler, Italienisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2. Aufl. 2014, Rz. 24, 26. 26 Hausmann in Reithmann/Martiny, Internationales Vertragsrecht, 8. Aufl. 2015, Rz. 7.209. 27 Art. 14 Abs. 1 Companies Act; Süß/Zimmermann in Beck’sches Notarhandbuch, 6. Aufl. 2015, H Rz. 317D. 28 Faber in Süß/Wachter, Handbuch des internationalen GmbH-Rechts, 3. Aufl. 2016, Finnland Rz. 74; Süß/Zimmermann in Beck’sches Notarhandbuch, 6. Aufl. 2015, H Rz. 317F. 29 Kapitel 27 §  1 schwedisches AktG; http://www.bolagsverket.se/ol/other/tyska-1.3889; Foerster in Süß/Wachter, Handbuch des internationalen GmbH-Rechts, 3.  Aufl. 2016, Schweden Rz. 64. 30 https://e-justice.europa.eu/content_business_registers_in_member_states-106-pt-de.do?​ member=1; vgl. auch Stieb in Süß/Wachter, Handbuch des internationalen GmbH-Rechts, 3. Aufl. 2016, Portugal, Rz. 50. 31 Art. 1 Reglamento del Registro Mercantil; https://e-justice.europa.eu/content_business_re​ gisters_in_member_states-106-es-de.do?member=1.

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schaftlichen Interessenvereinigung (WIV), die vom Justizministerium, der Handelskammer und der Handwerkskammer gebildet wird und der Aufsicht des Justizministeriums untersteht.32 Wird ein ausländisches Handelsregister nicht wie in Deutschland durch Gerichte geführt, kann man Zweifel an seiner Gleichwertigkeit hegen. Denn die Unabhängigkeit der registerführenden Stellen ist in diesen Fällen nicht in gleichem Maße wie in Deutschland gewährleistet, so dass ein Qualitätsgarant entfällt. Inwieweit die deutschen OLGs im Rahmen der Gleichwertigkeitsprüfung der registerführenden Institution Relevanz beimessen, lässt sich nicht eindeutig bestimmen. Einerseits merkt etwa das OLG Nürnberg bei der Verneinung der Gleichwertigkeit der Handelsregister des Vereinigten Königreichs an, dass das dort zuständige Companies House eine Verwaltungsbehörde sei.33 Anderseits geht das OLG Schleswig bei der Bejahung der Gleichwertigkeit schwedischer Handelsregister mit keinem Wort darauf ein, dass auch in Schweden die Registerführung einer Verwaltungsbehörde obliegt.34 b) Prüfung der Identität des Anmeldenden Nun zu einem weiteren Aspekt, der für die Beurteilung der Gleichwertigkeit von Relevanz sein könnte: die Prüfung der Identität desjenigen, der die Anmeldung beim Handelsregister erklärt. In Deutschland setzt eine Handelsregistereintragung die öffentliche Beglaubigung der Handelsregisteranmeldung voraus (§ 12 Abs. 1 Satz 1 HGB), bei der eine Prüfung der Identität des Anmeldenden insbesondere durch einen Notar erfolgt (§§ 40 Abs. 4, 10 Abs. 1 BeurkG). Ein solches Beglaubigungserfordernis gibt es z.B. auch in Kroatien,35 Österreich,36 Portugal37und Spanien.38 In zahlreichen Staaten hat man sich hingegen von dem strikten Beglaubigungserfordernis mittlerweile verabschiedet und lässt – neben der Beglaubigung – auch digitale

32 Simon in Süß/Wachter, Handbuch des internationalen GmbH-Rechts, 3. Aufl. 2016, Luxem­ burg Rz. 21, 46. 33 OLG Nürnberg v. 26.1.2015 – 12 W 46/15, RNotZ 2015, 240. 34 OLG Schleswig v. 13.12.2007 – 2 W 198/07, Rpfleger 2008, 498. 35 Lagler/Cvirn Adamčić in Süß/Wachter, Handbuch des internationalen GmbH-Rechts, 3. Aufl. 2016, Kroatien Rz. 54. 36 § 11 österreichisches UGB. 37 Stieb in Süß/Wachter, Handbuch des internationalen GmbH-Rechts, 3. Aufl. 2016, Portugal Rz. 59. 38 https://e-justice.europa.eu/content_business_registers_in_member_states-106-es-de.do?​ member=1.

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Signaturen genügen, so z.B. in Estland,39 Frankreich,40 Polen41 und der Slowakei.42 Manche Staaten bieten für Handelsregisteranmeldungen auch Webportale mit Authen­ tifizierungserfordernissen an, z.B. Slowenien.43 Daneben gibt es Staaten, die sich seit jeher liberaler zeigen, auf ein Beglaubigungserfordernis verzichten und eine Anmeldung in einfacher Papierform, d.h. mit ungeprüfter Unterschrift, genügen lassen, so z.B. das Vereinigte Königreich,44 Dänemark,45 Finnland,46 Schweden47 und Luxemburg.48 Elektronische Anmeldungen sind in diesen Staaten auch möglich, wobei es hier zuweilen zusätzliche Authentifizierungserfordernisse gibt. Insbesondere im Vereinigten Königreich manifestieren sich die Risiken, die aus einer derartigen Liberalisierung resultieren.49 Wie sich der Homepage des Companies House entnehmen lässt, ereignen sich im Vereinigten Königreich jeden Monat 50 bis 100 Fälle von corporate identity theft.50 In diesen Fällen melden Betrüger mittels gefälschter Unterschriften eine Änderung des Gesellschaftsverhältnisses an, die tatsächlich nicht stattgefunden hat, z.B. melden sie sich selbst wahrheitswidrig als neue Direktoren an. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Handelsregistereintragung nicht der wahren Rechtslage entspricht, ist in den Staaten ohne Identitätsprüfung also deutlich höher als in Deutschland. Bei der Bejahung der Gleichwertigkeit des schwedischen Handelsregisters durch das OLG Schleswig spielte die fehlende Identitätsprüfung durch das schwedische Registeramt keine Rolle.51 Die mangelnde Identitätsprüfung durch das Companies House wird hingegen als Grund für die Verneinung der Gleichwertigkeit der Handelsregister des Vereinigten Königreichs erwogen.52 39 https://e-justice.europa.eu/content_business_registers_in_member_states-106-ee-de.do?​ member=1. 40 Art. R123-24 CCom. 41 Art. 27 Abs. 7 GFW, 19 Abs. 2 LGRegG; vgl. hierzu Glicz, WiRO 2010, 1, 2. 42 Sovova in Süß/Wachter, Handbuch des internationalen GmbH-Rechts, 3. Aufl. 2016, Slowakei Rz. 67. 43 Lagler/Prušnik/Moggi in Süß/Wachter, Handbuch des internationalen GmbH-Rechts, 3. Aufl. 2016, Slowenien Rz. 47, 50. 44 Bock, ZIP 2011, 2449, 2450 f. 45 Art.  12 Companies Act, §§  2, 9 Bekendtgørelse om anmeldelse, registrering, gebyr samt offentliggørelse. 46 Faber in Süß/Wachter, Handbuch des internationalen GmbH-Rechts, 3. Aufl. 2016, Finnland Rz. 82. 47 Foerster in Süß/Wachter, Handbuch des internationalen GmbH-Rechts, 3.  Aufl. 2016, Schweden Rz. 70, 71. 48 Simon in Süß/Wachter, Handbuch des internationalen GmbH-Rechts, 3. Aufl. 2016, Luxem­ burg Rz. 54. 49 Eindringlich Bock, ZIP 2011, 2249; vgl. auch Bormann/Apfelbaum, ZIP 2007, 946, 949. 50 https://www.companieshouseonline.com/index.php/homepage/information-f-a-q/87-pro​ of-protected-online-filing. 51 OLG Schleswig v. 13.12.2007 – 2 W 198/07, Rpfleger 2008, 498. 52 Vossius, notar 2016, 60, 63.

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c) Materielle Prüfungskompetenz Bei einem anderen Kriterium wird von der Rechtsprechung die Relevanz für die Gleichwertigkeit klar benannt: Das OLG Düsseldorf,53 das OLG Nürnberg54 und das Kammergericht55 stützen die Verneinung der Gleichwertigkeit der Handelsregister des Vereinigten Königreichs auf die fehlende materielle Prüfungskompetenz des Companies House, denn das Companies House prüft die eingereichten Dokumente nur in formeller Hinsicht.56 Das deutsche Handelsregister zeichnet sich hingegen dadurch aus, dass das Registergericht die eingereichten Dokumente nicht nur in formeller Hinsicht prüft, sondern auch eine materielle Prüfung der angemeldeten Tatsachen vornimmt, z.B. ob ein hinreichender Gesellschafterbeschluss für die zur Eintragung angemeldete Geschäftsführerbestellung vorliegt.57 Eine materielle Kontrolle erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Handelsregistereintragung der tatsächlichen Rechtslage entspricht, so dass es zumindest nicht unvertretbar ist, eine entsprechende Prüfungskompetenz als Voraussetzung für die Gleichwertigkeit zu verlangen.58 Keine Probleme bereitet diese Gleichwertigkeitsvoraussetzung bei den Handelsregistern in Dänemark,59 Polen60 und Schweden,61 da dort sowohl eine formelle als auch eine materielle Prüfung erfolgt. Zu verneinen wäre die Gleichwertigkeit hingegen – neben den Registern des Vereinigten Königreichs – auch bei den Handelsregistern in Frankreich62 und den Niederlanden,63 da dort die registerführenden Stellen auf eine formelle Prüfung beschränkt sind.

53 OLG Düsseldorf v. 21.8.2014 – 3 Wx 190/13, NZG 2015, 199. 54 OLG Nürnberg v. 26.1.2015 – 12 W 46/15, RNotZ 2015, 240, 248. 55 KG v. 20.4.2010 – 1 W 164-165/10, DNotZ 2012, 604, 605. 56 Vgl. hierzu auch Leutner in Schmidt-Kessel/Leutner/Müther, Handelsregisterrecht, 2010, England und Wales Rz. 11; Levedag in Süß/Wachter, Handbuch des internationalen GmbH-Rechts, 3. Aufl. 2016, England Rz. 89 ff.; ferner Bock, ZIP 2011, 2449, 2450. 57 Zur Prüfungskompetenz der deutschen Gerichte vgl. Krafka in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2016, § 8 HGB Rz. 8 ff., 57 ff.; Schaub in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 3. Aufl. 2014, § 8 HGB Rz. 51; Vossius, ZGR 2009, 366, 383 ff. 58 Als relevantes Kriterium wird die Prüfungskompetenz etwa benannt von Wachter, DB 2004, 2795, 2799. Vgl. auch Bönner, RNotZ 2015, 253, 265; Klose-Mokroß, DStR 2005, 1013, 1014. 59 Art. 15 ff. Companies Act. 60 Leutner in Schmidt-Kessel/Leutner/Müther, Handelsregisterrecht, 2010, Polen Rz. 8. 61 Kapitel 27, § 2 AktG. 62 Sonnenberger/Dammann, Französisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 3.  Aufl. 2007, Rz.  II 73.  Vgl. auch Leutner in Schmidt-Kessel/Leutner/Müther, Handelsregisterrecht, 2010, Frankreich Rz. 13. 63 Holzborn, NJW 2003, 3014, 3016.

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Eine differenzierende Betrachtung erfordert schließlich das griechische Handelsregister: Bei GmbHs erfolgt lediglich eine formelle, bei AGs hingegen auch eine materielle Kontrolle.64 d) Publizitätswirkung Nun zum vierten potentiellen Gleichwertigkeitsaspekt: dem Umfang der Publizitätswirkung der Handelsregistereintragung. aa) Negative Publizität Das deutsche Recht normiert in § 15 Abs. 1 HGB, dass eintragungspflichtige Tatsachen gutgläubigen Dritten nur entgegengehalten werden können, wenn sie eingetragen und bekanntgemacht sind. Ein gleichwertiger Vertrauensschutz ist im Gefolge der Publizitätsrichtlinie in allen Rechtsordnungen der EU verankert.65 Einige Mitgliedstaaten stellen zwar – den Mindestvorgaben von Art. 16 Abs. 7 GesR-RL entsprechend  – nicht auf die Eintragung ab, sondern gewähren Vertrauensschutz nur bei Fehlen einer Bekanntmachung. Dies macht im Ergebnis aber kaum einen Unterschied, da es in Fällen fehlender Eintragung nahezu immer auch an der Bekanntmachung fehlt und damit der Vertrauensschutz eingreift. bb) Positive Publizität Maßgebliche Divergenzen finden sich hingegen bei der positiven Publizität. § 15 Abs. 3 HGB schützt den guten Glauben an falsch bekanntgemachte Tatsachen und zwar nach gängiger Lesart unabhängig davon, ob die Eintragung richtig oder ebenfalls falsch ist.66 Das bedeutet: In Fällen fehlerhafter Eintragung gewährleistet das deutsche Recht damit in aller Regel Vertrauensschutz.

64 Ziouvas in Süß/Wachter, Handbuch des internationalen GmbH-Rechts, 3. Aufl. 2016, Griechenland Rz. 97. 65 Kronke in Reichelt, Perspektiven eines einheitlichen europäischen Handelsregisters, 2003, S. 3, 5. Vgl. etwa zur Rechtslage in Estland: https://e-justice.europa.eu/content_business_ registers_in_member_states-106-ee-de.do?member=1; den Niederlanden: Heggen in: Würzburger Notarhandbuch, 4. Aufl. 2015, Teil 7 Kap. 6 Rz. 79; Italien: Art. 2193 Codice Civile; Österreich: § 15 UBG; Polen: Art. 14 LGReg, vgl. hierzu Glicz, WiRO 2010, 1, 3 sowie Leutner in Schmidt-Kessel/Leutner/Müther, Handelsregisterrecht, 2010, Polen Rz. 4; Portugal: Art. 14 Nr. 2 Código do Registo Comercial; Schweden: Kapitel 27, § 4 AktG; Spanien: Art. 9 Reglamento del Registro Mercantil; Ungarn: Braner in Süß/Wachter, Handbuch des internationalen GmbH-Rechts, 3. Aufl. 2016, Ungarn Rz. 82. 66 Canaris, Handelsrecht, 24.  Aufl. 2006, §  5 Rz.  46; Gehrlein in Ebenroth/Boujong/Joost/ Strohn, HGB, 3. Aufl. 2014, § 15 HGB Rz. 27 f.; Hopt in Baumbach/Hopt, HGB, 37. Aufl. 2016, § 15 HGB Rz. 18; Krebs in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2016, § 15 HGB Rz. 81, 88.

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Entsprechende Regelungen finden sich etwa in Estland,67 Kroatien,68 den Niederlanden,69 Österreich,70 Polen,71 Slowenien,72 Spanien73 und Ungarn.74 In vielen Staaten ist der Schutz der positiven Publizität demgegenüber deutlich eingeschränkt: Das Vertrauen auf eine fehlerhafte Bekanntmachung wird dort grundsätzlich nur in denjenigen Fällen geschützt, in denen die Bekanntmachung von der Eintragung abweicht, nicht aber in Fällen, in denen Bekanntmachung und Eintragung gleichermaßen falsch sind. Das bedeutet: Anders als in Deutschland gibt es bei einer fehlerhaften Eintragung praktisch keinen Vertrauensschutz. Dies ist etwa der Fall in Belgien,75 Italien,76 Luxemburg,77 Dänemark,78 Finnland79 und Schweden.80 Die entsprechenden Regelungen decken sich mit dem Wortlaut von Art. 16 Abs. 7 GesR-RL. Im Vereinigten Königreich gestaltet sich die Rechtslage im Einzelnen sehr unübersichtlich. Jedenfalls lässt sich festhalten: Das Recht des Vereinigten Königreichs bietet zwar – entgegen landläufiger Meinung81 – einen gewissen Schutz der positiven Publizität und zwar mittels Einzelregelungen82 sowie allgemeinen Rechtsscheingrundsät67 https://e-justice.europa.eu/content_business_registers_in_member_states-106-ee-de.do?​ member=1; Bergmann in Süß/Wachter, Handbuch des internationalen GmbH-Rechts, 3. Aufl. 2016, Estland Rz. 55. 68 Lagler/Cvirn Adamčić in Süß/Wachter, Handbuch des internationalen GmbH-Rechts, 3. Aufl. 2016, Kroatien Rz. 49. 69 Heggen in Würzburger Notarhandbuch, 4. Aufl. 2015, Teil 7 Kap. 6 Rz. 79; Rademakers/ de Vries in Süß/Wachter, Handbuch des internationalen GmbH-Rechts, 3. Aufl. 2016, Niederlande Rz. 104. 70 § 15 UBG. 71 Art. 17 LGRegG. Vgl. hierzu Glicz, WiRO 2010, 1, 4; Leutner in Schmidt-Kessel/Leutner/ Müther, Handelsregisterrecht, 2010, Polen Rz.  4; Bogen/Siekierzyński in Süß/Wachter, Handbuch des internationalen GmbH-Rechts, 3. Aufl. 2016, Polen Rz. 55, 66; ferner Heggen in Würzburger Notarhandbuch, 4. Aufl. 2015, Teil 7 Kap. 6 Rz. 90. 72 Lagler/Prušnik/Moggi in Süß/Wachter, Handbuch des internationalen GmbH-Rechts, 3. Aufl. 2016, Slowenien Rz. 46. 73 Art. 7 Real Decreto 1784/1996, de 19 de julio, por el que se aprueba el Reglamento del Registro Mercantil. Vgl. auch https://e-justice.europa.eu/content_business_registers_in_mem​ ber​_states-106-es-de.do?member=1; Lozano/Hilgers/Löber in Süß/Wachter, Handbuch des internationalen GmbH-Rechts, 3. Aufl. 2016, Spanien Rz. 130, 131. 74 Braner in Süß/Wachter, Handbuch des internationalen GmbH-Rechts, 3. Aufl. 2016, Ungarn Rz. 83. 75 Art.  76 Code des societes. Vgl. auch https://e-justice.europa.eu/content_business_regis​ ters_in_member_states-106-be-de.do?member=1; Knechtel in Knechtel/Reichelt/Zib, Europäisches Handelsregister, 2000, S. 49, 78. 76 Knechtel in Knechtel/Reichelt/Zib, Europäisches Handelsregister, 2000, S. 49, 78. 77 Art.  9 §  4 Loi coordonnée du 10 août 1915 concernant les sociétés. Vgl. auch https://e-­ justice.europa.eu/content_business_registers_in_member_states-106-LU-de.do?clang=fr. 78 Art. 14 Abs. 3 Companies Act. 79 § 26 Abs. 2 Handelsregistergesetz. 80 Kapitel 27, § 4 AktG. 81 Vgl. etwa Wachter, DB 2004, 2795, 2799. 82 Sec. 40 para. 1, 161 para. 1 CA 2006.

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zen.83 Für die Vertretungsmacht fehlt es jedoch weitgehend an einem Vertrauensschutz, was bereits daran liegt, dass das englische Recht für die Hinterlegung beim Handelsregister keine Angaben zur Vertretungsmacht der Geschäftsführer verlangt (vgl. sec. 1078 CA 2006). Das ist zwar nicht richtlinienkonform. Die EG-Kommission hat bereits 1977 eine Anfrage, ob nach ihrer Auffassung die Publizitätsrichtlinie, die eine Offenlegung der Vertretungsmacht verlangt, in England vollständig umgesetzt worden sei, negativ beantwortet.84 Konsequenzen folgten daraus jedoch nicht. Die Rechtsprechung misst bei der Beurteilung der Gleichwertigkeit der Handelsregister des Vereinigten Königreichs der Publizitätswirkung entscheidende Bedeutung bei: Das OLG Köln85 verneint die Gleichwertigkeit dieser Register, da ihnen kein Gutglaubensschutz nach Vorbild des § 15 HGB zukomme.86 Entsprechend judizierte das OLG Brandenburg87 in Bezug auf das russische Handelsregister. Fragwürdig ist die Entscheidung des Kammergerichts,88 welches ohne weiteres anführt, dass Eintragungen in italienische Handelsregister positive Publizität bewirkten.89 Denn die positive Publizität des italienischen Registers ist, wie oben90 aufgezeigt, eingeschränkt. Mit einem Fragezeichen zu versehen ist angesichts der eingeschränkten Publizitätswirkung des schwedischen Handelsregisters auch die Entscheidung des OLG Schleswig,91 diesem Register ohne weiteres Gleichwertigkeit zuzusprechen. 2. Stellungnahme Bei der Beurteilung, welchen Aspekten für die Gleichwertigkeit im Rahmen des Grundbuchverfahrens Bedeutung zugemessen werden sollte, muss man sich folgendes vor Augen halten: Im Rahmen des Grundbuchverfahrens ist entscheidend, ob Grundstücksgeschäfte, d.h. der Erwerb und die Veräußerung von Grundstücksrechten, wirksam sind. Ist an einem Grundstücksgeschäft eine ausländische Gesellschaft beteiligt, kommt es für die Wirksamkeit des Geschäfts letztlich nicht darauf an, ob in Bezug auf das Bestehen der Gesellschaft und die Vertretungsmacht der Handelnden die Eintragung in einem ausländischen Handelsregister die wahre Rechtslage aus83 Vgl. Davies/Worthington, Gower: Principles of Modern Company Law, 10.  Aufl. 2016, Rz. 7-23; Mayson/French/Ryan, Company Law, 34. Aufl. 2017, Abschnitt 15.7.2. 84 Möser, RIW 2010, 850, 854. 85 OLG Köln v. 25.9.2012 – 2 Wx 184/12, FGPrax 2013, 18. 86 Vgl. auch in Bezug auf eine auf den British Virgin Islands ansässigen Limited Thüringer OLG, Beschluss v. 22.1.2018 – 3 W 322/17, juris, Rz. 9: „Ein lückenloser Nachweis der Vertretungsbefugnis durch öffentliche Urkunden ist […] für Gesellschaften, die ihren Sitz im Bereich des Common Law-Systems haben, in der Regel auch nicht möglich, weil ein Handelsregister, das etwa mit dem nach deutschem Recht vergleichbar ist, nicht existiert bzw. ihm die entsprechende Beweiskraft nicht zukommt.“ 87 OLG Brandenburg v. 19.1.2011 – 5 Wx 70/10, MittBayNot 2011, 222, 223. 88 KG v. 18.10.2012 – 1 W 334/12, RPfleger 2013, 196, 197. 89 Wie das KG aber Bischoff in Kölner Handbuch Gesellschaftsrecht, 3.  Aufl. 2016, Kap. 7 Rz. 79, der anführt, dass das italienische Handelsregister aufgrund des Schutzes des guten Glaubens mit dem deutschen Handelsregister vergleichbar sei. 90 Text zu Fn. 76. 91 OLG Schleswig v. 13.12.2007 – 2 W 198/07, Rpfleger 2008, 498.

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weist. Entscheidend ist im Ergebnis nur, ob das Vertrauen an diese Eintragung ­geschützt ist. Deshalb sollte es im Rahmen des Grundbuchverfahrens für die Gleichwertigkeit ausschließlich auf den Umfang der Publizitätswirkung der Handelsregistereintragung ankommen. Hingegen sollte es keine Rolle spielen, ob das ausländische Handelsregisterverfahren die Qualitätsmerkmale aufweist, die in Deutschland gewährleisten sollen, dass die Handelsregistereintragung der wahren Rechtslage entspricht. Das bedeutet: registerführende Institution, Prüfung der Identität des Anmeldenden und Umfang der Prüfungskompetenz sollten irrelevant sein. Für die ausländische Gesellschaft kann dies zwar misslich sein, da sie sich möglicherweise eine falsche ausländische Handelsregistereintragung entgegenhalten lassen muss  – beispielsweise eine falsch eingetragene Vertretungsberechtigung –, die ihr das deutsche Handelsregisterrecht erspart hätte. Dies begründet für die Gesellschaft aber keine unzumutbare Belastung, da sie den Schutzstandard ihres Heimatstaates erhält – mehr kann sie nicht erwarten. Für die hier vertretene Aussparung des Prüfungsverfahrens spricht ferner folgendes: Möchte man auf die Qualität des Handelsregisterverfahrens abstellen, so dürfte man nicht nur auf die formale Ausgestaltung schauen, sondern müsste – jedenfalls bei außereuropäischen Ländern – auch die tatsächliche Praxis ins Auge nehmen. Dies würde die Gleichwertigkeitsbeurteilung zusätzlich verkomplizieren. Überdies trägt eine großzügigere Handhabung der Gleichwertigkeitsprüfung der zunehmenden Internationalisierung und den sich daraus ergebenden praktischen Anforderungen Rechnung.

IV. Entwicklungsperspektiven de lege ferenda Ausgehend von unserem Demonstrationsobjekt – der Eintragung ausländischer Gesellschaften ins deutsche Grundbuch – abschließend nun ein Blick in die Kristallkugel: Welche realistischen Möglichkeiten gibt es, die Probleme der Praxis mittels Angleichung der Registerrechte in der EU zu beseitigen? 1. Positive Publizität Eine EU-weit einheitliche Regelung der positiven Publizität wäre wünschenswert – nicht nur zur Vereinfachung der Grundbuchpraxis, sondern generell zur Vereinfachung des internationalen Rechtsverkehrs, denn für jeden Geschäftspartner bedeutet es ein Hemmnis, wenn er bei ausländischen Handelsregistern erst prüfen muss, inwieweit er sich auf die dortigen Eintragungen verlassen kann. Dass die derzeitige Uneinheitlichkeit der Publizitätsregelungen ein Problem darstellt, ist auf europäischer Ebene durchaus bekannt, wie die EU-Richtlinie zur Verknüpfung der Handelsregister aus dem Jahr 201292 zeigt. Diese Richtlinie führt dazu, dass seit dem 9. Juni 2017 die Handelsregister fast aller Mitgliedstaaten über einen einzigen Zugangspunkt, nämlich das europäische E-Justiz-Portal, zugänglich sind. Den Unterschieden bei den nationalen Publizitätsregelungen trägt Art. 3a der Richtlinie Rech92 Richtlinie 2012/17/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juni 2012.

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nung. Danach werden im europäischen E-Justiz-Portal grundlegende Informationen zur Publizitätswirkung der Handelsregister der einzelnen Mitgliedstaaten veröffentlicht. Das ist ein vorläufiges Arrangement mit den Divergenzen, aber kein wirkliches Angehen des Problems.93 Wünschenswert wäre eine EU-weit einheitliche Publizitätsregelung, die den guten Glauben auch in Fällen schützt, in denen Bekanntmachung und Eintragung falsch sind. In diesen Konstellationen ist der Dritte erst recht schutzwürdig, weil er die wahre Rechtslage nicht einmal mittels Einsichtnahme in das Handelsregister erkennen kann. Darüber hinaus sollten auch die – wohl eher theoretischen94 – Fälle erfasst werden, in denen nur die Eintragung falsch, die Bekanntmachung aber richtig ist. Es ist nicht zu rechtfertigen, dass derjenige, der das Handelsregister einsieht, schlechter steht als derjenige, der „nur“ auf die Bekanntmachung vertraut.95 Diese beiden Erweiterungen wären für keinen Mitgliedstaat eine unzumutbare Belastung, sondern eine konsequente Fortentwicklung, und begründen somit eine realistische Reformmöglichkeit – insbesondere, wenn England keinen Hemmschuh mehr bilden kann. Im Entwurf der Richtlinie zum Einsatz digitaler Werkzeuge und Verfahren im Gesellschaftsrecht96 schlägt die EU-Kommission vor, die Handelsregistereintragung zum primären Publizitätsinstrument zu erheben (Art. 16 Abs. 3 Satz 1 GesR-RL-E). Die zusätzliche Bekanntmachung in einem Amtsblatt soll nur noch als Option der Mitgliedstaaten ausgestaltet werden (Art. 16 Abs. 3 Satz 2, 3 GesR-RL-E). Der Entwurf enthält eine Regelung zur negativen Publizität (Art. 16 Abs. 4 GesR-RL-E), zur positiven Publizität findet sich hingegen keine Bestimmung mehr. Sollte sich der – begrüßenswerte97  – Vorschlag einer Konzentration auf das Handelsregister durchsetzen, empfiehlt es sich dringend, bei der Regelung der positiven Publizität nachzubessern:98 Zumindest in Fällen, in denen die Handelsregistereintragung falsch ist, sollten gutgläubige Dritte in ihrem Vertrauen auf die falsche Eintragung geschützt werden.99 2. Registerführende Institution und materielle Prüfungskompetenz Bei den Aspekten registerführende Institution und materielle Prüfungskompetenz besteht kein europarechtlicher Angleichungsbedarf: Die Handelsregister können auch 93 Vgl. Terbrack, DStR 2015, 236, 237: „Schutz des guten Glaubens […] ist in Europa nicht überall der Fall. Dieses Problem war bei Verabschiedung der Richtlinie bekannt, ist aber nicht angefasst worden.“ 94 Vgl. Roth in Koller/Kindler/Roth/Morck, HGB, 8. Aufl. 2015, § 15 HGB Rz. 28. 95 Vgl. Einmahl, AG 1969, 131, 137; Koch in Staub, HGB, 5. Aufl. 2009, § 15 HGB Rz. 104 f.; Schmidt-Kessel/Kopp in Schmidt-Kessel/Leutner/Müther, Handelsregisterrecht, 2010, Rz. 56 f. 96 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 im Hinblick auf den Einsatz digitaler Werkzeuge und Verfahren im Gesellschaftsrecht, COM(2018) 239 final. 97 Vgl. Noack, DB 2018, 1324, 1326; J. Schmidt, Der Konzern 2018, 229, 232. 98 Nachbesserungsbedarf sieht auch Bock, DNotZ 2018, 643, 656. 99 Für einen Gutglaubensschutz in diesen Fällen auch J. Schmidt, Der Konzern 2018, 229, 232; Teichmann, ZIP 2018, 2451, 2462.

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dann, wenn sie von Verwaltungsbehörden oder Industrie- und Handelskammern geführt werden, ihre Informations- und Gutglaubensschutzfunktion europaweit hin­ reichend erfüllen. Gleiches gilt, wenn die registerführenden Stellen keine materielle Prüfungskompetenz haben. Dies haben die Ausführungen zur Gleichwertigkeitsbeurteilung gezeigt. Außerhalb des Grundbuchverkehrs gelten dieselben Erwägungen. 3. Prüfung der Identität des Anmeldenden Im Hinblick auf den Harmonisierungsbedarf bei der Identitätsprüfung gibt es jenseits unseres Grundbuch-Illustrationsfalls eine zusätzliche Dynamik zu berücksichtigen: Die EU-Kommission möchte erreichen, dass Eintragungsverfahren ausschließlich elektronisch abgewickelt werden können, um grenzüberschreitende Gründungen zu erleichtern. Nach dem Entwurf der Richtlinie zum Einsatz digitaler Werkzeuge und Verfahren im Gesellschaftsrecht soll die GesR-RL künftig in Art. 13f Abs. 1 vorsehen, dass Eintragungen von Gesellschaften i.S.d. Anhangs II der GesR-RL (aus dem deutschen Recht: GmbH, AG und KGaA, wobei die Mitgliedstaaten AGs vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausnehmen können100) grundsätzlich vollständig online durchgeführt werden können. Gemäß Art. 13b Abs. 1 GesR-RL-E sollen die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass zur Identifizierung von Unionsbürgerinnen und -bürgern im Rahmen der Online-Eintragung folgende elektronische Identifizierungsmittel verwendet werden können: (a) ein elektronisches Identifizierungsmittel, das im Rahmen eines durch den jeweiligen Mitgliedstaat genehmigten elektronischen Identifizierungssystems ausgestellt wurde; (b) ein elektronisches Identifizierungsmittel, das von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellt wurde und für die Zwecke der grenzüberschreitenden Authentifizierung nach Art.  6 der Verordnung (EU) Nr.  910/2014 ­(eIDAS-VO) anerkannt wird. Es erscheint kompromissfähig, eine Identifizierung mittels derartiger elektronischer Identifizierungsmittel für alle Handelsregisteranmeldungen EU-weit genügen zu lassen. Der vollständige Verzicht auf eine Identitätsprüfung ist demgegenüber keine Option:101 Die Berichte aus dem Vereinigten Königreich102 demonstrieren eindringlich die damit verbundenen Gefahren. Auch für „Beglaubigungsstaaten“ wie Deutschland wäre ein solcher Kompromiss tragbar: Eine Identifizierung mittels eines elektronischen Identifizierungsmittels bietet, auch wenn das die Notare naturgemäß anders einschätzen,103 ein hinreichendes Schutzniveau.104

100 Vgl. Lieder, NZG 2018, 1081, 1082 f., sowie Teichmann, ZIP 2018, 2451, 2452 f., die zudem dafür plädieren, die Ausnahmemöglichkeit für die AG auf die KGaA zu erweitern. 101 Gleichsinnig Bock, DNotZ 2018, 643, 649 f. 102 Oben Text zu Fn. 49 f. 103 Vgl. Bormann, ZGR 2017, 621, 643 ff.; Wachter, GmbH-StB 2018, 214, 222 f. 104 Vgl. J. Schmidt, Der Konzern 2018, 229, 230: „Diese Anknüpfung an die eIDAS-VO erscheint zum einen systemkohärent und dürfte zum anderen auch ein grds. hinreichend hohes Sicherheitsniveau gewährleisten.“; s. ferner Noack, DB 2018, 1324, 1325; Spindler, ZGR 2018, 17, 23; zweifelnd hingegen Bock, DNotZ 2018, 643, 645, Lieder, NZG 2018, 1081, 1087; offen Teichmann, ZIP 2018, 2451, 2456.

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V. Zusammenfassung Divergenzen bei der Ausgestaltung der nationalen Handelsregisterrechte gibt es u.a. im Hinblick auf die registerführenden Institutionen, die Prüfung der Identität der Anmeldenden, die materielle Prüfungskompetenz und den Umfang der Publizitätswirkung. All diese Unterschiede bereiten der Praxis erhebliche Schwierigkeiten, wie sich bei der Frage nach der Anerkennung ausländischer Handelsregisterauszüge als taugliches Nachweismittel im deutschen Grundbuchverfahren zeigt. Indes sollte es bei der Prüfung der Nachweistauglichkeit gar nicht auf all diese Parameter ankommen: Es empfiehlt sich, allein darauf abzustellen, ob die Publizitätswirkung ausländischer Handelsregister mit derjenigen deutscher Handelsregister gleichwertig ist. Wünschenswert wäre eine EU-weit einheitliche Regelung der – bislang nur partiell harmonisierten – positiven Publizität. Zur Erleichterung des grenzüberschreitenden Handelsregisterverkehrs ist es zudem angezeigt, die Prüfung der Identität des Anmeldenden anzugleichen und eine Identifizierung mittels eines elektronischen Identifizierungsmittels zu verlangen und genügen zu lassen.

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Johannes Wertenbruch

Rechtsfähigkeit und „Teilrechtsfähigkeit“ von juristischer Person und Personengesellschaft Inhaltsübersicht

I. Einleitung



II. Fragestellung – Unterscheidung ­zwischen juristischer Person und rechtsfähiger Personengesellschaft



III. Die Einfügung des § 14 Abs. 2 mit der Regelung der rechtsfähigen Personengesellschaft in das BGB mit Wirkung vom 30.6.2000



IV. Der Begriff „Rechtsfähigkeit“ in der Grundsatzentscheidung BGHZ 146, 41 („weißes Ross“) des II. Zivilsenats vom 29.1.2001





V. Die Entwicklung des Begriffs „Teilrechtsfähigkeit“ durch Fabricius

VI. Die „Wiederbelebung“ des Begriffs „Teilrechtsfähigkeit“ durch andere ­Zivilsenate des BGH VII. Wesentlicher Unterschied zwischen Personengesellschaft und juristischer Person bei der materiell-rechtlichen Verfügungsbefugnis der Gesellschafter



1. Vorbemerkung in begrifflicher Hinsicht 2. Die zu vergleichende Fallkonstellation – Anwesenheit aller Gesellschafter bei Abschluss eines Rechtsgeschäfts mit Wirkung für die Gesellschaft 3. Verfügungsbefugnis aller Gesellschafter der BGB-Gesellschaft 4. Die fehlende Verfügungsbefugnis der Gesamtheit der Mitglieder der juristischen Person (GmbH-Gesellschafter) 5. Folgerungen für die Unterscheidung zwischen rechtsfähiger Personengesellschaft und juristischer Person

VIII. Die Verfügungsbefugnis der „Gesellschafter in ihrer gesamthänderischen Verbundenheit“ in der Zwangsvollstreckung gegen die Personengesellschaft – § 736 ZPO und § 124 Abs. 2 HGB IX. Zusammenfassung

I. Einleitung Ulrich Seibert befasst sich in JZ 1996, 785 unter dem Titel „Die rechtsfähige Personengesellschaft“ mit der neueren Gesetzgebung zur Frage der Rechtsfähigkeit von Personengesellschaften in verschiedenen Bereichen des Zivilrechts. Nach §§  191 Abs.  2 Nr. 1, 202 Abs. 1 Nr. 1 des am 1. Januar 1995 in Kraft getretenen Umwandlungsgesetzes (UmwG) kann die BGB-Gesellschaft „Rechtsträger“ sein. Dies „verleitet“1 Timm zu der Annahme, dass der BGB-Gesellschaft nunmehr eine umfassende Rechtsfähigkeit zuerkannt werden müsse und sie konsequenterweise als juristische Person einzuordnen sei.2 Anlass für den JZ-Beitrag Ulrich Seiberts war aber nicht die dogmatische Einordnung der BGB-Gesellschaft im UmwG, sondern die Regelung der Rechtsnatur 1 So die Formulierung von Seibert, JZ 1996, 785. 2 Timm, ZGR 1996, 247, 252.

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der Personengesellschaft im Gesetz zur Änderung des Rechts der beschränkten persönlichen Dienstbarkeiten.3 Nach dem im Jahre 1996 in das BGB eingefügten § 1059a Abs. 2 (a.F.) steht der juristischen Person eine Personenge­sellschaft gleich, die mit der Fähigkeit ausgestattet ist, Rechte zu erwerben und ­Verbindlichkeiten einzugehen (rechtsfähige Personengesellschaft). Der Gesetzgeber unterscheidet insoweit nicht zwischen BGB-Gesellschaft und den Personenhandelsgesellschaften OHG/KG sowie der Partnerschaftsgesellschaft (PartG). Zudem wurde nicht der in Rechtsprechung und Literatur zu findende Begriff „Teilrechtsfähigkeit“ in Gesetzesform gegossen. Ulrich Seibert verweist zu Recht darauf, dass im Abschnitt des BGB-Sachenrechts zur Dienstbarkeit eigentlich niemand etwas zur Frage der Rechtsfähigkeit der Personengesellschaften vermutet hätte.4 Gleichwohl finde man jetzt dort ganz überraschend – mit dem „vollen Gewicht bundesgesetzlicher Regelung“ – eine neue Legaldefinition, die unbedingt „ins Licht der rechtswissenschaftlichen Erörterung gestellt werden sollte“.5 Seibert misst dieser Legaldefinition der „rechtsfähigen Personengesellschaft“ im BGB-Sachenrecht eine generelle Bedeutung zu und wirft die Frage auf, ob sich nunmehr das verwirrende Puzzle zu einem geschlossenen Bild zusammenfüge oder die Definition nur ein griffiges Kürzel für einen nach wie vor unklaren Sachverhalt bringe.6 Von der „häufig kolportierten Formulierung“, die OHG/KG sei „teilrechtsfähig“, sollte nach der im Jahre 1996 formulierten dogmatischen Expertise Seiberts besser Abschied genommen werden.7 Man sei ohnehin stets ins Feinsinnige geraten, wenn man nachgefragt habe, welcher Teil der Personengesellschaft denn zur Rechtsfähigkeit fehle.8 Wir könnten aber, so Seibert, doch beruhigt und sicher sein, dass die „rechtsfähige Personengesellschaft“ nicht zugleich auch eine juristische Person sei, was steuerlich unabsehbare Folgen haben könne.9 Vor der Einordnung als juristische Person bewahre insbesondere § 11 Abs. 2 Nr. 1 InsO, der dies ausdrücklich verneine, weil es dort heiße: „über das Vermögen einer Gesellschaft ohne Rechtspersönlichkeit (offene Handelsgesellschaft, Kommanditgesellschaft, Partnerschaftsgesellschaft, Gesellschaft des Bürgerlichen Rechts, Partenreederei, Europäische wirtschaftliche Interessenvereinigung)“.10 In den neueren gesetzlichen Regelungen ist nach Ansicht von Seibert aber kein „Anschlag“ des Gesetzgebers auf „unsere Gesamthand“ zu sehen, sondern vielmehr die legislatorische Absicht, bei der Praxis der Rechtsanwendung im Bereich der gesetzlich verselbständigten Personengesellschaft ein weiteres Nachdenken über die Rechtsna 3 Gesetz vom 17.7.1996, BGBl. I 1996, 990; vgl. dazu auch Gesetzentwurf des Bundesrates mit Begründung, BT-Drucks. 13/3604; BT-Drucks. 13/3809 (Berichtigung); Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 13/4600. 4 Seibert, JZ 1996, 785. 5 Seibert, JZ 1996, 785. 6 Seibert, JZ 1996, 785. 7 Seibert, JZ 1996, 785. 8 Seibert, JZ 1996, 785. 9 Seibert, JZ 1996, 785. 10 Seibert, JZ 1996, 785.

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tur der Gesellschaft entbehrlich zu machen.11 Die Gesetzesänderungen dienten dem Zweck, für den Rechtsalltag eine einfache Gesellschaftsform zu gewährleisten, deren Verständnis sich nicht erst in juristischen Oberseminaren erschließe.12

II. Fragestellung – Unterscheidung zwischen juristischer Person und rechtsfähiger Personengesellschaft Wenn, wie Seibert schon im Jahre 1996 prophezeite, in Bezug auf die OHG/KG und damit auch bei der BGB-Gesellschaft die Bezeichnung „teilrechtsfähig“ eigentlich keinen Sinn erkennen lasse und daher aufzugeben sei, dann kann die Unterscheidung zwischen juristischer Person und Personengesellschaft nicht mehr rein begrifflich in der Weise erfolgen, dass der Personengesellschaft nur eine „Teilrechtsfähigkeit“ zuerkannt und die juristische Person als „voll rechtsfähig“ angesehen wird. Der Zugang zur Lösung der hier in Rede stehenden Unterscheidungsproblematik wird erheblich erschwert, wenn man in Übereinstimmung mit einem Dogma des römischen Rechts davon ausgeht, dass nur die natürliche Person und die juristische Person als rechtsfähig einzuordnen sind. Unter dieser römisch-rechtlichen Prämisse kann die Personengesellschaft letztlich nicht rechtsfähig sein, es sei denn, OHG/KG und BGB-Gesellschaft sind, wie Timm13 nach Erlass des UmwG annahm, doch juristische Personen. Im Falle der Aufrechterhaltung der systematischen Trennung zwischen juristischer Person und Gesamthandsgesellschaft/Personengesellschaft müsste – bei Fortgeltung der erwähnten römischen Doktrin für das deutsche Zivilrecht – in Bezug auf die Fähigkeit der Personengesellschaft zum rechtsgeschäftlichen und gesetzlichen Erwerb von Rechten und Pflichten in der Tat ein anderer Begriff verwendet werden als „Rechtfähigkeit“. Ist dagegen bei der Abgrenzung der Personengesellschaft von der juristischen Person die Rechtsfähigkeit gar nicht das entscheidende Kriterium, so ist die Einordnung der Personengesellschaft als rechtsfähig nicht nur in begrifflicher Hinsicht unproblematisch, sondern zudem zwecks Vermeidung von Missverständnissen auch geboten. Es stellt sich dann aber die Frage, worin denn die wesentlichen Unterscheidungskriterien zu sehen sind und ob sie eher theoretischer Natur sind oder auch bei der praktischen Durchführung von externen oder internen Rechtsgeschäften der Gesellschaft virulent werden.

III. Die Einfügung des § 14 Abs. 2 mit der Regelung der rechtsfähigen Personengesellschaft in das BGB mit Wirkung vom 30.6.2000 Mit dem Gesetz über Fernabsatzverträge und andere Fragen des Verbraucherrechts sowie zur Umstellung von Vorschriften auf Euro vom 27. Juni 200014 wurde die Vorschrift des § 14 über den Begriff des Unternehmers in das BGB eingefügt. Nach § 14 11 Seibert, JZ 1996, 785. 12 Seibert, JZ 1996, 785. 13 Vgl. oben I. 14 BGBl. I 2000 Nr. 28 vom 29.6.2000, S. 897.

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Abs.  1 BGB ist der Unternehmer eine natürliche oder juristische Person oder eine rechtsfähige Personengesellschaft, die bei Abschluss eines Rechtsgeschäfts in Ausübung ihrer gewerblichen oder selbständigen beruflichen Tätigkeit handelt. §  14 Abs. 2 BGB regelt, dass eine rechtsfähige Personengesellschaft eine Personengesellschaft ist, die mit der Fähigkeit ausgestattet ist, Rechte zu erwerben und Verbindlichkeiten einzugehen. Nach der bereits im Jahre 1996 erfolgten Neufassung des § 1059a Abs. 2 BGB15 konnte die ausdrückliche Aufführung der rechtsfähigen Personengesellschaft in dem zum Allgemeinen Teil des BGB gehörenden § 14 Abs. 1 neben der juristischen und der natürlichen Person sowie die Definition der rechtsfähigen Personengesellschaft in §  14 Abs.  2 BGB nicht mehr als Sensation eingestuft werden. Im Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 9. Februar 200016 war der heutige § 14 BGB nicht enthalten. Nach § 361a Abs. 3 dieses Entwurfs17 ist der Unternehmer eine Person, die bei Abschluss eines Rechtsgeschäfts in Ausübung ihrer gewerblichen oder selbständigen beruflichen Tätigkeit handelt. Eine besondere Erwähnung der Personengesellschaft und der juristischen Person findet sich hier noch nicht. Den konkreten Inhalt und die Verortung im Allgemeinen Teil des BGB verdankt die Regelung des §  14 der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses vom 12.  April 2000.18 Der Rechtsausschuss weist zunächst unter Hinweis auf die Anhörung von Sachverständigen in diesem parlamentarischen Gremium darauf hin, dass die Begriffe „Verbraucher“ und „Unternehmer“ vereinheitlicht und in das BGB integriert werden sollten.19 Die Sachverständigen hatten den ursprünglich vorgesehenen Standort – §  361a Abs.  3 BGB  – kritisiert, weil das BGB solche Begriffe im Allgemeinen Teil definiere.20 Der Rechtsausschuss hielt den Einwand der angehörten Sachverständigen für zutreffend und schlug daher vor, die besagten Begriffe im Allgemeinen Teil zu behandeln, und zwar im Abschnitt „Natürliche Personen“.21 Es wurde dann aber von diesem Ausschuss eine Folgeänderung für erforderlich gehalten. Die gesetzliche Definition der rechtsfähigen Personengesellschaft müsse aus dem bisherigen Standort – § 1059 Abs. 2 BGB – herausgenommen und in die Definition des Unternehmers integriert werden (§  14 Abs.  2 BGB).22 Diese auf die Gesetzessystematik bezogene Einschätzung des Rechtsausschusses geht konform mit der oben (I.) wiedergegebenen Sichtweise Ulrich Seiberts aus dem Jahre 1996, nach der die Legaldefinition der „rechtsfähigen Personengesellschaft“ ganz überraschend im BGB-Sachenrecht bei den Vorschriften über die beschränkt persönliche Dienstbarkeit zu finden sei. Mit der Übernahme dieses Vorschlags des Rechtsausschusses durch den Bundestag bei der Verabschiedung des Gesetzes wurde auch in anderer Hinsicht ein Kreis geschlossen, und zwar in Bezug auf die monographische Trilogie Werner Flumes zum 15 Vgl. dazu oben I. 16 BT-Drucks. 14/2658. 17 BT-Drucks. 14/2658, S. 6. 18 BT-Drucks. 14/3195. 19 BT-Drucks. 14/3195, S. 32. 20 BT-Drucks. 14/3195, S. 32. 21 BT-Drucks. 14/3195, S. 32. 22 BT-Drucks. 14/3195, S. 32.

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Allgemeiner Teil des BGB. Dass Flume maßgeblichen Anteil an der Entwicklung des Rechts der Personengesellschaft und insbesondere an der Anerkennung ihrer Rechtsfähigkeit hat, ist nach wie vor unbestritten. Nicht wenige Volljuristen und Studie­rende haben sich aber die Frage gestellt, ob sein nach wie vor bedeutsames Werk „Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts Erster Band Erster Teil Die Personengesellschaft“ in systematischer Hinsicht richtig bezeichnet ist. Die anderen beiden Bände Flumes ­unter dem Titeldach „Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts“, nämlich „Das Rechtsgeschäft“ und „Die juristische Person“, gehören ohne Zweifel schon seit dem In­krafttreten des BGB am 1. Januar 1900 zur Materie des Allgemeinen Teils. Die Personengesellschaft war aber bis zum Jahre 2000 in keiner Weise unmittelbar Gegenstand einer Vorschrift des Allgemeinen Teils des BGB. Denn bis zu diesem Zeitpunkt waren dort als rechtsfähige Subjekte nur die natürliche Person (§§ 1 ff. BGB) und die juristischen Personen (§§ 21 ff.) geregelt. Der „Titel“ des BGB über die juristischen Personen ist in drei Untertitel gegliedert, und zwar den Untertitel 1 über die Vereine (§§  21  ff.), den Untertitel 2 über die rechtsfähigen Stiftungen (§§  80  ff.) sowie den Untertitel 3 zur juristischen Person des öffentlichen Rechts (§ 89).23 Die Vorschriften über die BGB-Gesellschaft finden sich dagegen seit dem 1. Januar 1900 im Besonderen Teil des Schuldrechts (§§ 705 ff.). Mit der Einfügung des § 14 BGB im Jahre 2000 hat der Gesetzgeber die Richtigkeit der von Flume vorgenommenen systematischen Zuordnung von juristischer Person und BGB-Gesellschaft zum Allgemeinen Teil des BGB bestätigt.

IV. Der Begriff „Rechtsfähigkeit“ in der Grundsatzentscheidung BGHZ 146, 41 („weißes Ross“) des II. Zivilsenats vom 29.1.2001 Der BGH hat in der Grundsatzentscheidung BGHZ 146, 341 die Rechts- und Parteifähigkeit der BGB-Gesellschaft anerkannt, und dies entspricht nunmehr der ganz h.M.24 Der wesentliche Inhalt dieser Entscheidung ist zwar allgemein bekannt und soll daher hier nicht wiederholend erörtert werden.25 Für das Thema dieses Festschriftbeitrags lohnt aber gleichwohl ein Blick auf die Begriffswahl des BGH bezüglich der Rechtsnatur der BGB-Gesellschaft sowie seine Ausführungen zur Abgrenzung von der juristischen Person. Dass der neue, auf Vorschlag des Rechtsausschusses 23 Die Regelung des § 89 Abs. 1 BGB beschränkt sich allerdings darauf, in Bezug auf die Haftung von Organen die Regelung des § 31 BGB aus dem Recht des Vereins auf den Fiskus sowie die Körperschaften, Stiftungen und Anstalten des öffentlichen Rechts für entsprechend anwendbar zu erklären. Nach § 89 Abs. 2 BGB ist die in § 42 Abs. 2 BGB geregelte vereinsrechtliche Insolvenzantragspflicht entsprechend auf die in § 89 Abs. 2 BGB anwendbar, soweit das Insolvenzverfahren zulässig ist. 24 Vgl. nur Schäfer in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2017, vor § 705 BGB Rz. 9 ff.; Westermann in Erman, 15. Aufl. 2017, vor § 705 BGB Rz. 17; Habermeier in Staudinger, 2003, vor § 705 BGB Rz. 6, 8 f.; Sprau in Palandt, 78. Aufl. 2019, § 705 BGB Rz. 24; Lackmann in Musielak/ Voit, 15. Aufl. 2018, § 736 ZPO Rz. 1; Seibel in Zöller, 32. Aufl. 2018, § 736 ZPO Rz. 2; Seiler in Thomas/Putzo, 40. Aufl. 2019, § 736 ZPO Rz. 4.  25 Vgl. zu den Hintergründen des Falls „Weißes Ross“ Wedemann in Fleischer/Thiessen, Gesellschaftsrechts-Geschichten, 2018, S. 491 ff.

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des Bundestages26 in den Allgemeinen Teil eingefügte § 14 BGB unmittelbar vor der Entscheidung in Sachen „weißes Ross“ in Kraft getreten war, hat dem BGH den Aufbau seiner Argumentationslinie und die Absicherung gegen den Vorwurf, es handele sich um eine Rechtsfortbildung contra legem, auch in begrifflicher Hinsicht sehr erleichtert. Ob das „Weißes Ross“-Urteil ohne die „Vorarbeiten“ des BGB-Gesetzgebers, insbesondere in Gestalt des § 14 BGB, in begrifflicher Hinsicht anders ausgefallen und insoweit die Formulierung „Teilrechtsfähigkeit“ anstelle von „Rechtsfähigkeit“ gewählt worden wäre, lässt sich allerdings nicht sagen. Da der Gesetzgeber sich unmissverständlich bereits für den Begriff „rechtsfähige Personengesellschaft“ entschieden hatte, stellte sich für den BGH nicht mehr die Frage, ob diese Bezeichnung im deutschen Zivilrecht überhaupt zulässig ist. Zu Beginn der Entscheidungsgründe zu BGHZ 146, 341 umschreibt der II. Zivilsenat des BGH unter Hinweis auf seine bisherige Rechtsprechung27 den Status der BGB-Gesellschaft als Gesamthandsgesellschaft ihrer Gesellschafter dahin gehend, dass sie im Rechtsverkehr grundsätzlich – also bei Fehlen entgegenstehender spezieller Gesichtspunkte  – jede Rechtsposition einnehmen könne.28 Soweit die BGB-Gesellschaft in diesem Rahmen eigene Rechte und Pflichten begründe, sei sie – ohne juristische Person zu sein – rechtsfähig (vgl. § 14 Abs. 2 BGB). Der Begriff „teilrechtsfähig“ wird vom BGH hier noch nicht einmal erwähnt. Am Ende des ersten Teils der Entscheidungsgründe, also vor der Diskussion der Frage der Parteifähigkeit der BGB-Gesellschaft, legt der BGH dar, dass in der Anerkennung der Rechtsfähigkeit der BGB-Gesellschaft kein Widerspruch im Verhältnis zu den vereinsrechtlichen Regelungen der §§ 21, 22, 54 BGB zu sehen sei.29 Denn diese Vorschriften behandelten, so der BGH, die Rechtsfähigkeit aufgrund eigener Rechtspersönlichkeit und damit „als solcher“ und nicht als Gruppe ihrer gesamthänderisch verbundenen Mitglieder.30 Das Gesetz gehe, wie § 14 Abs. 2 BGB zeige, vielmehr davon aus, dass es auch Personengesellschaften gebe, denen die Rechtsfähigkeit zukomme.31 OHG und KG könnten unbestritten Träger von Rechten und Pflichten sein und seien daher rechtsfähig, ohne als Gesamthandgemeinschaften den Status einer juristischen Person zu besitzen.32

V. Die Entwicklung des Begriffs „Teilrechtsfähigkeit“ durch Fabricius Der Begriff “Teilrechtsfähigkeit“ geht zurück auf die an der Universität Münster entstandene und im Jahre 1963 veröffentlichte Habilitationsschrift von Fritz Fabricius zum Thema „Relativität der Rechtsfähigkeit – Ein Beitrag zur Theorie und Praxis des privaten Personenrechts“. Im vierten Kapitel dieser Monographie wird die „Teilrechtsfähigkeit“ von Subjekten behandelt. Die Gesellschafter der BGB-Gesellschaft sind 26 Vgl. dazu oben III. 27 BGHZ 116, 86, 88; BGHZ 136, 254, 257; im Ansatz auch bereits BGHZ 79, 374, 378 f. 28 BGHZ 146, 341, 343. 29 BGHZ 146, 341, 347. 30 BGHZ 146, 341, 347. 31 BGHZ 146, 341, 347. 32 BGHZ 146, 341, 347.

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nach Ansicht von Fabricius in ihrer Verbundenheit zu einer Einheit sowohl Zuordnungssubjekt als auch Rechtssubjekt, so dass die Gesellschaft „teilrechtsfähig“ sei.33 Flume hat den von Fabricius kreierten Begriff der „Teilrechtsfähigkeit“ für seine Lehren zur Rechtsnatur der Personengesellschaft übernommen.34 Aus heutiger Sicht, also insbesondere aufgrund der Neuregelung des § 14 Abs. 2 BGB und der damit übereinstimmenden Terminologie in BGHZ 146, 341, könnte dies zu der Annahme verleiten, dass Flume insoweit nicht ganz richtig gelegen habe. Flume kannte aber als ausgewiesene Koryphäe auch des römischen Rechts die „Zwangsvorstellung“ der damals h. M., nach der im Bereich des deutschen Zivilrechts nur die juristische Person und die natürliche Person rechtsfähig sein konnten.35 Insoweit verweist Flume auf das Bestehen einer „Schulweisheit“.36 Nicht ausgeschlossen ist allerdings, dass Flume mit seinen dargelegten Erkenntnissen zur Rechtsnatur der Gesamthandsgesellschaft in Anknüpfung an die insbesondere von Otto von Gierke in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vertretene deutschrechtlichen Gesamthandslehre in Vergessenheit geraten wäre, wenn er anstelle des von Fabricius präsentierten Begriffs „Teilrechtsfähigkeit“ schon die später vom Gesetzgeber in § 14 BGB verankerte Bezeichnung „Rechtsfähigkeit“ gewählt hätte. Mit „Teilrechtsfähigkeit“ wurde die Angriffsfläche im Verhältnis zu den Verfechtern der auf dem römischen Recht beruhenden Doktrin von der ausschließlichen Rechtsfähigkeit der juristischen und der natürlichen Person erheblich verkleinert. Zum Zwecke der Verteidigung der These von der Verselbständigung der BGB-Gesellschaft konnte nämlich zumindest vorgebracht werden, dass es nicht um die Rechtsfähigkeit in diesem Sinne gehe. Insoweit hatte der Begriff „Teilrechtsfähigkeit“ in gewisser Weise die Funktion eines trojanischen Pferds. Der Durchbruch in terminologischer Hinsicht zugunsten der Rechtsfähigkeit konnte erst erfolgen, nachdem sich inhaltlich zur zentralen Frage der selbständigen Übernahme von Rechtspositionen durch die BGB-Gesellschaft eine herrschende Meinung gebildet hatte und zudem klar geworden war, dass eine Ablehnung der Rechtsfähigkeit in der Praxis sowohl beim Abschluss von Rechtsgeschäften als auch im Prozess zu völlig unangemessenen Ergebnissen führen würde. Das gilt insbesondere für den Fall des Gesellschafterwechsels nach Begründung von Dauerschuldverhältnissen mit Dritten.37 Bei Ablehnung der Rechtsfähigkeit müsste hier, wenn nach einigen Jahren der Vertragspartner ein Kündigungsrecht ausüben will, ungeachtet etwaiger Gesellschafterwechsel die Kündigung gegenüber den ursprünglichen Gesellschaftern als Partnern des Vertrags erklärt werden. Im Falle eines Rechtsstreits bekämen (nur) die bei Abschluss des Vertrags vorhandenen Gesellschafter die Parteirollen. In Wirklichkeit wurde über mehrere Jahrzehnte, worauf ­Ulrich Huber zutreffend hinweist,38 mit dem Begriff „Teilrechtsfähigkeit“ der Widerspruch verschleiert, der darin bestand, dass die Gesamt33 Fabricius, Relativität der Rechtsfähigkeit, 1963, S. 158. 34 Flume, Allgemeiner Teil des BGB I 1, Die Personengesellschaft, 1977, S. 90. 35 Flume, Allgemeiner Teil des BGB I 1, Die Personengesellschaft, 1977, S. 93 ff.; vgl. dazu auch U. Huber in FS Lutter, 2000, S. 111. 36 Flume, Allgemeiner Teil des BGB I 1, Die Personengesellschaft, 1977, S. 56. 37 Vgl. dazu BGHZ 146, 341, 345; Wertenbruch, Haftung von Gesellschaften und Gesellschaftsanteilen in der Zwangsvollstreckung, 2000, S. 215 ff. 38 U. Huber in FS Lutter, 2000, S. 112.

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handsgesellschaft einerseits rechtsfähig sein solle, dies aber andererseits gar nicht gehe.

VI. Die „Wiederbelebung“ des Begriffs „Teilrechtsfähigkeit“ durch andere Zivilsenate des BGH In der Sache haben andere Zivilsenate des BGH zwar die vom II. Zivilsenat mit BGHZ 146, 341 anerkannte Rechtsfähigkeit übernommen. In einigen Judikaten findet sich allerdings wieder der Begriff „Teilrechtsfähigkeit“, nicht aber der Begriff „Teilparteifähigkeit“. In der Entscheidung BGHZ 179, 102 des für das Grundstücksrecht zuständigen V. Zivilsenats aus dem Jahre 2008 wird davon ausgegangen, dass „die GbR, ohne juristische Person zu sein (…), (teil-)rechtsfähig ist, soweit sie durch Teilnahme am Rechtsverkehr eigene Rechte und Pflichten begründet“.39 Die BGB-Gesellschaft sei im „Rahmen ihrer Teilrechtsfähigkeit“ natürlichen und juristischen Personen einerseits und den „registerfähigen rechtsfähigen Personengesellschaften“ andererseits nicht in jeder Hinsicht gleichgestellt.40 Der V. Zivilsenat unterscheidet also in terminologischer Hinsicht zwischen der rechtsfähigen OHG und KG und der teilrechtsfähigen BGB-Gesellschaft. Für diese Differenzierung bietet weder BGHZ 146, 341 noch § 14 BGB eine Grundlage. Richtig ist zweifelsohne, dass es bislang kein Gesellschaftsregister für BGB-Gesellschaften gibt und daher zwangsläufig insoweit die Registerfähigkeit fehlt. Am Vorliegen der Rechtsfähigkeit ändert dies aber nichts. In der Entscheidung BGHZ 204, 325 aus dem Jahre 2015 zu einem Erdgasvertrag mit einer Wohnungseigentümergemeinschaft verweist der VIII. Zivilsenat des BGH zunächst darauf, dass die „rechtsfähige Personengesellschaft“ gemäß § 14 Abs. 2 BGB Unternehmerin sei.41 Nachfolgend wird die BGB-Gesellschaft im Zusammenhang mit der Frage der Rechtsnatur der Wohnungseigentümergemeinschaft unter Verweis auf BGHZ 146, 341 als „ebenfalls teilrechtsfähig“ angesehen.42 In der im Jahre 2016 vom VIII. Zivilsenat des BGH erlassenen Entscheidung BGHZ 213, 136 wird angenommen, dass eine (Außen-)Gesellschaft des bürgerlichen Rechts nicht als juristische Person zu qualifizieren sei, sondern lediglich eine „teilrechtsfähige Personengesellschaft“ darstelle.43 Das „Wiederaufflackern“ der Silbe „Teil“ bei der Beschreibung der Rechtsnatur der BGB-Gesellschaft ist zwar in der Sache unschädlich. Dies ändern aber nichts daran, dass die terminologische Abweichung von § 14 Abs. 2 BGB und BGHZ 146, 341 bei der Beurteilung von Rechtsfällen weder eine notwendige noch eine nützliche Bezeichnung darstellt.

39 BGHZ 179, 102 Rz. 10. 40 BGHZ 179, 102 Rz. 10. 41 BGHZ 204, 325 Rz. 24. 42 BGHZ 204, 325 Rz. 34. 43 BGHZ 213, 136 Rz. 17.

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VII. Wesentlicher Unterschied zwischen Personengesellschaft und juristischer Person bei der materiell-rechtlichen Verfügungsbefugnis der Gesellschafter 1. Vorbemerkung in begrifflicher Hinsicht Dass aufgrund der Rechtsfähigkeit von juristischer Person und Personengesellschaft ein einzelner Gesellschafter nicht ohne weiteres im eigenen Namen über das Gesellschaftsvermögen oder Teile davon verfügen kann, ist unbestritten und kann nicht ernsthaft angezweifelt werden. Es geht vielmehr bei der Frage, ob in Bezug auf die materiell-rechtliche Verfügungsbefugnis der Gesellschafter wesentliche Unterschiede zwischen der juristischen Person und der Personengesellschaft bestehen, um die Verfügungsbefugnis der Gesamtheit der Gesellschafter, das heißt – bei Heranziehung der Terminologie des Personengesellschaftsrechts – der „gesamten Hand“. Mit der Verfügungsbefugnis der Gesellschafter in einem Zusammenhang stehen bei der Perso­ nengesellschaft die Begriffe „Gruppe“, „Gesellschafter in ihrer gesamthänderischen Verbundenheit“ und „kollektive Personenmehrheit“. Diese und ähnliche Umschreibungen der Gesamthandsgesellschaft können zwar für sich betrachtet weder die Rechts- und Parteifähigkeit der Personengesellschaft begründen noch einen wesentlichen Unterschied im Vergleich zur juristischen Person zu Tage fördern. Die genannten gesamthandsspezifischen Synonyme knüpfen aber an die vermögensbezogene Verfügungsbefugnis der Gesellschafter an und haben daher zumindest die Funktion eines Wegweisers in Richtung einer von der juristischen Person – trotz übereinstimmender Rechtsfähigkeit nach außen – abweichenden Struktur. 2. Die zu vergleichende Fallkonstellation – Anwesenheit aller Gesellschafter bei Abschluss eines Rechtsgeschäfts mit Wirkung für die Gesellschaft Zum Zwecke der Visualisierung eines wesentlichen Unterschieds zwischen juristischer Person und Personengesellschaft soll die Konstellation verglichen werden, in der eine BGB-Gesellschaft und eine GmbH jeweils aus drei Gesellschaftern (A, B und C) bestehen. Beide Gesellschaften unterhalten bei einer Bank je ein Geschäftskonto mit einem Habensaldo i.H.v. 50000 €. Für eine Ausgabe im Rahmen des Gesellschaftszwecks sollen von jeder Gesellschaft 20000 € bar abgehoben werden. Dafür erscheinen sämtliche Gesellschafter (A, B und C) der beiden zu vergleichenden Gesellschaften am Bankschalter der kontoführenden Bank. Der zuständige Bankangestellte hat Kenntnis davon, dass die BGB-Gesellschaft und die GmbH wirksam gegründet worden sind, A, B und C der jeweiligen Gesellschaft angehören und keine weiteren ­Gesellschafter vorhanden sind. Die Gesamtheit der Gesellschafter ist also in beiden Fallvarianten präsent, um das Rechtsgeschäft mit dem Vertragspartner der jeweiligen Gesellschaft vorzunehmen. Der Vertragspartner bzw. dessen Vertreter kennt aber nicht die gesellschaftsvertraglichen Vereinbarungen und Gesellschafterbeschlüsse ­bezüglich der Geschäftsführung und Vertretung der Gesellschaft. In den beiden Varianten des Beispielsfalls stellt sich nun die Frage, ob der Bankangestellte als Vertreter der Bank ohne weitere Informationen die von A, B und C begehrten 20000 € mit Wirkung für und gegen die betreffende Gesellschaft auszahlen kann. Dies setzt vor1097

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aus, dass die Gesamtheit der Gesellschafter ohne zusätzliche Voraussetzungen wirksam über das Gesellschaftsvermögen der in Rede stehenden Gesellschaften verfügen kann. In dem bereits erwähnten JZ-Beitrag von Ulrich Seibert zum Thema „die rechtsfähige Personengesellschaft“ wird auf den gesetzgeberischen Willen hingewiesen, dass für die gesetzlich verselbständigten Personengesellschaften in der Praxis der Rechtsanwendung weiteres Nachdenken über die Rechtsnatur der Gesellschaft überflüssig sein soll.44 Gewollt sei vom Gesetzgeber für den Rechtsalltag eine einfache Form, deren Verständnis sich nicht erst in juristischen Oberseminaren erschließe.45 Ob im geschilderten Beispielsfall die Frage der Befugnis der Gesamtheit der Gesellschafter (A, B und C), über das Gesellschaftskonto zu verfügen, ohne weiteres Nachdenken über die Rechtsnatur der Gesellschaft möglich ist, erscheint zumindest bei der BGB-Gesellschaft zweifelhaft. 3. Verfügungsbefugnis aller Gesellschafter der BGB-Gesellschaft Im hier in Rede stehenden Beispielsfall kommt es für die Wirksamkeit des auf Bar­ abhebung vom Gesellschaftskonto der BGB-Gesellschaft durch alle Gesellschafter (A, B und C) gerichteten Rechtsgeschäfts nicht auf die Frage an, in welcher Weise im Gesellschaftsvertrag die Vertretung der Gesellschaft geregelt ist. Die Gesamtheit der Gesellschafter der Gesamthandsgesellschaft (Personengesellschaft) ist verfügungsund vertretungsbefugt. Dies folgt aus dem Prinzip der Selbstorganschaft.46 Die Vertretungsbefugnis aller Gesellschafter gemeinsam ist ebenso wie das Erfordernis, dass mindestens ein Gesellschafter ohne Bindung an einen gesellschaftsfremden Dritten vertretungsbefugt sein muss, der wesentliche Inhalt des Prinzips der Selbstorganschaft.47 Die in der Bank anwesenden GbR-Gesellschafter A, B und C sind in ihrer gesamthänderischen Verbundenheit identisch mit der Gesellschaft. Denn die Gruppe ist auch als Rechtssubjekt nichts anderes als die Mitglieder der Gruppe in ihrer Verbundenheit.48 Die Begriffe „Gesellschafter in ihrer gesamthänderischen Verbundenheit“ und „rechtsfähige Personengesellschaft“ unterscheiden sich daher inhaltlich 44 Seibert, JZ 1996, 785. 45 Seibert, JZ 1996, 785. 46 Vgl. dazu Flume, Allgemeiner Teil des BGB I 1, Die Personengesellschaft, 1977, S. 54 f., 131, 240 ff.; Habersack in Staub, 5. Aufl. 2009, § 125 HGB Rz. 5; Schäfer in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2017, § 705 BGB Rz. 5 f.; K. Schmidt in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2016, § 125 HGB Rz.  6; Wertenbruch in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, 4.  Aufl. 2019, §  105 HGB Rz.  17; Wertenbruch in Westermann/Wertenbruch, Handbuch Personengesellschaften, Stand: Mai 2018, Rz. I 235. 47 Vgl. Habersack in Staub, 5. Aufl. 2009, § 125 HGB Rz. 10; Kindler in Koller/Kindler/Roth/ Drüen, 9. Aufl. 2019, § 125 HGB Rz. 2 ff.; Roth in Baumbach/Hopt, 38. Aufl. 2018, § 125 HGB Rz. 5 ff.; Wertenbruch in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, 4. Aufl. 2019, § 105 HGB Rz.  17; Wertenbruch in Westermann/Wertenbruch, Handbuch Personengesellschaften, Stand: Mai 2018, Rz. I 235. 48 Flume, Allgemeiner Teil des BGB I 1, Die Personengesellschaft, 1977, S. 56 f. unter Bezugnahme auf O. Gierke, Privatrecht I, 1895, S. 682 („Kraft der gesamten Hand ist die verbundene Personenmehrheit als solche rechtsfähig“); vgl. dazu auch Wertenbruch, Haftung von

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nicht. Die in den §§  705  ff. BGB nebeneinander zu findenden gesetzlichen For­ mulierungen „Gesellschaftsvermögen“ und „gemeinschaftliches Vermögen der Ge­ sellschafter“ begründen demzufolge weder Widersprüche noch Unterschiede in ­materiell-rechtlicher Hinsicht. Der entscheidende Grund dafür ist, dass die Personengesellschaft als Gesamthandsgesellschaft im Innenverhältnis nicht gegenüber der Gesamtheit der Gesellschafter (Gruppe) verselbständigt ist, sondern hier vielmehr Identität zu konstatieren ist. Die Gesellschafter in ihrer Verbundenheit sind die rechtsfähige Personengesellschaft. Nach innen existiert zwischen der Gesamtheit der Gesellschafter und der rechtsfähigen Personengesellschaft keine Trennung in Gestalt einer „Mauer“. Im Beispielsfall benötigt der Bankangestellte als Grundlage für eine wirksame Barauszahlung an die BGB-Gesellschaft als Kontoinhaberin keine Informationen über die gesellschaftsvertragliche Vertretungsregelung. Erforderlich ist nur, dass alle Gesellschafter anwesend sind und demzufolge die „gesamte Hand“ über das Kontoguthaben verfügt. Ein außenstehender Dritter kann aufgrund des aus dem Wesen der Gesamthandsgesellschaft folgenden Prinzips der Selbstorganschaft nicht organschaftlicher Vertreter der BGB-Gesellschaft sein. Dass im Falle einer von der Gesamtvertretung nach §§ 709, 714 BGB abweichenden Einzelvertretungsmacht i.S.d. §§ 710, 714 BGB bei Anwesenheit aller Gesellschafter zwangsläufig auch der statutarische Vertreter dabei sein muss, ist zwar richtig. Dies ändert aber nichts an der immer vorhandenen und nicht abdingbaren Verfügungs- und Vertretungsbefugnis der Gesellschaftergesamtheit. Die Gesamthandsgesellschaft wird bei gemeinsamem Handeln aller Gesellschafter immer wirksam durch die Gesamtheit vertreten. 4. Die fehlende Verfügungsbefugnis der Gesamtheit der Mitglieder der juristischen Person (GmbH-Gesellschafter) Erscheinen im Beispielsfall dagegen alle drei Gesellschafter der GmbH (A, B und C) bei der kontoführenden Bank, um den Betrag i.H.v. 20000 € abzuheben, so besteht keine originäre und nicht abdingbare Verfügungsbefugnis dieser Gesellschaftergesamtheit, das heißt, der Bankangestellte darf den gewünschten Betrag nicht unter Belastung des GmbH-Bankkontos auszahlen. Er kann die Barauszahlung nur an den nach § 35 Abs. 1 GmbHG vertretungsbefugten GmbH-Geschäftsführer leisten, wenn das Gesellschaftskonto wirksam belastet werden soll. Nur der Geschäftsführer kann für die GmbH als Kontoinhaberin handeln. Unter den drei in der Bank anwesenden Gesellschaftern A, B und C kann sich zwar auch der Geschäftsführer befinden. Dies ist aber aufgrund des bei der GmbH geltenden Prinzips der Drittorganschaft mit zulässiger Fremdorganschaft – der Geschäftsführer muss nicht Mitglied der Gesellschaft sein – keineswegs sicher. Es kann genauso gut ein Nichtgesellschafter das Amt des Geschäftsführers übernommen haben. Der Bankangestellte hat daher trotz Erscheinens aller GmbH-Gesellschafter keine valide Grundlage für die Annahme der Anwesenheit des organschaftlichen Vertreters in Person des Geschäftsführers. Die GesamtGesellschaften und Gesellschaftsanteilen in der Zwangsvollstreckung, 2000, S. 40 ff.; Wertenbruch in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, 4. Aufl. 2019, § 105 HGB Rz. 14.

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heit der Gesellschafter einer juristischen Person ist – anders als die Gesamtheit der Gesellschafter einer Gesamthandsgesellschaft – nicht verfügungs- und vertretungsbefugt. Die Gesamtheit der Gesellschafter der juristischen Person ist nicht identisch mit der juristischen Person als solcher. Insofern besteht hier eine klare Trennung („Mauer“). Die Gesamtheit der GmbH-Gesellschafter – und grundsätzlich sogar die einfache Gesellschaftermehrheit i.S.d. § 47 Abs. 1 GmbHG – kann dem Geschäftsführer zwar gemäß § 37 Abs. 1 GmbHG Weisungen erteilen und ihn notfalls nach ordnungsgemäßer Anberaumung einer Gesellschafterversammlung durch Beschluss abberufen. Dies ändert aber nichts daran, dass der Gesellschaftergesamtheit der GmbH die unmittelbare Verfügungs- und Vertretungsbefugnis fehlt. Die Gesellschaftergesamtheit kann nur mittelbar über das Willensbildungsorgan der Gesellschafterversammlung Einfluss auf die Person des Geschäftsführers und dessen Handeln nehmen. Die GmbH handelt damit nur durch den von der Gesellschafterversammlung (bzw. vom Aufsichtsrat) bestellten Geschäftsführer, während die Gesamthandsge­sellschaft aufgrund des Prinzips der Selbstorganschaft auch immer mit „gesamter Hand“, das heißt durch alle Gesellschafter mit Wirkung für und gegen die Gesellschaft, handeln kann.49 Bei der juristischen Person besteht das Vertretungsorgan (­Geschäftsführer oder Vorstand) selbständig neben der Mitgliederversammlung als Willensbildungsorgan und der juristischen Person als solcher. Unerheblich für die Verselbständigung der Mitgliederversammlung gegenüber der juristischen Person ist, ob die Mitglieder vollzählig zum Zwecke der Beschlussfassung erschienen sind oder nur eine für die Beschlussfähigkeit erforderliche Anzahl vorhanden ist. 5. Folgerungen für die Unterscheidung zwischen rechtsfähiger Personengesellschaft und juristischer Person Die Gesellschaftergesamtheit der Personengesellschaft kann unabhängig von gesellschaftsvertraglichen Vertretungsregelungen jederzeit mit Wirkung für und gegen die Gesellschaft nach außen Rechtsgeschäfte mit Dritten abschließen und ohne Einhaltung von gesellschaftsvertraglichen Zustimmungserfordernissen über das Gesellschaftsvermögen verfügen . Im Recht der Personengesellschaften existieren zum einen keine von den Interessen der Gesamtheit der Gesellschafter abweichenden Interessen der rechtsfähigen Gesellschaft als solcher. Zum anderen sind bei dieser Gesellschaftsform keine Gesellschaftsorgane vorhanden, die Interessen der „Gesellschaft“ gegen die „Gesellschafter in ihrer Verbundenheit“ geltend machen könnten. Die Interessen der Gesellschaft sind völlig identisch mit den Interessen der Gesellschafter in ihrer gesamthänderischen Verbundenheit, also der Gesellschaftergesamtheit. Der gesamthandsrechtliche Leitsatz, nach dem die rechtsfähige Personengesellschaft nichts anderes ist als die Gesellschafter in ihrer Verbundenheit, hat daher nicht nur theoretische Bedeutung.

49 Vgl. zum Prinzip der Selbstorganschaft BGHZ 36, 292; Schäfer in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2017, § 709 BGB Rz. 5; Habersack in Staub, 5. Aufl. 2009, § 125 HGB Rz. 7 ff.; Steitz in Henssler/Strohn, 4. Aufl. 2019, § 125 HGB Rz. 7; Wertenbruch in Westermann/Wertenbruch, Handbuch Personengesellschaften, Stand: Mai 2018, Rz. I 234.

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Bei der juristischen Person besteht dagegen, wie am Beispiel der mit der Personengesellschaft am ehesten vergleichbaren GmbH deutlich zu sehen ist, keine Identität zwischen der rechtsfähigen Person als solcher und der Gesamtheit ihrer Mitglieder. Die Gesellschafter – auch alle gemeinsam – stehen hier als Willensbildungsorgan nur neben den anderen Organen der GmbH, insbesondere den organschaftlichen Vertretern (Geschäftsführern). Die rechtlichen Befugnisse der Gesellschafter im Verhältnis zur auch gegenüber ihnen verselbständigten juristischen Person und den anderen Organen ergeben sich aus dem Gesetz und dem Statut. Daher können Gesellschafter  – auch als Gesamtheit – ihre Rechtsposition gegenüber der juristischen Person als solcher und den anderen Organen nur im Rahmen der von Gesetz oder/und Satzung vorgegebenen Regularien verändern. Mit „gesamter Hand“ können die GmbH-Gesellschafter zwar letztlich ihren Willen auch in Bezug auf den Inhalt der Satzung durchsetzen. Sie müssen dies aber im Wege einer Beschlussfassung in einer ordnungsgemäß einberufenen Gesellschafterversammlung mit der gesetzlich oder statutarisch vorgesehenen Mehrheit bewerkstelligen. Die Verselbständigung der juristischen Person nach innen gegenüber ihren Organen und die bei der Personengesellschaft stattdessen vorliegende Identität von Gesellschaft und Gesamtheit der Gesellschafter hat aber keinen Einfluss auf die nach außen bestehende Fähigkeit, Rechte und Pflichten zu erwerben, so dass für eine Differenzierung zwischen Rechtsfähigkeit und „Teilrechtsfähigkeit“ in Abweichung vom Wortlaut des § 14 BGB und der Terminologie von BGHZ 146, 341 kein nachvollziehbarer Rechtfertigungsgrund besteht.

VIII. Die Verfügungsbefugnis der „Gesellschafter in ihrer gesamt­ händerischen Verbundenheit“ in der Zwangsvollstreckung gegen die Personengesellschaft – § 736 ZPO und § 124 Abs. 2 HGB Nach § 50 Abs. 1 ZPO ist parteifähig, wer rechtsfähig ist. Die inzwischen anerkannte Rechtsfähigkeit der BGB-Gesellschaft führt daher zwangsläufig zur Parteifähigkeit im zivilprozessualen Erkenntnisverfahren. Der dem hier kritisierten Begriff „Teilrechtsfähigkeit“ eigentlich korrespondierende Begriff „Teilparteifähigkeit“ findet sich weder im Schrifttum noch in der Rechtsprechung, und schon gar nicht im Gesetz. Da bei der BGB-Gesellschaft alle Gesellschafter gemeinsam (mit „gesamter Hand“) über das Gesellschaftsvermögen verfügen können, genügt nicht nur ein Vollstreckungstitel gegen die Gesellschaft als solche, sondern auch ein Gesamtschuldtitel gegen alle Gesellschafter für die Zwangsvollstreckung in das Gesellschaftsvermögen.50 Der materiell-­ rechtlichen Verfügungsbefugnis aller Gesellschafter gemeinsam entspricht die grundsätzliche Zulässigkeit der unmittelbaren Vollstreckung eines Titels gegen alle einzelnen Gesellschafter (Gesamtschuldtitel) in das Gesellschaftsvermögen. Eine andere Frage ist, ob neben einem auf der persönlichen Haftung der Gesellschafter für eine Gesellschaftsschuld beruhenden Gesamtschuldtitel auch ein derartiger Titel über eine ge-

50 Vgl. dazu Wertenbruch, Haftung von Gesellschaften und Gesellschaftsanteilen in der Zwangsvollstreckung, 2000, S. 145 ff.

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meinsame Privatschuld der Gesellschafter genügt.51 § 736 ZPO schließt schon dem Wortlaut nach die Parteifähigkeit der BGB-Gesellschaft nicht aus.52 Denn ein Titel gegen die rechts- und parteifähige BGB-Gesellschaft ist ein Titel gegen „alle Gesellschafter in ihrer gesamthänderischen Verbundenheit“.53 Mit §  736 ZPO wollte der Gesetzgeber nur ausschließen, dass der Gläubiger eines einzelnen Gesellschafters – wie bei der Bruchteilsgemeinschaft – unmittelbar in Gegenstände des Gesellschaftsvermögens vollstrecken kann.54 Auch bei der OHG/KG können zwar alle Gesellschafter gemeinsam jederzeit und ohne Beachtung von Förmlichkeiten über das Vermögen der Gesellschaft verfügen. Ein Gesamtschuldtitel gegen alle Gesellschafter ist hier aber aufgrund der von § 736 ZPO abweichen Spezialregelung des § 124 Abs. 2 HGB ausgeschlossen. Bei der juristischen Person fehlt schon die materiell-rechtliche Verfügungsbefugnis der Gesamtheit der Mitglieder als Ansatzpunkt für eine §  736 ZPO entsprechende Vollstreckungsregelung.

IX. Zusammenfassung Der wesentliche Unterschied zwischen der juristischen Person und der rechtsfähigen Personengesellschaft zeigt sich nicht bei der Rechtsfähigkeit nach außen, sondern im Innenverhältnis, soweit es um die Verselbständigung der Gesamtheit der Gesellschafter und der organschaftlichen Vertreter gegenüber der rechtsfähigen Gesellschaft als solcher geht. Bei der Personengesellschaft können alle Gesellschafter gemeinsam, also „mit gesamter Hand“, jederzeit ohne Einhaltung von Förmlichkeiten über das Gesellschaftsvermögen verfügen. Insoweit fehlt eine strikte Trennung zwischen der Gesamtheit der Gesellschafter und der Gesellschaft als solcher. Es fehlt hier eine „Mau51 Verneinend BGH, NJW 2008, 1378 Rz. 10; OLG Hamburg, Rpfleger 2011, 426 f.; OLG Thüringen v. 26.06.2014 – 3 W 258/14, juris - Rz. 3; Eckardt in NK.BGB, 3. Aufl. 2016, Anh. zu § 705 BGB Verfahrensrecht Rz. 45; Hadding/Kießling in Soergel, 13. Aufl. 2011, § 714 BGB Rz. 56; Lackmann in Musielak/Voit, 15. Aufl. 2018, § 736 ZPO Rz. 4; K. Schmidt, NJW 2001, 993, 1000 f.; K. Schmidt, NJW 2003, 1097 f.; bejahend OLG Schleswig, NJOZ 2006, 852, 853; Heßler in MünchKomm. ZPO, 5. Aufl. 2016, § 736 ZPO Rz. 27; Seibel in Zöller, 32. Aufl. 2018, § 736 ZPO Rz. 3; Wertenbruch, Haftung von Gesellschaften und Gesellschaftsanteilen in der Zwangsvollstreckung, 2000, S. 135 ff.; Wertenbruch, NJW 2002, 324, 328; Wertenbruch in Westermann/Wertenbruch, Handbuch Personengesellschaften, Stand: Mai 2018, Rz. I 774, 864 f.; offengelassen von BGH, NJW 2007, 1813, 1814. 52 Vgl. BGHZ 146, 341, 353 ff.; Wertenbruch, Haftung von Gesellschaften und Gesellschaftsanteilen in der Zwangsvollstreckung, 2000, S. 122 ff., 135; Seibel in Zöller, 32. Aufl. 2018, § 736 ZPO Rz. 3; Wertenbruch in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, 4. Aufl. 2019, § 105 HGB Rz. 19; s. aber auch Schäfer in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2017, § 705 BGB Rz. 318. 53 Vgl. BGHZ 146, 341, 353 ff. = NJW 2001, 1056, 1059 ff.; Seibel in Zöller, 32. Aufl. 2018, § 736 ZPO Rz. 3; Wertenbruch, Haftung von Gesellschaften und Gesellschaftsanteilen in der Zwangsvollstreckung, 2000, S.  135; Wertenbruch in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, 4.  Aufl. 2019, §  105 HGB Rz.  19; Wertenbruch in Westermann/Wertenbruch, Handbuch Personengesellschaften, Stand: Mai 2018, Rz.  I 865; Ulrici in BeckOK.ZPO, 31.  Edition 1.12.2018, § 736 ZPO Rz. 8. 54 Vgl. BGHZ 146, 341, 353 ff.; Wertenbruch, Haftung von Gesellschaften und Gesellschaftsanteilen in der Zwangsvollstreckung, 2000, S. 123 ff.

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er“, die bei der juristischen Person zwischen ihr und der Gesamtheit der Mitglieder vorhanden ist. Daher können bei der juristischen Person alle Mitglieder gemeinsam nicht unmittelbar über das Vermögen dieser Person verfügen. Diese Verfügungsbefugnis steht nur dem durch die Mitgliederversammlung oder ein anderes Gremium (z.B. Aufsichtsrat nach MitbestG) bestellten Vertretungsorgan zu. Die Verselbständigung der juristischen Person gegenüber der Gesamtheit der Mitglieder und den organschaftlichen Vertretern begründet aber im Vergleich zu der im Innenverhältnis nicht gegenüber der Gesellschaftergesamtheit verselbständigten Personengesellschaft kein „Mehr“ in Bezug auf die Rechtsfähigkeit im Außenverhältnis. Der mit der gesetzlichen Regelung des § 14 BGB und der Entscheidung BGHZ 146, 341 nicht im Einklang stehende Begriff „Teilrechtsfähigkeit“ kann sich zum einen nicht auf eine rechtfertigende dogmatische Grundlage stützen. Zum anderen ist er ungeeignet, den im Innenverhältnis in der Tat bestehenden Unterschied zu verdeutlichen, weil er ­vielmehr den Eindruck erweckt, die Rechtsfähigkeit der Personengesellschaft im ­Außenverhältnis sei nur partiell gegeben.

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Die Bedeutung von CSR-Compliance bei Gewährleistung und Vertragsgestaltung im M & A-Geschäft Inhaltsübersicht I. Zur Fragestellung 1. Die CSR-Szene 2. M & A-Verträge über Unternehmen im CSR-sensiblen Bereich II. Zur Bestimmung von Unternehmensmängeln 1. Subsumtion unter das Gewährleistungsrecht

2. Relevanz der CSR für die Gewähr­ leistung? 3. Beschränkungen der Verantwortung III. Vorsorgende Vertragsgestaltung im M & A-Geschäft 1. Grundsätze 2. Lösungsansätze in der Rechtspolitik?

I. Zur Fragestellung 1. Die CSR-Szene Der Titel des vorliegenden Beitrags dürfte bei Kennern der – vielleicht noch nicht ins allgemeine Bewusstsein gelangten – Corporate Social Responsibility Erstaunen oder auch Kopfschütteln hervorrufen: Wie sollen die unter CSR zu verstehenden „normativ-kulturellen Sollerwartungen an Unternehmen und Unternehmensführer“, deren Rechtsverbindlichkeit auf Grund ihrer Herkunft aus zur Steuerung von unternehmerischen Entscheidungen unzureichendem Völkerrecht fragwürdig ist,1 zumal dem Begriff noch immer nachgesagt wird, rechtlich keinen eindeutigen Inhalt zu haben,2 im Rahmen der Gestaltung und Erfüllung eines ganz privaten und auf klare Bestimmungen der vereinbarten Rechte und Pflichten angewiesenen Rechtsgeschäfts, das sich nach nationalem Recht zu richten hat, Beachtung fordern und finden können? Mancher erinnert sich allerdings an eine Bezeichnung der CSR durch die EU-Kommission aus dem Jahre 2001, nach der es um ein Verhaltenskonzept ging, das den Unternehmen ermöglichen sollte, auf freiwilliger Basis vielfältige soziale (wohl auch schon: ökologische) Belange in ihre Tätigkeit und in die Wechselbeziehungen mit den Stakeholdern zu integrieren.3 Das hörte sich aber noch nicht wie eine Rechtsregel mit konkreten Auswirkungen auf unternehmerische Entscheidungen an, auch noch nicht in einer im Jahr 2011 bekanntgemachten allgemeiner gehaltenen Mitteilung der

1 Formulierung von Spießhofer, NZG 2018, 441; eingehend schon dies., Unternehmerische Verantwortung, 2017, S. 34 f. 2 Krajewski, ZGR 2018, 272. 3 COM, 2001, 366 endg.

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Kommission an das Europäische Parlament,4 die im Zusammenhang einer Strategie für soziale Verantwortung von Unternehmen deren Verantwortlichkeit für Auswirkungen ihrer Tätigkeit auf die Gesellschaft, also das Gemeinwesen, anmahnte. Das könnte immerhin schon ökomische und zur „Wirtschaftsethik“ gehörende ökologische (auch: verbraucherorientierte) und darüber hinaus menschenrechtliche Belange umfassen5 und knüpft so an die schon früher bekannten Forderungen zur „Nach­ haltigkeit“ unternehmerischer Tätigkeit für die Lebensbedürfnisse der Menschen, besonders künftiger Generationen6 an, die zunächst nur „soft law“ gewesen sein mögen, sich inzwischen aber, von EU-Richtlinien und von ihrer nationalen Umsetzung aufgegriffen, zu einem „smart mix“ aus soft und hard law entwickelt haben könnten, damit positive Zielsetzungen (Gutes tun) und Verbote („doing no harm“) verbindend.7 Die Verwunderung über die einleitend angedeutete Fragestellung dürfte angesichts dieser Einschätzung der Rechtsqualität der CSR eher noch gewachsen sein; daher muss noch ein Blick auf die bisher im nationalen wie im internationalen Bereich aufgestellten, teils noch der allgemeinen Corporate Governance zugehörigen, aber auch schon auf CSR weisenden Zielvorstellungen verschiedener auf Unternehmensrecht blickender „Normsetzer“ geworfen werden. Zu nennen sind etwa auf UN-Leitprinzipien zurückgehende OECD-Leitsätze sowie der „ISO- 26 000“-Leitfaden zur gesellschaftlichen Verantwortung, die also aus ursprünglich völkerrechtlichen Quellen in die genannte EU-Strategie vom Jahre 2011 eingegangen sind8 und damit eine etwas andere Rechtsqualität angenommen haben, ohne dass man allerdings schon sagen könnte, dass für die Einhaltung dieser Erwartungen eine Compliance ähnlich dem Zwang zur Einhaltung von Rechtsnormen und Kontrolle dieses Rechtsgehorsams gefordert werden könnte. Immerhin würden sich als Vorgaben für konkrete unternehmerische Konzepte, vielleicht auch schon Einzelentscheidungen, die Belange von Mitarbeitern und Verbrauchern eignen, aber auch der Schutz der Umwelt oder tendenziell die Verhinderung von „modern slavery“, speziell starker Frauenarbeit und besonders – letzteres durch ein UN-Übereinkommen gestärkt – von Kinderarbeit (nicht nur in weniger entwickelten Völkern und Staaten). Der letztere Aspekt hat bekanntlich bereits zu Vorwürfen an Unternehmensleiter geführt, die ihn dem Gewinninteresse untergeordnet haben sollten,9 weist damit also ein gesellschaftsrechtliches Konfliktpotential auf. Dass sich hieraus die Notwendigkeit einer echten CSR-compliance ableiten ließe, wird zur Zeit noch verbreitet verneint, wie es auch für die „Nachhaltigkeit“ 4 COM (2011) 681 S. 7; zur Entwicklung auch Spießhofer in Hauschka/Moosmayer/Löscher, Corporate Compliance, 3. Aufl. 2016, 2. Abschn. § 11. 5 Spießhofer, NZG 2018, 442. 6 Zur Entwicklung von Nachhaltigkeit zur CSR und zur Zuordnung dieser Verhaltensanforderungen in die Corporate Covernance eingehend Beisheim in FS Stilz, 2014, S. 45, 48 f.; zu den Verbindungen zwischen der „Nachhaltigkeitsberichterstattung“ zur späteren CSR-Richtlinie und ihrer Umsetzung Nietsch, NZG 2016, 1330. 7 Auch dazu Spießhofer, NZG 2018, 442. 8 Nachweis bei Spießhofer, NZG 2018, 442, 444. 9 Spindler in FS Hommelhoff, 2012, S. 1133 ff.; Mülbert, AG 2009, 766, 768; H.P. Westermann in FS Stilz, 2014, S. 689, 707 ff.

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galt,10 aber das verhindert nicht die mittelbare Einwirkung öffentlicher Berichte und Diskussionen über menschenrechtlich bedenkliche Praktiken und Umstände auf die Unternehmensführung, die herbeigeführt oder nicht inhibiert zu haben auch ohne echte compliance-Verstöße den dafür Verantwortlichen zum Vorwurf gereichen kann. In Deutschland und Europa hat es normativ begründete, wenn auch in ihrer rechtlichen Qualität und Wirkung nicht völlig deutliche Wendungen in die letzte Richtung gegeben. So begründet Art. 4.1.3. S. 1 DCGK eine Loyalitätspflicht eines AG-Vorstandes und über § 161 AktG die Pflicht zur Erklärung, dass die im Kodex enthaltenen Empfehlungen (einer Regierungskommission) befolgt wurden und, wenn dies nicht geschah, warum es unterblieb. Dieses „comply or explain“ betrifft also die Beachtung des in Art. 4.1.1. des DCGK genannten Ziels der Vorstandstätigkeit, nämlich des Unternehmensinteresses unter Berücksichtigung der Belange der Aktionäre, der Ar­ beitnehmer und der sonstigen dem Unternehmen verbundenen Gruppen (eben den Stakeholdern) und schlägt sich auch in einem Eingehen auf nicht-finanzielle Leistungsindikatoren in der Lageberichterstattung11 nieder, was auch mit den Konzepten der EU-Kommission in Einklang stand.12 Indessen war die demokratische Legiti­ mation der den DCKG erlassenden Regierungskommission nicht so stark, dass die Empfehlungen bereits unmittelbare Rechtspflichten schaffen konnten,13 obwohl die Verletzung des § 161 AktG14 sowie als Folge davon einer einzelnen konkreten Sorgfaltspflicht eine Innenhaftung der Organmitglieder15 oder die Anfechtbarkeit von Entlastungsbeschlüssen16 nach sich ziehen kann. Die Bindungswirkung dieser Regelungen ist also der eines Gesetzes zumindest vergleichbar,17 obwohl nach wie vor z.B. das in Abs. 2 Satz 2 der Präambel zum DCGK benutzte Leitbild des „ehrbaren Kaufmanns“ für eine rechtssichere Handhabung zu abgehoben erscheint18 und die Sorge begründet, dass das geltende Recht durch moralische Anforderungen überlagert werden könnte.19

10 Beisheim in FS Stilz, S. 48 f.; Spindler, NZG 2018, 445; Fleischer, AG 2017, 509. 11 Zur Überleitung der unionsrechtlichen Ansätze zu einer CSR-Berichterstattung im deutschen Bilanzreformrecht Hennrichs, ZGR 2018, 208 ff.; zur Legitimation dieser Normierungen aufgrund internationaler Rahmenwerke für eine CSR-Berichterstattung Krajewski, ZGR 2018, 271 ff. 12 Auch dazu Beisheim in FS Stilz, S. 56 ff., 59, 60. 13 BGHZ 180, 9 = NZG 2009, 342; Hüffer/Koch, § 161 AktG Rz. 3, 25; Semler in MünchKomm. AktG, § 161 Rz. 29; differenzierend Runte in Bürgers/Körber, § 161 AktG Rz. 29, 31. 14 Zu ihrer Qualifikation als Gesetzesverstoß BGHZ 182, 272, 280. 15 Kiethe, NZG 2003, 559, 564; Schüppen, ZIP 2002, 1269, 1271; Ulmer, ZHR 106 (2002), 150, 160 f. 16 Seibt, AG 2002, 249, 254; Runte in Bürgers/Körber, § 161 AktG Rz. 22. 17 Hoffmann-Becking, ZIP 2011, 573; Spießhofer, NZG 2018, 443. 18 v. Werder in Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder, DCGK, 7. Aufl. 2018, Präambel Rz. 112; Vorbehalte gegen die Brauchbarkeit schon beim DAV-Handelsrechtsausschuss, NZG 2017, 57; Fleischer, AG 2017, 515. 19 Warnend Fleischer, DB 2017, 2018; Nikoleyczik/Graßl, NZG 2017, 162; Haarmann, Der Aufsichtsrat 2017, 17.

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Dieselben Überlegungen müssen wohl angestellt werden, wenn es darum gehen sollte, eine CSR-Compliance einzuführen.20 Aber so weit muss es vielleicht gar nicht kommen, nachdem auf Grund der CSR-RiL 2014, 95 EU und ihrer Umsetzung ins deutsche Recht durch das Gesetz vom 11.4.2017 von kapitalmarktorientierten Großunternehmen nach § 289 Abs. 3 Nr. 1 HGB zwingend über nicht-finanzielle Umstände, besonders die Beachtung einzelner Verhaltensanforderungen im Hinblick etwa auf Umwelt- und Arbeitnehmerbelange, berichtet werden muss, was – freilich etwas zugespitzt  – als Menschenrechtsverantwortlichkeit der Unternehmen bezeichnet wird21 und ein – zentraler – Teilaspekt der „Wirtschaftsethik“ ist.22 Im neueren Schrifttum ist demgemäß von einem weiteren Compliance-System oder von Erreichung von CSR durch Ausweitung der nicht-finanziellen Informationen die Rede,23 was auf soft law oder dem hier schon erwähnten smart mix beruhen mag, aber unübersehbare Auswirkungen auch und gerade auf alltägliche unternehmerische Entscheidungen haben kann und soll, etwa bei der Produktion und Bestellung für Europa bestimmter Erzeugnisse und Rohstoffe in Ländern mit schwierigen klimatischen Verhältnissen und mit hohem Bedarf der Bevölkerung nach bezahlter Arbeit,24 zumal das Gesetz nicht nur zur Berichterstattung zu diesen Aspekten zwingt, sondern auch die Entwicklung und Vorstellung von eigenen „Konzepten“ des Unternehmens verlangt. 2. M & A-Verträge über Unternehmen im CSR-sensiblen Bereich Dass internationale oder nationale auf Corporate Governance blickende Verhaltens­ anforderungen direkt die Entscheidungen über Kauf oder Verkauf eines in dem insoweit sensiblen Bereich tätigen Unternehmens ansprechen, ist einstweilen nicht recht ersichtlich, obwohl die Reaktionen im Aufsichtsrat, spätestens in der Hauptversammlung einer AG, auf die Einordnung eines hauptsächlich durch billige Kinder- und Frauenarbeit im Ausland Geld verdienenden Unternehmens in eine Unternehmensgruppe leicht vorstellbar sind. Dasselbe gilt für die Feststellung, dass in Bezug auf solche Umstände, über die ja auch in der Unternehmensgruppe berichtet werden muss, ein vorschriftsmäßiges reporting unterblieben ist. Denn Gegenstand der Berichtspflicht ist auch das unternehmerische Verhalten von in einer „Lieferkette“ beteiligten Zulieferern, die auch nur mittelständischen Zuschnitt haben können.25 Das führt dann weiter dazu, dass auch vertragliche Zusagen eines in einem CSR-relevanten Feld tätigen Unternehmens, auch eines in einer Lieferkette tätigen, das Bild eines 20 Eingehend dazu Spießhofer, NZG 2018, 445 ff. 21 Dazu etwa Mansel, ZGR 2018, 439. 22 Hierzu und zu anderen Ausprägungen der Wirtschaftsethik im Gesellschaftsrecht H.P. Westermann, in FS Stilz, S. 689, 703 ff. 23 Vetter, ZGR 2018, 338  ff.; Hommelhoff, NZG 2017, 1361;Hennrichs/Pöschke, NZG 2017, 121; zur Entwicklung von Corporate Social Responsibility durch Ausweitung nicht finan­ zieller Informationen Roth-Mingram, NZG 2015, 1341. 24 Hennrichs, ZGR 2018, 215; zu „faktischen Steuerungswirkungen“ trotz der Unverbindlichkeit der bisher bekannten internationalen CSR-Standards Krajewski, ZGR 2018, 271 ff.; Simons, ZGR 2018, 315, 318. 25 Zu den Einzelheiten Rühmkorf, ZGR 2018, 410 ff.; zur Ausdehnung auf KMU auch Hennrichs, ZGR 2018, 210.

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für ein M & A-Geschäft interessanten Ziel-Unternehmens mitbezeichnen können.26 Weitere Konsequenz könnte dann sein, dass Verstöße bei der Verwaltung des target gegen Berichtspflichten oder schon das bloße Auftreten von CSR-Tatbeständen trotz des über § 161 AktG nicht hinausgehenden Sanktionssystems die Rechte und Pflichten bei der Vereinbarung eines M & A-Geschäfts und bei seiner Erfüllung beeinflussen, was freilich angesichts der im vorigen dargestellten fragwürdigen Legitimation der regelsetzenden Körperschaften und Institutionen noch mit einem Fragezeichen versehen bleibt. Dem ist im folgenden auch mit Rücksicht auf die oft beklagte Unklarheit und die fehlende Genauigkeit von Regeln wie auch des Leitbilds eines „ehrbaren Kaufmanns“ im Geltungsbereich der bürgerlich-rechtlichen Ordnung des Unternehmenskaufs nachzugehen, wobei natürlich die Änderungen durch die zwingenden und die gesamte Lieferkette erfassenden Offenlegungspflichten des HGB zu beachten sind.

II. Zur Bestimmung von Unternehmensmängeln 1. Subsumtion unter das Gewährleistungsrecht Nur auf den ersten Blick relativ unproblematisch wird unter diesen Umständen ein Unternehmensmangel i.S.d. §§ 434, 453 BGB27 in einer Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit des von Seiten des zum Verkauf stehenden Unternehmens gemäß den gesetzlichen Pflichten erstatteten Nachhaltigkeitsberichts zu sehen sein, da im Rahmen der hierbei darzulegenden unternehmerischen Konzepte, wenn wirklich auf die nicht-finanziellen Zielsetzungen und Aktivitäten eingegangen wird, sowie der Angaben über Geschäftsverlauf und -ergebnisse auch Schlüsse auf die Beurteilung der Unternehmenstätigkeit auf ihre Vereinbarkeit mit einer als „ethisch“ zu bezeichnenden Unternehmensverantwortung gezogen werden können. Allerdings knüpft das deutsche Gesetz (§ 289c Abs. 4 HGB) eine Sanktion nicht an die unvollständige oder fehlerhafte Berichterstattung, sondern an das Fehlen eines Konzepts zur Beachtung der CSR-Belange, das dann im Bericht begründet und erläutert werden muss. Da hieraus womöglich auch heute noch geschlossen werden kann,28 rechtlich verbindlich sei nur die Reporting-Compliance, nicht die Verfolgung eines materiellen CSR-Konzepts, die dann freiwillig geschehe, bedarf es doch einer vertiefenden Begründung, wenn aus dem Fehlen eines Konzepts, das zu erstellen und dessen Auslassung dann zu begründen war, ein Unternehmensmangel hergeleitet werden soll. Dass dieses Problem sich stellt, hängt damit zusammen, dass wir es im bürgerlichen Recht, auch wenn es sich um richtige Vertragserfüllung handelt, gewöhnlich mit hard law und nicht mit soft law zu tun haben, zu dem die CSR-Regeln wenigstens teilweise noch gezählt werden. Wenn sich eine Äußerung im Bericht über nicht-finanzielle Umstände der Unternehmenstätigkeit auf die Einhaltung nationaler und internationaler Verhaltensregeln, vielleicht auch nur auf das Bestehen einer diesbezüglichen unternehmensinternen 26 Zu dieser Figur der Vertrags-CSR Simons, ZGR 2018, 320. 27 Dazu H.P. Westermann in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2019, § 453 Rz. 29 ff. 28 Simons, ZGR 2018, 319 unter Bezugnahme auf Fleischer, DB 2017, 2020; Schön, ZHR 180 (2016), 279, 281; Roth-Mingram, NZG 2015, 1341, 1343.

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compliance bezieht, wird man im Hinblick auf die Kaufgewährleistung eine auch nur konkludente Bezugnahme des Verkäufers auf diese Äußerung als Beschaffenheitsvereinbarung i.S.d. § 434 BGB betrachten können, die sich demnach nicht nur – wie die viel zitierte Äußerung der VW-AG zur Einhaltung von Abgasnormen in ihrem Bericht 201329 – auf die einzelnen Produkte der Gesellschaft oder des Konzerns bezieht, sondern die, auf ein Unternehmen bezogen, seine Freiheit von Mängeln begründet. Der Unternehmenskäufer hat dann nicht nur bezüglich der „gewöhnlichen“ Erwartungen eines Käufers einen Anhaltspunkt für Gewährleistungsansprüche, sondern kann sich vielleicht auch schon auf eine Beschaffenheits- oder Verwendungszweckvereinbarung berufen. Nun ist die obligatorische Berichterstattung (§ 289b HGB) als hard law zu qualifizieren, ein Unternehmenskäufer kann davon ausgehen, dass über CSR-relevante Aspekte der Tätigkeit des Zielunternehmens korrekt berichtet, u.U. sogar das Fehlen eines diesbezüglichen Konzepts, auch in Bezug auf aktuelle Vorkommnisse im Unternehmen oder in der Lieferkette, erläutert wird. Darüber hinaus ist schon vor der Umsetzung der CSR-RiL eine Pflicht der Gesellschaft zur Berücksichtigung von Gemeinwohlbelangen bejaht worden,30 und nach diesem Zeitpunkt ist kaum mehr daran vorbeizukommen, dass auch außerhalb des Anwendungsbereichs unmittelbar verpflichtender Standards die Reputation eines Unternehmens bei Bekanntwerden von CSR-Verstößen leiden kann. Als überzeugende Beispiele werden genannt: die Herstellung von Kinderkleidern von Kinderhand, Vertrieb von Bio-Lebensmitteln aus Quellen, die Tierhaltungs-Standards nicht einhalten;31 ein ähnliches Problem kann auch das Operieren mit „Konfliktmineralien“ sein.32 Da die von dem Unternehmen vertriebenen Produkte wegen solcher Umstände, etwa unfairer Arbeitsbedingungen, im Extremfall sogar durch Einsatz von Korruption zur Erlangung einer Produktionserlaubnis, bei ihrer Herstellung nicht unbedingt als sachmangelhaft bezeichnet werden könnten, kommt hier ein weiterer Gesichtspunkt in den Blick, nämlich die Frage, ob CSR-Verstöße, wenn sie bekannt werden, nicht das Ansehen des Unternehmens und seiner Produkte bei der (potentiellen) Kundschaft, möglicherweise schlechthin die „Marktchancen“ und damit „die Reputation“ antasten. Diese ist neben dem hier nicht in Betracht kommenden Unternehmenrpersönlichkeitsrecht als zu schaffendes und zu bewahrendes Rechtsgut des Unternehmens zu qualifizieren.33 Derartige Reputationsschwächen können zu Eigenschaften eines Unternehmens werden, und zwar nicht nur bei den sehr großen, der gesetzlichen Berichtspflicht unterliegenden Unternehmen, die auch nicht eigentlich im Vordergrund der M & A-Praxis stehen. Es 29 Im Nachhaltigkeitsbericht 2013 des VW-Konzerns stand zu lesen, der Konzern werde demnächst „das beste und nachhaltigste Automobilunternehmen der Welt“ werden (dazu auch Hennrichs, ZGR 2018, 207). 30 Hommelhoff, NZG 2015, 1329, 1330. 31 Simons, ZGR 2018, 322; zu den weltweiten Maßnahmen gegen Kinderarbeit zuletzt Spießhofer, NZG 2018, 445 f. 32 Spießhofer, Unternehmerische Verantwortung, 2017, S. 319 ff. 33 Hierzu unter Gesichtspunkten des Schutzes der Reputation und zu den Merkposten bei unternehmerischen Entscheidungen Seibt, DB 2015, 170; Klöhn/Schmolke, NZG 2015, 689 ff.; H.P. Westermann in FS Karakostas, Bd. II, 2017, S. 1531 ff.

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wäre auch widersprüchlich, einerseits, was heute kaum noch zu bestreiten ist, eine Pflicht des Vorstandes zur Beachtung der CSR-Standards anzunehmen,34 aber nicht daraus zu schließen, dass der Käufer im Sinne des § 434 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BGB schon gewöhnlich eine die Reputation des Zielunternehmens nicht gefährdende Handhabung der die soziale Verantwortung des Unternehmens ausmachenden Umstände der Geschäftstätigkeit erwarten kann. Er wird dabei allerdings stets zu berücksichtigen haben dass die Pflicht zur Entwicklung und Durchführung des auf CSR-Regeln ausgerichteten und damit die Reputation des Unternehmens schützenden unterneh­ merischen Konzepts nach verbreiteter Ansicht ein ziemlich weit durch die Business-­ Judgment-Rule geschütztes Beurteilungs- und Entscheidungsermessen eröffnet, freilich auch mit der Möglichkeit einer Ermessensreduzierung auf Null,35 in welchem Fall ein ethisches Verhalten erzwungen werden kann, das die CSR-Regel selber nicht erreichen konnte. Diesen Aspekt wird auch derjenige nicht ganz außer acht lassen können, der zur Vermeidung der Schwierigkeiten bei der Feststellung eines Unternehmensmangels im strengen dogmatischen Sinn auf die aus den Umständen und § 242 BGB abgeleiteten Aufklärungs- und Informationspflichten der auf Seiten des Unternehmensverkäufers tätigen Personen ausweicht, was bekanntlich häufig erfolgversprechend ist.36 2. Relevanz der CSR für die Gewährleistung? Dies führt zu der einleitenden Betrachtung zur „CSR-Szene“ zurück, und zwar in Gestalt der diesmal aus der Praxis kommenden Frage, ob sich die an sich für eine freiwillige Akzeptanz geeigneten CSR-Standards ohne Prüfung ihres Reputationsgewichts für eine Übernahme als zwingende Regeln privatwirtschaftlichen Handelns aufgrund demokratischer und eventuell international wirkender Normsetzung eignen. Diese allgemeine Frage gewinnt an Gewicht durch den manchmal „anmaßenden Inhalt“ dieser Regeln,37 deren Wirkung auf die Reputation des Unternehmens dann auch nicht mehr selbstverständlich ist. Ein Beispiel hierfür sind Forderungen, die verhindern wollen, dass aus der Vermarktung bestimmter Rohstoffe und Bodenschätze Einnahmen für Bürgerkriegsparteien in Zentralafrika entstehen. In der Tat erscheint es zweifelhaft, ob durch solche Einflussnahmen auf Geschäftsinhalte oder -abschlüsse ernsthaft die Befriedung betroffener Gebiete oder das Unterbleiben von Menschenrechtsverletzungen gefördert werden kann;38 aber dass derartige Kontakte mit Bürgerkriegsparteien, solange sie nicht erkennbar positive Wirkungen haben, die Reputation eines Unternehmens beeinträchtigen können, muss bei den unternehmerischen Entscheidungen wohl doch einkalkuliert werden, besonders auch mit Rücksicht darauf, dass nicht selten Presseorgane ein (auch von Wettbewerbern inspiriertes) Gefallen daran finden könnten, ein Unternehmen deswegen öffentlich anzuprangern. Im Rahmen von M & A-Verhandlungen bleibt dann wohl doch nur: comply or explain; das 34 Näher Vetter, ZGR 2018, 338 f.; Bachmann, ZGR 2018, 231 ff. 35 Dazu wiederum Simons, ZGR 2018, 323. 36 H.P. Westermann in MünchKomm. BGB, § 453 Rz. 37, 38, speziell zu CSR § 434 Rz. 27. 37 Auch hierzu wieder Simons, ZGR 2018, 325, 326 f. 38 Spießhofer, Unternehmerische Verantwortung, 2017, S. 319, 322 f.

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läuft praktisch wieder auf den ja als Grund für Ansprüche des Käufers neben der gesetzlichen Mängelhaftung zentralen Gesichtspunkt der Aufklärungspflichtverletzung hinaus. Dabei bleibt es aber vielleicht nicht immer; es sind Fälle denkbar, in denen die Reputation eines Unternehmens darunter leiden kann, dass bestimmten bedenklichen Vorkommnissen nicht öffentlich entgegengetreten wurde. Man könnte hier etwa an den – am Ende allerdings anders gelaufenen – durch die deutsche Presse gegangenen Fall eines hiesigen Pharma-Unternehmens denken, das einem US-amerikanischen Bundesstaat vorwarf, das von dem Unternehmen hergestellte Kaliumchlorid in hoher Konzentration als Giftspritze einzusetzen,39 was als Gefährdung der „eigenen Reputation als Gesundheitskonzern“ betrachtet wurde. Das hat natürlich nichts mit gesellschaftlicher Verantwortung eines Unternehmens oder Gemeinwohlbelangen zu tun, wohl auch nicht mit den Menschenrechten des auf die Giftspritze Wartenden, zeigt aber doch, in welchem Maße nicht-finanzielle Aspekte der Unternehmenstätigkeit, hier allerdings von einem Abnehmer der Unternehmensprodukte ausgelöst, hohe Anforderungen an die Planung, u.a. von Geschäftsabschlüssen, begründen können. Wenn es aus der Sicht der vorliegenden Betrachtung freilich etwas am Rande geheißen hat, dass die Offenlegung von CSR-Aktivitäten nach dem Motto „Tue Gutes und rede darüber“ erfolge,40 so kann in einem Fall wie dem genannten eine öffentliche Stellungnahme geboten sein, um das soziale Erscheinungsbild des Unternehmens vor Schaden zu bewahren. Auf den Unternehmenskauf bezogen, ist die Annahme eines Unternehmensmangels, wenn eine deutliche Reaktion der Gesellschaft ausgeblieben ist, nicht fernliegend. Die Bedeutung der Aufklärung der Öffentlichkeit und auch eines eventuellen Interessenten für den Kauf des Unternehmens für spätere Gewährleistungsansprüche ist nicht gering. Dies kommt etwa in Betracht beim Verkauf eines Unternehmens, das zwar nicht unter die Größen-Kriterien der Berichtspflicht fällt, aber in einem CSR-­ sensiblen Bereich tätig ist. Allerdings ist die auf der Grundlage der §§ 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 und 280 Abs. 1 BGB entwickelte gesteigerte Aufklärungs- und Sorgfaltspflicht eines Unternehmensverkäufers41 ursprünglich vor allem zur Lösung des Problems herangezogen worden, das sich aus der Restriktion des Sachmangelbegriffs auf Umstände ergab, die der Kaufsache auf Dauer und zumeist physisch anhaften.42 Das wird inzwischen anders gesehen,43 so dass auf die Umweltbeziehungen der Kaufsache gerichtete Erwartungen des Käufers und damit also auch die Vorstellung der Parteien über die Eignung eines verkauften Unternehmens für die Zwecke des Kaufinteressenten, wenn sie enttäuscht werden, Gewährleistungsansprüche auslösen können. Einen gewissen praktischen Vorrang der Ansprüche wegen Aufklärungspflichtverletzung 39 FAZ v. 18.8.2018, S. 22: „Fresenius will Hinrichtung vor Gericht stoppen“; das angerufene amerikanische Gericht ist dem aber nicht gefolgt. 40 Mülbert, AG 2009, 766, 773; Simons, ZGR 2018, 330. 41 BGH GmbHR 2001, 516, 518; v. Woetdke, GmbHR 2017, 506. 42 BGH NJW 1970, 653; BGH NJW 1977, 1538; BGH ZIP 2000, 918; Willemsen, AcP 182 (1982), 515; zum Ganzen H.P. Westermann in MünchKomm. BGB, § 453 Rz. 23. 43 U. Huber, AcP 202 (2002), 179 ff.; Grigoleit/Herresthal, JZ 2003, 118 ff.

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begründet freilich die nach heutigem Gewährleistungsrecht, auch unter Einbeziehung von Schadensersatzansprüchen, einzuräumende Unmöglichkeit von Nachbesserungs- und Nacherfüllungsansprüchen des Käufers, und auch der Rücktritt des Käufers wird als untragbar eingestuft,44 so dass Schadensersatzansprüche in Gestalt des „kleinen Schadensersatzes“ sowie Kaufpreisanpassung im Vordergrund stehen.45 Allerdings dürfte die Berechnung eines Schadens oder eines Wertverlustes wegen Beschädigung der Reputation eines Unternehmens i.d.R. schwierig bis zu spekulativ sein; wenn das Unternehmen zur Zeit der Feststellung des Mangels bereits in die Regie des Käufers übergegangen ist, sollte sich der Verkäufer vielleicht am besten an einer  – u.U. wirksamen  – Aktivität zur Wiederherstellung der Reputation beteiligen müssen, hat daneben aber möglicherweise Umsatzeinbußen mit auszugleichen. Die durch die gesellschaftliche Verantwortung der Unternehmen aufgeworfenen Rechtsfragen sind trotz ihrer Ursprünge im Nachhaltigkeitspostulat noch ziemlich neu, jedenfalls im Hinblick auf die Bewältigung von Unternehmensmängeln.46 Dass diesen Dingen aber auf den Grund gegangen werden muss – auch durch Zwang zur Prophylaxe –, zeigt ein vor nicht langer Zeit aufgedeckter, wohl besonders krasser Fall, nämlich die Tierversuche in der Autoindustrie. Hierbei ging es um die von deutschen Autoproduzenten finanzierte Studie eines in den USA tätigen Forschungsinstituts, das vier Stunden lang 10 Affen die Abgase eines der Fahrzeuge einatmen ließ, um dadurch die Umweltfreundlichkeit moderner Dieseltechnik zu beweisen.47 Repräsentanten der beteiligten Hersteller distanzieren sich inzwischen von diesen als unethisch und abstoßend empfundenen Praktiken, was angesichts der Tatsache, dass schon bisher unter CSR auch der Betrieb von Bio-Lebensmitteln subsumiert wurde, in deren Lieferkette ambitionierte Tierhaltungsstandards nicht eingehalten waren,48 weniger verwundert als die Behauptung, in einem der Unternehmen sei diese Maßnahme mit der Rechtsabteilung abgestimmt worden, die keine Bedenken gehabt habe. Obwohl es hier nicht um Menschenrechte und auch kaum um gesellschaftliche Verantwortung gehen dürfte, ist nicht von der Hand zu weisen, dass Kritiker Ethik und Moral beschwören werden, ebenso wenig, dass der ebenfalls öffentlich erhobene Vorwurf, durch solche Praktiken werde der Ruf der „Dieseltechnologie“ vollends ruiniert, den beteiligten Unternehmen Reputationsschaden zufügt. Angesichts der positiven deutschen Gesetzeslage mag es schwierig sein, zur Kontrolle und eventuell Verhinderung derartiger Maßnahmen eine compliance-Organisation vorzusehen,49 was auch für die 44 Pöllath in FS Bezzenberger, 2000, S. 549, 534; Bisle, DStR 2012, 364 f.; Thiessen, Unternehmenskauf und Bürgerliches Gesetzbuch, 2005, S. 226 ff. 45 H.P. Westermann in MünchKomm. BGB, § 453 Rz. 40, 43. 46 Dass unrichtige öffentliche Angaben über die Einhaltung von Abgasrichtlinien bei der Produktion von Fahrzeugen Sachmängelansprüche bezüglich manipulierter Kaufsachen auslösen oder verstärken können, ist etwas leichter zu begründen; zu der Frage, ob der Nachhaltigkeitsbericht des VW-Konzern von 2013 ein Fall von „green washing“ war, Hennrichs, ZGR 2018, 207. 47 Zu den Einzelheiten (auch zu der Reaktion der Hersteller nach Aufdeckung) die von Gaul (AG 2018, 505 ff.) zusammengestellten Belege. 48 Simons, ZGR 2018, 318, 322. 49 So auch Hoffmann/Schiefer, NZG 2017, 401.

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Subsumtion unter das in der Präambel des DCGK genannte Leitbild des „ehrbaren Kaufmanns“ gilt, das in der bisherigen Diskussion ja keinen leichten Stand hat.50 Bei der Bestimmung der Pflichten der mit dem Verkauf eines Unternehmens befassten Organe, die auch generell gehalten sind, auf mögliche Reputationsschäden aus ihrem eigenen Tun zu achten, ist aber der Vorschlag51 sehr ernst zu nehmen, eine Pflicht zum Aufbau und zur Kontrolle eines professionellen „Corporate Reputation Management“, also einer weiteren Ausbildung von Compliance anzunehmen, um Reputationsrisiken im Griff zu behalten. Das Fehlen eines solchen Managements bei einem in einem diesbezüglich sensiblen Geschäftsfeld tätigen Unternehmen wäre dann nicht nur Gegenstand der Berichts- und Erklärungspflicht, sondern ein Gewährleistungsfall. Dass für eine Verantwortlichkeit der Organpersonen womöglich die Business ­judegement rule eingreift,52 dürfte daran nichts ändern. 3. Beschränkungen der Verantwortung Einschränkungen der Gewährleistungshaftung können sich aus § 442 BGB ergeben, wenn der Käufer bei Vertragsschluss den Mangel kannte oder grob fahrlässig übersehen hat. Beim Unternehmenskauf ist es bekanntlich keine Seltenheit, dass der Kaufinteressent den Markt sowie auch die betrieblichen, technischen und ökologischen Umstände der Tätigkeit in diesem Markt ebenso gut, wenn nicht sogar besser kennt als der Verkäufer. Zum Fahrlässigkeitsmaßstab in diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass die bloße Bekanntheit einer Gefahrenursache oder auch ein Verdacht nicht ausreichen, wie auch der zweifelhafte Ruf der Kaufsache, der allerdings schon als solcher einen Mangel darstellen kann.53 Es könnte durchaus so kommen, dass die mittlerweile ziemlich lebhafte und auch unter Juristen – und damit den Beratern eines Kaufinteressenten  – wahrgenommene Diskussion um die CSR-Problematik zu Nachfragen, besonders auch im Rahmen einer due diligence, Anlass gibt, mit der Folge, dass ausweichende und unvollständige, wenn nicht gar verschleiernde Auskünfte des Verkäufers und seiner Berater wiederum als Aufklärungspflichtverletzungen gewertet werden (wobei es freilich fraglich ist, ob die üblichen Methoden der due diligence und die im data room vorbereiteten Unterlagen54 gerade die hier womöglich relevanten Umstände zutage fördern werden). Jedenfalls ist mit der Einstellung zu rechnen, dass der Unternehmenskäufer schon starke Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit ihm erteilter Informationen haben muss, ehe ihm Fahrlässigkeit vorgeworfen werden kann.55 Dass Fahrlässigkeit in diesem Punkt dem Käufer nicht schadet, wenn der Verkäufer arglistig getäuscht hat, ist nur ein Merkposten für eine Rechtsstreitig50 Gaul, AG 2018, 508 unter Hinweis auf Fleischer, AG 2017, 515; s. auch schon Fn. 18.  51 Gaul, AG 2018, 510 ff.; s. auch schon Fleischer, AG 2017, 509, 516; Seibt, DB 2015, 509, 516; zul. auch Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 76 Rz. 35. 52 Auch dazu Gaul, AG 2018, 511. 53 H.P. Westermann in MünchKomm. BGB, § 442 Rz. 5; Matusche-Beckmann in Staudinger, Bearbeitung 2014, § 442 Rz. 61; Grunewald in Erman, 15. Aufl. 2017, § 442 Rz. 4. 54 Zum Prüfungsgegenstand und zur Intensität der due diligence näher H.P. Westermann, ZHR 169 (2005), 248 ff. 55 H.P. Westermann in MünchKomm. BGB, § 442 Rz. 5.

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keit, der im Zusammenhang mit CSR-Verstößen der hier genannten Art kaum praktisch werden wird.

III. Vorsorgende Vertragsgestaltung im M & A-Geschäft 1. Grundsätze Ein Unternehmensverkäufer, der versuchte, in Bezug auf eventuelle CSR-Verstöße, Schwächen der Berichterstattung oder das Fehlen eines Corporate Reputation Managements einen Gewährleistungsausschluss zu vereinbaren, müsste wohl die Akten schließen und die Verhandlungen abbrechen. Dies ist allerdings, wenn man zum Vergleich auf die Praxis beim Grundstückskauf blickt, bei dem der BGH seit einiger Zeit einen Gewährleistungsausschluss nicht anerkennt, wenn sich der Verkäufer in einer hinlänglich bestimmten – und wohl auch von der Beurkundung umfassten – Beschaffenheitsvereinbarung zu Eigenschaften der Kaufsache geäußert hat, die der Verkäufer jetzt vermisst,56 bei den meist etwas komplexen Unternehmenskaufverträgen nicht ganz so sicher. Besonders der einmal gezogene Schluss des BGH von der fehlenden Beurkundung auf einen nur eingeschränkten Bindungswillen bei der Beschaffenheitsvereinbarung leidet daran, dass ein Urkundsnotar – dessen es ja beim Unternehmenskauf nicht immer bedarf  – an den Vertragsverhandlungen gewöhnlich nicht teilgenommen haben wird. Aber die Anwendung eines pauschalen Gewährleistungsausschlusses auf die Folgen von CSR-Verstößen oder unzulänglicher Berichter­ stattung dürfte im Hinblick auf das derzeit hoch sensibilisierte Thema der gesellschaftlichen Verantwortung in jedem Fall auf den Einwand stoßen, dass sich der Kaufinteressent darauf nicht eingelassen haben würde. Etwas realitätsnäher ist demgegenüber die Frage, ob verbreitete sehr allgemein gehaltene Vertragsklauseln das Risiko der Vertragspartner begrenzen oder vorhersehbar halten könnten. Gerade für Unternehmenskäufe greift die Praxis hier häufig auf die sogenannten MAC-Klauseln zurück, die dem Käufer für den Fall von Verschlechterungen der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage oder schlechthin der Geschäftstätigkeit des gekauften Unternehmens hauptsächlich im Zeitraum zwischen dem Vertragsschluss (signing) und der Erfüllung (closing), ermöglichen sollen, sich vom Vertrag zu lösen oder seine Konditionen zu verändern. Daneben sollen die sogenannten MAE-Klauseln eine ähnliche Reaktion auf Verschlechterungen der wirtschaftlichen Verhältnisse der Branche oder des ganzen Markts (auch wenn die Ursachen hierfür schon beim Vertragsschluss vorlagen) ermöglichen.57 Die Klauseln sind wohl naturgemäß ziemlich allgemein gefasst, ihre Anwendung konkurriert dann in etwa 56 BGHZ 89, 100, 107; BGHZ 67, 349, 354 und dazu krit. Gsell in FS Krüger, 2017, S. 117 ff.; anders Looschelders in FS Krüger, 2017, S. 263 ff. Zum Ganzen eingehend H.P. Westermann in Priester/Heppe/Westermann, Praxis und Lehre im Wirtschaftsrecht, 2018, S. 55 ff. 57 Darstellung bei Karampatzos in Tröger/Karampatzos, Gestaltung und Anpassung von Verträgen in Krisenzeiten, 2014, S. 221 ff.; Wilhelmi ebenda S. 205 ff.; Henssler in FS U. Huber, 2006, S. 742 ff.; Hopt in FS K. Schmidt, 2009, S. 681 ff.; H.P. Westermann in MünchKomm. BGB, § 453 Rz. 45.

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mit der Geschäftsgrundlagenlehre; demgegenüber wird angesichts des Bedürfnisses nach einer gewissen, wenn auch eingeschränkten Rechtssicherheit empfohlen, die Regelung so zu fassen, dass sie möglichst genau erkennen lässt, was im einzelnen unter einer „material adverse change“ verstanden werden soll.58 Um im Bild zu bleiben, das möglicherweise von einem gewissen Regulierungsdrang internationaler oder nationaler Kommissionen bestimmt wird, so würde man sich über neue Vorschriften über die Mitbestimmung von Arbeitnehmern beim Produktionsvorgang oder die jahreszeitlich differenzierte Gewinnung von Kaffeebohnen als Anlass für eine Hinterfragung des Vertrags nicht so sehr wundern. Verständnis hätte man dann auch für die sogenannte carve out-Klausel, die gewöhnlich vom Verkäufer zur Sicherung gegenüber einer zu weit gefassten, vom Käufer gewünschten MAC-Klausel eingefügt wird, und durch die Risiken ausgeklammert werden sollen, die aus dem Bereich des Käufers stammen oder bestimmte Schwellenwerte oder Rahmenzeiträume überschreiten.59 Dem wird manchmal eine Regelung (inclusion) entgegengehalten, die die MAC-Klausel aufrechterhalten soll, wenn nach Vertragsschluss auftretende Umstände eine Vertragspartei oder das Zielunternehmen im Vergleich zu anderen Unternehmen derselben Branche deutlich überproportional treffen.60 Die Notwendigkeit, in derartigen Vertragsbestimmungen die gemeinten Umstände und Verhaltensweisen mit meist ziemlich allgemeinen Worten zu umschreiben und die daraus folgende Gefährdung der Stabilität von Unternehmenskäufen (manchmal auch –übernahmen) haben den MAC- und MAE-Klauseln Kritik und Ablehnung eingebracht.61 Es kann deshalb fragwürdig sein, ob eine Ausdehnung dieses Gestaltungsmittels auf Regelungen zur CSR-Problematik Erfolg haben kann. Aus Käufersicht würde es sich anbieten, beim Kauf eines in einem sensiblen Bereich tätigen Unternehmens ein Befreiungs- oder Vertragsauflösungsrecht für den Fall des Auftretens von reputationsschädigenden CSR-Verletzungen zu vereinbaren; empfohlen werden auch Abreden über eine Schadenspauschale oder über Vertragsstrafen.62 Für eine ­carve out-Klausel der hier beschriebenen Art hätte der Verkäufer wahrscheinlich keinen Anlass, viel näher würde es liegen, auf den Regelungswunsch des Kaufinteressenten mit einer umfassenden Aufklärung über bereits laufende Praktiken und/oder zu erwartende Probleme zu reagieren. Für MAE-Klauseln bestünde im Allgemeinen wenig Anlass, wenn es sich nicht um Risiken handelt, die eine ganze Branche treffen – was allerdings in der Automobilindustrie nach den Ereignissen der letzten Jahre ­offenbar nicht auszuschließen ist.

58 Nachweis bei Karampatzos in Tröger/Karampatzos, Gestaltung und Anpassung von Verträgen in Krisenzeiten, 2014, S. 225 ff.; Kindt/Stanek, BB 2010, 1491. 59 Näher dazu Hopt in FS K. Schmidt, 2009, S. 609 f.; Kuntz, DStR 2009, 380 ff. 60 Dazu Kindt/Stanek, BB 2010, 1491 ff.; Karampatzos in Tröger/Karampatzos, Gestaltung und Anpassung von Verträgen in Krisenzeiten, 2014, S. 227. 61 Etwa von Henssler in FS U. Huber, 2006, S. 753 ff. 62 Kindt/Stanek, BB 2010, 1490 ff.; Hopt in FS K. Schmidt, 2009, S. 687; Kuntz, DStR 2009, 277, 283; Karampatzos in Tröger/Karampatzos, Gestaltung und Anpassung von Verträgen in Krisenzeiten, 2014, S. 231.

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Der hiermit wohl auftretende „Nebeneffekt“ einer Verstärkung der Bereitschaft der Käuferseite, den Kaufinteressenten zu informieren, ist natürlich zu begrüßen, stellt allerdings die auf Seiten des Verkäufers tätigen Organpersonen und ihre Berater vor das Problem, dass hieran der womöglich auch vom Unternehmensinhaber gewünschte Kaufvertrag scheitern kann. Die mögliche Verantwortung hierfür könnte besonders dem Berater zu schaffen machen, der ohnehin wie alle zur Entscheidung über M & A-Transaktionen Hinzugezogenen vor der Schwierigkeit steht, mit dem eigentlichen Entscheidungsträger aufgrund intensiver und konkreter Informationen über die betriebswirtschaftlichen, produktionsbezogenen und reputationsrelevanten Besonderheiten zusammenarbeiten zu müssen,63 nicht selten ohne eigene Erfahrungen mit den Einzelheiten des Geschäfts und der Kalkulation, was angesichts von MAC- und MAE-Klauseln zusätzliche Ansprüche an Risikoeinschätzung, Weitsicht, aber besonders Verantwortungsbereitschaft stellt.64 Diese Berateraufgabe wird sicher sehr erleichtert, wenn bei der Zielgesellschaft das hier auch schon dargestellte corporate reputation-management existiert. Als Bedenken gegen die hier diskutierte Bewältigung der durch CSR-Verletzungen drohenden Reputationsrisiken kann aber die im Schrifttum schon resignierend angedeutete Sorge vor einer Bürokratisierung der Beratungsund Entscheidungsprozesse sowie ihre mögliche Instrumentalisierung zur positiven Selbstdarstellung auftreten, was nicht leichthin abzutun ist.65 2. Lösungsansätze in der Rechtspolitik? Nun kann bei jedem unternehmensrechtlich notwendigen und im Ansatz jedenfalls wünschenswertem Regelungsprogramm eine Tendenz zur Überspannung der Ansprüche und zur Überforderung der verantwortlich Handelnden auftreten. Dies ist aber bei einer Anwendung solcher Ansätze für das trotz aller Schwierigkeit noch leidlich überschaubare Verhältnis der Parteien bei einem Unternehmenskauf nicht allzu wahrscheinlich und bei entsprechender Vorsorge zu bewältigen. Es würde auch, wenn der Problemkreis des Reputationsschutzes und der Gemeinwohlverantwortlichkeit im positiven Recht des Unternehmenskaufs und der Unternehmensübernahmen, möglicherweise auch der Gruppenbildung, de lege ferenda in Angriff genommen würde, der Rechtspolitik wohl nicht so schnell aus dem Ruder laufen. Dies zu beurteilen, kann hiermit dem Jubilar, der gerade im Hinblick auf große gesellschafts- und unternehmensrechtliche Vorhaben und ihre Durchsetzung in der Rechtspolitik reiche Erfahrung und sicher auch ein Gefühl für die Unterschiede zwischen „gut“ und

63 Im Einzelnen hierzu (aus der Sicht der Organe der Erwerbsgesellschaft) Cahn in FS Stilz, 2014, S. 99 ff. 64 Hierzu näher H.P. Westerman in FS Crezelius, 2018, S. 221 ff.; zu den personellen und organisatorischen Aufwendungen für Nachhaltigkeits- und CSR-Berichterstattung Hennrichs, ZGR 2018, 208. 65 S.  das abschließende Fazit von Hennrichs, ZGR 2018, 229  ff. Zum hiermit verbundenen Ratschlag „Tue Gutes und rede darüber“ Mülbert, AG 2009, 766, 773; Simons, ZGR 2018, 316, 330; Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rz. 35.

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Harm Peter Westermann

„gut gemeint“ hat, in der Hoffnung überlassen werden, mit dem vorliegenden Beitrag auch sein Interesse als Wissenschaftler zu wecken, dem sich bei einer Beschäftigung mit Lösungsansätzen zur rechtlich einigermaßen sicheren Einbringung von Forderungen der Wirtschaftsethik, der Geschäftsmoral und der Gemeinwohlverantwortlichkeit der Unternehmen ein weites Feld für Überlegungen öffnet, für die ihm die Praxis danken würde.

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Insiderinformationen in der Hauptversammlung Inhaltsübersicht I. Einleitung

IV. Bericht des Aufsichtsrats

II. Aufschub der Ad-hoc-Publizität

V. Aussprache

III. Bericht des Vorstands

VI. Thesen

I. Einleitung Seit dem 3.7.2016 beansprucht die Marktmissbrauchs-VO (EU) Nr. 596/2014 (Market Abuse Regulation, MAR) unmittelbare Geltung in sämtlichen EU-Mitgliedstaaten. Sie hat das Verbot der Marktmanipulation, das Recht der Directors‘ Dealings bzw. der Managers‘ Transactions sowie das Insiderrecht auf eine vollkommen neue Grundlage gestellt. Das gilt auch für das Gebot der Ad-hoc-Publizität als besonders wichtigen Teilbereich des Insiderrechts. Dabei hat der europäische Gesetzgeber einige neue inhaltliche Akzente gesetzt, auf die noch zurückzukommen sein wird. Hinzu kommt, dass er den Adressatenkreis (auch) für das Gebot der Ad-hoc-Publizität deutlich erweitert hat und nunmehr auch Freiverkehrsemittenten in die Pflicht nimmt.1 Daraus folgt: Nicht mehr nur börsennotierte Gesellschaften müssen Insiderinformationen im Wege der Ad-hoc-Mitteilung veröffentlichen. Dieselbe Pflicht trifft Freiverkehrsemittenten, und zwar unmittelbar kraft europäischen Verordnungsrechts (Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 3 MAR). So jedenfalls dann, wenn sie die Einbeziehung ihrer Finanzinstrumente in den Freiverkehr selbst veranlasst oder ihr zugestimmt haben.2 Alle diese Neuerungen – inhaltlicher Art sowie im personellen Anwendungsbereich – strahlen naturgemäß auf den sachgerechten Umgang mit Insiderinformationen aus – auch in bzw. während einer Hauptversammlung. Damit ist ein aus praktischer Sicht überaus wichtiges Spannungsfeld angesprochen. Konkret geht es darum, wie ein (zunächst) berechtigter Aufschub der Ad-hoc-Publizität einerseits sowie die umfangreichen Berichts- und Auskunftspflichten in der Hauptversammlung andererseits miteinander vereinbar sind. Oder anders gewendet: Wie lässt sich sicherstellen, dass Berichtspflichten und Aktionärsfragen eine (bislang) berechtigte Geheimhaltung von Insider­ informationen nicht aushebeln? 1 Klöhn in Klöhn, 2018, Art. 2 MAR Rz. 7, Art. 17 MAR Rz. 57; Veil/Brüggemeier in Meyer/ Veil/Rönnau, Hdb. Marktmissbrauchsrecht, 2018, § 10 Rz. 31; Krause, CCZ 2014, 248, 250; von der Linden, DStR 2016, 1036; Linnerz, AG 2015, R 187; Seibt/Wollenschläger, AG 2014, 593, 595; Veil, ZBB 2014, 85, 86.  2 BaFin, FAQ zu Art. 17 MAR, Stand: 31.1.2019, Frage II 1; Klöhn in Klöhn, 2018, Art. 17 MAR Rz. 57; Veil/Brüggemeier in Meyer/Veil/Rönnau, Hdb. Marktmissbrauchsrecht, 2018, § 10 Rz. 32. 

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Der Jubilar hatte als Referatsleiter für Gesellschaftsrecht und Corporate Governance, als Honorarprofessor für Wirtschaftsrecht sowie als Autor stets ein ausgeprägtes Interesse an der Hauptversammlung und ihren praktischen Abläufen  – ebenso an den organschaftlichen Pflichten der Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder nebst ihrer praktischen Umsetzung. Die folgenden Überlegungen dürfen daher auf sein Interesse hoffen.

II. Aufschub der Ad-hoc-Publizität Im Fokus dieses Beitrags steht folgender Fall: Bei einem Emittenten entsteht eine Insiderinformation, z.B. die bevorstehende Veräußerung eines Kerngeschäftsfelds oder eine absehbare personelle Veränderung in einer Schlüsselposition. Dies mit der Folge, dass der Emittent die besagte Insiderinformation eigentlich gemäß Art. 17 Abs. 1 Unterabs. 1 MAR unverzüglich der Öffentlichkeit bekanntgeben müsste. Dafür kommt nicht irgendein Weg in Betracht, sondern nur der Modus gemäß Art. 17 Abs. 1 Unterabs. 1 MAR, Art. 2, 3 Durchführungs-VO (EU) 2016/1055, § 26 WpHG, § 4 WpAV. Das verlangt die folgenden Schritte: Vorabmeldung an die BaFin und die Geschäftsführungen der einschlägigen Handelsplätze, sodann Bekanntgabe an die „breite Öffentlichkeit“ sowie auf der Internetseite des Emittenten, anschließend Übermittlung an das Unternehmensregister i.S.v. § 8b HGB zur Speicherung.3 Hier sei aber unterstellt, dass der Emittent diese Verpflichtung gemäß Art. 17 Abs. 4 Unterabs. 1 MAR bis auf Weiteres aufgeschoben hat – und zwar zu Recht. Ein solcher Aufschub hat mehrere, kumulative Voraussetzungen. Erstens, dass die unverzügliche Veröffentlichung geeignet wäre, berechtigte Interessen des Emittenten zu beeinträchtigen (Art. 17 Abs. 4 Unterabs. 1 lit. a MAR). Zweitens, dass keine Irreführung der Öffentlichkeit zu befürchten ist (Art. 17 Abs. 4 Unterabs. 1 lit. b MAR). Und drittens, dass der Emittent die Geheimhaltung der Insiderinformation sicherstellen kann (Art. 17 Abs. 4 Unterabs. 1 lit. c MAR). All das gilt auch – und aus praktischer Sicht sogar in erster Linie – für zeitlich gestreckte bzw. mehrstufige Vorgänge, so auch für die hier beispielhaft ins Auge gefasste Trennung von einem Kerngeschäftsfeld oder eine langfristig geplante Personalmaßnahme.4 Dies stellt Art. 17 Abs. 4 Unterabs. 2 MAR ausdrücklich klar, aufbauend auf Art. 7 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 MAR. Diese Vorschrift besagt wiederum, dass bei zeitlich gestreckten (mehrstufigen) Vorgängen zwei unterschiedliche Anknüpfungspunkte für eine Insiderinformation in Betracht kommen: Zum einen der voraussichtliche Ausgang des gestreckten (mehrstufigen) Vorgangs als zukünftiges Ereignis i.S.v. Art. 7 Abs. 2 Satz 1 MAR, zum anderen die einzelnen Zwischenschritte innerhalb des gestreckten (mehrstufigen) Vorgangs. Letztere können nämlich unter den Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 lit. a MAR auch für sich genommen eine Insiderinformation ausmachen. Kurzum: Art. 7 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 sowie Art. 17 Abs. 4 Unterabs. 2 MAR greifen die altbekannte EuGH-Rechtsprechung

3 Klöhn in Klöhn, 2018, Art. 17 MAR Rz. 499.  4 Vgl. Klöhn in Klöhn, 2018, Art. 17 MAR Rz. 202. 

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in Sachen „Geltl/Daimler“5 auf und überführen sie in das geschriebene Sekundärrecht.6 Wichtig ist dabei: Der Aufschub tritt unter den genannten materiellen Voraussetzungen des Art. 17 Abs. 4 Unterabs. 1 lit. a–c MAR nicht automatisch ein. Vielmehr muss der Emittent sich – viertens – aktiv für den Aufschub entscheiden, sprich: eine sog. Selbstbefreiung beschließen.7 Dies folgt schon aus Art. 17 Abs. 4 Unterabs. 1 MAR selbst („kann auf eigene Verantwortung … aufschieben“), ebenso aus Art. 4 Abs. 1 lit. a und b Durchführungs-VO (EU) 2016/1055 („Datum und Uhrzeit … der Entscheidung über den Aufschub“; „Identität der Personen … mit Zuständigkeit für … die Entscheidung über den Aufschub“). Hinzu kommt, dass Art. 17 Abs. 6 Unterabs. 4 MAR ausdrücklich von einem Beschluss des Emittenten ausgeht. Auch die BaFin und die ESMA fordern daher stets eine aktive Entscheidung über den Aufschub.8

III. Bericht des Vorstands Die ordentliche Hauptversammlung nimmt den Jahresabschluss, den Lagebericht sowie ggf. die entsprechenden Konzernunterlagen entgegen (§ 175 Abs. 1 AktG). Diese sämtlichen Dokumente sind den Aktionären daher ab der Einberufung zugänglich zu machen, sei es per Auslage in den Geschäftsräumen sowie Zusendung auf Wunsch oder – sicherlich zeitgemäßer – über die Internetseite der Gesellschaft (§ 175 Abs. 2 AktG). In der Hauptversammlung sind sie ebenfalls auszulegen oder anderweitig zugänglich zu machen (§ 176 Abs. 1 Satz 1 AktG). Und mehr noch: Der Vorstand soll seine Vorlagen  – d.h. besagte Unterlagen  – zu Beginn der Verhandlung erläutern (§ 176 Abs. 1 Satz 2 Hs. 1 AktG). Die Erläuterung meint einen zusammenhängenden mündlichen Vortrag des wesentlichen  – nicht aber des vollständigen  – Inhalts der Vorlagen.9 Die Schwerpunkte wählt der Vorstand dabei nach eigenem Ermessen.10 Die Erläuterung erstreckt sich auch auf wichtige Entwicklungen, die seit der Aufstel 5 EuGH v. 28.6.2012 – C-19/11 – Geltl/Daimler, AG 2012, 555; dazu Bachmann, DB 2012, 2206; Bingel, AG 2012, 685; Ihrig in VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2012, 2013, S.  113; Klöhn, ZIP 2012, 1885; Kocher/Widder, BB 2012, 2837; Möllers/Seidenschwamm, NJW 2012, 2762; Schall, ZIP 2012, 1286; Wilsing/Goslar, DStR 2012, 1709.  6 BaFin, FAQ zu Art. 17 MAR, Stand: 31.1.2019, Frage III 6; Krause in Meyer/Veil/Rönnau, Hdb. Marktmissbrauchsrecht, 2018, § 6 Rz. 66; Langenbucher, NZG 2013, 1401, 1404; von der Linden, DStR 2016, 1036, 1037; Seibt/Wollenschläger, AG 2014, 593, 596 f.; Veil, ZBB 2014, 85, 90.  7 Veil/Brüggemeier in Meyer/Veil/Rönnau, Hdb. Marktmissbrauchsrecht, 2018, § 10 Rz. 133; Koch in FS Köndgen, 2016, S. 329, 337; Krause, CCZ 2014, 248, 255; von der Linden, DStR 2016, 1036, 1038; Retsch, NZG 2016, 1201, 1205; Seibt/Wollenschläger, AG 2014, 593, 600; Teigelack, BB 2016, 1604, 1607; Veil, ZBB 2014, 85, 92 f.; abw. Klöhn in Klöhn, 2018, Art. 17 MAR Rz. 182 ff.; Klöhn, AG 2016, 423, 431.  8 BaFin, FAQ zu Art. 17 MAR, Stand: 31.1.2019, Frage III 1; ESMA/2015/1455 Rz. 239.  9 Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 176 AktG Rz. 3.  10 Euler/Klein in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 176 AktG Rz. 11; Hennrichs/Pöschke in Münch­ Komm. AktG, 4.  Aufl. 2018, §  176 AktG Rz.  12; Reger in Bürgers/Körber, 4.  Aufl. 2017, § 176 AktG Rz. 3. 

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lung und Billigung der Abschlussunterlagen eingetreten sind. Ebenso umfasst sie eine darauf aufbauende, vorausschauende Beurteilung des laufenden Geschäftsjahrs. Sinnvoll und üblich ist es, mit der Erläuterung auch proaktiv auf bereits bekannte oder absehbare Aktionärsfragen und Kritikpunkte einzugehen.11 Dies mit dem Ziel, frühzeitig die „Deutungshoheit“ über die Themen zu gewinnen und die spätere Aussprache zu entlasten. All das legt es prima facie nahe, im mündlichen Bericht des Vorstands auch auf In­ siderinformationen wie etwa eine wichtige M&A-Transaktion einzugehen. Denn solche Ereignisse sind oftmals nicht nur potenziell kursrelevant. Je nach Lage des Falls können sie sogar Bedeutung für die gesamte Lage der Gesellschaft oder des Konzerns haben.12 Allerdings: Im Ergebnis ist es selbstverständlich keine Option, eine Insider­ information erstmals im mündlichen Bericht des Vorstands zu präsentieren. Dies gilt aus mehreren Gründen: Zum einen würde damit der in Art. 17 Abs. 1 Unterabs. 1 MAR, Art. 2, 3 Durchführungs-VO (EU) 2016/1055, § 26 WpHG, § 4 WpAV vorgesehene Modus für die öffentliche Bekanntgabe verfehlt. Und zum anderen würde der Vorstand gegen das – straf- und bußgeldbewehrte – Weitergabeverbot aus Art. 10, 14 lit.  c MAR verstoßen.13 Die Bekanntgabe in der Hauptversammlung bewirkt nämlich für sich genommen noch keine „öffentliche Bekanntheit“ der Information i.S.v. Art. 7 Abs. 1 lit. a MAR.14 Dies selbst dann nicht, wenn sie im Internet übertragen und von der Presse beobachtet wird.15 Allenfalls wäre es daher machbar, zunächst eine Ad-hoc-Mitteilung zu veröffentlichen, um „Sprechfreiheit“ für den Vorstand her­ zustellen und rechtliche Fallstricke in der Hauptversammlung aufzulösen. Auf diese Weise würden aber zulasten des Emittenten auch die Nachteile realisiert, die der (bisherige) Aufschub nach Art. 17 Abs. 4 Unterabs. 1 MAR abwenden sollte. Ein solches Vorgehen kommt somit aus praktischer Sicht kaum in Betracht.16 Vielmehr gilt: Art. 17 Abs. 4 Unterabs. 1 MAR erlaubt und gebietet auch Schweigen im Rahmen des mündlichen Vorstandsberichts. Er enthält also einen Ausnahmetatbestand, der auf die Berichtspflicht in der Hauptversammlung ausstrahlt. Etwas anderes gilt freilich, wenn unmittelbar vor oder sogar während der Hauptversammlung 11 Drygala in K.  Schmidt/Lutter, 3.  Aufl. 2015, §  176 AktG Rz.  13; Hennrichs/Pöschke in Münch­Komm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 176 AktG Rz. 12; Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 176 AktG Rz. 3.  12 Vgl. Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 134.  13 Klöhn in Klöhn, 2018, Art. 10 MAR Rz. 111; Kumpan in Baumbach/Hopt, 38. Aufl. 2018, Art. 10 MAR Rz. 2.  14 Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, 7. Aufl. 2019, Art. 7 VO Nr. 596/2014 Rz.  70; Hopt/Kumpan in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Hdb., 5.  Aufl. 2017, § 107 Rz. 53; Klöhn in Klöhn, 2018, Art. 7 MAR Rz. 141; Krause in Meyer/Veil/Rönnau, Hdb. Marktmissbrauchsrecht, 2018, § 6 Rz. 92; Klöhn, ZHR 180 (2016), 707, 730; ebenso zu §  13 WpHG a.F.: BaFin, Emittentenleitfaden, 4.  Aufl. 2013, S.  34; Mennicke/Jakovou in Fuchs, 2. Aufl. 2016, § 13 WpHG Rz. 97.  15 Hopt/Kumpan in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Hdb., 5.  Aufl. 2017, §  107 Rz. 53.  16 Kocher/Sambulski, DB 2018, 1905; a.A. offenbar Kersting in KölnKomm. AktG, 3.  Aufl. 2010, § 131 AktG Rz. 48; Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 134. 

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die Voraussetzungen des Aufschubs entfallen. So vor allem, falls die Vertraulichkeit nicht länger gewährleistet ist. Dabei sind zwei Konstellationen zu unterscheiden: Erstens ist denkbar, dass die Information auf anderem Wege „öffentlich bekannt“ i.S.v. Art. 7 Abs. 1 lit. a MAR wird. Damit verliert sie ihren Charakter als Insiderinforma­ tion. Dies wiederum mit der Folge, dass der Vorstand sie ohne Weiteres auch in seinem mündlichen Bericht ansprechen darf  – und dies mitunter wohl auch muss.17 Zweitens ist denkbar, dass die Information ganz oder teilweise die Geheimsphäre des Emittenten oder anderer autorisierter Personen verlässt, dies aber noch ohne hinreichende Breitenwirkung. Es gibt also ein „Leck“, über welches kursrelevantes Sonderwissen nach außen sickert, aber nur einzelnen Marktteilnehmern bekannt wird. Anders als nach früherem Recht ist es dabei gleich, ob das Leck in der Sphäre des Emittenten zu verorten ist.18 Diese Situation ist in Art. 17 Abs. 7 Unterabs. 1 MAR angesprochen. Sie hat zur Folge, dass das Recht zum Aufschub entfällt und der Emittent nunmehr die Ad-hoc-Mitteilung nachholen muss.19 Erst im Anschluss daran dürfte sich der Vorstand in der Hauptversammlung äußern.

IV. Bericht des Aufsichtsrats Gemäß § 171 Abs. 2 Satz 1 AktG hat der Aufsichtsrat einen schriftlichen Bericht zu erstellen. Dieser Bericht muss sodann ab der Einberufung sowie in der Hauptversammlung zugänglich sein – jeweils gemeinsam mit den Abschlussunterlagen (§ 175 Abs. 2, § 176 Abs. 1 Satz 1 AktG). Er hat zwingende gesetzliche Mindestinhalte, im Einzelnen: Der Aufsichtsrat muss darstellen, was seine eigene Prüfung des Jahresabschlusses, des Lageberichts, etwaiger Konzernunterlagen und des Vorschlags für die Gewinnverwendung ergeben hat (§ 171 Abs. 2 Satz 1 AktG). Außerdem muss er Stellung zum Ergebnis der „externen“ Abschlussprüfung beziehen (§ 171 Abs. 2 Satz 3, 5 AktG). Er muss erklären, ob nach dem abschließenden Ergebnis seiner eigenen Prüfung Einwendungen zu erheben sind und ob er den Jahres- sowie den Konzernabschluss billigt (§ 171 Abs. 2 Satz 4, 5 AktG). Hinzu kommen Berichtspflichten mit Blick auf die Prüfung eines etwaigen Abhängigkeitsberichts (§ 314 Abs. 2, 3 AktG). Schließlich muss der Aufsichtsrat darstellen, in welcher Art und in welchem Umfang er die Geschäftsführung im Berichtsjahr geprüft hat (§ 171 Abs. 2 Satz 2 Hs. 1 AktG). Bei börsennotierten Gesellschaften sind in diesem Kontext die gebildeten Ausschüsse mitzuteilen, ebenso die Zahl der Plenar- und Ausschusssitzungen (§ 171 Abs. 2 Satz 2 17 Vgl. Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, 7.  Aufl. 2019, Art.  17 VO Nr. 596/2014 Rz. 150; Klöhn in Klöhn, 2018, Art. 17 MAR Rz. 301; ebenso zu § 15 WpHG a.F.: Pfüller in Fuchs, 2. Aufl. 2016, § 15 WpHG Rz. 495; Bachmann, ZHR 172 (2008), 597, 611 ff.; Zimmer in FS Schwark, 2009, S. 669, 680; a.A. Tollkühn, ZIP 2004, 2215, 2220.  18 BaFin, FAQ zu Art. 17 MAR, Stand: 31.1.2019, Frage III 2; ESMA/2015/1455 Rz. 243; Hopt/ Kumpan in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Hdb., 5.  Aufl. 2017, §  107 Rz.  157; Klöhn, AG 2016, 423, 431; Kocher/Sambulski, DB 2018, 1905; Seibt/Wollenschläger, AG 2015, 593, 600.  19 Klöhn in Klöhn, 2018, Art. 17 MAR Rz. 299; Kumpan in Baumbach/Hopt, 38. Aufl. 2018, Art. 17 MAR Rz. 11. 

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Hs. 2 AktG). Hinzu treten zumeist noch Angaben zur individuellen Sitzungsteilnahme sowie zu etwaigen Interessenkonflikten (Ziff. 5.4.7 Satz 1, 5.5.3 Satz 1 DCGK). Die Intensität des Berichts bestimmt sich nach der Lage der Gesellschaft. In ereignis­ armen Jahren darf der Bericht knapp ausfallen. Anders hingegen in Krisenzeiten oder aus sonstigem wichtigem Anlass: Hier muss der Aufsichtsrat „Ross und Reiter“ nennen, d.h. seine Einbindung sowie die ergriffenen Maßnahmen näher beschreiben.20 Auf diese Weise legt er proaktiv Rechenschaft über seine Tätigkeit im jeweiligen Berichtsjahr ab. Aus Sicht der Aktionäre ist der schriftliche Bericht daher die wesentliche Grundlage für den Entlastungsbeschluss (§ 120 Abs. 1, 2 AktG).21 §  176 Abs.  1 Satz  2 Hs.  2 AktG bestimmt, dass der Aufsichtsratsvorsitzende den schriftlichen Bericht zu Beginn der Verhandlung erläutern soll. Hieran ist ein ähnlicher Maßstab anzulegen wie an den mündlichen Vorstandsbericht. Das bedeutet: Es ist eine in sich geschlossene mündliche Darstellung zu liefern. Diese soll den schriftlichen Bericht nicht etwa (nur) wiederholen. Vielmehr geht es darum, sachgerechte Schwerpunkte zu setzen.22 Diese können durchaus auch über die schriftliche Fassung hinausgehen. Insbesondere ist es denkbar, die Lage und Entwicklung der Gesellschaft aus der Perspektive des Aufsichtsrats einzuschätzen.23 Darüber sowie auch über den Umfang der mündlichen Erläuterungen entscheidet der Aufsichtsratsvorsitzende. Dies allerdings mit der Maßgabe, dass er sich an die Tendenz des schriftlichen Berichts des Gesamtaufsichtsrats zu halten hat. Etwaige persönliche Einschätzungen muss er ausdrücklich als solche kennzeichnen.24 Im Übrigen gilt auch hier, dass der mündliche Bericht absehbare Fragen sowie Kritik aus den Reihen der Aktionäre vorwegnehmen sollte. Klassische Schwerpunkte des mündlichen Berichts sind herausragende Geschäftsführungsmaßnahmen, die der Aufsichtsrat im Berichtsjahr begleitet hat. Dies vor allem, wenn sie einem Zustimmungsvorbehalt nach § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG unterliegen. Denn mit seiner Zustimmung oder seinem Veto nimmt der Aufsichtsrat an der Geschäftsführung teil und übt eigenes unternehmerisches Ermessen aus.25 Ebenso ist es üblich, im mündlichen Bericht auf Personalentscheidungen des Aufsichtsrats für den Vorstand einzugehen. Das gilt nicht nur, aber in besonderem Maße für die Bestellung

20 OLG Hamburg v. 12.1.2001 – 11 U 162/00, AG 2001, 359, 362; OLG Stuttgart v. 15.3.2006 – 20 U 25/05, AG 2006, 379, 381; Drygala in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 171 AktG Rz. 15; Ekkenga in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 171 AktG Rz. 68; Hennrichs/Pöschke in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 171 AktG Rz. 196 ff. 21 BVerfG v. 20.9.1999 – 1 BvR 636/95 – Daimler-Benz, AG 2000, 74, 75.  22 Hennrichs/Pöschke in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 176 AktG Rz. 20.  23 Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 176 AktG Rz. 4.  24 Hennrichs/Pöschke in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 176 AktG Rz. 19; Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 176 AktG Rz. 4; Reger in Bürgers/Körber, 4. Aufl. 2017, § 176 AktG Rz. 6.  25 BGH v. 21.4.1997 – II ZR 175/95 – ARAG/Garmenbeck, BGHZ 135, 244, 255 = AG 1997, 377; BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, DB 2018, 2423 Rz. 50; Habersack in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, § 111 AktG Rz. 100, 127; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2013, § 111 AktG Rz. 111; Spindler in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 111 AktG Rz. 72. 

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eines neuen Vorsitzenden oder Sprechers.26 Anders verhält es sich natürlich, falls besagte Maßnahmen noch nicht abgeschlossen sind und sich – wie häufig – als Insider­ informationen darstellen. Auch hier muss gelten, dass ein Aufschub nach Art.  17 Abs.  4 Unterabs.  1 MAR  – in Personalfragen oft vom Aufsichtsrat selbst beschlossen27 – durch die Berichtspflichten in der Hauptversammlung nicht ausgehebelt werden darf.28 Dies gilt solange, wie die Voraussetzungen des Art. 17 Abs. 4 Unterabs. 1 lit. a–c MAR noch gegeben sind, insbesondere die Geheimhaltung gewährleistet ist. Erscheint sie gefährdet, darf die Information aber nicht erstmals in den mündlichen Erläuterungen des Aufsichtsratsvorsitzenden auftauchen. Vielmehr ist gemäß Art. 17 Abs. 7 Unterabs. 1 MAR zunächst die Ad-hoc-Publizität herzustellen. Dieser Schritt ist nur entbehrlich, wenn die Information bereits auf andere Weise „öffentlich bekannt“ geworden ist und daher nicht länger als Insiderinformation i.S.v. Art. 7 Abs. 1 lit. a MAR qualifiziert.

V. Aussprache Schließlich zur Aussprache in der Hauptversammlung: Sie findet im Anschluss an die Berichte des Vorstands und des Aufsichtsrats statt, zumeist in Form einer Generaldebatte. Das bedeutet, die Aktionäre dürfen zu sämtlichen Punkten der Tagesordnung sprechen und Fragen stellen. Auskunftspflichtig ist der Vorstand aber nur unter den Voraussetzungen des § 131 Abs. 1 Satz 1 AktG. Dort heißt es, dass die erfragte In­ formation zur Beurteilung eines Gegenstands der Tagesordnung „erforderlich“ sein muss. Zur Konkretisierung der Erforderlichkeit kommt es auf den Standpunkt eines objektiv denkenden Aktionärs an, der die Gesellschaftsverhältnisse nur aufgrund allgemein bekannter Tatsachen kennt. Für ihn muss die begehrte Auskunft ein wesentliches Element seiner Urteilsfindung bilden. Ein bloßer Zusammenhang mit der Tagesordnung reicht nicht aus.29 Nach ständiger Rechtsprechung des BGH soll das Erforderlichkeits-Kriterium ausufernde Auskunftsbegehren verhindern, die Hauptversammlung von sachfremden und unerheblichen Fragen entlasten und einen sachgerechten und ordnungsgemäßen Ablauf ermöglichen. Es begrenzt daher das Informationsrecht aus § 131 Abs. 1 Satz 1 AktG nicht nur in qualitativer und quantitativer 26 Hennrichs/Pöschke in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 176 AktG Rz. 20.  27 Klöhn in Klöhn, 2018, Art.  17 MAR Rz.  193; ebenso zu §  15 WpHG a.F.: Drinhausen/ Marsch-Barner, AG 2014, 337, 348; Groß in FS Uwe H. Schneider, 2011, S. 385, 392; Ihrig in VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2012, 2013, S. 113, 131; Ihrig/Kranz, BB 2013, 451, 456; Koch in FS Köndgen, 2016, S. 329, 341 f.; Kocher/S. Schneider, ZIP 2013, 1607, 1610 ff.; Mülbert in FS Stilz, 2014, S. 411, 417; Retsch, NZG 2016, 1201, 1206.  28 Ekkenga in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 171 AktG Rz. 70.  29 BGH v. 12.11.2001 – II ZR 225/99 – Sachsenmilch III, BGHZ 149, 158, 164 = AG 2002, 241; BGH v. 18.10.2004 – II ZR 250/02 – ThyssenKrupp, BGHZ 160, 385, 389 = AG 2005, 87; BGH v. 16.2.2009 – II ZR 185/07 – Kirch/Deutsche Bank, BGHZ 180, 9, 29 = AG 2009, 285 Rz. 39; BGH v. 5.11.2013 – II ZB 28/12 – Deutsche Bank, BGHZ 198, 354 = AG 2014, 87 Rz. 20; BGH v. 14.1.2014 – II ZB 5/12 – Porsche, AG 2014, 402 Rz. 26; OLG Düsseldorf v. 5.11.1987 – 19 W 6/87, NJW 1988, 1033, 1034; Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 22; Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 41. 

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Hinsicht, sondern auch hinsichtlich des Detaillierungsgrads.30 Dies steht im Einklang mit Art. 9 Abs. 2 Aktionärsrechte-RL 2007/36/EG. Diese Vorschrift gestattet es den Mitgliedstaaten, zur Gewährleistung eines ordnungsgemäßen Ablaufs der Hauptversammlung entsprechende Beschränkungen des Auskunftsrechts vorzunehmen. Vor diesem Hintergrund hat der BGH mehrmals entschieden, dass das Erforderlichkeits-Kriterium ernst zu nehmen ist und insbesondere nicht im Wege vermeintlich richtlinienkonformer Auslegung ausgehöhlt werden darf.31 Es liegt freilich auf der Hand, dass Insiderinformationen oftmals – wenn nicht sogar regelmäßig – beurteilungserheblich und somit „erforderlich“ sein werden.32 Dies gilt vor allem mit Blick auf die Entlastung der Vorstands- und der Aufsichtsratsmitglieder (§ 120 Abs. 1, 2 AktG). So liegt der Fall auch bei den hier thematisierten wichtigen M&A-Transaktionen und Personalmaßnahmen. Sie machen einen bedeutsamen Bestandteil der Geschäftsführung aus. Gerade hier ist daher von Interesse, ob Vorstand und Aufsichtsrat die gebotene Sorgfalt aufgebracht und überdies eine „glückliche Hand“ bewiesen haben. Hinzu kommt, dass sich im Einzelfall auch die Frage nach verbotenen Insidergeschäften oder anderen Verstößen gegen die MAR stellen kann.33 Die Lösung lässt sich daher nur selten auf Tatbestandsebene des § 131 Abs. 1 Satz 1 AktG finden. Stattdessen ist zu prüfen, ob der Vorstand die Auskunft verweigern darf – und dies ggf. sogar muss. Einige Stimmen im Schrifttum stellen auf § 131 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AktG ab.34 Das Argument lautet, bei vorsätzlicher Weitergabe der Insiderinformation (nur) an die Hauptversammlung mache der Vorstand sich strafbar (Art. 10, 14 lit. c MAR, § 119 Abs. 3 Nr. 3 WpHG). Diese Überlegung geht jedoch fehl. Zum einen ist ungeklärt, ob § 131 Abs. 1 Satz 1 AktG nicht eine „Befugnis“ zur Weitergabe i.S.v. Art. 10, 14 lit. c MAR hergibt. Bejahendenfalls wäre der Hinweis auf eine Strafbarkeit nach §  119 Abs. 3 Nr. 3 WpHG zirkulär. Und zum anderen: Der Vorstand könnte sich jederzeit selbst „sprechfähig“ machen und somit etwaiger Strafbarkeit entziehen. Dazu müsste er nur vorab die entsprechende Ad-hoc-Publizität herstellen. Die personellen und technischen Kapazitäten dafür muss er auch während einer Hauptversammlung vor30 BGH v. 16.2.2009 – II ZR 185/07 – Kirch/Deutsche Bank, BGHZ 180, 9, 29 = AG 2009, 285 Rz. 39; BGH v. 5.11.2013 – II ZB 28/12 – Deutsche Bank, BGHZ 198, 354 = AG 2014, 87 Rz. 21; BGH v. 14.1.2014 – II ZB 5/12 – Porsche, AG 2014, 402 Rz. 26; ebenso Spindler in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 131 AktG Rz. 29.  31 BGH v. 5.11.2013 – II ZB 28/12 – Deutsche Bank, BGHZ 198, 354 = AG 2014, 87 Rz. 21; BGH v. 14.1.2014 – II ZB 5/12 – Porsche, AG 2014, 402 Rz. 26; ebenso z.B. Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 23 f.; Siems in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 131 AktG Rz. 28; Spindler in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 131 AktG Rz. 29; Kubis, ZGR 2014, 608, 620; Reger, NZG 2013, 48; Stöber, DStR 2014, 1680, 1683.  32 Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 134.  33 Vgl. OLG München v. 24.9.2008 – 7 U 4230/07, AG 2009, 121, 122.  34 Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, 7. Aufl. 2019, Art. 10 VO Nr. 596/2014 Rz.  34  f.; Hopt/Kumpan in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Hdb., 5.  Aufl. 2017, § 107 Rz. 143; Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 134; ebenso zu § 14 WpHG a.F.: Schwark/Kruse in Schwark/Zimmer, KMRK, 4. Aufl. 2010, § 14 WpHG Rz. 52; Assmann, AG 1997, 50, 57; Hopt, ZHR 159 (1995), 135. 157. 

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Insiderinformationen in der Hauptversammlung

rätig halten.35 Doch hätte dies abermals den Preis, dass nunmehr die Nachteile eintreten würden, welche der Aufschub nach Art. 17 Abs. 4 Unterabs. 2 MAR unterbinden sollte. Vor diesem Hintergrund liegt es näher, § 131 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AktG zu bemühen.36 Danach darf der Vorstand solche Auskünfte verweigern, die der Gesellschaft oder einem verbundenen Unternehmen nach vernünftiger kaufmännischer Beurteilung einen erheblichen Nachteil zufügen könnten. Die Parallele zu Art. 17 Abs. 4 Unterabs. 1 lit. a MAR sticht ins Auge: Auch dort geht es nämlich um den Schutz „berechtigter Interessen des Emittenten“ vor Beeinträchtigungen. Daraus folgt zwanglos, dass der Vorstand zum Schutz derselben berechtigten Interessen auch die Auskunft in der Hauptversammlung verweigern darf – und zwar ohne Weiteres. Ohne Weiteres – d.h. natürlich auch: ohne Begründung. Denn für das Auskunftsverweigerungsrecht kommt es allein auf die objektive Sachlage an.37 Daher ist es nicht geboten, in der Hauptversammlung eine Begründung zu nennen oder auch nur anzudeuten. Ebenso wenig muss die Beantwortung überhaupt ausdrücklich verweigert werden. Vielmehr darf der Vorstand die Frage insgesamt oder in ihren insiderrechtlich relevanten Ausschnitten schlicht übergehen. Aus praktischer Sicht hat er oftmals auch gar keine andere Wahl. Denn die ausdrückliche Verweigerung einer Antwort oder eines Dementis wäre in aller Regel nichts anderes als die Bestätigung, dass die Insiderinformation existiert.38 Dies mit der Folge, dass die Geheimhaltung i.S.v. Art. 17 Abs. 4 Unterabs. 1 lit. c MAR gefährdet oder sogar beendet wäre. Es steht der Gesellschaft frei, in etwaigen gerichtlichen Auseinandersetzungen eine Begründung nachzuschieben.39 Dazu muss sie die drohenden Nachteile nicht etwa im Einzelnen darlegen oder gar beweisen. Es reicht aus, besagte Nachteile plausibel zu machen.40 Dieser Grundsatz muss auch und erst recht auf dem besonders sensiblen Feld des Insiderrechts greifen. Nichts anderes folgt aus § 131 Abs. 5 AktG. Dort heißt es nur, dass etwaige für die Auskunftsverweigerung genannte Gründe zu protokollieren sind. Die Vorschrift setzt also eine Begründung in der Hauptversammlung voraus, ohne sie zu fordern. Und erst recht regelt sie nicht die Folgen eines etwaigen Begründungsmangels.41 35 Kocher/Sambulski, DB 2018, 1905, 1906, 1908.  36 Klöhn in Klöhn, 2018, Art. 10 MAR Rz. 111, Art. 17 MAR Rz. 53; Kocher/Sambulski, DB 2018, 1905, 1908.  37 BGH v. 14.1.2014 – II ZB 5/12 – Porsche, AG 2014, 402 Rz. 43; Kersting in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 131 AktG Rz. 507; Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 113; Spindler in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 131 AktG Rz. 73; Lieder, NZG 2014, 601, 603.  38 Kocher/Sambulski, DB 2018, 1905, 1909.  39 BGH v. 14.1.2014 – II ZB 5/12 – Porsche, AG 2014, 402 Rz. 43.  40 BGH v. 14.1.2014  – II  ZB 5/12  – Porsche, AG 2014, 402 Rz.  42; OLG Düsseldorf v. 17.7.1991 – 19 W 2/91, AG 1992, 34, 35; OLG Stuttgart v. 29.2.2012 – 20 W 5/11 – Porsche, AG 2012, 377, 381; Herrler in Grigoleit, 2013, § 131 AktG Rz. 43; Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 56; Kersting in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 131 AktG Rz. 510 f. 41 BGH v. 14.1.2014 – II ZB 5/12 – Porsche, AG 2014, 402 Rz. 43. 

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Eine besondere Herausforderung für die Aussprache mit den Aktionären hält Art. 17 Abs. 7 Unterabs. 2 MAR bereit. Dort heißt es, schon ein „ausreichend präzises Gerücht“ stehe einem weiteren Aufschub der Ad-hoc-Publizität entgegen. Hintergrund ist, dass ein solchermaßen präzises Gerücht einen Bruch der Geheimhaltung i.S.v. Art. 17 Abs. 4 Unterabs. 1 lit. c MAR vermuten lässt – und zwar unwiderlegbar.42 Darin liegt eine erhebliche Verschärfung gegenüber dem früheren Insiderrecht.43 Dies deshalb, weil das Gerücht nicht mehr aus der Sphäre des Emittenten stammen muss (s. unter III). Es besteht somit die Gefahr, dass Aktionäre oder andere Marktteilnehmer solche Gerüchte bewusst streuen, um den Verlust der Vertraulichkeit herbeizuführen. Sie besteht nicht nur, aber auch in der Hauptversammlung. Mehr noch: Die Aussprache in der Hauptversammlung bietet sich dafür sogar in besonderem Maße an. Denn nur dort haben die Aktionäre ein individuelles Rede-, Frage- und Auskunftsrecht.44 Dieses können sie auch einsetzen, um nach etwaigen Insiderinformationen zu forschen. Wer das Wechselspiel von Fragen, Antworten und Rückfragen beherrscht, wird dabei unschwer auch „passende“ Gerüchte einstreuen können. Diese Gefahr sieht auch die BaFin. Sie unterstreicht daher, es genüge kein „willkürliches Streuen diffuser Informationen … in der Absicht, dem Emittenten richtigstellende Informationen zu entlocken“.45 Aus praktischer Sicht ist damit aber nichts gewonnen.46 Denn es bleibt die schwierige Aufgabe, „ausreichend präzise Gerüchte“ einerseits und bloße Fishing Expeditions andererseits voneinander abzugrenzen.

VI. Thesen 1. Die Berichtspflichten gemäß § 176 Abs. 1 Satz 2 Hs. 1 und 2 AktG hebeln einen Aufschub der Ad-hoc-Publizität nach Art. 17 Abs. 4 Unterabs. 1 MAR nicht aus. Dies gilt solange, wie die Voraussetzungen des Aufschubs erhalten bleiben, insbesondere also die Geheimhaltung gewährleistet ist. Entfallen diese Voraussetzungen, darf die betroffene Information nicht erstmals in der Hauptversammlung verkündet werden. Vielmehr muss der Vorstand zunächst die Ad-hoc-Publizität herstellen. Anders verhält es sich nur, falls die Information bereits „öffentlich bekannt“ geworden ist und somit nicht länger als Insiderinformation i.S.v. Art. 7 Abs. 1 lit. a MAR qualifiziert. 2. Es liegt auf der Hand, dass Insiderinformationen oftmals „erforderlich“ i.S.v. § 131 Abs.  1 Satz  1 AktG sind. Dies gilt vor allem mit Blick auf die Entlastung der Vor42 Hopt/Kumpan in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Hdb., 5.  Aufl. 2017, §  107 Rz. 157; Klöhn in Klöhn, 2018, Art. 17 MAR Rz. 284; Veil/Brüggemeier in Meyer/Veil/Rönnau, Hdb. Marktmissbrauchsrecht, 2018, § 10 Rz. 131; Kocher/Sambulski, DB 2018, 1905.  43 S. dazu nur BaFin, Emittentenleitfaden, 4. Aufl. 2013, S. 61.  44 Herrler in Grigoleit, 2013, § 118 AktG Rz. 4; Hoffmann in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 118 AktG Rz. 8; Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 118 AktG Rz. 8; Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 118 AktG Rz. 39 f.; Spindler in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 118 AktG Rz. 16.  45 BaFin, FAQ zu Art. 17 MAR, Stand: 31.1.2019, Frage III 3.  46 Veil/Brüggemeier in Meyer/Veil/Rönnau, Hdb. Marktmissbrauchsrecht, 2018, § 10 Rz. 131 Fn. 4. 

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Insiderinformationen in der Hauptversammlung

stands- und der Aufsichtsratsmitglieder. Zum Schutz der „berechtigten Interessen des Emittenten“ i.S.v. Art. 17 Abs. 4 Unterabs. 1 lit. a MAR darf der Vorstand aber in der Hauptversammlung die Auskunft verweigern. Rechtsgrundlage ist § 131 Abs. 3 Satz 1 Nr.  1 AktG. Es bedarf dafür keiner Begründung oder sonstiger Erklärungen. Dies umso weniger, als solche Erklärungen letztlich die Existenz der Insiderinformation bestätigen könnten – sei es auch nur „zwischen den Zeilen“. 3.  Die eigentliche Herausforderung unter dem neuen Insiderrecht ist, dass schon „ausreichend präzise Gerüchte“ die notwendige Geheimhaltung gefährden – und zwar ungeachtet ihrer Quelle. Dies wird sogar unwiderlegbar vermutet. Der Emittent kann also nicht mehr einwenden, das Gerücht stamme nicht aus seiner Sphäre. Diesen Hebel können kritische Aktionäre in der Hauptversammlung gezielt einsetzen. Die Gesellschaften stehen dann vor der anspruchsvollen Aufgabe, „ausreichend präzise Gerüchte“ von bloßen Fishing Expeditions zu unterscheiden.

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Publifizierung und Corporate Governance Inhaltsübersicht I. Von den Tücken des Verfassens von ­Gesetzen II. Gesellschaftspolitik im Gesellschaftsrecht 1. Geschlechterquote a) Kodex und Gesetz b) Anwendungsfragen 2. Nichtfinanzielle Erklärung a) Gesellschaftsrechtliche ­Bedeutung b) Anwendungsfragen 3. Der gesellschaftsrechtliche Deckmantel III. Anwendungskriterien 1. Börsennotierung, Kapitalmarkt­ orientierung und PIEs

2. Größenkriterien 3. Mitbestimmung 4. Rechtsform IV. Rechtswissenschaftler unter der ­Reichstagskuppel ratlos 1. Zusammenhang der Eingriffskriterien mit den Eingriffszielen 2. Reibungspunkte zu den Anliegen der ­internen Corporate Governance 3. Rechtstechnische Mittel der ­Publifizierung V. Fazit?

I. Von den Tücken des Verfassens von Gesetzen Gesetze sind auskristallisierte Politik. Sie entstehen in einem komplizierten Prozess, in dem das juristische Handwerk nur ein Teil ist,1 allerdings der Teil, der den Rechtswissenschaftler besonders quält oder freut und den Praktiker auf Trab hält. Über diesen komplizierten Prozess weiß Ulrich Seibert mehr als ich. Deshalb möge er mir die Perspektive des Rechtswissenschaftlers nachsehen. Hier soll es um ein Phänomen gehen, das zwar nicht neu ist, aber in den letzten Jahren deutlich hervorgetreten ist: die Verfolgung gesellschaftspolitischer Ziele mit gesellschaftsrechtlichen Mitteln. Es gibt eine Tendenz, große oder börsennotierte Gesellschaften stärker für gesellschaftspolitische Anliegen in die Pflicht zu nehmen, auch als Publifizierung bezeichnet.2 Die 1 Eindrücklich geschildert von Seibert, NZG 2016, 16; ders. in Wank/Hirte/Frey/Fleischer/ Thüsing (Hrsg.), FS Wiedemann, 2002, S. 123. 2 Vgl. (jeweils kritisch) Dreher, AG 2006, 213; Habersack, Staatliche und halbstaatliche Eingriffe in die Unternehmensführung, Gutachten E zum 69. DJT, 2012, S. E 36 ff.; Habersack/ Kersten, BB 2014, 2819, 2822 ff.; Merkt, ZGR 2016, 201, 203; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, Vor § 278 Rz. 9: „durch Rechtsdogmatik und Kryptorecht verstärkte(n) Zwänge(n) obrigkeitlich-bürokratischen Regulierungseifers“; Spießhofer, NJW 2014, 2473, 2475; dies. in VGR (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2016, 2017, S.  61; Teichmann/Rüb, BB 2015, 259 f.; Windbichler, NJW 2012, 2625; deutlich die EU-Agenda mit Publifizierungselementen: Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Eine

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Christine Windbichler

Inanspruchnahme für allgemein sozialpolitische Ziele ist rechtlich relevant für die Einordnung von Vorschriften als Eingriffsrecht i.S.d. IPR3 und als Rechtfertigung für Beschränkungen von EU-Grundfreiheiten. Sie kann genuine Regelungsanliegen des Gesellschaftsrechts stören. Ferner kann sie verfassungsrechtliche Probleme mit sich bringen, die nachfolgend aber ausgespart bleiben. Zwei Beispiele seien herausgegriffen, an denen sich die Problematik zumindest teilweise explizieren lässt: Die Geschlechterquote im Aufsichtsrat und die nichtfinanzielle Erklärung. Die grundlegende politische Entscheidung, Frauen besseren Zugang zu Führungspositionen zu verschaffen oder Unternehmen zu anständigem und nachhaltigem Verhalten zu bewegen, soll hier als gegeben genommen werden.4 Es geht um die Umsetzung mit Mitteln, die juristisch-dogmatisch möglicherweise ungeeignet sind und daher unerwünschte Risiken und Nebenwirkungen hervorbringen. Die Frage betrifft die nationale Gesetzgebung ebenso wie die Unionsgesetzgebung. Außer der schwierigen Einpassung in das übrige System des Gesellschaftsrechts ist ein gemeinsamer Aspekt der Anwendungsbereich für „irgendwie große“ Unternehmen. Zur Vereinfachung werden hier Fragen, die sich aus der Einbindung in Unternehmensgruppen ergeben,5 ausgeblendet, obwohl diese der Normalfall sind.

II. Gesellschaftspolitik im Gesellschaftsrecht 1. Geschlechterquote a) Kodex und Gesetz Als 2010 in die Fassung des Deutschen Corporate Governance Kodex (DCGK) eine Empfehlung zur Diversität und Berücksichtigung von Frauen in Aufsichtsrat und Vorstand aufgenommen wurde, wurde das – neben der allgemeinen Kritik an der legislatorischen Konstruktion des Kodex - als rechtspolitischer Übergriff kritisiert, der mit anerkannten Grundsätzen der Corporate Governance, die die Präambel beschwört, wenig zu tun habe.6 Als die Praxis den Empfehlungen nicht schnell genug folgte, griff der Gesetzgeber zu. Der Kodex wurde zum Wegbereiter oder „Vorfluter“

neue EU-Strategie (2011-14) für die soziale Verantwortung der Unternehmen (CSR), KOM(2011) 681 endg. 3 Sehr weitgehend Weller/Harms/Rentsch/Thomale, ZGR 2015, 361, 370 ff., die die Geschlechterquote als Eingriffsnorm qualifizieren und damit auch auf Gesellschaften mit ausländischem Statut anwenden wollen; tendenziell anders Renner, ZGR 2014, 452, 474 ff., der das Gesellschaftsstatut durch Zerlegung von Rechtsverhältnissen (dépeçage) und weitreichende vertragliche Anknüpfung größerer Flexibilität durch Rechtswahl zugänglich machen will; das könnte für die Zielgrößen im Konzern relevant werden. 4 Zu den Argumenten pro und contra Seibert in Siekmann et al. (Hrsg.), FS Baums, 2017, S. 1133. 5 Dazu Windbichler, NZG 2018, 1241, 1244. 6 Hoffmann-Becking, ZIP 2011, 1173, 1176.

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für die Gesetzgebung.7 Konnten die Empfehlungen unter dem Schirm der (theoretischen) Unverbindlichkeit vage bleiben, mussten die Textverfasser in den verschie­ denen Ministerien subsumtionsfähige Normtexte herstellen, die sich in das AktG einfügen ließen. Darin lag eine große Herausforderung.8 Die in §  96 Abs.  2 AktG vorgeschriebene Zusammensetzung der Aufsichtsräte bestimmter Unternehmen ist zwingendes Recht mit ausformulierten Durchsetzungsmechanismen; die Festlegung von Zielgrößen (§ 76 Abs. 4 AktG) folgt dagegen einer anderen Regelungstechnik und wird hier deshalb nicht weiter behandelt. b) Anwendungsfragen Die aus der vorgeschriebenen Geschlechterquote resultierenden Anwendungsprobleme sind nur teilweise der konkreten Gesetzesfassung zuzuschreiben; sie sind auch dem Grundkonzept der zwingenden Besetzungsregel geschuldet. Nur kursorisch zusammengestellt seien hier einige Aspekte, die sich aus dem sog. Bänkeprinzip und dem Wahlverfahren ergeben. Bei der Berechnung der Quote können Brüche auftreten; es ist auf volle Personenzahlen mathematisch auf- bzw. abzurunden.9 Das Verfahren führt zu unterschiedlichen effektiven Quoten zwischen 26,7 und 33,3 % je nach Mitbestimmungsmodell, Aufsichtsratsgröße, Gesamt- oder Getrennterfüllung.10 Die individuellen Bestellungsvo­ raussetzungen (§ 100 Abs. 1 – 4 AktG, § 7 Abs. 3 MitbestG) bleiben unberührt; es handelt sich um eine objektive Besetzungsregel für das gesamte Gremium.11 Eine andere objektive Besetzungsregel bestimmt, dass insgesamt mindestens ein Finanzexperte (§ 100 Abs. 5 AktG) vorhanden sein muss. Auf das gesamte Organ bezogene Kriterien führen zu praktischen Problemen. Welches Aufsichtsratsmitglied der Anteilseignerseite ggf. von der Nichtigkeit der Wahl betroffen ist („leerer Stuhl“), hängt vom Wahlverfahren ab.12 Als Pannenhilfe kommt eine Ersatzbestellung nach § 104 Abs. 2, 3 Nr. 2, 5 AktG in Betracht.13 Wenn die zuständigen Gremien scheitern, dürfte dem Registergericht aber kein größeres Glück beschieden sein.14 Einen Vorbehalt gleicher Eignung für die Bevorzugung einer Person eines bestimmten Geschlechts sowie eine Ausnahmeregelung für Fälle, in denen keine geeignete Person des passen 7 Hoffmann-Becking, ZIP 2011, 1173, 1176; Spindler, NZG 2011, 1007, 2012; vgl. aber auch Bachmann in Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder (Hrsg.), DCGK Kommentar, 7.  Aufl. 2018, Rz. 880: Kodex-Kritiker haben den Gesetzgeber zu weiteren Schritten provoziert. 8 Zum Gesetzgebungsverfahren Seibert, NZG 2016, 16. 9 Zur mathematischen Rundung Oetker, ZHR 179 (2015), 707, 714 ff.; Schulz/Ruf, BB 2015, 1155; Seibt, ZIP 2015, 1193, 1195 f.; vielfach wird aber von der kaufmännischen Rundung (DIN 1333) ausgegangen, so etwa Begr. RegE BR-Drucks. 636/14, S. 49. 10 Schulz/Ruf, BB 2015, 1155, 1156 f. 11 Gegen den Vorschlag, eine quotenwidrige Person sei „nicht wählbar“, zutr. und mit Erfolg Seibert (Fn. 8), S. 17. 12 Oetker (Fn. 9), S. 726 f.; Seibt, ZIP 2015, 1193, 1199 f. (Block- oder Einzelwahl, chronologische Abfolge); Spindler in Spindler/Stilz, AktG, 3. Aufl. 1015, § 96 Rz. 38. 13 Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 96 Rz. 23, § 104 Rz. 14a; Oetker (Fn. 9), S. 728. 14 Teichmann/Rüb, BB 2015, 898, 901.

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den Geschlechts zu finden war, gibt es nicht. Daran knüpfen u.a. die unionsrechtlichen Einwände an.15 Die Frage dürfte kaum praktisch werden, da die betroffenen Unternehmen wohl solche Auseinandersetzungen zu vermeiden suchen. Die feste Geschlechterquote für Aufsichts- bzw. Verwaltungsräte wurde für die SE übernommen. Rechtspolitisch plausibel sollte einem Ausweichen vor der Quote durch Wahl der Rechtsform der SE vorgebeugt werden. Die Umsetzung ist allerdings angesichts der vielschichtigen Rechtsgrundlagen der SE schwierig. So wird u.a. bereits die Gesetzgebungskompetenz des deutschen Gesetzgebers bezweifelt.16 Das SEAG geht von der Gesamterfüllung der Quote aus. Weder für das Aufsichtsratsmodell noch für das monistische System ist ein Widerspruch dagegen vorgesehen. Ein Rückgriff auf § 96 Abs. 2 Satz 3 AktG wird überwiegend abgelehnt,17 teilweise aber für den Aufsichtsrat auf die Gleichbehandlung mit der AG gestützt.18 Für den Verwaltungsrat ist das nicht möglich.19 Die Mitbestimmungsvereinbarung der SE kann die Modalitäten für die Einhaltung der Quote regeln, muss das aber nicht; die Quote selbst ist wohl der Disposition entzogen.20 Die Vereinbarungen enthalten in der Regel einen Länderproporz hinsichtlich der Repräsentation der Belegschaften aus den verschiedenen Mitgliedstaaten; auch 15 DAV, NZG 2014, 1214, 1216  ff., Rz.  27, 39; Habersack/Kersten, BB 2014, 2819, 2828  f.; ­Drygala in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 104 Rz. 24e f.: „Quote vor Qualität“; Teichmann/Rüb, BB 2015, 259, 262 f., dies., BB 2015, 898, 900; vgl. den Vorschlag für eine RL zur Gewährleistung einer ausgewogeneren Vertretung von Frauen und Männern unter den nicht geschäftsführenden Direktoren/Aufsichtsratsmitgliedern börsennotierter Gesellschaften v. 14.11.2012, COM(2012) 614 final, Art.  4 Nr.  1, 3 und 6: Qualifikationsvergleich. – Seibert (Fn. 8), S. 19 hält das Problem jedenfalls für in Deutschland praktisch irrelevant. 16 Drygala in Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl. 2015, Art. 4 SE-VO Rz.  10; Reichert/Brandes in MünchKomm. AktG, 4.  Aufl. 2017, SE-VO Art.  40 Rz.  77; ­Sagan, RdA 2015, 255, 257 ff.; Seibt, ZIP 2015, 1193, 1202 (verordnungswidrige Benachteiligung der monistischen SE); vgl. auch Ohmann-Sauer/Langemann, NZA 2014, 1120, 1123 f.; - a.A. Teichmann/Rüb, BB 2015, 259, 264 f.; vgl. aber dies., BB 2015, 898, 904 betr. § 17 Abs. 2 SEAG: Kompetenzüberschreitung. 17 Begr. RegE, BT-Drucks. 18/4227, S.  22; Grobe, AG 2015, 289, 298; Oetker in Lutter/ Hommelhoff/Teichmann (Fn. 16), Vor § 1 SEBG Rz. 32; ders. (Fn. 9), S. 740; Reichert/Brandes in MünchKomm. AktG (Fn. 16), SE-VO Art. 40 Rz. 78 f.; Jacobs in MünchKomm. AktG (Fn. 16), Vor § 1 SEBG Rz. 51; Sagan, RdA 2015, 255, 258; Seibt, ZIP 2015, 1193, 1202; Stüber, DStR 2015, 947, 951. 18 Seibt in Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2.  Aufl. 2016, SE-VO Art.  40 Rz.  44b; Teichmann/Rüb, BB 2015, 898, 904 f. 19 Darin wird eine Benachteiligung dieser Gestaltungsvariante gesehen; Seibt in Habersack/ Drinhausen (Fn. 18), Art. 40 SE-VO Rz. 44b; Teichmann in Lutter/Hommelhoff/Teichmann (Fn. 16), Art. 43 Rz. 68; Seibt, ZIP 2015, 1193, 1202; Teichmann/Rüb, BB 2015, 898, 905. 20 Oetker in Lutter/Hommelhoff/Teichmann (Fn. 16), § 21 SEBG Rz. 54; Reichert/Brandes in MünchKomm. AktG (Fn.  16), SE-VO Art.  40 Rz.  80; Verse in Habersack/Drinhausen (Fn. 18), SEAG § 24 Rz. 3; weitergehend (auch die Quote disponibel) Seibt in Habersack/ Drinhausen (Fn. 18), Art. 40 SE-VO Rz. 44b; Drygala in Lutter/Hommelhoff/Teichmann (Fn. 16), Art. 40 SE-VO Rz. 14 ff.

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die Auffangregel sieht das vor (Teil 3 Anh. SE-RL; § 36 Abs. 1 Satz 2 SEBG). Ferner sollen Frauen und Männer entsprechend ihrem zahlenmäßigen Verhältnis in den Belegschaften gewählt werden (§§ 36 Abs. 3 Satz 2, 6 Abs. 2 Satz 2 SEBG). Eine Abstimmung dieser Kriterien mit dem Quotenerfordernis enthält das Gesetz nicht. §  36 Abs. 2 SEBG überlässt die Bestimmung der Arbeitnehmervertreter aus anderen Mitgliedstaaten deren jeweiligen Vorschriften; nur subsidiär ist der SE-Betriebsrat zuständig. Zur Koordinierung der in- und ausländischen Wahlverfahren ist der deutsche Gesetzgeber aber nicht in der Lage.21 Der „leere Stuhl“ des § 96 Abs. 2 Satz 6 AktG ist auf die quotenwidrige Wahl eines Aufsichtsratsmitglieds durch die Hauptversammlung, also auf die Vertreter der Anteilseigner gemünzt. Die Auffangregel des SEBG sieht in § 36 Abs. 4 auch die Wahl der Arbeitnehmervertreter durch die Hauptversammlung vor, die dann an die arbeitnehmerseitigen Wahlvorschläge gebunden ist. Dann könnten Nichtigkeit und Ersatzbestellung, wie nach § 96 Abs. 2 Satz 6 AktG und § 18a Abs. 2 Satz 2 MitbestG, in Betracht kommen. Das MitbestG selbst ist aber nicht anwendbar, also auch nicht die Verteilungsregel nach § 18a Abs. 2 Satz 1 MitbestG. Für das monistische System enthält § 31 Abs. 1 SEAG einen abschließenden Katalog der Nichtigkeitsgründe für die Organbestellung, der zwar auf § 24 Abs. 2, nicht aber auf Abs. 3 SEAG (das Quotenerfordernis) verweist. Nichtigkeit nach § 96 Abs. 2 Satz 6 AktG würde mittelbar in die Auswahlverfahren nach dem jeweiligen anwendbaren nationalen, nicht-deutschen Recht eingreifen. §§ 17 Abs. 5, 32 SEAG und § 37 Abs. 2 SEBG schließen das aber für die Anfechtung wegen fehlerhafter Wahlvorschläge gerade aus.22 Offen ist auch, welche Rechtsfolgen die Quotenverfehlung im Rahmen einer Mitbestimmungsvereinbarung auslöst. Die Praxis dürfte sich im Interesse funktionierender Corporate Governance darauf einrichten, die skizzierten Rechtsprobleme möglichst nicht relevant werden zu lassen. 23 Grundproblem ist die Verbindung verschiedener Wahl- und Entsendungsverfahren zum Aufsichtsrat mit zwingenden Anforderungen, die nicht bestimmte Mitglieder, sondern die gesamte Zusammensetzung des Gremiums betreffen.24 Das Problem ist erstmals mit der Einführung des „unabhängigen Finanzexperten“ in §  100 Abs.  5 AktG aufgetreten; dass nunmehr das Merkmal „unabhängig“ gestrichen wurde, ändert nichts daran, dass es sich nicht um eine mandatsbezogene, sondern eine organ21 Reichert/Brandes in MünchKomm. AktG (Fn. 16), SE-VO Art. 40 Rz. 77; Sagan, RdA 2015, 255, 258 f.; dieser Einwand wurde auch vom BMAS erwogen, Seibert (Fn. 8), S. 17.  22 Feuerborn in KölnKomm. AktG (Fn. 2), § 37 SEBG Rz. 18; Jacobs in MünchKomm. AktG (Fn. 16), § 37 SEBG Rz. 7; Hohenstatt/Müller-Bonanni in Habersack/Drinhausen (Fn. 18), § 37 SEBG Rz. 12, jedoch für Nichtigkeit nach § 96 Abs. 2 Satz 6 AktG i.V.m. Art. 9 Abs. 1 c) ii SE-VO; Timm-Wagner, SEAG, 2012, § 17 Rz. 4. 23 Lesenswert dazu die Einladung zur Hauptversammlung am 17.5.2018 der SAP SE S. 8 ff.: Nach drei verschiedenen Deutungsmöglichkeiten sei der gemachte Wahlvorschlag jedenfalls in Ordnung [https://www.sap.com/docs/download/investors/2018/sap-gov-hv-2018-ein​ ladung.pdf] (zuletzt besucht 10.2.2019). 24 Henssler in Henssler/Strohn, AktG, 3. Aufl. 2016, § 100 Rz. 20; Hüffer/Koch (Fn. 13), § 100 AktG Rz. 28; Spindler in Spindler/Stilz (Fn. 12), § 100 Rz. 73.

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bezogene Anforderung handelt. Wer in welchem Verfahren bestimmt, wer Finanzexperte ist, lässt das Gesetz offen.25 2. Nichtfinanzielle Erklärung a) Gesellschaftsrechtliche Bedeutung Die Verpflichtung für bestimmte Unternehmen, den Lagebericht durch eine nichtfinanzielle Erklärung zu ergänzen, und deren Umsetzung im HGB ist im Recht der Rechnungslegung angesiedelt. Die Kompetenzgrundlage für die Bilanzrichtlinien in Art. 54 Abs. 3 g) EGV bzw. Art. 50 Abs. 2 g) AEUV ordnet diese dem Gesellschaftsrecht zu. Grundmann bezeichnet die Rechnungslegung als Herzstück des Europä­ ischen Gesellschaftsrechts.26 Insofern ist jedenfalls der Themenbereich des Gesellschaftsrechts eröffnet.27 Der Gesetzgeber ging hier einen rechtstechnisch anderen Weg und folgte dem sog. Informationsmodell28 und dem comply-or-explain-Ansatz.29 Publizitätspflichten sagen zunächst nichts aus über materielle Handlungspflichten.30 Aber mittelbare Wirkungen sind unverkennbar und beabsichtigt.31 Interne Befassungs- und Dokumentationspflichten beeinflussen die Binnenorganisation der Gesellschaft; sie verursachen 25 Die Bestimmung ist ein Akt der Selbstorganisation des Aufsichtsrates, Hüffer/Koch (Fn. 13), § 100 Rz. 26, 28; Windbichler, Gesellschaftsrecht, 24. Aufl. 2017, § 28 Rz. 2, 25; die Durchsetzungsmöglichkeiten sind str., vgl. Fn. 24. 26 Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2011, Rz. 495. 27 Zur früher vorherrschenden Einordnung der Rechnungslegungspublizität als öffentliches Recht Merkt, Unternehmenspublizität, 2001, S. 252 ff. 28 Grundmann in Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 3.  Aufl. 2015, §  9 Rz. 41 ff. 29 Dazu allgemein Mangano, ECFR 2017, 435; zum DCGK Leyens in Großkomm. AktG, 5.  Aufl. 2018, §  161 Rz.  24  ff.; zu §  289c Abs.  4 HGB Merkt in Baumbach/Hopt, HGB, 38. Aufl. 2018, § 289c Rz. 16. 30 H.M.; Bachmann, ZGR 2018, 231, 233 f.; Hüffer/Koch (Fn. 13), § 76 Rz. 35d; Fleischer, AG 2017, 509, 515, 522; Mock, ZIP 2017, 1195, 1196; E. Rehbinder in Siekmann et al. (Hrsg.), FS Baums, 2017, S.  959, 960, 968; Schön, ZHR 180 (2016), 279, 282 ff.; Spießhofer in VGR (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2016, 2017, S. 170; Winkeljohann/Schäfer in BeckBilKomm, 11. Aufl. 2018, § 289c HGB Rz. 41; vgl. auch Begr. RegE zum CSR-RU, BTDrucks. 18/9982, S. 26: Handlungsanreize setzen, S. 31: Sensibilisierung, Erwartungshaltung des Gesetzgebers, S. 49: Die Kapitalgesellschaft muss … selbst entscheiden, wie sie mit nichtfinanziellen Themen umgehen möchte und ob und wie sie diesbezüglich ein Konzept entwickelt und umsetzt. - A.A. Hommelhoff in FS v. Hoyningen-Huene, 2014, S. 137; ders. in FS B. Kübler, 2015, S. 291; ders., NZG 2017, 1361, 1366, der dem Bilanzrecht eine materielle Revolution des Gesellschaftsrechts zuschreibt. 31 Bachmann, ZGR 2018, 231, 236  ff.; Hennrichs, ZGR 2018, 206, 215: Wer über Konzepte berichten muss, muss solche erst einmal entwickeln; Merkt (Fn. 27), S. 338 ff.; Windbichler in Grundmann et al. (Hrsg.), FS Klaus J. Hopt, 2010, Bd. I S. 1505; weitergehend Fleischer, AG 2017, 509, 522: Pflicht zur Vergewisserung durch CSR-Inventur, darauf aufbauend zur Entwicklung einer schlüssigen CSR-Strategie, die materiellen Kernvorschriften der §§ 76 Abs. 1, 93 Abs. 1 AktG bleiben aber unangetastet.

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Kosten und werden in der Praxis auch als Ablenkung von den eigentlichen Managementaufgaben wahrgenommen. Die Berichtspflicht als solche ist zwingendes Recht und damit ein „Eingriff “ i.S.d. Juristentags-Gutachtens von Habersack.32 b) Anwendungsfragen Die nichtfinanzielle Erklärung kann Teil des Lageberichts oder ein gesonderter Bericht sein. Anders als der Anhang ist der Lagebericht nicht Teil des Jahresabschlusses.33 Bei Verweisen auf den „Jahresabschluss“ kann das eine Rolle spielen. Grundsätze für die Erstellung finden sich in DRS 20, der zwar für den Konzernlagebericht gedacht ist, aber auch allgemeinen Hinweischarakter hat.34 Der gesonderte Bericht ist seinerseits eine Ergänzung zum Lagebericht, für den die Vorschriften zum Lagebericht entsprechend gelten.35 Inhaltlich ergeben sich Überschneidungen mit § 289 Abs. 3 HGB, der Angaben zu nichtfinanziellen Leistungsindikatoren verlangt, die der Abschlussprüfung unterliegen.36 Die Corporate-Governance-Erklärung nach § 161 AktG, die in die Erklärung zur Unternehmensführung nach § 289f HGB aufzunehmen ist, und die nichtfinanziellen Angaben unterliegen keiner inhaltlichen Prüfung durch den Abschlussprüfer; dieser hat nur festzustellen, ob die Erklärungen (vollständig) abgegeben sind.37 Bei einer gesonderten nichtfinanziellen Erklärung kann sich der Zeitplan verschieben, was ggf. eine Ergänzung des Bestätigungsvermerks erfordert (§ 317 Abs. 2 Satz 4 – 6 HGB). Der Aufsichtsrat hat die nichtfinanzielle Erklärung als Teil des Lageberichts, ggf. den gesonderten Bericht zu prüfen (§ 171 Abs. 1 Satz 1, 4 AktG)38 und kann eine inhaltliche Überprüfung veranlassen (§ 111 Abs. 2 Satz 4 AktG). Das Resultat einer solchen externen Prüfung ist dann öffentlich zugänglich zu machen (§ 289b Abs. 4 HGB). Daraus ergibt sich im Lagebericht und ggf. den gesonderten Berichten eine Gemengelage von Angaben unterschiedlicher Qualität und Intensität der Prüfung. Transparenz und Vergleichbarkeit werden dadurch nicht gefördert.39 Die betroffenen Unternehmen müssen Angaben machen, die „wesentlich“ sind; die einzunehmende Perspektive ist aber offen. Traditionelle Rechnungslegung soll für 32 Vgl. Habersack, Staatliche und halbstaatliche Eingriffe in die Unternehmensführung, Gutachten E zum 69. Deutschen Juristentag, 2012, S. E 16 f. 33 Vgl. §§ 242 Abs. 3, 264 Abs. 1 Satz 1 HGB; Merkt in Baumbach/Hopt (Fn. 29), § 264 Rz. 4 f.; Winkeljohann/Schellhorn in BeckBilKomm, 11. Aufl. 2018, § 264 HGB Rz. 10. 34 Vgl. § 342 Abs. 2 HGB; Winkeljohann/Schäfer in BeckBilKomm, § 289c HGB Rz. 5. 35 Merkt in Baumbach/Hopt (Fn.  29), §  264 Rz.  4; Winkeljohann/Schäfer in BeckBilKomm (Fn. 33), § 289b HGB Rz. 50 f. 36 Hennrichs, ZGR 2018, 206, 216 ff., 221. 37 Zur Vollständigkeitsprüfung der nichtfinanziellen Erklärung Baumüller/Follert, IRZ 2017, 473, 475 f.; Ruhnke/M. Schmidt, DB 2017, 2557, 2562. 38 Kritisch dazu Hennrichs, NZG 2017, 841, 845 f.; zum Bericht an die Hauptversammlung E. Vetter in dieser Festschrift S. 1007. 39 Boecker/Zwirner, BB 2017, 2155, 2158; Hennrichs, ZGR 2018, 206, 227; Kajüter, IRZ 2017, 137, 138: Ein in sich stimmiges Gesamtkonzept der Lageberichterstattung bleibt damit auf der Strecke; Velte, IRZ 2017, 328: Neue Erwartungslücke beim Aufsichtsrat; - zur entsprechenden Kritik an der Kodexerklärung Habersack Gutachten E zum 69.  DJT, 2012, S.  E 67 ff.; Leyens in Großkomm. AktG (Fn. 29), § 161 Rz. 440 ff.

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den Adressaten entscheidungsnützliche Informationen über das Unternehmen liefern.40 Dieser Grundsatz ist in § 289c Abs. 3 HGB modifiziert: Die Angaben müssen für das Verständnis der Verhältnisse des Unternehmens „sowie“ der Auswirkungen seiner Tätigkeit auf die Katalogaspekte des Abs. 1 „erforderlich“ sein.41 Hier kann man füglich über die Bedeutung des „sowie“ und die Perspektive der Relevanz streiten.42 „Konzepte“ und diesbezügliche Due-Diligence-Prozesse i.S.d. HGB sind als Rechtsbegriffe neu. Die unverbindliche Orientierungshilfe der Kommission ist meinungsstark und detailreich, versteht sich aber nicht als Standard.43 Neben den Schwierigkeiten für die Bestimmung der Pflichten von Aufsichtsrat und Abschlussprüfer eröffnen solche Unklarheiten auch Anreize zur Anfechtung von Entlastungsbeschlüssen. Der Ausgang ist ungewiss,44 für Arbeit ist also gesorgt. 3. Der gesellschaftsrechtliche Deckmantel Die Einführung von Geschlechterquote und nichtfinanzieller Erklärung wurden jeweils auch mit Argumenten gestützt, solche Regeln dienten der nachhaltigen Ertragsfähigkeit von Unternehmen, sog. business case.45 Ob das zutrifft, ist alles andere als gesichert und eher dünner Firnis.46 Laut Begründungserwägung 18 der RL 2014/95/ EU sollen Diversitätskonzepte die Entscheidungsqualität in Gesellschaftsorganen durch Bekämpfung von „Gruppendenken“ verbessern47 und deshalb durch Transpa40 Merkt in Baumbach/Hopt (Fn.  29), Einl v §  238 Rz.  37; zur Wesentlichkeit allg. Merkt (Fn. 27), S. 453 ff. 41 In § 289c Abs. 3 Nr. 3 HGB ist zusätzlich von „wesentlichen“ Risiken die Rede, in Nr. 4 von den „bedeutsamsten“ nichtfinanziellen Leistungsindikatoren (die bereits nach § 289 Abs. 3 HGB „von Bedeutung“ sein müssen), in Nr. 6 von Hinweisen, soweit sie „für das Verständnis erforderlich“ sind. 42 Hennrichs, ZGR 2018, 206, 212 ff.; Humbert, ZGR 2018, 295, 312 f.; für eine doppelte Wesentlichkeitsschwelle: sowohl für das Verständnis des Geschäftsverlaufs, des Geschäftsergebnisses, der Lage des Unternehmens als auch für das Verständnis der Auswirkungen der Geschäftstätigkeit des Unternehmens auf die nichtfinanziellen Aspekte Winkeljohann/ Schäfer in BeckBilKomm (Fn. 33), § 289c HGB Rz. 30 f.; für getrennte Wesentlichkeitsbetrachtung Rehbinder (Fn. 30), S. 970. 43 Art.  2 RL 2014/95/EU; Mitteilung der Kommission: Leitlinien für die Berichterstattung über nichtfinanzielle Informationen (2017/C 215/01); zu DRS 20 i.d.F. des DRÄS 8 Winkeljohann/Schäfer in BeckBilKomm (Fn. 33), § 289c HGB Rz. 5.; zu einem IDW-Positionspapier Boecker/Zwirner, BB 2017, 2155, 2157 f. 44 Dafür etwa Bachmann, ZGR 2018, 231, 240, 251 ff.; Roth-Mingram, NZG 2015, 1341, 1344; a.A. nur Mock, ZIP 1017, 1195, 1202  f.; zurückhaltend betr. Aufsichtsrat Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz, BT-Drucks. 18/11450, S. 52 f. 45 Dazu Fleischer, AG 2017, 509, 518 f.; Hopt in dieser Festschrift S. 389 unter II.3.a) m. Fn. 76. 46 Enriques/Hansmann/Kraakman/Pargendler in Kraakman/Armour/Davies/Enriques/Hansmann/Hertig/Hopt/Kanda/Pargendler/Ringe/Rock, The Anatomy of Corporate Law, 3. Aufl. 2017, S.  94; vgl. auch Ahern/Dittmar, SSRN-id 1364470.pdf; Matsa/Miller, AEJ: Applied Economics 2013, 5 (3), 136 [https://www.aeaweb.org/articles?id=10.1257/app.5.3.136] (zuletzt besucht 10.2.2019). 47 Ähnlich Begr. RegE zum GlTeilhG, BT-Drucks. 18/3784, S. 42, unter Berufung auf die Studie von Lindstädt/Wolff/Fehre, Frauen in Führungspositionen, 2011, für das Bundesminis-

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renz gefördert werden. Für KMU dagegen werden die unternehmerischen Rahmenbedingungen durch Verzicht auf die Offenlegungsanforderungen gefördert, Be­ gründungserwägung 13.  Die Kommissions-Leitlinien gehen davon aus, „dass die Unternehmen durch die verbesserte Transparenz sowohl in finanzieller als auch in nichtfinanzieller Hinsicht krisenfester und leistungsfähiger werden.“48 Verlautbarungen in Gesetzesmaterialien u.ä. Erläuterungen sind in ihrem indikativischen Auftritt wohl imperatives Präsens, also eher Programmsätze als Realitätsbeschreibung. Der sozial- und gesellschaftspolitische Zweck der beschriebenen Vorschriften, nicht der gesellschaftsrechtliche Governance-Aspekt, steht hier jedenfalls im Vordergrund.49

III. Anwendungskriterien Die Geschlechterquote im Aufsichtsrat und die nichtfinanzielle Erklärung haben gemeinsam, dass sie nicht allgemein gelten, sondern nur für Gesellschaften, die bestimmte Kriterien erfüllen. Diese Tatbestände variieren wiederum, was zumindest teilweise unionsrechtlichen Vorgaben geschuldet ist. Man mag sich aber auch fragen, was die jeweiligen Kriterien mit den sozial- und wirtschaftspolitischen Zielen verbindet. 1. Börsennotierung, Kapitalmarktorientierung und PIEs Die Quotenregelung für Aufsichtsräte gilt für börsennotierte (§ 3 Abs. 2 AktG) Aktiengesellschaften und SE. Die Kapitalmarktorientierung i.S.d. § 264d HGB, d.h. neben der Börsennotierung auch die Begebung von Anleihen, ist ein Kriterium für das Erfordernis einer nichtfinanzielle Erklärung (§ 289b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 HGB). Der Finanzexperte war zunächst nur für Gesellschaften i.S.d. § 264d HGB erforderlich. Die Reform der Abschlussprüfer-RL und der Erlass der Abschlussprüfer-VO erweiterten den Begriff der Kapitalmarktorientierung und nahmen Finanzdienstleister hinzu; zusammenfassender Begriff ist das „Unternehmen von öffentlichem Interesse“ (Public Interest Entity – PIE). § 100 Abs. 5 AktG wurde – unbeschadet aufsichtsrechtlicher Regeln - entsprechend geändert. Kreditinstitute und Versicherungsunternehmen, die die einschlägigen Größenkriterien erfüllen, haben ebenfalls eine nichtfinanzielle Erklärung abzugeben (§§ 340a Abs. 1a, 341a Abs.2 HGB). Damit ist die Kapitalmarkt­ terium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend [https://www.bmfsfj.de/blob/93882/c67​ 6a251ed4c36d34d640a50905cb11e/frauen-in-fuehrunspositionen-langfassung-data.pdf] (zuletzt besucht 10.2.2019). Dort wird bei bestimmten Unternehmen eine signifikante Korrelation festgestellt, aber vor Verallgemeinerung gewarnt. In der Regierungsbegründung aaO. heißt es verallgemeinernd: „Die Ergebnisse dieser Studie belegen, dass der Wirtschaftsstandort Deutschland und die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen gesteigert werden kann, wenn der Anteil von Frauen an Führungspositionen zunimmt. … Der Gesetzentwurf ist damit auch gesamtwirtschaftlich sinnvoll.“ 48 Mitteilung der Kommission: Leitlinien für die Berichterstattung über nichtfinanzielle Informationen (2017/C 215/01) S. 2. 49 Fleischer, AG 2017, 509, 521 betr. CSR-RL und CSR-RLUG: ganz unverhohlen gesellschaftspolitisches Ziel; Seibert (Fn. 4), S. 1144 betr. Geschlechterquote; vgl. auch dens. in Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“, 2019, S. 113 ff.

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orientierung als Kriterium verlassen; die wirtschaftliche Bedeutung von Finanzdienstleistern ist hier treibende Kraft. 2. Größenkriterien Beliebtes Anknüpfungsmerkmal sind Größenkriterien. Implizit sind sie schon in anderen Voraussetzungen enthalten, denn ein Kleinstunternehmen dürfte kaum kapitalmarktorientiert sein oder ein CRR-Kreditinstitut betreiben. Direkt maßgeblich sind Umsatz, Bilanzsumme und Arbeitnehmerzahl für große Kapitalgesellschaften i.S.v. § 267 Abs. 3 Satz 1 HGB. In zwei aufeinanderfolgenden Geschäftsjahren müssen zwei der drei Kriterien überschritten sein: 20 Mio. € Bilanzsumme, 40 Mio. € Umsatz­ erlöse in den zwölf Monaten vor dem Abschlussstichtag, im Jahresdurchschnitt 250 Arbeitnehmer. Die Verpflichtung zur nichtfinanziellen Erklärung betrifft nur große Gesellschaften in diesem Sinne; darüber hinaus müssen im Jahresdurchschnitt mehr als 500 Arbeitnehmer beschäftigt werden. § 289 Abs. 3 HGB verlangt für große Kapitalgesellschaften die Angabe nichtfinanzieller Leistungsindikatoren im Lagebericht. Wie oben erwähnt, überschneidet sich die Vorschrift mit dem Erfordernis der nichtfinanziellen Erklärung. Die Quotenregelung betrifft nur „große“ Gesellschaften i.S.d. § 267 Abs. 3 Satz 2 HGB, bei denen es aber wegen der Börsennotierung auf die handelsrechtlichen Größenkriterien nicht ankommt. 3. Mitbestimmung Die Quotenregelung für Aufsichtsräte trifft nur Gesellschaften, für die das MitbestG, das Montan-MitbestG oder das MitbestErgG gilt. Darin liegt zunächst ein mittelbares Größenkriterium. Es ist aber auch die Tendenzausnahme des § 1 Abs. 4 MitbestG in Bezug genommen. Da das MitbestG für SE nicht gilt, bestimmen §§ 17 Abs. 2 Satz 1, 24 Abs. 3 Satz 1 SEAG als weitere Voraussetzung, dass Aufsichtsrat bzw. Verwaltungsrat aus derselben Zahl von Anteilseigner- und Arbeitnehmervertretern besetzt ist. Ob das der Fall ist, ergibt sich aus der Mitbestimmungsvereinbarung, ggf. der Auffanglösung (§§ 21 Abs. 3, 34 ff. SEBG). Eine Tendenzausnahme enthält § 39 SEBG nur für die Auffanglösung. Die Schwelle von mehr als 500 Arbeitnehmern für das Erfordernis einer nichtfinanziellen Erklärung entspricht derjenigen des DrittelbG, was aber eher Zufall und auf Art. 19a der RL 2013/34/EU zurückzuführen ist. 4. Rechtsform Die Quotenregelung für Aufsichtsräte betrifft Aktiengesellschaften und SE, das Erfordernis der nichtfinanziellen Erklärung Kapitalgesellschaften und Kapitalgesellschaften & Co. KG, ferner Genossenschaften (§ 336 Abs. 2 Satz 1 HGB). Andere Rechtsformen sind nicht erfasst, selbst wenn sie sehr groß und ggf. kapitalmarktorientiert sind. Das PublG ging seinerzeit einen anderen Weg und war das erste unternehmensrechtliche Gesetz, das ein Interesse der Öffentlichkeit an der ordnungsgemäßen Geschäfts-

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führung allein wegen der Größe des Unternehmens anerkannte.50 Hier sind die Schwellenwerte eine Bilanzsumme von mehr als 65 Mio. €, Umsatzerlöse von mehr als 130 Mio. € und die durchschnittliche Beschäftigung von mehr als 5000 Arbeitnehmern. Für die betroffenen Unternehmen verweist das PublG umfänglich auf die Vorschriften des HGB, jedoch mit Differenzierungen nach der Rechtsform. Einzelkaufleute und Personenhandelsgesellschaften brauchen keinen Lagebericht aufzustellen; für die übrigen unter das Gesetz fallenden Unternehmen ist auf § 289 HGB verwiesen, nicht auf die §§ 289a ff. HGB (§ 5 Abs. 2 PublG). Sie brauchen also keine nichtfinanzielle Erklärung abzugeben, müssen aber Angaben über nichtfinanzielle Leistungsindikatoren nach § 289 Abs. 3 HGB machen.

IV. Rechtswissenschaftler unter der Reichstagskuppel ratlos Die Bemühungen der Rechtswissenschaft um Systembildung und dogmatische Einordnung, um konstruktive Kritik zugunsten stimmiger, effektiver und effizienter Lösungen sind angesichts der geschilderten Gesetzeslage nicht einfach.51 Die vorgefundene Gemengelage kann man nach verschiedenen Gesichtspunkten sortieren, etwa warum, unter welchen Voraussetzungen, mit welchen Mitteln und mit welchen Folgen Publifizierung betrieben wird. 1. Zusammenhang der Eingriffskriterien mit den Eingriffszielen Auf den ersten Blick mag es verwundern, was die Börsennotierung einer Gesellschaft mit dem biologischen oder sozialen Geschlecht von Organmitgliedern zu tun hat.52 Das Gleichstellungsziel ist schließlich kein für funktionsfähige Kapitalmärkte typisches Anliegen. Ebenso verwundert, dass nur Finanzdienstleister und kapitalmarktorientierte Unternehmen von einer gewissen Größe an eine nichtfinanzielle Erklärung abgeben müssen, während noch größere mit nicht minderer gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Bedeutung dies wegen ihrer Rechtsform nicht müssen, selbst wenn sie über Fremd- und Hybridkapital kapitalmarktorientiert sind. Der gemeinsame Nenner dürfte sein, dass mit der Börsennotierung unterstellt wird, dass Aktionäre (nunmehr nur noch) als Investoren und weniger als Mitglieder anzusehen sind. Es findet eine Entindividualisierung statt,53 die offenbar den Zugriff für nicht-gesell50 Zur Historie Förster, Die Dimension des Unternehmens, 2003, S. 157 ff.; Merkt (Fn. 27), S. 100 ff. 51 Zur Rolle der Rechtswissenschaft im Wirtschaftsrecht Fleischer in Engel/Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, S. 50, 54 ff.; Seibert in FS Wiedemann (Fn. 1), S. 127. 52 Zweifelnd Hüffer/Koch (Fn. 13), § 3 Rz. 5. 53 Vgl. BVerfGE 50, 290, 340 ff. = NJW 1979, 699, 704 f. zur Funktion des Anteilseigentums; dort ist lediglich von „größeren Unternehmen“ die Rede; zum Aktionär als Investor BVerfGE 14, 263, 276 – Feldmühle; BVerfGE 100, 289 = NZG 1999, 931 – DAT/Altana; BVerfG NZG 2007, 587  – Squeeze-out; vgl. auch Fleischer, AG 2017, 509, 517: jede weitere Indienst­ nahme von Großunternehmen für das Gemeinwohl geht mit einer zunehmenden Erosion mitgliedschaftlicher Strukturen und privatrechtlicher Ordnungsprinzipien einher; Kolbe,

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schaftsrechtliche Anliegen erleichtert. Das Muster ist aus anderen Zusammenhängen gut bekannt. Die Unternehmensmitbestimmung knüpft rechtsformabhängig an, nicht nur aus umsetzungstechnischen Gründen (Aufsichtsrat), sondern auch mit Rücksicht auf den Personenbezug und ggf. persönliche Haftung, die keiner Fremdbestimmung unterworfen werden sollen. Entsprechendes gilt für die Rechnungslegung nach HGB und PublG.54 Das AktG selbst unterscheidet zwischen börsennotierten und nicht-börsennotierten Gesellschaften, vornehmlich unter dem Gesichtspunkt, dass die Börsennotierung eine strenger geregelte Corporate Governance zum Schutz der Anleger erfordert.55 Die geänderte Aktionärsrechte-RL56 will Aktionärsrechte stärken und Aktionäre aktivieren. Darin liegt einerseits ein Aktionärs- und vor allem Minderheitsschutzgedanke; andererseits soll die Kontrolle der Verwaltung durch die Aktionäre auch in börsennotierten Gesellschaften ihre Rolle in der Corporate Governance spielen. Dass die Aktivierung von Aktionären auch CSR-Zielen diene,57 verwischt hingegen die Inte­ ressengegensätze von aktivistischen Aktionären, institutionellen Anlegern, Aktionären ohne Anlage-, aber mit Teilhabeinteressen, die allesamt jeweils Minderheiten sind.58 Möglicherweise ist das beabsichtigt, indem nicht etwa die existierenden Aktionäre im Vordergrund stehen, sondern ein Idealtypus des verantwortlichen Aktionärs.59 Die breiter gefasste Kapitalmarktorientierung i.S.d. § 264d HGB entfernt sich von den Kategorien der Mitgliedschaft und stellt auf die Inanspruchnahme des Kapitalmarktes generell ab, die größenunabhängig zu weitergehenden Offenlegungspflichten führt (§ 267 Abs. 3 Satz 2 HGB). Solche Pflichten werden vom europäischen Gesetzgeber Mitbestimmung und Demokratieprinzip, 2013, S.  330  f.: anstaltsähnliche v. personale Strukturen. 54 Vgl. dazu Merkt (Fn. 27), 2001, S. 362 f. 55 Förster, AG 2011, 362, 363 ff.; Heider in MünchKomm. AktG (Fn. 16), § 3 Rz. 41 f.; zum Übernahmerecht als Schnittstelle zwischen (Börsen-)Gesellschaftsrecht und Kapitalmarktrecht Kalss/Klampfl, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rz. 501 ff. 56 RL (EU) 2017/828; diese reiht sich in die Entwicklung eines europäischen Börsengesellschaftsrechts ein, Kalss/Klampfl (Fn.  55), Rz.  19  ff.; zur Umsetzung RegE ARUG  II, BRDrucks. 156/19. 57 Begründungserwägung 14 zur RL 2017/828/EU: … Eine stärkere Einbindung der Aktio­ näre in die Corporate Governance ist eines der Instrumente, die dazu beitragen können, die finanzielle und nicht-finanzielle Leistung von Gesellschaften zu verbessern, einschließlich hinsichtlich ökologischer, sozialer und Governance-Faktoren, insbesondere nach Maßgabe der von den Vereinten Nationen unterstützten Grundsätze für verantwortungsvolle Investitionen. Zusätzlich ist eine stärkere Einbindung von allen Interessenträgern, insbesondere Arbeitnehmern, in die Corporate Governance ein wichtiger Faktor für die Sicherstellung eines stärker langfristig ausgerichteten Ansatzes börsennotierter Gesellschaften, der gefördert und berücksichtigt werden muss. 58 Zur Vielfalt der Aktionärsinteressen Langenbucher, Aktien- und Kapitalmarktrecht, 4. Aufl. 2018, § 1 Rz. 4 ff.; Seibert in Burgard/Hadding/Mülbert/Welter (Hrsg.), FS Uwe H. Schneider, 2011, S. 1211. 59 Seibert in Krieger/Lutter/K. Schmidt (Hrsg.), FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 1101, 1104: Umerziehungsaktion.

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durchaus als Belastung anerkannt, weshalb die Rechnungslegung für kleinste, kleine und mittlere Unternehmen weniger streng ausgestaltet ist. Berichts- und Offenlegungspflichten beanspruchen Ressourcen. Die Vorgabe der CSR-RL (mehr als 500 Beschäftigte) passt zur Definition der KMU, nach der Unternehmen mit bis zu 250 Beschäftigten mittelgroß sind.60 Das allgemeine Interesse an den in der CSR-RL aufgezählten Belangen besteht aber auch gegenüber einer Vielzahl mittelständischer oder nicht kapitalmarktfinanzierter Unternehmen als Akteuren in ihrer Summe sowie großen Unternehmen, die kraft Rechtsform nicht erfasst sind.61 Die Verpflichtung zur nichtfinanziellen Erklärung betrifft schätzungsweise ca. 550 Unternehmen in Deutschland.62 Damit ist die Rolle des Größenkriteriums angesprochen.63 Die Regierungsbegründung zur Einführung der Geschlechterquote im Aufsichtsrat erklärt ihre Anknüpfung damit, dass von den großen Publikumsgesellschaften mit ihrer besonderen Sichtbarkeit eine Signalwirkung ausgehe; der Eingriff wird mit deren besonderer Sozialbindung gerechtfertigt.64 Hinsichtlich der nichtfinanziellen Erklärung verweist die RL darauf, dass kleinere Unternehmen nicht belastet werden sollen;65 diese sind aber mittelbar betroffen, wenn Unternehmen in der Lieferkette von ihren Abnehmern vertraglich auf Auskünfte und Geschäftspraktiken festgelegt werden, die den jeweils unterschiedlichen „Konzepten“ der Großkunden folgen. Das Thema Großunternehmen hat Tradition, teils unterlegt mit deren volkswirtschaftlicher Bedeutung, teils mit gemeinwirtschaftlichen Ansätzen und weiteren Erwägungen,66 die sich aber als subsumtionsfähige Tatbestände nicht eignen. Die Frage, was klein oder groß ist, viel und was wenig, im Vergleich wozu und warum, ist nicht ohne vertiefte Diskussion der jeweiligen Normzwecke und Vergleichsparameter zu beantworten.67 Die Kriterien und Schwellen in den verschiedenen Vorschriften sind notwendige Typisierungen, variieren aber stark. Eine betriebswirtschaftliche Studie zählte z.B. 110 Unternehmen der Dax-Familie mit bis zu 500 Mitarbeitern, 167 mit mehr als 1 000, darunter 23 mit mehr als 50 000 Mitarbeitern.68 Für dasselbe 60 What is an SME? [http://ec.europa.eu/growth/smes/business-friendly-environment/sme-­ definition_de] (zuletzt besucht 10.2.2019). 61 Humbert, ZGR 2018, 295, 310 f.; Rehbinder (Fn. 30), S. 965 f., 973 f. 62 Begr. RegE zum CSR-RU, BT-Drucks. 18/9982, S. 41. 63 Dazu Förster (Fn. 50), S. 6 ff., 17 ff., 371 ff. 64 BT-Drucks. 18/3784, S. 120: „Diese unterliegen einer besonderen Sozialbindung, weil sie nach ihrer Struktur auf eine Vielzahl von Anlegern zugeschnitten sind, und werden aufgrund ihrer wirtschaftlichen Bedeutung gemessen an Mitarbeiterzahl und beziehungsweise oder Umsatz in der Öffentlichkeit besonders wahrgenommen. Eine repräsentative Teilhabe von Frauen in diesen Unternehmen setzt Maßstäbe für die gesamte Privatwirtschaft.“ 65 Begründungserwägung 13 zur RL (EU) 2014/95. 66 Fleischer, AG 2017, 509, 510 ff., 516 f. m.w.N.; Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, 1980, § 6 II 2 b). 67 Vgl. die Ausführungen zur „kleinen“ und „großen“ Genossenschaft in BGHZ 25, 154 = NJW 1957, 1558. 68 Lindstädt/Wolff/Fehre (Fn.  47); die mitbestimmungsrelevante Schwelle von 2000 Arbeitnehmern wurde dort nicht verwendet.

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Jahr (2010) war der, wenngleich spärliche, Anteil von Frauen in den Aufsichtsräten deutlich höher in Unternehmen mit über 10 000 Beschäftigten. Ist die Schwelle von 500 Arbeitnehmern bezüglich der nichtfinanziellen Erklärung bzw. implizit 2 001 Arbeitnehmern für paritätisch mitbestimmte Unternehmen69 somit hoch oder niedrig? Für das MitbestG wurde die Arbeitnehmerzahl weniger als Größenkriterium unter dem Gesichtspunkt der Bedeutung des Unternehmens verstanden, sondern als „Pro­ blem der Anonymisierung der Arbeitnehmer, der Bürokratisierung der Unternehmensleitung und damit der Entstehung von Dienstwegen“.70 Dazu passt, dass sich die Aufsichtsratsgröße nach der Belegschaftsgröße richtet (§ 7 MitbestG), da mehr Sitze eine breitere Repräsentation zulassen. Dass die Mitbestimmungsregeln ihrerseits Bürokratisierung befördern und die Aufsichtsräte zu groß werden können, ist eine andere Diskussion unter Corporate Governance-Gesichtspunkten.71 Eine Corporate Governance-Frage ist auch die Leistungsfähigkeit und Effektivität von Aufsichtsräten, die insbesondere in der Regulierung von Finanzdienstleistern thematisiert wurde. Die Begründungserwägung 60 zur CRD IV-RL72 stellt in diesem Zusammenhang fest: „Um die Bevölkerung angemessen abzubilden, ist vor allem ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis von Bedeutung“. Repräsentation (wessen?) und Effektivität sind aber verschiedene Dinge. 2. Reibungspunkte zu den Anliegen der internen Corporate Governance Lädt man „Corporate Governance“ mit Begehren jeglicher, nicht nur verbandsrechtlicher Art auf, gerät der Begriff zum „Wieselwort“.73 Wie eingangs festgestellt geht es nicht um die Frage, ob eine rechtliche Intervention zur Förderung von Frauen in Führungspositionen oder zum Anreiz zu umwelt- und menschenrechtsfreundlichem Verhalten wünschenswert ist, sondern ob die Ansiedlung im Gesellschafts- und Rechnungslegungsrecht sinnvoll und geglückt ist.74 Die Einführung der Quote für Aufsichtsräte betraf ca. 120 – 150 Mandate, die mit Frauen zu besetzen waren;75 dem Symbolwert maß die Regierungsbegründung eine besondere Rolle zu. Eine Verbesserung der Corporate Governance ist durch überkomplexe Besetzungsregeln aber nicht zu erreichen. Die Berücksichtigung der in § 289c Abs. 2 HGB genannten Aspekte durch die Unternehmensleitung ist legal und legitim, muss sich aber im Rahmen der business judgment rule (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG) halten.76 Die einschlägige Debatte dazu und zur 69 Die Montanmitbestimmung setzt bei mehr als 1 000 Arbeitnehmern ein, hat aber kaum praktische Relevanz. 70 BVerfGE 50, 290, 380 = NJW 1979, 699, 711 unter C. V. 2. 71 Henssler in Ulmer/Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 3. Aufl. 2012, § 7 MitbestG Rz. 6 f. 72 RL 2013/36/EU. 73 Fleischer, AG 2017, 509. 74 Enriques/Hansmann/Kraakman/Pargendler in Anatomy (Fn. 46), S. 93: whether corporate law is the right channel. 75 Seibert (Fn. 8), S. 19. 76 Bachmann, ZGR 2018, 231, 235 f., 243; Paefgen in dieser Festschrift S. 629.

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Auslegung des § 76 AktG hat nicht zu Unrecht das Argument zu Tage gefördert, dass eine zu breite Definition des Gesellschaftsinteresses die Machtfülle des Managements erweitert und zu Kontrollproblemen führt.77 Das muss z.B. bei der Auslegung des „sowie“ (oben II.2.b) oder der „klar und begründet(en)“ Fehlanzeige i.S.d. §  289c Abs. 4 HGB eine Rolle spielen.78 Von den in § 289c Abs. 2 HGB genannten Aspekten zu unterscheiden sind Rechtspflichten; deren Erfüllung gehört zum Thema Compliance.79 Damit ist die Bezugnahme auf die Einhaltung von Rechtspflichten im Rahmen der nichtfinanziellen Erklärung freilich nicht ausgeschlossen. Von etlichen Unternehmen wird berichtet, dass die CSR-Berichterstattung nach der Richtlinie und HGB keine zusätzlichen Angaben über die bisherige Praxis hinaus erfordere.80 Börsenindizes wie die FTSE4Good-Serie81 oder DJSI82 und Rahmenwerke wie der UN Global Compact83 sind etabliert und haben ihre eigenen Überwachungsmechanismen. Versicherer haben schon wegen ihres Geschäftszweiges ein großes ­Interesse, auf Umweltrisiken einzugehen, was sich auf die versicherten bzw. nichtversicherten Unternehmen auswirken kann. Z.B. will die Allianz SE keine Kohlekraftwerke mehr als Kunden und will auch sonst Carbon-Risiken vermindern.84 Insofern scheinen Marktkräfte bereits gewirkt zu haben und man mag zweifeln, ob die verpflichtende Verbindung nichtfinanzieller Erklärungen mit der Rechnungslegung für die Unternehmenspublizität förderlich ist. Der Vorteil an Vergleichbarkeit (Begründungserwägungen 3 ff. RL 2014/95/EU) wird angesichts der Anwendungsspielräume denn auch bezweifelt.85 Die Gepflogenheiten der Unternehmen in den verschiedenen Mitgliedstaaten mögen allerdings durchaus unterschiedlich sein. 3. Rechtstechnische Mittel der Publifizierung Dass im Gemeinwohlinteresse unternehmerischer Tätigkeit Schranken gesetzt und Verpflichtungen auferlegt werden, ist eine Selbstverständlichkeit. Das übliche Mittel dazu ist das allgemeine Gesetz sowohl öffentlich-rechtlicher als auch privatrechtlicher Art, das Handels- und Wirtschaftsrecht einschließlich Regulierung, die auf die spezi77 Sog. too-many-masters-Argument; Fleischer in Spindler/Stilz (Fn.  12), §  76 Rz.  34, 37  f.; Hüffer/Koch (Fn. 13), § 76 Rz. 33; Ruffner, Die ökonomischen Grundlagen eines Rechts der Publikumsgesellschaft, 2000, S. 166 f. 78 Ebenso bei der Auslegung des hier nicht näher behandelten § 289e HGB. 79 Daher ist die fehlende Rechtsverbindlichkeit von ILO-Abkommen und Menschenrechten (welche?) für die Unternehmen selbst hier nicht problematisch; so aber wohl Mock, ZIP 2017, 1195, 1198. 80 Hennrichs, NZG 201, 841; Kajüter, IRZ 2017, 137, 138. 81 https://www.ftse.com/products/indices/FTSE4Good (zuletzt besucht 10.2.2019). 82 http://www.sustainability-indices.com/ (zuletzt besucht 10.2.2019). 83 https://www.unglobalcompact.org/what-is-gc (zuletzt besucht 10.2.2019). 84 https://www.allianz.com/de/presse/news/geschaeftsfelder/versicherung/180504_Klimaschutz-Wandel-zur-kohlenstoffarmen-Wirtschaft/ (zuletzt besucht 10.2.2019); Ähnliches wird von der Münchener Rück AG berichtet, http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/klimawandel-sorge-munich-re-steigt-aus-der-kohle-aus-15724159.html (zuletzt besucht 10.2.2019). 85 Vgl. Fn. 38.

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fischen Besonderheiten bestimmter Branchen eingeht. Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht haben  – getreu ihrer privatrechtlichen Prägung86  – in erster Linie die Funktion, die entsprechende juristische Infrastruktur bereitzustellen.87 Körperschaftsrecht ist geprägt von Mechanismen, die durch Kompetenzzuweisungen und checks and balances typischen Gefahren aus Haftungsbeschränkung, Informations­ asymmetrie, Agentur-Konflikten, Interessendivergenzen, Opportunismusrisiken etc. begegnen. Das deutsche Aktienrecht mit seiner Satzungsstrenge greift hier gern zu zwingenden Vorschriften. Die Aufladung mit ethischen und gesellschaftspolitischen Anliegen, die sich selbst nicht als subsumtionsfähige Normen eignen, hat die Gesellschaftsrechtslandschaft immer wieder beschäftigt, etwa wenn neben den Verfahrens- und Mehrheitsanforderungen materielle Interessenabwägungen verlangt wurden.88 Der Gesetzgeber hat z.B. beim Bezugsrechtsausschluss versucht, diese Tendenz einzufangen.89 Die gegenwärtige Debatte, auch anlässlich der Neufassung der Aktionärsrechte-RL, betrifft die Kompetenzverteilung zwischen Aufsichtsrat und Hauptversammlung, die durch die Stärkung von Aktionärsrechten berührt ist,90 sowie Direktkontakte zwischen Aktionären und Aufsichtsrat.91 Das sind genuine Fragen der internen Governance, die geprägt sind von heiklen Balancen und der Bemühung um ein angemessenes Verhältnis von Aufwand und Ertrag.92 Die Quotenregelung wirkt dagegen eher grobschlächtig. Die interne Governance verschränkt sich mit externer Steuerung sowohl rechtlicher Art als auch durch Marktprozesse. Dort finden gesellschaftspolitische Interessen eher ihren Platz. 86 Für das Kapitalmarktrecht darf nicht übersehen werden, dass die auf diesen Märkten gehandelten Instrumente in erster Linie privatrechtlich geschaffene Rechtsprodukte sind und die Marktprozesse aus Verträgen bestehen; vgl. auch Einsele, ZHR 180 (2016), 233. 87 Fleischer in Proprium (Fn. 51), S. 63 f. zur „enabling function“ und Rechtsregeln als juristischer Infrastrukturleistung; Habersack, Staatliche und halbstaatliche Eingriffe in die Unternehmensführung, Gutachten E zum 69. Deutschen Juristentag, 2012, S. E 28, 33 f.; Windbichler, NJW 2012, 2625, 2627.  - Zur Corporate Governance Kalss/Klampfl (Fn.  55), Rz. 430 ff.; Windbichler, Gesellschaftsrecht (Fn. 25), § 25 Rz. 17 – 20. 88 Als prominenter Vertreter einer „Materialisierung“ des Gesellschaftsrechts Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, 1980, § 8 III 2; ders. in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1994, § 186 Rz. 14, 134 ff.; vgl. auch BGHZ 71, 40, 44 = NJW 1978, 1316, 1317 – Kali+Salz betr. Bezugsrechtsausschluss; anders BGHZ 103, 184 = NJW 1988, 1579 – Linotype betr. Auflösung durch Mehrheitsbeschluss. 89 § 186 Abs. 3 Satz 4, Abs. 4 Satz 2 AktG; zur Rechtsentwicklung anschaulich K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 29 III 2. d). 90 Zur Kritik etwa Kalss/Klampfl (Fn. 55), Rz. 416.  91 Dazu Bachmann in VGR (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2016, 2017, S. 135; Koch, AG 2017, 129; Spindler in dieser Festschrift S. 855 unter II.3.; E. Vetter, AG 2016, 873; zum DCGK Kremer in Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder, Deutscher Corporate Governance Kodex, 7. Aufl. 2018, Rz. 1296 ff. 92 Vgl. Armour/Hansmann/Kraakman/Pargendler in Anatomy (Fn. 46), S. 2, 4. „Aufwand“ ist hier umfassend gemeint, z.B. einschließlich der Kosten für Verzögerungen, Trittbrettfahrer, unnötige Auseinandersetzungen und Bürokratie; die Rubrik „Erfüllungsaufwand“ im RegE zum GlTeilhG, BT-Drucks. 18/3784, S. 52 beziffert mit jährlich 257.000 €, erfasst das nicht.

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Die Pflicht zur Einhaltung allgemeiner Gesetze gehört unbestritten zu den Geschäftsleiterpflichten.93 In Ländern mit dichter Regulierung der Belange von Umwelt und Arbeitnehmern, spürbaren Steuer- und Abgabenlasten zur Finanzierung belastbarer Systeme der sozialen Sicherung etc. trägt bereits die Gesetzestreue viel zu den in der nichtfinanziellen Erklärung anzusprechenden Aspekten bei. Insofern bedarf es keiner zusätzlichen Anreize, sondern Compliance.94 Allgemeine Gesetze schaffen gleichmäßige Pflichten, damit wettbewerblich ein level playing field. Die Quotenregelung für die Besetzung der Aufsichtsräte ist in ihrem begrenzten Anwendungsbereich zunächst Anwendung eines zwingenden Gesetzes; 95 ob darüber hinaus Erfolge zu verzeichnen sind, etwa in Richtung eines allgemeineren Strukturwandels infolge der erhofften Signalwirkung, geht daraus nicht hervor. Zu den allgemeinen Gesetzen gehört z.B. auch das Wettbewerbsrecht. Eine lauterkeitsrechtliche Kontrolle i.S.d. §§ 3 Abs. 3, 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, 3, 5 und des Anhangs zu § 3 Abs. 3 UWG könnte hier als Instrument geeignet sein.96 Wer sich grün lügt, könnte sowohl von Verbrauchern und deren Verbänden als auch von Wettbewerbern zur Ordnung gerufen werden. Statt an ein Größenkriterium oder Kapitalmarktorientierung würde an das konkrete Verlautbarungsverhalten jedes einzelnen Unternehmens angeknüpft. §  1 UWG orientiert in Umsetzung der UGB-RL97 den Gesetzeszweck zwar stark auf Verbraucherschutz, beschränkt ihn aber nicht darauf. Im Übrigen entspricht es dem Nachhaltigkeitsziel, das die Begründungserwägungen zur CSR-RL nachdrücklich betonen, die Verbraucher ins Boot zu holen.98 Die Grenzen zwischen (irreführender) Imagewerbung99 und greenwashing durch „Konzepte“ sind allerdings fließend.100 Publizitätserfordernisse sind ebenfalls zwingendes Recht, soweit es um Aufstellungsund Veröffentlichungspflichten geht, nicht hinsichtlich der Inhalte. Sie werden unterschiedlich begründet, vor allem als Korrelat zur Marktteilnahme.101 Auch nichtfinanzielle Erklärungen sind letztlich marktorientiert, denn sie sollen Reaktionen von 93 Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 93 Rz. 54, 132 ff.; Hüffer/Koch (Fn. 13), § 93 Rz. 6 ff.; Fleischer in Spindler/Stilz (Fn. 12), § 93 Rz. 14 ff., jew. m.w.N. 94 Fleischer, AG 2017, 509, 512; Windbichler in Siekmann et al. (Hrsg.), FS Baums, 2017, S. 1443, 1453. 95 Vgl. die Verlautbarung des BMFSFJ: Die Quote wirkt [https://www.bmfsfj.de/quote/ein​ stieg.html] (zuletzt besucht 10.2.2019). 96 Dazu (demnächst) Asmussen, Nachhaltige Täuschungen. Zur Haftung für Verstöße gegen und Täuschungen über CSR-Codes im Wettbewerb; vgl. auch ders., NJW 2017, 118. 97 RL 2005/29/EG v. 11.5.2005. 98 Vgl. auch Begr. RegE zum CSR-RU, BT-Drucks. 18/9982, S. 1: … Verbraucherinnen und Verbraucher verlangen insoweit vor allem mehr und bessere Informationen über die Geschäftstätigkeit von Unternehmen, um zu entscheiden, ob sie … Produkte erwerben und nutzen. 99 Vgl. dazu BVerfGE 102, 347 = NJW 2001, 591 – Benetton; BGH NJW 2007, 919 – Regenwaldprojekt I. 100 Dazu Asmussen (Fn. 96); Birk, GRUR 2011, 196; Fleischer, AG 2017, 509, 524; Roth-Mingram, NZG 2015, 1341, 1345. 101 Merkt, Unternehmenspublizität (Fn. 27), S. 296 ff., 372 ff.

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Marktpartnern, die auf diese Belange Wert legen, ermöglichen.102 Ob das funktioniert, hängt von der Nachfrage nach solchen Informationen ab.

V. Fazit? Rechtswissenschaftler haben die Aufgabe und genießen den Luxus, ohne unmittelbaren Entscheidungs- und Gestaltungsdruck nach Voraussetzungen und Folgen, Grund und Grenzen, Kohärenz und Differenz zu forschen. Die Praxis muss mit dem fertigen Gesetz umgehen, so wie es ist. Großtheorien geben da eher Steine statt Brot. Dazwischen liegt die Wurstküche der Gesetzgebung, die ein politisches Programm in Normen abzufüllen hat. Dabei werden an die Gesetzesverfasser Wünsche ohne Detailkenntnis oder Interesse an der konkreten Rechtsmaterie herangetragen. Hier die Qualität der Gesetzgebung in Kenntnis der theoretischen Diskussion und der praktischen Bedürfnisse hoch zu halten, ist eine extreme Herausforderung. Deshalb sind Rechtswissenschaftler dankbar für Engagement und Sachkenntnis, die der Jubilar stets in großem Maße in diesen schwierigen Prozess eingebracht hat. Hinzu kommt seine offene Kommunikation mit Wissenschaft und Praxis durch Einführungsaufsätze und Berichte über den Entstehungsprozess der gesamten Buchstabensuppe der Aktienrechtsreformen, die man nicht missen möchte.

102 So bereits Merkt, Unternehmenspublizität (Fn. 27), S. 410 ff.; auch Begr. RegE zum CSRRU, BT-Drucks. 18/9982, S. 1: Zugleich besteht sowohl in den Fachkreisen als auch auf Seiten der Wirtschaft ein großes Interesse daran, dass die Funktion der Rechnungslegung erhalten bleibt, die in erster Linie darin besteht, für die Unternehmenssteuerung und zugleich für externe Nutzer relevante Informationen bereitzustellen …; vgl. auch Hommelhoff in dieser Festschrift S. 371 unter II.

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Kommerzialisierung der Mitgliedschaft – ein Beitrag zur Flexibilisierung des Aktienrechts Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Kompensation und Ausgleich als Grundgedanke des AktG 1. Ausgangslage 2. Kommerzialisierungsschritte während der Ära Ulrich Seibert a) Einschränkung der Kassation ohne Kompensation b) Vorrang anderer Rechtsverfahren c) Ausweitung von Haftungsklagen 3. Zurückdrängung der Kassation zugunsten der Kompensation I II. Ratio: Flexibilisierung der Mitgliedschaft 1. Dritter Weg zwischen Kassation und Sanktionslosigkeit 2. Kein Kapitalmarktkontext 3. Realistischer Blick auf Einfluss von ­Minderheitsaktionären IV. Konturen einer beschlussbezogenen Kompensationslehre

1. Fundament a) § 243 Abs. 2 Satz 1 vs. § 243 Abs. 1 AktG b) Spruchverfahren statt Anfechtungsklage c) Kernelemente der Kompensations­ lehre 2. Kompensationsfähiger Mangel a) Inhaltsmängel b) Nur bewertungsbezogene ­Informationsmängel (§ 243 Abs. 4 Satz 2 AktG) c) Grenzziehung: Schwerstmängel 3. Kompensation und Spruchverfahren a) Angebot mit Mindestdokumentation zur Höhe der Kompensation b) Salvatorische Wirkung des HV-­ Beschlusses c) Ersatzpflicht der Handelnden V. Fazit und Ausblick

I. Einleitung Der Jubilar hat von 1992 bis heute, von der 12. bis 19. Wahlperiode, mehr als 25 Jahre die Entwicklung des deutschen Aktienrechts geprägt. In den Zeitraum seiner rechtspolitischen Tätigkeit – zuletzt als Ministerialdirektor und Referatsleiter Gesellschaftsrecht  – fallen gemäß einer auf zeitnahe, kleinschrittige Anpassung ausgerichteten „Aktienrechtsreform in Permanenz“1 neben einer Vielzahl kleiner Änderungen mehr als ein Dutzend2 mittelgroße Reformen des Aktienrechts.

1 Vgl. dazu – mit Weitblick – Zöllner, AG 1994, 336; den kleinteiligen Ansatz rechtfertigend Seibert, Aktienrechtsreform in Permanenz?, AG 2002, 471. 2 Kleine AG-Gesetz (1994), UmwG (1995), KonTraG (1998), NaStraG (2001), TransPuG (2002), BilReG (2004), UMAG (2004), EHUG (2006), MoMiG (2008), BilMoG (2009), ­VorstAG (2009), ARUG I (2009), BilMoG (2009), Frauen und Männer in Führungsposi­ tionen-Gesetz (2015), Aktienrechtsnovelle 2016. Derzeit in Arbeit ist das ARUG II.

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Ein gestalterisches Element, das während seiner Schaffensperiode an Bedeutung gewonnen hat, ist die durch sog. räuberische Aktionäre3 und massenhafte Anfechtungsund Nichtigkeitsklagen eingeleitete Abkehr von einem Hauptversammlungsrecht, das an sämtliche Verfahrens- und Inhaltsmängel die Rechtsfolge der Kassation knüpft. Während für bestimmte Mängel die Kassation de jure ausgeschlossen, die Geltendmachung auf unmittelbar Betroffene eingeschränkt4 oder deren praktische Bedeutung durch das Freigabeverfahren gemäß §§ 246a, 319 Abs. 6 AktG, § 16 Abs. 3 UmwG derogiert wurde, trat an die Stelle der Kassationssanktion für andere Mängel der Vorrang der Kompensation. Es wird auf Interesse und Zustimmung des Jubilars gehofft, wenn dieser Beitrag in den verschiedenen, auf Kommerzialisierung der aktienrechtlichen Mitgliedschaft dringenden Teilmaßnahmen der Seibert‘schen Ära eine rechtspolitische Leitlinie erkennt, die auf die heutige Auslegung überkommener Normen des Aktienrechts Einfluss nimmt. Zunächst soll gezeigt werden, dass der Ausgleichsgedanke dem Aktienrecht seit je her innewohnt, aber in der Schaffenszeit des Jubilars besonders dynamisch fortentwickelt wurde (II.). Sodann wird der Regelungsgrund der Kommerzialisierung untersucht (III.), bevor Konturen einer beschlussbezogenen Kompensationslehre herausgearbeitet werden (IV.). Der Beitrag schließt mit Fazit und Thesen (V.).

II. Kompensation und Ausgleich als Grundgedanke des AktG 1. Ausgangslage Die §§  241  ff. AktG statuieren aus Gründen der Rechtssicherheit gegenüber den BGB-Grundsätzen eine Privilegierung: Dort gilt der Grundsatz, dass ein rechtswidriger Privatrechtsakt nichtig ist. Im Aktienrecht sind rechtswidrige Beschlüsse zunächst wirksam, aber anfechtbar, sofern sie nicht an einigen, in § 241 AktG dezidiert genannten Mängeln leiden. Bei der Konturierung des Privilegs galt es, Anreize zu rechtswidrigem Handeln zu vermeiden. Das AktG 1965 hatte den Aktionären das Anfechtungsrecht als deren wirksamste Waffe5 gewährt, um auf dem Umweg über die Beschlussvernichtung zur Hygiene der Unternehmensorganisation und -verwaltung durch Vorstand, Aufsichtsrat und Großaktionäre beizutragen. Dies geschah auf dem Boden einer „Verantwortungsethik“,6 die neben im engeren Sinne rechtlichen auch durchaus rechtsethische resp. moralische Standards zur Kontrolle der Verwaltung befürwortete; letztere mutierten über eine expansiv verstandene Treupflichtlehre zum rechtlichen Prüfungsstandard.

3 Begriff nach Lutter in FS 40 Jahre DB, 1988, S. 193 ff. 4 Vgl. z.B. § 242 Abs. 2 Satz 4 AktG. 5 Begr. RegE AktG 1965, s. Kropff, AktG 1965, S. 332 f. 6 Vgl. Wiedemann, ZGR 1980, 147, 155 ff.

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Jedoch gilt das Kassationsrecht seit je her nur mit Einschränkungen, von denen eine wichtige ist, dass gewisse Mängel nicht mehr die Beschlussvernichtung tragen, wenn der Nachteil der Betroffenen ausgeglichen wurde. Schon zu § 197 Abs. 2 AktG 1937 hatte sich die Lehre von der Ausgleichbarkeit zur Abwendung der Anfechtbarkeit trotz Verfolgung gesellschaftsfremder Sondervorteile gebildet.7 Schon damals war die Beschränkung überschießender Kassationsbegehren Zweck der Norm: Bis dato wurde die Mehrzahl der Nichtigkeitsklagen auf die Verfolgung gesellschaftsfremder Sondervorteile zum Schaden der Gesellschaft gestützt. Die in §  197 Abs.  2 AktG 1937 gewährte Anfechtbarkeit war demgegenüber Einschränkung.8 Während dieser Ansatz in § 243 Abs. 2 AktG 1965 bei einem auf Ausweitung der Anfechtbarkeit hindeutenden Wortlaut im Wesentlichen fortgeführt wurde,9 kam es auf Umwegen zur weiteren Einschränkung der Kassation zugunsten der Kompensation, nämlich durch das Konzernrecht der §§ 291 ff. AktG. Die Möglichkeit der vertraglichen Beherrschung und damit verbundener Prüfungs- und Ausgleichsverfahren gemäß §§ 312 ff. AktG sowie die Verantwortlichkeit bei faktischer Beherrschung gemäß §§ 317 f. AktG verschieben den Rechtsschutz für den bis dato wichtigsten Fall – die Konzernbeziehung – von der Kassation zur Kompensation. Das Konzernrecht definiert seither Grund und Grenze schutzwürdiger Sondervorteile. 2. Kommerzialisierungsschritte während der Ära Ulrich Seibert Die gelegentlich kritisierte10 „Polizistenfunktion“ jedes, auch des Kleinaktionärs hatte für ein in vielen Fragen eher holzschnittartig konturiertes Aktienrecht durchaus seine Berechtigung, verlor jedoch je mehr an Überzeugungskraft, je mehr sich durch Rechtsprechung und einen auch infolge internationaler Entwicklungen aktiven Gesetzgeber Konturen herausbildeten. Die Ausstattung von Aktionären mit einem für die Unternehmensentwicklung potentiell gefährlichen Waffenarsenal geriet spätestens seit Mitte der 1980er Jahre unter Druck. Als der Jubilar die ministerielle Verantwortung für das Aktienrecht übernahm, war der Reformbedarf offensichtlich. Obgleich durchaus mit scharfem Blick für die Details ausgestattet, ging Seibert die Reformanliegen mit der ihm eigenen Mischung aus Pragmatismus und dem Blick für das Wesentliche an. Resultat war eine Reihe punktueller Regelungen, deren Konsequenzen für das Verständnis des geltenden Rechts aus einer Gesamtbetrachtung der Einzelschritte erkennbar werden.

7 § 197 Abs. 2 Satz 2 AktG 1937 verwies auf § 101 Abs. 3 AktG 1937, wonach Beschlüsse anfechtungsfrei waren, bei denen mit dem Vorteil schutzwürdige Belange verfolgt wurden. In der Literatur entwickelte sich die Ansicht, wonach schutzwürdige Belange (nur) gegeben sind, wenn der AG und Aktionären zugefügte Nachteil ausgeglichen wurde. Vgl. Mest­ mäcker, Verwaltung, Konzerngewalt und Rechte der Aktionäre, 1958, S.  276  ff.; Müller-­ Erzbach, Das private Recht der Mitgliedschaft als Prüfstein eines kausalen Rechtsdenkens, 1948, S. 88 f.; Zöllner, Schranken der mitgliedschaftlichen Stimmrechtsmacht, 1963, S. 84 ff. 8 Vgl. Klausing, Aktien-Gesetz 1937, S. 177. 9 Vgl. Noack/Zetzsche in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2017, § 243 AktG Rz. 20 f. 10 Vgl. Krieger, ZHR 163 (1999), 343, 358; J. Vetter, AG 2008, 177, 185.

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a) Einschränkung der Kassation ohne Kompensation In einigen Fällen wurde die Kassation unmittelbar eingeschränkt. Dies betrifft einerseits die in der Ära Seibert neu eingeführten oder wesentlich erweiterten Anfechtungsausschlüsse in § 243 Abs. 3 AktG11 sowie §§ 120 Abs. 4 Satz 3, 121 Abs. 6, 135 Abs. 7, 243 Abs. 4 Satz 2, 305 Abs. 5, 320b, 327f AktG, §§ 14 Abs. 2, 32, 210 UmwG sowie § 52 WpHG. Dabei ging man über die bereits in § 243 Abs. 3 AktG 1965 (heute §  243 Abs.  3 Nr.  2 AktG) angelegte Ratio hinaus, wonach die AG nicht für Fehler Dritter einstehen soll, deren Verhalten sie nicht beeinflussen kann. Motiv des Anfechtungsausschlusses kann heute auch die Förderung des Interneteinsatzes (§ 243 Abs. 3 Nr.  1 AktG) oder der Vorrang des Abschlussprüfer-Abberufungsverfahrens nach § 318 Abs. 3 HGB sein (dazu noch sogleich). Die gleiche Wirkung wie ein Anfechtungsausschluss entfalten zahlreiche vom Jubilar angeregte „Konkretisierungen“, etwa der mit dem Kleine AG-Gesetz (1994)12 eingeführte § 186 Abs. 3 Satz 4 AktG zur 10 %-Grenze beim Bezugsrechtausschluss13 oder die zugleich angeordnete Nichtgeltung anfechtungsanfälliger Vorschriften für manche, etwa „kleine“ (gemeint sind börsenferne) Gesellschaften (z.B. § 121 Abs. 4 Satz 2 und Abs. 6 AktG). b) Vorrang anderer Rechtsverfahren Zweitens wurde die Bedeutung der Kassation durch Ausweitung bestehender oder Schaffung neuer Spezialverfahren reduziert. aa) Freigabeverfahren statt Kassation Nach entsprechenden Tendenzen in der Rechtsprechung14 deuteten sich in dem von einer wissenschaftlichen Arbeitsgruppe vorbereiteten und vom Parallelreferat federführend betreuten, aber auch die Seibert’sche Zuständigkeit berührenden Gesetz zur Bereinigung des Umwandlungsrechts (UmwBerG15) grundstürzende Neuerungen an. In § 16 Abs. 3 UmwG und § 319 Abs. 6 AktG i.d.F. UmwBerG finden sich die Konturen des Freigabeverfahrens für gegen Verschmelzungsbeschlüsse gerichtete Anfechtungsklagen. Der in diesem Kontext wichtigste (letzte) Satz von § 16 Abs. 3 UmwG und § 319 Abs. 6 AktG i.d.F. UmwBerG lautet: „Erweist sich die Klage als begründet, so ist der Rechtsträger/die Gesellschaft, der/die den Beschluss erwirkt hat, verpflichtet, dem Antragsgegner den Schaden zu ersetzen.“ Das neue Freigabeverfahren wurde sodann mit dem Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz16 sogleich auf Übertragungsbeschlüsse beim neu geschaffenen Squeeze-­ 11 Zu den Hintergründen Noack/Zetzsche in KölnKomm. AktG, § 243 AktG Rz. 565 ff., 622 ff. 12 BGBl. I 1994, 1961. 13 Dagegen kritisch unter dem Blickwinkel der Aktionärspartizipation Zöllner, AG 1994, 340. 14 BGHZ 112, 9 (Hypothekenbank-Schwestern). 15 BGBl. I 1994, 3210. 16 BGBl. I 2001, 3822.

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out (§ 327e Abs. 2 AktG) erstreckt. Konnte man dort noch argumentieren, ein HV-Beschluss sei angesichts der Mehrheits-Verhältnisse bloßer Formalismus, lässt sich dies für den nächsten Schritt nicht mehr sagen: Durch § 246a AktG i.d.F. UMAG17 wurde das Freigabeverfahren auf bestimmte HV-Beschlüsse jenseits der § 16 Abs. 3 UmwG, § 319 Abs. 6, § 327e Abs. 2 AktG ausgedehnt. Beschlüsse über Kapital­maßnahmen und Unternehmensverträge sollten grds. trotz anhängiger Beschlussmängelklagen eingetragen und bestandskräftig werden.18 Das ARUG19 konkretisierte schließlich die Funktionsweise des Freigabeverfahrens durch Einführung eines Bagatellquorums, Präzisierung der Interessenabwägungsklausel20 und Zuweisung der Verfahren an das Oberlandesgericht als Eingangsgericht, welches rechtsmittelfrei entscheidet. bb) Spruchverfahren statt Kassation Die Öffnung des Aktienrechts für ein auf angemessene Kompensation ausgerichtetes Verfahren konnte angesichts der im Feldmühle-Urteil des BVerfG21 angelegten Einordnung der Anfechtungsklage als prozeduralem Eigentumsschutz (Art. 14 GG) nur mit Bedacht erfolgen. Kurz nach der Moto/Meter-Entscheidung des BVerfG22 veranlasste der Jubilar im Rahmen des UMAG die Klarstellung,23 dass die Anfechtung für bestimmte bewertungserhebliche Informationsmängel ausgeschlossen und in das Spruchverfahren verwiesen ist. Seither kann die Anfechtung auf unrichtige, unvollständige oder unzureichende Informationen in der HV über die Ermittlung, Höhe und Angemessenheit von Ausgleich, Abfindung, Zuzahlung oder über sonstige Kompensationen nicht gestützt werden, wenn das Gesetz für Bewertungsrügen ein Spruchverfahren vorsieht (§ 243 Abs. 4 Satz 2 AktG).24 cc) Abschlussprüfer-Abberufung statt Kassation Mit dem BilReG25 wurde sodann ein Spezialverfahren zur Prüfung der Wahl des Abschlussprüfers geschaffen. Seither ist innerhalb des Anwendungsbereichs26 des An-

17 BGBl. I 2005, 2802. 18 Vgl. Seibert, Berufsopponenten – Anfechtungsklage – Freigabeverfahren – Haftungsklage: Das UMAG, eine Rechtsfolgenanalyse, NZG 2007, 841. 19 BGBl. I 2009, 2479. 20 Vgl. dazu Seibert, Gute Aktionäre – Schlechte Aktionäre: Räuberische Aktionäre und die Interessenabwägung im Freigabeverfahren  – Bericht aus dem Gesetzgebungsverfahren zum ARUG, in FS Uwe H. Schneider, 2011, S. 1211. 21 BVerfGE 14, 263, 274 ff. 22 BVerfG v. 23.8.2000 – 1 BvR 147/97, NJW 2001, 279, 280 Rz. 20 ff. (Moto Meter). 23 BGBl. I 2005, 2802. 24 Dazu Seibert, UMAG und Hauptversammlung  – Der Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG), WM 2005, 157; ders., BB-Gesetzgebungsreport: Das Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG) kommt zum 1. 11. 2005, BB 2005, 1457. 25 BGBl. I 2004, 3166. 26 Dazu Noack/Zetzsche in KölnKomm. AktG, § 243 AktG Rz. 632 ff.

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trags nach § 318 Abs. 4 HGB dieser gegenüber der Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage vorrangig, vgl. §§ 243 Abs. 3 Nr. 3, 256 Abs. 1 Nr. 3 AktG.27 c) Ausweitung von Haftungsklagen Drittens verschob die Ausweitung von Haftungsklagen den praktischen Schwerpunkt weg von der Kassation und hin zur Kompensation. Mit dem KonTraG28 wurde die Haftung von Vorstand, Aufsichtsrat und Wirtschaftsprüfern in Unternehmen erweitert. Insbesondere wurde der Vorstand  – haftungsbewehrt  – zur Einrichtung eines Überwachungssystems für bestandsgefährende Entwicklungen verpflichtet (§  91 Abs. 2 AktG29) und die Durchsetzung der Ersatzansprüche durch ein Bestellungsrecht für besondere Vertreter gemäß § 147 Abs. 3 AktG erleichtert.30 Das TransPuG31 reiht sich in diese Tendenz ein, indem es die Transparenz der Unternehmensführung und -überwachung erhöht, was die Durchsetzung von Schadensersatzklagen erleichtert. Auch für die Ausweitung von Haftungsklagen stellt das UMAG32 einen wesentlichen Schritt dar: Insbesondere wurde in § 148 AktG ein Klagezulassungsverfahren eingeführt, das es mehreren Aktionären mit kleineren Beteiligungen in einem Gesamtumfang eines anteiligen Grundkapitalanteils i.H.v. 100.000 Euro ermöglicht, im eigenen Namen die in § 147 Abs. 1 Satz 1 AktG bezeichneten Ersatzansprüche der Gesellschaft geltend zu machen.33 3. Zurückdrängung der Kassation zugunsten der Kompensation Die Ära Seibert prägt somit die Gesamttendenz weg von der Kassation und hin zur Kompensation, entweder qua Direktausgleich (§§ 246a Abs. 4, 319 Abs. 6, 327e Abs. 2 Satz 2 AktG, § 16 Abs. 3 UmwG), qua Spruchverfahren (§ 2 SpruchG, § 243 Abs. 4 Satz 2 AktG) oder qua Haftungsklage (§§ 147, 148 AktG). 27 Obwohl nicht explizit benannt, besteht Einigkeit, dass auch die Nichtigkeitsklage nach § 249 AktG erfasst ist, vgl. Noack/Zetzsche in KölnKomm. AktG, § 243 AktG Rz. 625. 28 BGBl. I 1998, 786. 29 Vgl. Seibert, Die Entstehung des § 91 Abs. 2 AktG im KonTraG - „Risikomanagement“ oder „Frühwarnsystem“? in FS Gerold Bezzenberger, 2000, S. 427. 30 Dazu Seibert, Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG) – Der Referenten-Entwurf zur Aktienrechtsnovelle, WM 1997, 1; ders., Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich – Die Aktienrechtsnovelle Pro und KonTraG, in Sonderheft zu Die AG, August 1997, 65; ders., Das Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG) – die aktienrechtlichen Regelungen im Überblick, in Dörner/Menold/ Pfitzer/Oser, Reform des Aktienrechts, der Rechnungslegung und Prüfung, 2. Aufl. 2003, S. 293 ff. 31 BGBl. I 2002, 2681. 32 BGBl. I 2005, 2802. 33 Vgl. dazu Seibert, UMAG  – Zu den Begriffen „Unredlichkeit oder grobe Verletzung des Gesetzes oder der Satzung“ in § 148 AktG und zu den Zusammenhängen zwischen §§ 93 und 148 AktG, in FS Priester, 2007, S. 763ff.; ders, Berufsopponenten – Anfechtungsklage – Freigabeverfahren  – Haftungsklage: Das UMAG, eine Rechtsfolgenanalyse, NZG 2007, 841.

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Vor diesem Hintergrund erweist sich der in § 243 Abs. 1 AktG niedergelegte Rechtssatz, wonach jeder Verstoß gegen Gesetz oder Satzung zur Anfechtung berechtigt, als äußerst perforiertes Feigenblatt. Ausgehend von der Kassation wurde ein nuanciertes Rechtsfolgesystem entwickelt, für das die im Jahr AktG 1965 niedergelegte Einschätzung, wonach die Anfechtungsklage des Aktionärs wirksamste Waffe sei, nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. Wichtigstes Substitut der Kassationsklage ist dabei der Kompensationsgedanke, den man als “dulde und liquidiere“ zusammenfassen kann. Er beruht auf dem Gedanken, das in gewissen Fällen das berechtigte Interesse des von einem Fehler betroffenen Aktionärs durch Geld ausgeglichen werden kann, die Mitgliedschaft also in gewissem Rahmen kommerzialisiert ist. Die Konturen und Grenzen einer auf HV-Beschlüsse fokussierten Kommerzialisierungslehre sind indes nur schemenhaft erkennbar. Diesen soll im Folgenden nachgespürt werden.

III. Ratio: Flexibilisierung der Mitgliedschaft 1. Dritter Weg zwischen Kassation und Sanktionslosigkeit Die Kommerzialisierung ist Gegenbewegung zu einer auf Perpetuierung des Status Quo angelegten Mitgliedschaftslehre, wie sie in Rechtsprechung und Schrifttum zur materiellen Beschlusskontrolle bei Bezugsrechtsausschlüssen34 ihren vorläufigen Höhepunkt fand. Diese Mitgliedschaftslehre hatte in einer von moralischer Freizügigkeit der Mehrheitsherrschaft geprägten Welt vor Kali + Salz35 ihre Funktion. Sie sieht sich aber je mehr einem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt, je dichter die gesetzliche Ausgestaltung von Strukturmaßnahmen namentlich im UmwG, im zugleich reformierten AktG und in den §§ 327a ff. AktG ausfiel. Dass das Kapitalmarktrecht flankierend immer weitere Teile der Aktiengesellschaft erfasste, Emittenten zur Offenlegung und Kontrollerwerber zum Pflichtangebot zwang, reduzierte die Berechtigung auch einer materiellen Beschlusskontrolle zugunsten der Minderheit. Die Akzeptanz der Kommerzialisierung stellt freilich keine Rolle rückwärts in Richtung Hibernia36 dar: Der Eingriff verliert nur durch die Kompensation seine Eigenschaft als Kassationsgrund. Ging die unkontrollierte Mehrheitsmacht gemäß der Hibernia-Rechtsprechung des Reichsgerichts in die eine Richtung zu weit, ist die Kommerzialisierung als Gegenreaktion auf eine im Einzelfall zu weitreichende Treupflichtlehre zu verstehen, die der Attraktivität der Rechtsform AG abträglich war. Es geht somit nicht um willkürliche Mehrheitsherrschaft und sittenwidrigen Abkauf des Rechtsmittels, sondern nuancierte Rechtsfolgenkontur durch Öffnung eines dritten 34 Statt vieler und erschöpfend Ekkenga in KölnKomm. AktG, 3.  Aufl. 2017, §  186 AktG Rz. 64 ff. m.w.N. 35 BGHZ 71, 40 ff. 36 RGZ 68, 235  ff.

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Wegs zwischen den Extrempositionen der Kassation und der Sanktionslosigkeit für Mängel, bei denen ein finanzieller Ausgleich das erlittene Unrecht aus der Welt schaffen kann. Kernfrage dieses Systems ist, welche Mängel in diesem Sinn kompensationfähige Mängel sind. Dazu sogleich IV.2. 2. Kein Kapitalmarktkontext Ausgehend vom Widerspruch zwischen dem auf Kontinuität ausgerichteten Verbandsmitglied als Modelltyp der Treupflichtlehre und dem lediglich an einer profitablen Kapitalanlage ausgerichteten, jederzeit zur Veräußerung bereiten Realtyp des Anlegers wurde die streng-mitgliedschaftliche Betrachtung für unvereinbar mit Kapitalmarktusancen gehalten.37 Entsprechend sieht ein Teil des Schrifttums den Kern der Kommerzialisierung in einer kapitalmarktorientierten Betrachtung (Stichwort Anlegerstellung).38 Damit ist kein Staat zu machen: Auch börsenferne (§ 3 Abs. 2 AktG) Aktiengesellschaften, die die ganz überwiegende Anzahl der Rechtsform AG ausmachen, können sich langjährige Streitigkeiten nicht leisten. Zur Vermeidung von Existenznöten brauchen diese Gesellschaften rechtssichere Verfahren zur zügigen Beendigung der Rechtsunsicherheit. Schon deshalb ist der vermeintlich einfache Ausweg eines Ausschlusses der „großen“ börsennotierten AG aus dem mitgliedschaftlichen Verbandskonzept und damit der Treupflichtdogmatik39 de lege lata oder ferenda keine Lösung. Entsprechend finden sich nur wenige Referenzen zur Kapitalmarktfunktion der AG in den Gesetzesmaterialien zu den die Kompensation statt Kassation gebietenden Vorschriften. Die Frage, ob auch börsenfernen AGs der dritte Weg zwischen den Extrempositionen Kassation und Sanktionslosigkeit eröffnet ist, also auch diese von einem flexibleren, weil teilkommerzialisierten Mitgliedschaftskonzept profitieren, beantwortet sich aus dem Gesetz: Die gesetzlichen Vorschriften, die den Vorrang der Kompensation vor der Kassation anordnen, insbesondere § 243 Abs. 2 Satz 2, § 243 Abs. 4 Satz 2, § 246 Abs. 3 Satz 7 AktG, aber auch sämtliche Vorschriften des Aktien- und Umwandlungs37 Mülbert, Aktiengesellschaft, Unternehmensgruppe und Kapitalmarkt, 2. Aufl. 1996, S. 332, 348; Schiessl, Die Kontrollfunktion der aktienrechtlichen Anfechtungsklage – Erwiderung aus Sicht der Praxis, in VGR (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 1999, 2000, S. 57; dagegen Wiedemann in FS K. Schmidt, 2009, S. 179 f. 38 Dies als Kernmerkmal aufgreifend Hüffer/Schäfer in MünchKomm. AktG, 4.  Aufl. 2016, § 243 AktG Rz. 55; Mülbert, Aktiengesellschaft, Unternehmensgruppe und Kapitalmarkt, 2. Aufl. 1996, S. 260 f., 332, 348; Schiessl in VGR (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 1999, 2000, S. 57, 65 f. m.w.N. in Fn. 14. Weniger deutlich bzgl der dogmatischen Verankerung im Anlegerschutz i.E. auch Mülbert in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2017, § 119 AktG Rz. 33 f., 38, 46, 60 f.; differenzierend und tendenziell für einen Vermögens- statt Mitgliedschaftsschutz bereits früher Geßler in FS Barz, 1974, S. 97, 103. Im Kontext des § 243 Abs. 4 Satz 2 AktG auch Mülbert in FS Ulmer, 2003, S. 433 ff.; E. Vetter, AG 2002, 176, 177. 39 Vgl. insbesondere für eine an dieser Grenze entlanglaufende Differenzierung Hüffer/Schäfer in MünchKomm. AktG, § 243 AktG Rz. 55 f.; Bayer, Verhandlungen des 67. DJT, Bd. I, 2008, S. E 81 ff.

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rechts zu Strukturmaßnahmen bis hin zum extremsten Eingriff in die Mitgliedschaft – dem Ausschluss von Minderheitsaktionären gemäß §§ 327a ff. AktG – sind nicht auf börsennotierte Gesellschaften beschränkt. Bei dieser Gesetzeslage bedürfte eine Begrenzung des Kommerzialisierungskonzepts auf die börsennotierte AG, nicht aber die hier vertretene umgekehrte Position einer besonderen Rechtfertigung. Dabei wird nicht übersehen, dass ohne die Kapitalmarktpublizität die Durchsetzung und Berechnung der Kompensation schwieriger ist. Dem Einwand ist durch Mindestanforderungen an ein wirksames Kompensationsangebot Rechnung zu tragen (sogleich IV.3.). Im Grad der Kommerzialisierung unterscheidet sich nicht zuletzt die AG- von der GmbH-Mitgliedschaft. Der AG-Mitgliedschaft ist die Kommerzialisierung immanent, die sich im hier dargelegten Vorrang der Kompensation gegenüber der Kassation zeigt. Mangels vergleichbarer Vorschriften zu Strukturmaßnahmen und Anfechtungsausschluss im GmbHG besteht ein entsprechender Kommerzialisierungsgrad für die GmbH nicht. Er kann auch nur in gewissen Grenzen gesondert, ggf. statutarisch hergestellt werden. Dies ist bei der nach h.M.40 gebotenen entsprechenden Anwendung der §§ 241 ff. AktG (genauer: einzelner Vorschriften der §§ 241 ff. AktG) im GmbHG zu berücksichtigen. 3. Realistischer Blick auf Einfluss von Minderheitsaktionären Zielt die Kommerzialisierung auf Überwindung der mit der Kassationsklage verbundenen Blockadewirkung und Versteinerungstendenz, beruht dies auf einer Grenzziehung zum Maß des Einflusses von Streubesitz- und Minderheitsaktionären. Bekanntlich ist der Regelfall des § 133 Abs. 1 AktG der Mehrheitsbeschluss, so dass jemand, der über die Mehrheit nicht verfügt, damit rechnen muss, überstimmt zu werden und auch im Aufsichtsrat nicht vertreten zu sein, wodurch nicht zuletzt Einfluss auf den und Zugang zum Vorstand und damit das eigene Informationsniveau erheblich reduziert sind. In diesem Sinne „außenstehenden“ Minderheitsaktionären wird durch die Kommerzialisierungslehre der finanzielle Ertrag ihrer Beteiligung gesichert, während der  – mangels Mehrheit ohnedies inexistente – unternehmerische Einfluss als Wertungsparameter zurückzustellen ist. Geht es der Minderheit um eine unternehmerische Beteiligung, muss sie sich statutarische Sonderrechte vor ihrem Einstieg ausbedingen. Hat sie dies – wie im Regelfall – nicht getan, besagt die Kompensationspflicht nichts anderes, als dass der maßgebliche treupflichtgebundene, am Unternehmensinteresse orientierte Aktionär einem Eingriff in seine Rechte zustimmen würde, wenn ihm angemessene Kompensation geboten würde. Denn es entspricht dem Wesen der AG, dass man mit einem Anteil von weniger als 25 % Einfluss nur über der Minderheit zugewiesene Initiativrechte (z.B. HV-Einberufung oder Tagesordnungsergänzung gemäß § 122 AktG, Aktionärsantrag gemäß §§ 126, 127 AktG, Informationsrechte) und 40 S. nur (bei Unterschieden, welche Vorschriften herangezogen werden, insbesondere in Bezug auf die Klagefrist gemäß § 246 Abs. 1 AktG) BGHZ 101, 113, 117; BGHZ 111, 124, 126  f.; BGH NZG 2009, 1110; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, Anh. §  47 GmbHG Rz. 145 ff.; C. Schäfer, Der Konzern 2018, 413, 417 f., jeweils m.w.N.

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mit einem Minderheitsanteil (25