Recht aus Freiheit: Die Gegenüberstellung der rechtstheoretischen Ansätze der Wertungsjurisprudenz und des Liberalismus mit der kritischen Rechtsphilosophie Kants [1 ed.] 9783428527199, 9783428127191

Soziale Veränderungen führen auch zu Veränderungen des Rechts. Doch wie können Rechtsordnungen mit diesem Wandel umgehen

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Recht aus Freiheit: Die Gegenüberstellung der rechtstheoretischen Ansätze der Wertungsjurisprudenz und des Liberalismus mit der kritischen Rechtsphilosophie Kants [1 ed.]
 9783428527199, 9783428127191

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Schriften zur Rechtstheorie Heft 244

Recht aus Freiheit Von Bernhard Jakl

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bernhard Jakl · Recht aus Freiheit

Schriften zur Rechtstheorie Heft 244

Recht aus Freiheit Die Gegenüberstellung der rechtstheoretischen Ansätze der Wertungsjurisprudenz und des Liberalismus mit der kritischen Rechtsphilosophie Kants

Von Bernhard Jakl

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Die Fakultät für Philosophie der Ludwig-Maximilians-Universität München hat diese Arbeit im Sommersemester 2006 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 978-3-428-12719-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Mit ihrem Titel „Recht aus Freiheit“ greift die vorliegende Arbeit das Projekt der rechtsphilosophischen und politischen Aufklärung auf, das Handeln des Menschen ohne den Rückgriff auf Traditionen und metaphysische Voraussetzungen im Namen der Vernunft zu orientieren und zu normieren. Angesichts der weltweit zunehmenden Pluralismuserfahrungen gewinnen die aufgeklärten Begründungsdiskussionen für das Recht wie für die Philosophie erneut an Bedeutung, weil sie ohne tradierte oder naturrechtliche Sicherheiten auskommen. Als neueres Beispiel für die gesellschaftliche Konfrontation mit der erst in aufgeklärten, vernunftrechtlichen Kontexten möglichen Frage „Wer wollen wir sein?“ können die Diskussionen um die Einschätzung der Möglichkeiten der modernen Medizin genannt werden. Anders als bei Diskussionen um Teilbereiche des Rechts, wie etwa das der modernen medizinischen Forschung, die erst noch zu gestalten sind, stehen für die meisten Lebensbereiche internationale, nationale oder regionale juristische Normen bereit. So bietet das bürgerliche Gesetzbuch in Deutschland für die Lebensgestaltung des Einzelnen von der Geburt bis zu seinem Tod umfangreiche Regelungsmöglichkeiten, teils dispositiver, teils zwingender Natur. Die Ordnung und Systematisierung des Normen- und Entscheidungsbestandes erfolgt dabei insbesondere im Zivilrecht durch die juristische Dogmatik. Sie arbeitet stark mit „Reflexionsstopps“ derart, dass bestimmte normative Wertungen, insbesondere des positiven Rechts, als unhinterfragbare Gegebenheiten beschrieben werden. So hilfreich dies für die Praxis der konkreten Entscheidungsfindung sein mag, so problematisch bleibt dies in aufgeklärter Hinsicht. Selbst dogmatische Regeln als „necessarily incompletely theorized agreements“ (Cass Sunstein) zu verstehen, bedeutet letztlich, zu akzeptieren, dass innerhalb der juristischen Dogmatik normative Voraussetzungen als faktische Gegebenheiten behauptet werden. In der Folge können weitere Diskussionen im Hinblick auf die Offenlegung der Wertungskriterien und ihrer Begründungen im geltenden Recht vermieden werden. Philosophische Bezüge werden so entbehrlich. Was als dogmatisches Wissen unter gleich bleibenden gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen noch zu überzeugen vermag, reicht aber im Hinblick auf Begründungs- und Legitimationsfragen nicht aus. Sobald, wie in der Gegenwart, der kulturelle und gesellschaftliche Veränderungsdruck zunimmt, werden Begründungs- und Legitimationsdiskussionen, die über die dogmatischen Verfahren hinausgehen, auch in bereits juristisch normierten Rechtsgebieten unver-

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Vorwort

zichtbar. Diesen Begründungs- und Legitimationsfragen in der Rechtstheorie und der Rechtsphilosophie stellt sich die vorliegende Arbeit. Sie beschäftigt sich so mit einem Themenfeld, das der Sache nach das Format einer Qualifikationsarbeit wie der Dissertation notwendig überschreitet. Ebenso notwendiger Weise gehen daher mit dem Format einer Dissertation exemplarische Einschränkungen einher. Die vorliegende Gegenüberstellung der kritischen Rechtsphilosophie mit den Rechtstheorien der Wertungsjurisprudenz und des Liberalismus, die beide an eine positive Rechtsordnung anschließen, soll einen möglichen Weg aufzeigen, wie die Anwendung rechtsphilosophischer Erkenntnis als philosophisches Wissen möglich wird und wie juristische Theoriebildung durch philosophische Theorieelemente adressiert werden kann. Als Vertreter und jeweilige Referenzautoren bezieht sich die Arbeit für die Wertungsjurisprudenz auf Canaris, für den Liberalismus auf Dworkin und für die kritische Rechtsphilosophie auf Kant. Das Erkenntnisinteresse schwerpunktmäßig auf die Verhältnisbildung juristischer und philosophischer Theorien zu richten, bedeutet für Philosophen wie für Juristen aus Sicht der jeweiligen fachlichen Spezialisierung vielleicht auch eine Enttäuschung. Denn einige der in dem jeweiligen Fach detailliert diskutierten Probleme verlieren in dieser interdisziplinären Gegenüberstellung von Rechtfertigungsstrategien an Bedeutung. Die Arbeit wird weder die juristischen Auswirkungen der Wertungsjurisprudenz oder des Liberalismus für die deutsche Rechtsordnung erforschen, noch die Kant-Forschung allein in exegetischer Hinsicht optimieren. Daher mögen juristische Leser entsprechende, primär an philosophische Leser gerichtete Präsentationsanteile der Arbeit hinsichtlich der Wertungsjurisprudenz und des Liberalismus nachsehen, ebenso wie philosophische Leser die primär an juristische Leser gerichteten Präsentationsanteile zu Diskussionen um die Rezeption der kantischen Rechtsphilosophie in ihrem Lesen nachsehen mögen. Die in der Gegenüberstellung erfolgende Offenlegung juristischer und philosophischer Rechtfertigungsstrategien soll zur weiteren Rationalisierung der juristischen und der philosophischen Theoriebildung auf den Gebieten der Rechtstheorie und der Rechtsphilosophie beitragen. Exemplarisch werden die rechtstheoretischen und rechtsphilosophischen Begründungsressourcen aufgedeckt, die den Anspruch auf nachvollziehbare juristische Wertungen und Entscheidungen für jedermann prinzipiell einlösen können. Das aufgeklärte, philosophische Projekt einer in empirischer Hinsicht zunächst voraussetzungslosen intellektuellen Selbstverständigung über den juristischen Anspruch, gesellschaftliches Leben zu ordnen, in das Recht und seine Theoriebildung zu tragen, soll auf diesem Weg trotz aller rechtsphilosophischen Distanz zu positiven Rechtsordnungen dazu dienen, die interaktiven Regelungsmöglichkeiten und die gesellschaftliche Akzeptanz des Rechts zu stärken.

Vorwort

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Diese Arbeit lag im Sommersemester 2006 der Fakultät für Philosophie der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation vor; Literatur wurde bis zum Anfang des Jahres 2008 berücksichtigt. Ganz besonders möchte ich Prof. Dr. phil. Günter Zöller für die Betreuung der Arbeit und die vielfältige institutionelle Unterstützung danken. Prof. Dr. phil. Andrea Esser danke ich für die Übernahme des Zweitgutachtens. Prof. Dr. jur. Peter Landau möchte ich für Unterstützungsmöglichkeiten während des Studiums und insbesondere für seine Teilnahme an der Disputatio danken. Für Ihre wertvolle Hilfe und Kritik bei dem Entstehen und dem Beenden dieser Arbeit danke ich Dr. jur. Julian Burmeister, Beatrix Breitinger Ass. Jur. Maitre en droit (Paris II), Nikola Friedrich M.A. Ass. Jur., Dr. phil. Michael Weiß sowie den TeilnehmerInnen des Oberseminars von Prof. Dr. Zöller, denen ich vom Wintersemester 2002 bis zum Sommersemester 2006 verschiedene Stadien und Teile der Arbeit vorstellen durfte – auch die Teile, die nun keinen Eingang in die Endfassung fanden. Für Anregungen und Hinweise während der Publikationsphase danke ich Prof. Dr. jur. Thomas Gutmann M.A. Jann Reinhardt danke ich für seine zuverlässige Hilfe bei der Erstellung des Manuskripts. Für vielfältige Unterstützung möchte ich meiner Schwester Dr. med. Veronika Jakl und meinen Eltern Siegrun und Dipl.-Ing. Hermann Jakl danken. Dem Exzellenzcluster „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster danke ich schließlich für einen Druckkostenzuschuss. München, im Juli 2008

Bernhard Jakl

Inhaltsverzeichnis Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. „Recht aus Freiheit“ durch eine Flexibilisierung des Rechts? . . . . . . . . . . . 2. Zur Auswahl der Rechtstheorien und der Rechtsphilosophie . . . . . . . . . . . . 3. Der Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15 15 19 27

I.

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II.

Die Wertungsjurisprudenz nach dem Ansatz von Canaris . . . . . . . . . . . . . . 1. Wertungsmäßige Einheit und Folgerichtigkeit im Recht als Voraussetzungen für die Realisierung des materialen Gerechtigkeitsgehaltes . . . . . . a) Das Erfordernis einer Systematisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die zentrale Rolle des Gleichheitssatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Alternative Systematisierungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Wertungsjurisprudenz in der methodologischen Tradition . . . . . . . . . . a) Begriffs- und Interessenjurisprudenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Neuansatz der Wertungsjurisprudenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Gewinnung von Rechtsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Aus dem positiven Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Aus der Natur der Sache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Aus der Rechtsidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Recht und Sittlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Vorrechtliche Freiheit und rechtliche Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die positivistische Trennungsthese als Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die unlösbare Herausforderung einer umfassenden Liberalisierung . . . c) Eine erfolglose Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Flexibilisierung im Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Flexibilität im Recht durch Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die fehlenden theorieimmanenten Voraussetzungen für eine Flexibilisierung des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die liberale Rechtstheorie nach Dworkins „theory of equal concern and respect“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das „right to equality of concern and respect“ als Legitimationsgrund von Wertungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Problem der Selbstbezüglichkeit und die Gewinnung eines basalen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Überlegungsgleichgewicht als konstruktives Element . . . . . . . . . . . c) Der Gesellschaftsvertrag als Ausdruck einer Rechte-basierten Theorie d) Die Gleichheit als Voraussetzung der „original position“ . . . . . . . . . . . .

30 31 32 33 34 34 35 36 37 38 38 39 40 40 41 42 43 44 46 49 49 50 52 53 54

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Inhaltsverzeichnis 2. Die „theory of equal concern“ in der Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Absetzung von Rechtspositivismus und semantischer Rechtsauffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Absetzung von utilitaristischen und konventionalistischen Ansätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Funktion der Unterscheidung von „rules and principles“ . . . . . . . . . . a) Zur Unterscheidung zwischen „rules“ und „principles“ . . . . . . . . . . . . . b) Zur Darstellungsfunktion der „principles“ anhand der „one-right-answer-thesis“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) (K)ein vitiöser Zirkel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rechtliche Freiheit und vorrechtliche Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Ausgang von der Gleichheit und die Notwendigkeit von subjektiven Freiheitsrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Dworkins Liberalität im Unterschied zur Freiheit des Beliebens . . . . . c) Utilitaristische Kritik und ihre Zurückweisung durch Verschiebung der Argumentationslast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das Beispiel der „affirmative action“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Flexibilisierung des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Flexibilisierung als Realisierung liberaler Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . b) Das ungelöste Problem des Rechts hinter dem Recht . . . . . . . . . . . . . . .

III. Rechtstheorie und Rechtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Wertungsjurisprudenz und liberaler Rechtstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Gemeinsamkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Freiheit, Gleichheit, Flexibilisierung und das ungelöste Performanzproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Performanzprobleme bei Diskussionen um Freiheit, Gleichheit und Flexibilisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der performative Widerspruch im Theorieaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der performative Widerspruch als Problem der Selbstbezüglichkeit einer Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Notwendigkeit der und Anforderungen an eine Rechtsphilosophie . . . . . . a) Die Einklammerung der gegebenen Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die philosophische Bedeutungsreflexion auf den Terminus „Recht“ . . c) Die kantische Rechtslehre als geeigneter Anknüpfungspunkt für eine kritische Rechtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Kants kritische Rechtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die praktische Realität als Kausalität aus Freiheit und ihre Grundlegung a) Der Begriff einer praktischen Realität aufgrund einer eigenen Gesetzlichkeit oder: das Sittengesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V.

Inhaltsverzeichnis

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b) Die Wirklichkeit des kategorischen Imperativs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Metaphysik der Sitten als kritische Philosophie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Grundlegung als Transzendentalphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Rechtslehre als kritische Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Recht aus Freiheit: Die Bedeutungsreflexion von Recht und die Realität der Rechtsbedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Recht als spezifischer, praktischer Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die handlungstheoretische Spezifikation als relationale Willkürbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Normierungskraft des Rechtsimperativs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Eine erste Anwendung des Rechtsimperativs am Beispiel des Vertrauensschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zur Versinnlichung der Rechtsbedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rechtliche Freiheit und rechtliche Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Grundlegungsebene der Willensbestimmung oder: Will ich handeln? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Ebene der Tugend oder: Wer orientiert meine Maximenbildung im Rahmen der Willensbestimmung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Ebene des Rechts oder: Das Verhältnis der bestimmten Willkürstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Rechtsprinzipien, ihre reflexive Begründung und konkrete Rechte . . . . e) Das Grundlegungs- und Anwendungsverhältnis der Ebenen . . . . . . . . . 5. Die Flexibilisierung im Recht und die Flexibilisierung des Rechts . . . . . . a) Immanente Flexibilisierung als Flexibilität im Recht und Flexibilität des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Externe Flexibilisierung als Herausforderung und Irritation . . . . . . . . . c) Die Flexibilisierung aufgrund der kritischen Bedeutungsreflexion im Unterschied zur Definition und ein Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kants Rechtsphilosophie in der Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kants Praxis und die Sprachphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der gescheiterte Wirklichkeitsnachweis des kategorischen Imperativs? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kants praktische Philosophie als ein historisch überholtes, monologisches Einheitsdenken? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das Problem des Begründungsverhältnisses von kommunikativer und praktischer Vernunft anhand von Austins Sprechakttheorie . . . . . . . . . . d) Handeln und Denken ohne Sprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Argumentationstopoi gegen Kants Philosophie und ihre Überwindung . . . a) Kants Philosophie als zu umfassende Systemphilosophie? . . . . . . . . . . . b) Die Überwindung Kants im deutschen Idealismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Wirklichkeitsfremdheit des praktischen Gesetzes? . . . . . . . . . . . . . . 3. Zur Kant-Rezeption in der Rechtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis a) Der Neukantianismus im Unterschied zur kritischen Rechtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kant als idealer Vertragstheoretiker? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zur Kant-Rezeption im deutschen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Strafzwecklehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Begriff der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VI. Gegenwärtige Rechtsentwicklungen aus den Perspektiven von Wertungsjurisprudenz, Liberalismus und kritischer Rechtsphilosophie . . . . . . . . . . . 1. Zur Entwicklung eines europäischen Schadensrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Zersplitterung des Schadensrechts in den verschiedenen nationalen Rechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vereinheitlichung mittels Wertungsjurisprudenz oder liberaler Rechtstheorie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Perspektive der kritischen Rechtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Souveränitätsbegründung und Zentralmacht jenseits des Nationalstaats . . a) Recht ohne Zentralmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtstheorie ohne Zentralmacht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kritische Rechtsphilosophie ohne Zentralmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Antinomien als Grundstrukturen des Privatrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Antinomie von Individualismus und Kollektivismus . . . . . . . . . . . . b) Antinomie als Vernunftwiderspruch im Unterschied zu Antinomie als Grundwiderspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Funktionale Ergänzung als kritische Alternative zur Antinomie als Grundwiderspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197

Abkürzungsverzeichnis AA Abs. AcP ARSP Art. BGB BGH BGHZ BVerfG BVerfGE c.civ. DCFR

d. V. EGMR EuG EuGH FS GMS GRUR JZ KpV KrV KS KU MdS NJW SW ZphilF ZPO

Kants Werke. Akademie-Ausgabe Absatz Archiv für civilistische Praxis Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Artikel Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bundesverfassungsgericht Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts code civil Principles, Definitions and Model Rules of European Private Law. Draft Common Frame of Reference (DCFR). Interim Outline Edition. Edited by Study Group on a European Civil Code/Research Group on EC Private Law (Acquis Group) 2008 der Verfasser (Einfügungen und Hervorhebungen sind durch d. V. gekennzeichnet, sofern sie nicht im Originaltext enthalten sind) Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Europäischer Gerichtshof 1. Instanz Europäischer Gerichtshof Fichte-Studien Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht Juristenzeitung Kritik der praktischen Vernunft Kritik der reinen Vernunft Kant-Studien Kritik der Urteilskraft Metaphysik der Sitten Neue Juristische Wochenschrift J. G. Fichte sämmtliche/nachgelassene Werke. Hrsg. von I. H. Fichte Zeitschrift für philosophische Forschung Zivilprozessordnung

Einführung 1. „Recht aus Freiheit“ durch eine Flexibilisierung des Rechts? Die „zweite Moderne“,1 die globalisierte Welt der Gegenwart, wird soziologisch als individualistisch und risikofreudig wahrgenommen und beschrieben.2 Entsprechend dieser Betonung von Individualismus und Risiko mehren sich die Stimmen, die eine Orientierung an Normen mit allgemeingültigem Geltungsanspruch als lebensfremd und praxisfern betrachten.3 Bestehende Normen, so daher ein gesellschaftliches Desiderat auch gegenüber dem bestehenden Recht, müssten flexibler werden und an gegenwärtige, freiheitlich-individualistisch orientierte Tendenzen angepasst werden. In der politisch-philosophischen Debatte wird bereits die Frage „Freiheit oder Gerechtigkeit“ verhandelt. Und es wird gefordert, die Gerechtigkeit und damit auch die Gleichheit zu Gunsten der Freiheit zurückzustellen. Denn durch eine stärkere Freiheitsorientierung, so wird argumentiert, würden die Ziele einer ausgleichenden Gerechtigkeit gleichsam durch eine unsichtbare Hand erreicht.4 In der Reaktion auf das gesellschaftliche Bedürfnis nach mehr „individueller Freiheit“ versuchen in der rechtswissenschaftlichen Diskussion die einen, das Recht an wirtschaftswissenschaftlich ausgerichteten Entscheidungstheorien zu orientieren.5 Positionen, die sich um Werte bemühen, sehen in der Freiheit zur Bindung und der Vitalität die neuen Leitwerte.6 Andere stellen Freiheit und Gleichheit gegenüber und kritisieren Rechtsprechung und Gesetzgeber wegen deren Freiheitsfeindlichkeit.7 Wiederum Andere sehen einen Trend zum Recht ohne Staat, ohne eine Souveränität in Form einer Zentralmacht.8

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Für diesen Begriff siehe z. B. Beck, Was ist Globalisierung?, 25 und ebd. Fn. 8. Vergleiche stellvertretend Beck, Was ist Globalisierung?, 24–32. 3 In der philosophischen Debatte die Diskussion um eine Tugendethik, z. B. Anscombe, Modern Moral Philosophy, 34, Nussbaum, Non-relative Virtues, 32 oder Williams, Ethics and the Limits of Philosophy, 69. 4 So etwa Krebs, Gleichheit oder Gerechtigkeit?, 563 f. und 575. 5 So etwa die Rezeption der law and economics-Debatte durch Eidenmüller, Der Homo oeconomicus und das Schuldrecht, 217. 6 So z. B. Di Fabio, Grundrechte als Werteordnung, 7. 7 Etwa Reichold, Sozialgerechtigkeit versus Vertragsgerechtigkeit, 386, der als Beispiel für eine Überbetonung der Sozialgerechtigkeit aus dem Arbeitsrecht die Lügemöglichkeit der Schwangeren im Bewerbungsgespräch wählt. 8 Etwa Teubner, Global law without a state, xiii. 2

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Einführung

Doch die Forderungen nach mehr individueller Freiheit und mehr Flexibilität bestehender Normen in das Recht zu tragen, führt zu dem Problem, ob eine solche eingeforderte individualistische Weiterentwicklung, eine Flexibilisierung des Rechts, überhaupt zu mehr Freiheit führen würde. Und wenn tatsächlich eine Flexibilisierung des Rechts zu mehr Freiheit führen sollte, so drängt sich unweigerlich die Frage auf, welche Bedeutung dann noch der Gleichheit zukommen kann. Gehen mit der Forderung nach einer solchen individualistischen Weiterentwicklung des Rechts in Anbetracht des sozialen Wandels aber die tradierten Bedeutungen von Freiheit und Gleichheit verloren, dann muss insbesondere geklärt werden, ob Rechtsordnungen angesichts eines fortwährenden gesellschaftlichen und rechtlichen Wandels überhaupt noch beanspruchen können, die Kriterien zu richtigen und gerechten Entscheidungen bereitzustellen. Die Diagnose einer zunehmend individualistischeren Gesellschaft kann so zu Bedenken gegen jegliche Versuche führen, mit allgemeinen und verbindlichen Antworten auf die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen zu reagieren, etwa mit dem Anliegen von neuen Werten, mehr Freiheit oder der Frage nach der Bedeutung von Flexibilisierung des Rechts. Denn es entstehen Debatten, die meist in bloß theoretischen Erwägungen münden. Umfangreiche Theorien, so ließe sich dagegen vorbringen, würden aber angesichts konkreter individueller Veränderungen nicht weiterführen, eben weil sie zu abstrakt seien. In der Praxis dagegen gehe es darum, den jeweiligen Wandel zu vollziehen. Überdies könnten die Theorien ohnehin nur bereits vollzogene Wandlungen der Rechtspraxis erfassen. Um so an die bereits durch Gesellschaft und Gesetzgeber vorgegebene Entwicklung anzuschließen, müsse daher nicht theoretisch, sondern möglichst lebensnah vorgegangen werden.9 Um aber dem Anliegen der Wirklichkeitsnähe gerecht zu werden, muss bedacht werden, dass eine lebensweltliche Praxis ohne Theorie undenkbar ist. Denn auch die einzelne Erfahrung geht von Einheitsbildungen und Abstraktionen aus, mithin von Theorieleistungen, um im Unterschied zu anderen Erfahrungen als eine bestimmte lebensweltliche Erfahrung identifiziert werden zu können.10 So verliert das scheinbar pragmatische Vorgehen der Orientierung an der Lebenswirklichkeit seine Überzeugungskraft: Denn ohne theoretische Vorentscheidungen kann eine bestimmte lebensweltliche Erfahrung nicht als solche identifiziert werden.

9 Vgl. dazu Eidenmüller, Der homo oeconomicus und das Schuldrecht, 217 f., der allein das Kriterium der empirischen Absicherung zur Erkenntnisbegründung akzeptiert – und mit diesem Kriterium einen allgemeinen, empirisch selbst wiederum nicht abgesicherten Maßstab in Anschlag bringt. 10 Vgl. dazu Kant, Über den Gemeinspruch, 275 f., der es für noch „noch zu dulden“ hält, „[. . .] wenn ein Unwissender die Theorie bei seiner vermeintlichen Praxis für unnöthig und entbehrlich ausgebe [. . .].“, ebd., 276.

1. „Recht aus Freiheit‘‘ durch eine Flexibilisierung des Rechts?

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Umgekehrt reicht aber auch eine für sich genommen bereits sinnvolle, reflexiv und theoretisch ausgerichtete Fragestellung alleine nicht, um praktisch wirksam zu werden. Denn die theoretischen Vorentscheidungen bedürfen der Anwendung, um wirksam zu werden. Bedarf aber jede Theorie der Praxis und jede Praxis der Theorie, so kann es gewagt werden, jede Theorie auch als Praxis zu verstehen. Der Praxis kommt aber nicht der Sinn eines Erzeugens und Hervorbringens eines Gegenstandes zu, sondern eine Praxis muss dann im Sinne einer Tätigkeit selbst verstanden werden, die nicht zu einem Endprodukt führt, sondern in ihrem Vollziehen als Tätigkeit besteht. In diesem zweiten Sinne lässt sich auch sagen: Denken ist handeln.11 Philosophische Arbeit, so die Hypothese der vorliegenden Arbeit, besteht demnach wesentlich darin, sich darauf einzulassen, dass Denken und Handeln immer schon als miteinander verbunden gedacht werden müssen. Die Trennung und Unterscheidung zwischen Denken und Handeln, so eine Konsequenz einer solchen Auffassung, wird dann allein zu Theoriezwecken vorgenommen. Damit entsteht aber auch das Problem einer Relationierung zwischen dem jeweils denkend formulierten Theorieanspruch und der handelnd vollzogenen Theoriedurchführung. Das bedeutet, dass Denken und Handeln, und übertragen auf das Verhältnis von Theorie und Praxis, der Anspruch einer Theorie und die Theoriedurchführung, nicht in einem widersprüchlichen Verhältnis zueinander stehen sollten. Trifft es zu, dass Theorie und Praxis nicht allein pragmatisch, sondern auch sachlich nur in ihrem Zusammenhang ihre je spezifische Leistungsfähigkeit entfalten können, so muss auch Denken, verstanden als das Setzen und Vernetzen von theoretischen Unterscheidungen, als eine Form von Praxis aufgefasst werden. Die Aufgabe einer philosophischen Arbeit bei der Rezeption, Rekonstruktion wie auch Formulierung einer Theorie besteht mithin wesentlich darin, den in dieser Theorie jeweils spezifischen Zusammenhang von Denken und Handeln zu verstehen. Um die Leistungsfähigkeit einer Theorie einzuschätzen gilt es daher, das Verhältnis von dem im Denken entworfenen Theorieanspruch und der praktischen Theoriedurchführung zu untersuchen. Von zentraler Bedeutung ist dabei, dass der im Denken formulierte Anspruch der jeweiligen Theorie nicht mit der Durchführung der Theorie kollidiert oder letztlich zu Ergebnissen führt, die mit den Mitteln der Theorie nicht hinreichend begründet werden können.

11 Vgl. detaillierter zu einer Philosophie der Kultur, durch die sich zeigen lässt, dass die vielfältigen Kulturleistungen wie Sprache, Kunst und auch der Staat durch die Einheit der geistigen Akte des Produzierens eines jeweiligen Gegenstandsbereichs mittels des Setzens einer Relationsregel verbunden sind, Cassirer, Symbolische Formen. Erster Teil, 7–12, 29 f. und 49.

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Einführung

Die Frage, wie eine Flexibilisierung des Rechts angesichts der zunehmenden Individualisierung entworfen oder gestaltet werden könnte, kann daher nicht hinreichend durch einen Verweis auf die faktische lebensweltliche Praxis beantwortet werden. Zu ihrer Beantwortung müssen vielmehr umfangreiche theoretische Ressourcen herangezogen werden. Denn die Antworten auf die Fragen nach der Bedeutung eines Rechts aus Freiheit, der Rolle der Gleichheit in einer solchen Konzeption und der Auffassung von einem notwendigen und legitimen Wandel des Rechts kann nur relativ zu jeweils offen oder verdeckt in Anspruch genommenen theoretischen Voraussetzungen gefunden werden. Da für eine Beantwortung dieser Fragen jeweils theoretische Vorentscheidungen vorausgesetzt werden müssen, dürfen Freiheit und Gleichheit nicht vorschnell gegeneinander gestellt werden oder eine Flexibilisierung von Recht nicht einfach als Liberalisierung im Sinne einer Abschaffung von Normen verstanden werden. Daher bildet die neutrale Fragestellung nach der Bedeutung und dem Verhältnis von Freiheit, Gleichheit und Flexibilisierung relativ zu den jeweiligen rechtstheoretischen oder rechtsphilosophischen Voraussetzungen den Ausgangspunkt der Arbeit. Denn die drei Begriffe Freiheit, Gleichheit und Flexibilisierung hängen in ihrer spezifischen Bedeutung von solchen allgemeinen theoretischen Vorentscheidungen ab, die denkend gemacht werden. So geht die vorliegende Arbeit anlässlich der soziologischen Diagnose einer immer stärker individualisierten Gesellschaft von der Frage nach der Bedeutung von Freiheit, Gleichheit und Flexibilisierung relativ zu unterschiedlichen rechtstheoretischen oder rechtsphilosophischen Voraussetzungen aus. Um die unterschiedlichen Voraussetzungen, Begriffsvernetzungen und die daraus resultierenden Ergebnisse zu relationieren, werden sie daraufhin untersucht, ob Theorieanspruch und Theoriedurchführung jeweils in einem produktiven Verhältnis zueinander stehen. Als produktiv kann deren Verhältnis bezeichnet werden, wenn in widerspruchsfreier Weise denkend rechtliche Wertungen entwickelt werden können. Mit der damit einhergehenden Fragestellung nach den Auswirkungen unterschiedlicher Voraussetzungen im Denken zur Bedeutungsbestimmung von Freiheit, Gleichheit und Flexibilisierung möchte die vorliegende Arbeit einen originär rechtsphilosophischen Beitrag zur Praxis einer Flexibilisierung des Rechts und zu der Entwicklung eines solchen Rechts aus Freiheit leisten, ohne weiteres soziologisches oder historisches Material heranzuziehen. Bevor mit der Beantwortung der Fragen nach der Bedeutung von Freiheit, Gleichheit und Flexibilisierung relativ zu dem theoretischen Rahmen und der Rechtfertigungsstrategie, in denen sie jeweils verwendet werden, sowie dem Verhältnis des jeweiligen Theorieanspruchs zu seiner Theoriedurchführung begonnen werden kann, sei erläutert, warum eine Gegenüberstellung der hier herangezogenen rechtstheoretischen Ansätze der Wertungsjurisprudenz und des

2. Zur Auswahl der Rechtstheorien und der Rechtsphilosophie

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Liberalismus mit der kritischen Rechtsphilosophie Kants für dieses Projekt in besonderer Weise geeignet ist. 2. Zur Auswahl der Rechtstheorien und der Rechtsphilosophie Angesichts der vorhandenen, mannigfachen Theoriebildungen innerhalb der Rechtswissenschaften12 könnte bezweifelt werden, dass überhaupt ein weiterer Theoriebedarf für einen rechtsphilosophischen Beitrag aus der Disziplin der Philosophie besteht. Betrachtet man aber einige gegenwärtige rechtswissenschaftliche Theoriebildungen näher13, so wird deutlich, dass gerade die von einer konkreten Rechtsordnung unabhängigen, selbstständigen Reflexionsleistungen der Philosophie in den rechtswissenschaftlichen Theorien meist nur in Ansätzen berücksichtigt werden. So zielt zum Beispiel Röhl mit seiner Rechtslehre darauf ab, die Strukturelemente des positiven Rechts herauszuschälen.14 Alexy sieht seine Theorie der Grundrechte als eine, die auf den bestehenden Grundrechten des Grundgesetzes aufbaut.15 Larenz/Canaris sehen die Methodenlehre als hermeneutische Selbstreflexion der vorgefundenen Gesetzes- und Gesetzesdiskussionslage in Literatur und Rechtsprechung16. Rechtslehre, Rechtstheorie und Methodenlehre verstehen sich also gleichermaßen als reflexive Zugangsweisen zum Phänomen einer positiven Rechtsordnung. Gemeinsam ist allen diesen Theoriebildungen dabei, dass sie von der gegebenen Rechtslage ausgehen und wiederum auf diese und deren Vereinheitlichung abzielen.17 So steht die Theorieleistung im Dienste einer Erkenntnis des positiven Rechts. Diese positiv-rechtliche Form der reflexiven 12 Genannt seien aus der Gegenwart Alexy, Theorie der Grundrechte, Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, Dreier, Recht-Moral-Ideologie, Dworkin, Taking Rights Seriously, Hart, The concept of law, Larenz/Canaris, Methodenlehre, Röhl, Allgemeine Rechtslehre, Rüthers, Rechtstheorie und Zippelius, Verhaltenssteuerung durch Recht. 13 Die „Auswahl vor der Auswahl“ basiert auf der Überlegung, dass die verschiedenen Rechtsgebiete und ihre Theorien exemplarisch berücksichtigt werden sollen: mit Röhl ist eine allgemeine Theorie, mit Alexy eine Theorie auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts und mit Larenz/Canaris eine allgemeine Theorie, die aber besonders im Zivilrecht rezipiert wird, vertreten. Das Strafrecht eignet sich aufgrund des Grundsatzes „nulla poena sine lege scripta/stricta“ nur bedingt für solche Theorienbildungen. Zur Diskussion um die Strafzwecke siehe Abschnitt V. dieser Arbeit. 14 Siehe Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 1. 15 Siehe Alexy, Theorie der Grundrechte, 21. 16 Siehe Larenz/Canaris, Methodenlehre, 63. 17 Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 58 versteht dabei seine allgemeine Rechtslehre als „Holzkopf“ – im Anschluss an ein Kant-Zitat aus Kant, MdS, 229 f., demzufolge eine rein empirische Rechtslehre, das heißt eine, die allein auf den gegebenen Gesetzen aufbaut, ein schöner Kopf sei, der kein Gehirn habe. Alexy, Theorie der Grundrechte, 21 f. versteht seine Theorie ebenso in Absetzung zu einer philosophischen Theorie, die sich Alexy zufolge um die Begründung von Grundrechten bemühe.

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Herangehensweise an das Problem der Bedeutung von Recht wird daher im Folgenden als Rechtstheorie bezeichnet werden. Aus einer solchen rechtstheoretischen Perspektive lässt sich die Unterscheidung zur Rechtsphilosophie klar treffen sowie die Funktion und die Bedeutung der Rechtsphilosophie bestimmen: Während die Rechtsphilosophie die Begründung des „Rechts“ beziehungsweise seiner Geltung verhandeln solle, gehe die Rechtstheorie vom gegebenen, positiven Recht aus und ziele auf dessen Ordnung ab. Bereits mit dieser strikten Trennung zwischen Geltungsdiskurs und positiver Rechtslage kann aber der Verdacht entstehen, dass das Problem eines richtigen oder gerechten Rechts beziehungsweise die Frage nach dem Recht hinter dem Recht, als Frage nach der Gerechtigkeit verstanden wird18, um sie als ethische oder moralische Fragestellung beiseite zu schieben.19 Dieser Verdacht wird zur Gewissheit, weil sich innerhalb einer Rechtstheorie stets erneut die Frage nach dem Verhältnis der jeweiligen Rechtstheorie zur Rechtsphilosophie stellt. So betont etwa Röhl einerseits die Eigenständigkeit der seiner Ansicht nach rechtsphilosophischen Frage nach dem Verhältnis von Moral und Recht zu seiner Rechtslehre.20 Andererseits verhandelt er aber genau diese Frage als Teil der Allgemeinen Rechtslehre, indem verschiedene Ansätze der Beantwortung der Frage nach der Geltung von Recht typologisch klassifiziert werden.21 Alexy erhebt einerseits den Anspruch, sich von rechtsphilosophischer Arbeit abzusetzen.22 Andererseits soll eine allgemeine Theorie der Grundrechte sich über die Reichweite ihrer Geltung in Bezug auf die vorhande-

18 Etwa Röhl, Rechtslehre, in der Überschrift zu Kapitel 5, die „Recht und Gerechtigkeit“ lautet und unter der die Fragen nach dem Verhältnis von Recht und Moral und der Geltung des Rechts verhandelt werden. Siehe auch Larenz, Richtiges Recht, 41, indem er in der Folge ein dialektisches Verhältnis zwischen Rechtsfrieden und Gerechtigkeit als den beiden Hauptbestandteilen der Rechtsidee feststellt. Ebenso erscheint die von von der Pfordten, Einleitung, 10 f. vorgenommene Unterscheidung der Rechtsphilosophie in zwei Subdisziplinen problematisch: nämlich in eine Rechtsethik mit der Aufgabe einer rechtsexternen normativen Rechtfertigung der Rechts und eine Rechtstheorie mit der Aufgabe, die fundamentalen Strukturen des Rechts zu untersuchen. Denn es bleibt die Rückfrage unbeantwortet, wie das jeweilige Verhältnis von Idealität und Realität in den einzelnen Gebieten und in deren Verhältnis zueinander beschaffen ist. 19 Im Anschluss an eine solche Trennung versucht Osterkamp, Juristische Gerechtigkeit, 2, ein „Überlegungsgleichgewicht“ zwischen ethisch-moralischer Legitimation des Rechts und dem Normenbestand einer positiven Rechtsordnung herzustellen – allerdings ohne eine reflexiv erschließbare, rechtsimmanente Legitimationsstrategie heranzuziehen, auf die die vorliegende Arbeit zielt. 20 Siehe Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 57. 21 Siehe Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 280–301. 22 Siehe Alexy, Theorie der Grundrechte, 24 Fn. 10, demzufolge er eine im kantischen Sinne empirische Rechtslehre schreiben will, aber ohne vorhergehenden kritischen Teil.

2. Zur Auswahl der Rechtstheorien und der Rechtsphilosophie

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nen Grundrechte bestimmen23 und muss so zu dieser Grenzbestimmung einen Blick über die gegebenen Gesetze hinaus werfen.24 Larenz/Canaris machen sich einerseits die Position zu Eigen, dass jede Methodenlehre zur Rechtsphilosophie führe.25 Andererseits erheben sie aber auch den Anspruch, dass die Methodenlehre qua der in ihr erlangten Ergebnisse die Leistungsfähigkeit bestimmter rechtsphilosophischer Positionen beurteilen könne. So stellen Larenz/Canaris zufolge aufgrund der lebensweltlichen Einzelfallbezogenheit der Rechtsanwendung ein reiner Rechtspositivismus ebenso wie ein statisches Naturrechtsdenken keine haltbaren rechtsphilosophischen Theoriepositionen dar.26 Obwohl die verschiedenen Rechtstheorien des positiven Rechts jeweils von einer klaren Trennung zwischen Rechtstheorie und Rechtsphilosophie ausgehen, beanspruchen sie auch, philosophische Positionen in die Rechtstheorie zu integrieren. Diese nicht explizite Integration führt aus einem im positiven Recht begründeten Standpunkt heraus entweder zu der Einschätzung, Rechtsphilosophien korrigieren oder als überflüssig ablehnen zu können. Oder es lässt sich aus rechtstheoretischer Sicht der Schluss ziehen, dass zwischen Rechtstheorie und Rechtsphilosophie dem Erkenntnisanspruch nach gar kein Unterschied bestünde, da die je verhandelten Fragen und Probleme, etwa die nach der Legitimität der Rechtsordnung oder der Bedeutung von Recht, die gleichen seien.27 Gegen eine solche synonyme Verwendung von Rechtstheorie und Rechtsphilosophie stellen sich aber aus philosophischer Sicht Bedenken ein. Denn rechtfertigt die Diagnose, dass Rechtstheorie und Rechtsphilosophie die gleichen Fragen thematisieren, wirklich eine unterschiedslose Verwendung der Begriffe? Muss eine Abgrenzung nicht statt über die thematische Orientierung vielmehr anhand der unterschiedlichen Theorieinstrumentarien beziehungsweise der Reflexionsleistungen erfolgen, die zur Thematisierung und Beantwortung etwa der Fragen nach der Bedeutung von Recht oder der Legitimität der Rechtsordnung in Anschlag gebracht werden? Rechtsphilosophien erheben in Absetzung zu Rechtstheorien den Anspruch, eine Eigenständigkeit und damit Kritikfähigkeit gegenüber dem vorgegebenen Rahmen der positiven Rechtslage zu erreichen, indem sie auf allgemein-strukturelle Beiträge zu Sinn und Begründung von Recht und nicht wie Rechtstheorien primär auf die Begründung und Anwendungsoptimierung des geltenden Rechts ausgerichtet sind. Für Rechtsphilosophien kann eine Anwendung ihrer 23

Siehe Alexy, Theorie der Grundrechte, 22. Zu dem unumgehbaren Erfordernis einer außerhalb des Gesetzestextes orientierten Grundrechtsinterpretation siehe Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, 116. 25 Siehe Larenz/Canaris, Methodenlehre, 65. 26 Siehe Larenz/Canaris, Methodenlehre, 65 f. 27 So Kaufmann, Einführung in die Rechtsphilosophie, 10 f., der den Unterschied zwischen Rechtstheorie und Rechtsphilosophie historisch und nicht sachlich erklärt. 24

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Erkenntnisse erst im Anschluss an Überlegungen erfolgen, die von der positiven Rechtsordnung unabhängig sind.28 Unterscheiden sich die theoretischen Ressourcen, die zur Bearbeitung der gemeinsamen Themen herangezogen werden, so dürfen Rechtstheorie und Rechtsphilosophie nicht thematisch abgegrenzt werden, sondern müssen vor allem anhand differierender Erkenntnisansprüche und Erkenntnisleistungen einander gegenübergestellt werden. Um zu zeigen, dass Rechtstheorie und Rechtsphilosophie sich trotz gleicher Themenstellungen hinsichtlich ihrer theoretischen Ressourcen und damit auch in ihren Ergebnissen unterscheiden, werden in der vorliegenden Arbeit die rechtstheoretischen Ansätze der Wertungsjurisprudenz und des Liberalismus der kritischen Rechtsphilosophie Kants gegenübergestellt. Mit dieser Gegenüberstellung wird untersucht, ob und wenn ja, zu welchen Auswirkungen die unterschiedlichen Herangehensweisen bei den jeweils durch den Theorieaufbau zu begründenden Erkenntnisansprüchen wie auch bei den konkreten Ergebnissen führen. Die gemeinsamen Themen, mit denen die beiden Rechtstheorien und die kritische Rechtsphilosophie Kants konfrontiert werden, sind die Fragen, nach der Bedeutung von Freiheit, Gleichheit und Flexibilisierung. Ihre Beantwortung wird durch die Gegenüberstellung der unterschiedlichen rechtstheoretischen und rechtsphilosophischen Voraussetzungen und der daraus resultierenden Ergebnisse – entsprechend der Hypothese, dass Denkleistungen auch als Handlungen verstanden werden können – weitergeführt durch die Frage, ob Theorieanspruch und Theoriedurchführung jeweils in einem produktiven Verhältnis zueinander stehen oder ob bei den jeweiligen Ansätzen jeweils Erkenntnisanspruch, Durchführung und erzieltes Ergebnis auseinander treten. Um dieses Erkenntnisziel zu erreichen, erscheint eine Beschränkung auf zwei repräsentative rechtstheoretische Theorieansätze sinnvoll. Die nähere Auswahl 28 Dass die Verhältnisbildung der Erkenntnisansprüche von Rechtsphilosophie und Rechtstheorie ein gegenwärtiges Problem darstellt, zeigt sich auch angesichts der neuesten Theorieansätze, etwa dem von von der Pfordten, Rechtsethische Rechtfertigung, der auf die Frage nach dem „richtigen Recht“ im Rahmen der Unterscheidung zwischen normativem Individualismus und normativem Kollektivismus zu einer dreizonalen Theorie der politischen Gerechtigkeit gelangt, dabei aber immer schon davon ausgeht, dass dem Recht eine sinnvolle Bedeutung zukommt und dass das jeweils gegebene Recht zu rechtfertigen und zu verfeinern ist, ebd., 2. Ebenso ist es für ihn ein Desiderat, auf jegliche Metaphysik zu verzichten, ebd., 15, und stattdessen etwa mit mathematischen Analogien zu arbeiten, ebd., 23. Das Problem des „richtigen Rechts“ verwandelt sich damit in das der ethischen Rechtfertigung politischer Entscheidungen zur Gesetzgebung, etwa ebd., 1 f., 13, 29–31. Dabei stellt sich die Rückfrage, ob das Problem der Bedeutung von Recht nicht einfach immer weiter verschoben wird. Um dieses zu vermeiden, geht es in der vorliegenden Arbeit auch nicht um die Diskussion Naturrecht versus positives Recht, sondern um die Frage, wie theoretische Vorentscheidungen erst zu solchen Alternativen führen beziehungsweise wie sie sich unter kantischer rechtsphilosophischer Perspektive darstellen.

2. Zur Auswahl der Rechtstheorien und der Rechtsphilosophie

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orientiert sich dabei an der schon von den jeweiligen Ansätzen vorgenommenen philosophischen Rückbindung und an dem Grade der Problematisierung der gegebenen Rechtslage durch die Theorie. Wegen ihres differenzierten Verhältnisses zur positiven Rechtslage wie auch zu ihrer philosophischen Rückbindung mit dem Anspruch der Realisierung des materialen Gerechtigkeitsgehaltes von positiven Rechtsnormen ist der Ansatz der Wertungsjurisprudenz von Canaris, der in Teilen methodologisch an Larenz29 anschließt, sehr geeignet, um der Frage nach einer philosophischen Bestimmung von Rechtsreflexion im Unterschied zur Rechtstheorie nachzugehen. Dieser Ansatz stellt als Beispiel einer Wertungsjurisprudenz auch ein gegenwärtig wirkmächtiges Paradigma der rechtswissenschaftlichen Methodenlehre dar. Für das systematische Interesse der Arbeit ist es darüber hinaus von besonderem Interesse, wie angesichts einer anderen positiven Gesetzeslage entsprechende Rechtstheorien entwickelt werden. Hier bietet sich die liberale Rechtstheorie Dworkins an, da er in Absetzung von einer rein positivistischen Auffassung der Rechtsgeltung im Bereich des angelsächsischen Rechts beansprucht, zwischen Regeln und Prinzipien zu unterscheiden und so im Ausgang von Prinzipien allgemeine Rechtsstrukturen zu erschließen. Dworkins Ansatz steht damit für eine Theorie, die ebenfalls einen expliziten philosophischen Anspruch aufweist. Die Beschäftigung mit Dworkins liberaler Rechtstheorie wirft aber ein weiteres Problem auf. Denn von Dworkin gibt es kein Buch mit dem Titel „Rechtstheorie“ oder „System des Rechts“. Auch gibt er keinen Systembegriff oder eine Methodologie vor wie Canaris. Das heißt aber nicht, dass Dworkin kein System hat. Denn Dworkins liberale Rechtstheorie kritisiert bestehende Theorieoptionen, indem sie sich von nahezu allen anderen Theorieoptionen auf dem Gebiet der Rechtstheorie, etwa den semantisch, utilitaristisch, konventionalistisch, pragmatisch und ökonomisch ausgerichteten Ansätzen absetzt.30 Lässt man sich nun auf die plausible Voraussetzung ein, dass es, um ein System zu kritisieren, wiederum eines Systems bedarf, so ist es gerechtfertigt, auch bei Dworkin von einer Theorie des Rechts zu sprechen.31 Durch die Fokussierung auf die Theoriebildung wird auch die Bezugnahme zwischen der Wertungsjurisprudenz nach Canaris, die eher zivilrechtlich ausgerichtet ist und Dworkins liberaler Theorie, die eher staats- und verfassungsrechtlich ausgerichtet ist, möglich. 29 Für einen abschreckenden Überblick zu den, vor allem auch aus rechtsphilosophischen Gründen zurückzuweisenden Bemühungen von Larenz, der nach 1933 erfolgenden nationalsozialistischen Neuausrichtung des Zivilrechts jenseits von immer auch individuellen Freiheitsrechten eine intellektuelle Basis zu bereiten vgl. Jakobs, Karl Larenz und der Nationalsozialismus. 30 Dazu siehe unter II. 1. dieser Arbeit. 31 Diese Sichtweise findet sich auch durch Dworkins dahingehende Äußerungen belegt, etwa in Taking Rights Seriously, Einleitung und ders., Sovereign Virtue, 18.

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Denn die vorliegende Arbeit fokussiert die Frage nach dem Verhältnis von Theorieanspruch und den zur Durchführung in Anschlag gebrachten theoretischen Ressourcen, die der Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Recht vorgelagert ist. Im Hinblick auf die Auswahl der kantischen Rechtslehre als Vertreterin einer Rechtsphilosophie stellt sich angesichts zahlreicher rechtsphilosophischer Ansätze der Gegenwart, die allgemein-strukturelle Überlegungen der Philosophie bezüglich des Rechts entwickeln und auf das geltende Recht bezogen werden, natürlich auch die Frage: Warum wieder Kant? So leisten in rechtspolitischer Richtung zum Beispiel Höffe32 und Kersting33 einen rechtsphilosophischen Beitrag. Als interdisziplinär-ergebnisorientierte Ansätze sind etwa Arbeiten zu Verteilungsproblemen in der Medizin zu nennen.34 Die Diskurstheorie nach Habermas beschäftigt sich mit dem Recht unter der Perspektive der kommunikativen Rationalität.35 Die Stellung des Rechts als gesellschaftliche Vermittlungsinstanz zwischen Faktizität und Geltung führt hier dazu, dass das Recht wesentlich unter der Perspektive und in Funktion der gesellschaftlichen Integration betrachtet wird.36 Der Rawlsche Ansatz versucht, aus der Situation des Überlegungsgleichgewichts hinter einem Schleier des Nichtwissens heraus, Verbindlichkeitskriterien von Regeln zu bestimmen. Diese leitet er aus der hypothetischen internen Willensbestimmung der „gereinigten“ rationalen Egoisten ab und stellt dadurch das Recht, sofern es überhaupt als Ausprägung und Realisierungsmittel der Gerechtigkeitsgrundsätze verstanden wird, in Funktion des Einzelwillens und misst es an „wohlüberlegten Urteilen“.37 In der Debatte um Liberalismus, Kommunitarismus und Egalitarismus wird nicht so sehr versucht, den spezifisch rechtlichen oder rechtsbegründenden Problemen nachzugehen, sondern vielmehr gefragt, für welche inhaltliche Perspektive das Recht in Dienst genommen werden kann oder soll.38 32 Etwa: Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, der eine realistische Vision eines gerechtigkeitsgebundenen Rechts entwirft, z. B. 58–94 und 429–433, und so rein institutionenbezogene Entwürfe unter einen normativen Anspruch fasst. In Höffe, Ethik und Politik, wird das Verhältnis von philosophischer Ethik und politischer Philosophie auch nach einer Vorstellung der Problemlage im Spannungsfeld eher kantische und eher aristotelischer Theoriebildungen auch für die Anwendung, etwa zur Politikberatung, 447 f., abgehandelt. Zu Höffe: Katgeorische Rechtsprinzipien. Ein Kontrapunkt der Moderne. Frankfurt am Main 1995. 33 Etwa: Kersting, Politische Solidarität statt Verteilungsgerechtigkeit? und für den allgemeinen Rahmen Kersting, Politik und Recht. 34 Exemplarisch: Oduncu/Schroth/Vossenkuhl [Hg.], Transplantation. 35 Insbesondere: Habermas, Faktizität und Geltung. 36 Etwa: Habermas, Faktizität und Geltung, 59 f. 37 Etwa Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 29–32 und 38. 38 So thematisiert den Schwerpunkten der Perspektivsetzung nach der Egalitarismus die Frage, welche Ressourcen mittels des Rechts verteilt werden sollen, der Kommunitarismus die Frage, welchen Beitrag das Recht zum guten Leben leisten kann und der

2. Zur Auswahl der Rechtstheorien und der Rechtsphilosophie

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Alle diese rechtsphilosophischen Ansätze gelangen durch ihre Distanz gegenüber den positiven Rechtsordnungen zu einer Kritikfähigkeit dem positiven Recht und den faktischen Situationen gegenüber.39 Sie stehen hinsichtlich der Frage nach der Bedeutung von Recht aber im Unterschied zur kantischen Rechtslehre vor dem Problem, dass diese Begründung von rechtsexternen, etwa politischen oder ethischen Positionen her erbracht wird. Damit wird jedoch eine autonome rechtsphilosophische Position in begründender Hinsicht unerreichbar, da die Maßstäbe und Argumentationsstrukturen stets aus dem Recht äußerlichen Theorien entnommen werden. Dieses Defizit will die vorliegende Arbeit durch den Rückgriff auf die kantische Rechtsphilosophie vermeiden. Sie zielt mittels der kantischen Rechtsphilosophie auf die Entwicklung einer gegenüber gesellschaftlichen Situationen oder gegenüber Vorstellungen des guten Lebens zunächst eigenständigen, rechtlichen rechtsphilosophischen Perspektive. So kann der Ansatz einer rechtsimmanenten Rechtsphilosophie entwickelt werden, die zwar nicht von dem gegebenen Recht ausgeht, aber an dieses auf spezifisch rechtliche Weise anschlussfähig ist. Eine solche kritische Rechtsphilosophie im Ausgang von Kant lässt sich als Rechtsautonomie in begründender Hinsicht charakterisieren. Sie ist wesentlich dadurch gekennzeichnet, dass sie die für ihre Art der Bedeutungsbestimmung von Freiheit, Gleichheit und Flexibilisierung erforderlichen Denkvoraussetzungen mit theorieimmanenten Ressourcen hinterfragen und begründen möchte. Sie beansprucht, mit dem Rechtsimperativ die Bedeutung von Recht unabhängig von einer gegebenen Rechtslage und auch unabhängig von ethischen oder politischen Voraussetzungen anzugeben. Der Rückgriff auf die kantische Rechtslehre bringt zudem den Vorteil, dass sie in der Rechtstheorie besonders umfangreich rezipiert wird40, sowohl in abLiberalismus die Frage, wie das Recht dem Eigeninteresse beziehungsweise der Wahlfreiheit des Einzelnen Rechnung trägt. Siehe für einen kurzen Überblick zum Verhältnis von Kommunitarismus und Liberalismus: Sandel, Liberalism and its Critics. Hier kann auf die jeweiligen Positionen und ihr Verhältnis nicht näher eingegangen werden, da es dabei nicht so sehr um philosophische Theorieüberlegungen, sondern um politische Begriffsbesetzungen geht, obwohl es interessant wäre, der Frage nachzugehen, ob und inwiefern nicht eine grundsätzliche Kluft sachlicher und theoretischer Art zwischen den Theorien etwa von Kant und Hegel und den an sie anschließenden Theorien, etwa von Rawls und Taylor, besteht, die zu den entsprechenden Oppositionen der gegenwärtigen Theoriebildungen führt. Für einen historischen Beitrag, der die tatsächlichen Wirkungen von liberalistischen und kommunitaristischen Ansätzen einzuschätzen versucht siehe Kieseritzky, Liberalismus und Sozialstaat, und ein Ansatz zur Einschätzung der gegenwärtigen politischen Kraft z. B.: Langewiesche, Liberalismus und Sozialismus. 39 Etwa Kersting, Bewaffnete Intervention als Menschenrechtsschutz und Höffe, Humanitäre Intervention?, beide in Merkel [Hg.], Kosovokrieg, 187–231 und 167–186. 40 Zum Beispiel entnimmt Canaris, Systemdenken und Systembegriff, 11 seinen Begriff von Einheit zunächst Kants Kritik der reinen Vernunft, A 832/B 860, Alexy

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setzender wie auch in affirmativer Art und Weise. Darüber hinaus bildet die kantische Rechtslehre den zentralen Ausgangspunkt für eine lebendige weitere Theorieentwicklung des politischen und rechtsphilosophischen Denkens, etwa in zeitlicher Nähe zu Kant bei Fichte und Hegel und als Inspiration in der Gegenwart bei Habermas und Rawls. Vor allem aber befindet sich die kantische Rechtslehre im Rahmen einer umfangreichen Theoriebildung, die von einer Zweifelsbewegung an der klassischen Metaphysik in Form von Rationalismus und Empirismus durch Kritik ausgeht und dabei idealistische und realistische Theorieelemente kombiniert.41 So besteht die Aussicht, dass eine kritische Rechtsphilosophie die theoretischen Ressourcen enthält, um sowohl aus der nötigen Distanz das positive Recht zu erfassen und gegebenenfalls zu kritisieren wie auch einen spezifisch rechtlichen Maßstab für diese Erfassung und mögliche Kritik bereit zu stellen, ohne sich für dessen Begründung wesentlich auf das geltende Recht oder rechtsexterne Kriterien zu stützen. Gelingt weiterhin die Anwendung insbesondere auf das gegenwärtige Desiderat einer Flexibilisierung von Recht, so kann im Anschluss an eine Rechtsphilosophie aus dem Zeitalter der Aufklärung und damit der „ersten Moderne“ zur Bewältigung einer Problemlage vor allem der „zweiten Moderne“ beigetragen werden. Die kantische Rechtslehre42 bildet daher in der vorliegenden Arbeit den Ausgangspunkt zur rechtsphilosophischen Beantwortung der Fragen, nach der Bedeutung von Freiheit, Gleichheit und Flexibilisierung wie auch nach dem jeweiligen Verhältnis von Theorieanspruch und den in der Theoriedurchführung erzielten Ergebnissen. Um unterschiedliche Bedeutungen von Freiheit, Gleichheit und Flexibilisierung zu erforschen, kann das dazu heranzuziehende Material dahingehend konkretisiert werden, dass die vorliegende Arbeit die unterschiedlichen Rechtfertigungsstrategien der Wertungsjurisprudenz anhand des Ansatzes von Canaris, der liberalen Rechtstheorie anhand des Ansatzes von Dworkin und der kritischen Rechtsphilosophie nach Kant untersucht.

und Röhl setzen sich mit ihrem Vorhaben dagegen jeweils von dem der kantischen Rechtslehre ab, vgl. Einführung 2., Fn. 17. 41 Etwa Kant, KrV, A 51/B 75. 42 Kant verwendet zwar den Titel Rechtslehre, aber diese Begriffsverwendung ist von der gegenwärtigen, etwa bei Röhl, zu unterscheiden. Rechtslehre bei Kant bedeutet der Sache nach Rechtsphilosophie, da insbesondere Lehre als allgemeiner Titel eines Gebiets zu verstehen ist, für das ein Begriff gegeben wird.

3. Der Gang der Untersuchung

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3. Der Gang der Untersuchung Zur Gegenüberstellung der rechtstheoretischen Ansätze der Wertungsjurisprudenz und des Liberalismus mit der kritischen Rechtsphilosophie Kants sind die folgenden Ausführungen in sechs Kapitel gegliedert. Die ersten beiden Kapitel (I. und II.) sind jeweils der Präsentation und kurzen kritischen Diskussion der Wertungsjurisprudenz anhand des Ansatzes von Canaris und der liberalen Rechtstheorie Dworkins gewidmet. Dabei wird jeweils, wie auch in dem vierten Kapitel zur Entwicklung einer kritischen Rechtsphilosophie, zunächst auf das Anliegen und den Erkenntnisanspruch der jeweiligen Theorie eingegangen und diese sodann von anderen Ansätzen abgegrenzt, bevor auf die jeweilige Bedeutung von Freiheit, Gleichheit und Flexibilisierung eingegangen wird, die jeweils von dem Anliegen und dem Erkenntnisanspruch der jeweiligen Theorie abhängen. Das dritte Kapitel (III.) bildet den Übergang zwischen den beiden Rechtstheorien und der kritischen Rechtsphilosophie Kants. Hier wird argumentiert, dass die rechtstheoretischen Ansätze in einen performativen Widerspruch derart fallen, dass der formulierte Theorieanspruch und die mit der Theoriedurchführung erreichten Ergebnisse auseinander treten. So beansprucht die Wertungsjurisprudenz, die Rechtsidee zu realisieren. Tatsächlich kann sie aber nur die Einheit und Folgerichtigkeit in einer bestehenden Rechtsordnung befördern. Dworkins liberale Rechtstheorie dagegen beansprucht mit dem right to equality of concern and respect ein fundamentales Recht erschlossen zu haben, kann dieses aber nur durch die Lebenshaltung einer liberal tolerance und damit nicht mehr rechtlich begründen. Daher wird der Übergang zu einer Rechtsphilosophie erforderlich, die zum einen die gegebene Rechtslage einklammert und zum anderen eine von dieser unabhängige Bedeutungsreflexion auf den Begriff des Rechts leisten muss, ohne dabei willkürlich auf rechtsexterne Ressourcen zurückzugreifen. Diese Bedingungen erfüllt die kantische Rechtslehre. Im vierten Kapitel (IV.) wird die kantische Rechtslehre als kritische Rechtsphilosophie im Ausgang von dem Begriff der Handlung als Realisierung einer Vorstellung rekonstruiert. Um handeln zu können, so Kant, muss immer schon das Sittengesetz in Anspruch genommen werden, um neben der determinierten Sphäre der theoretisch erkennbaren Erscheinungen sinnvoll eine praktische Realität des Handelns ansetzen zu können. Diese allgemeine Grundlegung einer Moral oder die Möglichkeit einer Willensbestimmung aus Freiheit bedarf aber weiterer Schritte, um für endliche Vernunftwesen wirklich erfahrbar zu werden. Ein wichtiges Element ist dabei das Recht. Der kantische Rechtsbegriff wie er im Rechtsimperativ formuliert wird, wird dabei als kritisch-metaphysische Rechtsidee aus einer Transformation der Grundlegung entwickelt. So lässt sich ein Recht aus Freiheit begründen. Recht bedeutet dann, die Beziehung einzelner Handelnder mit bereits bestimmten Realisierungsabsichten so zu normie-

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Einführung

ren, dass deren interaktive Handlungsfähigkeit hergestellt wird oder erhalten bleibt. Diese in der Arbeit entwickelte Fassung einer kritischen Rechtsphilosophie wird im fünften Kapitel (V.) auf einige der zahlreichen Rezeptionsmuster in der Philosophie und den Rechtswissenschaften angewendet: etwa auf die Frage nach dem Verhältnis von kantischer Praxis und Sprachphilosophie, der neukantianischen Rechtsphilosophie und der Frage nach dem Zweck von Strafe. Dabei zeigt sich, dass die meisten dieser Rezeptionen der kritischen Rechtsphilosophie Kants nicht gerecht werden, da sie deren praktischen, handlungsbezogenen Charakter ausblenden. Das sechste Kapitel (VI.) bietet eine skizzenhafte Anwendung der kritischen Rechtsphilosophie auf drei gegenwärtige Rechtsentwicklungen: die Herausbildung eines europäischen Schadensrechts, die Möglichkeit eines Rechts ohne Zentralmacht und die Möglichkeit, zentrale Wertungen des Privatrechts durch Antinomien zu erfassen. Mit der kritischen Rechtsphilosophie steht im Ausgang vom Handlungsbegriff eine spezifisch rechtliche Sichtweise zur Verfügung, die nicht vom positiven Recht ausgeht, aber dennoch auf dieses bezogen werden kann. So kann die kritische Rechtsphilosophie im Unterschied zu den Rechtstheorien der Wertungsjurisprudenz und des Liberalismus die genannten Rechtsentwicklungen produktiv integrieren und steuern. Dieser an zwei Rechtstheorien und einer Rechtsphilosophie orientierte Aufbau soll auch ein Verständnis von Interdisziplinarität spiegeln, das sich nicht in dem Nebeneinanderstellen der Resultate verschiedener Wissenschaften oder einfachem Urteilen über die Leistungen des jeweils anderen Fachs erschöpft, sondern die jeweiligen Erkenntnisansprüche relativ zu ihren Voraussetzungen offen legt und so in funktionaler Hinsicht Erkenntnisansprüche und Argumentationselemente verschiedener Disziplinen aufeinander bezieht. Ein Verfahren, das einen vergleichenden Bezug rein inhaltlich über die Fragen nach den Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Rechtstheorie und Rechtsphilosophie hinsichtlich der Auffassung von Freiheit, Gleichheit und Flexibilisierung herstellt, kommt dabei wegen des besonderen Charakters der unterschiedlichen Praxis der Disziplinen noch nicht in Frage. Zwar könnte ein solches Vorgehen zu einer engeren Gegenüberstellung von rechtstheoretischen und rechtsphilosophischen Begrifflichkeiten führen. Die von einzelnen Theorien oder Autoren losgelöste, allein problemorientierte Vergleichstechnik bietet aber noch keine Gewähr dafür, dass die aus verschiedenen Disziplinen stammenden, zunächst prima facie identisch klingenden Begrifflichkeiten und Anwendungsvorschläge auch funktional und theoretisch-praktisch äquivalent sind. Zudem würden die jeweils differenten Anliegen und die Konzeption einer Theorie bereits unter der jeweils wiederum disziplinär vorgegebenen Perspektive eingeführt. Dies würde bei den beiden hier verhandelten Rechtstheorien und der kriti-

3. Der Gang der Untersuchung

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schen Rechtsphilosophie Kants aber zu dem Effekt führen, dass diese umfangreichen und anspruchsvollen Theorien aus verschiedenen Disziplinen in der Berechtigung ihrer Anliegen wie auch einzelner Theorieschritte und so in ihrer Komplexität übermäßig reduziert werden würden, wenn nicht sogar „zurecht gemacht“ werden müssten. Vor allem aber könnten die Rechtstheorien und die Rechtsphilosophie nicht auf ihre jeweils eigenständige Validität des Theorieaufbaus hin untersucht werden, das heißt dahingehend befragt werden, ob der Theorieanspruch und die in der Theoriedurchführung erzielten Resultate in einem produktiven Verhältnis zueinander stehen oder auseinander treten. Entscheidend für das getrennte Vorstellen der Rechtstheorien und der Rechtsphilosophie ist letztlich auch, dass auf dem Gebiet der Praxis kein eindeutiges Phänomen erkennbar ist, das den verschiedenen theoretischen Herangehensweisen gleichermaßen zugänglich ist. Anders als etwa im Verhältnis von Kunstgeschichte und Kunstphilosophie gibt es keine klar erkennbare gemeinsame Vorlage, wie etwa ein Bild, das je nach Disziplin unterschiedlich interpretiert werden kann. Sondern der Erkenntnisgegenstand der rechtlichen Handlung und Bewertung entsteht selbst erst relativ zu der jeweiligen Herangehensweise und Interpretationsleistung. Durch den hier gewählten Aufbau der einzelnen Präsentation und kritischen Diskussion der Theorien sowie ihre Verbindung durch einen gesonderten Übergangsteil bleiben die Anliegen der einzelnen Theorieentwürfe, ihr Einbau in die jeweilige Argumentation und ihre Verhältnisbestimmung in der vorliegenden Arbeit klar und deutlich identifizierbar. Auf dieser Grundlage können die unterschiedlichen Erkenntnisansprüche, theoretischen Voraussetzungen und die in der Anwendung erzielten Ergebnisse einander gegenübergestellt werden. Die Gegenüberstellung der rechtstheoretischen Ansätze der Wertungsjurisprudenz und des Liberalismus mit der kritischen Rechtsphilosophie Kants erfolgt so in dreifacher Hinsicht: erstens durch die infolge der Fragstellung nach der jeweiligen Bedeutung von Freiheit, Gleichheit und Flexibilisierung identische Struktur der Kapitel I., II. und IV.; zweitens durch das Kapitel III. zum Übergang von den rechtstheoretischen Ansätzen zur kritischen Rechtsphilosophie, indem das Verhältnis von Theorieanspruch und den in der Theoriedurchführung erzielten Ergebnissen im Mittelpunkt steht; und drittens, indem in Kapitel VI. eine anwendungsorientierte Gegenüberstellung der verhandelten Rechtstheorien und der kritischen Rechtsphilosophie anhand gegenwärtiger Rechtsentwicklungen erfolgt.

I. Die Wertungsjurisprudenz nach dem Ansatz von Canaris Recht dient der Regelung bestimmter gesellschaftlicher Zusammenhänge und Lebenssachverhalte. Die verschiedenen Regelungen einer bestimmten Rechtsordnung in ihrem Zusammenhang zu erfassen ist dabei unter anderem Aufgabe der Privatrechtstheorie und damit auch der Methodenlehre, die von dem Gebiet des Privatrechts aus entwickelt wird. Eine solche methodologische Herangehensweise bietet die Wertungsjurisprudenz. Sie wird zunächst ihrem Anliegen nach und in ihrem Verhältnis zu anderen methodologischen Ansätzen vorgestellt, sowie im Hinblick auf eines ihrer zentralen Mittel, den Rechtsprinzipien. Relativ zu diesen Voraussetzungen wird die Bedeutung von Freiheit, Gleichheit und Flexibilisierung entwickelt und jeweils kritisch diskutiert. Dabei wird gezeigt, in welche Probleme die Methodologie hinsichtlich ihres Erkenntnis- und Verbindlichkeitsanspruchs gerät, wenn sie den selbst gesetzten Ansprüchen gerecht werden will. Besonders deutlich wird das an dem selbst gesetzten Anspruch der Realisierung der Rechtsidee, der nicht erfüllt wird, da es der Wertungsjurisprudenz nur gelingt, die Wertungen einer bestehenden, positiven Rechtsordnung zu systematisieren. 1. Wertungsmäßige Einheit und Folgerichtigkeit im Recht als Voraussetzungen für die Realisierung des materialen Gerechtigkeitsgehaltes Einheit und Folgerichtigkeit im Rechtsdenken zu erzielen ist angesichts vielfältiger einzelner positiv rechtlicher Regelungen und ihrer richterlichen Auslegung das zentrale Anliegen der Wertungsjurisprudenz. Gelingt das Vorhaben innerhalb einer konkreten Rechtsordnung, so sind aus Sicht dieses Ansatzes die großen Fragen der Rechtsphilosophie, wie etwa die nach der Legitimation einer Rechtsordnung und die Antworten hierauf nicht mehr so wichtig; sie wären in gewisser Weise sogar überflüssig.1 Denn wenn es gelingt, die Einheit und Folgerichtigkeit einer positiven Rechtsordnung herzustellen, wäre die Rechtsidee, der zufolge Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln ist, konkret verwirklicht. Auch wenn dieser Anspruch teils etwas zurückhaltender formuliert wird, indem, etwa Cana1

Petersen, Von der Interessenjurisprudenz zur Wertungsjurisprudenz, 9–11.

1. Wertungsmäßige Einheit und Folgerichtigkeit im Recht

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ris zufolge, jede Methodenlehre zur Rechtsphilosophie führe,2 bleibt im Kern der umfassende Anspruch der juristischen Methodenlehre als Wertungsjurisprudenz erhalten: Sie soll zu einer Konkretisierung der Rechtsidee führen, wenn auch einschränkend, des materialen Gerechtigkeitsgehaltes einer Regelung in einem konkreten Umfeld, eben dem einer Rechtsordnung.3 a) Das Erfordernis einer Systematisierung Um zu diesem Ziel der Einheit und Folgerichtigkeit zu gelangen bedarf es einer Systematisierungsleistung. Denn es müssen stets verschiedene Wertungen aufeinander bezogen oder miteinander abgeglichen werden.4 Die Frage nach einem wertungsbasierten System behandelt in exemplarischer Weise Canaris’ Ansatz. Den Systembegriff entwickelt er dabei im Ausgang von Kant, demzufolge ein System eine Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee bedeute.5 Sodann werden bestehende Ausdifferenzierungen, das heißt verschiedene Arten der Einheitsbildung eingeführt: zum einen die Unterscheidung zwischen dem wissenschaftlichen System und dem objektiven System. Das objektive System umfasst dabei das positive, gesetzte Recht; das wissenschaftliche System die beschreibende, reflexive Erfassung des positiven Rechts. Zum anderen wird zwischen einem äußeren und inneren System unterschieden. Während das äußere System die Ordnung des vorgegebenen positiven Rechts, des objektiven Systems betrachtet, etwa die Einordnung der Anfechtungsregelungen im ersten Buch des Bürgerlichen Gesetzbuches, zielt das innere System auf eine Einheitsbildung der Wertungen der einzelnen Normen ab. Wandlungen und Veränderungen müssen dabei entsprechend der methodologischen Perspektive der Wertungsjurisprudenz ebenfalls auf zwei Ebenen ge2

So Larenz/Canaris, Methodenlehre, 67. Etwa Canaris, Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, 129 f. Dies gelingt in der Praxis z. B. anlässlich der Befreiungswirkung der Unmöglichkeit: Canaris, Die Neuregelung des Leistungsstörungs- und Kaufrechts, 14. Zur Ergänzungsfunktion der Lehre von der Geschäftsgrundlage als Teil der Realisierung der Rechtsidee ebd., 24. Zum Kriterium der Sachgerechtigkeit im Anwendungsbereich der vorvertraglichen Haftung, der culpa in contrahendo, und bei der Anwendung von § 438 BGB, ebd. 90–97. Ebenso zum Ziel der Sachgerechtigkeit und der Realisierung des Gerechtigkeitsgehaltes vgl. Canaris, Die Reform des Rechts der Leistungsstörungen, z. B. 2, 8, 11, 20. Gerechtigkeitsgehalt und Rechtsidee werden dabei synonym verwendet, da beide das Gebot enthalten, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln, vgl. Canaris, Theorierezeption und Theoriestruktur, 61. 4 Hierfür und auch im Folgenden exemplarisch Canaris, Systemdenken und Systembegriff, 18. Für weitere Nachweise siehe etwa Petersen, Von der Interessenjurisprudenz zur Wertungsjurisprudenz, 9–11. Auf andere Ausformungen der Wertungsjurisprudenz und ihre Vertreter kann hier nicht eingegangen werden. 5 Die Zitationsbasis dafür bildet Kant, KrV A 832/B 860. 3

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I. Die Wertungsjurisprudenz nach dem Ansatz von Canaris

dacht werden: Zum einen als Wandlungen des objektiven Systems, das heißt der geltenden Rechtsordnung, ihrer gesetzlichen Normen und Regelungen. Zum anderen als Entwicklungen auf der Ebene des wissenschaftlichen Systems, das heißt der Jurisprudenz in einem engeren Sinne. Hier bedeutet Entwicklung sowohl die fortschreitende Einsicht in die Grundwertungen des geltenden Rechts als auch das Nachvollziehen der Veränderungen und Entwicklungen des „objektiven Systems“, das heißt der kodifizierten Normen.6 Das innere System macht demnach wesentlich die Konkretisierung der Gerechtigkeitsidee in einer historischen Rechtsordnung möglich, da es hier – anders als beim objektiven System – auf den Geist der Gesetze, die fortschreitende Einsicht in ihre Grundwertungen und nicht allein auf ihre Buchstaben, wie bei dem objektiven System und seiner Entwicklung ankommt. Zentrale Aufgabe der wissenschaftlichen Jurisprudenz ist es daher, die wertungsmäßige Einheit und Folgerichtigkeit im Recht durch das Erschließen des inneren Systems einer Rechtsordnung zu erreichen. Dieses innere System wird dabei durch Rechtsprinzipien ausgedrückt, die die gegebene Mannigfaltigkeit von einzelnen Wertungen aufeinander beziehen und dabei miteinander kollidieren können.7 b) Die zentrale Rolle des Gleichheitssatzes Die Maßstäbe und Mittel der Einheit und Folgerichtigkeit ergeben sich, so Canaris, wesentlich ausgehend von dem Gleichheitssatz. Dieser Gleichheitssatz besagt, dass gleichartige Tatbestände gleich und ungleichartige ungleich zu behandeln sind. Seine Geltung basiert auf der Rechtsidee, deren materialer Gehalt aber nur anhand einer konkreten Rechtsordnung zu ermitteln sei. Insoweit wird die Rechtsidee selbst durch den Gleichheitssatz ausgefüllt und ist mit diesem bedeutungsgleich.8 Die Frage nach der Bedeutung der Rechtsidee wird aus der Perspektive der Wertungsjurisprudenz mit dem Verweis auf den allgemeinen Gleichheitssatz beantwortet.9 Allerdings wird die Verbindlichkeit der Rechtsidee selber nicht mehr thematisiert beziehungsweise unter dem Verweis auf die „Evidenz“ schlicht hingenommen.10 Diese Evidenz soll sich dabei wesentlich darüber einstellen, dass die Rechtsidee eine über den formalen Gleichheitssatz hinausgehende Bedeutung in der Konkretisierung dessen erhält, was in einer bestimmten Situation gleich oder

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Siehe Canaris, Systemdenken und Systembegriff, 73. Vgl. dazu I. 3. dieser Arbeit. 8 Siehe Canaris, Systemdenken und Systembegriff, 110 und 112 f. 9 Neben Widerspruchsfreiheit und Gleichheit ist auch die Rechtssicherheit der Rechtsidee immanent, Canaris, Systemdenken und Systembegriff, 125. 10 Ebd., 110 und 112 f. für die Theorie und für die Anwendung Larenz/Canaris, Schuldrecht BT II/2, 355. 7

1. Wertungsmäßige Einheit und Folgerichtigkeit im Recht

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ungleich ist. Die Konkretisierung ergibt sich damit aus dem Willen des geltenden Rechts und herrschenden Gesetzgebers.11 Im Rahmen dieser Konkretisierung kann zunächst zwischen einer positiven und negativen Fassung des Gleichheitssatzes unterschieden werden. Der positive Gleichheitssatz besagt, dass Gleiches gleich zu behandeln ist. Der negative Gleichheitssatz besagt, dass Ungleiches eben ungleich zu behandeln ist. Dem positiven und negativen Gleichheitssatz werden dann jeweils zur Generierung eines angemessenen tertium comperationis verschiedene methodische Ressourcen zugeordnet. Für den positiven Gleichheitssatz sind dies der Analogieschluss, das Argumentum a fortiori und die Abgrenzung zwischen Fehler und Lücke im Gesetz.12 So soll jeweils konkret ermittelt werden, worin der Bezugsmaßstab besteht. Für den negativen Gleichheitssatz stellt vor allem die teleologische Reduktion das Instrument zur Ermittlung einer fehlenden Regelung und damit eines Bezugspunktes zur Bezugnahme zweier verschiedenartiger Sachverhalte dar.13 c) Alternative Systematisierungen? Gegen diese methodologische Konzeption lässt sich einwenden, dass sie zu abstrakt, zu theoretisch sei. Allerdings bleibt dann zum einen unklar, wie ohne eine solche methodische Systemauffassung Bezüge sowohl zwischen dem positiven Recht und seiner wissenschaftlichen Behandlung wie auch je innerhalb dieser beiden Ebenen möglich sein sollen. Denn insbesondere der Ansatz von Canaris gewährleistet diese, indem er axiologisch beziehungsweise teleologisch verfährt und auf Einheit und Folgerichtigkeit im Recht zielt. Zum anderen überzeugt eine solche Systemauffassung im Unterschied zu anderen, etwa logisch oder topisch orientierten, in theoretischer Hinsicht. Denn sie reflektiert den Wertungscharakter des Rechts. Sie überzeugt in der Anwendung, denn sie wird zumindest im Rahmen teleologischer Argumente auch im Einzelfall entscheidungsrelevant. Zu beachten ist auch, dass erst von einer solchen Einheitsbildung her vermeintlich realitätsnähere Positionen, wie etwa die einer wertungsorientierten Interessenjurisprudenz verständlich werden. Denn erst dann können sie als Fall bestimmter Interessen erkannt und gewertet werden. Der Systemanspruch der Wertungsjurisprudenz stellt damit keinen theoretischen Selbstzweck dar, sondern dient unter anderem dazu, außergesetzliche Rechtsfortbildung zuzulassen und dieser zugleich Grenzen zu ziehen. So muss eine Rechtsfortbildung „praeter legem“ vor dem Hintergrund der Rechtsordnung als Ganzer erfolgen und darf nicht nur aus den einzelnen vorhandenen ge11 12 13

Ebd., 71. Ebd., 75. Ebd., 82 f.

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I. Die Wertungsjurisprudenz nach dem Ansatz von Canaris

setzlichen Regelungen eines Problemkreises beurteilt werden. Anderenfalls kann die eigentliche Wertung des Gesetzgebers nicht umgesetzt werden.14 „Contra legem“ ist eine Rechtsfortbildung aber, wenn die äußere Grenze, die Bindung des Richters an das Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) überschritten wird oder ein Fall des „qualifizierten Schweigens“ des Gesetzes vorliegt, also aufgrund des Schweigens die intendierte Rechtsfortbildung abzulehnen ist.15 2. Die Wertungsjurisprudenz in der methodologischen Tradition Die Wertungsjurisprudenz mit ihrem Ziel der Wertungseinheit und Folgerichtigkeit stellt das gegenwärtige Paradigma der Methodenlehre dar.16 Sie grenzt sich von den ihr auch historisch vorangehenden methodologischen Ansätzen der Begriffs- und Interessenjurisprudenz ab.17 a) Begriffs- und Interessenjurisprudenz Die Begriffsjurisprudenz wurde zu Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelt und zielt auf eine begriffliche Entwicklung und begriffslogische Ableitung von Rechtsbegriffen und Rechtsinstituten. So setzten etwa Puchta und von Ihering im Anschluss an die römisch-rechtliche Ausrichtung Savignys die Rechtsbereiche des Privatrechts als fünfgliedrig an.18 Auf diesen Ansatz gehen auch heute noch teils populäre Vorstellungen von dem gerechten Recht als einer „Subsumtionsmaschine“ zurück. Diese begriffliche Ausrichtung ging dann im Laufe des 19. Jahrhunderts in die Interessenjurisprudenz über. An dem Ansatz der Begriffsjurisprudenz wurde vor allem kritisiert, dass er aufgrund der allein begrifflichen Ausrichtung nicht mit den empirischen Umständen des Falls umgehen könne. Aus diesem Grund, und auch dem allgemeinen Trend zur Empirie in diesem Jahrhundert entspre-

14 Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 30–39. Auch in der Anwendung überzeugt dieses Konzept durch differenzierte Urteilsbildung, etwa zu der Frage, welche Wertungen der §§ 125–130 HGB auf die Gesellschaft bürgerlichen Rechts übertragen werden können: Canaris, Die Übertragung des Regelungsmodells der §§ 125–130 HGB auf die Gesellschaft bürgerlichen Rechts als unzulässige Rechtsfortbildung contra legem. 15 Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 40–50 und in der Praxis z. B. Canaris, Die Übertragung des Regelungsmodells der §§ 125–130 HGB auf die Gesellschaft bürgerlichen Rechts als unzulässige Rechtsfortbildung contra legem, 116–120. 16 Vgl. mit weiteren Nachweisen Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, 1 f. 17 Zum Unterschied von Wertungsjurisprudenz und Wilburgs Ansatz des beweglichen Systems vgl. Canaris, Systemdenken und Systembegriff, 74–85 18 Zu Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Ihering und Puchta siehe Mecke, Objektivität in Recht und Rechtswissenschaft.

2. Die Wertungsjurisprudenz in der methodologischen Tradition

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chend, bilden die mehr oder weniger tatsächlichen Interessenkonstellationen den methodische Ausgangspunkt der Interessenjurisprudenz. Sie formen den lebensweltlichen Hintergrund rechtlicher Streitigkeiten.19 Recht soll, diesem methodologischen Ansatz zufolge, konkrete Lebenszusammenhänge und die diesen entstammenden Konflikte lösen. b) Der Neuansatz der Wertungsjurisprudenz Gegen diese interessenorientierte Auffassung von Recht wendeten sich Anfang der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts erste Vertreter der Wertungsjurisprudenz. Der Interessenjurisprudenz wurde vorgeworfen, sie gründe letztlich die eigene Verbindlichkeit nur auf einen sozialen Machtanspruch. Denn das Interesse, das mit mehr Macht vertreten wird, würde gegenüber der rechtlichen Wertung stets übergewichtet werden, wenn die Methodologie die konkreten Interessen zum Maßstab nehme. Die Wertungsjurisprudenz dagegen soll die Wertungen des (demokratischen) Gesetzgebers in den Vordergrund rücken. Rechtsanwendung ist dann Umsetzung der gesetzlichen Wertungen und keine selbstständige Bewertung der Interessen neben der rechtlichen Wertung. Die Wertungen des Gesetzgebers werden als situationsbedingte Konkretisierungen der Gerechtigkeitsidee beziehungsweise als Folgerungen dieser verstanden.20 Dieses Anliegen beibehaltend ergeben sich diverse Ausformungen der Wertungsjurisprudenz in ihrem Verhältnis zur Interessenjurisprudenz wie auch zur Begriffsjurisprudenz, die hier aber nicht weiter verfolgt werden.21 Gemeinsam ist diesen Ausformungen aber, dass sich ihre Unterschiede wesentlich über die verschiedene Gewichtung der Bedeutung von lebensweltlichen Interessen und begrifflicher Kohärenz beziehungsweise Klarheit ergeben. Insoweit stellt die Wertungsjurisprudenz damit eine Überwindung der Ansätze der Begriffs- und Interessenjurisprudenz dar. Diese Überwindung erfolgt aber nicht in Form einer Ablehnung dieser älteren methodologischen Ansätze, sondern in Form einer interpretatorischen Aufhebung dieser unter einer neuen Perspektive, nämlich der Einheit und Folgerichtigkeit im Recht. Das heißt, dass dieser Ansatz imstande ist, seine beiden Vor-

19 Siehe Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 17; Stoll, Begriff und Konstruktion; Müller-Erzbach, Der Durchbruch des Interessenrechts, 331. 20 So Westermann, Wesen und Grenzen, 17 und 21. 21 Zu Ausdifferenzierungen vgl. etwa Petersen, Von der Interessenjurisprudenz zur Wertungsjurisprudenz, 9. Canaris’ Ansatz kann dabei mit Petersen hinsichtlich des klassischen methodischen Problems der Lückenausfüllung im Gesetz als eine rechtstotale, aber insofern auch immanent rechtsfortbildende Wertungsjurisprudenz verstanden werden.

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I. Die Wertungsjurisprudenz nach dem Ansatz von Canaris

gänger vor allem auch in ihren Anliegen zu integrieren und nutzbar zu machen.22 3. Die Gewinnung von Rechtsprinzipien Der Wertungsjurisprudenz stehen zum Erreichen ihres Ziels mit Hermeneutik und Rechtsprinzipien wesentlich zwei Mittel zur Verfügung. Während die hermeneutischen Ressourcen vor allem im Rahmen der konkreten Entscheidung, etwa unter der Perspektive Subsumtion und Interpretation interessant werden, sind zur Frage der Wertungseinheit besonders die Rechtsprinzipien von Interesse. Daher wird auf die Fragen eingegangen, woher diese Rechtsprinzipien stammen und wie ihr Geltungsanspruch begründet werden kann. Der erste Schritt auf dem Weg zu allgemeinen Rechtsprinzipien besteht in der Trennung von normativem Grundsatz und vorpositivem, das heißt nicht positiviertem rechtlichen Prinzip. Den zweiten Schritt bildet die Unterscheidung von Prinzipien rechtstechnischer Art und solchen, die eine Wertentscheidung enthalten. Da es darum geht, immer möglichst konkret zu bleiben und so die Rechtsidee konkret zu verwirklichen, finden nur die Rechtsprinzipien Eingang in die Theorie, die anhand des positiven Rechts zu finden sind.23 Der negative Schluss, dass das anzuwendende Rechtsprinzip dem geltenden Recht nicht widerspreche genügt für eine solche Klassifikation als Rechtsprinzip nicht. Vielmehr muss die Geltung eines allgemeinen Prinzips positiv entweder aus dem geltenden Recht oder aus seiner Rückführung auf die Natur der Sache abgeleitet werden oder auf der Rechtsidee beruhen, beziehungsweise das geltende Recht auf diese zurückgeführt werden können.24 Für die endgültige Entscheidung, ob ein Rechtsprinzip vorliegt, ist ein kombinatorisches Zusammenspiel dieser drei „Gewinnungsverfahren“ entscheidend.25 Die Rechtsprinzipien kön-

22 So etwa Petersen, Von der Interessenjurisprudenz zur Wertungsjurisprudenz, 95 f., der dann zwar die Interessenjurisprudenz für Zwei-Personen-Verhältnisse als geeignet ansieht und die Wertungsjurisprudenz für Mehrpersonenverhältnisse anwenden will. Die Frage, ob von der Interessen- zur Wertungsjurisprudenz ein Paradigmenwechsel vollzogen wurde, beantwortet er von der Basis der Wertungsjurisprudenz her mit der Unterscheidung und Annäherung von interessengeleiteter Wertungsjurisprudenz und wertungsorientierter Interessenjurisprudenz. 23 So Canaris, Systemdenken und Systembegriff, 95 f. 24 Hier findet sich im Text ein terminologisch problematischer Übergang von „Rückführung“, Canaris, Systemdenken und Systembegriff, 96, auf „Gewinnung“, ebd., 97. Denn der Sache nach werden hier induktives Verfahren und deduktives Verfahren in eins gesetzt, aber im Weiteren die Beschränkung auf das induktive Verfahren als zentraler Vorteil des eigenen Ansatzes gegenüber einem deduktiven Ansatz behauptet. Für eine Verbindung von induktivem und deduktivem Verfahren in einer kritischen Rechtsphilosophie vgl. IV. 4. e) dieser Arbeit. 25 Canaris, Systemdenken und Systembegriff, 100 und 123.

3. Die Gewinnung von Rechtsprinzipien

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nen der Wertungsjurisprudenz zufolge so aus dem positiven Recht, der Natur der Sache und aus der Rechtsidee gewonnen werden.26 a) Aus dem positiven Recht Die Gewinnung aus dem positiven Recht besteht in einem Schluss aus der lex, das heißt der geschriebenen Norm, über die ratio legis, das heißt den Regelungszweck der geschriebenen Norm, zur ratio juris, das heißt dem Sinn und Zusammenspiel der verschiedenen Normen einer Rechtsordnung. Dieser erfolgt mit dem Mittel der Induktion.27 Induktion ist dabei im Sinne eines Schlusses vom Besonderen auf das Allgemeine zu verstehen.28 Das heißt, die Induktion besteht in dem Schluss aus einer gegebenen Mannigfaltigkeit auf eine diese verbindende Einheit.29 Aus mehreren gesetzlichen Vorschriften wird so ein gemeinsamer Grundgedanke gewonnen, dem dann der Charakter eines allgemeinen Rechtsprinzips zugesprochen wird.30 Eine Abgeschlossenheit der Prinzipienbildung ist damit in einer solchen Theorie nicht angelegt. Vielmehr wird eine Offenheit hinsichtlich der Fälle als charakteristische Folge der Allgemeinheit des Prinzips ausgegebenen, aus denen es erschlossen wie auch auf die es angewendet wird.31 Beispiele für Rechtsprinzipien, die überwiegend aus dem positiven Recht gewonnen werden sind etwa der deutschrechtliche Grundsatz der „Teilbarkeit des Eigentums dem Inhalt nach“, dass „Dauerschuldverhältnisse stets beiderseitig aus wichtigem Grund lösbar sind“, das das Aktienrecht beherrschende Prinzip, dass „das Grundkapital unter allen Umständen erhalten bleiben muss“ und im Strafrecht das Verschuldensprinzip.32 Das bekannteste Beispiel für diese Art der Rechtsprinzipiengewinnung bietet der Schutz nicht voll Geschäftsfähiger, der durch die §§ 106 ff. BGB explizit geregelt ist und im ganzen materiellen und prozessualen Zivilrecht Anwendung findet, wenn auch teils in modifizierter Form.33 26

Ebd., 93–123. Ebd., 104. 28 Ebd., 99. Zur Differenz zwischen Analogie und induktiver Gewinnung vgl. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 98. 29 Zum alternativen Sinn von Induktion als Schluss auf die allgemeine Form aus einem Exemplar – wie bei Aristoteles die „EPAGWGH“ – im Unterschied zur Induktion als Schluss aus vielen Einzelfällen auf eine allgemeine, diese verbindende Gemeinsamkeit – wie bei Canaris – (epagoge = Induktion) siehe von Fritz, Die EPAGWGH bei Aristoteles, 675 f. 30 Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 98. 31 Ebd., 99. 32 Ebd., 101–103, 106. 33 So etwa in der Diskussion um BGHZ 55, 128 ff. (Flugreisefall). Dazu auch Medicus, Bürgerliches Recht, München 2002, 120. 27

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I. Die Wertungsjurisprudenz nach dem Ansatz von Canaris

b) Aus der Natur der Sache Die Gewinnung aus Natur der Sache bedeutet, ein Rechtsprinzip auf die den jeweiligen historischen und sozialen Lebensverhältnissen inne wohnende Ordnung zu stützen.34 Die Beachtung der von der Natur der Sache gebotenen Unterscheidungen ergibt sich dabei aus der Rechtsidee. Insofern ist die Natur der Sache als Element der Rechtsidee anzusehen. Im Zweifel findet die Natur der Sache als Rechtsprinzipiengewinnungsverfahren Anwendung, wenn dargetan ist, dass das geltende Recht keine der Natur der Sache eindeutig entgegenstehenden Anordnungen oder Wertungen getroffen hat.35 Beispiele für Rechtsprinzipien, die aus der Natur der Sache gewonnen werden, sind etwa das Prinzip der Höchstpersönlichkeit des Abschlusses von Verlöbnis und Ehe sowie die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers. Die Gewinnung aus der Natur der Sache umfasst so eigentlich nur Fälle des Anschlusszwanges. Das heißt, sie beinhaltet eine stark reaktive und pragmatische Perspektive. Das besondere an dieser Art der Pragmatik besteht darin, das jeweils als natürlich Erscheinende, das heißt vorrechtliche Unterscheidungen, in das Recht als rechtlich unveränderbar aufzunehmen. c) Aus der Rechtsidee Die Gewinnung aus der Rechtsidee soll nicht deduktiv, ableitend erfolgen, sondern topisch.36 Das bedeutet, dass „eine Problemlösung [. . .] an einem bestimmten Fall erkannt, als Rechtsgedanke formuliert, sodann an einer Reihe von Beispielen in ihrer Typizität erkannt und zum Prinzip verfestigt“37 wird. Die Überzeugungskraft des Prinzips kann dann auch oft auf die Rechtsidee selbst zurückgeführt werden.38 Dabei gilt: Rechtsprinzipien müssen unmittelbar einsichtig sein, in ihrer Richtigkeit evident.39 Die formale Widerspruchsfreiheit ist daher auch ein zentrales Element der Rechtsidee.40 Denn was selbstwidersprüchlich ist, kann auch nicht evident einleuchten. Beispiele für überwiegend auf die Rechtsidee rückführbare allgemeine Prinzipien sind das Prinzip der Waffengleichheit im Zivilprozessrecht, zum Beispiel bei der Zulässigkeit der nichtkonnexen Widerklage und das audiatur et altera pars.41 Weiterhin sind zu nennen: das Güterabwägungsprinzip, das Verbot des 34 35 36 37 38 39 40 41

Canaris, Systemdenken und Systembegriff, 118–123. Vgl. ebd., 120 f. Ebd., 106–118. Ebd., 107. Ebd., 108. Ebd., 112. Vgl. ebd., 110, 112 f. Ebd., 108, 114.

3. Die Gewinnung von Rechtsprinzipien

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Selbstwiderspruchs, demzufolge die Rechtsordnung nicht mit sich selbst in Widerspruch geraten darf, der Präventionsgedanke im Schadensrecht, das heißt der Grundsatz, dass es besser ist, Schaden zu verhüten, als Schaden auszugleichen, dass niemand ein von ihm begangenes Unrecht aufrechterhalten darf, die Privatautonomie sowie die Anerkennung der Selbstbestimmung der Person.42 Von den Rechtsprinzipien werden noch die allgemeinen Rechtswerte, wie etwa Freiheit und Gleichheit abgegrenzt. Diesen kommt ein höherer Allgemeinheitsgrad als den Rechtsprinzipien zu. Die Methoden ihrer Gewinnung aber sind dieselben drei wie die der Rechtsprinzipien, das heißt sie werden aus dem positiven Recht, aus der Natur der Sache und aus der Rechtsidee erschlossen.43 d) Recht und Sittlichkeit Von dem Recht, seinen Rechtsprinzipien, Rechtswerten und der Rechtsidee wird die Sittlichkeit unterschieden und strikt getrennt. Das Recht betrifft, so Canaris, allein den Menschen als soziales Wesen, nicht als sittlich-moralisches.44 Dem Sittengesetz und dem damit terminologisch entsprechend verwendeten Begriff des Naturrechts kommt dennoch in dieser Konzeption eine limitierende Funktion zu. Sie beziehungsweise es hat die Aufgabe der Bewertung der Rechtsordnung, die von der juristischen Alltagsarbeit zu unterscheiden ist und mit dieser eigentlich wenig zu tun hat.45 So wird eine herkömmliche Trennungsthese vertreten, der zufolge das positive Recht und seine Bewertung nicht vermischt werden dürfen und die Bewertung einer Rechtsordnung allein eine Frage der Sittlichkeit, das heißt des je individuellen ethischen oder moralischen, nicht aber interaktiven rechtlichen Wertungshorizontes ist.46

42

Ebd., 109–112. Ebd., 123–126. 44 Ebd., 114, 116. 45 Ebd., 117. 46 Die Trennungsthese wird dabei nicht weiter terminologisch einschlägig ausgeführt. Für die Wertungsjurisprudenz bleibt es dabei, dass die Sittlichkeit der Bereich ist, indem die Rechtsordnung anhand von individuellen Überzeugungen bewertet wird und die Rechtsordnung ihre Validität aus ihrer mit den beschriebenen Mitteln gewonnenen Einheit und Folgerichtigkeit gewinnt. Ebendies drückt auch die ergänzend heranzuziehende Unterscheidung zwischen Geltungs- und Anwendungspositivismus aus, vgl. Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, 212. Demnach ist die positivistische Theorie sinnvoll bezüglich der Frage nach der Rechtsgeltung, aber nicht weiterführend bezüglich der Frage nach der Anwendung des einmal geltenden Rechts auf den Einzelfall. Denn dazu muss das geschriebene Gesetz interpretiert werden, mit dem Lebenssachverhalt in Verbindung gebracht werden. Wird aber ein Geltungspositivismus akzeptiert, dann bleibt auch hier letztlich die Bewertung der Rechtsordnung als solcher dem privaten, sittlichen Belieben überlassen. 43

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I. Die Wertungsjurisprudenz nach dem Ansatz von Canaris

4. Vorrechtliche Freiheit und rechtliche Gleichheit Die Einführung der heute allgemein anerkannten Trennungsthese zwischen Recht und Sittlichkeit47 führt innerhalb der Wertungsjurisprudenz zu dem Problem, dass eine Doppelung von Rechtswerten wie auch Rechtsprinzipien stattfindet, sobald sowohl die juristische als auch die sittliche Perspektive nebeneinander gestellt werden. Einerseits bestehen die Rechtsprinzipien und -werte, wie sie sich aus der positiven Rechtsordnung erschließen lassen. Andererseits kann jedes dieser Rechtsprinzipien beziehungsweise jeder dieser Rechtswerte relativ zu einer individuellen, sittlichen Haltung kritisiert oder überformt werden. In einer solchen Doppelungssituation sind dann Übertragungen aus der sittlichen in die rechtliche Seite und vice versa möglich. a) Die positivistische Trennungsthese als Problem Eine Stärke dieser durch die Trennungsthese hervorgerufenen Doppelung von positivrechtlicher Wertung und deren sittlicher Bewertung besteht darin, dass in pragmatischer Hinsicht das Recht eigenständig gegenüber subjektiven Wertungen von Einzelpersonen ist. Eine Schwäche in theoretischer Hinsicht ist aber, dass das positive Recht entweder für eine Kritik aus sittlicher Sicht oder aber für eine Immunisierung gegenüber ebendieser Sicht anfällig wird. Ersteres führt dazu, dass jede persönliche Vorliebe an das Recht herangetragen werden kann und so die positive Rechtsordnung zum Instrument subjektiver Wertungen wird. Letzteres führt zu einem kritikfreien Beharren auf einer gesetzten Rechtsordnung. Nun kann verlangt werden, dass zwischen diesen zwei Extremen graduelle Abstufungen möglich sein müssen und mit einem angemessenen Verhältnis von sittlichen und rechtlichen Perspektiven die beiden Extreme eines beliebigen moralischen Bewertens und eines reinen Rechtspositivismus vermieden werden könnten. Allerdings bleibt das Grundproblem einer Doppelung der Wert setzenden Perspektive auch dabei bestehen. Das wird genau dann virulent, wenn das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit, den zentralen Rechtswerten, betrachtet wird. Da der Ansatz der Wertungsjurisprudenz von der Rechtsidee und damit von dem Gleichheitssatz ausgeht, steht sie gerade in einer Situation recht schnell im Kreuzfeuer der Kritik, in der ausgehend von einer Auffassung von Freiheit als maximal zu erweiternde Sphäre des persönlichen Beliebens eine Flexibilisierung wesentlich als Befreiung von Normen verstanden wird.48 Denn die Wertungsjurisprudenz selbst setzt die Handlungsfreiheit der Einzelnen als vorrecht47 Vgl. z. B. Funke, Läßt sich juristische Objektvität auf eine „Allgemeine Rechtslehre“ gründen?, 29 f., mit weiteren Nachweisen.

4. Vorrechtliche Freiheit und rechtliche Gleichheit

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lich voraus und verknüpft die Rechtsidee wesentlich mit dem Gleichheitssatz.49 Vorrechtlich ist die Handlungsfreiheit dann zum einen, indem sie im Rahmen der Instrumentarien nicht enthalten ist, die die Einheitsbildung garantieren sollen. Denn diese Instrumentarien sind die oben genannten Verfahren der Gewinnung von Rechtsprinzipien und Rechtswerten aus dem positiven Recht, aus der Natur der Sache und aus der Rechtsidee. Zum anderen zeigt sich die Vorrechtlichkeit der Handlungsfreiheit daran, dass sie im Verhältnis zum Gleichheitssatz als vorgängig angesetzt wird – gewissermaßen als natürliche Gegebenheit, die durch das Recht und seine Einheit und Folgerichtigkeit unter der Perspektive der Rechtsidee geordnet beziehungsweise begrenzt wird.50 b) Die unlösbare Herausforderung einer umfassenden Liberalisierung Setzt sich aber zum Beispiel auf sittlicher Seite, individuell (wie hier im Rahmen eines wissenschaftlichen Gedankenexperiments anlässlich einer Dissertation) oder kollektiv im Rahmen einer gesellschaftlichen Stimmung, ein solches rein freiheitliches Rechtsverständnis durch, so gerät schnell die gesamte Rechtsordnung in den Verdacht, freiheitsfeindlich zu sein und die Handlungsfreiheit der Einzelnen unnötig einzuschränken, da allein die Perspektive des individuellen Beliebens ausschlaggebend ist.51 Denn jedes Gesetz kann, sofern nur ein entsprechender individueller Standpunkt gefunden werden kann, aus dem heraus aufgrund dieses oder jenes Gesetzes eine Handlung nicht so oder nicht so einfach wie erwünscht möglich ist, aus Sicht eben dieser Einzelnen als limitierend und damit auch aus dieser subjektiven, sittlichen Sicht legitimer Weise als freiheitsfeindlich angeprangert werden. So ein Argumentationstyp führt, konsequent durchgeführt, zu der allgemeinen Hypothese, dass gesetzgeberisches Handeln als solches freiheitsfeindlich sei, da es stets eine Beschränkung eines je eigenen Beliebens mit sich bringt. Aus Sicht der juristischen Methodenlehre kann solcher Kritik mit dem Verweis auf die Vorteile einer Systematisierung des Rechts gegenüber einem topischen Verständnis des Rechts entgegengetreten werden. Ein solches Verständnis liegt etwa einer Konzeption des Rechts als sublimierte Form des Kampfes gegenseitiger Interessen zugrunde, dem alten Paradigma der Interessenjurisprudenz. Für den Übergang von der Interessenjurisprudenz hin zur Wertungsjuris48 Etwa bei Berlin, Two concepts of liberty, 8, 16, 56, der unter Freiheit als Belieben die Abwesenheit von Widerständen aller Art, auch rechtlicher, versteht, die den Handlungserfolgen eines Einzelnen entgegenstehen können. 49 Siehe Canaris, Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, 55. 50 Ebd. 51 In diese Richtung für den Ansatz des Individualismus ähnlich Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, 15.

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I. Die Wertungsjurisprudenz nach dem Ansatz von Canaris

prudenz war aber vor allem das Anliegen tragend, ein Recht des Stärkeren zu vermeiden, wie es die Interessenjurisprudenz noch zulässt.52 Genau dieses Anliegen aber wird durch das oben, der Strategie nach skizzierte, freiheitliche Argument negiert: denn schließlich soll sich ja im freien Spiel der Kräfte der Stärkere möglichst ungehindert durchsetzen. Also bleibt kein Spielraum mehr für das methodologische Anliegen einer gleichmäßigen Rechtsanwendung, das wesentlich vom Gleichheitssatz und der Widerspruchsfreiheit ausgeht. Damit schwindet aber dann auch der Rahmen für eine weitere, rechtsimmanente Entwicklung im Sinne der Suche nach der Einheit und Folgerichtigkeit im Recht. Da eine kritische Reflexion der eigenen Voraussetzungen, insbesondere für die Bedeutung der Rechtsidee, fehlt, geht so angesichts eines strikt freiheitlichen Standpunktes die Verbindlichkeit der auf der wertungsmäßigen Einheit und Folgerichtigkeit basierenden außergesetzlichen Rechtsfortbildung verloren. Um nun erneut eine Verbindlichkeit außergesetzlicher Rechtsbildung anhand von Rechtsprinzipien zu erreichen, das heißt den Ansatzpunkt zu einer Entwicklungsfähigkeit, einer Flexibilisierung im Recht, zu erhalten, müsste eine Theorie gefunden werden, die nicht nur die Gleichheit, sondern auch die Freiheit als Teil der Rechtsidee auffasst. c) Eine erfolglose Verteidigung Man könnte zur Verteidigung des Ansatzes der Wertungsjurisprudenz einwenden, dass diese Probleme und Herausforderungen nur im Falle der außergesetzlichen Rechtsfortbildung auftreten, also in dem Bereich, in dem keine positivrechtlichen Regelungen vorliegen. Damit würde dieses Problem der das Recht negierenden Kritik aus der Perspektive einer allumfassenden Handlungsfreiheit in den weit überwiegenden Fällen der Jurisprudenz gar nicht auftreten. Denn im Regelfall können sich vor allem richterliche Entscheidungen auf herkömmliche Rechtsquellen stützen, den Gesetzgeber und das Gewohnheitsrecht. Insoweit, so ließe sich folgern, sind die Fragen nach Bedeutung der Rechtsidee und nach ihrer Rechtfertigung beziehungsweise dem Verhältnis von Sittlichkeit und Recht nicht so drängend. Aber dennoch kann ein solcher rein methodologischer Ansatz vor dem Hintergrund des Problems einer vorrechtlichen Freiheit und einer rechtlichen Gleichheit nicht valide genug begründet beziehungsweise verteidigt werden. Denn die positive Rechtsordnung bietet insofern den Ausgangspunkt der Methodenlehre, da sie die Systematisierung des Rechts mit einem minimalen, aber noch rechtsimmanenten Aufwand rechtfertigen will, das heißt ohne auf sittliche 52 Dafür etwa Westermann, Wesen und Grenzen der richterlichen Streitentscheidung im Zivilrecht, 16.

5. Die Flexibilisierung im Recht

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Überzeugungen zurückzugreifen. Aber nur im Rahmen einer einheitlichen Methodik kann die gleichmäßige Rechtsanwendung garantiert werden. Daher legitimiert dieses Anliegen dann auch die Fälle der außergesetzlichen Rechtsfortbildung. Denn ein Nicht-Beurteilen des nichtgesetzlich geregelten Einzelfalls oder ganzer Fallgruppen würde gegen die Rechtsidee, den Gleichheitssatz verstoßen, der im geltenden Recht als Rechtsgewährungsanspruch seinen Ausdruck findet.53 Wird aber der Gleichheitssatz negiert, so lässt sich weder das Anliegen der außergesetzlichen Rechtsfortbildung noch das der Systematisierung rechtfertigen. Denn die Systematisierung selbst setzt wesentlich einen Allgemeinheitsund damit einen Gleichheitsbezug voraus, der aber durch einen Begriff von vorrechtlicher Freiheit als einem individuellen, unbeschränkten Belieben negiert wird. Die mit der Trennungsthese einhergehende Doppelung von Sittlichkeit und Recht hinsichtlich der Wertung beziehungsweise Bewertung von Rechtsprinzipien und Rechtswerten führt so den Ansatz der Wertungsjurisprudenz in eine aporetische Situation, aus der heraus keine Rechtsprinzipien mehr gewonnen werden können. Das Unternehmen der Suche nach Einheit und Folgerichtigkeit im Rechtsdenken müsste somit aufgegeben werden, sobald die sittliche Wertung in Form einer handlungsfreiheitsbasierten Überzeugung neben die angestrebte Einheit und Folgerichtigkeit im Recht tritt. Gesucht ist also die Möglichkeit, das positive Recht aus spezifisch juristischer Sicht noch einmal bewerten zu können und Recht und Sittlichkeit dabei so aneinander zu koppeln, dass es wiederum eine gemeinsame Basis von Recht und Sittlichkeit gibt. Denn erst dann könnten Recht und Sittlichkeit funktional getrennt werden, ohne dass stets schon aufgrund einer wertenden Gegenstellung beider Gebiete die Gefahr einer wechselseitigen Blockierung oder gar Negierung besteht. 5. Die Flexibilisierung im Recht Aus der Perspektive der Wertungsjurisprudenz wird das Problem der Flexibilisierung, der Anpassung des Rechts an bekannte wie auch unbekannte Lebenssachverhalte, als das Problem der „Flexibilität im Recht“ aufgeworfen. Es entsteht zum einen im Spannungsfeld von allgemeiner Norm und Einzelfall. Dabei wird ein für alle verbindliches Recht als das Kennzeichen einer Rechtsordnung aufgrund des allgemeinen Gleichheitssatzes vorausgesetzt. Aber da jeder einzelne Sachverhalt anders ist, soll eine einheitliche juristische Methodik garantieren, dass das allgemeine Recht auch in jedem Fall gleichmäßig angewendet wird, wozu die Rechtsprinzipien der Wertungsjurisprudenz insoweit einen Beitrag leisten, als dass sie zur Systematisierung erforderlich sind.54 53 54

So Canaris, Systemdenken und Systembegriff, 100. Vgl. oben Abschnitt I. 3.

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I. Die Wertungsjurisprudenz nach dem Ansatz von Canaris

Zum anderen gilt es aber auch, immer wieder neue Fälle in das bestehende Wertungssystem zu integrieren. So gibt es eine Vielzahl von Fällen, die nicht vom Gesetzgeber geregelt oder vorhergesehen wurden. Das kann daran liegen, dass bestimmte Fälle von vornherein nicht bedacht wurden, wie etwa bei der culpa in contrahendo (vorvertragliche Haftung nach vertragsrechtlichen Wertungen; seit der Schuldrechtsreform 2002 vgl. § 311 Abs. 2 BGB) oder aber auch daran, dass sich in der Zeit im Anschluss an neue technische oder soziale Entwicklungen neue Fälle ergeben, wie etwa bei der Frage nach der rechtlichen Einordnung von Softwarelizenzverträgen, des Leasing oder der Kreditkartengeschäfte. In jedem Fall gilt es, diese Lücken zu schließen, sofern nicht auf eine gleichmäßige Rechtsanwendung verzichtet werden soll. a) Flexibilität im Recht durch Rechtsfortbildung Während bei der Anwendung auf den Einzelfall Rechtsprinzipien die Herstellung einer Einheit und Folgerichtigkeit verbürgen, geht ihre Funktion bei der Bewertung neuartiger und regelungsbedürftiger Fälle darüber hinaus. Sie können zum Ausgangspunkt neuer Wertungen werden, wenn es gilt, die einmal diagnostizierten Lücken im Gesetz zu füllen. Den drei Arten der Gewinnung von Rechtsprinzipien aus dem positiven Recht, aus der Natur der Sache und aus der Rechtsidee entsprechen dabei auch drei Ebenen der Lücke im positivierten Normenbestand wie auch der Lückenfüllung: die Anordnungs- beziehungsweise Rechtsverweigerungslücke, die teleologische Lücke und die Prinzip- oder Wertlücke.55 Mit der Frage nach der Rechtsfortbildung auf neue Lebenssachverhalte hin wird auch das Problemfeld der Offenheit beziehungsweise Geschlossenheit eines Systems betreten. So sei, ließe sich vertreten, die Geschlossenheit einer Wertungseinheit faktisch nie zu erreichen, da eben stets neue, unvorhersehbare Probleme in der zeitlichen, historischen Entwicklung eintreten können. Allerdings behauptet die Wertungsjurisprudenz von sich auch nicht, Systembrüche unmöglich zu machen, sondern nur sie aufzudecken und mit diesen in nutzbarer Weise umgehen zu können, wie etwa im Falle von Wertungswidersprüchen und Rechtsfortbildung. Die idealer Weise zu erreichende Geschlossenheit gerät für einige aber in den Verdacht, neue Entwicklungen nicht zuzulassen. Dem lässt sich von der Wertungsjurisprudenz her zunächst entgegnen, dass die Geschlossenheit eben faktisch nicht erreicht werden kann. Aber angesichts der Leistungsfähigkeit eines Wertungssystems für die Vielzahl der geregelten Normalfälle behält die Systematisierung ihren Wert.

55

Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 140 ff.

5. Die Flexibilisierung im Recht

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Dieses rein pragmatische, faktisch orientierte Argument zur Rechtfertigung des Systemanspruchs lässt sich in einem weiteren Schritt durch ein theorietechnisch, ideal orientiertes Argument aus der Systemtheorie ergänzen, das das Verhältnis von Offenheit und Geschlossenheit neu situiert. Denn der Vorwurf der Geschlossenheit geht implizit davon aus, dass die Offenheit ein positiver Wert an sich sei.56 Wird aber bedacht, dass eine Öffnung erst von einer Position her möglich ist, eine Position aber wiederum Geschlossenheit voraussetzt, um sich als solche zu konstituieren, so erscheint die polare Gegenüberstellung von einer positiv besetzten Offenheit und einer negativ besetzten Abgeschlossenheit als zu einfach und der Komplexität des Verhältnisses dieser beiden Begriffe gegenüber unangemessen. Geht man nun davon aus, dass jede Offenheit selbst wiederum eine zu öffnende Position voraussetzt, so liegt die Herausforderung einer jeden systematischen Theoriebildung darin, eine hermetische Abgeschlossenheit zu vermeiden und offen für Irritationen aus der Umwelt des Systems derart zu sein, dass ein Modus zu finden ist, wie diese Irritationen innerhalb des geschlossenen Systems produktiv weiterwirken können und so eine Entwicklung ebendieses Systems auslösen können. Der Modus der Systemtheorie ist dabei das Re-entry (beziehungsweise der Wiedereintritt), auf das hier aber aufgrund der anders gelagerten Problemstellung der Arbeit nicht weiter einzugehen ist.57 Denn dass Offenheit und Geschlossenheit nicht gegeneinander ausgespielt werden können, ist hinreichend gezeigt, indem klar geworden ist, dass erst durch eine Geschlossenheit eine neue Offenheit erreicht werden kann.

56 Die Voraussetzung, dass Offenheit an sich ein positiver Wert sei und Geschlossenheit dagegen ein negativer Wert geht oft auf die sehr einflussreiche Schrift von Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, zurück. Leider übersieht Popper, ebd. Band 2, 5, 37, dass die meisten der von ihm als Feinde einer offenen Gesellschaft identifizierten Theorien und Theoretiker, wie z. B. Platon oder Hegel, das Problem einer Einheit in Vielheit verhandeln und nicht wie von ihm unterstellt zu einer Vereinheitlichung der Vielheit sowie eine Isolierung, Immunisierung und Abgeschlossenheit von anderen Ansätzen und Ideen unter der Perspektive der eigenen Theorie führen. So thematisiert Hegel explizit die Anerkennung des Anderen, etwa in dem Kapitel „Herrschaft und Knechtschaft“ seiner Phänomenologie des Geistes. Wegen dieser Fehlrezeption kann Poppers Schrift zu einer philosophischen Entwicklung wenig beitragen, da sie selbst mit unklaren Maßstäben, wie etwa der „Offenheit“, über andere, bedeutend komplexere Theorien urteilt. 57 Vgl. dazu Luhmann, Soziale Systeme, 230, im Anschluss an George Spencer Brown. Für das Recht bedeutet dies, dass unter der Perspektive der Unterscheidung Recht/Unrecht durch die Wiederholung der Unterscheidung auf der Seite des Rechts ein geschlossenes System konstituiert wird, das durch die relativ dazu entstehende Umwelt wiederum irritiert werden kann und sich so verändert. Vgl. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 43 f. und 242.

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I. Die Wertungsjurisprudenz nach dem Ansatz von Canaris

b) Die fehlenden theorieimmanenten Voraussetzungen für eine Flexibilisierung des Rechts Fraglich ist aber nun, ob die methodischen Ressourcen der Wertungsjurisprudenz ausreichen, um eine solche produktive Integration neuer Umweltprobleme zu leisten. Der methodologische Ansatz der Wertungsjurisprudenz erhebt den Anspruch, die Rechtsidee zu realisieren. Dies ist gewissermaßen die Setzung, unter deren Perspektive eine Geschlossenheit erreicht werden soll. Die philosophischen Rückfragen, wie die Fragen nach Verbindlichkeit und Erkenntnisanspruch, werden ohne weitere kritische Reflexion recht pragmatisch beantwortet. Für die Bedeutung der Rechtsidee wird auf den allgemeinen Gleichheitssatz verwiesen, demzufolge Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden soll.58 Für die Begründung der Verbindlichkeit wird allein auf Evidenz verwiesen.59 Der Erkenntnisanspruch wird durch induktive Verfahren gerechtfertigt, das heißt der Herstellung eines Zusammenhangs der gegebenen Mannigfaltigkeit von Wertungen in Gesetz, Auslegung und Entscheidung.60 Entsprechend erfolgt die Beschränkung des Erkenntnisanspruchs auf eine stets relative Vollständigkeit, da die Zusammenfassung einer Mannigfaltigkeit der gegebenen Wertungen zu einer Einheit angesichts einer sich ständig ändernden Mannigfaltigkeit nur vorläufig sein könne.61 So kann die Methodenlehre eine gelungene Beschreibung der bestehenden rechtlichen Situation leisten. Unbeantwortet bleiben aber die Fragen nach dem Verweisungszusammenhang dieser (Selbst-)Beschreibung einer Rechtsordnung mit den (gesetzten) „obersten Rechtswerten“ und auch der Rechtsidee. Dabei geht der methodologische Ansatz von Canaris davon aus, die philosophischen Probleme, die wegen ihrer Größe unbeantwortet bleiben müssten und für die Praxis ohnehin zunächst kaum relevant seien, im Kleinen abzuarbeiten und zu lösen. Dies erscheint zunächst als angemessene Bescheidung gegenüber überschießend anmutenden Ansprüchen auf das Absolute. Aber es wird nichtsdestotrotz der Anspruch erhoben, die Rechtsidee zu realisieren. Eine Rechtsidee, deren Bedeutung aber letztlich ungeklärt bleibt, da insoweit auf Evidenz verwiesen wird. Die Rechtsidee selber bleibt so unausgewiesen vorausgesetzt und verliert ihre Begründungskraft, sobald Evidenzprobleme auftreten. Dass diese unausgewiesene Voraussetzung der Rechtsidee nun nicht vollständig realisiert werden kann, ist dann relativ unproblematisch. Denn eine Idee bleibt, zumindest in theoretischer Hinsicht, immer eigenständig gegenüber ihrer Realisierung, so wie das Gesetz sich nicht im Fall, beziehungsweise unendlich 58 59 60 61

Siehe Canaris, Systemdenken und Systembegriff, 110, 112 f. Ebd. Ebd. Siehe Canaris, Systemdenken und Systembegriff, 61 f.

5. Die Flexibilisierung im Recht

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vielen Fällen, erschöpft. Bedenkt man aber, dass bereits die Theoriebildung als Denken eine Form von Praxis ist, insoweit sie nur im je eigenen Vollzug wirklich ist, so bleibt hinsichtlich der Rechtsidee im methodologischen Kontext problematisch, dass sie letztlich nur mit dem Verweis auf Evidenz begründet wird. Sie wird demnach aus einer Perspektive, die den Theorieaufbau analysiert, unausgewiesenermaßen einfach gesetzt beziehungsweise behauptet wird. Daraus lässt sich schließen, dass durch diese Selbstbescheidung ein performativer Widerspruch verschleiert wird, indem aus einer theoriebildenden Perspektive hier Sprechen und Handeln auseinander treten:62 Es wird beansprucht die Rechtsidee umzusetzen und eine Rechtsentwicklung zu befördern. Geleistet wird mit dem induktiven Erschließen von Rechtsprinzipien aber nur eine Beschreibung und Umsetzung des bestehenden Rechts sowie die Übertragung bestehender Wertungen auf neue Lebenssachverhalte. Die Bewertung dieser Wertungen aber wird aus dem Recht auf die Sittlichkeit ausgelagert. Das sind nun aber keineswegs rein theoretische Einsichten. Vielmehr gehen mit dem ungelösten Performanzproblem praktische Konsequenzen einher, wie an der Frage nach dem Verhältnis von Freiheits- und Gleichheitsrechten bereits gezeigt wurde. Denn dort wurde argumentiert, dass genau die Trennungsthese dazu führt, dass die Verbindlichkeit rechtlicher Entscheidungen und der Rechtsidee ausgehebelt werden kann, indem auf die vorrechtliche, unbegrenzte Freiheit als subjektive Wertung der Sittlichkeit zurückgegriffen wird. Um eine Flexibilisierung, eine Entwicklungsfähigkeit des Rechts zu erreichen, ohne auf eine eigenständige rechtliche Wertung zu verzichten, müsste ein Theorieinstrumentarium zur Verfügung stehen, das begründet, wie und woher die Wertentscheidungen und die Rechtsidee abgeleitet werden. Mit anderen Worten muss deren Verbindlichkeit und Erkenntnisanspruch gerechtfertigt werden. Erst dann kann eine Rechtsentwicklung im Sinne einer Flexibilität des Rechts, das heißt über bestehende Wertungen hinaus, vollzogen werden. Eine Flexibilität im Recht, die Integration neuer Lebenssachverhalte in die bestehende Rechtsordnung, ist daher notwendig mit einer Flexibilität des Rechts verknüpft, das heißt der Entwicklung der Rechtsordnung als solcher unter der Perspektive der Rechtsidee. Eine solche Flexibilität des Rechts nimmt die Methodenlehre mit der Rechtsidee zwar in Anspruch, kann sie aber nicht rechtfertigen. Die Frage, wie das positive Recht angesichts des Einzelfalls beziehungsweise immer neuer Anforderungen ausgestaltet werden kann, weist daher immer schon über das positive Recht hinaus. Die vielfach verfolgte Strategie, um diesen „Riss“ zwischen einer Flexibilität im Recht und einer Flexibilität des Rechts zu überbrücken, auf soziologische 62 Zur Bedeutung des performativen Widerspruchs genauer vgl. III. 2. und V. 1. dieser Arbeit mit weiteren Nachweisen.

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I. Die Wertungsjurisprudenz nach dem Ansatz von Canaris

und historische Faktoren zurückzugreifen, kann aber nicht ausreichen. Denn die Fragen, worauf deren Geltungsanspruch sich gründet und ob so weitergemacht werden soll, können aus diesen Perspektiven nicht ergebnisoffen thematisiert werden. Denn soziologische Ansätze verlassen das Gebiet des Rechts und die Rechtsgeschichte greift auf andere, meist ebenfalls positiv-rechtliche Wertungen zurück. Nötig erscheint daher eine Distanz zu den je historisch und sozial tradierten Normen und ihren Auslegungsinstrumentarien, ohne aber das Gebiet des Rechts zu verlassen: Mit anderen Worten wird eine philosophische Rechtsphilosophie gesucht, die die Rechtfertigung der Rechtsidee und die Bewertung einer positiven Rechtsordnung, anders als die juristische Rechtsphilosophie, nicht als Problem der Sittlichkeit oder rechtsexternen Gerechtigkeit ansieht und damit aus dem rechtlichen Horizont verliert. Eine Entwicklungsfähigkeit und Bestimmbarkeit einer Rechtsordnung (Flexibilität des Rechts) bedarf daher mehr theoretischer Ressourcen, als für die Ermöglichung einer Übertragung bestehender Wertungen auf neue Lebenssachverhalte (Flexibilität im Recht) vorausgesetzt werden müssen und Theorien dieses Typs enthalten. In der Realisierung der Rechtsidee liegt daher ein Überschreiten ihrer Erkenntnisgrenzen. So gerät eine Theoriebildung wie die Wertungsjurisprudenz, die an der positiven Rechtsordnung ansetzt und kein theoretisch hinreichend eigenständiges Bewertungskriterium bietet, in einen performativen Widerspruch: Sie beansprucht eine Flexibilität des Rechts, bietet aber nur eine Flexibilität im Recht, die aber wiederum eine Flexibilität des Rechts voraussetzt. Selbst wenn man hier nicht bereit ist, sogleich die Diagnose eines performativen Widerspruchs zu teilen, so bleibt, dass der Versuch, mehr Theorie zu wagen, um die Praxis der Rechtswertungen weiterzuentwickeln, nicht uneinsichtig ist, sondern vielmehr als aussichtsreiches Wagnis erscheint. Ein Wagnis, dass umso dringender einzugehen ist, als immer mehr europäische und transnationale rechtliche Entwicklungen dazu zwingen, den Wertungsrahmen einer nationalen Rechtsordnung zu verlassen und zugleich seitens der Gesetzgeber und Rechtsanwender an dem Anspruch festgehalten wird, diese Entwicklungen rechtlich zu steuern.

II. Die liberale Rechtstheorie nach Dworkins „theory of equal concern and respect“ Die Vielfalt rechtlicher Regelungen und Entscheidungen lässt die Frage nach ihrem gemeinsamen Sinn entstehen. Diese Frage beantwortet Dworkin, anders als die Wertungsjurisprudenz, nicht auf methodologische Art und Weise, sondern inhaltlich mit dem right to equality of concern and respect. Nachdem erkundet wird, was darunter zu verstehen ist und wie sich dieser Ansatz von anderen rechtstheoretischen Herangehensweisen absetzt, wird auf die Funktion der Unterscheidung von „rules and principles“ eingegangen. In Abhängigkeit zu der Voraussetzung des right to equality of concern and respect wird gezeigt, dass rechtliche Freiheiten nur relativ zu einer vorrechtlichen Gleichheit formuliert werden können, sowie, dass eine Flexibilisierung des Rechts hier bedeutet, in immer neuen Entscheidungen dieses basale Recht umzusetzen und so darzustellen. Bei dieser Rechtsrealisierung geht aber die innerhalb der theory of equal concern and respect vorausgesetzte und vorauszusetzende Unterscheidung zwischen Lebenshaltung und Rechtsbedeutung verloren. 1. Das „right to equality of concern and respect“ als Legitimationsgrund von Wertungen Das right to equality of concern and respect und nicht so sehr wie weithin angenommen die Unterscheidung zwischen rules and principles1 steht im Mittelpunkt der politischen Philosophie Dworkins und damit auch seiner Rechtsauffassung und Rechtstheorie.2 Statt einer Theorie, die Konflikten zwischen verschiedenen Prinzipien nachgeht, setzt er eine Konzeption von wechselseitiger Grenzziehung beziehungsweise Grenzbestimmung des Verhältnisses verschiedener Regeln und Prinzipien unter dem Maßstab eines right to equality of concern and respect an.3 Erst im Ausgang von diesem fundamentalen Recht, so Dwor1 Siehe z. B. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 290 und Sieckmann, Regelmodelle und Prinzpienmodelle, 15–18. Vgl. dazu auch II, 2 dieser Arbeit. 2 Siehe Dworkin, Taking Rights Seriously, xv und ebenso z. B. 182, 239, 273; Dworkin, Freedom’s Law, 225 f., 403 f., 413 und Dworkin, Sovereign Virtue, 118. 3 So Dworkin, Taking Rights Seriously, xv: „Equal Concern and Respect as a right so fundamental that it is not captured by the general characterization of rights as trumps over collective goals, except as a limiting case, because it is the source both of the general authority of collective goals and the special limitations on their authority that justify more particular rights.“

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II. Die liberale Rechtstheorie nach Dworkin

kin, lassen sich individuelle Rechte gewinnen, das heißt einzelne, subjektive Rechtspositionen. a) Das Problem der Selbstbezüglichkeit und die Gewinnung eines basalen Rechts Dworkins Theorie hebt damit von einer allgemeinen moralischen und nicht von einer spezifischen rechtlichen Wertungsebene an, auf der die Quelle und Grenze des Rechts mit dem right to equality of concern and respect gesetzt wird. Dieses basale Recht fungiert als fundamentale Wertungsbasis, die von der Reziprozität aller Agenten ausgeht. Ihre große Erklärungskraft zeigt sich für Dworkin daran, dass sich damit klassische Rechtsprechungsprobleme lösen lassen.4 Vor allem erweist sich dieses fundamentale Recht in einer Tiefenanalyse des Rawlschen Gedankenexperiments von dem Schleier des Nichtwissens als zweifacher Legitimationsgrund, nämlich um sowohl den Akt des „Hinter-denSchleier-Tretens“ wie auch die hinter dem Schleier gefundenen Gerechtigkeitsgrundsätze zu rechtfertigen. Diese Tiefenanalyse geht davon aus, dass die Theorie der Gerechtigkeit grundsätzlich tragfähig ist, das heißt es erfolgt keine Auseinandersetzung mit externer Kritik.5 Es bleibt aber, so Dworkin ein theorie-immanentes Problem. Denn die Technik des Überlegungsgleichgewichts erlaubt es innerhalb der Theorie der Gerechtigkeit, unmittelbare praktische Überzeugungen durch Prinzipien abzusichern.6 Aber wenn die Gerechtigkeitsgrundsätze sich schon durch das Überlegungsgewicht ergeben, warum bedarf es dann noch zusätzlich einer original position?7 Das Theoriestück der original position darf daher, so Dworkin, nicht als Teil einer direkten Begründung der Wahl allgemeiner Gerechtigkeitsgrundsätze verstanden werden, sondern stellt den Lösungsversuch eines Selbstreferenz-Problems dar. Das bedeutet, eine der zentralen Bedingungen zu überprüfen, die an ein theoretisches Prinzip gestellt werden, bevor diesem erlaubt wird, als Rechtfertigung für Überzeugungen zu dienen. Vor der Verwendung eines Theorie4 Etwa durch seine Beiträge in den Debatten um den Schwangerschaftsabbruch (Roe in Danger), „reverse discrimination“, Taking Rights Seriously, 223–239 und Schadensersatz, Law’s Empire 238–266. 5 Das bedeutet, es wird keine Kritik von einem anderen Standpunkt her geübt. Sondern es geht um die Selbstüberprüfung und Weiterentwicklung einer gegebenen Theorie. Ein typisches Beispiel für solche, hier nicht diskutierte externe Kritik an Rawls’ Argument für die Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze ist, dass eine Spielernatur möglicherweise hinter dem Schleier des Nichtwissens anders entscheiden würde. 6 So Dworkin, Taking Rights Seriously, 155: „It is the task of moral philosophy, according to the technique of equilibrium: to provide a structure of principles that supports these immediate convictions about which we are more or less secure.“ 7 Dworkin, Taking Rights Seriously, 155 f.

1. Das „right to equality of concern and respect‘‘

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elementes als Rechtfertigungsgrund muss dieses auf seine Kohärenz mit den eigenen Voraussetzungen hin überprüft werden. Im Rahmen einer rechtlich-politischen Theorie bedeutet das, zu zeigen, dass die Personen, die das Prinzip beherrschen wird, eben dieses Prinzip unter bestimmten Bedingungen akzeptiert hätten, wenn sie gefragt worden wären beziehungsweise wenn es ihnen relativ zu ihrem vorangehenden Interesse bekannt gewesen wäre.8 Dass die original position dieses Selbstbezüglichkeitsproblem lösen soll, wird schlüssig durch entsprechende Rawls-Verweise belegt: So verwendet dieser selbst die originial position weder als Teil des Überlegungsgleichgewichts, noch als Fundierung seiner Argumentation. Vielmehr dient sie als Distanzierungstechnik, das heißt als Verfahren, um nicht bei dem einzelnen Willen der Agenten hinter dem Schleier des Nichtwissens stehen zu bleiben, sondern deren Verhältnis zueinander, gleichsam objektiv zu betrachten.9 Als Distanzierungstechnik, so der Vorwurf Dworkins, werde sie aber nicht zu Ende geführt, sondern bleibe bei Rawls nur „as an intermediate conclusion“ stehen. Dies belegt das unklare Verhältnis von Überlegungsgleichgewicht, Sozialvertrag und deren Verhältnis zu den Gerechtigkeitsgrundsätzen. Daher bleibt bei Rawls die Frage nach dem funktionalen Sinn der original position offen. Und diese wiederum kulminiert in der Frage, was hinter dem Schleier vorausgesetzt wird, um überhaupt ein Verhältnis der Personen hinter dem Schleier zueinander denken zu können: mit anderen Worten in der Frage, wie die Theorie der Gerechtigkeit sich selbst verstehen kann.10 Damit, so Dworkins Folgerung, bedarf die Theorie der Gerechtigkeit zu ihrer Fundierung, das heißt der Beantwortung der Frage nach ihrer Selbstbezüglichkeitsmöglichkeit, einer sogenannten „deeper theory“.11 Die gesuchte Grundlagentheorie wird aus einer Detailanalyse von drei Elementen der „theory of justice“ erschlossen und besteht daher aus drei Elementen: 1. dem Überlegungsgleichgewicht als einem konstruktiven Element, 2. dem ursprünglichen Vertrag als Ausdruck einer Rechte-basierten Theorie und 3. der original position, um diese Rechte als ursprüngliches Gleichheitsrecht einzuführen. Jedes Element wird dabei als Repräsentant von philosophischen Voraussetzungen angesehen und auf diese Weise wird sowohl eine philosophische Einbettung von Rawls, wie auch indirekt von Dworkin selbst, vorgenommen.

8

Ebd., 157. Dworkin, Taking Rights Seriously, 158. 10 Ebd., Chapter 6. 11 Ebd., Taking Rights Seriously, 158. 9

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II. Die liberale Rechtstheorie nach Dworkin

b) Das Überlegungsgleichgewicht als konstruktives Element Das Überlegungsgleichgewicht12 stellt, so Dworkin zutreffend, eine wechselseitige Bezugnahme zwischen Anpassungen an die jeweilige Theorie und Anpassungen an die vorgegebenen Überzeugungen dar, bis die bestmögliche Passgenauigkeit zwischen beiden erreicht ist.13 Damit, so Dworkin, positioniere sich Rawls als Vertreter einer konstruktiven im Unterschied zu einer natürlichen Auffassung der praktischen Realität. Die natürliche Auffassung geht davon aus, dass eine Entdeckung der vorgegebenen moralischen Realität möglich ist. Moralische Überlegung besteht dann in einem Sammeln und Ordnen von konkreten Wertungen, Prinzipien und Wertungsintuitionen, deren Beschreibungen wahr oder falsch sind.14 Eine konstruktive Auffassung dagegen geht davon aus, dass einzelne Urteile als Fall von Prinzipien zu verstehen sind. Sie nimmt an, dass Handelnde eine Verantwortung dafür haben, ihre einzelnen Urteile in ein kohärentes Programm von Handlung einzufügen beziehungsweise dass das zumindest diejenigen tun, die Macht ausüben. Rawls kann als Vertreter einer konstruktiven Auffassung die naturhafte Auffassung integrieren.15 Denn für das konstruktive Modell sind individuelle Wertungsunterschiede nicht wie für das naturhafte Modell selbstzerstörend, das mit an sich beliebigen individuellen Wertunterscheidungen angesichts von verbindlichen, unveränderbaren, natürlich vorgegebenen Wertungen nicht produktiv umgehen kann.16 Genau das müsste ein naturhaftes Modell aber leisten, wollte es das konstruktive Modell in seinen Ansatz integrieren. Das konstruktive Modell arbeitet aber mit Prinzipien, die in zwei Hinsichten stets einen gewissen Grad von Relativität aufweisen. Erstens, indem die beste Theorie der Gerechtigkeit aus einer Liste von Theorien auszuwählen ist. Und zweitens, indem stets verschiedene Ergebnisse für verschiedene Gruppen in verschiedenen Umständen zu gewinnen und anzuwenden sind. Diese Formen des Relativismus würden eine naturhafte und damit zu starre praktische Konzeption aber nicht aushalten, da sie von einer unveränderlich vorgegebenen und feststehenden Wertung ausgeht.17

12

Ebd., Taking Rights Seriously, 159–168. Ebd., 164. 14 Exemplarisch für ein solches naturhaftes Modell wäre, auch wenn von Dworkin wohl nicht rezipiert, Schelers materiale Wertethik, bei der eine Wertelite einfach so in der Lage ist, die obersten, bereits gegebenen Werte zu „schauen“ und in ihrer Richtigkeit zu erkennen, Scheler, Materiale Wertethik, 88 f., 511 f. und 584 ff. 15 So Dworkin, Taking Rights Seriously, 160–162, 164, 166, 168. 16 Zur Relativität auch in Auseinandersetzung mit der Wissenschaftsauffassung Quines, in Form der Absetzung des equilibrium als nicht-empirischer Form der Veränderung vgl. Dworkin, Taking Rights Seriously, 164 f. 17 Dworkin, Taking Rights Seriously, 166 f. 13

1. Das „right to equality of concern and respect‘‘

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c) Der Gesellschaftsvertrag als Ausdruck einer Rechte-basierten Theorie Der Gesellschaftsvertrag ist, so Dworkin, nicht als deduktiver Ausgangspunkt für die Gerechtigkeitsgrundsätze zu verstehen. Sondern er dient der Rawlschen Positionierung im Rahmen einer Unterscheidung von Theorien, die entweder durch Ziele, durch Pflichten oder durch Rechte fundiert sind.18 Dabei gilt mit Dworkin zunächst, dass Ziele, Rechte und Pflichten für sich vollständige, aber keine letztbegründenden, selbstbezüglichen Rechtfertigungen darstellen. So sind auch wechselseitige Begründungszusammenhänge denkbar. Aber diese Wechselseitigkeiten können nicht den Unterschied zwischen einer Theorie, für die Pflichten oder Ziele und einer, für die Rechte fundamental sind, überbrücken.19 Angesichts der Alternativen von einer Ziel-basierten Theorie, wie etwa dem Utilitarismus, der ein Ziel (den (Gesamt-)Nutzen) befördern will oder einer Pflicht-basierten Theorie, wie etwa Kants kategorischem Imperativ, der für Dworkin darauf achtet, ob ein Standard von einem Individuum erfüllt wird oder nicht, wird Rawls als Vertreter einer Rechte-basierten Theorie identifiziert. Theorien dieses Typs gehen von den individuellen Festlegungen aus und zielen nicht auf eine Konformität, sondern auf eine Unabhängigkeit der individuellen Handlung gegenüber äußeren Pflichten.20 Rawls Bezug auf den Gesellschaftsvertrag zeigt für Dworkin, dass er eine Rechte-basierte Theorie formuliert. Für die Frage, worin seine Grundlagentheorie besteht, so folgert Dworkin, ist damit gewonnen, dass es unmöglich eine Ziel-basierte oder Pflicht-basierte sein kann. Denn eine Ziel-basierte Theorie kann mit der Öffentlichkeit und ihrer Täuschung nicht umgehen beziehungsweise würde diese im Namen des Ziels stets akzeptieren und damit im Widerspruch zu anderen Forderungen stehen, wie etwa der nach Wahrhaftigkeit im öffentlichen Diskurs. Eine Pflicht-basierte Theorie scheidet aus, weil bei Rawls gilt, dass das Eigeninteresse des Handelnden seine Pflichten definiert und nicht, dass das Eigeninteresse an einer Pflicht als äußerem Standard gemessen wird.21 18 So Dworkin, Taking Rights Seriously, 168–177, besonders 169. Der Gesellschaftsvertrag hat für Rawls und damit auch für Dworkin eine strategische Funktion im Rahmen einer Argumentation und selber keinen inhaltlichen Begründungswert, so dass auch eine Diskussion um den empirischen oder idealen Charakter eines solchen Vertrages, wie sie in der deutschen Rechtsphilosophie anlässlich Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns geführt wird, keine tragende Bedeutung zukommt. Vielmehr geht es um den Weg von einem Ideal hin zu dessen Realisierung – bei Rawls um die Übersetzung des letztlich kantisch inspirierten Verallgemeinerungsgedankens in eine spieltheoretische und insoweit empirische Situation. In transzendentalphilosophischer Terminologie könnte von „Versinnlichung“ gesprochen werden. Vgl. dazu Teil IV. 3. dieser Arbeit. 19 Dworkin, Taking Rights Seriously, 170 ff. 20 Ebd., 172 f. 21 Vgl. Dworkin, Taking Rights Seriously, 175 f.

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II. Die liberale Rechtstheorie nach Dworkin

Der Gesellschaftsvertrag hat für Rawls wie für Dworkin damit keinen Begründungswert an sich, sondern eine strategische Funktion im Rahmen seiner Argumentation. In dieser wird, wie bei der Rolle des Überlegungsgleichgewichts ausgeführt, das Anliegen des naturhaften Modells, das heißt die Voraussetzung von etwas Unverfügbaren, in das konstruktive Modell eingebunden. Dieses Unverfügbare wird nun durch den Rückgriff auf die Figur des Gesellschaftsvertrages mit natürlichen Rechten identifiziert. So wird für Dworkin das Ziel von natürlichen Rechten ohne Ontologie und Metaphysik erreicht. Die Einbindung der natürlichen Rechte ist für Dworkin deshalb so wichtig, da jede Theorie solche voraussetzen muss, um zu einem unabhängigen Ausgangspunkt der Einschätzung und Bewertung von Gesetzgebung und Rechtsprechung zu gelangen.22 Was für ein zentrales Recht oder welche zentralen Rechte diese konstruktiv-erschlossenen, naturhaften Rechte sind, wird in einem nächsten Schritt präsentiert, in dem Sinn und Funktion der original position analysiert werden. d) Die Gleichheit als Voraussetzung der „original position“ Dworkin geht von der Frage nach der theoretischen Basis der original position aus. Das heißt, nicht mehr allein deren Funktion erhellen zu wollen, sondern die Frage nach deren Bedeutung zu stellen.23 Zur Gewinnung ihrer Bedeutung wird zunächst daran erinnert, dass ein Gesellschaftsvertrag solche natürlichen Rechte voraussetze. Denn die Unterscheidung zwischen einem vorangehenden und einem aktualen Interesse lässt keinen verengenden, allein am Konkreten orientierten Theorietyp mehr zu. Vielmehr muss der Ausgangspunkt, die original position interessenunabhängig sein. Das bedeutet, dass die Urteile abstrakt auf jegliche Interessenkombinationen gerichtet sein müssen und insofern jeglichen konkreten Interessen gegenüber blind sein müssen. Daraus folgt wiederum, dass das basale Recht ein abstraktes Recht sein muss. Als klassische Kandidaten kommen Freiheit, verstanden als Recht auf minimale Einengung des individuellen Beliebens, und Gleichheit in Frage.24 Erstere zu wählen erscheint dabei zwar intuitiv einleuchtend, da sie das Ziel selbst, die Interessenwahlfreiheit abzubilden scheint und auch mit Alltagsintuitionen konform geht. Dennoch scheidet eine Freiheit des Beliebens als abstraktes, basales Recht für Dworkin mit Rawls aus. Denn bei einer solchen intuitiven Wahl bleibt die Unterscheidung zwischen Freiheit als solcher und einzelnen, konkreten subjektiven Rechten unbeachtet. Zwar mag die Überzeugung zutreffen, dass eine solche Freiheit im Allgemeinen die Situation bei der Zielverfolgung des Einzelnen verbessert. Denn je mehr er seinem Belieben nachgehen kann, desto mehr, so die 22 23 24

Dworkin, Taking Rights Seriously, 177. Dworkin, Taking Rights Seriously, 177–183. Dworkin, Taking Rights Seriously, 178 f.

1. Das „right to equality of concern and respect‘‘

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weit verbreitete Annahme, könne der Handelnde seine Interessen erfüllen. Aber es muss bedacht werden, dass mit einer solchen allgemeinen Einschätzung für die spezifischen Ziele und konkreten Interessen nichts gewonnen wird. Da allerdings die Wählenden nur ihre konkreten Interessen erfüllen wollen, aber die für spezifische Ziele erforderlichen Rechte erst Ergebnisse relativ zu dem ersten, bereits gewählten Gerechtigkeitsgrundsatz sind, muss, so Dworkin, die Gleichheit als basales Recht gewählt werden.25 Erst von der ursprünglichen Gleichheit aus lassen sich allgemeine Einschätzungen rechtfertigen; allgemeine Einschätzungen, wie etwa auch die, dass mehr Freiheit mehr Handlungsspielraum und damit mehr Erfüllung für den Einzelnen bedeutet. Denn diese allgemeinen Einschätzungen setzen eine Neutralität gegenüber konkreten Interessen voraus. Da sich die Wählenden zudem am Ort der original position im gleichen Zustand befinden, nämlich bezüglich der konkreten Interessen hinter dem Schleier des Nichtwissens, kann auch keine Diskriminierung von vorhandenen Interessen erfolgen. Somit wird hinter dem Schleier des Nichtwissens mit der original position eine ursprüngliche Gleichheit vorausgesetzt. Auch die Gerechtigkeitsgrundsätze26 sind bei Rawls für Dworkin in zweierlei Hinsicht egalitär. Zum einen wird die politische Betätigungsgleichheit über die materielle Gleichheit gestellt. Zum anderen wird Ungleichheit durch gleichen Fortschritt für alle gerechtfertigt. Insofern ein Unterschied zwischen zwei Gleichheitsbegriffen, der „equality of distribution“ und der „equality of respect“ eingeführt wird, sieht Dworkin allein letztere als fundamental an.27 So kann schlussendlich das right to equality of concern and respect als das fundmentale, konstruktiv vermittelte, aber dennoch naturhafte Recht identifiziert werden, das jeder Rechts- und Gesellschaftsordnung zugrunde gelegt werden muss:

25

Dworkin, Taking Rights Seriously, 179 f. Hier geht es vor allem um die Formulierung der ersten Grundsätze, vgl. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 81, die hier kurz genannt seien: „1. Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist. 2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, dass (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, dass sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen.“ Da Dworkin aber die Rawlsche Argumentation für seine Zwecke objektiviert, das heißt zum Gegenstand und Exempel der Herleitung des Ausgangspunkte seines eigenen Ansatzes, werden diese hier, wie auch die Rawlsche Theorie, nicht weiter diskutiert. Zum Verhältnis einer Theorie des deutschen Idealismus zu Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit vgl. von Manz, Fairneß und Vernunftrecht, Rawls’ Versuch der prozeduralen Begründung einer gerechten Gesellschaftsordnung im Gegensatz zu ihrer Vernunftbestimmung bei Fichte. 27 Vgl. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 511 und Dworkin, Taking Rights Seriously, 180. 26

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II. Die liberale Rechtstheorie nach Dworkin „We may therefore say that justice as fairness rests on the assumption of a natural right of all men and women to equality of concern and respect.“28

Mit diesem fundamentalen Recht emanzipiert sich Dworkins Ansatz von dem Rawlschen, da letzterem eine solche Bedeutung der original position fremd ist. Aber es kann damit auch den Kritikern entgegengetreten werden, die in der Rawlschen Theorie allein eine idealisierte Fassung der historisch realen amerikanischen Institutionen und Verfassung sehen. Denn genau diese bietet nicht mehr den Ausgangspunkt für dieses Recht. Vielmehr gilt es, die Interpretation der Verfassung und ihrer amendments unter dessen Perspektive zu vollziehen. Jede juristische Entscheidung steht nach Dworkin damit vor der Herausforderung, dem right to equality of concern and respect29 gerecht zu werden. 2. Die „theory of equal concern“ in der Diskussion Mit dem Ausgangspunkt seiner politisch-rechtlichen Theorie von einem solchen basalen Recht versteht sich Dworkin zugleich in Absetzung von anderen angelsächsischen Traditionen der Rechtsbedeutung. Vor allem von rechtspositivistischen Ansätzen grenzt Dworkin seinen Ansatz ab, zumal die rechtspositivistische Auffassung von Recht auch die Basis einer semantischen Position darstellt. Konventionalistische und utilitaristische Auffassungen verlassen zwar wie Dworkins Ansatz die Ebene des positivierten Rechts, können aber im Unterschied zu Dworkins Ansatz ihre Grundvoraussetzungen nicht selbst begründen. a) Die Absetzung von Rechtspositivismus und semantischer Rechtsauffassung So wird insbesondere ein Rechtspositivismus Hart’scher Prägung kritisiert. Ein solcher Ansatz will strikt zwischen Gesetz und Gesinnung trennen, indem Recht mit den gegebenen Regeln identifiziert wird.30 Diese Unterscheidung ist aber, so Dworkin, jedenfalls im angelsächsischen Recht, nicht strikt durchzuführen. Denn der Richter mit seinem sozialen und moralischen Erleben präge hier stark alle rechtlichen Entscheidungen. Allerdings, so Dworkin, dürfe dieser 28

Dworkin, Taking Rights Seriously, 182. In der deutschen Ausgabe, Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, 300, wird das „right to equality of concern and respect“ mit „Naturrecht auf gleiche Rücksicht und Achtung“ übersetzt. In dieser Arbeit wird durchgehend die englische Originalfassung verwendet, da sie mit der Verwendung von „right“ nicht zu dem Missverständnis eines „Naturrechts“ im Sinne eines von den übrigen, positiven Rechten losgelösten Rechts auf einer eigenen, über den anderen Rechten liegenden Ebene führt. Dworkin zielt nämlich darauf, dieses basale Recht auch in einer Sukzession von Einzelfallentscheidungen umzusetzen, ein Ziel, das der statische Terminus „Naturrecht“ hier nicht wiedergibt. 30 Dworkin, Taking Rights Seriously, 19 f. Zur Unterscheidung von rules und principles siehe den Abschnitt II. 3. dieser Arbeit. 29

1. Das „right to equality of concern and respect‘‘

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Ausgangspunkt auch nicht überspitzt werden. Insoweit setzt er sich von einem „legal realism“ ab. Diese Position stellt die Person des Richters in den Mittelpunkt ihrer Rechtsauffassung und schließt daraus, dass z. B. Taktik und Sprachanalyse die zentralen Elemente einer Rechtsentscheidung seien, da sie wesentlich für die Beeinflussung der Entscheidung eines Richters sind und der Weg zu dem im Hintergrund einer Rechtsentscheidung stehenden sozialen Erleben des Richters über Taktik und Sprechweise führt. Für Dworkin sind aber die Richter eben zumindest an ein oberstes Prinzip, das right to equality of concern and respect gebunden, das sie in jeder Entscheidung erneut konkretisieren müssen, und insofern frei oder losgelöst von einer rein sozialen Beeinflussung ihrer Entscheidung.31 Ebenso kritisiert Dworkin die „originalists“ als Abwandlungen einer positivistischen Auffassung von Recht. Sie gehen davon aus, dass es bei der Verfassungsauslegung allein auf den Willen und die Umstände der Willensäußerung des historischen Gesetzgebers ankomme. Damit wird aber, so Dworkin, der Weg zu einer reflektierten Entscheidung tagesaktueller Probleme verschlossen. Denn meist kannte der historische Gesetzgeber weder die drängenden Probleme der Gegenwart noch sah er sie voraus.32 Ebenso zu starr erscheint eine „Mehrheits-Theorie“ der Verfassungsauslegung. Sie gesteht zwar zu, dass auslegende Entscheidungen einer Mehrheitsentscheidung gleichgestellt werden können. Dies bedeutet aber nur, dass die Entscheidungen so fallen müssen, wie sie die Mehrheit der Bürger eines Landes treffen würde, wenn sie richtig informiert wären und rational entscheiden würden. Dahinter steht aber, so diagnostiziert Dworkin, eine Auffassung von Demokratie, die allein auf den individuellen Zählwert von Stimmen abstellt. Unabdingbar stets mitlaufend bei demokratischen Entscheidungen sei aber ein moralischer Konsensus, da ein solcher die unabdingbare Voraussetzung für die Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen sei. Damit sei klar, dass stets eine moralische Ebene jenseits der rechtlichen Regeln in dem Diskurs über die Verfassungsauslegung beansprucht werden muss. Auch diese Ebene explizit zu machen und aufzuklären ist für Dworkin die Aufgabe seiner „demokratischen Staatsphilosophie“.33 Eine rein semantisch ausgerichtete Rechtsauffassung, die den Wortlaut der Regeln im Blick hat, ordnet Dworkin wegen ihrer Regelbezogenheit als positivistische Theorie ein.34 Sie setzt zudem nicht nur keinen einheitlichen Ausgangspunkt der Regelinterpretation voraus, sondern verzichtet sogar darauf, nach einem solchen zu fragen. Stattdessen nimmt sie eine skeptische Grundhal31 32 33 34

Dworkin, Dworkin, Dworkin, Dworkin,

Taking Rights Seriously, 3 f., 5. Freedom’s Law, 13 f., 149. Freedom’s Law, 15–19, 34. Law’s Empire, 432 Nr. 6.

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II. Die liberale Rechtstheorie nach Dworkin

tung derart an, dass zu jedem Wertungs- und Entscheidungsproblem immer verschiedene, gleichwertige Meinungen zulässig und legitim sind. Eine solche Haltung aber, so Dworkin, ist nicht hilfreich, da eine wünschenswerte, auf jedes Argument situativ eingehende, das heißt eine angemessene Gegenargumentation unterbleibt.35 b) Die Absetzung von utilitaristischen und konventionalistischen Ansätzen Utilitaristischen Rechtsauffassungen in ihrer ökonomischen Ausprägung, denen zufolge für Richter entscheidungsleitend sein soll, was letztlich für die ganze Gemeinschaft am wenigsten teuer sei beziehungsweise den besten Nutzen/Mehrwert schaffe, setzt Dworkin entgegen, dass solche Ansätze, so ansprechend lebensnah sie etwa in bestimmten Rechtsgebieten wie im Vertrags- oder Schadensrechts sind, als rechtliche Ansätze die von ihnen interpretierte Praxis auch rechtfertigen können müssen. Aber ihre eigene Praxis können solche Ansätze gerade nicht rechtfertigen. Denn selbst wenn man sich in einem ersten Schritt auf die Prämisse solcher ökonomisch-utilitaristischen Ansätze einlässt, nämlich, dass bestimmte Regeln das (allgemeine) Glück beziehungsweise den Nutzen langfristig steigern – so bleibt dennoch eine allgemeine Pflicht zur allgemeinen Wohlstandsmehrung für den Einzelnen unbegründet.36 Die Begründung fehlt insbesondere deshalb, da der für eine solche Begründung einer allgemeinen Pflicht vorausgesetzte Gleichheitssatz hier nicht integriert, sondern regelmäßig als Gegenbild des eigenen Ansatzes abgelehnt wird. Konventionalistisch aufgefasst bedeutet Recht eine bestimmte Spezifikation sozialer Üblichkeiten, die sich stets relativ zur Veränderung sozialer Strukturen und deren anerkannten Autoritäten ändert. Einer solchen Auffassung steht aber entgegen, so Dworkin, dass eine Selbstkonsistenz des Rechts nicht mehr angestrebt wird. Sondern jede Entscheidung ist relativ zu (neuen) Konventionen zu treffen. So bleibt der Legitimationsgrund rechtlicher Entscheidung unbekannt, obwohl rechtliche Entscheidungen stets gerechtfertigt werden.37 Konsequent durchgeführt mündet eine solche Auffassung in widerrechtlicher Willkür. 3. Die Funktion der Unterscheidung von „rules and principles“ Um das basale right to equality of concern and respect zur Anwendung zu bringen, greift Dworkin auf die Unterscheidung zwischen „rules and principles“ 35 36 37

Dworkin, Law’s Empire, 85 f. Dworkin, Law’s Empire, 276–301, besonders 285. Dworkin, Law’s Empire, 134 f.

3. Die Funktion der Unterscheidung von „rules and principles‘‘

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zurück. Nachdem die Unterscheidung vorgestellt wird, wird näher auf die Darstellungsfunktion der principles für das basale Recht anhand der one-rightanswer-thesis eingegangen. Sodann wird der aus Sicht dieser Interpretation unzutreffende Zirkelvorwurf zurückgewiesen, der vor allem in der deutschen juristisch-rechtsphilosophischen Debatte gegenüber Dworkins Ansatz anlässlich seiner rules and principles-Unterscheidung erhoben wird. a) Zur Unterscheidung zwischen „rules“ und „principles“ Unter rules sind dabei im klassischen rechtspositivistischen Sinne Hartscher Prägung die Normen des positiven Rechts zu verstehen. Sie werden im Einzelnen durch einen sog. test of pedigree von den außerrechtlichen Normen unterschieden.38 Diese Prüfung stellt allein darauf ab, ob die in Frage stehenden Normen verfahrensmäßig korrekt gesetzt wurden. Das bedeutet zu fragen, ob die Norm entsprechend der von einer Rechtsordnung vorgesehenen Legitimationskette zustande gekommen ist, in der deutschen Rechtsordnung etwa, ob eine Verordnung auf einem Gesetz als Ermächtigungsgrundlage beruht und das Gesetz entsprechend dem Gesetzgebungsverfahren zustande gekommen ist. Für Rechtsprinzipien, die principles, dagegen gibt es keinen solchen Verfahrenstest. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie – wenn auch auf abstrakte Weise, aber dennoch – inhaltlich bestimmt sind und ihren Geltungsanspruch nicht auf eine positive Rechtsordnung oder deren Verfahren stützen. Anders als bei Canaris dienen die Rechtsprinzipien bei Dworkin nicht dazu, die Grundwertungen des demokratischen Gesetzgebers umzusetzen, indem diese etwa auf gesetzlich nicht geregelte Fälle angewendet beziehungsweise übertragen werden. Sie gelten vielmehr unabhängig von dieser, sind aber dennoch vom Richter bei seiner Entscheidung im Rahmen eines engen Ermessens zu berücksichtigen, wie die one-right-answer-thesis zeigt.39 Ein solches Rechtsprinzip liegt z. B. darin, dass der Schädiger keinen Vorteil aus dem von ihm verursachten schädigenden Ereignis ziehen darf, um das Schadensopfer nicht zu missachten.40 Für diese Rechtsprinzipien greift damit auch nicht die herkömmliche Trennungsthese des Rechts von der Moral beziehungsweise Sittlichkeit. Vielmehr sind diese Rechtsprinzpien nicht ohne moralische Vorentscheidungen zu verstehen, wie z. B. das Schadensrecht in der individuellen Achtung des Opfers durch den Urteilenden seine Grundlage findet. So verbindet Dworkin die Frage nach den konkreten Rechten mit moralischen Elementen.

38

Bei Dworkin, Taking Rights Seriously, 17 f. Zum allwissenden Richter Hercules vgl. Dworkin, Taking Rights Seriously, 81– 130 und Dworkin, Law’s Empire, 238–275. 40 Vgl. Dworkin, Taking Rights Seriously, 46. 39

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II. Die liberale Rechtstheorie nach Dworkin

b) Zur Darstellungsfunktion der „principles“ anhand der „one-right-answer-thesis“ Mit den principles wird eine Wertungsebene eröffnet, die an den zugrunde liegenden Legitimationsgrund des right to equality of concern and respect wie auch an die Haltung des Richters anknüpft. Die Rechtsprinzipien sind dabei im Unterschied zur Methode der Wertungsjurisprudenz nicht induktiv im Sinne von einem Schluss aus den Gemeinsamkeiten einer Vielfalt auf eine Einheit eben dieser gewonnen. Sondern sie werden vorausgesetzt und durch die Besprechung einzelner Fälle und Entscheidungsmöglichkeiten dargestellt und so an die Rechtsprechung angeschlossen.41 Die Darstellung ist so zu verstehen, dass das eine Prinzip durch verschiedene Fälle hindurch zu einem mannigfaltigen Ausdruck gebracht wird, also die einzelnen Fälle ihre Bedeutung erst durch dieses Prinzip erhalten. Den Darstellungs-Prozess charakterisiert Dworkin näher durch die Schritte von einer „ideal ideal world“, in der es nur um die eigene Kohärenz geht, über die „ideal real world“, in der es um die konkreten Interessen, relativ zu den Voraussetzungen der Theorie geht, hin zur „real real world“, in der dann die Entscheidung getroffen wird.42 Aus Sicht dieser Prinzipientheorie ist dann eine kritische Würdigung bisheriger Rechtsprechung möglich, die sich unter anderem zur one-rightanswer-thesis verdichtet. Damit ist das Recht grundsätzlich jederzeit in der Lage, auf neue Sachverhalte zu reagieren, ohne hinsichtlich der umzusetzenden Wertungen beliebig zu werden. Ein solches, bereits genanntes Rechtsprinzip ist etwa, dass der Schädiger aus seinem Verhalten keinen Vorteil ziehen darf. Denn sonst würde das Opfer missachtet.43 Problematisch ist bei der Umsetzung aber, wie eng dieses Ermessen zur Berücksichtigung der Rechtsprinzipien ist. Dass es sehr eng sein soll, zeigt sich an der one-right-answer-thesis. Diese geht davon aus, dass in einem Rechtsstreit stets genau eine Entscheidung getroffen werden muss und es daher – selbst unter idealen Bedingungen der quasi Allwissenheit beziehungsweise unbeschränkten Reflexionsressourcen44 – nur eine richtige Entscheidung geben kann.45 In dieser sind nun die Wertungen, die Rechtsprinzipien und insbesondere das basale Recht zu konkretisieren.46

41

Siehe Dworkin, Freedom’s Law, 35. Siehe Dworkin, Sovereign Virtue, 172 ff. 43 So Dworkin, Taking Rights Seriously, 46 f. 44 Zur Figur des Richters Hercules vgl. Dworkin, Taking Rights Seriously, chapter 4 und Dworkin, Law’s Empire, chapter 7. 45 So Dworkin, Law’s Empire, 240: „Hercules must decide“. 46 Vgl. den Entscheidungsprozess des Richter Hercules für „emotional damages“, Dworkin, Law’s Empire, 240–258. 42

3. Die Funktion der Unterscheidung von „rules and principles‘‘

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In der Rezeption dieser one-right-answer-thesis wird meist davon ausgegangen, dass es eben eine Vielfalt von Rechtsmeinungen und damit von Entscheidungsmöglichkeiten eines Falls gebe und diese These daher nicht hilfreich oder gar fehlgeleitet sei.47 Wohlwollend wird sie auch als abstrakter Beitrag zur Diskussion um Entscheidungen im Recht gesehen.48 Allerdings tendieren diese kritischen Stimmen dazu, den pragmatischen Anteil der Rechtswissenschaft zu vergessen. Denn in einem konkreten Fall kann auch nur eine konkrete Entscheidung getroffen werden. Da diese – spätestens nach dem Durchlaufen des Entscheidungsprozesses – rechtliche Verbindlichkeit beansprucht, beansprucht sie auch, die einzig zutreffende zu sein. Ohne diesen Anspruch würde die einzelne Rechtsentscheidung ihrer Verbindlichkeit verlustig gehen und damit das Recht sich selbst für eigentlich überflüssig erklären. Bedenkt man diese pragmatische Dimension des Entscheidungsprozesses einer Theorie auf praktischem Gebiet, so stellt die one-right-answerthesis mehr als eine abstrakte Problemstellung dar. Sie macht gerade im Hinblick auf die alltägliche Rechtspraxis deutlich, wie sehr Rechtsentscheidungen der Realisierung eines fundamentalen Rechts dienen und diesem gerecht werden müssen, da sie sonst auf den eigenen Verbindlichkeitsanspruch im Moment seines Vollzuges Verzicht leisten würden. c) (K)ein vitiöser Zirkel? Die deutsche juristisch-rechtsphilosophische Standardrezeption liberaler Rechtstheorien kreist um die Trennschärfe oder Übernahme der Unterscheidung von Regeln und Prinzipien und diskutiert im Weiteren das Themenfeld der „Rechtsprinzipien“.49 Insbesondere wird dabei oft wiederholt, Dworkins Theorie sei durch einen Zirkelvorwurf zu widerlegen: denn Dworkin behaupte, dass Prinzipien zum Recht gehören, die nicht aus einer positiven Herkunftsregel abgeleitet werden können, sondern moralischer Kriterien bedürfen und daher Recht und Moral in eins fallen würden. Dass aber Prinzipien zum Recht gehören, ergebe sich wiederum daraus, dass Recht und Moral in eins fallen. Da hier explanans und explanandum in eins fielen, liege ein vitiöser Zirkel vor.50 Aus der Perspektive einer Prinzipientheorie, die in der Lage ist ihr Ausgangsprinzip zu benennen, wird aber in einem solchen Zirkelvorwurf sowohl die Unterscheidung zwischen Regel und Prinzip in ihrer Trennschärfe wie auch die 47

So z. B. Sieckmann, Regelmodelle und Prinzipienmodelle, 20 und 229. Vgl. etwa Larenz/Canaris, Methodenlehre, 116, die idealiter von einer richtigen Entscheidung ausgehen. 49 Vgl. Röhl, Rechtslehre, 252–261 und 289 f., Sieckmann, Regelmodelle und Prinzipienmodelle, 18 ff. und Alexy, Theorie der Grundrechte, 77 ff. 50 Röhl, Rechtslehre, 290. 48

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II. Die liberale Rechtstheorie nach Dworkin

Sinnhaftigkeit einer prinzipienorientierten Theorie missverstanden. Denn die Unterscheidung von Regel und Prinzip wird aus ihrem Kontext isoliert. Sie ist nicht Zweck an sich selbst, sondern Mittel der Umsetzung des right to equality of concern and respect. Dieses basale Recht allein kann, wie sich im Laufe des ersten Abschnitts dieses Kapitels zeigte, als theorieabschließender Selbstzweck verstanden werden. Damit ist es von Dworkin als Ausgangspunkt für einen „circulus fructosus“ intendiert. Insofern muss es im Unterschied zu einem Verständnis von Prinzip als Schluss von einer gegebenen Mannigfaltigkeit zu einer Einheit, wie er in der Wertungsjurisprudenz erfolgt, in dem ursprünglichen Sinne von „Prinzip“ als „ÜrxÞ“, als Urgrund und Anfang verstanden werden. Verwechselt man aber die beiden Sinngehalte von Prinzip und nimmt so den letzteren aus seinem reflexiven, abstrahierenden Begründungskontext, so fehlt das basale Recht als Legitimationsgrund rechtlicher Wertungen. Wird das basale Recht ausgeblendet, so wird es konsequent, den Vorwurf eines vitiösen Zirkels zu erheben, indem zunächst der Begriff des Prinzips überhaupt in eine terminologische Nähe zur Moral gebracht werden kann und sogar mit dieser gleich wird. Wenn sodann unhinterfragt eine strikte Trennung von Recht und Moral als richtig angesetzt wird, so lässt sich schließen, dass bei Dworkin Recht und Moral in eins fallen, weil Recht und Moral in eins fallen. Wird aber die Problemstellung Dworkins liberaler Rechtstheorie bedacht, nämlich die Versinnlichung des basalen Rechts, so reflektiert die Diagnose eines solchen vitiösen Zirkels allein eine zu enge Auffassung von Theoriebildung nach dem Muster der „Oxford ordinary language philosophy“.51 Eine solche will sich allein auf „Tatsachen“ (brute facts) stützen, wird im Recht aber damit konfrontiert, dass es sich eben um „Tat-Sachen“ handelt; das heißt, dass die vorgefundenen rechtlichen Wertungen und Entscheidungen immer schon konstruiert, gewollt und gemacht sind. Sie stellen das Resultat eines Verdinglichungs- beziehungsweise Versinnlichungsprozesses dar und so stets einen Fall eines dem Fall vorgängigen Prinzips. Genau um die Versinnlichung eines obersten Prinzips und nicht um die Archivierung von bereits bestehenden Resultaten geht es Dworkin aber im Unterschied zu Röhls Auffassung, so dass dessen Zirkelvorwurf aus der Perspektive einer Theorie des right to equality of concern and respect zurückgewiesen werden kann. Wie sehr der Ausgangspunkt des basalen Rechts auch in alltäglichen rechtpolitischen Debatten präsent ist, zeigt die Debatte um Freiheit und Gleichheit.

51 So etwa Alexy, Theorie der Grundrechte, 39 f. und 42 f., der auf die Klärung der Sprechweise auf dem Gebiet der Grundrechte zielt, z. B. indem er die faktische Verwendung des Begriffs der Grundrechtsnorm analysiert und Anscombe, Moderne Moralphilosophie, 218, die auf die erkennende Klärung der faktischen Sprechweise auf dem Gebiet des moralischen Urteilens zielt. Für die Bedeutung der Tatsache in der kritischen Rechtsphilosophie siehe IV. 1. b).

4. Rechtliche Freiheit und vorrechtliche Gleichheit

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4. Rechtliche Freiheit und vorrechtliche Gleichheit Wie Freiheit und Gleichheit sich zueinander verhalten macht oft schon die Problemformulierung deutlich, aus der sich meist auch die konkrete Bedeutung dieser abstrakten, zunächst eher titelartig verwendeten Begriffe ergibt. Lässt man sich mit Dworkin auf eine Gleichheit als Gleichheit von Aufmerksamkeit und Rücksichtnahme ein, so führt dies zur Abgrenzung von einem anderen Sinn von Gleichheit, nämlich dem Erfordernis einer Gleichheit der Ressourcen. Welcher Sinn kommt aber der Freiheit in einer solchen, aufmerksamkeitsorientierten „Gleichheitstheorie“ zu?52 a) Der Ausgang von der Gleichheit und die Notwendigkeit von subjektiven Freiheitsrechten Dworkins Strategie besteht darin, von einer flexiblen, das heißt historischsituativen Bestimmung von Fortschritten hin zu seinem Gleichheitsideal auszugehen und dabei die Freiheit an die Gleichheit zu koppeln.53 Ob eine Entscheidung oder Veränderung eine Verbesserung im Sinne des basalen Rechts darstellt, soll anhand eines Tests prüfbar sein. Die Testfrage lautet dabei: „Would in any plausible defensible distribution a certain constraint be imposed?“54 Mittels des „principle of abstraction“, der Informationsgewinnung aus den mannigfaltigen Umständen der zu beurteilenden Situation, sollen dabei die erforderlichen allgemeinen Schlüsse legitimiert werden. Abstraktion wird dabei von Dworkin als Verallgemeinerung aus sinnlicher Erfahrung verstanden,55 und nicht, wie etwa bei Kant und Descartes als Abstreichen beziehungsweise Abziehen von sinnlichen Bedingungen, um rein gedankliche (a priorische) Bedeutungsreflexionen vorzunehmen.56 Die Notwendigkeit von Freiheit beziehungsweise Freiheitsrechten kann sich in Dworkins Konzeption als Element eines Rechtsstaates nicht ergeben, weil viele Freiheit für wichtig oder natürlich halten. Denn dem stünde die Zufällig52 Anders dagegen, wenn man, wie Canaris von einer vorrechtlichen Freiheit ausgeht; dann stellt sich die Frage nach der Rolle der Gleichheit, die additiv zur Freiheit und zu Freiheitsrechten hinzukommt, vgl. Canaris, Die iustita distributiva im deutschen Vertragsrecht, 63. 53 Vgl. Dworkin, Sovereign Virtue, 171. 54 Dworkin, Sovereign Virtue, 176 f. 55 Ebd. 56 Vgl. auch für eine letztlich rein induktive Abstraktionsmethode (im Sinne des Schlusses aus einer Anzahl vorgegebener Fälle auf deren Gemeinsamkeit) im Bereich der Moralphilosophie Korsgaard, Kingdom of Ends, 121, der zufolge jeder Mensch bestimmte soziale Rollenmodelle (Korsgaard spricht missverständlicher Weise von praktischen Identitäten) erfüllt, wie etwa Staatsbürger oder Arbeitnehmer und die aus der Tatsache, dass einzelne Rollen erfüllt werden, auf eine die einzelnen Rollenmodelle übersteigende gleiche „Menschheit“ aller schließt.

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II. Die liberale Rechtstheorie nach Dworkin

keit der Interessenlagen entgegen: Hat die Mehrheit zufällig, möglicherweise auch gegen ihr eigenes langfristiges Interesse, kein Interesse an Freiheit(-en), so gäbe es kein Argument mehr für deren Erhalt. Auch bieten langfristige Nutzenerwartungen bestimmter Freiheitsrechte kein Argument für eine notwendige Rolle der Freiheit, da hier die Notwendigkeit von eben dem oder denen abhängt, der oder die diese Nutzenerwartungen formulieren. Vielmehr stellt die Notwendigkeit von Freiheit beziehungsweise Freiheitsrechten ein Ergebnis der Forderung nach dem „equal concern“ dar. Denn ohne individuelle Wahlfreiheit wäre auch eine gleiche Aufmerksamkeit hinfällig, da keine verschiedenen Fälle aufeinander zu beziehen sind. Verschiedene Fälle sind nämlich nur dann möglich, wenn eine individuelle Freiheit des Beliebens zu verschiedenen konkreten Handlungen und Entscheidungen führt. Weil das basale Gleichheitsrecht insofern auf Freiheit(en) angewiesen ist, ist sie für Dworkin schützenswert.57 Dworkin vertritt mithin die Ansicht, dass die Rolle der Freiheit ihren Ursprung in der Gleichheit hat und der Glaube an die Kraft der Freiheit immer schon Gleichheit voraussetze: „When we declare our faith of liberty we are only affirming the form in which we embrace equality, only declaring, that is, what we mean by it [. . .].“58 Eine solche liberale Position kann auch als eine Kompatibilitätsthese von Freiheit und Gleichheit charakterisiert werden, die in begründender Hinsicht eine Präponderanz der Gleichheit aufweist. b) Dworkins Liberalität im Unterschied zur Freiheit des Beliebens Damit geht Dworkin zwar dem Titel nach auch von einer Liberalität aus. Doch handelt es sich nicht mehr um die, die klassischerweise mit dem Titel einer „Kraft der Freiheit“ unter Berufung auf ein ursprüngliches Gefühl des persönlichen Beliebens beschworen wird.59 Ja, Dworkin beantwortet die Frage, ob es ein ursprüngliches Recht auf Freiheit gibt, sogar eigentlich mit einem knappen „No“. Ausgangspunkt dieser Antwort ist dabei die Ablehnung der klassisch liberalen Staatsauffassung, die Freiheit als frei sein des Einzelnen von Hindernissen und Widerständen begreift, die seinem geplanten Ziel entgegengesetzt sind.60 57

So Dworkin, Sovereign Virtue, 181 f. Dworkin, Sovereign Virtue, 182. 59 Vgl. etwa Maunz/Dürig-Di Fabio, Kommentar zum GG, Art. 2 Abs. 1, Rn. 12 und Rn. 18. 60 Vgl. Berlin, Two concepts of liberty. Er unterscheidet zwischen einer negativen Freiheit (frei sein von etwas), die darin besteht von anderen nicht gestört zu werden, 7 f., und einer dieser auch historisch entgegen gesetzten positiven Freiheit (frei sein zu etwas). Schon durch den Anspruch, mein eigener Herr sein zu wollen, kann die positive Freiheit zu einer Störung der negativen Freiheit, sogar zu einer Selbstverskla58

4. Rechtliche Freiheit und vorrechtliche Gleichheit

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Eine solche Auffassung von „liberty as license“, von Freiheit als persönlichem Belieben, die gerade auch im Anschluss an Berlin und Bentham sehr wirkmächtig ist, führt aber stets zu einem Wettbewerb unter dem Vorzeichen des Gegeneinanders zwischen Freiheits- und Gleichheitsrechten. Denn wenn es primär darum geht, dem Belieben des Einzelnen möglichst keine Schranken aufzuerlegen, so sind Einschränkungen dieses Beliebens, etwa im Namen einer gleichheitsorientierten Regelung, von Anfang unter ungleich höherem Rechtfertigungsdruck als die Formulierung von Freiheitsrechten, die anders als Gleichheitsrechte eben nicht unter dem Generalverdacht stehen, ein vielleicht gelegentlich notwendiges, aber grundsätzlich zu vermeidendes Übel zu sein. Eine Analyse des Begriffs „Recht auf Freiheit“ mit Dworkin zeigt dagegen zum einen dessen anfängliche Unterbestimmtheit: Unklar ist z. B., ob objektive oder subjektive Rechte geschützt werden, wie auch, was unter das Belieben fällt und was nicht. Zum anderen gilt, dass ein Recht, soll es keine bloße Deklamation sein, als Ergebnis einer tatbestandsmäßigen Prüfung anzusehen ist, nicht aber Ausgangspunkt einer solchen Prüfung sein kann. Das wiederum heißt für Dworkin, dass Freiheit nicht der Ausgangspunkt einer Bedeutungsreflexion des Rechts oder einer politischen Theorie sein kann. Weiterhin ist das schon vorgestellte Argument aus der Gewinnung des basalen Rechts heranzuziehen, demnach eine Freiheit des Beliebens als abstraktes, basales Recht ausscheidet. Denn die allgemeine Einschätzung, dass Freiheit hilft, die konkreten Interessen des Einzelnen zu befördern,61 setzt eben weil es sich um eine allgemeine Einschätzung jenseits spezifischer Ziele und konkreter Interessen handelt, selbst eine Gleichheit in Form eines Allgemeinheitsbezugs voraus. Daher, so Dworkin, bildet die Gleichheit als right to equality of concern and respect den Ausgangspunkt für Freiheitsrechte, das heißt es handelt sich um eine gleichheits- und achtungsorientierte Lebenshaltung aus einer liberalen Toleranz, die Dworkin anstrebt. c) Utilitaristische Kritik und ihre Zurückweisung durch Verschiebung der Argumentationslast Das führt hinsichtlich der Frage nach einem Recht auf Freiheit zu einem Neuansatz mit dem Recht auf basale Freiheitsrechte.62 Aber auch hier bleibt deren erforderliche Begründung jenseits utilitaristischer Nutzenkalküle zunächst problematisch. Denn mit utilitaristischen Argumenten lässt sich eine Ablehnung konventionalistischer und naturalistischer Gründe für Freiheitsrechte begründen, vung im Namen eines höheren Ideals, führen, 16 f. Berlin hält daher die negative Freiheit für das wahre menschliche Ideal, 56. Auf die negative Freiheit bezieht sich Dworkins Taking Rights Seriously, 267. 61 Vgl. Berlin, Two concepts of liberty, 8. 62 Vgl. Dworkin, Taking Rights Seriously, 268 f.

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II. Die liberale Rechtstheorie nach Dworkin

da diese allein auf vermeintlich bestehende Selbstverständlichkeiten oder auf feste, unverrückbare „Naturkonstanten“ verweisen. Die von Dworkin angepeilte Begründung der Freiheitsrechte aus Gleichheit ist damit aber nicht erreicht.63 Denn dafür müsste gezeigt werden, dass jede Regierung, jeder Gesetzgeber und jede Rechtsprechungsinstanz die sie tragende Bevölkerung mit equal concern and respect behandeln muss. Dann wäre eine von Dworkin so benannte „liberal conception of equality“ erreicht. Aber wie verhält sich nun eine solche politisch-moralische Auffassung zu einer utilitaristischen? Welche Ungleichheiten sind dabei aus der Perspektive von Dworkins Ansatz erlaubt? Die Stärke einer utilitaristischen Position zeigt sich hierbei zunächst darin, dass sie als Theorie nicht von einer Höherwertigkeit einer bestimmten Gruppe der Gemeinschaft ausgeht und insofern das right to equality of concern and respect enthält.64 Allerdings setzt ein solcher Ansatz im Weiteren auch keine Widerstände einem Nutzenkalkül entgegen, das auf ressentimentgeleiteter Basis beruht, das heißt auf bestimmten persönlichen, unhinterfragten und unbegründeten Präferenzen. d) Das Beispiel der „affirmative action“ Das Ungenügen utilitaristischer Theoriebildung wie auch die Vernetzung von Freiheit und Gleichheit belegt Dworkin beispielhaft unter anderem mit der Diskussion um die Frage, ob affirmative action, das heißt die Förderung bestimmter, als benachteiligt erkannter Gruppen, zu einer „reverse discrimination“ führt, also zur Benachteiligung derjenigen, die nicht dieser Gruppe angehören, und daher abzulehnen sei. Ein Beispiel hierzu ist die Universitätszulassung unter Bedingungen der „affirmative action“. Ob solche gesellschaftlich diskriminierte Gruppen befördernde Zulassungsverfahren zu rechtfertigen sind, wird, so Dworkin, im Rechtsstreit zu folgender Frage der Verfassungsinterpretation: „Which is the concept of an individual right to equality made a constitutional right by the equal protection clause?“65 63

Vgl. Dworkin, Taking Rights Seriously, 272. Vgl. Dworkin, Taking Rights Seriously, 275. 65 Vgl. The Equal Protection Clause of the 14th amendment of the U.S. Constitution: „Section 1. All persons born or naturalized in the United States, and subject to the jurisdiction thereof, are citizens of the United States and of the state wherein they reside. No state shall make or enforce any law which shall abridge the privileges or immunities of citizens of the United States; nor shall any state deprive any person of life, liberty, or property, without due process of law; nor deny to any person within its jurisdiction the equal protection of the laws.“ (d. V.). Dazu Dworkin, Taking Rights Seriously, „In other words, the laws of a state must treat an individual in the same manner as others in similar conditions and circumstances. A violation would occur, for example, if a state prohibited an individual from entering into an employment contract because he or she was a member of a particular race. The equal protection clause is not intended to provide „equality“ among individ64

4. Rechtliche Freiheit und vorrechtliche Gleichheit

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Zu ihrer Beantwortung differenziert Dworkin zunächst zwischen „equal treatment“ und „treatment as an equal“. Während die „gleiche Behandlung“ die Verteilung von Chancen und Lasten zum Thema hat, zielt die „Behandlung als Gleiche“ darauf, dass Einzelne mit gleicher Aufmerksamkeit und Rücksicht behandelt werden wie die Anderen. Insofern ist die letztere Gleichheitsform fundamental, während die erstere relativ dazu als derivativ einzuordnen ist. Denn erst wenn der Einzelne in seiner Situation ernsthaft wahrgenommen wird, lässt sich eine situativ angemessene Entscheidung treffen. In Auseinandersetzung mit utilitaristischen Positionen, insbesondere mit einem Präferenzutilitarismus und dessen Gleichheitsgehalt66 ist die Unterscheidung zwischen persönlichen und externen Präferenzen von besonderer Bedeutung. Letztere sind mit Dworkin aus streng utilitaristischer Sicht immer schon korrumpierend, da sie politische Theorien enthalten, seien sie altruistischer oder moralistischer Art, die dem Utilitarismus entgegengesetzte Präferenzen voraussetzen – allein deshalb, da sie über Nutzenerwägungen hinausgehen und diese von außen determinieren wollen.67 Damit kann aber kein utilitaristisches Argument für die affirmative action gebildet werden.68 Denn in einer stark vorurteilsbeladenen Gesellschaft unterliegen die persönlichen Präferenzen den externen Präferenzen. Das eigentliche Anliegen einer utilitaristischen Theorie aber, nämlich irrationale, externe Präferenzen auszublenden, die oft erst den Vorwurf der reverse discrimination ermöglichen, lässt sich daher eben auch nur mit einem Maßstab erreichen, der nicht im persönlichen Belieben steht, aber zugleich auch Teil der inneren Lebenshaltung sein kann: für Dworkin das right to equality of concern and respect. So bildet für Dworkin die Gleichheit den vorrechtlichen Ausgangspunkt seiner Theorie. Freiheit tritt innerhalb einer Rechtsordnung als System von einzelnen Freiheiten auf. Diese gilt es aber wiederum stets unter Rückgriff auf das fundamentale Gleichheitsrecht auszulegen und anzuwenden. Ist nun aber ein solcher Standpunkt zu starr, um auf eine sich ständig verändernde Umwelt zu reagieren, wie die Position einer Freiheit des Beliebens nahe legt? Steht eine solche Konzeption einer Flexibilisierung des Rechts entgegen?

uals or classes but only „equal application“ of the laws. The result, therefore, of a law is not relevant so long as there is no discrimination in its application. By denying states the ability to discriminate, the equal protection clause of the Constitution is crucial to the protection of civil rights.“ 66 Dworkin, Taking Rights Seriously, 234. 67 Dworkin, Taking Rights Seriously, 235. 68 Dworkin, Taking Rights Seriously, 237.

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II. Die liberale Rechtstheorie nach Dworkin

5. Die Flexibilisierung des Rechts Flexibilisierung im Recht bedeutet für Dworkin entsprechend seiner Auffassung des Verhältnisses von Freiheit und Gleichheit nicht mehr, die Handlungsfreiheit der Einzelnen möglichst unangetastet von gleichheitsorientierten Eingriffen, etwa des Staates, zu belassen oder eine unbegrenzte Freiheit des Beliebens als rechtspolitisches Ziel oder gar als einzigen Auslegungsmaßstab bestehender Normen zu verstehen. Vielmehr bedeutet Flexibilisierung von Recht für Dworkin, jeden neuen Sachverhalt dem fundamentalen Wertungsprinzip des right to equality of concern and respect gemäß zu entscheiden. a) Flexibilisierung als Realisierung liberaler Gleichheit Die Flexibilisierung unter der Perspektive der liberalen Gleichheit kann als eine Flexibilität des Rechts charakterisiert werden. Denn neue Lebenssachverhalte werden stets unter Rückgriff auf ein basales Recht entschieden, das nicht den Normen des positivierten Rechts entnommen wird. Durch den Rückbezug auf dieses basale Recht wird eine Distanz zu den bisherigen Entscheidungen und ihren Wertungen erreicht. Damit ist Recht nach Dworkins Rechtsauffassung grundsätzlich jederzeit in der Lage, auf neue Sachverhalte zu reagieren, ohne hinsichtlich der umzusetzenden Wertungen beliebig zu werden oder einfach nur bestehende Wertungen weiter zu tragen. Denn eine rechtliche Entscheidung ist eben dasjenige Instrument, das das basale Recht jeweils konkret zum Ausdruck bringt.69 So wird auch eine Zukunftsoffenheit gewonnen, unter der die Frage zu verhandeln ist, was in einer spezifischen Situation als Flexibilisierung des Rechts verstanden werden kann. Für die Positionen, die Flexibilisierung mit Liberalisierung gleichsetzen und unter Liberalität eine Freiheit des Beliebens verstehen, erscheint Dworkins Ansatz als gleichheitsorientiert und so auch als freiheitsfeindlich und damit als zu starr, um neuen, individuellen Freiheitsäußerungen Rechnung zu tragen. Kann Dworkin aber zeigen, dass er unter Gleichheit nicht das Vorschreiben bestimmter Güterverteilungen versteht, kann sein Ansatz gegen einen solchen Vorwurf der „Gleichmacherei“ verteidigt werden. Und eine solche Verteidigung ist möglich, da die Quelle der Legitimation wie auch der Begrenzung von Recht(-en) das basale right to equality of concern and respect und nicht die gleiche Güterverteilung ist. Den Gegenargumenten derjenigen, die Flexibilisierung als Erweiterung der Handlungsfreiheit und Zurückdrängung von Gleichheit ansehen, ist damit aus Sicht von Dworkins Ansatz die Grundlage entzogen. Denn die im engeren Sinne juristischen Freiheits- und Gleichheitsrechte sind im Kern miteinander 69

Vgl. Dworkin, Law’s Empire, 232–238.

5. Die Flexibilisierung des Rechts

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vereinigt. Beiden liegt das right to equality of concern and respect zugrunde, durch das Gleichheit und Freiheit als zwei Ausdrucksformen einer gemeinsamen Grundform gedacht werden. Dieses Anliegen ist wiederum, wie im vorangehenden Abschnitt gesehen, vor allem dadurch gerechtfertigt, dass die „liberty as license“-Auffassung mit zurückgewiesen werden kann, indem gezeigt wurde, dass in dem von vielen angesetzten Wettstreit von Freiheit und Gleichheit allein die Gleichheit gewinnen würde, die aber in ihrem Kern wiederum der Wahlfreiheit beziehungsweise entsprechender Freiheitsrechte bedarf, um nicht selbstwidersprüchlich zu werden.70 Allerdings hängt eine solche erfolgreiche Verteidigung von Dworkins Ansatz wesentlich davon ab, dass die Positionen, von denen her der Vorwurf der Freiheitsfeindlichkeit formuliert wird, die seine stark verkürzen und vor allem selber zu pointiert und isoliert vorgehen, wenn sie nur auf das vermeintliche Gegeneinander von Gleichheit und Freiheit abstellen. b) Das ungelöste Problem des Rechts hinter dem Recht Die argumentative Überlegenheit gegenüber schwächeren Gegnern reicht aber nicht aus, um Dworkins Ansatz selbst als gelungen zu qualifizieren. Denn die eigentliche, kritische Rückfrage, die in Wahrheit gefährlich für Dworkins Ansatz ist, bleibt offen. Gemessen an seinem eigenen Maßstab, eine in selbstbezüglicher Weise kohärente Theorie zu formulieren, ist dies die Frage nach dem Recht hinter dem Recht, also die Frage, wie das Recht sich selbst als solches begreifen kann.71 Dworkin geht zu ihrer Beantwortung von einer Lebenshaltung der liberalen Toleranz im Bereich der Moral aus, die gleichsam den ganzen Umfang menschlichen Handelns – und damit auch den des basalen Rechts – abdecken soll. Gegen einen solchen weiten Bogen wendet sich besonders eine konventionalistische Ethik-Theorie, von der Dworkin sich daher mit seiner Auffassung einer Flexibilisierung des Rechts als stets neuer Realisierung des basalen Rechts absetzen muss. Denn der konventionalistischen Auffassung zufolge ändert sich Recht, wenn sich die gesellschaftlichen Konventionen ändern. Auch neue Lebenssachverhalte sind dann den bestehenden Konventionen entsprechend zu ent70 Vgl. II. 4. dieser Arbeit. So lässt sich Dworkins Ansatz in der Nozick – Rawls Debatte um die Rolle der Freiheit als ursprüngliches „Recht“, das heißt um die Frage schwacher Staat oder Verteilungsstaat, strategisch als einer charakterisieren, der sich im Ausgang von Rawls zwischen den Kontrahenten positioniert. Denn er verschiebt den methodischen Bezugspunkt der Diskussion mit seiner Tiefenanalyse von der Frage Vorrang der Freiheit vor der Gleichheit oder vice versa hin zu der Frage, welche Auffassung von Freiheit mit welcher von Gleichheit einhergeht. 71 Vgl. dazu folgende Formulierungen Dworkins in Law’s Empire: „Law beyond Law: Law as integrity“, 400–404 und „Law is an attitude“, 413.

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II. Die liberale Rechtstheorie nach Dworkin

scheiden. Zur Absetzung von einer konventionalistischen Auffassung argumentiert Dworkin, dass in einer von einer politischen Moralität freien Gemeinschaft („liberal community“) deren Werte aus konstitutiven Gründen nicht mittels Strafrecht durchgesetzt werden dürfen.72 Denn im Recht soll keine Gesinnungsstrafbarkeit erlaubt sein. Damit verschiebt Dworkin aber nur die Argumentationslast. Er muss nun nicht mehr positiv für die „liberale Toleranz“ argumentieren, sondern diese nur gegenüber Gegenargumenten verteidigen. Dabei wird im Wesentlichen auf drei Argumente zurückgegriffen: Ein erstes demokratisches, von der Wahlfreiheit und der Wahlstimme des Einzelnen ausgehendes Argument gegen das liberale Toleranzgebot geht fehl, da ja bereits überzeugend in der Auseinandersetzung um Freiheit und Gleichheit eine Absetzung von Berlins Freiheitsbegriff – „liberty as license“ – erfolgte.73 Vielmehr muss Moral – statt demokratisch als mehrheitlich-kollektive Überzeugung – ökonomieähnlich verstanden werden. Das heißt, als kollektive Ansicht, die das Ergebnis der Verschränkung individueller Überzeugungen darstellt. Auch eine zweite paternalistische Auffassung einer immer schon den Einzelnen auch vor sich selbst schützenden Moral – die sich so gegen liberale Toleranz richtet – muss im liberalen Staat aufgegeben werden, da eine solche selbstwidersprüchlich ist, insoweit sie ihren Geltungsgrund in einer individualisierten Gesellschaft nicht ausweisen kann. Ein drittes, auf dem Eigeninteresse basierendes Gegenargument sieht das Erfordernis einer moral-kulturellen Homogenität nicht ein und überzeugt daher, so Dworkin, nicht. So lässt sich die liberale Toleranz als Wert zwar gegenüber bestimmten Gegenpositionen verteidigen und absetzen. Eine positive Wendung, eine Beantwortung der Frage, woher ein denkendes Ich beziehungsweise eine durch ihre Handlungen verbundene Personen wissen kann, worin die Setzung und Setzbarkeit dieser Position besteht, fehlt aber. Dies ist die Frage nach dem Recht hinter dem Recht, die durch die Strategie der Verschiebung der Argumentationslast nicht überzeugend beantwortet ist. Insbesondere ist dabei die Bezugnahme von Individuum und Personenmehrheit aufeinander problematisch. Die liberale Toleranz setzt die Unterscheidung zwischen dem individuellen Wohlergehen und dem der politischen Gemeinschaft voraus. So geht die liberale Toleranz einerseits von der Unterscheidung zwischen dem individuellen Wohlergehen und dem der politischen Gemeinschaft aus, indem mit ihr eine Rechte-basierte Theorie legitimiert werden soll. Aber andererseits wird diese Unterscheidung zwischen individueller Lebenshaltung und Handlungsbezügen zwischen mehreren Personen, die rechtlich geregelt 72

Vgl. Dworkin, Sovereign Virtue, 211. Vgl. Dworkin, Sovereign Virtue, 212; vgl. den vorangehenden Abschnitt II. 4. dieser Arbeit. 73

5. Die Flexibilisierung des Rechts

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werden sollen, durch die Verbindung von Recht und Lebenshaltung im Angesicht der Frage nach dem Recht hinter dem Recht nicht vollzogen und bleibt so unausgewiesenermaßen vorausgesetzt. An diese Kluft zwischen individueller Haltung und kollektiven Handlungsbezügen schließen zwar Dworkins Überlegungen zu einer „moral reading“ genannten Lesart von Rechtssätzen und -entscheidungen an. Sie versteht Demokratie aber nicht in einem engeren Sinn als numerische Gleichheit von Wählerstimmen, sondern als Ausdruck des equal concern. Jede Demokratie muss nach Dworkin versuchen, diesem Anspruch gerecht zu werden. Damit schließt sich der Bogen zu den anderen Absetzungsthemen: der Absetzung Dworkins von einer positivistischen, konventionalistischen, utilitaristischen und ökonomischen Auffassung und Interpretation des Rechts. Im Unterschied zu diesen allen sieht Dworkin das right to equality of concern and respect als entscheidend an und gelangt so zu einer inneren Stringenz.74 Allerdings kann sich die liberale Toleranz aber ebenso wenig wie das right to equality of concern and respect selber als Realisierung des Rechts ausweisen, wenn es zu ihr kein Außen mehr gibt, keine von ihr unterscheidbare Wertungsebene der je individuellen Lebenshaltung, sondern alle praktischen Normierungen in der liberal tolerance als allumfassender moralischer Wertung aufgehen,75 ohne dass entweder das right to equality of concern and respect oder die „liberal tolerance“ aus sich heraus weitere Differenzierungen erfordern. Hier stellt sich an anderer Stelle das Problem der Selbstbezüglichkeit, das für Dworkin Ausgangspunkt dafür war, um überhaupt zu seinem fundamentalen Recht in Fortführung und zugleich Absetzung der Rawlschen Theorie der Gerechtigkeit zu gelangen. Steht zu Beginn seiner Theorie die individuelle Lebenshaltung auf der einen Seite und die rechtliche Ordnung von Handlungsbezügen zwischen mehreren Personen auf der anderen Seite und wird mit der original position beziehungsweise deren Identifikation mit dem right to equality of concern and respect ein Verbindlichkeit begründender Zusammenhang erschlossen, so sind diese Differenzen mit der liberalen Toleranz als Schlussstein der liberalen Rechtstheorie nicht aufrechtzuerhalten. Damit ist aber auch der Ansatz Dworkins hinsichtlich der Bedeutung von Flexibilisierung als jeweils immer neu herzustellende Realisierung des basalen right to equality of concern and respect nicht selbst zu einer Entwicklung fähig und gerät so angesichts der Anforderung einer Flexibilisierung des Rechts in einen performativen Widerspruch, in dem Sinne, dass Theorieanspruch und Theoriedurchführung auseinander treten.76 Denn der Ansatz beharrt in seinem 74

Vgl. II. 1., II. 2. und II. 4. dieser Arbeit. Nicht für Dworkin, aber in diese Richtung vgl. Esser, Kants Tugendlehre, 239. 76 Genauer zur Bedeutung und zum Problem des performativen Widerspruchs vgl. III. 2. dieser Arbeit. 75

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II. Die liberale Rechtstheorie nach Dworkin

Theorieaufbau einfach nur auf sich selbst, indem die Frage nach dem Recht hinter dem Recht auf die liberale Toleranz ausgelagert wird. Die liberale Toleranz aber kann wiederum mangels weiterer Differenzierungskriterien eine je eigene, individuelle Lebenshaltung relativ zu kollektiven, rechtlichen Werten nicht im Hinblick auf eine verbindliche Entscheidung thematisieren. Ein Ausweg aus diesem Dilemma, entweder mit der Wertungsjurisprudenz Recht als Setzung ohne Rechtfertigung durch eine weitere Bedeutungsreflexion auf den Rechtsbegriff hinzunehmen oder mit Dworkin Recht als Setzung relativ zu einer individuellen Lebenshaltung zu begreifen und dabei entweder auf den Rechtscharakter zu verzichten oder aber den Charakter eines individuell Handelnden, bietet erst die Beantwortung der Frage, ob es eine Möglichkeit gibt, zwischen individueller Einstellung und Haltung der Rechtsgemeinschaft zu trennen und so Rechtswertungen weiter zu tragen, ohne eine in sich geschlossene, unveränderbare Lebenshaltung vorauszusetzen, aber auch ohne die Anschlussfähigkeit an eine mit rechtlichen Setzungen vereinbare Lebenshaltung zu verlieren. Um eine Antwort zu finden, sind zunächst weitere Vorarbeiten erforderlich, insbesondere auch um die Gemeinsamkeiten der beiden rechtstheoretischen Ansätze im Unterschied zu einem rechtsphilosophischen Ansatz situieren und in ihrer Leistungsfähigkeit beurteilen zu können.

III. Rechtstheorie und Rechtsphilosophie Die in den ersten beiden Teilen dargestellten und kritisch diskutierten Theorieansätze der Wertungsjurisprudenz und der liberalen Rechtstheorie repräsentieren zwei unterschiedliche Typen von Theorieentwürfen zur reflexiven Erfassung von Recht und zur Legitimation von rechtlichen Entscheidungen. Während der Ansatz der Wertungsjurisprudenz nach Canaris die Rechtsprinzipien aus der positiven Rechtsordnung erschließt, geht Dworkins Theorie von einem basalen Recht aus, das unabhängig von der positiven Rechtsordnung gesetzt und durch Rechtsprinzipien dargestellt wird. Inwieweit diese unterschiedlichen Rechtfertigungsstrategien auch Gemeinsamkeiten enthalten, wird daher zunächst untersucht. Sodann werden zweitens die philosophischen Rückfragen an die Ansätze der Wertungsjurisprudenz und der liberalen Rechtstheorie gestellt, zu denen sie hinführen und deren entsprechende Beantwortung sie zumindest implizit voraussetzen. Dabei handelt es sich insbesondere um die Frage nach dem Verhältnis von dem Erkenntnisanspruch der Theorien zu ihrer jeweiligen Theoriedurchführung. Der Ansatz von Canaris führt insbesondere zu der Frage, inwieweit durch eine Einheit und Folgerichtigkeit bei der Erfassung von Wertungen einer positiven Rechtsordnung tatsächlich beansprucht werden kann, die von der positiven Rechtsordnung unabhängige Rechtsidee zu realisieren. Der Ansatz von Dworkin führt insbesondere zu der Frage, ob aus Sicht einer individuellen Lebenshaltung der „liberal tolerance“ noch spezifisch rechtliche Wertungen getroffen werden können. Dabei wird auch die Unterscheidung von Rechtstheorie und Rechtsphilosophie begrifflich ausdifferenziert und die Ansätze der Wertungsjurisprudenz sowie der liberalen Rechtstheorie werden als rechtstheoretische eingeordnet, da sie im Fall der Wertungsjurisprudenz nicht genügend Distanz zur positiven Rechtsordnung aufweisen und im Fall der liberalen Rechtstheorie nur eine unzureichende rechtsimmanente Bedeutungsreflexion bieten. Auf dieser Basis werden drittens zentrale Anforderungen an eine Rechtsphilosophie formuliert: Sie soll sich nicht in einem rein theoretisch-rezeptiven Vorgehen oder in Detailverbesserungen rechtstheoretischer Ansätze erschöpfen, sondern vielmehr in der Lage sein, nach einer Einklammerung der gegebenen Rechtslage eine Bedeutungsreflexion zu bieten, die die hier offen gebliebenen Fragen der Rechtstheorie beantwortet und zugleich als spezifisch rechtliche Bedeutungsreflexion auf eine und in einer konkreten Rechtsordnung angewendet werden kann.

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III. Rechtstheorie und Rechtsphilosophie

1. Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Wertungsjurisprudenz und liberaler Rechtstheorie Die sicherlich interessante Frage, ob unterschiedliche Rechtskulturen einen Einfluss auf die Theoriebildung von Wertungsjurisprudenz und liberaler Rechtstheorie haben und inwieweit es dabei Gemeinsamkeiten und Unterschiede gibt, ist weder Gegenstand dieses Abschnitts noch der Arbeit. Vielmehr soll dargelegt werden, dass trotz der großen Unterschiede die Gemeinsamkeiten ausreichen, um beide Theorien zu einem Reflexionstyp von Recht zusammenzufassen, obwohl sie aus unterschiedlichen Rechtskulturen stammen und mit unterschiedlichen Rechtsfertigungsstrategien arbeiten.1 a) Die Unterschiede Bedenkt man, dass das Anliegen der Wertungsjurisprudenz in der Einheit und Folgerichtigkeit im Recht liegt und das Anliegen der liberalen Rechtstheorie dagegen auf die Um- und Durchsetzung eines Rechts zielt, nämlich des right to equality of concern and respect, so besteht schon im Theorieansatz ein großer Unterschied. Während für die Wertungsjurisprudenz ein methodisches Anliegen im Vordergrund steht, das auf ein Verfahren der Systematisierung zielt, beginnt die liberale Rechtstheorie mit der Setzung eines inhaltlich aufgeladenen Rechtsbegriffs. Diesen unterschiedlichen Anliegen entsprechen gegenläufige Systembegriffe. Auf der einen Seite verfährt das System der Wertungsjurisprudenz nach Canaris wesentlich induktiv im Sinne eines Schlusses aus einer gegebenen Mannigfaltigkeit rechtlicher Normen auf ihre Einheit, wie das Verfahren der Rechtsprinzipiengewinnung zeigt. Dworkins liberale Rechtstheorie bewertet auf der anderen Seite jeden Fall neu unter der Perspektive des ursprünglichen Rechts auf Aufmerksamkeit und Rücksichtnahme. Dabei geht Dworkin subsumierend und deduktiv vor, indem von dem Rechtsbegriff aus eine gegebene Mannigfaltigkeit unterschiedlicher Fälle bewertet wird. So wird bei Dworkin der einmal gewonnene Rechtsbegriff umgesetzt und die Rechtsprinzipien dienen dessen inhaltlicher Umsetzung. 1 Zum Begriff des Typs vgl. Weber, der zwischen Ideal- und Realtypen unterscheidet. Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher Erkenntnis, 199, zufolge dient der Idealtyp als „begriffliches Mittel zur Vergleichung und Messung der Wirklichkeit“. Im Unterscheid dazu geht es hier nicht primär um eine solche Typenbildung oder die Gewinnung unterschiedlicher Typen. Vielmehr werden die Wertungsjurisprudenz und die liberale Rechtstheorie auf ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin befragt, um im Ausgang von den Gemeinsamkeiten durch einen Abstraktionsprozess, das heißt dem Abstreichen von wesentlich sinnlich-materialen Umständen, gemeinsame Probleme in dem Verhältnis von Theorieanspruch und Theoriedurchführung aufzudecken.

1. Wertungsjurisprudenz und liberale Rechtstheorie

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Während Canaris von einer Trennungsthese hinsichtlich des Verhältnisses von Recht und Sittlichkeit ausgeht, vertritt Dworkin eine Einheitsthese. Letzterem zufolge bedeutet Recht eben genau deshalb eine Lebenshaltung, weil es um die Umsetzung eines ursprünglichen Rechts in jeder einzelnen Entscheidung geht, die vor allem in den Händen von Richtern liegt.2 Die Unterscheidung zwischen Moral und Recht gilt es, so Dworkin, im Rahmen einer einheitlichen Wertung zu verbinden. Entsprechend wird die Richtigkeit der Entscheidung eines Falls durch die Lebenshaltung und das basale Recht verbürgt. Dagegen werden die Wertungen bei Canaris aus der inneren Struktur einer Rechtsordnung, durch die Methode der Systematisierung von Wertungen, legitimiert. Im Anschluss daran geht es bei Canaris darum, den rechtspolitischen Einfluss bei der Umsetzung der vom Gesetzgeber getroffenen Wertungen zu mindern, während Dworkin darauf abzielt, durch die richterliche Entscheidung hindurch politischen Einfluss auszuüben. Die Rolle und die Bedeutung von Freiheit und Gleichheit werden ebenfalls unterschiedlich eingeschätzt. Während für die Wertungsjurisprudenz die allgemeine Handlungsfreiheit ein vorrechtliches Faktum aus dem Bereich der Sittlichkeit darstellt, ist für die liberale Rechtstheorie die Handlungsfreiheit erst im Rahmen eines gleichheitsbasierten Rechtssystems sinnvoll. So ist bei Dworkin Gleichheit der Ausgangspunkt sowohl seiner Lebenshaltung wie auch seines Rechtsbegriffs. Die Gleichheit besteht darin, aufmerksam und teilnehmend alle Belange jeder Person oder Gruppe gleichermaßen zu berücksichtigen – eine Anforderung die im deutschen Recht erst bei der Auslegung des Gleichheitssatzes des Grundgesetzes eine Rolle spielt.3 Neben diesen Anwendungs- und Funktionsunterschieden bezüglich der Freiheits- und Gleichheitsauffassung bei Canaris und Dworkin bestehen zwei unterschiedliche Auffassungen darüber, was eine Flexibilisierung des Rechts bedeutet. Unter dem Paradigma der Wertungsjurisprudenz bedeutet Rechtsentwicklung die Übertragung einer bestehenden Wertung auf einen ungeregelten Fall. Die Wertung selber wird dabei über Rechtsprinzipien, die wiederum über induktive 2 Hier zeigt sich auch die Prägung der Theorieansätze durch die unterschiedlichen Rechtskulturen: Canaris Perspektive zufolge dient Recht der Umsetzung der Wertungen eines demokratischen Gesetzgebers – entsprechend der deutschen Vorstellung, dass Recht vor allem aus Gesetzen und ihrer Anwendung besteht. Aus Dworkins Sicht besteht Recht in der Setzung von Wertungen, vor allem durch Richterentscheidungen – entsprechend der angelsächsischen Vorstellung von Recht als Einzelentscheidung im Fall und dem ständigen Arbeiten mit Analogien zur Bezugnahme zwischen den Fällen. 3 Vgl. seit BVerfGE 55, 72, 88 die „neue“ Formel zur Auslegung des allgemeinen Gleichheitssatzes, Art. 3 Abs. 1 GG. Auch bei Canaris, Die Bedeutung der iustitia distibutiva im deutschen Vertragsrecht, und Canaris, Grundrechte und Privatrecht, spielt die Rechtsidee als formaler Gleichheitssatz nur in methodologischer Hinsicht eine zentrale Rolle und innerhalb der Methodologie dann bei Fragen zum Verhältnis Grundrechte – Privatrecht.

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III. Rechtstheorie und Rechtsphilosophie

Verfahren gewonnen werden, erschlossen. Unter dem Paradigma der liberalen Rechtstheorie dagegen bedeutet Rechtsentwicklung vor allem, jeweils eine neue Wertung im Einzelfall einzuführen, die aus einem obersten, gesetzten Prinzip, dem Rechtsbegriff, gewonnen wird. Wenn die Wertungsjurisprudenz und die liberale Rechtstheorie sich in Anliegen, Systembegriff, der Auffassung des Verhältnisses von Recht und Moral sowie der Auffassung von Freiheit, Gleichheit und Flexibilisierung unterscheiden – welche Gemeinsamkeiten kann es dann noch geben?

b) Die Gemeinsamkeiten Den großen Unterschieden entspricht zugleich eine große Gemeinsamkeit: Beide Rechtstheorien stellen sich der Aufgabe, Recht zu realisieren. In der Folge unterscheiden beide Rechtstheorien bei der Umsetzung dieses Vorhabens gleichermaßen terminologisch zwischen Regeln, das heißt dem wörtlichen Inhalt der Rechtsregeln, z. B. den Gesetzen und gewohnheitsrechtlich anerkannten Rechtssätzen, und Prinzipien, die die Wertungen hinter den Regeln beziehungsweise Gesetzen ausdrücken, die aber erst erschlossen werden müssen. Diese terminologische Unterscheidung führt zu der beiden Rechtstheorien gemeinsamen inhaltlichen Überzeugung, dass die Wertungen einer Rechtsordnung wesentlich durch die Prinzipien und nicht durch das geschriebene Gesetz erfasst werden können und es gilt, unter deren Perspektive die gegebenen Regeln beziehungsweise Gesetze fortzubilden. Auf einer pragmatischen Ebene des Anliegens gleichen sich Wertungsjurisprudenz und liberale Rechtstheorie ebenfalls. Es geht beiden darum, in dem Bereich der bereits geregelten Fällen eine gleichmäßige Rechtsanwendung zu garantieren, sowie in dem Bereich der neuen, rechtlich bis dahin ungeregelten Lebenssachverhalte juristisch sachgerecht zu entscheiden. Dies setzt sich darin fort, dass beide Theorien den Anspruch erheben, einen konkreten Beitrag bei der Lösung von je gegenwärtigen Rechtsentscheidungsproblemen zu leisten – ein Anspruch, der von beiden auch eingelöst wird, wie das jeweilige Wirken in ihrer Rechtsordnung zeigt. Wertungsjurisprudenz und liberale Rechtstheorie zeigen ferner eine Übereinstimmung in dem, was sie nicht tun. Sie verzichten beide auf eine Einbettung ihrer methodologischen (Canaris) oder begriffsbildenden (Dworkin) Leistungen in eine allgemeine Theorie über die Rolle der Methodologie beziehungsweise der Bedeutungsgebung oder gar eine allgemeine philosophische Position. Vielmehr schließen sie jeweils an traditionelle, stark disziplinär vorgeprägte Diskussionslagen um das Recht an, wie bereits das Verhältnis der beiden Rechtstheorien zu den jeweils alternativen Ansätzen innerhalb der nationalen Rechtsordnungen zeigt. Damit geht einher, dass aus philosophischen Theorien selektiv für

1. Wertungsjurisprudenz und liberale Rechtstheorie

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den eigenen disziplinären Zweck einige Elemente mehr oder weniger bewusst übernommen werden. In der Wertungsjurisprudenz entnimmt etwa Canaris den Systembegriff der Kantischen Kritik der reinen Vernunft und in der liberalen Rechtstheorie zieht Dworkin die philosophische Figur der Selbstbezüglichkeit zur Begründung des basalen Rechts heran.4 Gemeinsam ist beiden Rechtstheorien auch – trotz unterschiedlicher Bedeutung im Einzelnen – die zentrale Rolle der Gleichheit. So wird sie im Ansatz der Wertungsjurisprudenz als allgemeiner Gleichheitssatz, demzufolge Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln ist, mit der Rechtsidee selbst identifiziert und leistet die Absicherung des Systemanspruchs. Bei Dworkin bildet der Anspruch auf gleiche Aufmerksamkeit und Rücksichtnahme den Ausgangspunkt wie auch den Schlussstein seiner Auffassung von Recht. Hinsichtlich der Frage, was unter einer Flexibilisierung des Rechts zu verstehen ist, stimmen beide Rechtstheorien darüber ein, dass eine Flexibilisierung des Rechts keine Liberalisierung des Rechts im Sinne einer Abschaffung von Normen bedeutet, wie es etwa Berlins Auffassung von einer „liberty as license“ nahe legt. Auch zweifeln weder Wertungsjurisprudenz noch liberale Rechtstheorie grundsätzlich an der Leistungsfähigkeit von rechtlichen Normen für das soziale und ökonomische Gefüge einer Gesellschaft. Vielmehr bedeutet Flexibilisierung für Dworkin wie für Canaris, neue Lebenssachverhalte relativ zu den Wertungen zu entscheiden, die in den Rechtsprinzipien ihren Ausdruck finden. Eine Abschaffung von Normen, wie es die Auffassung von einer Flexibilisierung als Liberalisierung nahe legt, ist aus beiden Sichtweisen ein Problem der positiven, niedergeschriebenen Regelebene. Diese Ebene der positiven Gesetze klärt aber ohnehin nur in eingeschränkter Weise über Wertungen und über den Sinn einfachgesetzlicher Regelungen auf, solange es am Prinzipienbezug fehlt. Werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Blick genommen, so unterscheiden sich die Ansätze der Wertungsjurisprudenz und des Liberalismus zwar prima facie. Aber unter einer abstrakteren Perspektive des Theorieaufbaus und der Theoriestruktur lassen sich wesentliche Gemeinsamkeiten diagnostizieren. Diese formalen, funktionalen Gemeinsamkeiten rechtfertigen es auch, beide Theorieansätze unter einer philosophischen Perspektive unter dem Reflexionstypus der Rechtstheorie zusammenzufassen. Die philosophische Perspektive nimmt diese Arbeit ein, indem sie die Frage aufwirft, welche Bedeutungen von Freiheit, Gleichheit und Flexibilisierung relativ zu unterschiedlichen Arten, Recht reflexiv zu erfassen, entstehen. Im folgenden Abschnitt können auf Basis der formalen Gemeinsamkeiten die Probleme identifiziert werden, die bei beiden Rechtstheorien aufgrund eines unzureichenden Rückgriffs auf philosophische Ressourcen auftreten und zu einer 4

Vgl. I. 1. und II. 1. dieser Arbeit.

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III. Rechtstheorie und Rechtsphilosophie

zentralen Problemformulierung zusammengeführt werden: dem beiden Rechtstheorien gemeinsamen Problem eines performativen Widerspruchs im Hinblick auf den Theorieaufbau. 2. Freiheit, Gleichheit, Flexibilisierung und das ungelöste Performanzproblem Die Gemeinsamkeiten der Wertungsjurisprudenz und der liberalen Rechtstheorie ermöglichen nicht nur eine gemeinsame Behandlung unter der Perspektive eines Rechts aus Freiheit. Vielmehr führen diese Gemeinsamkeiten, so soll dieser Abschnitt zeigen, zu einem beiden Ansätzen gemeinsamen Problem, das den Kern ihrer Theoriebildung betrifft und mit der unzureichenden philosophischen Anbindung ihrer jeweiligen Theorie zusammenhängt: Theorieanspruch und Theoriedurchführung gehen nicht produktiv ineinander über, sondern stehen in einem performativen Selbstwiderspruch zueinander. Zunächst wird auf die bereits angesprochenen Ausformungen des Performanzproblems bei der jeweiligen Verhältnisbestimmung von Freiheit und Gleichheit sowie bei dem jeweiligen Begriff von Rechtsentwicklung eingegangen.5 Auf dieser Grundlage kann das Problem des performativen Widerspruchs im Theorieaufbau auch als ein Selbstbezüglichkeitsproblem adressiert werden, das auf den Kontext der klassischen deutschen Philosophie verweist. a) Performanzprobleme bei Diskussionen um Freiheit, Gleichheit und Flexibilisierung Bei der Verhältnisbestimmung von Freiheit und Gleichheit versuchen Wertungsjurisprudenz und liberale Rechtstheorie einen Begriff von freier Handlung abzulehnen, der allein in einem unbeschränkten Belieben besteht. An der Frage nach dem Verhältnis von Freiheits- und Gleichheitsrechten wurde gezeigt, dass genau die Trennungsthese von Recht und Sittlichkeit dazu führen kann, dass die Verbindlichkeit rechtlicher Entscheidungen und der Rechtsidee als allgemeiner Gleichheitssatz ausgehebelt werden kann, indem auf die vorrechtliche, unbegrenzte Freiheit als subjektive Wertung der Sittlichkeit zurückgegriffen wird. Da innerhalb der Wertungsjurisprudenz der Freiheitsbegriff als vorrechtlich eingeführt wird und sich damit genau einer Diskussion innerhalb einer rechtlichen Theorie entzieht, kann gegen eine solche Position der umfassenden, ungebundenen Freiheit mit den Mitteln der Wertungsjurisprudenz nicht erfolgreich argumentiert werden. Der liberalen Rechtstheorie nach Dworkin gelingt eine solche Zurückweisung zwar, indem gezeigt wird, dass auch eine Auffassung von liberty as license ei5

Vgl. I. 4. und II. 4. sowie I. 5. und II. 5. dieser Arbeit.

2. Freiheit, Gleichheit, Flexibilisierung und Performanzproblem

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nen Allgemeinheitsanspruch erhebt und insofern Gleichheitselemente voraussetzt. Allerdings wird in der Folge ein vorrechtlicher Gleichheitsbegriff eingeführt, der wiederum offen ist für eine vor- und außerrechtliche Bestimmung. Dies führt bei Dworkin dazu, dass die selbst vorgenommene Trennung zwischen Lebenshaltung und Rechtsbedeutung aufgelöst wird. Im Hinblick auf die Bedeutung einer Flexibilisierung des Rechts beansprucht die Wertungsjurisprudenz, die Rechtsidee umzusetzen und eine Rechtsentwicklung zu befördern. Geleistet wird mit dem induktiven Erschließen von Rechtsprinzipien aber lediglich eine Beschreibung und Umsetzung des bestehenden Rechts, wie auch die Übertragung bestehender Wertungen auf neue Lebenssachverhalte. So kann mit der Wertungsjurisprudenz nur eine Flexibilität im Recht erreicht werden, indem die wesentlich aus dem bestehenden Recht erschlossenen Rechtsprinzipien eine Übertragung vorhandener Wertungen auf neue Lebenssachverhalte ermöglichen. Nicht erreicht werden kann aber die gerechtfertigte Setzung genuin neuer Wertungen außerhalb des Gesetzgebungsverfahrens. Diese Fähigkeit wird jedoch zugleich durch eine Flexibilität des Rechts beansprucht, nämlich in dem Anspruch der Wertungsjurisprudenz auf eine Realisierung der Rechtsidee mittels der methodologisch erschlossenen Rechtsprinzipien. In dem Maße, in dem die Rechtsidee innerhalb des Ansatzes der Wertungsjurisprudenz als ein Bezugspunkt der Prinzipienbildung fungiert, werden im Zentrum einer methodologischen Theorie originär philosophische Fragen aufgeworfen: die Fragen nach der Bedeutung der Rechtsidee, der Verbindlichkeit und dem Erkenntnisanspruch der Rechtsidee selbst wie auch der aus ihr gewonnenen Resultate. Dazu schweigt aber der Ansatz von Canaris weitgehend und kann in der Folge die selbstgesetzten Ansprüche, wie etwa die Realisierung des materialen Gerechtigkeitsgehaltes, nicht einlösen.6 Bei der Wertungsjurisprudenz treten damit Theorieanspruch und Theoriedurchführung auseinander. Denn wie gesehen, wird eine Realisierung der Rechtsidee zwar beansprucht, aber nur eine wertungsmäßige Beschreibung einer bestehenden Rechtsordnung geleistet. Eine methodologische Reflexion der Flexibilität im Recht nach dem Muster der Wertungsjurisprudenz führt so zu der Frage nach der Flexibilität des Rechts. Während die Flexibilität im Recht stets vom geltenden Recht ausgeht und dessen Optimierung intendiert, wird durch den Bezug auf die Rechtsidee dieser positivrechtliche Rahmen aufgebrochen und die Frage nach einer Flexibilität des Rechts, das heißt der Entwicklungsfähigkeit einer ganzen Rechtsordnung, virulent. Mit dem Wechsel von einer Flexibilität im Recht zu einer Flexibilität des Rechts geht ein Wechsel des Frageniveaus einher. Es genügt nicht mehr, in einem bestehenden rechtlichen Rahmen Fragen nach der Analyse, den Durchsetzungs- oder Umsetzungsproblemen innerhalb dieses Rahmens zu stellen. Viel6

Vgl. I. 1., 4., 5. dieser Arbeit.

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III. Rechtstheorie und Rechtsphilosophie

mehr stellen sich unabweisbar die Fragen nach der Bedeutung der Rechtsidee, dem Ursprung der Verbindlichkeit rechtlicher Normen und der Reichweite des Erkenntnisanspruchs einer solchen methodologischen Theorie wie auch der durch diese abgesicherten Ergebnisse. Gerade die Frage nach der Reichweite des Erkenntnisanspruches impliziert die Frage, wie sich der Erkenntnisanspruch der Theorie, der Theorieanspruch, zu seiner Durchführung verhält. Die liberale Rechtstheorie verlässt mit ihrem Verständnis von Rechtsentwicklung als einer Flexibilisierung des Rechts anders als die Wertungsjurisprudenz explizit den positiv-rechtlichen Rahmen und beansprucht, ihre Rechtsprinzipien jeweils auf das basale right to equality of concern and respect zurückführen zu können. Dadurch wird zwar eine Neubewertung des jeweils neuen Lebenssachverhalts unabhängig von anderen bestehenden Wertungen anderer Lebenssachverhalte möglich. Allerdings bleibt dieses basale Recht einfach gesetzt und wird mit der Rechtsbedeutung von einer Lebenshaltung der liberalen Toleranz her identifiziert. Damit wird ein verbindlicher kollektiver Rechtsbegriff angesetzt, der aber seine Verbindlichkeit aus der subjektiven, individuellen Lebenshaltung gewinnt. Eine Rechtsentwicklung steht damit im Belieben eines Entscheidungsträgers und seiner Lebenshaltung, obwohl sie doch der Realisierung des basalen und objektiven Rechts dienen soll. So treten der Theorieanspruch, die Realisierung des basalen Rechts und die Theoriedurchführung auseinander, da letztere nur die Umsetzung einer individuellen Lebenshaltung der liberal tolerance bietet. Das Problem des Verhältnisses von Theorieanspruch und Theoriedurchführung darf bei Dworkin nicht mit dem Problem eines vitiösen Zirkels verwechselt werden, der gegen dessen Ansatz oft erhoben wird.7 Denn es geht nicht wie in dem Zirkelvorwurf darum, dass das Recht moralisch werden muss, weil die Moral dem Recht zugrunde liegt. Sondern es geht darum, dass der Rechtsbegriff einerseits als unabhängig gesetzt wird – er aber andererseits abhängig von einer Lebenshaltung ist und dennoch außerhalb der Entwicklung einer Lebenshaltung hinaus seine Verbindlichkeit beansprucht. Trotz einer expliziten Adressierung des Problems eines materialen basalen Rechts aller kann daher auch die liberale Rechtstheorie ihren Theorieanspruch nicht mit den von ihr genutzten theoretischen Unterscheidungen ohne einen performativen Widerspruch im Theorieaufbau umsetzen. b) Der performative Widerspruch im Theorieaufbau Aus einer Perspektive, die den Erkenntnisanspruch einer Theorie betrachtet und somit den Aufbau einer Theorie, handelt es sich bei diesen Problemen im 7

Siehe dazu II. 3. dieser Arbeit.

2. Freiheit, Gleichheit, Flexibilisierung und Performanzproblem

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Umgang mit Freiheit und Gleichheit wie auch mit dem Begriff einer Flexibilisierung des Rechts um ein Performanzproblem. Denn in allen diesen konkreten Fällen beanspruchen die Theorienansätze in ihrer Formulierung etwas, was sie in der Folge der eigenen Durchführung nicht leisten. Die Wertungsjurisprudenz beansprucht die Realisierung der Rechtsidee, bietet aber nur eine Beschreibung der Wertungen einer bestehenden Rechtsordnung. Die liberale Rechtstheorie beansprucht die Umsetzung des basalen Rechts, bietet aber nur den Vollzug einer individuellen Lebenshaltung. Daher lässt sich schließen: Beide rechtstheoretischen Ansätze sagen etwas anderes, als sie tun. So können die mannigfachen und teils unterschiedlichen Probleme der beiden dargestellten Theorieansätze auf die gemeinsame Problemlage des performativen Widerspruchs8 zusammengeführt werden. Die Bezeichnung des performativen Widerspruchs geht auf Austins Sprechakttheorie zurück. Die Fälle, in denen etwas sagen etwas tun heißt, werden dort als illokutionäre Sprechakte eingeführt. Sie sind von den lokutionären Sprechakten zu unterscheiden, die definitorische, ideale und stets von den Lebensumständen unabhängige Aussagen bezeichnen.9 Gelingt ein illokutionärer Sprechakt nicht, so liegt ein Fall des performativen Widerspruchs vor.10 Das wiederum bedeutet nicht, dass nichts gesagt wurde oder eine Aussage wahr oder falsch ist. Ein performativer Widerspruch hat vielmehr zur Folge, dass der Vollzug der Sprachpraxis beziehungsweise – in der hier vorgenommenen Übertragung der Sprechakttheorie auf Theoriebildungsprozesse – der Vollzug der Theoriepraxis nicht mehr durchgängig als sinnvoll erscheint und entsprechend revidiert werden muss, um einen neuen Theoriebildungsversuch zu unternehmen. Auf die Diskussion um die Bedeutung von Freiheit, Gleichheit und Flexibilisierung angewendet heißt das, dass weder die Ansätze der Wertungsjurisprudenz noch der liberalen Rechtstheorie jeweils falsch sind und durch andere zu erset8 Vgl. Austin, Theorie der Sprechakte, 2. Vorlesung. Dabei wird die Figur des performativen Widerspruchs hier nicht primär zur Analyse von Sprechakten verwendet. Sondern sie wird in dieser Arbeit eingeführt, um Probleme im gedanklichen Aufbau von Rechtstheorien zu bezeichnen und so die zu einer Rechtsphilosophie erforderlichen Elemente aufzuspüren. So wird die Figur des performativen Widerspruchs auf die von Austins Sprechakttheorie zunächst nicht intendierte Problematik der Fähigkeit einer Theorie zum Selbstbezug übertragen, wie sie vor allem im deutschen Idealismus diskutiert wurde. 9 Vgl. Austin, Theorie der Sprechakte, 11. Vorlesung. 10 Die illokutionären Sprechakte bezeichnet Austin auch als performative Akte. Ein Beispiel ist das hier leicht abgewandelte Beispiel der Schiffstaufe, Austin, Theorie der Sprechakte, 2. Vorlesung: Geht die englische Königin als Taufpatin auf eine Schiffstaufe, lässt die Flasche am Bug zerschellen und sagt dabei: „Ich taufe dieses Schiff ,Stalin‘“, so ist das Schiff getauft. Geht dagegen Austin auf dieselbe Schiffstaufe, lässt die Flasche am Bug zerschellen und sagt dabei: „Ich taufe dieses Schiff ,Stalin‘“, so ist das Schiff nicht getauft worden und der Akt der Taufe muss durch die Königin „wiederholt“ werden, weil nur ihre Worte die Taufwirkung herbeiführen.

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III. Rechtstheorie und Rechtsphilosophie

zen wären. Vielmehr verlangt das Vorliegen eines performativen Widerspruchs die Revision dieser Sprach- beziehungsweise Theoriepraxis, indem die Elemente der Theorie jeweils ergänzt und anders angeordnet werden. Ein performativer oder auch pragmatischer Widerspruch ist so von der wesentlich anderen Art von Widersprüchlichkeit, nämlich dem logischen oder formalen Widerspruch, zu unterscheiden. Denn ersterer stellt nicht wie letzterer auf einen vitiösen Zirkel ab oder erschöpft sich in der Gleichzeitigkeit der Behauptung A und non A. Vielmehr kann mit dem performativen Widerspruch an den Vollzug des eigenen, theorieimmanent behaupteten Zusammenhanges angeknüpft werden. Als solcher kann der performative Widerspruch etwa auch Ausgangspunkt des verwandten dialektischen oder spekulativen Widerspruchs sein, den etwa Hegel in der Phänomenologie des Geistes verwendet.11 Dort wird aus dem Kohärenzproblem eines Welt- beziehungsweise Selbstverhältnisses jeweils ein neues Welt- oder Selbstverhältnis gewonnen, indem dieses wiederum auf die eigene performative Widersprüchlichkeit hin befragt wird. Dabei werden die verschiedenen Welt- oder Selbstverhältnisse nicht von einem anderen Maßstab her als wahr oder falsch klassifiziert, sondern als Stationen auf dem Weg einer Einsicht in die Bildungsmöglichkeit von Welt- oder Selbstverhältnissen organisiert. Die Figur des performativen Widerspruchs wird hier in der Bedeutung verwendet, dass der jeweilige Theoriestandpunkt aus Gründen des Theorieaufbaus, des Denkzusammenhanges, nicht so tragfähig ist, wie er sein sollte. Vielmehr sind weitere, andere theoretische Ressourcen erforderlich, um den erhobenen Anspruch einzulösen.12 Werden diese Ressourcen aber abgerufen, so ändert sich

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Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 63 f. („Satz des Bewusstseins“). Davon muss die Variante von Kritik unterschieden werden, die den Vorwurf an eine Theorie formuliert, dass diese der Realität nicht gerecht werde. Denn einer solchen Kritik liegt die Vorstellung zugrunde, dass die Realität als etwas anderes der Theorie vorausgeht, unabhängig von dieser besteht. Einer solchen Vorstellung zufolge gewinnt eine Theorie ihre Validität daraus, dass sie möglichst viel der von ihr unabhängigen Realität erfassen kann. Insoweit funktioniert eine solche Kritikauffassung wie in der klassischen Metaphysik, die ebenfalls davon ausgeht, dass Erkennender, das heißt der Theoretiker, und zu Erkennendes, das heißt die Realität, unabhängig nebeneinander stehen und das zu Erkennende dem Erkennenden vorgegeben ist. Das Konzept des performativen Widerspruchs dagegen geht davon aus, dass die beiden Erkenntnispole immer schon miteinander verknüpft sind. Kritik bedeutet dann, zu sehen, wie die Veränderung eines der beiden Pole auf den anderen und die wechselseitige Verknüpfung zurückwirkt. Eine Theorie gewinnt dabei ihre Validität in dieser ständigen, wechselseitigen Bezugnahme. Zu der hier verfolgten Strategie, den Anspruch der Realisierung von Recht beizubehalten und daher die theoretischen Ressourcen zu verändern, gibt es auch eine Alternative: den Anspruch einer Realisierung von Recht aufzugeben. Eine Aufgabe des Anspruchs überzeugt aber schon deshalb nicht, da es in der Praxis viele Rechtsordnungen gibt, die diesen Anspruch erheben. 12

2. Freiheit, Gleichheit, Flexibilisierung und Performanzproblem

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auch der Theorieaufbau.13 Für die Wertungsjurisprudenz bedeutet das primär, diese um eine von einer gegebenen Rechtsordnung unabhängige Reflexion auf die Bedeutung von Recht zu ergänzen. Für Dworkins Theorie bedeutet das vor allem, seine Bedeutungsreflexion so zu modifizieren, dass eine hinreichend ausdifferenzierte praktische Realität möglich wird. Dem Rückgriff auf die Figur des performativen Widerspruchs bei der Gegenüberstellung von rechtstheoretischen Ansätzen der Wertungsjurisprudenz und des Liberalismus mit der kritischen Rechtsphilosophie Kants lässt sich noch entgegenhalten, dass etwaige Performanzprobleme überwunden werden, sofern der Ausgangspunkt einer disziplinären Theorie, wie einer der Rechtswissenschaft, verlassen wird und im Rahmen einer arbeitsteiligen Wissenschaft legitimer Weise auf theorieexterne Ressourcen, etwa sozialwissenschaftlicher oder historischer Art, zurückgegriffen wird. Allerdings wird durch diese Rückgriffe das Problem des performativen Widerspruchs nur verschoben. Denn der Verweis auf solche externe Ressourcen löst genau das theorieimmanente Problem eines sich ergänzenden oder widersprechenden Verhältnisses von Theorieanspruch und Theoriedurchführung nicht, sondern übergeht es einfach. Da aber dieses Vorgehen selbst wiederum einen Theorieschritt darstellt, wird durch diese Art der Lösung erneut ein performativer Widerspruch erzeugt, der wie folgt gefasst werden kann: Eine Problemlösung, die in der Leugnung des Problems besteht, wird ihrem formulierten Anspruch einer Lösung genau nicht gerecht. Insoweit muss jede Theoriebildung die Frage nach ihrer Vernetzung von Theorieanspruch und Theoriedurchführung zulassen und verhandeln. c) Der performative Widerspruch als Problem der Selbstbezüglichkeit einer Theorie Das Problem des performativen Widerspruchs im Hinblick auf den Theorieaufbau lässt sich gerade am Beispiel der Bedeutung von Rechtsentwicklung auch in der klassischeren philosophischen Begrifflichkeit von ordo ordinatus und ordo ordinans fassen: Die feststehende Ordnung des positiven Rechts, ein ordo ordinatus, wird als solche erst entwicklungsfähig, wenn sie sich auf ein ordo ordinans bezieht. Während ordo ordinatus eine vorgegebene Ordnung meint, bedeutet ordo ordinans eine sich entwickelnde Ordnung. Den ordo ordinatus bildet in der Rechtswissenschaft der Normenbestand einer geltenden Rechtsordnung. Innerhalb dieses Problemhorizonts stellt sich dann die 13 Das hier angesprochene Problem darf nicht mit der rechtssoziologischen Konzeption eines „law in action“ verwechselt werden. Dort geht es darum, das faktisch vollzogene Recht mit seinen normativen Implikationen beobachtend zu untersuchen. Hier geht es darum, angesichts von Mängeln im Theorieaufbau von Rechtstheorien, diese mit den erforderlichen rechtsphilosophischen Ressourcen zu schließen, wodurch sich für eine reflexive Erfassung von Recht Änderungen sowohl im Theorieaufbau wie auch in der Anwendung ergeben.

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III. Rechtstheorie und Rechtsphilosophie

Frage nach einer Flexibilität im Recht. In einem solchen ordo ordinatus kommt es auf die Rechtsidee zunächst nicht an. Vielmehr gilt es, die besonderen Fälle unter der Perspektive des bestehenden Normenbestandes umzusetzen. Die Rechtsidee14 wird allgemeineren Theorien entnommen, wie etwa Theorien von der Gerechtigkeit, des Naturrechts oder utilitaristischen, politischen Vorgaben.15 Der ordo ordinans verleiht der „Ordnung“ dagegen einen aktivischen Sinn.16 Diese Aktivität soll nun nicht auf anderes gehen, im Recht etwa auf die Lenkung gesellschaftlicher Prozesse. Vielmehr nimmt diese Aktivität den Prozesssinn eines Sich-selber-Durchführens des Rechts auf. Recht ist damit als eine Ordnung zu verstehen, die erst im Sich-Ausgestalten wirklich wird und eigentlich allein in ihm wirklich ist.17 Um eine solche praktische Entwicklungsfähigkeit zu erreichen, muss daher eine Reflexion auf die Bedeutung sowie den Verbindlichkeits- und Erkenntnisanspruch der jeweils beanspruchten Setzungen, wie etwa der Rechtsidee, erfolgen. Im Rahmen der Bedeutungsreflexion muss eine Verbindung von Reflexion und Selbstreflexion gelingen, in der Theorieanspruch und Theoriedurchführung ineinander greifen und insoweit eine strukturelle Selbstanwendung der dadurch gewonnenen Ergebnisse möglich wird. Durch eine solche umfassende Bedeutungsreflexion kann ein performativer Widerspruch im Theorieaufbau vermieden werden oder es können zumindest die theoretischen Ressourcen erschlossen werden, die ihn in einer Theoriebildung aufdecken und damit auch beheben können.18 Doch welches sind die zentralen Voraussetzungen, die eine solche 14 Zur möglichen, hier nicht verwendeten terminologischen Unterscheidung von Rechtsidee und Rechtsbegriff vgl. von der Pfordten, Die Rechtsidee bei Kant, Hegel, Radbruch, Stammler und Kaufmann. 15 Vgl. Einführung, I und II, dieser Arbeit. 16 Auf diesen zielte zum Beispiel Fichte, als er die Rede von einem ordo ordinans aufgenommen hat, um die Lebendigkeit und Entwicklungsfähigkeit seines philosophischen Entwurfs zu betonen, vgl. Fichte, Aus einem Privatschreiben (Im Jänner 1800), in: SW, V, 381 f. und zu „Jacobi an Fichte“, SW, XI, 392. 17 Vgl. dazu auch Derrida, Unabhängigkeitserklärungen, der anhand der Frage nach dem Setzungsakt der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung aus Sicht der dortigen Formulierung, dass die in ihr niedergelegten Rechte „are and ought to be“, zu der Frage gelangt, wie sich die Autonomie dessen erklärt, der sich sein eigenes Gesetz gibt. 18 Eine solche Auffassung rechtsphilosophischer Tätigkeit unterscheidet sich auch von gegenwärtigen Ansätzen, wie etwa dem von der Pfordtens, Was ist und wozu Rechtsphilosophie?, 159. Dieser sieht die Rechtsphilosophie als Rahmenwissenschaft des positiven Rechts und seiner Dogmatik. Der Auffassung dieser Arbeit zufolge hat die Rechtsphilosophie aber die Aufgabe, die Ressourcen zur Verfügung zu stellen, mit denen eine Rechtsentwicklung in der Zeit vollzogen werden kann. Dies ist nun kein Rahmen mehr, sondern eine Leistung, die originär von dem positiven Recht und seiner Dogmatik in Anspruch genommen werden muss und stets auch in jeder Einzelfallentscheidung in Anspruch genommen wird. Insoweit handelt es sich bei der rechtsphilosophischen Tätigkeit um ein Verschieben und Verändern des Rahmens einer positiven Rechtsordnung und damit auch einer Rechtsordnung selbst. Vgl. dazu näher III. 3. a) dieser Arbeit.

3. Notwendigkeit der und Anforderungen an eine Rechtsphilosophie

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Verbindung von Reflexion und Selbstreflexion ermöglichen und so die Vermeidung eines performativen Widerspruchs im Theorieaufbau oder zumindest einen produktiven, anschlussfähigen Umgang mit diesem bei einer Theoriebildung gewährleisten? 3. Notwendigkeit der und Anforderungen an eine Rechtsphilosophie Auf der Ebene der rechtstheoretischen Ansätze der Wertungsjurisprudenz und des Liberalismus treten performative Widersprüche auf, da diese Rechtstheorien auf ihre eigene Situierung als Rechtstheorie in einem allgemeinen Theorieaufbau verzichten. Infolgedessen können sie ihre eigenen, von ihnen beanspruchten Voraussetzungen nicht begründen. Eine Rechtsphilosophie muss sich damit der Aufgabe stellen, die performativen Widersprüche im Theorieaufbau zu vermeiden. Diese Aufgabe führt zu der Frage nach den Anforderungen, die an eine Rechtsphilosophie gestellt werden müssen, die über das letztlich unzureichende Reflexionsniveau der Rechtstheorien hinausgehen will, um so die Übergänge und Unterschiede zwischen der rechtstheoretischen und rechtsphilosophischen Bestimmung von Rechtsreflexion identifizieren zu können. Die Rechtsreflexionsform der Wertungsjurisprudenz bringt, ebenso wie andere Rechtstheorien,19 die positiv-rechtlich verfestigten Normen einer Rechtsordnung in eine innere Systematik und schließt daraus auf die dieser Rechtsordnung zugrunde liegenden Werte und aus der Möglichkeit der Einheitsbildung auf die Legitimität des Normenbestandes. Ein Unterfangen, das, wie sich zeigte, mit den Mitteln einer Rechtstheorie nicht vollbracht werden kann, sondern bei einer, wenn auch wertungsmäßigen Beschreibung einer Rechtsordnung verharrt, eben weil Theoriebildung und Theoriedurchführung in einem performativen Widerspruch zueinander stehen und nicht in einem produktiven, in theoretischer Hinsicht selbstbestimmungsfähigen Verhältnis. Der Rechtsreflexionsform der Rechtsphilosophie dagegen kommt die Aufgabe zu, jenseits dieser insoweit empirischen Gegebenheiten des positiven Rechts eine Methode der Einheitsbildung zu entwickeln, die die rechtliche Wertung überhaupt rechtfertigt, bezogen auf die Wertungsjurisprudenz etwa auch den Gleichheitssatz. Es geht um eine Suche nach den Theorieelementen, die praktische Wertung und Gesetz erst ermöglichen. Die Rechtsphilosophie erhebt dabei den Erkenntnisanspruch, die theoretischen Ressourcen zur Verfügung zu 19 Vgl. dafür schon erste Vertreter einer Rechtstheorie im 19. Jhdt, z. B. Ihering, Geist II, § 44, der die gegebenen Gesetze interessengerecht auslegen will und Merkel, Allgemeine Rechtslehre, § 22, der die gegebenen Gesetze schlicht ordnen möchte. Diese Entwicklung kulminiert bei Kelsen, Reine Rechtslehre, 66, demzufolge Rechtstheorie eine Theorie des Rechtspositivismus ist und nur als solche wissenschaftlich werden kann. Vgl. zur Entwicklung der Rechtstheorie als juristischer Disziplin Brockmöller, Die Entstehung der Rechtstheorie.

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III. Rechtstheorie und Rechtsphilosophie

stellen, aus denen sich die Bedeutung von Recht als wertender Wissenschaft und damit auch der obersten Rechtsprinzipien oder Rechtswerte, wie etwa Freiheit und Gleichheit, erst ergibt. Rechtstheorie führt damit nicht nur zur Rechtsphilosophie,20 sondern setzt diese denknotwendig voraus. Eine in diesem bedingungstheoretischen Sinne notwendige und spezifisch rechtsphilosophische Bestimmung von Rechtsreflexion setzt daher im Unterschied zur Wertungsjurisprudenz die Einklammerung der gegebenen Rechtslage voraus. Die Einklammerung des positiven Normenbestandes verhindert grundsätzlich, in den performativen Widerspruch der Wertungsjurisprudenz zu fallen, der eine solche Einklammerung der gegebenen Rechtslage fehlt. In der Folge beansprucht sie die Realisierung der Rechtsidee, schließt aber ihre Methodologie allein an eine geltende positive Rechtsordnung an. Es wird zwischen Rechtsidee und positiver Rechtsordnung nicht mehr hinreichend differenziert und daher nur eine Beschreibung des inneren Systems der geltenden Rechtsordnung geleistet. Mit der Einklammerung der gegebenen Rechtslage besteht aber die Aussicht, in einem ersten Schritt die Rechtsidee in ihrem eigenständigen normativen Gehalt in den Blick zu nehmen, um erst in einem zweiten Schritt ihre Anwendung auf eine positive Rechtsordnung zu unternehmen. Die Einklammerung der positiven Rechtslage allein genügt aber für eine rechtsphilosophische Form der Rechtsreflexion ebenfalls nicht, wie das Beispiel der liberalen Rechtstheorie Dworkins zeigt. Denn trotz der Setzung eines basalen Rechts unabhängig von der gegebenen Rechtsordnung tritt ein performativer Widerspruch bei der Bestimmung dieses Rechtsbegriffs auf, indem Recht und Moral als getrennt vorausgesetzt werden, aber schlussendlich mit dem Rückgriff auf die Lebenshaltung der rechtssetzenden Personen oder der Rechtsanwender eine Vereinigung von Recht und Moral postuliert wird. Eine Rechtsphilosophie muss daher eine hinreichend eigenständige Bedeutung von Recht entwickeln, ohne auf externe, personale Umstände, etwa den common sense, religiöse oder naturhaft-gesellschaftliche Überzeugungen und Umstände zurückzugreifen.21 Die fehlende Reflexion auf die Bedeutungsgewinnung des basalen

20 So Canaris vgl. II. 2. dieser Arbeit und Kapitel 6 von Larenz/Canaris, Methodenlehre. 21 So lässt sich auch gegenüber behavioristischen Ansätzen, wie sie etwa aus Verhaltensbiologie und Wirtschaftswissenschaften in der law and economics-Debatte übernommen werden, einwenden, dass dort die eigenen Voraussetzungen einfach unhinterfragt als gegeben hingenommen werden beziehungsweise als Gewissheiten ausgegeben werden und die Erklärungskraft sich allein aus der vermeintlich realitätsnahen beschreibenden Theoriebildung speist. So wird z. B. einfach behauptet, dass jeder Mensch primär zur Nutzenmaximierung handelt, woraus dann im rechtlichen Bereich eine individuelle Pflicht zur Nutzenmaximierung wird, da nur dasjenige rechtliche Handeln als schützenswert gilt, was Nutzenmaximierung verspricht. Siehe dazu Eidenmüller, Der homo oeconomicus und das Schuldrecht, 217 f.

3. Notwendigkeit der und Anforderungen an eine Rechtsphilosophie

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Rechts kann durch ein Aufdecken ihrer Denkvoraussetzungen, das heißt eine umfassende philosophische Bedeutungsreflexion, überwunden werden. Was diese beiden Merkmale der Einklammerung und der Bedeutungsreflexion näher bedeuten, sei nun für jede Anforderung isoliert und dann in ihrer Kombination miteinander vorgestellt. Gerade die für eine Rechtsphilosophie notwendige Kombination der beiden Anforderungen stellt schließlich ein starkes Argument dafür dar, auf die kantische, kritische Rechtsphilosophie zurückzugreifen. Denn sie behauptet, beide Anforderungen zu erfüllen und so als Rechtsphilosophie konkret in einer Rechtsordnung anwendbar zu bleiben und zu deren Entwicklung beizutragen. a) Die Einklammerung der gegebenen Rechtslage Für das Verlassen einer positiven Rechtsordnung reicht es nicht aus, die gegebene Rechtslage selbst als Gegenstand einfach zu beobachten, wie dies etwa die Wertungsjurisprudenz macht. Vielmehr muss die gegebene Rechtsordnung mit ihren Prinzipien und Auslegungen eingeklammert werden, das heißt als hypothetische Rechtsordnung betrachtet werden. Diese in der Reflexion mögliche, aktive gedankliche Einklammerung von faktisch gegebenen Normen macht sodann eine Zweifelsbewegung an den gegebenen Rechtsregeln und -prinzipien möglich. Einklammerung bedeutet für die Rechtsreflexion in einem cartesianischen Sinne in Distanz zum positiven Recht zu gehen.22 Die gedankliche Zweifelsbewegung im cartesianischen Sinne geht von der Frage aus, woher die Gewissheit aller möglichen Urteile und nicht nur bestimmter Weisheiten und einzelner Urteile stammt, die in der Welt von einem selbst oder einem anderen getroffen werden.23 Der Weg der Antwort wird mittels einer beinahe meditativen Selbstreflexion gefunden: in dem „Ich denke“ selbst.24

22 Der Begriff der Einklammerung drückt in der hier verwendeten Art und Weise eine skeptische Distanz zu vorgefundenen Gegebenheiten, hier der positiven Rechtslage, aus. Er wird nicht im Sinne von Husserl, Die Idee der Phänomenologie, 29 f., 44, verwendet, dem zufolge Einklammerung als Epoché ein Absehen von Setzungen bedeutet, um durch die phänomenologische Reduktion eine absolute Gegebenheit zu gewinnen. In gewisser Weise wird der Begriff der Einklammerung in dieser Arbeit sogar in einem Husserl gegenläufigen Sinn verwendet, da die hier intendierte Einklammerung als skeptische Distanz auch neue rechtliche Setzungen ermöglichen soll. 23 Vgl. Descartes, Meditatio I. 24 Descartes, Meditatio II. Für Descartes besteht trotz eines aus seiner Sicht das „Ich denke“ in seinem Bezug zur körperlichen Außenwelt ergänzenden ontologischen Gottesbeweises das Risiko einer Täuschung durch einen „deus malignus“, die nur durch den Nachweis eines guten Gottes ausgeschlossen werden kann, Meditationes III, IV, V und nochmals VI.

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III. Rechtstheorie und Rechtsphilosophie

Übertragen auf die Rechtsphilosophie muss sich eine solche Zweifelsbewegung auf alle vorgefundenen, gegebenen Normen, das heißt Gesetze, Rechtssätze und Urteile beziehen. Die Position, die eine Gewissheit dieser Wertungen verbürgen kann, muss sich in Analogie zu dem „Ich denke“ bei Descartes aus dem Akt des rechtlichen Wertens selbst ergeben. Dass dabei wiederum keine Täuschung über das eigene Tun und seinen Realitätsbezug vorliegt, kann über die Selbstvergewisserung hinsichtlich des Ergebnisses erreicht werden, die in der Vermeidung eines performativen Widerspruchs besteht.25 Die Zweifelsbewegung und die dazu erforderliche Einklammerung dürfen nicht mit einer Rahmung einer positiven Rechtsordnung durch die Rechtsphilosophie verwechselt werden.26 Denn eine solche gegenüber den positiven Normen rein passive Rahmen-Funktion führt in der Fortsetzung der „Rahmen-Metapher“ dazu, dass die rechtsphilosophischen Erwägungen, wie eben auch ein Bilderrahmen, additiv zu dem eigentlichen Gegenstand, dem Bild, das heißt hier der positiven Rechtsordnung, hinzukommen. Eine solche passive, additive Funktion der Rechtsphilosophie muss aber aus drei Gründen letztlich zurückgewiesen werden: Erstens besteht die Gefahr eines ungeregelten Eklektizismus, der sich jeweils den Teil des Rahmens herausgreift, etwa Kants kategorischen Imperativ oder ein utilitaristisches Nutzenkalkül, der jeweils zu dem bereits feststehenden und von vornherein gewollten Ergebnis führt. Genau ein solches „Zurechtmachen“ von normativen rechtsphilosophischen Überlegungen im Namen von faktischen Anwendungswünschen soll die skeptische Bewegung durch den Rückbezug auf die jeweiligen theoretischen Ausgangsüberlegungen verhindern. Zweitens verlieren philosophische Theorien durch ihre Reduzierung auf eine passive Rahmenfunktion ihren Sinngehalt. Diese „Sinnentleerung“ vollzieht sich, indem isolierte Teile einer philosophischen Theorie ohne ihren allgemeinen sinngebenden philosophischen Gehalt oder Kontext rezipiert werden und dadurch zu Argumentationstopoi herabsinken. Ein Beispiel bildet eine Aristoteles-Rezeption, bei der Stücke der Nikomachischen Ethik oder der Topik entnommen werden, etwa zum Gerechtigkeitsbegriff, zur Bedeutung der Ethik oder zu einer topologischen Rechtsauffassung aus der Rhetorik, ohne dabei die grundlegende Metaphysik zu beachten, ohne die aus aristotelischer Sicht keine Zielbestimmungen oder Wegbestimmungen zur Zielerreichung möglich sind.27 25 Dieser Selbsttest, der auf das Verhältnis von Theorieformulierung und Theoriedurchführung achtet, tritt gleichsam an die Stelle des cartesianischen Gottes, sofern ein Gottesbeweis im Anschluss an Kants Widerlegung der möglichen Gottesbeweise in der KrV und im Unterschied zu der cartesianische Epoche nicht mehr überzeugend formuliert werden kann. 26 Vgl. von der Pfordten, Was ist und wozu Rechtsphilosophie?, 159 f. 27 Vgl. etwa Gordley, Foundations of Private Law, 31, der die besondere Leistung von Aristoteles’ Überlegungen in ihrer Tauglichkeit für eine „common sense“-Rezep-

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Es bleibt ein Diskurs, in dem allein das symbolische Kapital, die traditionelle Dignität und Autorität, einer solchen philosophischen Theorie genutzt wird, ohne den Sinngehalt der philosophischen Theorie selbst ernst zu nehmen. Könnte ein schon kaum mehr pragmatisch zu nennender „Super-Pragmatiker“, der allein auf einen noch möglichen direkten Wortlautbezug ohne Sinnhintergrund achtet, mit einem solchen Eklektizismus noch zurechtkommen, so tritt aber auch für diesen das Problem der Performanz auf. Es werden Bezüge behauptet, die nicht philosophisch gehaltvoll formulierbar sind.28 Drittens führt eine solche Rahmenfunktion der Rechtsphilosophie dazu, die unterschiedlichsten philosophischen Ansätze in einem konkreten Beispiel unter Verzicht auf den Bezug zu ihren intellektuellen Grundvoraussetzungen zu kontrastieren. Rechtsphilosophische Ansätze werden so beziehungslos nebeneinander gesetzt, selbst wenn sie sich auf jeweils anderen Reflexionsebenen befinden. So werden gegenwärtig etwa anlässlich einer fiktiven Dilemmasituation ein pragmatisches Nutzenkalkül, wie z. B. das Trolley-Szenario, und ein spekulativer Reflexionsschritt, wie z. B. der kategorische Imperativ, gegeneinander ausgespielt, ohne die unterschiedlichen Erkenntnisziele und Denkvoraussetzungen zu berücksichtigen. Ein bloßes passives Hinzukommen des rechtsphilosophischen Rahmens kann daher die gerade ausgeführten Performanzprobleme nicht verhindern, sondern weist bestenfalls auf das Problem der Übertragung von normativer, rechtsphilosophischer Erkenntnis in eine positive Rechtsordnung hin. Die additive Rahmenfunktion reicht daher nicht aus, um die rechtsphilosophische Einklammerung einer positiven Rechtslage angemessen zu adressieren. Mit der Einklammerung der jeweils vorgefundenen positiv-rechtlichen Wertungen wird im Unterschied zu der eben angesprochenen Rahmenfunktion eine Distanz intendiert, die eine skeptische, denkende Zweifelsbewegung an der geltenden Rechtsordnung zulässt. Rechtsphilosophisch geboten ist die Einklammerung im rechtsreflexiven Theorieaufbau als ein erkennbarer gedanklicher Schritt, der trotz der im angewandten Recht unverzichtbaren Methode der Autorität, wie etwa durch die Entscheidung der letzten Instanz, auf der wissenschaftlichen Seite das Gedankenexperiment wagt, stets aufs Neue die Frage zu steltion betont. Baufeld, Diesseits der Logik, 186 f. und 192 ff., fordert eine Topologie unter Rückgriff auf Aristoteles, ohne dessen Metaphysik einzubeziehen und bleibt so bei einem schematischen Pyramidenmodell von Urteilsverhältnissen stehen. Dazu tendiert auch Canaris, Systemdenken und Systembegriff, 11, wenn er den Systembegriff mit Kants KrV, A 832/B 860 erläutert und dabei den Einheitsbegriff der KrV entnimmt, ohne auf die Kritik der praktischen Vernunft einzugehen und damit genau die philosophische Besonderheit der kantischen Vernunftkritik verkennt, nämlich die Ermöglichung eines spezifisch praktischen Einheitsbegriffs. 28 Einige Beispiele zur Fehlrezeption kantischer philosophischer Überlegungen, z. B. als wirklichkeitsfremd, durch ihre Reduzierung auf eine Rahmenfunktion werden in Kapitel V. der Arbeit angesprochen.

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III. Rechtstheorie und Rechtsphilosophie

len, woher die Gewissheit kommt, dass diese oder jene Wertung gerechtfertigt ist.29 Die Einklammerung in Form der gedanklichen Zweifelsbewegung an den normativen Vorgaben einer positiven Rechtsordnung geht daher jeder inhaltlichen Bedeutungsreflexion auf den Terminus „Recht“ voraus. b) Die philosophische Bedeutungsreflexion auf den Terminus „Recht“ Mit der Einklammerung einer positiven Rechtslage ist eine Distanz zu dieser erreicht. Aber eben auch nur eine Distanz. Es fehlt als zweites Element eine Bedeutungsreflexion auf die intellektuellen Unterscheidungen, die gedanklich vorausgesetzt wird, wenn von Recht gesprochen wird. Eine solche Bedeutungsreflexion kann weder auf eine hermeneutische Selbstreflexion einer gegebenen Rechtsordnung noch auf andere als spezifisch rechtsphilosophische Vorgaben zurückzugreifen. Denn solche Rückgriffe würden die Leistung der Einklammerung wieder zurücknehmen, indem die in einer Zweifelsbewegung gewonnene kritische Distanz zu den vorgegebenen Normen wieder aufgehoben wird. Die geforderte Bedeutungsreflexion muss vielmehr die jeweils vorgenommenen Setzungen als solche auf ihre Setzungsqualität hin ausweisen und befragen können. Sie zielt auf die Möglichkeit, die intellektuellen Voraussetzungen für die jeweils behauptete Bedeutung von Recht anzugeben. Die gedanklichen Anwendungsschritte dürfen sodann der jeweiligen Bedeutung von Recht weder innerhalb der eigenen Theoriebildung noch in der praktischen Anwendung nach außen, etwa auf eine gegebene Rechtsordnung, widersprechen. Geraten die gedanklichen Anwendungsschritte bereits innerhalb der Theoriebildung mit der in der Reflexion erschlossenen und insoweit gesetzten Bedeutung von Recht in Widerstreit, so wird von einem performativen Widerspruch gesprochen. Eine solche primär als intellektuelle Denkleistung verstandene Bedeutungsreflexion kann daher weder durch bewusste Reflexionsstopps vermieden werden noch durch eine Erfassung und Kategorisierung alternativer, geschichtlich überlieferter Rechtsbedeutungen im Sinne einer rein iterativen Reflexion ersetzt werden. Beispiele für eine bewusst abgebrochene Bedeutungsreflexion, die rechtsphilosophischen Kohärenzanforderungen nicht genügt, finden sich unter anderem in der Debatte um das Verhältnis von Recht und Ökonomie. Rechtliche Nor29 Diese Zweifelsbewegung kann im Anschluss an Platon, Descartes und Kant als skeptische Methode verstanden werden. Es handelt sich jeweils nicht um einen Zweifel, der etwas „wegvernünfteln“ will, sondern um einen Zweifel, der darauf zielt, einen Modus zu finden, indem vorhandene Ergebnisse auf ihre Bedingungen hin befragt werden und diese Bedingungen wiederum kritisch auf ihren Bedeutungsgehalt hin hinterfragt werden können. So kann der Zweifel produktiv wirken.

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men, so das Postulat in dem Feld der „Law and Economics“-Ansätze, seien dann gerechtfertigt, wenn sie Effizienzkriterien genügen. Die Bedeutung von Recht wird damit in Abhängigkeit und unter Voraussetzung von utilitaristischen Nutzenkalkülen erschlossen.30 Die weitere Frage, von welcher Position aus das Erfordernis des Nutzenkriteriums selbst begründet werden kann, wird entweder nicht diskutiert oder aber bewusst unbeantwortet gelassen.31 Insbesondere die bewusste Nichtbeantwortung von begründungstheoretischen Fragen führt aber auch in der Anwendung zu zirkulären, rein iterativen Argumentationen. Die Frage, warum Effizienzkriterien für die Rechtsbedeutung maßgeblich sein sollen wird durch den Verweis auf utilitaristische Nutzenkalküle beantwortet und die weitere Frage, warum Nutzenerwägungen herangezogen werden sollen, wird – wenn überhaupt – unter Verweis auf die Praktikabilität des Effizienzkriteriums beantwortet.32 Eine nachvollziehbare Bedeutungsreflexion auf Recht in einem abstrahierenden Sinne wird so abgebrochen und kann daher dem von „Law and Economics“-Ansätzen selbstgesetzten Anspruch einer effizienzorientierten Sinngebung von Recht nicht genügen. Anders als im Falle einer einfach abgebrochenen Bedeutungsreflexion liegt in der Rechtsgeschichte, dem Wissen um das, was zu einer bestimmten Zeit Recht war und worauf bestimmte Wertungen historisch beruhen, das Problem im Hinblick auf die Bedeutungsreflexion von Recht nicht in einem möglichen Verfehlen von selbstgesetzten Erkenntniszielen. Vielmehr sind der rechtshistorische und der rechtsphilosophische Erkenntnisanspruch streng voneinander zu unterscheiden. In der Rechtsgeschichte wird die Vergangenheit des Rechts beschrieben oder auch mit einem nachträglichen, aus der Gegenwart in die Vergangenheit projizierten Sinngehalt geschrieben. Durch den geschichtlichen Bezug wird auch eine Distanz zu den Wertungen der jeweils gegenwärtigen Rechtsordnung erreicht und diese relativiert. Aber im Unterschied zur philosophischen Herangehensweise wird eine von gegebenen Rechtsordnungen unabhängige Bedeutungsreflexion nicht vollzogen. Denn Ansätze, die rechtliche Wertungen durch gesellschaftliche oder kulturelle Bedingungen begründen, können auf die nichtempirische Bedeutungsreflexion verzichten. Sie entwickeln ihre Erklärungskraft allein aufgrund und anhand der vorgefundenen Phänomene. Ihre theoretischen 30 Exemplarisch für die deutsche Debatte etwa Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 71–73 zum universalen Anspruch des Effizienzgebots als einem vorrangigen rechtspolitischen Ziel und ebd., 177 zum Verhältnis von Effizienzgebot und Utilitarismus. 31 So Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 232, mit der Diagnose, dass das Nützlichkeitsprinzip durch utilitaristische Ansätze nicht begründet, sondern lediglich hypostasiert wird. Die konsenstheoretische Fundierung des Effizienzgebotes scheitere, so Eidenmüller, 272 ebenfalls. 32 Vgl. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 273, für den Beginn einer indirekten Rechtfertigung des Effizienzgebotes am Beispiel des Umverteilungsproblems im Zivilrecht.

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III. Rechtstheorie und Rechtsphilosophie

Erwägungen werden so durch Verweise auf vorgefundene Phänomene begründet, wie etwa einer einmal historisch gegebenen Rechtslage oder bestimmten gesellschaftlichen Umständen. Die rechtsphilosophische Frage nach den nicht-sinnlichen Bedeutungsvoraussetzungen von Recht muss daher sowohl ohne einen bloßen Abbruch von rein iterativen Überlegungen thematisiert werden und darf sich auch nicht in empirischen, etwa historischen, soziologischen oder kulturellen Bezügen erschöpfen. Gesucht wird vielmehr eine rein gedankliche, von empirischen Bedingungen abstrahierende und insoweit vernünftige Bedeutungsreflexion auf die Frage, was Recht bedeuten muss, wenn es eine sinnvolle, verbindliche Setzung sein soll.33 Diese rechtsphilosophische Bedeutungsreflexion muss dabei sowohl einen Rechtsbegriff oder eine Rechtsidee angeben als auch diese Bedeutungsgebung selbst begründen können. Sieht man in der Setzung einer Bedeutung eine Denkhandlung,34 so wird also eine rechtsreflexive Theorie gesucht, die die Handlungsmöglichkeit ihrer Adressaten selbst zu ihrem Ausgangspunkt hat, um eine rechtsphilosophische Zweifelsbewegung an vorgegebenen, positiven Rechtsnormen zu einem produktiven Ende führen zu können. Intellektuell produktiv ist eine solche Zweifelsbewegung im Ausgang von einer positiven Rechtsordnung dann, wenn das in positiven Rechtsordnungen vorgefundene Normenmaterial von einem durch die Bedeutungsreflexion gewonnenen Standpunkt aus denkend weiterentwickelt werden kann. Fehlt dagegen ein solcher Standpunkt, der durch eine rein gedankliche Bedeutungsreflexion begründet sein muss, so treten zum einen, wie am Beispiel der liberalen Rechtstheorie oben ausgeführt, entsprechende Perfor33 Eine besondere Stärke einer Rechtslehre, auf diese Ebene des Denkens zu verzichten, wie etwa bei Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3 und 58, erscheint aus philosophischer Sicht schwer verständlich, da unweigerlich das Performanzproblem auftritt. Auch in pragmatischer Hinsicht vermag ein solcher Reflexionsstopp daher nicht zu überzeugen. 34 Eine solche kritische Reflexion muss streng genommen auch die Grenzen der Sprache überschreiten, um den Bereich der Bedeutungssetzung zu denken. Dies sieht auch einer der ersten Rechtstheoretiker, nämlich Bierling, Zur Kritik der juristischen Grundbegriffe, der zunächst betont, dass das Recht als Grund einer faktischen Gemeinschaft und nicht die Gemeinschaft als Grund des Rechts angesehen werden muss, ebd., 1. Buch, 83 f. und so beinahe die fichteanische Weisheit übernimmt, dass der Geist, auf den es ankommt, sich nicht im Buchstaben zeigt. Daraus zieht Bierling aber dann nicht die Konsequenz einer von positiv-rechtlichen Wertungen unabhängigen Rechtsreflexion, sondern sieht eine solche vielmehr als zu unsicheren Weg an und will daher seine Reflexion am sichtbar Gegebenen festhalten, indem er weiter argumentiert, dass das Recht aber die Anerkennung durch die faktische Gemeinschaft voraussetze und daher die positiven Rechtssätze den Ausgangs- und Zielpunkt aller theoretischen Erwägungen zum Recht bilden müssen, ebd., 2. Buch, 196. Entsprechend beginnt Bierling seine Juristische Prinzipienlehre mit einer rein formalen Definition von Recht und verfährt weiter abstrakt formal-definierend, vgl. Bierling, Juristische Prinzipienlehre. Erster Band, 2 f. und 20 ff.

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manzprobleme auf. Zum anderen bleibt es ohne einen solchen Standpunkt letztlich unmöglich, sich als Rechtsanwender oder Gesetzgeber auf Alternativen zum je eigenen Regelungsmodell einzulassen beziehungsweise sich überhaupt sinnvoll auf alternative Normengehalte zu beziehen. Denn die unabhängigen Mittelbegriffe, die zur Bezugnahme verschiedener Regelungsmodelle aufeinander unverzichtbar sind, können nicht in einer für die jeweiligen Alternativen beiderseits anerkennungsfähigen Art und Weise bestimmt werden. Gelingt es dagegen, eine Zweifelsbewegung mit einer Bedeutungsreflexion zu verbinden, so besteht auch die Möglichkeit, diese immer wieder zu vollziehen und so eine weitere, mannigfaltige Entwicklungsfähigkeit von positiven Rechtsnormen wie auch der Reflexionen auf die Rechtsbedeutung zu erreichen. Die Wiederholung bleibt dabei – ihr Gelingen vorausgesetzt – nicht einfach iterativ, sondern stets produktiv, da aufgrund der Trennung zwischen Theorieformulierung und Theoriedurchführung gewährleistet ist, dass zwischen dem Reflexionsgegenstand und dem Reflexionsakt unterschieden wird. Den Bezug zwischen beiden verbürgt wiederum eine strukturelle Identität zwischen Reflexionsgegenstand und Reflexionsakt. c) Die kantische Rechtslehre als geeigneter Anknüpfungspunkt für eine kritische Rechtsphilosophie Die beiden Anforderungen der Einklammerung und der Bedeutungsreflexion kann nur eine Rechtsphilosophie erfüllen, die über umfassendere Theorieressourcen als solche rein hermeneutischer Art verfügt. Denn als Theorie muss sie den jeweiligen Gegenstand in seinem Bezug auf den Theoretiker wie auch in Bezug auf die innerhalb der Theorie von dieser betroffenen Hypothesen rechtfertigen. Ein rein verstehendes Herangehen setzt aber eine Orientierung an einem vorgegebenen Gegenstand voraus und kann damit streng genommen bereits die erste Voraussetzung der Einklammerung nicht erfüllen.35 Im Hinblick auf die zweite Voraussetzung der Bedeutungsreflexion müsste ein hermeneutisches Vorgehen mangels eigenständiger normativer Setzungen auf rechtsexterne Ressourcen zurückgreifen. Ein solcher Rückgriff kann aber, wie soeben an den Beispielen des „Law- and Economics“-Ansatzes und der Rechtsgeschichte dargelegt, auch nicht überzeugen, da die Verbindung zum Recht ohne ausreichend strukturiertes Selbstverhältnis zu Performanzproblemen führt. Vor dem Hintergrund der beiden Anforderungen „Einklammerung“ und „Bedeutungsreflexion“ erscheint es vielmehr plausibel, auf die kantische Rechts35 Für die enge Bindung der Reflexionsleistung an das vorgegebene, überlieferte Material im Rahmen einer hermeneutischen Herangehensweise, die auf das Verstehen des Vorhandenen zielt, siehe Gadamer, Wahrheit und Methode, XVII f., XXVII ff. und 460. Kritisch dazu bereits Habermas, Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik.

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lehre als Muster einer kritischen Rechtsphilosophie zurückzugreifen.36 Denn sie stellt sich mit der Frage, was Recht ist,37 den Aufgaben der Einklammerung und der Bedeutungsreflexion. Sie steht damit unabweisbar in einem sachlichen Zusammenhang mit der Aufgabe einer Gegenüberstellung von Rechtstheorie und Rechtsphilosophie. Die zu errichtende kantische „Grundlage“ der Rechtslehre, die die Bedeutung von „Recht“ angeben soll, entspricht in ihrem Anliegen dem, was bisher als Rechtsphilosophie benannt wurde. Davon unterscheidet Kant die Frage, was rechtens sei, als eine Frage der positiven Rechtslehre, die der Rechtstheorie zuzuordnen wäre und lässt mit dieser Unterscheidung eine Einklammerung von positiven Rechtsordnungen zu. Das zentrale Element, das zur Bedeutungsreflexion benötigt wird, stellt die kantische Rechtsphilosophie mit dem Rechtsimperativ beziehungsweise dem 36 Selbstverständlich besteht die Möglichkeit, alle philosophischen und rechtsphilosophischen Entwürfe auf die beiden Bedingungen der Einklammerung und der Bedeutungsreflexion hin zu untersuchen. Denn geeignete Kandidaten, um eine solche philosophische Rechtsphilosophie zu versuchen, sind alle umfassenden philosophischen Theorien, die auch einen Rechtsbegriff oder eine Rechtsidee entwickeln, von denen in der Geschichte der Philosophie natürlich zahlreiche zu finden sind und die hier aus Gründen der Themenstellung, der Pragmatik und des Umfangs einer Qualifikationsarbeit nicht näher in Form der Einzeldarstellung einbezogen werden können. Zu nennen sind etwa Platons Überlegungen zum Staat, Aristoteles’ Ausführungen zur politischen Verfasstheit menschlicher Sozialität, mittelalterliche Überlegungen zum Naturrecht durch Thomas von Aquin oder auch Spinozas Ethik, die zwar alle jeweils eine umfassende Theorie von der Welt angeben, sich aber nicht in expliziter Weise mit dem Recht beschäftigen. Erst in der Epoche der Aufklärung und insofern im Anschluss an die vernunftrechtlichen Rationalisierungsschübe des Rechts- und Staatsdenkens durch Hobbes und Pufendorf gibt es mehrere Autoren, wie Kant, Fichte und Hegel, die die Rechtsphilosophie als integralen Bestandteil ihrer philosophischen Systementwürfe berücksichtigen. Die zunehmende Spezialisierung führt bei modernen Autoren wie Rawls und Kelsen jedoch bereits dazu, dass es jeweils an einer umfassenden philosophischen Theoriebildung derart fehlt, dass die Ausführungen zur Umsetzung der jeweiligen Rechtsvorstellungen gegenüber den Ausführungen zu deren reflexiven Grundlagen stark übergewichtet sind. So übersetzt Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit zwar den Verallgemeinerungsgedanken in eine spieltheoretische Situation, begründet aber weder die Setzung des Verallgemeinerungsgedankens noch diskutiert sie den Akt des Schrittes hinter den Schleier des Wissens (vgl. dazu auch Einführung, 2. dieser Arbeit). Kelsen setzt zwar eine Grundnorm, expliziert diese aber in philosophischer Hinsicht nicht weiter. Für weitere Gründe der Auswahl einer kantisch-kritischen Herangehensweise als exemplarische Rechtsphilosophie vgl. Einführung, 2. dieser Arbeit. 37 „Was rechtens sei (quid sit juris), d. i. was in irgend einem Lande die Gesetze an einem gewissen Ort und zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben, kann er [der Rechtsgelehrte, d. V.] wohl noch angeben: aber ob das, was sie wollten, auch recht sei, und das allgemeine Kriterium, woran man überhaupt Recht sowohl als Unrecht (iustum et iniustum) erkennen könne, bleibt ihm wohl verborgen, wenn er nicht eine Zeit lang jene empirischen Principien verläßt, die Quellen jener Urteile in der bloßen Vernunft sucht (wiewohl ihm dazu die Gesetze vortrefflich zum Leitfaden dienen können), um zu einer möglichen positiven Gesetzgebung die Grundlage zu errichten.“ (Kant, MdS, 229 f.)

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Rechtsbegriff zur Verfügung. Die Beantwortung der Bedeutungsfrage mit dem Rechtsimperativ kann, wie im Folgenden gezeigt werden wird, aus einer Transformation der kantischen Überlegungen, die im Rahmen der allgemeinen Grundlegung einer praktischen Realität im Sinne der Bedeutungsbegründung von Handlung vollzogen werden, hin zu denen der metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre erfolgen. Kant geht dabei davon aus, dass Recht im Hinblick auf die in der Grundlegung begründete praktische Realität eingeführt wird und nicht auf die theoretische der Kritik der reinen Vernunft.38 Auf ein solches theoretisches Verständnis der Rechtsbetrachtung stützt sich aber die Wertungsjurisprudenz, wenn sie Systematisierung allein als Einheitsbildung eines gegebenen Mannigfaltigen versteht.39 In einer spezifisch praktischen Systematisierung, die nicht von der Beobachtung, sondern von der Handlung ausgeht, dagegen wird das gegebene Mannigfaltige von Handlungen und Handlungsmöglichkeiten in ein Verhältnis zu einer im Ergebnis verbindlichen Rechtfertigungsstrategie gesetzt. Die kantischen Varianten von Einklammerung und Bedeutungsreflexion versprechen auch, bei der rechtsphilosophischen Theoriebildung nicht in einen performativen Widerspruch zu fallen. Denn die Einklammerung, das heißt das Problem des Übergangs von der Rechtstheorie zu einer Rechtsphilosophie, spiegelt sich in dem kantischen Theorieaufbau in dem Problem des Übergangs von einer Grundlegung von Praxis hin zu ihrer Anwendung im Rahmen einer kritischen Metaphysik wieder, die es wiederum auf ein konkretes Recht beziehungsweise Rechtsentscheidungen hin anzuwenden gilt. Neben diesen Unterschieden im Blick auf den Theorieaufbau verspricht ein solches rechtsphilosophisches Vorgehen auch auf der Anwendungsebene Vorteile. Denn eine Konsequenz der kantischen Bedeutungsreflexion für die Flexibilisierungsdebatte wäre unter Umständen, dass Freiheit und Gleichheit nicht mehr gegeneinander gestellt werden können, wenn sie beide im Rechtsimperativ als immer schon miteinander verschränkt gedacht werden könnten. Da der Ausgang von der kantischen Rechtslehre anders als die Wertungsjurisprudenz und die liberale Rechtstheorie die Möglichkeit verspricht, Freiheit und Gleichheit in die Rechtsidee einzubeziehen, wie auch die Verbindlichkeits- und Erkenntnisgrenzen von Rechtsreflexion zu verhandeln, könnte eine Rekonstruktion der kantischen Rechtslehre eine Lösung für die bisher bezeichneten Probleme der Rechtstheorien in ihrem Theorieaufbau bereitstellen: Zunächst einmal, wenn sie von einer Bedeutungsreflexion ausgeht und dabei mit der Unterschei38 So Kant, Metaphysik der Sitten, AA, 230: „Der Begriff des Rechts sofern er sich auf eine ihm korrespondierende Verbindlichkeit bezieht (d.i. der moralische Begriff derselben) [. . .].“ 39 Die Zitationsbasis bildet Kant, Kritik der reinen Vernunft, Akademie-Ausgabe, A 832/B 860.

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III. Rechtstheorie und Rechtsphilosophie

dung zwischen Grundlegung und Anwendung das Problem des ordo ordinans in ihren Mittelpunkt stellt.40 Aber auch, wenn die in der Bedeutungsreflexion gewonnenen Resultate im Hinblick auf den Positivierungsprozess des Rechts wieder anwendbar sind,41 das heißt weiter „versinnlicht“ werden können.42 Ob und wie sich die Erwartung an eine kritische Rechtsphilosophie Kants erfüllen lässt, wird im Rahmen der folgenden Rekonstruktion der kritischen Rechtsphilosophie Kants untersucht.

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Vgl. Kapitel IV. dieser Arbeit, insbesondere IV. 2. und IV. 4. Vgl. Kapitel V. dieser Arbeit mit Bezügen auf die Kantrezeption und Kapitel VI. mit der Anwendung auf gegenwärtige Rechtsentwicklungen. 42 „Versinnlicht“ bedeutet dabei, unter Inanspruchnahme der transzendentalen Erkenntnisbedingungen eine weitere raum-zeitliche und damit erkennbare Konkretisierung vorzunehmen. Im Unterschied zu einer Materialisierung ist der Ausgangspunkt nicht eine Gegenstellung von Sinnlichem und Nichtsinnlichem, wie etwa bei Canaris, Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu seiner „Materialisierung“, 276– 292, der z. B. eine formale beziehungsweise rechtliche Vertragsfreiheit einer materialen, tatsächlichen Vertragsfreiheit entgegensetzt und Materialisierung als stärkere Betonung der tatsächlichen Entscheidungsfreiheit versteht, ebd., 278 und 280; die hier angestrebte Erkenntnisleistung beinhaltet dagegen auch, die zu Theoriezwecken getroffene Unterscheidung zwischen Erkenntnisbedingungen, die sowohl formal sinnlich wie auch formal intellegibel sind, in ihrem konkreszenten, das heißt dem durch ihr Zusammenziehen erreichten Vollzug zu erfassen, das heißt dem, was meist Realität oder Wirklichkeit genannt wird in der Form, in der Hegel diagnostizieren konnte, dass das Wirkliche vernünftig und das Vernünftige wirklich ist. 41

IV. Kants kritische Rechtsphilosophie Im Unterschied zur Wertungsjurisprudenz bildet die Vielfalt rechtlicher Normen in Kants kritischer Rechtsphilosophie nicht mehr den Ausgangspunkt der Rechtsreflexion, denn das positive Recht mit seinem Normenbestand wird eingeklammert. Die so gewonnene Distanz ermöglicht eine Bedeutungsreflexion auf den Begriff des Rechts, der nicht von einer positiven Rechtsordnung ausgeht. Die Bedeutungsreflexion auf Recht erfolgt anders als bei Dworkins liberaler Rechtstheorie nicht über die Tiefenanalyse einer anderen Rechtstheorie. Stattdessen wird die Bedeutung von Recht im Ausgang von einem Handlungsbegriff erschlossen, der als Realisierung einer Vorstellung eingeführt wird. Mit diesem Handlungsbegriff und der Frage nach dessen notwendigen Denkvoraussetzungen stehen zentrale Bestandteile der handlungsbezogenen und damit praktischen Realität im Mittelpunkt des kantischen, kritischen Rechtsverständnisses. Die theoretischen Ressourcen, auf die mit Kant zur Beantwortung der Frage nach der Bedeutung von Recht zurückgegriffen wird, können, so die These dieses Abschnitts, aus einer Transformation kantischer Überlegungen, die im Rahmen der allgemeinen Grundlegung einer handlungsbezogenen, praktischen Realität angestellt werden, hin zu denen der metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre gewonnen werden.1 Entsprechend erfolgt die Rekonstruktion der kantischen Rechtslehre in drei Abschnitten. Ausgegangen wird erstens von der Frage, worin diese Grundlegungsleistung der Struktur nach besteht (1.), hin zu der zweiten Frage, warum im Anschluss an diese ein Bedürfnis nach einer Rechtslehre entsteht und inwieweit diese als Element einer kritischen Philosophie verstanden werden kann (2.) und schließlich zur dritten Frage, was denn nun vor diesem Hintergrund 1 Der hier gewählte Weg, Kants Rechtslehre als kritische Rechtsphilosophie im Ausgang von Handlung und ihren notwendigen Denkvoraussetzungen zu rekonstruieren, teilt insoweit das Anliegen von Sänger, Die kategoriale Systematik, VIII, die Metaphysik der Sitten und besonders die Rechtslehre als Teil eines gegenstandsbezogenen, durch Kritik begründeten metaphysischen Systems zu verstehen. Die Begründung und das Verständnis der Rechtslehre differieren dennoch, da Sänger, Die kategoriale Systematik, 157, die Kategorien der reinen Vernunft als Leitfaden der Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre sieht und so Kant-immanent verfährt. Die vorliegende Arbeit stellt dagegen den Handlungsbegriff, verstanden als Realisierung einer Vorstellung, und die Frage nach dessen Denkvoraussetzungen in den Mittelpunkt der Überlegungen, um so in praktischer Hinsicht im Ausgang von diesem Kantischen Handlungsbegriff die kritische Rechtsphilosophie bis hin zur Anwendbarkeit auf eine konkrete positive Rechtsordnung zu entwickeln.

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IV. Kants kritische Rechtsphilosophie

„Recht“ bedeutet (3.). Sodann wird im Ausgang von einer solchen praktischen Transformation der Grundlegung von Praxis überhaupt hin zu ihrer Anwendung in der Rechtslehre das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit (4.) sowie die Bedeutung einer Flexibilisierung von Recht (5.) im Ausgang in der kritischen Rechtsphilosophie untersucht. 1. Die praktische Realität als Kausalität aus Freiheit und ihre Grundlegung Geht man nicht einfach davon aus, dass Handlung ein unproblematischer Begriff ist und weiterhin nicht davon, dass es unproblematisch sinnvoll ist, eine spezifisch praktische Realität anzunehmen, was bedeutet, die Welt unter einer Perspektive des Handelns, Sollens oder Wollens zu betrachten, so stellt sich die Aufgabe, dem Begriff einer spezifisch praktischen Realität nachzugehen. Diese Aufgabe, die Voraussetzungen einer solchen praktischen Realität zu hinterfragen, soll bei Kant das Theorieelement der Grundlegung erfüllen. Ausgehend von der Frage nach der Möglichkeit der Verbindlichkeit in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ und der Frage nach der Möglichkeit einer Willensbestimmung durch die reine Vernunft in der „Kritik der praktischen Vernunft“ wird in beiden Werken Kants eine Reflexion auf die möglichen Geltungsbedingungen von moralischen Urteilen vollzogen, das heißt nach den Voraussetzungen der Möglichkeit von Handlungen und Willensbestimmungen gefragt.2 Die Grundlegung der praktischen Realität als einer Kausalität aus Freiheit vollzieht die kantische Theorie in zwei Schritten. Den ersten Schritt bildet bei Kant eine Begriffsexposition und den zweiten Schritt der Realitätsnachweis des Begriffs einer freien Handlung.3 a) Der Begriff einer praktischen Realität aufgrund einer eigenen Gesetzlichkeit oder: das Sittengesetz Die Reflexion auf den Begriff einer freien Handlung und damit einer denkmöglichen praktischen Realität führt zu dem Resultat, dass zur Begründung der Verbindlichkeit von moralischen Urteilen auf jeglichen Erfahrungsbezug ver2 Etwa: Kant, GMS, 389: „[. . .] daß mithin der Grund der Verbindlichkeit hier nicht in der Natur des Menschen, oder den Umständen in der Welt, darin er gesetzt ist, gesucht werden müsse, sondern a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft [. . .]“, und Kant, KpV, 15: „Hier ist also die erste Frage: ob reine Vernunft zur Bestimmung des Willens für sich allein zulange, oder ob sie nur als empirisch-bedingte ein Bestimmungsgrund derselben sein könne.“ 3 Dabei gilt: „Praktisch ist alles, was durch Freiheit möglich ist“, Kant, KrV, A 800/B 828.

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zichtet werden muss. Sonst, so Kant, ließe sich die für den Handlungsbegriff, demzufolge Handlung die Realisierung einer Vorstellung bedeutet, notwendig vorauszusetzende Unterscheidung zwischen Vorstellung und Realisierung einer Vorstellung nicht aufrechterhalten. Gerade die Betonung der Erfahrungsfreiheit ruft dabei viele Widerstände hervor. Schließlich, so argumentieren andere Positionen, könne auch aus Gründen der Erfahrung das Moralisch-Richtige getan werden. Zudem könne die Begründung von verbindlichen Normen auch mit weniger reflexivem Aufwand erreicht werden, da dafür der Bereich der Erfahrung nicht verlassen werden müsse.4 Warum also müssen nach Kant für Handeln wie auch für moralisches Urteilen Freiheit und damit Erfahrungslosigkeit beansprucht werden und in welchem Sinne bedeutet Freiheit auch Verzicht auf Erfahrung? Den Ausgangspunkt für die kantische Handlungs- und Moraltheorie bildet das Begehrungsvermögen als allgemeiner Begriff von Handlung. Demnach bedeutet Handeln die Realisierung einer Vorstellung. Der Handelnde hat eine Vorstellung x und beabsichtigt, diese Vorstellung durch eine Handlung zu realisieren, so dass ein faktischer Zustand x’ dem zuerst vorgestellten Zustand x entspricht.5 Mit dieser Umsetzung wird eine Kausalkette von beobachtbaren Ursache-Wirkungsverhältnissen im Sinne einer causa efficiens beeinflusst. Handlung setzt gegenüber dieser beobachtbaren Kausalkette eine andere Art der Kausalität voraus, nämlich die einer ideellen, nicht beobachtbaren Vorstellung.6 Die Verbindung von konkreter Vorstellung mit einer Realisierungsabsicht belegt Kant mit dem Begriff „Willkür“. Fehlt die Absicht der Realisierung, das heißt werden keine Überlegungen oder Ressourcen hinsichtlich der Realisierung ergriffen, so handelt es sich nur um einen Wunsch.7

4 So etwa Siep, Wozu Metaphysik der Sitten?, 41–44, der im moralphilosophischen Theorieentwurf Kants eine säkularisierte Variante eines religiösen Moralverständnisses sieht. Das Erfordernis einer reinen Moralphilosophie sieht auch Bittner, Das Unternehmen einer Grundlegung, 20 und 28, nicht und hält stattdessen diesen Begriff für eigentlich bedeutungslos. Pogge, The Categorical Imperative, 179, meint, Kant selber habe seine Moralphilosophie in ihrer Anwendung nicht als völlig rein angesehen, obwohl sie auf einem reinen Teil beruhe. 5 Siehe Kant, KpV, 9, Fn.: „Das Begehrungsvermögen ist das Vermögen desselben [eines Wesens, d. V.], durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein.“ [H. i. O.] So auch Kant, MdS, 211: „Begehrungsvermögen ist das Vermögen durch seine Vorstellungen Ursache der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein.“ In der GMS findet sich keine entsprechende Definition des Begehrungsvermögens, lediglich der Begriff wird in diesem Sinne zweimal verwendet und zwar auf 395 und 427. 6 Z. B.: Kant, KrV, A 543/B571 und A 540/B 568. 7 So Kant, MdS, 213: „Sofern es [das Begehrungsvermögen, d. V.] mit dem Bewußtsein des Vermögens seiner Handlung zur Hervorbringung des Objects verbunden ist, heißt es Willkür; ist es aber damit nicht verbunden, so heißt der Actus desselben ein Wunsch.“ Die Unterscheidung von Willkür und Wunsch wird in KpV und GMS

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Aber wie kann nun die Willkür bestimmt werden? Wie kann verbürgt werden, dass die Kausalität aus Freiheit nicht doch einfach ein besonderer Fall der causa efficiens ist? Diese Fragen zu stellen, bedeutet mit Kant, die Frage der Willensbestimmung zu stellen.8 Damit wird zugleich die Ebene der Realhandlung, des Begehrungsvermögens verlassen und nach einer Denkhandlung gefragt, die der Realhandlung vorausgeht und diese bestimmt. Aufgrund dieser Fragestellung kann der Verweis auf Gefühl und Belieben zu ihrer Beantwortung nicht ausreichen. Denn die Bestimmung der Willkür würde sich hier immer aus vorhergehenden, erkannten oder zumindest erkennbaren Bedingungen ergeben. Diese Art der Bestimmung des Begehrungsvermögens würde so als Fall von Naturkausalität im Sinne von Effizienzkausalität verstanden werden müssen. Naturkausalität bedeutet, dass jeder Zustand bedingt ist. Das heißt, jeder Zustand ist Ursache eines in der Zeit folgenden Zustandes, aber auch Wirkung eines vorhergehenden, der wiederum Wirkung eines ihm zeitlich vorhergehenden Zustandes ist.9 Unter dieser Perspektive werden Zustände in der Welt beobachtet, das heißt erkennbar und erkannt. Im Bereich des Gefühls und Beliebens zu versuchen, das ausschlaggebende Element einer verbindlichen Willkürbestimmung zu finden, hieße daher, die verbindliche oder unverbindliche Handlung als Realisierung eines, wenn auch durch Überdeterminiertheit sehr komplizierten, aber dennoch im Grunde durch Beobachtung erfassbaren und vorhersehbaren Verhaltensprogramms zu betrachten. Damit würde zum einen im Hinblick auf die Frage nach der Willensbestimmung der Anspruch auf allgemeine Verbindlichkeit von Sollenssätzen unhaltbar werden. Denn im Bereich der Naturkausalität als dem Bereich der Erfahrung sind Zusammenhänge nie allgemein notwendig, sondern deren Regeln können nur relative Notwendigkeit beanspruchen.

nur der Sache nach getroffen, nicht aber in dieser eindeutigen Terminologie vorgestellt. Siehe etwa Kant, GMS, 395. 8 Etwa Kant, KpV, 15: „In diesem [dem praktischen Gebrauch, d. V.] beschäftigt sich die Vernunft mit Bestimmungsgründen des Willens, welcher ein Vermögen ist, den Vorstellungen entsprechende Gegenstände entweder hervorzubringen, oder doch sich selbst zu Bewirkung derselben (das physische Vermögen mag nun hinreichend sein, oder nicht), d.i. seine Causalität, zu bestimmen.“ Die sachliche Unterscheidung zwischen einem auf die Hervorbringung eines Objekts und einem auf die Bestimmung des Willens zur Hervorbringung eines Objekts bezogenen Willen in der KpV, 15, wird in der MdS terminologisch aufgenommen. Ersteres bezeichnet dort der Begriff der Willkür, Letzteres der des Willens. Siehe Kant, MdS, 213: „Der Wille ist also das Begehrungsvermögen, nicht sowohl (wie die Willkür) in Beziehung auf die Handlung, als vielmehr auf den Bestimmungsgrund der Willkür zur Handlung betrachtet [. . .].“ An der Terminologie der MdS orientiert sich die Arbeit im Folgenden. 9 Siehe Kant, KrV, A 532/B 560.

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Zum anderen bliebe die bestimmte Willkür lediglich eine Durchgangsstation des Verhaltensprogramms. Der Seite der Vorstellung käme keine Eigenständigkeit zu, sondern sie würde ganz in der Realitätsseite, der Naturkausalität aufgehen. Aber die Willkür ist dadurch gekennzeichnet, dass sie eine Vorstellung realisiert. Wenn die Vorstellung aber mit der Realisierung in eins fällt, dann ist höchstens eine einmalige Handlung möglich. Um nun mehr als einmal die Willkür bestimmen zu können und so eine Vorstellung Ursache eines faktischen Zustandes in der Welt werden zu lassen, ist es erforderlich, eine Eigenständigkeit der Seite der Willkürbestimmung gegenüber der theoretischen Realität denken zu können. Dies wird aber mit einer Bestimmung aus Gefühl und Belieben unmöglich, da die Seiten der Vorstellung und Realität bei einer ausschließlichen solchen Bestimmung ununterscheidbar wären.10 Die Handlung als der zu bestimmende Gegenstand, in kantischer Terminologie die Bestimmung des Begehrungsvermögens beziehungsweise der Willkür, würde bei einer alleinigen Bestimmung durch Gefühl und Belieben ihren Gehalt als Realisierung einer Vorstellung verlieren. Ohne Handlung ist dann eine Realhandlung strukturell unmöglich, es sei denn, sie würde nicht mehr bedeuten, eine Vorstellung zu realisieren. Auch die Frage nach einer verbindlichen Handlungsbestimmung ist dann hinfällig, da es eben keine Handlungen mehr gibt.11 Eine rein erfahrungsbezogene Willkürbestimmung ist damit nicht in einem konsistenten Verhältnis zu ihrem Objekt, der Handlung, denkbar. Um die Frage nach der Möglichkeit einer Willensbestimmung zu beantworten, ist es damit notwendig, dass die Vorstellungsseite sich selbst bestimmt. Einziger Kandidat ist dabei für Kant die reine Vernunft, da diese unabhängig von der raum-zeitlichen Realisierung in der Lage ist, selbsttätig zu sein. Die Vernunft kann daher eine Bestimmung aus Freiheit leisten, ist aber noch unterbestimmt. Denn was bedeutet es, wenn die Freiheit die Aufgabe der Willensbestimmung inne hat? Eine solche Kausalität aus Freiheit bezeichnet bei Kant die Fähigkeit, einen Zustand ohne vorhergehende Bedingung, das heißt eine Reihe von selbst anzufangen.12 Damit rekurriert die Freiheit als Kausalität aus Freiheit auf Voraussetzungen, die jenseits der Naturkausalität und Erfahrung liegen müssen und inso-

10 Siehe Kant, KrV, A 543/B 571: „Eine ursprüngliche Handlung, wodurch etwas geschieht, was vorher nicht war, ist von der Kausalverknüpfung der Erscheinungen nicht zu erwarten.“ Siehe auch Kant, KrV, A 534/B 562, A 540/B 568, A 550/B 578. Dieser Gedanke wird in der GMS und der KpV so nicht ausgesprochen. Beide Schriften setzen ihn aber voraus, da sie immer schon von dem Problem der Willensbestimmung ausgehen. 11 Etwa Kant, KpV, 33 und Kant, KrV, A 552 f./B 580 f. Zum Verhältnis von Handlung und Moral siehe auch Willascheck, Praktische Vernunft, 169–173. 12 Siehe Kant, KrV, A532/B560.

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fern rein intelligibel und übersinnlich sind.13 Für die Frage nach der Legitimation von moralischen Urteilen ist aber mit einer solchen negativen Bestimmung noch nicht viel gewonnen. Gesucht ist vielmehr eine positive Bestimmung der Freiheit. Da auf Gefühl und Belieben nicht zurückgegriffen werden kann, kommen nur die Ressourcen in Frage, die nach dem Wegstreichen aller Empirieanteile aus moralischen Urteilen beziehungsweise der praktischen Vernunft als Bestimmungsgrund noch übrig bleiben. Dies ist allein die Gesetzesform der Handlung selbst.14 Die Gesetzmäßigkeit der Freiheit besteht damit in der Form der Gesetzmäßigkeit, das heißt der Allgemeinheit der Handlung selber. Dies drückt das Sittengesetz aus: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“15

Unter Maxime ist dabei ein subjektiver Handlungsgrundsatz zu verstehen.16 Im Sittengesetz wird nach der Verallgemeinerbarkeit eines solchen subjektiven Handlungsgrundsatzes gefragt.17 Der subjektive Bestimmungsgrund muss also der Allgemeinheit gemäß sein, in einen allgemeinen Zusammenhang eingebettet werden, ohne die eigene Handlungsmöglichkeit in diesem Zusammenhang zu zerstören. Insofern spricht Kant davon, dass der Wille das praktische Gesetz selbst sei und dies Autonomie beziehungsweise Freiheit bedeute.18 Da dem praktischen Gesetz kein weiterer Bestimmungsgrund vorausgeht, kann von der Autonomie des Willens gesprochen werden, weil dieser selbst das Gesetz ist und die Willkür bestimmt.

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Siehe Kant, KrV, A537/B565. Etwa Kant, KpV, 29: „[. . .] so muß ein freier Wille, unabhängig von der Materie des Gesetzes, dennoch einen Bestimmungsgrund in dem Gesetze antreffen. Es ist aber außer der Materie des Gesetzes nichts weiter in demselben als die gesetzgebende Form enthalten. Also ist die gesetzgebende Form, so fern sie in der Maxime enthalten ist, das einzige, was einen Bestimmungsgrund des Willens ausmachen kann.“ Siehe auch: Kant, GMS, 402, KpV 43/f. Dazu Esser, Kants Tugendethik, 157. 15 Kant, GMS, 421. Sinngemäß auch Kant, GMS, 402, KpV, 30 und MdS, 214. Eigentlich gibt es nach Kant nur ein Sittengesetz beziehungsweise einen kategorischen Imperativ. Dieses wird aber um der Anschaulichkeit willen in weiteren drei Weisen, der Naturgesetz-Formel, Kant, GMS 421, der Mensch-Zweck-Formel, Kant, GMS, 429, und der Reich-der-Zwecke-Formel, Kant, GMS, 434, formuliert. Vgl. zu dieser Darstellungsfunktion Ebbinghaus, Die Formeln des kategorischen Imperativs, 209 f. Affirmierend dazu Geismann, Die Formeln des kategorischen Imperativs, 384. 16 Maximen als subjektive Handlungsgrundsätze sind mit Esser, Kants Tugendethik, 277 f., als Produkt einer Hypothesenbildung zu verstehen, die unter der Perspektive des Sittengesetzes anhand von Realhandlungen und deren Zusammenhang miteinander und unter Beachtung des jeweiligen Kontextes vorgenommen wird. 17 Siehe Kant, KpV, 19. 18 Siehe Kant, MdS, 213: „Der Wille [. . .] hat selber vor sich eigentlich keinen Bestimmungsgrund, sondern ist, sofern sie [die Vernunft, d. V.] die Willkür bestimmen kann, die praktische Vernunft selbst.“ Siehe ebenso Kant, GMS, 413 und 446 und KpV, 32/f. 14

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Die Vernunft qua Sittengesetz beziehungsweise kategorischem Imperativ und nicht die Natur bestimmt die Willkür, indem die Anforderung erfüllt wird, dass das einzelne Wollen mit dem Allgemeinen identisch sein müsse. Besteht diese Identität, so wird dies als Wille oder als freie Willkür bezeichnet.19 In diesem Sinne kann mit Kant davon gesprochen werden, dass allein ein guter Wille für gut gehalten werden kann, nicht aber die Gegenstände der Erfahrung, besondere individuelle Fähigkeiten oder Glücksgaben.20 Als Formulierung der reinen Gesetzesform ist das Sittengesetz also unabhängig von Erfahrungsbezügen eben wegen seiner Gesetzesform fähig zur Willkürbestimmung aus Freiheit wie auch zur verbindlichen Normenschöpfung und Normenbeurteilung.21 Die Normierungsqualität von Handlungen wird daher nach Kants Überzeugung allein durch eine Selbstanwendung des Willens, die Autonomie, gewonnen. Da aber die Autonomie in Gesetzesform verfasst ist, besteht auch die Möglichkeit einer Willensbestimmung durch die reine Vernunft.22 Das Sittengesetz bildet die allgemein-notwendige, für alle Vernunftwesen verbindliche Willensbestimmungsregel, die dem endlichen Vernunftwesen als kategorischer Imperativ gegenübertritt. Damit ist neben dem Gegenstandsbereich der Erkenntnis in der Theorie, der durch die Kritik der reinen Vernunft und ihre Rechtfertigung der synthetischen Sätze a priori eröffnet ist, ein weiterer, praktischer Gegenstandsbereich aufgrund seiner eigenen Gesetzlichkeit denkbar.23 b) Die Wirklichkeit des kategorischen Imperativs Die Beantwortung der Frage nach der Begründung der Wirklichkeit des kategorischen Imperativs, der Realität von Praxis, in Form eines Realitäts- beziehungsweise Geltungsnachweises für den kategorischen Imperativ als synthetischen Satz a priori steht damit aber noch aus. Kann das Sittengesetz als kategorischer Imperativ überhaupt für den Menschen als endliches Vernunftwesen 19

Etwa Kant, MdS, 213. Siehe Kant, GMS, 393/f. 21 Siehe etwa Kant, GMS, 447, KpV, 25/f und MdS, 214. 22 Etwa Kant, GMS, 440: „Autonomie des Willens ist die Beschaffenheit des Willens, dadurch derselbe ihm selbst (unabhängig von aller Beschaffenheit der Gegenstände des Wollens) ein Gesetz ist. [. . .] Allein daß gedachtes Princip der Autonomie das alleinige Princip der Moral sei, läßt sich durch bloße Zergliederung der Begriffe der Sittlichkeit gar wohl darthun. Denn dadurch findet sich, daß ihr Princip ein kategorischer Imperativ sein müsse, dieser aber nichts mehr oder weniger als gerade diese Autonomie gebiete.“ Dazu auch Kant, KpV, 55: „Die objective Realität eines reinen Willens oder, welches einerlei ist, einer reinen praktischen Vernunft ist im moralischen Gesetze a priori gleichsam durch ein Factum gegeben; denn so kann man eine Willensbestimmung nennen, die unvermeidlich ist, ob sie gleich nicht auf empirischen Principien beruht.“ 23 Zum Begriff der praktischen Gegenstandsbeziehung und der objektiven Realität in der Praxis siehe Zöller, Theoretische Gegenstandsbeziehung, 279 f. und 285 f. 20

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wirklich sein? Gelingt die erforderliche Synthesis zwischen vollkommenem und unvollkommenem Willen oder bleibt die Kausalität aus Freiheit und mit ihr das Sittengesetz eine Chimäre?24 Wie in der theoretischen Philosophie mit der Deduktion der Kategorien wird auch im Bereich der Praxis sowohl in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ als auch in der „Kritik der praktischen Vernunft“ das Problem einer Deduktion gestellt, hier der des Sittengesetzes.25 Deren Zweck, Argumentationsgang und Gelingen ist aber stark umstritten, zumal für die Wirklichkeit der Denkmöglichkeit von Freiheit oder Sittengesetz die Begründungsfrage zweifach formuliert werden kann. Theoretisch, das heißt auf Beobachtbarkeit ausgerichtet, lautet sie: Muss ich dem kategorischen Imperativ folgen, mein Wollen ihm unterwerfen? Praktisch formuliert dagegen lautet sie: Soll ich den kategorischen Imperativ wollen? So diagnostiziert eine erste Argumentationslinie ein Auseinandertreten des Deduktionsziels und -gangs.26 Dies wird insbesondere daran festgemacht, dass Kant in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ von einer Deduktion des Sittengesetzes spreche,27 in der „Kritik der praktischen Vernunft“ dagegen, nach dem Scheitern des ersten Deduktionsversuches in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, die Möglichkeit einer solchen ausschließe und stattdessen Freiheit als „Factum“ behaupte.28 Der Deduktionsgang in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ hat dieser Ansicht nach zum Ziel, einen Nachweis der Geltung des Sittengesetzes zu erbringen, indem ein Übergang von theoretischer zu praktischer Spontaneität, das heißt ein Übergang von der logischen Spontaneität der Vernunft hin zur praktischen Spontaneität der Vernunft versucht wird.29 Ziel der „Kritik der praktischen Vernunft“ dagegen sei es, den Geltungs24 So auch die Frage am Übergang zur so bezeichneten Deduktion Kant, GMS, 445: „Wer also Sittlichkeit für Etwas und nicht für eine chimärische Idee ohne Wahrheit hält, muß das angeführte Princip [der Autonomie, d.i. das Sittengesetz, d. V.] derselben zugleich einräumen. Dieser Abschnitt war also eben so, wie der erste bloß analytisch. Daß nun Sittlichkeit kein Hirngespinst sei, welches alsdann folgt, wenn der kategorische Imperativ und mit ihm die Autonomie des Willens wahr und als ein Princip a priori schlechterdings nothwendig ist, erfordert einen möglichen synthetischen Gebrauch der reinen praktischen Vernunft, den wir aber nicht wagen dürfen, ohne eine Kritik dieses Vernunftvermögens selbst voranzuschicken, von welcher wir in dem letzten Abschnitte die zu unserer Absicht hinlängliche Hauptzüge darzustellen haben.“ 25 Vgl. Kant, GMS, 447–455 und KpV, 42–50. 26 Etwa: Henrich, Deduktion, 108, der davon ausgeht, dass die KpV die GMS ersetze. Ebenso Allison, Preparatory Argument, 324. 27 Siehe Kant, GMS, 447, 454 und 463. 28 Vgl. Kant, KpV, 47 f. 29 So etwa: Allison, Preparatory Argument, 323 f. Entgegen Allison sieht Schönecker, Grundlegung III, 157, das Ziel der Deduktion nicht in dem Nachweis der Freiheit des menschlichen Willens, sondern in dem Nachweis, dass der Mensch aufgrund der ontologischen Superiorität seines intelligiblen Willens nicht nur frei handeln kann, sondern frei handeln soll. Da die ontoethische Grundthese aber nicht zu Kants übriger,

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nachweis über die Freiheit als „Factum“ zu erbringen. Unter „Factum“ wird ein jedem ,Privat-Ich‘ zu unterstellendes Bewusstsein von Freiheit verstanden. Grund für die Geltung des Sittengesetzes für den Menschen ist demnach, dass jedem Menschen eine natürliche Intuition von Freiheit zugemutet werden kann.30 Für eine solche theoretisch ausgerichtete Rekonstruktion des Geltungsnachweises ist nun problematisch, dass das Wollen-Müssen eigentlich, wie die hypothetischen Imperative zeigen, der Beobachtbarkeit zuzuordnen ist.31 Da moralisch-praktische Sachverhalte, insbesondere ihre Quelle, die Kausalität aus Freiheit, aber nicht beobachtbar, das heißt theoretisch erfassbar sind, kann die Begründungsfrage in Form der ersten Frage nie beantwortet werden, da sie die getrennten Gegenstandsbereiche von Theorie und Praxis vermischt und so die Grenzen der Theorie überschreitet. Das heißt, dem „Ich-denke“ als dem höchsten Spontaneitätspunkt der Vernunftkritik entsteht keine Konkurrenz durch Freiheit oder Sittengesetz als Spontaneitätsinstanzen in der Praxis. Insoweit ist für die erste Frage: muss ich dem kategorischen Imperativ folgen? weder eine Deduktion noch ihr Scheitern möglich. Einer anderen, zweiten Argumentationslinie zufolge wird eine Übereinstimmung in dieser Frage zwischen der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ und der „Kritik der praktischen Vernunft“ mit dem Verweis darauf gegründet, dass Kant nie einen Übergang von theoretischer zu praktischer Spontaneität nachzuweisen versucht habe.32 Mit dem Ausschluss einer Deduktion des Sittengesetzes in der „Kritik der praktischen Vernunft“ solle vielmehr zum einen die Unmöglichkeit der theoretischen Begreifbarkeit betont werden. Zum anderen werde klargestellt, dass es zwischen Vernunft und Freiheit keine Kluft gebe, die kritischer Theoriekonzeption passe, müsste hier nach Schönecker, Grundlegung III, 412, die Kritik ansetzen. Für ein Scheitern argumentieren auch: Paton, Der kategorische Imperativ, 304 und Köhl, Kants Gesinnungsethik, 4, der in Kants Ethik lediglich Ruinen einer Theorie zu erkennen vermag. 30 Siehe Henrich, Deduktion, 88, der diese auch misslingen sieht. Für ein Gelingen dieser Deduktion in seiner Rekonstruktion argumentiert dagegen Allison, Justification, 129 f. Steigleder, Kants Moralphilosophie, 61 und 94, sieht das Ziel der Deduktionsbemühungen Kants darin, nachzuweisen, dass wir uns ein unbedingtes Sollen zusprechen müssen und hält insoweit diesen Nachweis für erbracht, 79 ff. 31 Hypothetische Imperative sind analytisch-praktische Sätze. Das bedeutet, dass die Bestimmung des Willens aus bereits gewollten Vorstellungen des Handelnden abgeleitet wird. Sie beziehen sich auf die zur Realisierung dieser bereits gewollten Willensbestimmungen erforderlichen Mittel – eine Überlegung für die Klugheit und Erfahrung erforderlich ist. Der kategorische Imperativ dagegen ist ein synthetisch-praktischer Satz, was bedeutet, dass der menschliche Wille, der nicht immer schon automatisch das Gute will, mit dem Guten, der Gesetzlichkeit verbunden werden muss. Im Anschluss an Kant, GMS, 417 so Ludwig, Kants „hypothetische“ Imperative, 107, 115, 118. Anders dagegen Foot, Virtues, 166 f. und Seel, Sind hypothetische Imperative analytische Sätze?, 148, 160. 32 So etwa Baumanns, 95–98 und O’Neill, Reason and Autonomy, 296.

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überwunden werden müsse, sondern vielmehr Vernunft als Freiheit verstanden werden müsse,33 wobei Freiheit eine lediglich regulative Idee sei und in einem theoretischen Sinne nie beobachtbar sein könne.34 Diese Argumentationsrichtung leitet zu der hier entwickelten, dritten Argumentationsrichtung über, nämlich zu einer zweiten, praktischen und damit beantwortbaren Formulierung der Begründungsfrage des Sittengesetzes. Im Unterschied zur theoretischen kann diese beantwortet werden, wenn gezeigt werden kann, dass das, was sich dem endlichen Wesen im kategorischen Imperativ als Sollen präsentiert, eigentlich sein Wollen ist.35 Gezeigt wird das, indem darauf verwiesen wird, dass erst in dem Befolgen dessen, was in der Grundlegung als Pflicht, das heißt als kategorisches Sollen, vorgestellt wird, der Einzelne in der Anwendung seine Wollensmöglichkeit im Erhalt des Handlungsbegriffs gewinnt und in dem Maße selbstbestimmt wird, in dem er sich das Sittengesetz als Maxime setzt. Wie der Vollzug aber erfolgt, bleibt unerkennbar. Nach dieser dritten Auffassung sind Sittengesetz und Handlungsfreiheit im Modus von Grundlegung und Anwendung miteinander verknüpft. Die Unerkennbarkeit ihrer genauen Art und Weise der Verknüpfung wird dabei unter der Perspektive des Primats der praktischen Vernunft verständlich, demzufolge handelnd theoretische Voraussetzungen begriffen werden können, aber praktische Vorgänge nur eingeschränkt theoretisch beschrieben werden können. In der Unerkennbarkeit liegt damit kein unbedachter Reflexionsstopp, sondern sie markiert eine Grenze theoretischer Erkenntnismöglichkeiten. Damit stehen Freiheit und Sittengesetz nicht in einem vitiösen Zirkelverhältnis,36 sondern die Freiheit als ratio essendi befindet sich auf einer anderen Ebene als die ratio cognoscendi.37 Freiheit in Gesetzesform tritt dem endlichen Vernunftwesen als Sollen gegenüber und begründet zugleich die Möglichkeit seines Wollens. Setzt sich das endliche Vernunftwesen den kategorischen Imperativ als Maxime, so bestimmt es sich zur Freiheit.38 Die theoretische Unbegreifbarkeit dieses Vorganges kann unter der Perspektive der Unterscheidung von Theorie und Praxis begriffen werden, da eine Erkenntnis des praktischen Sachverhalts der Willensbestimmung für die Theorie ausgeschlossen werden muss.39 33

So O’Neill, Reason and Autonomy, 297. Vgl.: Pieper, Wie ist ein kategorische Imperativ möglich?, 280. 35 So Kant, GMS, 453–455 und KpV, 15 und 47/f. 36 Siehe Kant, GMS, 449/f. 37 So Kant, KpV, 4 Fn. 38 So auch Esser, Kants Tugendethik, 157 f. Ebenfalls in diese Richtung Kersting, Kant über Recht, 23 f. 39 Siehe Kant, KpV, 3–6 und 15 sowie 44–48. Etwa Kant, KpV, 47: „[. . .] Freiheit, von der das moralische Gesetz [. . .] nicht blos die Möglichkeit, sondern die Wirklichkeit an Wesen beweiset, die das Gesetz als für sie verbindend erkennen. Das morali34

2. Die Metaphysik der Sitten als kritische Philosophie?

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Was bezeichnet nun aber das „Factum der Vernunft“? Es bezeichnet nicht mehr eine allgemeine Freiheitsunterstellung des empirisch-beobachtbaren Charakters beziehungsweise der Willkür, sondern den obersten, gedanklich notwendigen Konstruktionspunkt einer gegenüber der Theorie und Erfahrung eigenständigen, praktischen Wirklichkeit, deren konkreter Vollzug wiederum von dem Wollen des Handelnden abhängt.40 Insofern handelt es sich um eine „TatSache“ im vollen Sinne, demzufolge es sich bei dem „Factum“ um den notwendigen Konstruktionspunkt einer gegenüber Theorie und Erfahrung eigenständigen, praktischen Wirklichkeit handelt (insofern „Sache“ beziehungsweise erkennbare Struktur), deren konkreter Vollzug aber wiederum von einem Wollen des Handelnden abhängt (insofern „Tat“ beziehungsweise Handlung). 2. Die Metaphysik der Sitten als kritische Philosophie? Der eben vorgestellten Auffassung des „Factums“ zufolge ist die kantische Freiheit der Handlung als Verbindlichkeit zu verstehen, die qua des wechselseitigen Bedingungsverhältnisses von Norm und Handlung der freien Handlung Bedeutung verleiht und so eine praktische Realität ermöglicht. Insoweit steht dabei im Rahmen der Grundlegung die Denkhandlung der Willensbestimmung aus einer teilnehmenden Perspektive im Mittelpunkt. Die Norm ist diesbezüglich das Sittengesetz und wird im Fall des endlichen Vernunftwesens zum kategorischen Imperativ. Im Anschluss an diese Grundlegungsleistung, die die Möglichkeit und Geltung einer praktischen Realität rechtfertigt, stellt sich das Problem der Anwendung des praktischen Gesetzes, das rein formal ist, auf den einzelnen, materialen Fall; man könnte auch sagen, das Problem der Konkretion beziehungsweise der weiteren Ausdifferenzierung von Praxis. Diese Aufgabe ist bereits im kategorischen Imperativ angedeutet, der den Willen des endlichen Vernunftwesens bestimmen muss, da dieser nicht immer schon dem Sittengesetz gemäß bestimmt ist. Die Tugendlehre und die Rechtslehre sollen diese Funktion der weiteren Anwendung und Verbindlichkeitsbegründung übernehmen. Welcher Status sche Gesetz ist in der That ein Gesetz der Causalität durch Freiheit und also der Möglichkeit einer übersinnlichen Natur, so wie das metaphysische Gesetz der Begebenheiten in der Sinnenwelt ein Gesetz der Causalität der sinnlichen Natur war, und jenes bestimmt also das, was speculative Philosophie unbestimmt lassen mußte, nämlich das Gesetz für eine Causalität, deren Begriff in der letzteren nur negativ war, und verschafft diesem also zuerst objective Realität.“ 40 „Factum“ bezeichnet dabei auch eine Tat der Vernunft und nicht eine empirische Tatsache. Siehe oben und Willascheck, Praktische Vernunft, 174–183. Das Factum der Vernunft besteht, so Willascheck, 183/f, nicht allein in dem Erkennen des moralisch Richtigen, sondern in der Übernahme dieser objektiven Einsicht zum subjektiven Motiv des Handelns. Insofern kommt der Freiheit und den auf ihr basierenden Normierungen auch nur Geltung und keine Gültigkeit zu. Mit anderen Worten: Es kommt auf den Vollzug einer Vorstellung an.

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kann aber dieser Ausdifferenzierung von Praxis zukommen? Bedeutet eine solche Rechtslehre im Rahmen einer „Metaphysik der Sitten“ einen metaphysischen Rückfall des Aufklärers Kant? a) Die Grundlegung als Transzendentalphilosophie Viele Interpreten gehen davon aus, dass mit der praktischen Philosophie bereits der Boden der kritischen wie auch der transzendentalen Philosophie verlassen wurde.41 Die Interpretationen, die bereits den Versuch ablehnen, die praktische Philosophie Kants als transzendentale zu verstehen, orientieren sich dabei an der engen Fassung dieses Begriffs in der Kritik der reinen Vernunft: „Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich [. . .] mit unserer Erkenntnis von Gegenständen, sofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt“42. Da es in der Praxis nicht allein um Erkenntnis gehe, so der Schluss, könne hier auch keine Transzendentalphilosophie stattfinden. Wird aber der veränderte Maßstab der Kritik der Urteilskraft herangezogen, demzufolge „[. . .] das allgemeine Problem der Transcendental-Philosophie [sei]: Wie sind syntethische Urteile a priori möglich?“43, so kann die praktische Philosophie durchaus als transzendental bezeichnet werden. Denn das Sittengesetz stellt so einen synthetischen Satz a priori dar: Erstens setzt es einen Handlungsbegriff voraus: Handlung als Realisierung einer Vorstellung. Die Anwendungsregel bietet zweitens der kategorische Imperativ, demzufolge das Sittengesetz dem endlichen Willen gegenüber als nötigend auftritt. Die Realisierung beziehungsweise Versinnlichung dieser Struktur wird in dem Geltungsbeweis abgesichert. Auch praktische Philosophie kann diesem erweiterten Begriff zufolge Transzendentalphilosophie sein.44 Dieses Verständnis der praktischen Philosophie wird durch die Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft und die erste Einleitung der Kritik der Urteilskraft in systematischer Weise gestützt. In der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft bezeichnet Kant die Freiheit des Willens als einen der Gegenstände, „worauf die Spekulation der Vernunft im transzendentalen Gebrauche zuletzt hinausläuft“.45 Dabei kommt der Freiheit im Verhältnis zu den anderen dort genannten Gegenständen, der Unsterblichkeit der Seele und dem Dasein Gottes, eine besonders herausgehobene Stellung zu. Denn diese beiden Gegen41 So etwa Bittner, Das Unternehmen einer Grundlegung, 13–30; Busch, Die Entstehung der kritischen Rechtsphilosophie Kants; Ilting, Gibt es eine kritische Ethik und Rechtsphilosophie Kants?, 325–345; Ritter, Der Rechtsgedanke Kants nach frühen Quellen und Patzig, Ethik ohne Metaphysik. 42 Kant, KrV, B 25. 43 Kant, KU, 149 und für die ästhetischen Urteile vgl. KU, 113. 44 Eingehend dazu Esser, Kants Tugendlehre, 162–179, mit weiteren Nachweisen. 45 Kant, KrV, A 798/B 826.

2. Die Metaphysik der Sitten als kritische Philosophie?

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stände werden wiederum in einem praktischen Verhältnis gedacht, nämlich unter der Perspektive, „was zu tun sei, wenn ein Gott und eine künftige Welt ist“.46 Dass die Frage der transzendentalen Freiheit, so Kant, allein das spekulative Wissen betrifft und daher in erkenntnistheoretischer Absicht nicht verhandelt werden muss, steht dem nicht entgegen.47 Denn damit weist Kant nur auf den originären Handlungscharakter des Praktischen hin und schließt nicht die Bezeichnung einer Reflexion auf Handlung beziehungsweise Handlungsnormen und ihre Voraussetzungen als transzendentale Reflexion aus. In der ersten Einleitung der Kritik der Urteilskraft verwendet Kant den Begriff der „He-Autonomie“, um sein Anliegen einer Vermittlung von Theorie und Praxis zu charakterisieren. Der Begriff impliziert dabei, dass ein solches damit angestrebtes Selbstverständnis ein wesentlich praktischer Akt ist – wenn auch im Rahmen der Kritik der Urteilskraft nur auf deren Selbstgesetzgebungsfähigkeit bezogen.48 Diese Überlegung ergänzt die Argumentationslinie, die mit dem Argument eines Primats des Praktischen arbeitet.49 Die Grundlegung von Praxis kann damit als Transzendentalphilosophie bezeichnet werden. b) Die Rechtslehre als kritische Metaphysik Allerdings stellt sich hinsichtlich der Rechtslehre ein weiteres Problem: mag die Grundlegung noch als Transzendentalphilosophie und damit auch als kritische Philosophie eingeordnet werden können – verhält es sich für die Metaphysik der Sitten nicht anders? Handelt es sich hier nicht um einen Rückfall in die vorkritische Metaphysik? Die Diskussion um den Zusammenhang zwischen Grundlegung der Metaphysik der Sitten, Kritik der praktischen Vernunft und ihrer Anwendung wurde in jüngerer Zeit durch Ansätze geprägt, die unter „impure ethics“ im Gegensatz zur reinen Ethik vor allem die Anthropologie Kants verstehen. Entsprechend

46

Kant, KrV, A 800/B 828 (d. V.). Kant, KrV, A 803 f./B 831 f. Dies belegt auch der Verweis auf die „Antinomie der Vernunft“ an dieser Stelle. Denn anhand der Freiheits-Antinomie wird gezeigt, dass Freiheit eine sinnvolle begriffliche „Investition“ sein kann beziehungsweise zumindest ihre „Nicht-Existenz“ empirisch wie auch denklogisch nicht bewiesen werden kann, sondern nur im Rahmen des transzendentalen Idealismus zu verstehen ist. Entsprechend wird auf die Freiheit beziehungsweise auf die Praxis im Kanonkapitel nicht mehr eingegangen, da das höchste Gut der instrumentellen Seite von Praxis zugeordnet wird. Dass in der Fn. bei KrV A 801/B 829 praktische Begriffe aus der Transzendentalphilosophie ausgeschlossen werden, liegt daran, dass diese hier allein auf das Gebiet der Lust und Unlust bezogen werden, nicht aber auf ein von Kant zu dem Zeitpunkt dieser Formulierungen zumindest in der A-Auflage der KrV noch kaum durchdachtes praktisches, formales Gesetz wie das Sittengesetz. 48 Siehe Kant, KU, erste Einleitung, 32. 49 Vgl. dazu Kant, KpV, 215–219. 47

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IV. Kants kritische Rechtsphilosophie

wird eine „Rettung der formalistischen, kantischen Ethik“ im Sinne des Nachweises ihrer konkreten, materialen Anwendbarkeit durch die Anthropologie verneint, da diese zu viele zeitgebundene Vorurteile enthalte.50 Die kantische ethische Theorie wird dabei in metaphysische Fundierung und anthropologische Anwendung eingeteilt. Bedenkt man aber, dass für Kant die Metaphysik der Sitten eine Anwendung der transzendentalphilosophischen Grundlegung von Praxis in Form von metaphysischen Anfangsgründen darstellt, so erscheint die Zweiteilung von metaphysischer Fundierung und anthropologischer Anwendung zu starr. So findet die Metaphysik der Sitten, insbesondere die Rechtslehre in dieser Einteilung keinen Platz. Entsprechend widmen weder Louden noch Wood der Rechtslehre einen Abschnitt, obwohl die Metaphysik der Sitten und insbesondere die Rechtslehre als kritisch-basierte Metaphysik eine weitere Anwendungsebene bilden.51 Kant bezeichnet in diesem Zusammenhang diejenigen Begriffe als metaphysisch, die aus Vernunfterkenntnis entwickelt werden und deren Realitätsnachweis bereits transzendentalphilosophisch abgesichert ist. „Metaphysisch“ ist daher als Anwendung der in der geltungsbegründenden Reflexion gewonnenen Ergebnisse zu verstehen. Diesen Anwendungscharakter der kritischen Metaphysik reflektiert Kant nicht zuletzt in der Begrifflichkeit von den „Metaphysischen Anfangsgründen“ der Rechtslehre. Sie macht deutlich, dass die Bedeutungsreflexion auf den Begriff des Rechts erfahrungsfrei allein im Denken erfolgt, aber auch noch der prinzipiell nie abschließbaren konkretisierenden Ausführung in erfahrbaren Kontexten bedarf, um etwa unterschiedliche Rechte zu generieren.52 Diese Art kritischer Metaphysik darf daher nicht verwechselt werden mit einer Metaphysik, die dogmatische Behauptungen aufstellt. Dogmatische Behauptungen gewinnen ihre Überzeugungskraft allein aus der Erklärung von Phänomenen in der Welt.53 Auf eine kritische Reflexion ihrer eigenen Voraussetzungen wird dabei verzichtet. 50 So Louden, Kant’s Impure Ethics, 24. In diesem Punkt sehr ähnlich auch Wood, Kant’s Ethical Thought, der bereits in seiner Gliederung auf die Metaphysik der Sitten nicht eingeht. 51 So auch Kant, MdS, 216: „[. . .] eine Metaphysik der Sitten kann nicht auf Anthropologie gegründet, aber doch auf sie angewendet werden.“ So könnte in einer MdS einerseits der übersinnliche Charakter gewahrt bleiben, andererseits käme aber auch die Sinnlichkeit zu ihrem Recht beziehungsweise würde in praktischer Hinsicht entdeckt. 52 Kant, MdS, 205. 53 Vgl. z. B. den Artikel zur „Metaphysik“ in Ritter et al. [Hg.]: Historisches Wörterbuch der Philosophie, der in der Einleitung (von L. Oeing-Hanhoff) stark die Rolle der Metaphysik als prima philosophia betont und dies mit Aristoteles’ Beginn der Nikomachischen Ethik („Alles strebt zu einem Ziel . . .“) belegt wird (von Th. Kobusch). Kennzeichnend für einen klassischen Metaphysikbegriff ist damit eine erste, unhinterfragte Setzung, die im Weiteren an vielen Beispielen bewahrheitet wird. Vgl. auch

2. Die Metaphysik der Sitten als kritische Philosophie?

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Für die Rechtslehre folgt daraus, dass sie aus der Perspektive der allgemeinen Grundlegung von Praxis als Schritt einer Anwendung erscheint, insofern in ihr versucht wird, im Anschluss an die Grundlegung eine apriorische Erkenntnis aus Begriffen bezüglich der Freiheit der Willkür zu gewinnen.54 Aus der Perspektive des positiven Rechts aber ist die Rechtslehre dessen Voraussetzung, sofern in einer Metaphysik der Sitten die Bedeutung von Recht bestimmt werden kann, ohne auf inhaltliche Rechtsbestimmungen, etwa einzelne Gesetze eines jeweils geltenden Rechts, zurückzugreifen. Eine unmittelbare Konsequenz dieser transzendentalphilosophischen Grundlegungs- und kritisch-metaphysischen Anwendungsstruktur ist eine andere Verwendung der Begriffe Moral, Sittlichkeit, Ethik, Tugend und Recht als die in der Gegenwart oft Übliche. So wird in der Gegenwart der Begriff der Ethik oft verbunden mit einem bestimmten, zu regelnden Bereich. Als Beispiele seien hier die Begriffe der Wirtschaftsethik, der Bioethik, der Technikethik, aber auch der Rechtsethik genannt.55 Bei dieser Verwendungsweise deutet der Begriff der Ethik an, dass die einzelnen Lebensbereiche der Wirtschaft, der Biologie, der Technik und des Rechts normiert werden sollen. Im Recht wird dies dann durch die Frage nach dem gerechten Recht ausgedrückt, deren Beantwortung die Aufgabe der Rechtsethik sei.56 Moral und Sittlichkeit dagegen gelten als Bereich der persönlichen Überzeugung und privaten Wertung. In diesem Rahmen spielen dann Tugend(-en) in dem Sinne eine Rolle, indem sie als Wertvorstellungen der individuellen Lebenseinstellung gelten.57 Mit Kant ist Ethik dagegen synonym mit der Tugendlehre zu verwenden, dem Gebiet der Ausbildung einer je eigenen, individuellen Lebenshaltung und der auf dieses individuelle Leben zugeschnittenen Wertungen.58 Dabei werden nicht Normierungen auf einem bestimmten, institutionalisierten Gebiet thematisiert, sondern das individuelle Verhältnis eines Einzelnen zu bestimmten, ihn in seinem je eigenen Handlungsvollzug betreffenden gesellschaftlichen Rollenangeboten oder institutionalisierten Problemen oder zu seinem ganz individuellen sozialen Leben mit all seinen Verbindungen zu anderen Menschen in den Mittelpunkt der Wertung gerückt. Moral ist damit Oberbegriff von Recht und

Kisser, Selbstbewusstsein und Interaktion, 31–42, eingehend für Aristoteles Metaphysik. 54 Für die Ethik siehe Esser, Kants Tugendlehre, 241–254. 55 Zum Begriff der Rechtsethik umfangreich vgl. von der Pfordten, Rechtsethik. 56 Vgl. etwa Radbruch, Rechtsphilosophie, 136. 57 Dieser Verwendungsweise, insbesondere im Hinblick auf die Rechtsethik, neigen auch Canaris und Dworkin zu. Radbruch, Rechtsphilosophie, 136 und 141, als juristischer Rechtsphilosoph sieht zum Beispiel auch entgegen Kant in der Ethik das Ziel des Rechts. Einen Überblick über zahlreiche denkmögliche Verhältnisse von Recht, Ethik und Moral bietet Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, 134–197. 58 Kant, MdS, 214, 218 f. und 395.

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IV. Kants kritische Rechtsphilosophie

Tugend beziehungsweise dem mit Tugend synonym verwendeten Begriff der Ethik. Recht und Tugend beziehungsweise Ethik sind Teilgebiete der Versinnlichung der Moral, die das gesamte Gebiet der Kausalität aus Freiheit umfasst. Moralisches Urteilen bedeutet dann, nicht eine einzelne Handlung oder mögliche Dilemmata bei einer bestimmten Handlung zu beurteilen, sondern primär überhaupt auf dem Gebiet des Praktischen zu urteilen.59 Der Begriff der Sittlichkeit wird dabei oft synonym mit dem der Moral verwendet,60 teils deutet der Begriff der Moralität aber auch einen Zusammenhang von Sittlichkeit und Ethik als individueller Lebensführung an.61 Die kritisch-metaphysische Rechtslehre jedenfalls bedarf keiner Ethik, um die Wertungen des Rechts zu hinterfragen. Denn dies kann im Ausgang von der kritischen Bedeutungsreflexion erfolgen, die mit dem Rechtsimperativ den rechtlichen Maßstab bietet, in einem Bezug auf ein positives Recht, das heißt ein Recht, das sich selbst faktisch als Recht ausgibt, dessen behaupteten Rechtscharakter zu überprüfen.62 3. Recht aus Freiheit: Die Bedeutungsreflexion von Recht und die Realität der Rechtsbedeutung Wie wird nun dieser kritisch-metaphysische Rechtsbegriff, die Bedeutung von Recht als Anwendung der Grundlegung von Praxis, entwickelt? Dazu muss ein spezifisch philosophisch-rechtliches Verständnis der Verhältnisse von Handlung, Norm und Verbindlichkeit aus dem Grundlegungsteil heraus entwickelt werden. Gelingt dies, so ist eine im Unterschied zur Grundlegung von Praxis spezifisch rechtlich-autonome Verbindlichkeit gefunden. Die Kausalität aus Freiheit wird so zu einem Recht aus Freiheit transformiert und damit versinnlicht63 beziehungsweise in idealistischer Terminologie „schematisiert“. Der kritisch-metaphysische Rechtsbegriff wird in dem Abschnitt „Was ist Recht?“ entwickelt, indem die Rechtsbedeutung aus einer Transformation der praktischen Begrifflichkeit der Grundlegung erschlossen wird. Dieser Abschnitt wird nun Schritt für Schritt diskutiert, um zu zeigen, wie die praktische Begrifflichkeit und praktische Realität der Grundlegung zu einer Rechtsbedeutung ausdifferenziert werden und so deren Anwendung bilden. Nach einer ersten An-

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Z. B. Kant, MdS, 214. Z. B. Kant, GMS, 419 f. und 435. 61 Z. B. Kant, KrV, A 809 f./B 838 f. 62 Z. B. Kant, MdS, 214 in Verbindung mit 229 f. 63 Kerstings Position zu einer solchen hier entwickelten Transformation bleibt unklar. Einerseits scheint er eine solche vorauszusetzen, etwa wenn davon die Rede ist, dass das reine Privatrecht ein ausdifferenziertes vernunftrechtliches Prinzip darstellt, was aber nicht weiter ausgeführt wird, Kersting, Kant über Recht, 80. Andererseits soll die Rechtslehre Kants allein aus der KrV heraus in Kombination mit einem rationalen Egoismus verständlich sein, Kersting, Kant über Recht, 196. 60

3. Recht aus Freiheit

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wendung des so erschlossenen Rechtsimperativs wird auf dessen Wirklichkeit eingegangen. a) Recht als spezifischer, praktischer Begriff Zunächst wird klargestellt, dass der Begriff des Rechts im Hinblick auf die in der Grundlegung begründete praktische Realität eingeführt wird und nicht auf die theoretische der Kritik der reinen Vernunft: „Der Begriff des Rechts sofern er sich auf eine ihm korrespondierende Verbindlichkeit bezieht (d.i. der moralische Begriff derselben), [. . .].“64

Denn Recht wird in ein Verhältnis zur Verbindlichkeit gesetzt, die der freien Handlung, so das Ergebnis der Grundlegung, erst ihre Bedeutung gibt.65 Nun kommt es darauf an, ob auch eine spezifisch rechtliche Verbindlichkeit gewonnen werden kann. Das gelingt, wenn ein spezifischer, praktischer Rechtsbegriff entwickelt werden kann. Die Abgrenzung des Begriffs des Rechts als Begriff eines praktischen Verhältnisses von anderen praktischen Verhältnissen beginnt damit, dass, so Kant, „[Der Begriff des Rechts . . .] erstlich nur das äußere und zwar praktische Verhältnis einer Person gegen eine andere [betrifft], sofern ihre Handlungen als Fakta aufeinander (unmittelbar, oder mittelbar) Einfluß haben können.“66

Es geht im Recht, anders als in der Grundlegung, nicht mehr um eine teilnehmende Perspektive einer Willensbestimmung und anders als in der Tugend nicht um Maximenbildung und Willkürbestimmung, also den Handlungs- und Lebenszusammenhang für das individuelle Leben des Handelnden. Thematisiert wird vielmehr eine unter der Voraussetzung der praktischen Realität vorzunehmende Beobachtung der Beziehung zweier oder mehrerer Handlungen und Handelnden als „Fakta“ aufeinander; also um das, was man im Alltag unter dem sozialen Leben versteht. „Fakta“ bedeutet dabei, dass die Handlung als Ausdruck einer Willkürbestimmung betrachtet wird und ist in dieser Hinsicht nicht zu verwechseln mit dem „Factum der Vernunft“ aus der Kritik der praktischen Vernunft. Dieses bezeichnet den obersten Konstruktionspunkt einer gegenüber der Erfahrung eigenständigen praktischen Wirklichkeit, deren konkreter Vollzug wiederum von dem Willen des Handelnden abhängt. Insoweit ginge es dort um die Vernunft- beziehungsweise Willensbestimmung qua Denkhandlung, die in der Übernahme des moralisch als richtig Erkannten in den Willen eines Handelnden besteht, z. B. indem der Handelnde das Sittengesetz sich zur Maxime setzt.67 64 65 66 67

Kant, MdS, 230. Vgl. Abschnitt IV. 1. a) dieser Arbeit. Kant, MdS, 230. Vgl. Abschnitt IV. 1. b) dieser Arbeit.

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IV. Kants kritische Rechtsphilosophie

In der Rechtslehre ist der Terminus „Fakta“ dagegen zunächst in einem theoretischen Sinne und damit als erfahrungsgebunden erkennbar zu verstehen. Mithin tritt an dieser Stelle insofern eine sinnliche Bedingung auf, als dass es im Recht um raum-zeitlich manifestierte und insoweit reale Handlungen und ihre Effekte geht, das heißt die Ausführung der Willkürbestimmung, und nicht mehr um die Denkhandlung einer Willensbestimmung. Das Kollidieren von solchen praktischen Fakta setzt zwar mit Kant denknotwendig eine freie Willkür (deren Bedeutung sich der Grundlegung verdankt) von Personen und damit zurechnungsfähigen Stellen voraus. Aber spezifisch rechtliche Probleme entstehen erst, wenn mehrere freie Willkürbestimmungen weiter zu realisieren versucht werden. Vor allem entstehen rechtliche Streitigkeiten dann, wenn die gleichartigen Willkürbestimmungen Mehrerer kollidieren. Zur Verdeutlichung sei hier ein Beispiel genannt: Wollen etwa Mehrere einen Gegenstand nutzen, und dies womöglich noch auf dieselbe Art, z. B.wenn Mehrere ein und dieselbe Orange jeweils ganz essen wollen, so kann nur eine Person ihre bereits bestimmte Willkür durchsetzen. b) Die handlungstheoretische Spezifikation als relationale Willkürbetrachtung In handlungstheoretischer Hinsicht wird der Rechtsbegriff dadurch bestimmt, dass er auf die Willkür zielt und damit auf die Realisierung einer bestimmten Vorstellung, was durch entsprechende Realhandlungen dokumentiert und so erkennbar wird: „Aber zweitens bedeutet er nicht das Verhältnis der Willkür auf den Wunsch (folglich auch auf das bloße Bedürfnis) des anderen, wie etwa in Handlungen der Wohltätigkeit oder Hartherzigkeit, sondern lediglich auf die Willkür des anderen.“68

So wird die Willkür von dem Wunsch unterschieden, der im Gegensatz zur Willkür nicht in das Stadium eines raum-zeitlichen Realisierungsversuchs reicht.69 Im Recht geht es so um das Verhältnis zweier oder mehrerer bestimmter Willkürstellen zueinander und nicht darum, dass etwa ein Handelnder das zu antizipieren oder zu verhindern sucht, von dem er ohne weitere äußere Anhaltspunkte erwartet, dass der andere es erwartet. Die weitere Bestimmung des Rechtsbegriffs erfolgt durch eine Betrachtung des Verhältnisses der Willkürstellen zueinander. „Drittens, in diesem wechselseitigen Verhältnis der Willkür kommt auch gar nicht die Materie der Willkür, d.i. der Zweck, den ein jeder mit dem Objekt, was er will, 68

Kant, MdS, 230. So Kant, MdS, 230: „Aber zweitens bedeutet er nicht das Verhältnis der Willkür auf den Wunsch (folglich auch auf das bloße Bedürfnis) des anderen, wie etwa in Handlungen der Wohltätigkeit oder Hartherzigkeit, sondern lediglich auf die Willkür des anderen“. Vgl. IV. 1. a) dieser Arbeit. 69

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zur Absicht hat, in Betrachtung, z. B. es wird nicht gefragt, ob jemand bei der Ware, die er zu seinem eigenen Handel von mir kauft, auch seinen Vorteil finden möge oder nicht, sondern nur nach der Form im Verhältnis der beiderseitigen Willkür, sofern sie bloß als frei betrachtet wird, [. . .].“70

Demnach werden im Recht die Willkürstellen unabhängig von äußeren Vorgaben, sogar unabhängig vom konkreten Inhalt der erfolgten Willensbestimmung relational gleich in ihrem Verhältnis zueinander betrachtet.71 Die hier einschlägige Freiheit ist als Freiheit der realen Handlung zu verstehen, da sie auch als Freiheit des Anderen eingeführt wird und diese ja ebenfalls die freie Willkür des anderen bedeutet. Diese Freiheit im kantischen Sinne bezeichnet nun nicht ein allgemeines Recht, zu tun und zu lassen, was man will. Stattdessen bedeutet mit Kant die Freiheit im Rechtssinne stets eine gleiche Restriktion jeder Willkür. Handlungsfreiheit bezeichnet dann weder einen Kernbereich der Persönlichkeit noch die absolute oder vorrechtlich angenommene Handlungsfreiheit des Einzelnen, sondern eine gleiche relationale Freiheit der faktischen Handlung. Deren konkreter Umfang ist unter Hinzunahme weiterer sinnlicher Bestimmungen sukzessiv und auch situativ zu bestimmen – aber in jedem Fall für alle Rechtssubjekte mit gleicher Aufmerksamkeit bezüglich ihrer jeweiligen relationalen Handlungssituation wie auch mit einem insoweit gleichen, angemessenen Entscheidungsergebnis.72 c) Die Normierungskraft des Rechtsimperativs Die Transformation aus der Grundlegung mündet im Rechtsimperativ: „Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann.“73

Der Rechtsimperativ als Ergebnis einer Bedeutungsreflexion auf den Begriff des Rechts innerhalb der Praxis fasst die ausdifferenzierten praktischen Begriffe der Grundlegung zusammen und gibt damit eine spezifische Bedeutung von 70

Kant, MdS, 230. Eine Konsequenz dieser Abgrenzung zu Grundlegung und Tugendlehre durch die Transformation der dort gewonnenen praktischen Begrifflichkeit hin zu einem Rechtsbegriff zeigt das Beispiel der nur bedingt überzeugenden Kant-Rezeption bei der Interpretation des Art. 1 Abs. 1 GG im deutschen Recht, vgl. V. 4. b). 72 Der letzte Halbsatz des obigen Zitates, „sofern sie bloß als frei betrachtet wird“, darf nicht zu dem Missverständnis führen, dass die Rechtsidee nur eine regulative Idee ist. Denn eine solche drückt im Bereich der Theorie aus, dass die einzelnen empirischen Erkenntnisse aufeinander bezogen werden. Hier geht es aber um den Rechtsbegriff, und damit um die Ausgestaltung der praktischen Realität, die durch Handlungen gekennzeichnet ist. Insofern erinnert der letzte Halbsatz daran, dass hier eine praktische Perspektive eingenommen wird. Zu deren Realität vgl. IV. 1. b) und IV. 3. e). 73 Kant, MdS, 230. 71

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IV. Kants kritische Rechtsphilosophie

Recht an. Es handelt sich bei diesem spezifischen Freiheitsgesetz um eine Relationsregel,74 die einen Gegenstandsbereich inhaltlich soweit bestimmt, dass mit ihr der Anwendungsbereich und die Grenzen für den rechtlichen Gegenstandsbereich bestimmt werden können. Der Rechtsimperativ grenzt als Relationsregel innerhalb der praktischen Realität das Recht nach außen von der Ethik beziehungsweise der Tugendlehre als Entwicklung einer individuellen Lebenshaltung ab. Nach innen setzt der Rechtsbegriff eine Grenze zum Unrecht, indem er die minimale Sachstruktur von Recht als freie, allgemein denkbare Beziehung von unterschiedlichen Willkürbestimmungen entwickelt.75 Die hier stattfindende Kombination von „jedermanns Freiheit“ und „allgemeinen Gesetze“ kann damit so verstanden werden, dass die kollidierenden Willkürstellen durch die rechtliche Entscheidung zum Erhalt ihrer weiteren handelnden Interaktionsfähigkeit bestimmt werden sollen. Denn ebenso wie im Grundlegungsteil muss die Handlungsstruktur erhalten werden, was ein nichtempirisches, intelligibles Element voraussetzt. Dieses ist in äußerster Formalität die Allgemeinheit. Sie muss in der Grundlegung zur Gewinnung von Handlungshoheit denknotwendig vorausgesetzt werden.76 Im Unterschied dazu wird sie auf dem Gebiet des Rechts zum Erhalt der Interaktionsfähigkeit der Handelnden in ihrem Verhältnis zueinander in Anspruch genommen.77 74 „Relationsregel“ wird hier im Sinne einer Philosophie der symbolischen Formen verstanden, der zufolge gedankliche Relationsbeziehungen erst kulturelle Praxen wie die unterschiedlichen Erkenntnisbereiche der Mathematik, Physik und Chemie aber auch die unterschiedlichen Handlungsbereiche wie Ethik und Recht unterscheidbar machen. Relationsregeln ermöglichen es, die Fülle der möglichen Einzelfragen mittels einer Grundoperation aufeinander zu beziehen und so das gemeinsame Prinzip ihres Ursprungs im Denken bewusst zu erfassen. Unter dieser Perspektive kann den in Einzelfragen verwendeten Repräsentationsverhältnissen dann ihre spezifische, etwa rechtliche, Bedeutung verliehen werden und als solche auch dargestellt werden. Vgl. dazu auch Cassirer, Symbolische Formen. 1. Teil, 44 und 49. Mit dem Rechtsimperativ identifiziert die kritische Rechtsphilosophie die Grundoperation von Recht überhaupt. Insofern handelt es sich bei der kritischen Rechtsphilosophie Kants um das Muster von Vernunftrecht. Die Bedeutung von Recht wird reflexiv, aber denknotwendig erschlossen und kann als Vernunftregel formuliert werden. Ihre Realisierung durch menschliches Handeln erscheint dann als prinzipiell unabschließbare Aufgabe, die mannigfaltige empirische Ausdrucksformen annehmen kann. Um diesen Handlungscharakter zu verdeutlichen wird in dieser Arbeit überwiegend von dem Rechtsimperativ der kritischen Rechtsphilosophie gesprochen und nicht so sehr von der kantischen Rechtsidee, der kantischen Rechtsregel oder dem kantischen Rechtsgesetz. 75 Dass in obigem Zitat von „deren Maxime“ die Rede ist, bedeutet nicht, dass Ethik und Recht hier zwingend verknüpft werden. Sondern damit wird nur ausgedrückt, dass eine Handlung rechtsförmig sein kann („Eine jede Handlung ist recht, die . . .“, d. V.) und zugleich möglicherweise auch tugendhaft („oder nach deren Maxime . . .“, d. V.). 76 Siehe IV. 1. dieser Arbeit. 77 Anders als die kritische Rechtsphilosophie Kants dagegen der systemtheoretische Ansatz von Luhmann, Recht der Gesellschaft, 49–51 und 95, der ausgehend von der Grundunterscheidung des Rechtssystems, nämlich Recht/Unrecht, ohne eine eigenstän-

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Der Rechtsimperativ ermöglicht es so, jenseits des positiven, durch Verfahren oder bloß faktisch durch Macht gesetzten Rechts, Recht aus der Innenperspektive, ohne Rückgriff auf nunmehr externe Maßstäbe gesellschaftlicher, ökonomischer oder sonstiger Art zu bestimmen, sowie selbst zu kritisieren, indem jeweils eine Grenzbestimmung dieser externen und internen Perspektiven vorgenommen werden kann und so ihre Schnittpunkte sichtbar werden. Diese allgemeine Einheitsbildung ergibt sich im Unterschied zu der juristischen Methodenlehre nicht mehr durch eine Systematisierung im Sinne einer theoretischen Einheitsbildung einer gegebenen Mannigfaltigkeit von Gesetzen. Aus dieser spezifisch praktisch-rechtsphilosophischen Perspektive lassen sich dann auch Rechtswerte beziehungsweise -prinzipien setzen beziehungsweise (selbst-)kritisieren.78 d) Eine erste Anwendung des Rechtsimperativs am Beispiel des Vertrauensschutzes Ob und wie der so als Relationsregel eines Gegenstandsbereiches rekonstruierte Rechtsimperativ seine normative Kraft in praktischer Hinsicht weiter entfalten kann, belegen vor allem seine Bezüge auf die Kant-Rezeption im fünften Kapitel wie auch auf gegenwärtige Problemlagen im sechsten Kapitel. Ein beispielhafter, hier bereits möglicher erster konkreter Ertrag, der aus einer solchen in Distanz zum positiven Recht erfolgten Bedeutungsreflexion gezogen werden kann, ist eine im Unterschied zur Wertungsjurisprudenz validere Begründung von Rechtsprinzipien, wie an dem Beispiel des Vertrauensprinzips kurz gezeigt wird. Das Vertrauensprinzip wird im Rahmen der Wertungsjurisprudenz mit dem Verweis darauf begründet, dass jede zivilisierte Rechtsordnung ein solches kenne.79 Aus diesen vielen Fällen in den verschiedenen Rechtsordnungen wird dann geschlossen, dass es sich um ein Rechtsprinzip handelt.80 Da im Bereich der Praxis aber als Gegenargument schon einfach genügt, es anders zu machen, ist diese Argumentation nicht sehr tragfähig. Darüber hinaus ist durch den Verweis auf andere Rechtsordnungen noch nicht die Richtigkeit beziehungsweise die Rechtmäßigkeit dieses Prinzips in der eigenen Rechtsordnung begründet. dige Bedeutungsreflexion auf den Begriff des Rechts dessen Gehalt nicht wesentlich intellektuell, sondern allein über den Bezug seiner Verwendung in konkreten historischen Rechtsordnungen inhaltlich bestimmt. 78 Vgl. Kapitel V. dieser Arbeit für die Rezeption und Kapitel VI. für gegenwärtige Anwendungen. 79 Im deutschen Recht kann etwa an das venire contra factum proprium als Materialisierung der Generalklausel des § 242 BGB (Treu und Glauben) gedacht werden. 80 Canaris, Systembegriff und Systemdenken, 40 und 48. Für die Rolle des Vertrauensprinzips in der Rechtsprechung des BGH detailliert Canaris, Die Vertrauenshaftung im Lichte der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs.

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IV. Kants kritische Rechtsphilosophie

Nach der Einklammerung der gegebenen Rechtslage steht eine solche induktive Begründung nun nicht mehr zu Verfügung. Dafür bietet die Bedeutungsreflexion eine tragfähigere Begründung, die von der Handlung ausgeht. Das Vertrauensprinzip wird mit dem Rechtsimperativ dadurch begründet, dass dem verkörperten Handeln einer bestimmten Willkür – eben weil sie im Zusammenhang mit anderen ebensolchen bestimmten Willkürstellen steht –, ein Erklärungswert zukommt, der sich nicht in einer unmittelbar deiktischen Geste erschöpft, sondern in einem interaktiven Handlungszusammenhang steht, der sich dann im zu entscheidenden Fall zu einer konkreten subjektiven Rechtsposition verdichten kann.81 Diese Art des Vertrauensschutzes ist dabei spezifisch rechtlich, wie der Unterschied zu einer ethischen Begründung des Vertrauensprinzips zeigt. In der ethischen Diskussion wird oft das Verbot des falschen Versprechens für den Einzelnen als Norm genannt. So wird in einer Übertragung dieser ethischen Norm auf das Recht ebendieses Verbot des falschen Versprechens teils als Rechtsprinzip vorgestellt.82 Dabei wird aber nicht bedacht, dass im Recht nicht einfach das Handeln und die Willens- und Willkürbestimmung des Einzelnen normiert werden kann. Denn Recht im Sinne des Rechtsimperativs zielt auf das Problem der Verhältnisbestimmung von mehreren handelnden Personen (bereits bestimmter Willkürstellen), was etwa durch den interaktiven Sinngehalt des Vertrauensschutzes ausgedrückt werden kann, nicht aber durch ein rein individuell adressiertes Lügeverbot. Im Unterschied zum Verbot des falschen Versprechens, das an einen Einzelnen gerichtet ist und so ein ethischer Anspruch an den Einzelnen für sein je eigenes Leben bleibt, ist der Vertrauensschutz dagegen ein Rechtsprinzip, der die praktische Konstellation, in der die Handelnden zueinander stehen, in den Blick nimmt. Ob ein falsches Versprechen eines Einzelnen dem Prinzip des Vertrauensschutzes zuwiderläuft, ist daher eine recht81 Dabei kollidieren verschiedene Prinzipien in einer konkreten Entscheidung nicht, wie dies etwa Sieckmann, Regelmodelle und Prinzipienmodelle, 20 und 241 f., für ein Prinzipienmodell des Rechts annimmt. Denn Prinzipien sind keine eigenständigen, isoliert erkennbaren, dingähnlichen Entitäten, denen eine äußere Realität entspricht, sondern Darstellungsmittel des Rechts. Damit sind sie ein Element der Realisierung von Recht und in einer konkreten Entscheidung anders bedeutsam als in einer anderen konkreten Entscheidung. Auch die Begründung der Geltung des Vertrauensprinzips durch Luhmann, Recht der Gesellschaft, 559, aus der Funktion des Rechts, mit Unsicherheiten umzugehen und stabilisierend zu wirken, wenn jede Zukunft sich allein im Medium des Wahrscheinlichen und Unwahrscheinlichen darstellt, überzeugt normativ nicht. Denn damit wäre das Vertrauensprinzip auf die Fälle zu beschränken, in denen man sich auf geltendes Recht verlassen kann und nicht berücksichtigt, dass das Vertrauensprinzip gerade auch in den gesetzlich nicht geregelten Fällen seine Wirkung entfalten können muss, wie zum Beispiel die Unterscheidung bei Canaris, Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, 3, zwischen Vertrauenshaftung, die zur Begründung einer Pflicht auch praeter legem führen kann und dem gutgläubigen Erwerb nach § 932 BGB, der zum Rechtsverlust führt, deutlich macht. 82 So Höffe, Kategorische Rechtsprinzipien, 179.

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liche Frage des Vertrauensschutzes in einer bestimmten Situation und kann nicht pauschal dadurch beantwortet werden, dass ein Verbot des falschen Versprechens als kategorisches Rechtsprinzip ausgegeben wird.83 Um im Sinne der kritischen Rechtsphilosophie rechtlich zu denken, darf und muss eine bestimmte individuelle Lebenshaltung genau nicht eingenommen werden. Anders auch als aus der Perspektive von Dworkins Ansatz, der die individuelle Einnahme eines Standpunktes der „liberal tolerance“ zur Voraussetzung einer gelungenen Rechtsentscheidung beziehungsweise einer gelungenen Anwendung des basalen Rechts auf equal concern and respect macht, verlangt die kritische Rechtsphilosophie nicht, dass rechtliches oder rechtsphilosophisches Denken voraussetzt, dass derjenige, der dies tut, sein Handeln dem kategorischen Imperativ unterwirft. Denn dieser bietet zwar den Ausgangspunkt für eine praktische Realität in begrifflicher Hinsicht.84 Die rechtliche Realität erfordert aber nicht die Realisierung dieser denkmöglichen Praxis für das eigene Leben. Vielmehr reicht das Erkennen dieser praktischen Möglichkeit insoweit aus, um die Bedeutungsreflexion des Rechts in Form einer Transformation der praktischen Grundlegung hin zu einem Teilbereich einer kritisch-metaphysischen Moralphilosophie, dem Recht, gedanklich nachzuvollziehen.85 Von diesem Punkt an bietet und erfordert das Recht aber ein eigenes Realisierungsmittel: den Zwang – ein Mittel, das genau auf dem Gebiet der persönlichen Lebenshaltung, insbesondere der entsprechenden praktischen Denkhandlungen, wie etwa Maxi83 Ein Beispiel für die praktische Konsequenz dieses Unterschieds bietet die Lügemöglichkeit der Schwangeren auf die Frage nach ihrer Schwangerschaft im Bewerbungsgespräch. Der Arbeitgeber hat nach europäischer Rechtsprechung, z. B. EuGH NJW 2000, 1019 (Silke-Karin Mahlberg ./. Mecklenburg-Vorpommern), kein schützenswertes Vertrauen dahingehend, dass eine so persönliche Frage ihm gegenüber wahrheitsgemäß beantwortet wird – vor allem dann, wenn die Arbeitsmöglichkeit der Antwortenden und damit auch ihr Zugang zu Lebensressourcen davon abhängt. Diesem Ergebnis europäischer Rechtsprechung muss von einem Standpunkt aus widersprochen werden, demzufolge es sich bei dem Verbot falscher Versprechen um ein aus der Ethik gewonnenes kategorisches Rechtsprinzip handelt. Denn dann darf die Schwangere nicht lügen, was für die kantische Tugendlehre ein angemessenes Ergebnis wäre; nicht aber für die kantische Rechtslehre, die eben das Verhältnis von Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu betrachten hat und dabei auch die Handlungsfähigkeit der Schwangeren als Arbeitnehmerin gegenüber Arbeitgebern, das heißt am Arbeitsmarkt, schützen muss und nicht die ethische Integrität des je eigenen Lebens der jeweiligen Arbeitnehmerin. Daran ändert auch die Ablehnung Kants eines Recht auf Lüge nichts, Kant, Über ein vermeintliches Recht, aus Menschenliebe zu lügen, 423 f., da bei der falschen Antwort auf eine unberechtigte Frage, die nur mit ja oder nein zu beantworten ist, kein Recht auf Lüge beansprucht wird, sondern ein Recht auf Unterlassen der Frage. Für den Unterschied zwischen juridischem Vertrauensprinzip und ethischem Lügeverbot in nuce vgl. Kant, MdS, 238 Fußnote. 84 Vgl. IV. 1. a) dieser Arbeit. 85 Auch bietet erst diese Bedeutungsreflexion mit dem Ergebnis eines autonomen Rechtsbegriffs die Möglichkeit, diesen zwar faktisch zu negieren, aber dabei dennoch in Anspruch zu nehmen. Damit ist auch eine rechtliche Irrtumsmöglichkeit geschaffen, weil gelungene Affirmation und faktischer Vollzug getrennt werden können.

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IV. Kants kritische Rechtsphilosophie

menbildung oder Setzung des kategorischen Imperativs für das eigene Handeln, wenig ausrichten darf und kann. e) Zur Versinnlichung der Rechtsbedeutung Die Durchsetzung dieser Rechtsstruktur im Einzelfall ist mit Kant durch den äußeren, körperlichen Zwang möglich. Denn Recht und Zwang sind in dieser Konzeption analytisch miteinander verknüpft. Dies, da allein der Zwang die Kollision bereits bestimmter, körperlich fixierter Willen von außen aufbrechen kann, ohne die äußere Grenze des Rechts zur Ethik zu überschreiten.86 Der Zwang knüpft allein an der körperlichen Manifestation des Willens in einem bestimmten Fall an. Recht führt damit nicht automatisch zum Frieden, wie dies etwa suggeriert wird, wenn man an Kants kurze Abhandlung „Zum Ewigen Frieden“ denkt,87 zielt doch diese Abhandlung beispielsweise auf eine weltweite, friedliche Ordnung der Völker als Handlungssubjekte mittels eines aus damaliger Perspektive noch zu schaffenden Völkerrechts. Auch heute wird die Friedensschrift als ein geradezu tagesaktueller Beitrag zu Fragen der Legitimation von Institutionen wie der UNO und der Ablehnung von Krieg herangezogen.88 Wird aber die Rechtsbedeutung zum Ausgangspunkt solcher Überlegungen genommen, so bedeutet Recht immer schon Zwang und damit aus Sicht der betroffenen Staaten und Bürger auch Gewalt. Recht führt damit entgegen möglicher Intuitionen nicht zu einem zwangsfreien Frieden. Dieses Spannungsverhältnis von Recht, das mit Zwang einhergeht, und dem in jedem Fall durch das Recht erhofften Frieden beziehungsweise friedlichen Konfliktlösung kann mit dem Rechtsimperativ unter der Perspektive der Frage nach dem legitimen Zwang aufgelöst werden. Recht und Frieden ergänzen sich, wenn legitimer Zwang ausgeübt wird. Die Legitimation beruht auf der Einhaltung der inneren wie der äußeren Grenzen des Rechts,89 die damit auch in der Rechtsrealisierung ihre Bedeutung behalten. So ist aus der kantischen Theorie auch kein eindeutiges Statement zu der Frage nach der Rechtfertigung eines von der Charta der Vereinten Nationen nicht erlaubten Durchbrechens des Gewaltverbotes abzuleiten. Denn liest man die Friedensschrift vor dem Hintergrund der Metaphysik der Sitten, so statuiert sie kein absolutes, nie zu durchbrechendes Gewaltverbot. Vielmehr verhandelt sie die Frage, wie der Zwang eines Staates gegen einen anderen kontrollierbar gemacht werden kann. Der kantische Vorschlag ist ein aus damaliger Sicht noch 86 87 88 89

Vgl. Kant, MdS, 231. Zur Strafzwecklehre siehe V. 4. b) dieser Arbeit. Etwa Höffe, Humanitäre Interventionen?, 168. Vgl. IV. 3. c) dieser Arbeit.

4. Rechtliche Freiheit und rechtliche Gleichheit

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zu schaffendes Völkerrecht, für das ein System gegenseitigen Zwangs außerhalb seiner Perspektive lag und das daher auch eine solche wechselseitige Zwangseinwirkung ablehnt – aber schon damals um den Preis eines Kohärenzproblems mit dem Rechtsbegriff, dem zufolge Recht und Zwang stets miteinander verknüpft sind. Jenseits der in der Friedensschrift vorgeschlagenen Verfahren ist es aber durchaus auch mit dem Kant der Rechtslehre denkbar, dass ein Staat selber ebenso wie eine kritische Öffentlichkeit mit dem Maßstab des Rechtsimperativs prüfen kann, ob der Einsatz von Zwangsmitteln vor dem Hintergrund des Rechtsimperativs auch gegen andere Staaten als Handlungssubjekte legitimiert werden kann. Das Ergebnis ist aber jeweils, ebenso wie die Wahl des Zwangsmittels, wie es sich für eine dann im engeren Sinne wirklich juristische Frage gehört, eine Frage des Einzelfalls, eine Frage der praktischen Urteilskraft.90 4. Rechtliche Freiheit und rechtliche Gleichheit Keine Frage des Einzelfalls, sondern Teil der Sachstruktur einer kritischen Rechtsphilosophie ist dagegen das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit. Die kritische Bedeutungsbestimmung von Recht ergibt, dass Freiheit und Gleichheit nur in ihrem Zusammenhang sinnvoll zu denken sind.91 Mit der Umformulierung eines bekannten kantischen Satzes, demzufolge Gedanken ohne Inhalt leer sind, Anschauung ohne Begriffe aber blind sind,92 lässt sich daher auf dem Gebiet der Rechtsphilosophie sagen, dass eine Freiheit ohne Gleichheit blind, eine Gleichheit ohne Freiheit aber leer ist. In der Kritik der reinen Vernunft möchte Kant durch diese Formel verdeutlichen, dass die zu Zwecken theoretischer Reflexion getrennt zu betrachtenden Erkenntnisvermögen des Denkens und der Anschauung nur gemeinsam einen Gegenstandsbezug im Sinne eines Zusammenhanges zwischen Erkennendem und Erkenntnisobjekt gewährleisten. Mit der Übertragung dieser Formel in die Rechtsphilosophie ist dagegen nun nicht gemeint, dass der Gegenstandsbezug des Rechts durch das 90 Eine praktische Urteilskraft wird bei Kant terminologisch anders als etwa die reflektierende Urteilskraft nicht eingeführt. Mit diesem Terminus soll hier das Problem der Beurteilung des Einzelfalls bezeichnet werden, dass nicht im Rahmen einer rechtsphilosophischen Selbstverständigung über Rechtfertigungsstrategien zu lösen ist, sondern des Rückgriffs auch auf die juristischen Techniken der tatbestandsmäßigen Prüfung, der Subsumtion und der Interpretation bei der Einzelfallentscheidung bedarf. Insofern sind Spuren einer praktischen Urteilskraft in der Methodenlehre der KpV angelegt, um objektiv-praktisches Handeln auch subjektiv handelnd wirksam werden zu lassen. Allerdings meint Subsumtion unter der Perspektive der kritischen Rechtsphilosophie nicht mehr die aussagenlogische Zuordnung eines Sachverhalts im Untersatz zu einer im Obersatz stehenden Norm, sondern bedeutet die Anwendung der Relationsregel, das heißt des Rechtsimperativs, auch im denkenden Hin und Her zwischen Sachverhalt und Norm. 91 Vgl. IV. 3. c) dieser Arbeit. 92 Vgl. Kant, KrV A 51/B 75.

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IV. Kants kritische Rechtsphilosophie

Zusammenspiel von Freiheit und Gleichheit abgesichert wird, sondern dass Recht zum einen im Zusammenspiel von Freiheit und Gleichheit eine konkretere Bedeutung im Handeln gewinnt und zum anderen vor allem, dass beide Konzepte bei jeder rechtlichen Erwägung miteinander verbunden sind, da es sonst keine rechtliche Erwägung im vollen Sinne mehr wäre. Doch wie sieht dieser Zusammenhang nun näher aus? Handelt es sich um ein antagonistisches Verhältnis, wie es Ansätze nahe legen, die Individualismus, das heißt Freiheit beziehungsweise Selbstbestimmung und Kollektivismus, das heißt Gleichheit beziehungsweise Fremdbestimmung in einem stets sich widersprechenden Verhältnis sehen?93 Die Zusammenhänge von Freiheit und Gleichheit mit einer je spezifischen Bedeutung dieser Begriffe sind bei Kant zunächst entsprechend den Grundlegungs- und Anwendungsverhältnissen gleichsam vertikal auf verschiedenen Ebenen zu verorten, auf denen sich dann wiederum unterschiedliche horizontale Verhältnisse entsprechend der jeweiligen Reflexionsabsicht unterscheiden lassen. So kann vertikal zwischen einer Grundlegungsebene [a)] und deren Anwendung auf den Bereich der Tugend beziehungsweise Ethik [b)] unterschieden werden. Neben Tugend erfolgt eine weitere Anwendung der Grundlegungsebene auf den Bereich des Rechts mit dem Rechtsimperativ in Form von prinzipiellen Überlegungen [c)] sowie deren Anwendung auf konkrete Rechte [d)].94 Gezeigt wird so, wie auf jeder Ebene Freiheit und Gleichheit eine Bedeutungsverschiebung relativ zur Problemstellung erfahren und dabei stets in einem Verhältnis von funktionaler Ergänzung stehen. Funktionale Ergänzung bedeutet, dass Freiheit und Gleichheit jeweils in ihren unterschiedlichen Bedeutungen und Verhältnissen zueinander auf den verschiedenen Ebenen spezifische Aufgaben der Rechtsrealisierung zukommen, die jeweils wechselseitig aufeinander verweisen und in einer konkreten Entscheidung miteinander verschränkt sind. a) Die Grundlegungsebene der Willensbestimmung oder: Will ich handeln? Als die erste Ebene kann die Grundlegungsebene bezeichnet werden. Dieser kommt die Funktion zu, nachzuweisen, dass eine praktische Realität neben 93 So etwa die Debatte um Individualismus und Kollektivismus, vgl. Einführung, 2. dieser Arbeit sowie Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, 12–21, mit weiteren Nachweisen, die davon ausgeht, dass sich in dem im Einzelfall möglichen Wertungsgegensatz zwischen Freiheit und Kollektivismus ein Grundwiderspruch des Privatrechtsdenkens zeigt. 94 Dabei werden die letzten beiden Ebenen hier nur eingeführt. Konkrete Ausführungen und Beispiele sind wegen ihres Umfanges gesondert in den Abschnitten zur Rezeption der kantischen Rechtsphilosophie im V. Kapitel und insbesondere im abschließenden Anwendungsteil, dem VI. Kapitel, enthalten.

4. Rechtliche Freiheit und rechtliche Gleichheit

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einer theoretischen Realität sinnvoll in Anschlag gebracht werden kann. Das bedeutet in Absetzung von der theoretischen Realität, die wesentlich durch beobachtbare Kausalgesetzmäßigkeiten charakterisiert ist, einen konsistenten Handlungsbegriff abzusichern. Im Unterschied zu der theoretischen Kausalgesetzmäßigkeit, die die Zusammenhänge zwischen gegebenen Elementen in der raum-zeitlichen Welt beobachtet, geht es in dem praktischen Kausalbegriff der Handlung darum, dass aus einem gedanklichen, das heißt nicht raum-zeitlich strukturierten Raum, etwas in diesem geschaffen wird, was vorher nicht vorhanden war. Um diese spezifische Handlung, nämlich die Realisierung einer Vorstellung, zu ermöglichen, bedarf es, so wurde bereits gezeigt, einer Eigenständigkeit der idealen Vorstellungsseite neben der realen Seite des Effekts. Dazu ist eine Gleichheit in Form einer allgemeinen Gesetzlichkeit, nämlich das Sittengesetz, in Anschlag zu bringen. Um dieses zu realisieren, musste der Einzelne sich dieser Gesetzlichkeit unterwerfen, sich diese setzen. Das Sittengesetz wird dabei zum kategorischen Imperativ.95 Erst durch diesen Allgemeinheitsbezug wird die Möglichkeit der eigenen Handlungsindividualität eröffnet; anders formuliert wird die Gleichheit als Allgemeinheitsbezug immer schon in Anschlag gebracht, sofern beansprucht wird, zu handeln. Die gesetzmäßige Freiheit bedeutet dabei für den Handelnden, sich diesen Allgemeinheitsbezug bewusst zu setzen beziehungsweise zu affirmieren. Es handelt sich dabei um keine Freiheit der Wahl, sondern um die gesetzmäßige, strukturierte Freiheit zur Gewinnung von eigener Handlungshoheit.96 Damit ergibt sich auf der horizontalen Ebene ein Bedingungsverhältnis derart, dass Autonomie als Gleichheitsbezug mit Freiheit identifiziert werden kann, insofern Freiheit erst durch einen Abstraktionsprozess, das heißt dem Weglassen sinnlicher Gegebenheiten und damit mittels eines Allgemeinheitsbezuges verfügbar wird. Freiheit und Gleichheit stehen damit nicht in einem gegensätzlichen Verhältnis, sondern in einem der funktionalen Ergänzung, hier insbesondere in einem gegenseitigen Bedingungsverhältnis.97 b) Die Ebene der Tugend oder: Wer orientiert meine Maximenbildung im Rahmen der Willensbestimmung? In der weiteren Ausgestaltung des Handlungsgebietes für denjenigen, der sich den kategorischen Imperativ setzt, tritt bei der Anwendung das Problem auf, wie dieser Handelnde nun Maximen bilden kann. Der kategorische Imperativ bietet hierbei aufgrund seiner Formalität jenseits seiner Funktion als Verallgemeinerungstest bereits gegebener Maximen keine Hilfestellung, wie nicht zu95 96 97

Vgl. dazu IV. 1. a) dieser Arbeit. Dazu näher Esser, Kants Tugendlehre, 157 ff. Vgl. IV. 1. dieser Arbeit.

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IV. Kants kritische Rechtsphilosophie

letzt die umfangreiche Diskussion hierzu zeigt. Allerdings heißt dies nicht, dass die Formalität des kategorischen Imperativs nicht für das je eigene Leben fruchtbar gemacht werden kann.98 Die kritische Antwort Kants auf die Problemlage der Formalität des kategorischen Imperativs liegt in dem Theoriestück der objektiven Zwecksetzung der Tugendlehre. Bei diesen „Zwecken“ handelt es sich um objektive Zwecke. Das sind Zwecke, die nicht auf dem Belieben oder dem Gefühl beruhen. Sie haben die Funktion, die Maximenbildung des individuell Handelnden anzuleiten.99 Ethische Freiheit bedeutet dann, Maximen zu setzen, für die die Aussicht besteht, dass sie dem kategorischen Imperativ gerecht werden. Sie wird funktional durch die Gleichheit insofern ergänzt, als dass Gleichheit hier bedeutet, jeweils den Bezug auf die individuelle Lebenssituation herzustellen, das heißt die situativen Besonderheiten zu berücksichtigen. Auf dieser Ebene lässt sich daher Dworkins Konzept100 von Recht als Lebenshaltung an das kantische anschließen. Allerdings verfestigt Kant das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit nicht unmittelbar aus der Lebenshaltung zu einem Rechtsbegriff, sondern entwickelt einen von der eigenen Lebenshaltung unabhängigen Rechtsbegriff, indem Freiheit und Gleichheit unter der Relationsregel des Rechtsimperativs in einem anderen funktionalen Verhältnis zueinander stehen.101 Bei den objektiven Zwecken handelt es sich um die eigene Vollkommenheit und die fremde Glückseligkeit. Ihrer Bedeutung nach wie auch in ihrem Verhältnis zueinander weisen sie dabei wiederum ein Verhältnis der funktionalen Ergänzung der jeweils auf dieser Reflexionsebene spezifischen Bedeutung von Freiheit und Gleichheit auf: Eigene Vollkommenheit bedeutet nicht Nutzenmaximierung oder größtmögliche Akquise von Gütern, sondern eine Ausbildung der Fähigkeiten des Privat-Ichs als Mittel der Realisierung von Freiheit, zu denen die Ausbildung der eigenen Talente ebenso gehört wie die Aquise von Gütern zum Lebensunterhalt. Insofern enthält die Vollkommenheit ein Freiheitsmoment. Dieses wird wiederum durch ein Gleichheitsmoment ergänzt, nämlich durch den Anspruch der Realisierung von Freiheit in allen individuellen Handlungen, die einen Fall der zu bildenden Maxime darstellen. Fremde Glückseligkeit zu befördern bedeutet dabei nicht eine unbegrenzte Unterstützung aller Menschen bis zur Selbstaufgabe, sondern eine prinzipielle Bereitschaft zur Unterstützung von Zwecken anderer, sofern sie sittlich erscheinen. Da dieser Zweck auf das Handeln anderer zielt, enthält er insofern ein Gleichheitsmo98 Vgl. Esser, Kants Tugendlehre, die die Tugendlehre als kritische, konstruktivistische Metaphysik im Ausgang von der Formalität des kategorischen Imperativs fruchtbar macht, 249–257. 99 Kant, MdS, 395. 100 Vgl. II. 1. und II. 4. dieser Arbeit. 101 Vgl. den folgenden Abschnitt c) und IV. 3. dieser Arbeit.

4. Rechtliche Freiheit und rechtliche Gleichheit

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ment. Da aber die Sittlichkeit der anderen befördert werden soll, enthält er zugleich auch ein Freiheitsmoment.102 c) Die Ebene des Rechts oder: Das Verhältnis der bestimmten Willkürstellen Der kantische Rechtsimperativ, als Relationsregel das Ergebnis der kritischen Bedeutungsreflexion auf den Begriff des Rechts, führt ebenfalls zu einer funktionalen Ergänzung von Freiheit und Gleichheit. Im juridischen Gegenstandsbereich gilt es, das Verhältnis der Freiheit der Willkür der Einzelnen in gleicher Weise zu bestimmen, das heißt eine einzelne Willkürbestimmung gleichermaßen ins Verhältnis zu anderen freien Willkürstellen zu setzen. Denn ohne einen solchen gleichen Bezug wären die Handlungsstellen nicht in der Lage, die Realisierung ihrer Willkürbestimmung interaktiv zu verbürgen. Die Freiheit ist als die bestimmte Willkür, im Unterschied zum vorrechtlichen Willen, eine rechtliche Freiheit. Ebenso ist auch die Gleichheit keine, die sich aus einer Lebenshaltung ergibt, sondern aus der Überlegung, wie zwei bereits bestimmte Willkürstellen (Willkürhandlungen) ins Verhältnis gesetzt werden können. Die kollidierenden Willkürstellen sollen durch die rechtliche Entscheidung zum Erhalt ihrer weiteren handelnden Interaktionsfähigkeit bestimmt werden. Ebenso wie im Grundlegungsteil die Handlungsstruktur überhaupt durch die Voraussetzung der Allgemeinheit als ein nicht-empirisches, intelligibles Element erhalten wird, so wird die Allgemeinheit im Unterschied dazu auf dem Gebiet des Rechts zum Erhalt der Interaktionsfähigkeit der Handelnden in ihrem Verhältnis zueinander in Anspruch genommen. Bei der Freiheit der Willkür handelt es sich daher nicht um eine juristischpositivierte unbegrenzte Handlungsfreiheit, die durch eine vorrechtliche Freiheit im Sinne eines ursprünglichen Beliebens begründet wird. Nur eine solche immer schon einfach vorausgesetzte Freiheit des unbegrenzten Beliebens kann als Gegenstück der rechtlichen Gleichheit verstanden werden.103 Mit Kant dagegen werden Gleichheit und Freiheit bei jeder rechtlichen Entscheidung in Anspruch genommen, da sie bereits auf der Begründungsebene in einem Bedingungsverhältnis zueinander stehen. Bei der Verhältnisbestimmung darf weder die Handlungsqualität der Freiheit der Willkür negiert werden, wie dies unvermeidbar theoretische Modelle aus dem Bereich „rational choice“ und „behavioral law“ machen. Denn aus diesen Perspektiven erscheint jede intelligible Vorstellung nur als Ausdruck anschaulicher, erfahrbarer und quantifizierbarer Faktoren und wird so in ihrem intelligi102

Kant, MdS, 386–388. Für eine solche Entgegensetzung vgl. Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, 21 ff. 103

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IV. Kants kritische Rechtsphilosophie

blen Charakter verkannt. Noch darf die Realisierungsabsicht der Vorstellungsseite einer Handlung von vornherein unterbunden werden, wie dies Modelle der Gesinnungsethik vollziehen, denen stets der gute Wille für die Tat gilt. Denn die Realisierung des Rechts erfolgt allein über die Versinnlichung, über die raum-zeitlich erfassbaren Handlungsphänomene.104 Auf einer horizontalen Ebene sind Freiheit und Gleichheit wiederum zwei sich ergänzende Elemente des Rechtsbegriffs. Denn eine gleiche Verhältnisbildung wäre ohne verschiedene Handlungen und Handelnde sinnentleert. Neben die Relationsregel des Rechtsimperativs tritt so das basale Freiheitsrecht.105 Jeder Mensch soll daher nach Kant das Recht auf Rechtsfähigkeit, auf Partizipation an dem Gegenstandsbereich des Rechts haben, das heißt unter der Perspektive des Rechtsimperativs als Handelnder (der prinzipiell Vorstellungen ausbilden und realisieren kann) angesehen zu werden. Die einzelne Willkürstelle hat ein subjektives Recht auf Berücksichtigung ihrer Fähigkeit, Vorstellungen zu realisieren im Rahmen einer allgemeinen rechtlichen Freiheitsstruktur. Diese einzelnen Willkürstellen sind dabei bereits aus individueller Sicht bestimmt. Ob sie allerdings der rechtlichen Wertung entsprechend bestimmt sind oder nicht, spielt insofern eine Rolle, als dass nur Erstere als rechtlich frei bezeichnet werden dürfen. Solche, bei denen dies anhand der Realisierung oder entsprechender Realisierungsversuche nicht der Fall ist, da sie die Freiheitsrechte anderer beeinträchtigen, sind dagegen unfrei im rechtlichen Sinne und unterliegen je nach dem Grade der Unfreiheit dem rechtlichen Zwange. d) Rechtsprinzipien, ihre reflexive Begründung und konkrete Rechte Unterhalb der rechtlichen Freiheit und der rechtlichen Gleichheit auf der Ebene der Relationsregel und des mit ihr gesetzten subjektiven, für alle gleichen Freiheitsrechtes bedarf es einer weiteren Ausgestaltung des Rechts, unter 104 Aufgrund der im Rechtsimperativ berücksichtigten Versinnlichungsproblematik besteht aus Sicht der kritischen Rechtsphilosophie kein Bedarf mehr, auf Aristoteles’ Konzept der iustitia correctiva zurückzugreifen, um etwa eine Einheit des Privatrechts herzustellen, wie Weinrib, Idea of Private Law, 19 argumentiert. Vielmehr stellt aus Sicht der kritischen Rechtsphilosophie das öffentliche Recht nicht das Regime einer anderen Gerechtigkeitsart, der iustitia distributiva, dar, sondern dient der Realisierung des Privatrechts, das heißt der Relationierung von Handelnden unter Berücksichtigung des basalen Freiheitsrechtes der Handelnden. Man kann versuchen, das Zusammenspiel von Rechtsimperativ und angeborenem Freiheitsrecht in aristotelischer Gerechtigkeitsterminologie zu fassen, verlässt jedoch damit den Boden der kritischen Rechtsphilosophie und arbeitet mit definitorischen Unterscheidungen, die ohne ihren metaphysischen Hintergrund nicht normierend wirken können. 105 Vgl. Kant, MdS, 237: „Freiheit (Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür), sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht.“ Zum Verständnis von Menschenwürde als Freiheitsrecht V. 4. b) dieser Arbeit.

4. Rechtliche Freiheit und rechtliche Gleichheit

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anderem durch Rechtsprinzipien, die ebenso wie bei Dworkin der Realisierung des Rechts dienen, allerdings des Rechts im Sinne des Rechtsimperativs. Die Rechtsprinzipien müssen daher jeweils mittels der relationalen Willkürbestimmung des Rechtsimperativs unter Berücksichtigung des ursprünglichen Freiheitsrechts gewonnen werden. Freiheit und Gleichheit müssen dabei jeweils gleichermaßen berücksichtigt werden, und erscheinen anders als aus einer beobachtenden Position nicht immer schon als Teil einer Polarisierung. So kann das Vertrauensprinzip, wie bereits dargelegt, damit begründet werden, dass eine bestimmte Willkür in raum-zeitlich manifestierter Form sich erkennbar geäußert hat und genau deswegen einer anderen Willkürstelle gegenüber an diese Äußerung gebunden ist. Eine Begründung allein durch den Verweis auf Tradition oder andere Rechtsordnungen, wie sie etwa die Wertungsjurisprudenz bietet, kann dann noch ergänzend auf pragmatischer Ebene herangezogen werden.106 Ein weiteres Beispiel für die produktive, spezifisch rechtlich normsetzende Kraft des Zusammenspiels von Rechtsimperativ und Freiheitsrecht bietet die Unterscheidung von äußerem „Mein und Dein“, das heißt die Zuweisung von Gütern in die unbeschränkte Herrschaftsgewalt eines Einzelnen. Das Eigentumsprinzip wird im Rahmen einer kritischen Rechtsphilosophie weder aus einem Bearbeitungsprinzip107 noch aus einem Prioritätsprinzip108 begründet.109 Sondern das Erfordernis des Eigentums ergibt sich aus der Verkörperungsnotwendigkeit der Handlung als bestimmter Willkür. Ohne eine raum-zeitliche, auch beobachtbare Konkretisierung der Vorstellung liegt keine rechtliche Handlung vor. Eine solche Handlung liegt erst vor, wenn diese Vorstellung raum-zeitlich konkretisiert ist. Das Eigentum ordnet so die raum-zeitlich ausgeführte Vorstellung, man könnte auch sagen den Handlungserfolg, dem Handelnden, das heißt demjenigen, der die Vorstellung hatte, zu.110 Aus Sicht des Handelnden bildet das Eigentumsrecht eine Ableitung seines subjektiven angeborenen Freiheits106

Vgl. dazu IV. 3. d) dieser Arbeit. Als dessen klassischer Vertreter kann John Locke angesehen werden. Eigentum wird demnach durch die Bearbeitung des vorhandenen Materials an dem Produkt und an den zur Bearbeitung erforderlichen Gütern erworben. Vgl. dazu Locke, Two Treatises, Second Treatise, Chap. V, insbes. § 45. 108 Als dessen typischer Vertreter wird Kant (unzutreffender Weise) teils angesehen. Dem Prioritätsprinzip zufolge wird Eigentum infolge einer ersten Erwerbung durch den begründet, der ein Gut zuerst als ihm zugehörig benennt. Bei Kant jedoch kommt dem ersten Eigentumserwerb nur ein vorläufig und kein rechtlich gesicherter Status zu, wie unter anderem die Unterscheidung zwischen einem provisorischen Eigentum im Privatrechtsregime und einem peremtorischen Eigentum unter dem Regime des Öffentlichen Rechts zeigt, vgl. dazu Kant, MdS, 256 f. 109 So auch wohl Kersting, Kant über Recht, 74, der verdeutlicht, dass sich mit Kant „ein moralisch honoriges Arbeitseigentum“ nicht gegen ein „sittlich inferiores Okkupationseigentum“ ausspielen lässt. 110 Vgl. Kant, MdS, 268. 107

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IV. Kants kritische Rechtsphilosophie

rechtes, da er Anspruch auf eine ihm auch raum-zeitlich erkennbar zugeordnete Ausdrucksform seiner Vorstellung hat. Insoweit ist Kant Vertreter eines Prioritätsprinzips, da er auf den ersten Erfolg der Inbesitznahme eines bisher nicht verrechtlichten Gutes abstellt.111 Diese bietet aber nur den Einstieg in eine rechtliche Ordnung, innerhalb derer dann die Verteilung dieser verrechtlichten Güter oder ihrer Teile zu organisieren ist.112 Unterhalb solcher prinzipieller Überlegungen liegt eine Ebene, in der es um die Ausgestaltung konkreter Freiheitsrechte und Gleichheitsrechte geht. Bietet eine Rechtsordnung solche bereits an, wie etwa das deutsche Grundgesetz zum Beispiel mit Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 1 GG, so können diese Rechte vor dem Hintergrund des Rechtsbegriffs und der sich aus diesem ergebenden Prinzipien ausgelegt werden. Insoweit lässt sich sagen, dass der Rechtsimperativ als begründende Relationsregel für den Gegenstandsbereich des Rechtes im Zusammenspiel mit dem angeborenen subjektiven Freiheitsrecht den vernunftrechtlichen Maßstab für eine im Sinne der juristischen Auslegungskriterien innere systematische und objektiv-teleologische Interpretation113 konkret formulierter Rechte bildet.114 e) Das Grundlegungs- und Anwendungsverhältnis der Ebenen Die hier zu Darstellungszwecken eingeführten Ebenen stehen nicht bezugslos nebeneinander, sondern in einem Verhältnis funktionaler Ergänzung zueinander. So bedarf die Grundlegungsebene aufgrund ihrer Formalität der Ergänzung durch eine Anwendung in Recht und Ethik, die wiederum in ihrem Vollzug genau die Grundlegungsebene voraussetzen. Dieses Verhältnis ist durch einen durchgehenden Zusammenhang von Begründungs- und Anwendungsebene gekennzeichnet. In diesen Begründungs- und Anwendungsverhältnissen der verschiedenen Ebenen zueinander wird die Relation wie auch die Bedeutung von Freiheit und Gleichheit relativ zur Reflexionsabsicht erschlossen. Die für einen Theorieschritt erforderlichen Voraussetzungen werden so miteinbezogen und von der Theorie selbst thematisiert. Ein dauerhafter performativer Widerspruch im Theorieaufbau derart, dass Erkenntnisansprüche losgelöst von Erkenntnismitteln erhoben werden, ist damit ausgeschlossen. Denn die Unterscheidung von Grundlegungs- und Anwendungsebenen ermöglicht eine wech111

Vgl. Kant, MdS, 268 f. Vgl. Kant, MdS, 264 und 313. Ein gegenwärtiges Beispiel für ein solches Verteilungsinstrument ist die Steuer als Geldleistungspflicht des Einzelnen an den Staat als Kollektiv ohne konkreten Anspruch auf Gegenleistung. 113 Vgl. zu den juristischen Auslegungskriterien Larenz/Canaris, Methodenlehre, 153 ff. 114 Zur Kritik eines antinomischen Verhältnisses von Freiheits- und Gleichheitsrechten vgl. VI. 3. 112

4. Rechtliche Freiheit und rechtliche Gleichheit

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selseitige Begrenzung der Erkenntnisansprüche der jeweiligen Ebenen und eröffnet zugleich eine Korrekturmöglichkeit für den Fall eines Überschreitens der Erkenntnisgrenzen. Die Unterscheidung von Grundlegungs- und Anwendungsebene selbst entspricht dabei strukturell dem Handlungsbegriff als Realisierung einer Vorstellung insoweit, als jeweils ideale und reale Elemente aufeinander verwiesen sind. Eine solche Ebenenunterscheidung wird oft als deduktives Modell bezeichnet, das von einem obersten Punkt ausgehend alles Weitere ableitet. Diesem wird ein induktives Modell gegenübergestellt, dessen Einheit aus einer gegebenen Mannigfaltigkeit erschlossen wird. Das so aufgefasste induktive Modell wird dabei oft als paradigmatisch für naturwissenschaftliches und empirisches Arbeiten angesehen.115 Daher gilt es als zuverlässig und soll auch in den nichtempirischen, geisteswissenschaftlichen Fächern eingebracht werden, um in diesen die Forderung nach mehr Realitätsnähe zu erfüllen. Von einem solchen Standpunkt aus wird ein deduktives Vorgehen als metaphysisch und idealistisch abgelehnt. Die kantische Theorie gilt dabei als Muster für ein solches, aus „wissenschaftlicher“ Sicht abzulehnendes, ableitendes Vorgehen. Eine solche Auffassung scheint durch die hier vorgenommene Unterscheidung verschiedener Reflexionsebenen mit einer jeweils spezifischen Bedeutung von Freiheit und Gleichheit bestätigt zu werden. Denn es werden die Ebenen der Tugend (b) und des Rechts (c) aus der Grundlegungsebene (a) und die Ebene der Rechtsprinzipien (d) wiederum aus der für sie grundlegenden Ebene der rechtlichen Bedeutungsreflexion (c) entwickelt. Dadurch, so ließe sich kritisieren, bleibt gerade das Verhältnis der Ebenen zueinander, insbesondere etwa hier das Verhältnis von Ethik und Recht, ungeklärt. Denn beide stehen ja insofern auf gleicher Ebene, als dass sie beide im Ausgang von der Grundlegung von Praxis entwickelt werden.116 Entsprechend wäre diese kantische Auffassung von Freiheit und Gleichheit abzulehnen, da sie induktiven wissenschaftlichen Standards methodisch nicht genügen würde. Eine solche Kritik verkennt aber zum einen, dass das induktive Modell, wie es oben skizziert wurde, selbst metaphysisch strukturiert ist. Denn es gewinnt die Erklärungskraft seiner Hypothesen allein aus ihrer Anschaulichkeit – ein 115 Dabei werden entscheidende alternative Bedeutungen von Induktion aber ausgeblendet. Vgl. zum Begriff der Induktion etwa den der Antike, dem zufolge in verschiedenen Einzelwesen der immer gleiche Grundgedanke zum Ausdruck kommt, von Fritz, Die EPAGWGH bei Aristoteles, 675 f. 116 Vgl. etwa Baufeld, Diesseits der Logik, 186 f. und 192 ff., mit weiteren Nachweisen für eine solche in der Rechtstheorie übliche Kritik. Röhl, Rechtslehre, 282, dagegen erklärt das Problem des Anfangs einer Begründung für unlösbar, da selbstbezügliche Begründungen immer tautologisch oder widersprüchlich seien und es daher legitim sei, in einem infiniten Regress z. B. mit der Begründung der Rechtsgeltung einfach an beliebiger Stelle zu beginnen.

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IV. Kants kritische Rechtsphilosophie

typisches Kennzeichen klassischer Metaphysik.117 Weiterhin erscheint es wenig überzeugend, nur eine Realität zum Maßstab zu nehmen, die aber genau durch die Theorie erfasst wird, also nur wiederum durch andere Theorien zu einer Realität wird. In einer solchen Situation ist es zumindest plausibel, Hypothesen auf ihre eigenen theoretischen Voraussetzungen zu hinterfragen und damit ihre Überzeugungskraft auf dem Gebiet des Denkens, der Theoriebildung zumindest ebenfalls zu diskutieren. In einer solchen Diskussion kann der möglichen Kritik als deduktiv aber vor allem damit entgegengetreten werden, dass in dem hier vorgeschlagenen Modell deduktive und induktive Elemente miteinander verschränkt sind. Es weist nun insoweit deduktive Elemente auf, als zwischen verschiedenen Ebenen unterschieden wird, die vom Allgemeinen zum Besonderen fortschreiten. Es weist aber genau dabei induktive Elemente auf, indem dieses Fortschreiten in der Hinzunahme sinnlicher Bedingungen besteht und so eine stetige Realisierung der praktischen Realität erfolgt. Diese Realisierung oder Versinnlichung steht nun auch nicht der vermeintlich immer schon vorgegebenen Realität entgegen. Sondern diese kann mittels der Realisierung der Strukturvoraussetzungen erst als solche begriffen werden. Denn eine praktische Realität setzt anders als die theoretische für ihr „Erkenntnisobjekt“, die realisierte Handlung, ihren Vollzug voraus, da sie sonst unsichtbar, eben rein intelligibel bleibt.118 Erst die Erschließung der Rechtsbedeutung mit der Relationsregel des Rechtsimperativs macht die Interpretationsanweisung explizit und realisierbar.119 Ihre produktive Wirkung entfaltet diese Relationsregel bereits mit der Abgrenzung von Recht und Ethik. Das Verhältnis von Recht und Ethik, also den auf gleicher Ebene stehenden Elementen, bleibt nicht ungeklärt, sondern kann unter der Perspektive der Grundlegung einer praktischen Realität verstanden werden. Diese Grundlegung verbürgt zunächst den Zusammenhang von Recht als Regelung der Interaktion von Handlungen und Ethik als Herausbildung einer individuellen Lebenshaltung. Sie ermöglicht aber auch, da sie auf einer an117 Vgl. den Artikel zur Metaphysik, in: Ritter et al. [Hg], Historisches Wörterbuch der Philosophie, der in der Einleitung (L. Oeing-Hanhoff) stark die Rolle der Metaphysik als prima philosophia betont und dies mit Aristoteles’ Beginn der Nikomachischen Ethik (Alles strebt zu einem Ziel . . .) belegt (Th. Kobusch). Kennzeichnend für einen klassischen Metaphysikbegriff ist damit eine erste, unhinterfragte und innerhalb der Theoriebildung auch unhinterfragbare Setzung. 118 Vgl. IV. 1. a) dieser Arbeit. 119 So erfüllt die kritische Rechtsphilosophie die Voraussetzungen, die nach dem Muster der Philosophie der symbolischen Formen nach Ernst Cassirer an die Begründung eines autonomen kulturellen Gegenstandsbereiches zu stellen sind: Mit der Angabe der Relationsbeziehung wird der Einheitsakt des geistigen Produzierens sichtbar und mit dem angeborenen Freiheitsrecht individuell realisierbar. Vernunft wirkt so wirklichkeitsgestaltend. Vgl. dazu Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, Einleitung, insbes. 49 und ders., Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, Symbolische Prägnanz, insbes. 230–233.

5. Die Flexibilisierung im Recht und Flexibilisierung des Rechts

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deren Ebene liegt, deren Unterscheidung. Wie sich der Unterschied in konkreten Handlungen auswirkt, kann mit diesen Unterscheidungen verstanden werden. So kann diagnostiziert werden, dass ein Handelnder zwar versucht hat, ethisch zu handeln, dabei aber rechtsbrüchig geworden ist. Ebenso kann der Fall eintreten, dass ein Handelnder rechtsförmig gehandelt hat, ohne dabei ethischen Standards eines individuellen Lebens gerecht zu werden. Und außerdem kann auch der rechtlich Urteilende im Einklang mit ethischen Standards handeln. Er darf dabei nur nicht seine ethischen Standards mit den rechtlichen verwechseln. Als gedanklich produktiv erweist sich der Rechtsimperativ auch, indem das subjektive, angeborene Freiheitsrecht aus ihm abgeleitet wird. Das jedermann zugeschriebene Freiheitsrecht eröffnet die individuelle Perspektive auf die Teilhabe aller Einzelnen an der allgemeinen Rechtsstruktur und bindet die Idee eines Rechtssubjekts an die Relationsregel, den Rechtsimperativ, zurück.120 Die kritische Rechtsphilosophie wirkt vertikal produktiv, indem im Ausgang vom Rechtsimperativ und im Zusammenspiel mit dem angeborenen Freiheitsrecht (c) eine spezifisch praktische Struktur entworfen werden kann, die, wie das Beispiel des Eigentums zeigt, in der Anwendung weiter auszudifferenzieren ist (d). 5. Die Flexibilisierung im Recht und die Flexibilisierung des Rechts Die Frage nach der Bedeutung einer Flexibilisierung des Rechts ist aus Sicht der kritischen Rechtsphilosophie von dem Ergebnis der Bedeutungsreflexion her zu beantworten, dem Rechtsimperativ. Da dieser eine interne und externe Grenzziehung zur Angabe einer Rechtsbedeutung vornimmt,121 sind im Hinblick auf die Bedeutung von Flexibilisierung zwei Hinsichten zu unterscheiden: eine rechtsimmanente und eine rechtsexterne Auffassung von Flexibilisierung. a) Immanente Flexibilisierung als Flexibilität im Recht und Flexibilität des Rechts Die immanente Entwicklung besteht zum einen in einer Flexibilität des Rechts, die durch verschiedene Reflexionsebenen möglich wird. Konkrete 120 Kant, MdS, 237 f. Für eine Analyse des deutschen Schuldvertragsrechts im Ausgang von einem gleichen (angeborenem) subjektiven Freiheitsrecht aller vgl. Gutmann, Iustitia contrahentium. Aus Sicht der kritischen Rechtsphilosophie setzt die Rechtfertigung eines subjektiven Freiheitsrechtes immer eine bedeutungsgebende gedankliche Struktur, wie etwa die des Rechtsimperativs, voraus. Ein radikaler normativer Individualismus, der allein den Begriff der Freiwilligkeit in den Mittelpunkt stellt, kann seine Kraft erst innerhalb einer Rechtsordnung entfalten, die den der Freiwilligkeit ihren spezifischen Sinn gebenden Referenzrahmen (wie etwa den Rechtsimperativ) ausbuchstabieren kann. 121 Vgl. IV. 3. c) dieser Arbeit.

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IV. Kants kritische Rechtsphilosophie

Rechte einer bestehenden Rechtsordnung können durch Rechtsprinzipien analysiert, ausgelegt und abgesichert werden. Rechtsprinzipien können durch den Rechtsimperativ gerechtfertigt werden, der wiederum als Teil einer Ausdifferenzierung von praktischer Realität durch deren Grundlegung gerechtfertigt ist. Die Auslegung und Weiterentwicklung einer bestehenden Rechtsordnung, die exemplarisch der Wertungsjurisprudenz nach Canaris als Aufgabe eingeführt wurde, bleibt damit anders als für die Wertungsjurisprudenz auch angesichts einer Auffassung von Freiheit als unbeschränktem Belieben möglich.122 Denn die von einer positiven Rechtsordnung unabhängig vollzogene Bedeutungsreflexion auf Recht ermöglicht es, anders als der Ansatz der Wertungsjurisprudenz, einen Begriff von Flexibilisierung zu überwinden,123 der diese als Liberalisierung und so als Abschaffung von Normen versteht, um so einen größeren Freiraum für die Entfaltung des persönlichen Beliebens zu schaffen. Denn Gleichheit und Freiheit stehen auf dem Gebiet des Rechts in der praktischen Realität in einem funktionalen Ergänzungsverhältnis. Mehr Freiheit bedeutet damit auch mehr Gleichheit, ebenso wie mehr Gleichheit als Allgemeinheitsbezug mehr Freiheit schafft. Zudem kann unter Rückgriff auf den Begriff der Willkür gezeigt werden, dass der von einer solchen liberalen Auffassung in Anschlag gebrachte Begriff eines vorrechtlichen, natürlichen Handelns in unbeschränkter Freiheit, dem das Recht Rechnung zu tragen habe, nicht tragfähig ist. Denn ohne Inanspruchnahme einer Normierung würde die Vorstellungsseite der Handlung nicht mehr dauerhaft von ihrer Realisierungsseite abgesetzt werden können.124 Die immanente Flexibilisierung unter der Perspektive des Rechtsimperativs beschränkt sich aber nicht darauf, bereits bestehende positiv-rechtliche Wertungen weiter zu tragen und alleine eine Flexibilität im bestehenden Recht durch eine Übertragung seiner Wertungen auf neue Fälle zu leisten. Vielmehr kann durch die Rückbindung an eine von der positiven Rechtsordnung unabhängige Bedeutungsreflexion die kantische Flexibilisierung sowohl eine solche Flexibilität im Recht wie auch eine Flexibilität des Rechts leisten. Die Flexibilität des Rechts bedeutet zum einen, die immanente Entwicklung des Rechts durch den Rückbezug auf eine grundlegende Bedeutungsreflexion zu gestalten, sobald neue Regelungsbedürfnisse aufgrund neuer Lebenssachverhalte entstehen. Zum anderen besteht die Flexibilität des Rechts darin, in der Zeit immer wieder bestehende Lösungen kritisch zu hinterfragen und so ebenfalls durch den Rückbezug auf den Ursprung der rechtlichen Wertungen, den Rechtsimperativ, die bestehenden Normen stetig zu verbessern.125

122 123 124

Vgl. dazu I. 4. dieser Arbeit. Vgl. dazu I. 4. Vgl. IV. 1. a).

5. Die Flexibilisierung im Recht und Flexibilisierung des Rechts

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Diese Verbindung von einer Flexibilität im Recht und einer Flexibilität des Rechts kann dann als Flexibilisierung, als Rechtsentwicklung, in einem vollen Sinne bezeichnet werden, da genau der Prozesssinn, die Betonung einer nicht endgültig zu fixierenden Entwicklung, in die Rechtsbedeutung aufgenommen wird. Im Unterschied dazu deutet die Begrifflichkeit von Flexibilität immer noch an, dass etwas fixiert werden soll beziehungsweise etwas Fixiertes zu etwas anderem Fixiertem gemacht werden soll. Der Begriff der Flexibilisierung geht dagegen von einer ständigen Bewegung aus und verbindet als Mittelbegriff die beiden Flexibilitätsarten. So stehen Flexibilität im Recht und Flexibilität des Rechts auch nicht mehr als zwei verschiedene Typen von Ordnung nebeneinander, sondern die Flexibilität des Rechts bedeutet zum einen im Sinne eines genitivus objectivus, dass die Bedeutung von Recht kritisch hinterfragt wird. Zum anderen bedeutet Flexibilität des Rechts im Sinne eines genitivus subjectivus, dass eine solche gewonnen Rechtsbedeutung in der Zeit umgesetzt werden muss und stets in ihren Ergebnissen kritisch, eben am Maßstab des Rechtsbegriffs hinterfragt werden muss. Eine Flexibilität im Recht stellt dann noch einen Zwischenschritt bei dieser Rechtsentwicklung dar, in dem mit ihrer Hilfe und im Ausgang vom Rechtsimperativ eine gelungene Selbstbeschreibung einer geltenden Rechtsordnung erreicht werden kann, die dann – einmal als solche identifiziert – wiederum im Ausgang vom Rechtsimperativ vor dem Hintergrund einer Flexibilität des Rechts kritisiert werden kann. Die praktische, rechtsphilosophische Bedeutungsreflexion und somit die kritische Rechtsphilosophie fällt anders als die Rechtstheorien nicht in einen perfor-

125 In dem Verhältnis von Richterbindung und richterlicher Freiheit würde eine kritische Rechtsphilosophie daher für mehr richterliche Freiheit als im deutschen System üblich plädieren, da der Gesetzgeber oft mit der Anpassung der Gesetze an neue Situationen überfordert ist oder keine praxisgerechte Gesetzesformulierung findet, so dass ein Bedarf für eine neue Wertung entsteht. Ein Beispiel dafür ist etwa das Leasing, das vom BGH mit Mühen im Anschluss an die bestehenden mietvertraglichen Wertungen des BGB geregelt wird, um nicht die Basis des bestehenden Rechts zu verlassen, obwohl eine eigene Regelung für diesen seit den Siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts massenhaft auftretenden, neuartigen Lebenssachverhalt wohl angemessener gewesen wäre. Rechtssicherheit ist dann im Rahmen der kritischen Rechtsphilosophie kein Wert an sich, wie etwa bei Radbruch, Rechtsphilosophie, 182, der bereits durch die bloße Existenz eines positiven Rechts den Wert der Rechtssicherheit realisiert sieht und dieses daher sowohl rechtlich wie moralisch für verbindlich erklärt. Im Ausgang von einer Flexibilisierung des Rechts führt Rechtsentwicklung in der Zeit dagegen in dem Sinne zur Rechtssicherheit, dass nicht an bestehenden, einmal getroffenen Wertungen festgehalten werden muss, sondern diese verändert werden können. Die Rechtssicherheit ist dann bei der Einführung neuer Regelungen und Wertungen unter der Perspektive des Rechtsimperativs zu berücksichtigen. Bei der Übergangsfrist handelt es sich um ein bekanntes Mittel, um in der Zeit Veränderungen unter Berücksichtigung des wechselseitigen Vertrauens vorzunehmen.

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IV. Kants kritische Rechtsphilosophie

mativen Widerspruch wie Dworkins Ansatz, der ein basales Recht umzusetzen beansprucht, aber nur die ethische Lebenshaltung der „liberal tolerance“ realisiert.126 Die kritische Rechtsphilosophie als praktische Theorie geht von der Handlung aus und bleibt selbst als Theorie praktisch, indem durch weitere Denkhandlungen die Grundlegung in der Anwendung weiter ausdifferenziert wird. Die vor diesem Hintergrund erschlossene Rechtsbedeutung gewährleistet, dass Recht und Ethik getrennt beziehungsweise trennbar bleiben. Damit „tut“ die kritische Rechtsphilosophie, was sie „sagt“: Sie beansprucht als Theoriebildung eine Bedeutungsreflexion auf Recht als Teil der praktischen Realität zu leisten, die selbst in der Theoriedurchführung rechtlich praktisch ist. Mit der reflexiv erschlossenen Relationsregel des Rechtsimperativs wird ein Teilbereich der praktischen Philosophie als Rechtsphilosophie in begründender Hinsicht autonom und unter der Perspektive der interaktiven Handlungshoheit weiter ausdifferenziert. b) Externe Flexibilisierung als Herausforderung und Irritation Die externe Entwicklung besteht in dem Bezug auf andere, oft erkenntnistheoretisch erschlossene Auffassungen der Bedeutung von Recht, wie auch denen der beiden hier näher betrachteten Rechtstheorien. Aus Sicht der kritischen Rechtsphilosophie bedeutet das, zu prüfen, ob jeweils andere (rechts-)theoretische oder auch (rechts-)philosophische Ansätze Elemente aufweisen, die für den eigenen Ansatz erforderlich, aber in diesem nicht aufzufinden sind, oder ob solche Elemente den eigenen Ansatz gar obsolet machen. In der vorliegenden Arbeit wurde bisher gezeigt, dass sowohl der Ansatz der Wertungsjurisprudenz nach Canaris wie auch der Ansatz einer „liberal tolerance“ nach Dworkin die Elemente der Einklammerung der gegebenen Rechtslage und der von der positiven Rechtslage unabhängigen Bedeutungsreflexion benötigen,127 die ihre Theorien nicht enthalten, der kantische rechtsphilosophische Ansatz aber schon. Es kommt daher bei dieser externen Bezugnahme nicht auf die zeitliche Abfolge an, in der Theorien entstanden sind, sondern auf das Vorhandensein beziehungsweise das Verhältnis verschiedener Theorieelemente. Im Sinne einer externen und nicht allein zeitlichen Entwicklung ist der kantische rechtsphilosophische Ansatz daher einerseits insoweit fortschrittlich, als er im Rahmen einer kritischen Bedeutungsreflexion ohne performativen Widerspruch mit dem Rechtsimperativ den Anknüpfungspunkt für eine spezifisch praktische Rechtsphilosophie bietet. Andererseits ist dieser Fortschritt in der Rezeption und Anwendung der kritischen Philosophie kaum umgesetzt und so im 126 Vgl. I. 5. und II. 5. sowie III. 2. für die Ansätze von Dworkin und Canaris sowie IV. 1. bis 3. für die kritische Rechtsphilosophie. 127 Vgl. II. 5. und III. 2. dieser Arbeit.

5. Die Flexibilisierung im Recht und Flexibilisierung des Rechts

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Unterschied zu den rechtstheoretischen Ansätzen kaum wirksam.128 Diesem Mangel kann nun in dieser Arbeit nicht abgeholfen werden – mit Ausnahme des noch folgenden Anwendungskapitels zum europäischen Schadensrecht, der Staatsbegründung und der Bedeutung von Generalklauseln, die einen beispielhaften, skizzenartigen Charakter haben. Dem Zweck dieser Arbeit, einen Beitrag zur Aktualität, zur weiteren Entwicklungsfähigkeit der kantischen Theorie zu leisten, sollte die Beschränkung auf wenige Anwendungsbeispiele keinen Abbruch mehr tun. Auf der theoretischen Ebene kann das Ziel für diesen Abschnitt jedenfalls als erreicht angesehen werden, eine Bedeutung von Flexibilisierung auf der Basis eines praktischen Ansatzes angeben zu können. Flexibilisierung in der kritischen Rechtsphilosophie bedeutet, eine Flexibilität im Recht, das heißt die (Selbst-) Beschreibung einer bestehenden Rechtsordnung mit der Möglichkeit bestehende Wertungen auf neue Lebenssachverhalte zu übertragen, auf eine Flexibilität des Rechts zu beziehen, das heißt auf eine originär auf die Rechtsbedeutung zurückgehende rechtliche Bewertung neuer Lebenssachverhalte wie auch auf eine auf dieser beruhenden (Selbst-)Kritik. Die so gewonnene Selbstentwicklungsfähigkeit muss dabei stets durch externe Elemente, wie gesellschaftliche Veränderungsprozesse, irritierbar sein und diese integrieren können. c) Die Flexibilisierung aufgrund der kritischen Bedeutungsreflexion im Unterschied zur Definition und ein Beispiel Gegen eine solche Auffassung von Flexibilisierung ließe sich einwenden, dass es sich allein um eine neue Definition handele, die so oder mit geringen Unterschieden bereits überliefert sei.129 Eine solche Kritik verkennt aber, dass es in der kantischen Bedeutungsreflexion nicht um eine Definition geht, in deren Rahmen Begriffe durch andere Begriffe allein im Rahmen eines Sprachspiels miteinander ins Verhältnis gesetzt oder fixiert werden. Vielmehr hat die kantische Bedeutungsreflexion einen funktionalen Schwerpunkt. Sie soll behauptete Gegenstandsbeziehungen auf ihre Denkmöglichkeit beziehungsweise ihren Sinn hin befragen und die gedanklichen Voraussetzungen 128

Zur Rezeption Kants vergleiche das folgende V. Kapitel. Zu denken wäre etwa an Hegels Rechtsauffassung, der eine Rechtsentwicklung vor allem durch den wechselseitigen Bezug von Lebenssachverhalt und Norm gewährleistet sieht und dabei insbesondere auf die Rückwirkung der Lebenssachverhalte auf die Normentwicklung und ihre Realisierung hinweist, was auch der Gedanke einer Entwicklung der Idee des Willens als Rechtsphilosophie zum Ausdruck bringt, vgl. Hegel, Rechtsphilosophie, 87. Aus Perspektive der kritischen Rechtsphilosophie Kants wird dabei aber der Eigengesetzlichkeit der intelligiblen Seite nicht ausreichend Rechnung getragen. 129

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IV. Kants kritische Rechtsphilosophie

aufzeigen, die zu einer solchen Gegenstandsbeziehung implizit oder explizit in Anspruch genommen werden. Geht es dabei in dem theoretischen Feld der Kritik der reinen Vernunft um die Beziehung von Erkennendem und Erkenntnisgegenstand und werden dabei die Voraussetzungen dieser Beziehung aufgedeckt, so wird auf dem praktischen Feld zunächst auf der Grundlegungsebene die Beziehung zwischen dem Handelnden und der Handlungsnorm thematisiert. Die Verbindung zwischen beiden, die praktische Gegenstandsbeziehung, wird relational zu dem jeweiligen Problemniveau bestimmt. Die Bedeutung von Recht kann im Anschluss an die Grundlegung praktischer Realität durch den Rechtsimperativ als eine Regel erschlossen werden, die das Verhältnis von Handelnden zueinander bestimmt und die selbst wieder als Grundlegung für weitere Anwendungen fungiert, wie etwa das angeborene Freiheitsrecht und das Eigentumsrecht. Insofern muss auch im Nachvollzug der kantischen Gedanken stets eine reflexiv angeleitete Urteilskraft lebendig mitwirken, etwa um die entsprechenden Ebenen zu unterscheiden und aufeinander zu beziehen, eben um deren Verhältnis zu erfassen. Die Entwicklung einer Gegenstandsbeziehung wird so nicht definitorisch allgemein erfasst, sondern wiederum im Rahmen einer sich entwickelnden Art und Weise gefasst. So bleibt die Anwendbarkeit der in der Grundlegung gewonnenen Einsichten gewahrt, ohne dass eine solche einfach unverbunden mit der Ausführung einer Theorie von Flexibilität im Recht behauptet wird. Ein Beispiel für die Integrationsfähigkeit empirischer Entwicklungen kann der Vollzug des Rechts durch Zwang bieten. Der Vollzug eines solchen Rechts durch Zwang wirft auch die Frage auf, ob hier nicht eine quasi-naturrechtliche Position entwickelt wird und ob nicht vielmehr an dem angesetzt werden muss, was eine Gesellschaft als ihr Recht bezeichnet und entsprechend durchsetzt. Ist eine solche in der kritischen Rechtsphilosophie entwickelte Sachstruktur des Rechts nicht zu starr und damit immer auf Zwang im Sinne einer körperlichen Gewalt angewiesen? Dies führt am Beispiel einer möglichen Veränderung der Zwangsmittel, etwa von einer physischen zur einer psychischen Art und Weise, zu der Frage, wie sich Rechtsentwicklung und Rechtsfrieden zueinander verhalten. Denn eine ständige Veränderung verhindert eine Verlässlichkeit des Rechts, so dass der Rechtsfrieden in der Rechtsrealisierung zu einem wichtigen Element wie auch zum Gegenstand ständiger Veränderung wird. Was also einmal mit rechtlichem Zwang durchgesetzt wird, müsste daher auch in jedem neuen Fall mit Zwang durchgesetzt werden. Die Rechtsbedeutung als Ausgangspunkt der Beantwortung dieser Frage stellt zum einen eine Anwendung und Ausdifferenzierung der in der kritischen Grundlegung gewonnenen Begrifflichkeit dar. Zum anderen bildet sie aber erst den Ausgangspunkt der Rechtsgestaltung. Diese kann bis zu einem gewissen Grade, etwa im Hinblick auf die Begründung bestimmter Rechtsprinzipien oder

5. Die Flexibilisierung im Recht und Flexibilisierung des Rechts

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der Staatsbegründung noch apriorisch, das heißt hier ohne den Bezug auf eine konkrete Rechtsordnung oder einen konkreten Einzelfall gedacht werden.130 Die weiteren Schritte der Anwendung des Rechtsimperativs müssen dann aber durchaus unter Rückgriff auf die juristischen Techniken von Subsumtion und Interpretation auf die konkrete historische Situation, insbesondere die des jeweils positiven Rechts, hin entwickelt werden.131 Das bedeutet aber auch, dass Rechtsfrieden mit Kant erst durch eine ständige Rechtsentwicklung in der Zeit möglich wird, indem die Rechtsbedeutung sowohl bei der Formulierung von Gesetzen wie auch bei der Anwendung von Normen auf einen Lebenssachverhalt sichtbar wird. In der Rechtsentwicklung können so in der Zeit auch neue Zwangsarten eingeführt werden. Es können neue Ergebnisse anderer Wissenschaften unter der Perspektive des Rechts für das Recht fruchtbar gemacht werden, wie etwa Ergebnisse aus der Verhaltensforschung und den Wirtschaftswissenschaften, die zu einer Kultivierung des physischen Zwangs hin zu einem System des psychischen Zwanges aus Vorteilen und Anreizen beitragen132 – ohne dabei einem System aus Vorteilen und Anreizen die rechtliche Wertung zu entnehmen. So gelingt Kant eine Alternative jenseits von Naturrecht und Rechtspositivismus. Denn seine rechtsphilosophische Theorie bleibt zum einen nicht vor der Umsetzung stehen, noch überlastet sie sich durch eine Rechtsphilosophie begrifflich und strukturell nicht mehr leistbarer Anwendungsanforderungen. Zum anderen bietet sie dem positiven Recht gegenüber, anders als rein positivistische Theorien mit dem Rechtsimperativ einen Maßstab der praktischen Vernunft, um Recht losgelöst von der Selbstbezeichnung einer Rechtsordnung als solcher rechtlich zu beurteilen. Da sie allein von Handlungsrelationen ausgeht und aus dem Handlungsbegriff heraus entwickelt wird, bleibt die Perspektive auch eine spezifisch rechtliche und wird nicht unter der Hand zu einer ökonomischen oder soziologischen. Vielmehr wird erst unter einer solchen Bedeutungsreflexion eine Integration und Übertragung der Ergebnisse der anderen Wissenschaften in das Recht möglich. 130

Vgl. dazu IV. 3. c) und VI. Die Schrift Kants „Zum ewigen Frieden“ erscheint insoweit als zeitgebundener, populärer Beitrag der Anwendung der Rechtslehre zu dem Problem der legitimen Gewalt unter Völkern. Sie gibt ein Beispiel für die Legitimation und Grenzen der Legitimation von Gewalt beziehungsweise Zwang, indem hier überhaupt wechselseitiger Zwang der Völker beziehungsweise ihrer Staaten untereinander abgelehnt wird. Dies ist aber vor dem Hintergrund der MdS zu verstehen und anzuwenden und daher auch im Hinblick auf die heutige, veränderte historische Situation relativ zum Maßstab des Rechtsimperativs kritisierbar. 132 Vgl. für solche Ansätze Homann, Ökonomik: Fortsetzung der Ethik mit anderen Mitteln, 1 f. und Eidenmüller, Der homo oeconomicus und das Schuldrecht, 217 f. Solchen Ansätzen fehlt aber die reflexive Begründung der originär rechtlichen Eigenwertung, da sie allein anhand von gegebenen Fällen argumentieren. 131

V. Kants Rechtsphilosophie in der Diskussion Die kantische Rechtsphilosophie wird und wurde umfangreich rezipiert und diskutiert. Bevor im sechsten Kapitel auf die weitere Umsetzung der kritischen Rechtsphilosophie im Unterschied zu den rechtstheoretischen Ansätzen von Canaris und Dworkin anhand gegenwärtiger Rechtsentwicklungen eingegangen wird, wird wegen dieser vielfältigen Rezeptionsgeschichte die hier vorgestellte kritische Rekonstruktion der kantischen Rechtsphilosophie selektiv auf die umfangreiche Kantrezeption bezogen. Zunächst werden die Auswirkungen des so genannten „linguistic turn“1 auf die kantische praktische Philosophie diskutiert. Denn diese Entwicklung wird von vielen als so einschneidend gewertet, dass in ihrer Folge die kantische Philosophie, wenn nicht überwunden, so doch in großen Teilen revidiert werden müsste. Dabei bilden solche sprachphilosophischen Ansätze in Form von Theorien des kommunikativen Handelns oft den Ausgangspunkt für Rechtstheorien. Die These einer sprachphilosophischen Überwindung der kantischen, praktischen Philosophie wird zurückgewiesen, da Sprechakte und sprachliche Äußerungen besondere Formen von Handlungen darstellen und so in das Erkenntnisgebiet der praktischen Philosophie Kants fallen (1.). Anschließend erfolgt aus der Perspektive der kritischen Rechtsphilosophie ein Blick auf einige gängige Vorbehalte gegenüber der kantischen praktischen Theorie, wie etwa deren Wirklichkeitsfremdheit. Diese Vorbehalte werden ausgeräumt, um eine vorurteilsfreiere Sicht auf die kritische Rechtsphilosophie zu gewinnen (2.). Auch wird auf zwei Rezeptionsmuster in der Rechtsphilosophie (3.), nämlich der geistigen Strömung des Neukantianismus und der Debatte um Vertragstheorien, wie auch auf zwei Standardrezeptionen in der deutschen Rechtsordnung eingegangen, nämlich die Kant-Rezeption im Rahmen der Strafzwecklehre und die bei der Auslegung des Art. 1 Abs. 1 GG (4.). An diesen Beispielen kann exemplarisch gezeigt werden, wie die hier vorgestellte Rekonstruktion mit solchen Rezeptionsmustern zusammenhängt beziehungsweise in der Lage ist, diese Rezeptionen zu korrigieren und zu beleben.

1 Mit „linguistic turn“ ist im Anschluss an Frege die vermeintliche oder wirkliche sprachphilosophische Wende weg von der alten Metaphysik, zu der oft auch Kant gerechnet wird, hin zur Sprachanalyse bezeichnet.

1. Kants Praxis und die Sprachphilosophie

139

1. Kants Praxis und die Sprachphilosophie Fragt man nach dem Verhältnis der kantischen praktischen Philosophie und der Sprachphilosophie, so beansprucht die Theorie des kommunikativen Handelns, den kantischen Ansatz unter den Bedingungen der gesellschaftlichen Moderne und des linguistic turn zeitgemäß, das heißt sprachphilosophisch zu reformulieren.2 Argumente für das Erfordernis einer solchen Reformulierung, die zu weiten Teilen eine Überwindung darstellt, sind aus Sicht dieser Ansätze der unzureichende Wirklichkeitsnachweis der kantischen Moralphilosophie sowie dessen monologisches Einheitsdenken. Die entscheidende Frage aus Sicht der kritischen Rechtsphilosophie ist aber, ob die praktische Vernunft tatsächlich, wie von den sprachphilosophischen Ansätzen angenommen, sprachlichen Bedingungen vollkommen unterworfen und insoweit historisch bedingt ist. Um diese Frage zu beantworten, wird auf Austins Theorie der Sprechakte als Ausgangspunkt und Voraussetzung der Theorien des kommunikativen Handelns eingegangen. Dabei zeigt sich, dass der Begründungswert der kommunikativen Vernunft auf den Bereich des Sprechens beschränkt ist, das wiederum in einem Handeln besteht und insoweit einen Unterfall der praktischen Vernunft darstellt. a) Der gescheiterte Wirklichkeitsnachweis des kategorischen Imperativs? Die sprachphilosophischen Ansätze, die hier weiterverfolgt werden, sehen im „Factum“ der Vernunft eine empirische Voraussetzung, die gesellschaftlich bedingt sei. Da die gegenwärtige moderne Gesellschaft sich grundlegend von der post-feudalen Gesellschaftsordnung zu Kants Zeiten unterscheidet, sei unter diesen veränderten gesellschaftlichen Bedingungen die kantische Geltungsbegründung nicht mehr akzeptabel. Infolge dieser Diagnose fordert etwa Habermas eine Umstellung von der praktischen Vernunft zu einer kommunikativen Vernunft, die die Bedingungen 2 Vgl. dazu etwa Habermas, Faktizität und Geltung, 24 in der Philosophie; Alexy, Eine diskurstheoretische Konzeption der praktischen Vernunft, 14 ff., in der Rechtsphilosophie und im Anschluss an Alexy mit dem Versuch, Brandoms inferentialistischen Ansatz für die juristischen Auslegungskriterien fruchtbar zu machen Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 138 ff. Eine Alternative wäre es, die Debatte um „transcendental arguments“ (vgl. dazu Cassam, Self and World), die das Problem des Außenweltskeptizismus diskutiert, auf die praktische Philosophie Kants zu übertragen, um dann ein spezifisch rechtliches transcendental argument zu bilden und so Kants Rechtsphilosophie in rein sprachphilosophischen Ansätzen zu integrieren. Da aber transzendentale Argumente dieser Art von einem nicht weiter hinterfragbarem Phänomenbestand ausgehen, wird dieser Weg in der kritischen Rechtsphilosophie dieser Arbeit nicht weiter verfolgt.

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V. Kants Rechtsphilosophie in der Diskussion

einer freien Diskursgemeinschaft in normbegründender Weise nutzbar macht.3 Die Verbindung zwischen dieser neuen Vernunftart und der Normbegründung ergibt sich aus der Voraussetzung, dass Menschen lebensweltlich immer schon kommunikative Wesen sind. Das Problem, neue gesellschaftliche Werte zu schaffen, sei daher stets auf Basis gemeinsamer Gründe einverständnisorientiert zu lösen, um der kommunikativen Verfasstheit menschlicher Sozietät nicht zu widersprechen.4 So soll zur gewaltfreien Lösung von Konfliktfällen eine sprach-pragmatische Normbegründung genügen. Diese sprach-pragmatische Normbegründung führt bei Habermas zu Diskursvoraussetzungen in Form einer offenen Liste. Genannt seien hier etwa Öffentlichkeit, die Einbeziehung aller, Wahrhaftigkeit der Argumentierenden und die Kraft des besseren Arguments als anerkannter Maßstab. Gegen diese Art der Offenheit des Habermas’schen Ansatzes wendet sich wiederum Apel, der an einer Letztbegründung von Normen festhalten will. Diese Letztbegründung wird dabei durch die Figur des performativen Widerspruchs abgesichert. Da jede Begründung einen Sprechakt voraussetzt, so Apel, lässt sich aus dem Sprechakt selbst die Letztbegründung derart ableiten, dass die einzelnen Akte nicht im Widerspruch zum Sprechen selbst stehen, das heißt dieses negieren dürfen.5 Die kantische Geltungsbegründung des kategorischen Imperativs dagegen beruht nicht primär auf der Voraussetzung der kommunikativen Verfasstheit menschlicher Sozietät. Sie geht davon aus, dass erst in dem Befolgen dessen, was als Pflicht, das heißt als kategorisches Sollen, vorgestellt wird, der Einzelne seine Wollensmöglichkeit im Erhalt des Handlungsbegriffs gewinnt. Anders gesprochen bedeutet das, dass der Einzelne erst in dem Maße selbst bestimmt wird, in dem er das Sittengesetz sich als Maxime setzt. Setzt sich das endliche Vernunftwesen den kategorischen Imperativ als Maxime, so bestimmt es sich zur Freiheit. Das „Factum der Vernunft“ bezeichnet vor diesem Hintergrund nicht mehr, wie in der Interpretation von Habermas, eine allgemeine Freiheitsunterstellung an alle empirisch-beobachtbaren Charaktere, sondern den obersten notwendigen Konstruktionspunkt einer gegenüber der Theorie und Erfahrung eigenständigen, praktischen Wirklichkeit, deren konkreter Vollzug wiederum von dem Wollen des Handelnden abhängt. Es handelt sich so, wie oben bereits gezeigt, um ein „Factum“ im umfassenden Sinne von Tat-Sache: eine allgemeine Struktur, die von Handlung, wird durch eine einzelne konkrete Tat vollzogen. Beides zusam3

Etwa Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, 110. So Habermas, Erläuterungen, 170 und 20. 5 So Apel, Die Vernunftfunktion der kommunikativen Rationalität, 32 und 39. Ebenso ders., Sprechakttheorie und Sprachpragmatik zur Frage der ethischen Normen, 126 f. 4

1. Kants Praxis und die Sprachphilosophie

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men eröffnet eine praktische Realität für einen dann Handelnden.6 Kant zufolge ist also die Wirklichkeit von Praxis erst dann möglich, wenn sie gewollt wird. Ein Sprechakt ist im Unterschied zu der Denkstruktur von Handlung dann eine Möglichkeit, dies in einer konkreten Handlung zu manifestieren – entgegen den Ansätzen des kommunikativen Handelns aber selbst nicht die Voraussetzung einer Normbegründung. b) Kants praktische Philosophie als ein historisch überholtes, monologisches Einheitsdenken? Ein weiteres Problem am kantischen Ansatz einer praktischen Vernunft sieht der Ansatz der kommunikativen Vernunft darin, dass Kant durch die Verengung seiner Moralphilosophie in ein monologisches, metaphysisches Einheitsdenken münde. Diese Art des Einheitsdenkens sei aber der gegenwärtigen pluralen Welt anders als der des ausgehenden feudalen Umfelds der historischen Person Kants nicht angemessen.7 In der Tat scheint zunächst jede weitere Handlung von der individuellen Affirmation des kategorischen Imperativs abzuhängen. Wäre dies der Fall, könnte in der Tat die kantische Theorie von Praxis wenig für eine plurale menschliche Gesellschaft beitragen. Denn einer Theorie, die allein bei einer komplexen Grundlegung stehen bleibt, fehlt der Anwendungsteil. Wäre also der Vorwurf des monologischen Einheitsdenkens zutreffend, so hätte die kantische Theorie nicht nur nichts zu gegenwärtigen moralphilosophischen Problemen beizutragen, sondern auch nichts zur Moralphilosophie einer feudal strukturierten Gesellschaft. Schon daran zeigt sich, wie wenig evident es ist, von einer veränderten sozialen Welt auf die Unbrauchbarkeit eines allgemeinen philosophischen Ansatzes zu schließen. Zum anderen ist ein solcher Schluss auch der Sache nach unzutreffend, da die kantische Theorie selbst zwischen ihrer Grundlegung und ihrer Anwendung unterscheidet und die Anwendung auch in Form der historisch bedingten, das heißt als Geschichte, erfolgen kann.8 Aber schon auf der Theorieebene wird die Praxis für das endliche Vernunftwesen in der Metaphysik der Sitten weiter ausdifferenziert, nämlich in eine Tugendlehre beziehungsweise Ethik, das heißt dem Gebiet der eigenen Willensbestimmung, und eine Rechtslehre, dem Gebiet der Verhältnisbestimmung bereits bestimmter Willen zueinander und so der faktischen Intersubjektivität. Wird dabei „metaphysisch“ wie in dieser Arbeit als Anwendung der in der geltungsbegründenden Reflexion gewonnenen Ergebnisse verstanden und nicht 6 7 8

Vgl. IV. 1. dieser Arbeit. Habermas, Universalisierungsanspruch und performativer Widerspruch, 161. Vgl. Kant, MdS, 230.

142

V. Kants Rechtsphilosophie in der Diskussion

als das Aufstellen davon losgelöster metaphysischer Behauptungen im Sinne von dogmatischen Behauptungen, die ihre Überzeugungskraft allein aus der Erklärung von Phänomenen in der Welt erhalten9, so stellt die Rechtslehre eine solche interpersonale Anwendung der praktischen Vernunft dar. Das Recht setzt damit keine Affirmation des kategorischen Imperativs für das eigene Leben voraus, sondern entwickelt die allgemeine Struktur von Handlung für den Fall weiter, indem verschiedene endliche Vernunftwesen mit bereits unterschiedlich oder identisch bestimmtem Willen aufeinander treffen. In diesen pluralen Mehrpersonenverhältnissen bietet nun der Rechtsimperativ den Ausgangspunkt für eine spezifisch rechtlich-autonome Verbindlichkeit und damit eine Bedeutung des Rechts als „[. . .] Inbegriff der Bedingungen, [nämlich dem Rechtsimperativ, d. V.], unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“10 Die hier angesetzte rechtliche Einheit stellt eine allgemeine Einheitsbildung in Form der Relationierung einer bestehenden Vielfalt von bestimmten Handlungen dar, insbesondere an dem Punkte, an dem verschiedene Handlungen miteinander in Konflikt geraten. Diese Einheit bedeutet damit nicht, wie von Habermas teils suggeriert, eine Vereinheitlichung der unterschiedlichen Willensbestimmungen. Diese Einheit ergibt sich dabei im Unterschied zu der der kommunikativen Vernunft auch nicht mehr durch eine Kombination von gesellschaftlichen Beschreibungen und sprachlichen Zuschreibungen, sondern mit dem Rechtsimperativ aus einer Rechtsbedeutung, die unabhängig von dem bestehenden positiven Recht erschlossen werden kann. Recht fungiert dann nicht mehr primär als Schutzmacht von kommunikativ-kulturell tradierten Werten, sondern hat vor allem die Funktion, die interaktive Handlungshoheit zu erhalten oder herzustellen. Aus dieser spezifisch praktisch-rechtsphilosophischen Perspektive lassen sich dann Rechtswerte beziehungsweise -prinzipien setzen, (selbst-)überkritisieren sowie eine Rechtsentwicklung denken und vollziehen.11 Für die kritische Rechtsphilosophie ist Recht als spezifische Form der Interpersonalität nicht mehr wie für Habermas nur in Funktion einer gesellschaftlichen Ordnung bestimmt, sondern stellt einen hinreichend bestimmten, autonomen Handlungsbereich dar, der gesellschaftliche Entwicklungen integrieren aber auch in seiner Anwendung korrigieren kann.

9 So auch Kant, MdS, 216: „[. . .] eine Metaphysik der Sitten kann nicht auf Anthropologie gegründet, aber doch auf sie angewendet werden.“ So kann in einer MdS einerseits der übersinnliche Charakter gewahrt bleiben, andererseits kommt aber auch die Sinnlichkeit zu ihrem Recht beziehungsweise wird in praktischer Hinsicht entdeckt und überformt. 10 Kant, MdS, 230. 11 Vgl. dazu IV. 5. dieser Arbeit.

1. Kants Praxis und die Sprachphilosophie

143

c) Das Problem des Begründungsverhältnisses von kommunikativer und praktischer Vernunft anhand von Austins Sprechakttheorie Allerdings bleibt aus Sicht der kommunikativen Vernunft eine kritische Rückfrage an die praktische Vernunft: Ist nicht auch die praktische Vernunft den sprachlichen Bedingungen vollständig unterworfen? Um dieser Frage nachzugehen, sind zwei Strategien denkbar. Zum einen kann mit Apel auf die sprachpragmatische Normenbegründung und ihre verschiedenen Facetten zurückgegriffen werden. Zum anderen kann auf Austins Theorie der Sprechakte zurückgegriffen werden, die für Apels und Habermas’ Überlegungen gleichermaßen als Ausgangspunkt dient. Da das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit auf die Frage nach der Bedeutung von Recht und Rechtsentwicklung gerichtet ist, ist es interessanter den zweiten Weg zu wählen und auf die Frage einzugehen, inwieweit performative Widersprüche bei der Normbegründung eine Rolle spielen, zumal in dieser Arbeit als zentraler Mangel der Rechtstheorien ihre Anfälligkeit für performative Widersprüche diagnostiziert wurde. So begründet Apel die Argumentation überhaupt als Regel, die eine nichtkontingente Voraussetzung darstelle und relativ zu der ein Sprach-Skeptiker je nach Fall widerlegt werden könne, indem er eines performativen Widerspruchs überführt wird. Das heißt, dass gezeigt wird, wie der Sprach-Skeptiker im Sprechen negiert, was er zugleich durch den Sprechakt voraussetzt, nämlich die Realität der sprachlichen Handlung.12 Habermas charakterisiert kommunikatives Handeln mit Austin als illokutionär indem er ausführt, dass von kommunikativem Handeln gesprochen werden kann, „wenn Aktoren ihre Handlungspläne über sprachliche Verständigung, also in einer Weise miteinander koordinieren, dass sie dazu die illokutionären Bindungskräfte von Sprechakten nutzen“.13 Austin entwickelt seine Theorie der Sprechakte in Absetzung von Wittgensteins These der Unbegrenztheit der Sprachspiele. So unterscheidet die Sprechakttheorie zwischen performativen beziehungsweise illokutionären und perlokutionären Sprechakten, die hier bereits im Übergangsteil von Rechtstheorie zu Rechtsphilosophie zur Einführung des performativen Widerspruchs verwendet wurde. Während die Letzteren den Zusammenhang zwischen einer sprachlichen Äußerung und einer nicht-sprachlichen Folge unter sich fassen, stellen die illokutionären Akte solche Sprechakte dar, in denen etwas sagen etwas tun bedeutet, die also nicht auf nicht-sprachliche Folgen gerichtet sind. Diese Sprechakte bezeichnet Austin auch als performative Akte. Ein Beispiel ist das hier leicht abgewandelte Beispiel der Schiffstaufe: Geht die englische Königin als Taufpatin auf eine Schiffstaufe, lässt die Flasche am Bug zerschellen und sagt dabei: „Ich 12 13

Apel, Das Problem der philosophischen Letztbegründung, 72 f. Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, 122.

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V. Kants Rechtsphilosophie in der Diskussion

taufe dieses Schiff ,Stalin‘“, so ist das Schiff getauft. Geht dagegen Austin auf dieselbe Schiffstaufe, lässt die Flasche am Bug zerschellen und sagt dabei: „Ich taufe dieses Schiff ,Stalin‘“, so ist das Schiff nicht getauft worden.14 Im vorangehenden Abschnitt zu den Anforderungen an eine Rechtsphilosophie wurde zunächst diagnostiziert, dass die Rechtstheorien in einen performativen Widerspruch auf der Ebene des Theorieaufbaus fallen, indem Theorieanspruch und Theoriedurchführung strukturell auseinander treten. Diesen performativen Widerspruch vermeidet eine kritische Rechtsphilosophie durch eine Einklammerung der gegebenen Rechtslage in Verbindung mit einer Bedeutungsreflexion, der zufolge der Vollzug einer Rechtsphilosophie mit der Theorie selbst denkbar ist. Insoweit stellt das kantische Problem der Grundlegung von Praxis, das heißt der Verbindung von Aussprechen des kategorischen Imperativs und seiner Realität, einen Fall eines illokutionären Sprechaktes dar. Denn nach Kant vollzieht sich die praktische Wirklichkeit erst durch eine Affirmation des Sittengesetzes. Damit wäre die Geltungsbegründung, die zeigt, dass sich das Verhältnis von Theorieformulierung und Theoriedurchführung ergänzen kann, durch eine besondere Klasse von Sätzen erfasst und als illokutionärer Sprechakt in ein sprachliches Problem transformiert. Gleiches gilt dann auch für den Rechtsimperativ, der in der weiteren Ausdifferenzierung von Praxis als kritische Metaphysik die Rechtsbedeutung definieren würde. d) Handeln und Denken ohne Sprechen Allerdings werfen eine solche Einordnung und der Rückgriff auf Austin Bedenken auf, zumal wenn im Ausgang von Austin die kantische Theorie mit Habermas und Apel üblicherweise kritisiert wird: Wird hier nicht Handeln und Denken wie bei Austin auf Sprechen reduziert? Schon bei der Fragestellung gilt es aber auch die alternative Formulierung aus kantischer Sicht zu bedenken, die lautet: Stellt mit Kant nicht vielmehr auch Sprechen eine besondere Form von Handlung dar? Zur Beantwortung dieser Frage für die Zwecke dieser Arbeit ist zu bedenken, dass „Handlung“ ihre Bedeutung bei Kant durch den Bezug des Denkaktes auf das endliche Vernunftwesen gewinnt, das heißt durch die Affirmation der Handlungsstruktur als Realisierung einer Vorstellung und der zu deren Erhalt erforderlichen Normativität, und nicht durch einen performativen Sprechakt. Lediglich wenn die Setzung des kategorischen Imperativs sprachlich thematisiert wird, liegt ein solcher illokutionärer Sprechakt im Sinne Austins vor. Insoweit besteht eine Strukturgleichheit zwischen Austins und Kants Ansatz, als in beiden Fällen idealistische und realistische Elemente aufs Engste miteinander verknüpft sind und nur zu Theoriezwecken getrennt betrachtet werden können. 14

Austin, 2. Vorlesung.

2. Argumentationstopoi gegen Kants Philosophie und ihre Überwindung

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Aber Idealität und Realität sind jeweils auf verschiedenen Ebenen miteinander verknüpft: bei Kant als Handlungsbegründung zur Eröffnung von Praxis überhaupt auf einer allgemeinen Ebene des Verhältnisses von Theorieformulierung und Theoriedurchführung, wie der Begriff des Factums zeigte; bei Austin dagegen auf der besonderen Ebene der Frage nach der Möglichkeit eines bestimmten kommunikativen Handelns. Insoweit verwendet die vorliegende Arbeit mit der Diagnose eines performativen Widerspruchs der Rechtstheorien den Performanzbegriff Austins in dem Problemkreis der Selbstverständigung einer Theorie und damit in einem von Austin selbst nicht intendierten Rahmen. Diese übertragene Verwendung des Performanzproblems findet damit aber auch ihre Grenze an der grundlegenderen, kantischen Bedeutungsreflexion, die das Problem der Selbstbezüglichkeit einer Theorie sowohl mit dem Handlungsbegriff wie auch mit der Frage nach der Wirklichkeit des Sittengesetzes explizit thematisiert. Daher wird auch im Übergangsteil auf den Gedanken des ordo ordinans zurückgegriffen, um diese von dem Performanzbegriff zu unterscheidende Problematik zu markieren.15 Anders als bei Handlung und Norm muss damit zwischen Sprache und Handlung sowie Sprache und Denken getrennt werden. Eine Sprachanalyse oder Theorie der Sprechakte kann dann dabei helfen, unter der praktischen Perspektive des „Was soll ich tun?“ vollzogene Sprechhandlungen linguistisch zu analysieren und verborgene Sprechakte aufzudecken, ohne aber den Maßstab für die Beantwortung der Frage „Wie soll ich sprechen?“ liefern zu können. Eine kommunikative Vernunft bleibt damit auf die praktische Vernunft angewiesen, da sie von verschiedenen Sprecharten ausgeht und damit ein Sprechen und somit implizit eine Handlungsmöglichkeit des Sprechenden voraussetzt. Der Begründungswert der kommunikativen Vernunft bleibt damit auf den Bereich der faktischen Sprachäußerung beschränkt. Ihr kommt daher im Rahmen einer Bedeutungsreflexion auf Handlung und Recht keine konstitutive Funktion zu. 2. Argumentationstopoi gegen Kants Philosophie und ihre Überwindung Einer Beschäftigung mit der kantischen Philosophie stehen oft Urteile entgegen, die sich teils zu allgemein anerkannten, ablehnenden Argumentationstopoi verfestigt haben. So wird die kantische Philosophie teils schon wegen ihrer umfassenden Aufarbeitung philosophischer Problemlagen als zu umfangreiche Systemphilosophie abgelehnt. Innerhalb der philosophischen Diskussion um den deutschen Idealismus wird oft eine Überwindung Kants durch seine späten Zeit15 Vgl. III. 2. c) dieser Arbeit zu der hier von der Sprechakttheorie losgelösten Verwendung des Performanzbegriffs mit Blick auf den Theorieaufbau.

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V. Kants Rechtsphilosophie in der Diskussion

genossen Hegel, Fichte und Schelling behauptet. Dies führt meist zu Entgegensetzungen von Autoren des deutschen Idealismus zu Kant, in denen der kantische Ansatz nur oberflächlich rezipiert wird. Der praktischen Philosophie Kants im Besonderen wird oft entgegengehalten, sie sei wegen ihrer absoluten Ansprüche wirklichkeitsfremd und überfordere ihre Adressaten, da die Natur des Menschen zu wenig berücksichtigt werde. Unter anderem aus diesen Gründen wird der Rückgriff auf die kantische Theorie als solche auch in der Rechtsphilosophie und den Rechtswissenschaften häufig als wenig ertragreich angesehen. Die folgende Auseinandersetzung mit den drei genannten Argumentationstopoi – nämlich dem Vorwurf an die kantische Philosophie, eine zu umfassende Systemphilosophie zu bieten, der Überwindung Kants im deutschen Idealismus und der Wirklichkeits- und Naturfremdheit der praktischen Philosophie Kants – soll dazu dienen, diese Urteile als Vorurteile aufzudecken und einen freieren Blick auf die philosophische Leistung Kants zu gewinnen. So sollen solche möglichen Bedenken überwunden werden, die auch auf die kritische Rechtsphilosophie durchschlagen. a) Kants Philosophie als zu umfassende Systemphilosophie? Die kantische Philosophie wird in der Gegenwart teils als zu anspruchsvolle Systemphilosophie angesehen, die sich an ihrem Anspruch überhebe und zu keinem Ende käme. Stattdessen seien Theorien der „kleinen Münze“ angemessen, die jeweils Einzelprobleme sinnvoll und angemessen lösen. Daher wird oft nur auf einzelne Abschnitte des kantischen Werkes zurückgegriffen, die dann in das jeweilige, vermeintlich kleinere Anliegen integriert werden. Zum Beispiel gewinnt die Wertungsjurisprudenz nach Canaris, wie die meisten rechtstheoretischen Ansätze, ihre Auffassung von System aus der Kritik der reinen Vernunft. Ein System ist demzufolge die Zusammenfassung einer Mannigfaltigkeit unter einer Einheit.16 Canaris Ansatz schreitet von dieser kantischen Systemdefinition fort zu einer wesentlich induktiv ausgerichteten Theorie von Rechtsprinzipien, mit deren Hilfe Einheit und Folgerichtigkeit im Rechtsdenken erzielt werden soll. Kant verwendet aber den Begriff des Systems mehr dem Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts entsprechend als Inbegriff von Lehrinhalten und nicht dem des vor allem im 19. Jahrhundert immer populärer gewordenen Begriffs entsprechend als eigene Lehre im Sinne einer Disziplin, die mittels einer induktiven Methode eine gegebene Vielheit vereinheitlicht.17 So steht die kantische Auffas16

Die Zitationsbasis dafür bei Kant bildet KrV, A 832/B 860. Vgl. Grimm, Wörterbuch der deutschen Sprache, Bd. 12, 554. Ebenso Höffe, Der kategorische Rechtsimperativ, 41 f. 17

2. Argumentationstopoi gegen Kants Philosophie und ihre Überwindung

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sung von System dem heute verwendeten konstruktivistischen Systembegriff nahe, demzufolge ein System aus Grundunterscheidungen und Theorieelementen besteht, aber nicht einfach auf eine einheitliche methodische Anweisung zurückzuführen ist.18 Ein besonderes Kennzeichen dieses kantischen Systembegriffs besteht darin, dass dieser nicht auf die vollständige Erfassung von Einzelphänomenen zielt, sondern vielmehr in den entsprechenden synthetischen Sätzen a priori in der Kritik der reinen Vernunft, der Kritik der praktischen Vernunft und der Kritik der Urteilskraft darauf zielt, Klarheit hinsichtlich der jeweils situativ anzuwendenden und zu kombinierenden Theorieelemente zu gewinnen.19 Den kantischen „Systembegriff“ auf dem Gebiet einer praktischen Ordnung bietet dabei der kategorische Imperativ und für das Gebiet des Rechts der Rechtsimperativ. Erst unter dieser kantischen Systemperspektive als einer Theorie, die die Voraussetzungen von Handlung und ihrer Normierung aufdeckt, spielt dann ein von Canaris irrtümlicherweise auf Kant zurückgeführter Systembegriff als „Zusammenfassungsorgan“ eine Rolle – nämlich wenn es darum geht, sinnliche Gegebenheiten zu beobachten. Diese Beobachtung sollte aber, so die kantische Systemanweisung, in praktischer Hinsicht im Ausgang von Handlung erfolgen, um so dem Gegenstandsbezug angemessen formulierbar zu sein. Der Rechtsimperativ stellt ebenso wie der kategorische Imperativ ein zentrales Element dar, das ein rein technisch-formal-induktiver Systembegriff außer Acht lässt. Daher fällt ein solcher Systembegriff als theoretische Anweisung auf dem praktischen Gebiet, wie am Beispiel der Wertungsjurisprudenz gezeigt werden konnte, in einen performativen Widerspruch.20 Die Validität solcher „kleinen Theorien“ und damit ihre eigene Leistungsfähigkeit werden durch den Verzicht auf eine Reflexion ihrer eigenen Voraussetzungen minimiert, da sie hinsichtlich ihres eigenen Anspruchs im Vollzug ebendieses Anspruchs am konkreten Fall in performative Widersprüche gerät. Um dies zu vermeiden ist es vorteilhaft auf eine Theorie wie die kantische zurückzugreifen, die auch geeignet ist, die von den „kleinen Theorien“ als sicher angenommenen und vorausgesetzten Unterscheidungen zu hinterfragen und für solche grundlegenden Fragen, wie etwa die nach der Rechtsbedeutung, abstraktere und kohärentere Lösungselemente bereitzustellen.

18

Vgl. statt aller kurz v. Glaserfeld, Konstruktivismus statt Erkenntnistheorie, 31,

37 f. 19 Vgl. zu Kant und Konstruktivismus Esser, Kants Tugendlehre, 228–248, die einen kantischen Konstruktivismus in der Ethik entwickelt, der insofern radikal ist, als er auch die je eigenen Voraussetzungen überprüft und nicht mittels jeweils selbst nicht weiter thematisierter Hypothesen möglichst schnell ein anstehendes empirisches Problem lösen möchte. 20 Vgl. III. 2. dieser Arbeit.

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V. Kants Rechtsphilosophie in der Diskussion

b) Die Überwindung Kants im deutschen Idealismus? Schon in der Diskussion um die kantische Theorie bei Kants späten Zeitgenossen Fichte, Hegel und Schelling bildet sich die Meinung heraus, diese sei ein guter Anfang, aber die eigentliche philosophische Aufgabe, der Weg zum Absoluten sei noch zu beschreiten.21 Hegel zielte dabei in seiner Vollendung des kantischen Projekts auf eine „Totalreflexion“. Dabei sollte die kantische Philosophie, insbesondere auch die praktische Philosophie, auf dem Weg zum Absoluten hin, wie er in der „Phänomenologie des Geistes“ beschritten wird, aufgehoben werden. Diese „Aufhebung“ besteht in dem Durchdenken der jeweiligen kantischen Theorieelemente bis diese mit sich selbst derart in einen Widerstreit geraten, dass ein Fortschreiten, eine neue Setzung eines Welt- beziehungsweise Selbstverhältnisses erforderlich wird.22 Fichte versucht das kantische „System“ im Ausgang von einem Tatbegriff zu vollenden. Die kantische Philosophie bildet aus Fichtes Sicht einen nicht konsequent durchgeführten Versuch einer Transzendentalphilosophie, da sie ein theoretisches Teilgebiet der Erkenntnis neben ein praktisches Teilgebiet der Handlung stellt. In seinen Wissenschaftslehren und Sittenlehren führt Fichte darum auch das gegebene Erkenntnisobjekt auf einen Wollensakt des Beobachtenden zurück.23 Schelling unternimmt den Versuch, in Reaktion auf die aus seiner Sicht zu idealistischen hegelschen und fichteschen Versuche, unter Bezug auf Aristoteles, die realistische Seite, den Naturbezug einer philosophischen Theorie neben den aus seiner Sicht rein idealistischen Ansätzen von Fichte und Hegel wieder in den Vordergrund zu rücken. Dabei geht er von einer Duplizität in der Identität von idealen und realen Elementen aus, um zu verdeutlichen, dass der ursprüngliche Akt des Selbstbewusstseins ideal und real ist, aber die idealen und realen Elemente dennoch einander entgegengesetzt sind.24 21 Beispielhaft für das Bestreben im Ausgang von Kant dessen Ansatz konsequent zu durchdenken etwa: Fichte, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre 1797, SW, I, 475–491, der sich hier mit seinem Ansatz als wahrer Kantianer im Unterschied zu den aus seiner Sicht dogmatischen Adepten Kants sieht; Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, 5, der mit Fichte aber zugleich anders als dieser den Geist der kantischen Philosophie weiterentwickeln will, ebenso wie Schelling, Philosophische Briefe, 68 f. 22 Vgl. dazu die entsprechenden Passagen zur gesetzprüfenden Vernunft und der moralischen Weltanschauung in Hegel, Phänomenologie des Geistes, die den Zweck haben, die kantische Grundlegung der Moral in seine Philosophie zu integrieren und so aufzuheben. 23 Vgl. dazu Fichte, Wissenschaftslehre 1794, SW I, 91 ff. Zu Fichtes Leistung, eine Einheit von Natur und Freiheit im Rahmen seiner Wissenschafts- und Sittenlehren zu denken und so eine umfassende Transzendentalphilosophie zu bieten, siehe Zöller, Konkrete Ethik, 206 ff. und 212 ff.

2. Argumentationstopoi gegen Kants Philosophie und ihre Überwindung

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In der Rezeption des 19. Jahrhunderts wurde aus diesen hier kurz skizzierten Reaktionen auf die kantische Philosophie das Standardtopoi einer fortschreitenden Entwicklung „von Kant zu Hegel“.25 Damit war gemeint, dass die kantische Theorie über Fichte schließlich durch Hegel vollendet und so überwunden wurde. Schelling kam dabei eine eher untergeordnete Rolle zu. Würde diese Entwicklungszuschreibung zutreffen, so wäre ein Rückgriff auf die kantische Rechtsphilosophie schon aus einem philosophiehistorischen Grund heraus allenfalls von historischem Interesse. Bedenkt man aber, dass das kantische Unternehmen als kritisches angelegt war, so bietet sich ein anderer Ansatz an, um verschiedene philosophische Theorien aufeinander zu beziehen. Das kritische Unternehmen geht davon aus, dass jegliche Gegenstandsbeziehung eine ideale und eine reale Seite in ihrem Bezug zueinander voraussetzt. Dies zeigt sich etwa in der Analytik der Kritik der reinen Vernunft an der nur zu Theorie- und Darstellungszwecken vorgenommenen Unterscheidung zwischen den reinen Formen der Anschauung und den reinen Formen des Denkens. Ebenso wird in der praktischen Philosophie auf der Ebene des Willens zwischen Sollen und Wollen unterschieden, die auseinander treten können und dennoch aufeinander bezogen werden. Aus kritischer, kantischer Sicht besteht die Gemeinsamkeit mit den Ansätzen von Fichte, Hegel und Schelling darin, dass auch hier ideale und reale Theorieelemente in ihren Zusammenhang zueinander gesetzt werden. Zu diskutieren wäre dann, welcher Autor was als ideal oder real identifiziert und vor allem, worin die Verbindung dieser beiden Elemente besteht. Entsprechend muss in detaillierten Analysen jeweils diskutiert werden, ob die jeweiligen Überwindungen der kantischen Rechtsphilosophie auch solche sind. Stünde an dem Ende einer solchen Untersuchung ein negatives Ergebnis,26 so könnte alternativ versucht werden, die verschiedenen idealen und realen Theorieelemente in ihrem jeweiligen Verhältnis zueinander zu betrachten und so die kantische, fichtesche und hegelsche Rechtsphilosophie aufeinander zu beziehen. Dabei handelt es 24

Vgl. dazu Schelling, System des transzendentalen Idealismus, 84 und 92. Vgl. Kroner, Von Kant bis Hegel, Einleitung. 26 Zu einem solchen negativen Ergebnis führt eine Untersuchung von Hegels Anspruch, in der Phänomenologie des Geistes mit dem Abschnitt zur gesetzprüfenden Vernunft den kategorischen Imperativ als zentralen Bestandteil der kantischen Grundlegung von Moral aufgehoben zu haben, vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 281–288. Denn die gesetzprüfende Vernunft geht nicht auf das kantische Problem der Willensbestimmung ein und versteht die Allgemeinheit des kategorischen Imperativs als formalen Satz vom Widerspruch während Kant durch diesen eine strukturelle Allgemeinheit von der Maxime eines Handelnden her erschließt (vgl. zu Kant IV. 1. b) dieser Arbeit). Landau, Das Unrecht als Stufe des abstrakten Rechts, sieht etwa durch die Aufnahme des Unrechts als abstraktes Recht durch Hegel vor allem Kants transzendentale Rechtsauffassung kritisiert, die aus Hegels Sicht nur zwischen Recht und Unrecht unterscheide. 25

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V. Kants Rechtsphilosophie in der Diskussion

sich aber um ein Forschungsdesiderat und nicht um eine Aufgabe, die in dieser Arbeit mit diesem Thema zu erfüllen wäre. Gezeigt ist aber, dass auch die Annahme einer fortschreitenden Entwicklung von Kant zu Hegel nicht zu einer historischen oder intellektuellen Überwindung der kantischen Philosophie führt. c) Die Wirklichkeitsfremdheit des praktischen Gesetzes? Die praktische Philosophie Kants wird oft als wirklichkeitsfremd bezeichnet. So werfen unter anderem gegenwärtige Ansätze der Tugendethik der kantischen Theorie vor, die Lebenswelt der Menschen mit seiner formalistischen und rigoristischen Moralphilosophie zu überfordern, sowie für eine Anwendung auf diese Lebenswelt untauglich zu sein.27 Werden aber die unterschiedlichen Reflexionsebenen der kantischen Theorie, etwa die Unterscheidung zwischen der Grundlegung von Praxis und ihrer Anwendung in Recht und Ethik bedacht, so ist diese Kritik nur unter Nichtberücksichtigung dieser verschiedenen Reflexionsebenen zu begründen.28 Denn diese führen genau zu einer Anwendung und verdeutlichen, dass Unterscheidungen, wie etwa die zwischen Recht, Ethik und Moral, insoweit zu Theoriezwecken getroffen werden, als dass sie nebeneinander auf eine Handlung hin angewendet werden können, die sich dann jeweils anders darstellt oder gar keine Handlung ist. Wie unzutreffend der Einwand der Wirklichkeitsfremdheit der kantischen Theorie ist, wird insbesondere vom Problembestand der Grundlegung her deutlich. Denn hier zielt Kant auf die Begründung von Handlung überhaupt ab, eine Leistung, die die Tugendethik als Phänomenbeschreibung mit ihrem Anspruch der Handlungsorientierung schlicht unhinterfragt in Anspruch nimmt. Dass aber eine Wirklichkeitsnähe, die durch den Verzicht auf Reflexionsleistungen gewonnen wird, ausgerechnet innerhalb von philosophischen Theorien gefordert wird, erscheint wenig überzeugend. Denn Philosophie besteht zu einem wesentlichen Teil aus Theoriebildung, wie sich auch am Beispiel der Theorien der Tugendethik zeigt.29 Neben dieser Kritik von Seiten der gegenwärtigen Moralphilosophie wird gerade im Ausgang von Naturphänomenen die kantische Philosophie oft als histo27 Für eine detaillierte Auseinandersetzung mit der Tugendethik vgl. Esser, Kants Tugendlehre, 21 ff. mit weiteren Nachweisen. 28 Vgl. dazu Abschnitt IV. 3. dieser Arbeit. 29 Etwa Nussbaum, die mit ihrem tugendethischen Ansatz schlussendlich sowohl in Opposition zu Kant wie auch zu Aristoteles steht, obwohl ursprünglich Aristoteles’ Ethik metaphysikfrei fruchtbar rekonstruiert werden sollte. Denn die kantische Theorie ist ihr zu wirklichkeitsfremd und die aristotelische Theorie rezipiert Nussbaum ohne die dafür grundlegende Metaphysik des Aristoteles.

3. Zur Kant-Rezeption in der Rechtsphilosophie

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risch überholt bezeichnet oder als naturfremd qualifiziert. Gerade im Bereich einer bewusstseinstheoretischen Diskussion um die Freiheit des Willens zielen Hirnforscher in diese Richtung.30 Die Kritik als historisch überholt fußt dabei in der Überzeugung, dass der Fortschritt in den Naturwissenschaften weit reichende philosophische Überlegungen hinfällig machen würde.31 Dabei gerät aber in Vergessenheit, dass die Frage nach der Berechtigung einer Erkenntnis stets in zwei Hinsichten überprüft werden kann: Zum einen durch Versuch und zum anderen durch die Frage nach ihrer theoretischen Validität. Hier positioniert Kant sich mit der grundlegenden Frage nach den Voraussetzungen, die für eine bestimmte Erkenntnis in Anspruch genommen werden müssen. Davon zu unterscheiden ist weiterhin im Bereich der praktischen Realität, dass diese von Kant als eigenständige Gegenstandsbeziehung angesetzt wird, die eine Perspektive neben der beobachtenden der Naturwissenschaften darstellt. Beide Problemfelder bleiben im Bereich der empirischen Kritik unberücksichtigt. 3. Zur Kant-Rezeption in der Rechtsphilosophie Dieser Abschnitt soll für klassische rechtsphilosophische Rezeptionen ebenso wie der folgende für in der deutschen Rechtsprechung und Gesetzesinterpretation bestehende Rezeptionen der kantischen Rechtsphilosophie exemplarisch belegen, dass die hier entwickelte kritische Rechtsphilosophie produktiv an diese bestehenden Rezeptionen angeschlossen werden kann. Für die rechtsphilosophische Rezeption wird dies anhand des Unterschiedes zwischen Neukantianismus und kritischer Rechtsphilosophie gezeigt, zumal die neukantianische Strömung zu weiten Teilen eine originär rechtswissenschaftliche Leistung darstellt. Sodann wird auf die Rezeption der kantischen Rechtslehre im Rahmen der Diskussion um Vertragstheorien eingegangen, in der Kant als Vertreter einer idealen Vertragsauffassung gilt. Leitend ist dabei die Frage, 30 Vgl. dazu Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit, wenn er zunächst alles Handeln auf das limbische System zurückführt, ebd., 310, später aber die Frage aufwirft, wie mittels Bewusstseinszuständen objektive Wahrheiten über andere Bewusstseinszustände ausgesagt werden können, die wiederum andere Bewusstseinszustände voraussetzen, ebd. 357. Dieses Problem löst Roth dadurch, dass er auf den Wahrheitsanspruch verzichtet, ebd. 363. Die philosophische Strategie wäre, eine Antwort auf dieses Problem zu wagen. 31 So etwa Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit, 310. Von Seiten der Biologie wurde die naturalistische Überwindung des kantischen a priori durch die Stammesgeschichte bereits von Lorenz, Kants Lehre vom Apriori, verkündet. Dabei verkennt Lorenz, dass das a priori nicht Teil einer über allem Weltlichen schwebenden zweiten Welt ist, die man nicht sehen kann. Vielmehr ist das a priori Bestandteil einer Theorie der Erfahrungsermöglichung – und Erfahrung nimmt auch die Biologie in Anspruch. Die Thesen von Lorenz zur kantischen Theorie können daher nur als Reflexionsverweigerung verstanden werden.

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V. Kants Rechtsphilosophie in der Diskussion

welche Theorieelemente der kritischen Rechtsphilosophie jeweils gesehen oder übersehen wurden. a) Der Neukantianismus im Unterschied zur kritischen Rechtsphilosophie Historisch wirkmächtig in der juristischen Rechtsphilosophie sind die neukantianischen Rezeptionen, soweit sie durch Juristen begründet wurden. So werden die originär juristischen Schriften Lasks, Rickerts, Somlós, Stammlers, Windelbands und auch später Kelsens teils in der Gegenwart direkt oder indirekt als kantische Beiträge zur Rechtslehre als praktischer Disziplin wahrgenommen.32 Die neukantianischen Rechtstheorien enthalten dabei trotz mannigfacher Unterschiede zwei gemeinsame, zentrale Thesen:33 (1) Die Aufgabe von Philosophie ist die Wissenschaftsbegründung in dem Sinne, dass die Möglichkeit der jeweiligen Einzelwissenschaften hinterfragt werden muss, um diese als solche zu begründen oder einzuordnen. (2) Sein und Sollen sind strikt zu trennen.34 Diese beiden Thesen wirken bis heute intensiv fort, z. B. in der Suche nach dem „richtigen Recht“. Richtig ist das Recht dann, wenn es unabhängig von seinen inhaltlichen Aussagen in einem einheitlichen Verfahren erfasst werden kann.35 Dabei deutet schon die Formulierung an, dass die Bewertung einer 32 Z. B.: Lask, Rechtsphilosophie, 269–320; Rickert, Kant als Philosoph der modernen Kultur; Somló, Juristische Grundlehre; dazu gegenwärtig Funke, Läßt sich juristische Objektivität auf eine „Allgemeine Rechtslehre“ gründen?, 33; Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft; dazu gegenwärtig affirmierend Wenn, Juristische Erkenntniskritik, 28; und Windelband, Über Willensfreiheit. Kaum rezipiert werden dagegen die originär philosophischen Beiträge zum Neukantianismus, etwa von Ernst Cassirer oder Paul Natorp. 33 Für die Unterscheidung zwischen den verschiedenen Schulen in so viele Hinsichten, dass die Bezeichnung „Neukantianismus“ als Schulbegriff ihren Sinn verliert vgl. Holzhey, Artikel Neukantianismus, in: Ritter et al. [Hg.]: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 6, 747–754. Eben weil die neukantianische Strömung aus vielen Vertretern bestand, die untereinander durch zahlreiche Gemeinsamkeiten, aber auch durch Unterschiede relativ zum Problemkreis der Einschätzung eines bestimmten Theoriestücks der kantischen Philosophie gekennzeichnet sind, bleibt die Unterscheidung in so genannte verschiedene Schulen, wie etwa den Marburger und Süddeutschen oder Badischen Neukantianismus hier außen vor, da eine solche Zuordnung wegen ihres unklaren Bezugspunktes keine Klarheit bringt. 34 So etwa Kelsen, Reine Rechtslehre, 66 und Rickert, Kant als Philosoph der modernen Kultur, 45, und XI, XII, sowie ders., Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 116 f. So auch Windelband, Willensfreiheit, 109, zu dem Begriff der Freiheit, der zunächst das faktische Sein von Sollen und Wollen trennt, die Frage nach einem „primären Wollen“ aufwirft und diese dann zu Begründungszwecken letztlich als allein theoretische Frage betrachtet und so das praktische Anliegen der Trennung von Sein und Sollen mit dem theoretischen Anliegen der Wissenschaftsbegründung verknüpft. 35 Vgl. schon im Titel, Stammler, Richtiges Recht, 55. Ebenso über ein halbes Jahrhundert später Larenz, Richtiges Recht. Für weitere Nachweise für dieses Anliegen bei Bierling, Radbruch und Lask, siehe Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, 14.

3. Zur Kant-Rezeption in der Rechtsphilosophie

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Rechtsordnung als rein theoretischer Akt mit der Unterscheidung richtig/falsch anstatt der praktischen Unterscheidung „recht/un-recht“ angesehen wird. So werden einerseits Sein und Sollen getrennt, aber andererseits dennoch der Bereich des Sollens und der Werte von den neukantianischen Ansätzen mit im kantischen Sinne theoretischen Mitteln erfasst. Diese überraschend deutlich inkohärente Kombination wird verständlicher, wenn man bedenkt, dass aus Sicht der kritischen Rechtsphilosophie schon die Verengung der kantische Theorie auf Wissenschaftsbegründung fragwürdig erscheint – zielt doch die kantische Theorie auf praktische Freiheit.36 Die Verengung auf Wissenschaftsbegründung in theoretischer Absicht hängt vor allem damit zusammen, dass hauptsächlich die Kritik der reinen Vernunft als das leitende Werk angesehen wurde.37 Dass diese den Nachweis führen sollte, dass neben der theoretischen Realität eine praktische Realität denkbar ist, gerät dabei ebenso in Vergessenheit, wie, dass die Begründung der praktischen Realität erst in der Grundlegung beziehungsweise Kritik der praktischen Vernunft erfolgt.38 Erst von dieser Grundlage aus ist mit Kant eine spezifisch praktische Wissenschaft und damit eine angemessene Bezugnahme auf den Bereich des Handelns möglich, der unter anderem das Sollen umfasst. Aufgrund ihrer Orientierung an der Kritik der reinen Vernunft verhandeln konsequenterweise etwa Stammler in seiner juristischen Erkenntniskritik und Somló in seiner Rechtslehre keine handlungsbezogenen, praktischen Probleme im Sinne Kants. Eine Rezeption Stammlers als kritischem Erkenntnistheoretiker trifft insofern zu, als er mit seinen Grundbegriffen des Rechts eine Aufzählung von zu seiner Zeit verwendeten Rechtsbegriffen bietet.39 Auch Somló gewinnt die seiner Ansicht nach grundlegenden Rechtsbegriffe aus einem rein definitorischen Vorgehen, etwa wenn er zwischen verschiedenen Normtypen wie Sozialnormen, Religionsnormen und Willensnormen unterscheidet.40 Beide reflektieren so allein in theoretischer, klassifizierender Absicht und lassen die praktische Realität in dem handlungsbezogenen Sinne Kants außer

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Vgl. Kant, KrV, A 798/B 828 und IV. 1. dieser Arbeit. Siehe dazu etwa Kersting, Neukantianische Rechtsbegründung, 27 f., 46 ff. 38 Vgl. IV. 1. dieser Arbeit. 39 Vgl. Wenn, Juristische Erkenntniskritik, und Stammler, Die Lehre vom richtigen Recht. Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 86 f. und 124, geht so vor, wenn er Werte und Wirklichkeit unterscheidet, dann aber die Werte an die faktische historische Entwicklung bindet und zu dem Schluss kommt, dass Werte nur historisch faktisch fassbar seien und daher allein als eine von uns unabhängige Ordnung erkannt werden können. 40 So unterscheidet Somló, Juristische Grundlehre, 55–92, der unterhalb des Oberbegriffs des Rechts verschiedene Normen z. B. Religionsnormen, Willensnormen, Sozialnormen und weitere unterscheidet, vgl. auch ebd., 144. 37

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Acht.41 Sie verfehlen damit einen wesentlichen Teil der kantischen Philosophie, nämlich die Möglichkeit einer juristischen Rechtskritik, welche die spezifisch praktische, handlungsbezogene Seite des Rechts mitreflektiert. Dass die neukantianischen Ansätze aber in wissenschaftsbegründender Absicht allein auf die Erkenntnis zielen und dabei definitorisch vorgehen, stellt aus Sicht der kritischen Rechtsphilosophie einen Mangel dar, der es rechtfertigt, die neukantianischen rechtsphilosophischen Ansätze letztlich als rechtstheoretische und nicht als rechtsphilosophische zu klassifizieren. Denn die eine Rechtsordnung soll in den neukantianischen Ansätzen durch einen beobachtenden, theoretischen Erkenntnisakt möglich sein, während sie in der kritischen Rechtsphilosophie als die praktische, handlungsbezogene Frage nach dem Recht des Rechts zu stellen und zu beantworten ist.42 b) Kant als idealer Vertragstheoretiker? Eine eher politisch-philosophische Rezeption erfährt Kant in der Diskussion um einen ursprünglichen, rechtsbegründenden Vertrag. In diesem Zusammenhang gilt Kant als Vertreter einer Theorie, der zufolge Normen durch einen ursprünglichen Vertrag als allgemeinverbindlich begründet werden. Kant gilt hier näherhin als Vertreter einer idealen Vertragsauffassung und wird als solcher neben Rawls, Habermas aber auch Rousseau einer realen Vertragsauffassung entgegengesetzt, als deren Vertreter Hobbes gilt.43 Ist die Intention, eine Staatsbegründung jenseits hobbesianischer Machterwägungen zu versuchen, durchaus zu würdigen, so greift eine Rezeption Kants als 41 Vgl. für den theoretischen Reflexionszweck: Somló, Juristische Grundlehre, 7. Vgl. auch oben Fn. 40 zu Rickert. Dies kritisiert auch Kersting, Neukantianische Rechtsbegründung, 27 f., 46 ff., der die KrV im Falle Stammlers als dessen alleiniges Vorbild sieht und dies umfangreich und zutreffend mit Zitaten von Stammler belegt. Ebenso kritisiert Kersting Kelsen, ebd., 61. Dagegen schließt Alexy, Hans Kelsens Begriff des relativen Apriori, 199 und 202, positiv an Kelsen an für das Projekt eines „richtigen Rechts“. Schon die Formulierung des praktischen Apriori belegt hier bei Kelsen wie bei Alexy ein spezifisch theoretisches Verständnis des Sollens gepaart mit einer Gegenstellung von Apriori und Erfahrung. Letztere wird hier jedoch abgelehnt, da der apriorische Bereich nicht eine eigene Welt neben der der Wirklichkeit bildet. Sondern es besteht ein Bedingungsverhältnis entsprechend dem von Grundlegung und Anwendung, in dem das als wirklich erlebt wird, was überhaupt theoretisch oder insbesondere praktisch als erkennbar beziehungsweise anerkennenswert in Relationsregeln denkbar ist, vgl. dazu IV. 2. dieser Arbeit. Der „Neu-Hegelianer“ Binder, Rechtsbegriff und Rechtsidee, 4–6 versucht zwar mehr die praktische Dimension einzubeziehen, was aber nicht überzeugend gelingt, da seine Auffassung von Handlung zu schwach ist, vgl. dazu Kersting, Neukantianische Rechtsbegründung, 44. 42 Vgl. IV. 3. dieser Arbeit. 43 Vgl. etwa Kersting, Kant über Recht, 115, demzufolge der Kantische Vertrag den vernunftrechtlichen Konstitutionsakt in Form eines idealen Rechtsgrundes für die Legitimation staatlicher Herrschaft darstellt. Vgl. auch Röhl, Rechtslehre, 292.

3. Zur Kant-Rezeption in der Rechtsphilosophie

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Vertragstheoretiker aber zu kurz. Denn die Figur des ursprünglichen Vertrages wird im Rahmen der kritischen Rechtsphilosophie Kants erst in der weiteren Anwendung des Rechtsimperativs relevant und nicht auf der Ebene der Begründung von Normen. Erst bei der Begründung des öffentlichen Rechts bezüglich der Frage nach der Rationalität einer Zentralmacht führt Kant die Figur eines ursprünglichen allgemeinverbindlichen Vertrages ein.44 Dabei gilt für Kant in der Phase der beginnenden Herausbildung von Nationalstaaten zeitgebundener Weise der Staat als Voraussetzung der Rechtsdurchsetzung.45 In der Bedeutungsreflexion auf den Rechtsbegriff, dem Teil der Theorie, der mit der Normenbegründung befasst ist, thematisiert Kant aber nicht das Gedankenexperiment einer idealen Vertragssituation oder deren Unterscheidung von einer realen Vertragsauffassung zur Rechtsbegründung, sondern die Begründung einer spezifisch rechtlichen Verbindlichkeit.46 Denn erst, wenn eine solche als denkmöglich aufgezeigt ist, kann ein Vertrag, sei er nun ideal oder real, bindend sein. Mit anderen Worten zielt die kritische Rechtsphilosophie auf die Ermöglichung einer Vertragssituation ab und erschließt mit der Relationsregel des Rechtsimperativs und dem angeborenen Freiheitsrecht die unverzichtbaren Bedingungen, die für eine solche fiktive normbegründende Gesellschaftsvertragssituation in Anspruch genommen werden müssen. Dies ist aber ein Theorieelement, das die meisten Vertragstheoretiker vernachlässigen und entsprechend auch nicht rezipiert haben. Ein Beispiel dafür ist auch die unklare Rolle der original position in der Rawlschen Theorie, die für Dworkin zum Ausgangspunkt seines theoretischen Ansatzes wird.47 Weil die Bedingungen, die zu einer Verbindlichkeit von Verträgen vorausgesetzt werden müssen, aber nicht in die Überlegungen der Vertragstheorien einfließen, kritisiert Dworkin die Figur des idealen Vertrages zurecht aus einer juristischen Sichtweise; dieser zufolge kann durch einen solchen hypothetischen Vertrag oder eine solche regulative Idee genau keine Verbindlichkeit der angesetzten Normen für den einzelnen Normenadressaten erreicht werden, da dieser 44

Vgl. Kant, MdS, 311. Dies vor dem Hintergrund der sich ab dem 18. Jahrhundert herausbildenden Nationalstaaten, die sich „unter einer gemeinsamen Idee für vereinigt erkennen“. Zum Begriff der Nation als Integrationsideologie vgl. schon Kant, Anthropologie, 311, demzufolge Nation diejenige Menge einer Gemeinschaft ist, die sich für vereinigt zu einem bürgerlichen Ganzen erkennt. Heute besteht die Herausforderung darin, entweder die Zentralemacht neu zu organisieren, z. B. durch einen Staatenverbund wie die EU oder eine andere Form der Realisierung der Rechtsidee im Rahmen einer Situation zu versuchen, die mit Teubners Wort von einem „global Law without a state“ treffend umschrieben werden kann, vgl. dazu VI. 2. dieser Arbeit. 46 Vgl. dazu IV. 3. dieser Arbeit. 47 Vgl. II. 1. dieser Arbeit. 45

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V. Kants Rechtsphilosophie in der Diskussion

nie faktisch zugestimmt hat. Denn dann steht der vermeintlich ursprüngliche Vertrag dem Normadressaten gegenüber, ohne dessen individuelle, immer schon bestehende Verbindung aufweisen zu können, wie dies aber unter Rückgriff auf die Aufgabe der Relationierung von Willkürstellen in der kritischen Rechtsphilosophie möglich ist. 4. Zur Kant-Rezeption im deutschen Recht Die kantische Philosophie ist bis heute in der deutschen Rechtswissenschaft und Rechtsprechung präsent. Anhand der Debatten um die Strafzwecklehre und der Auslegung des Menschenwürdebegriffs durch das Bundesverfassungsgericht im Rahmen von Art. 1 Abs. 1 GG wird gezeigt, wie die hier rekonstruierte kritische Rechtsphilosophie diese Standardrezeptionen verändern und so beleben kann. Leitend ist wie im vorigen Abschnitt die Frage, welche Theorieelemente der kritischen Rechtsphilosophie jeweils gesehen oder übersehen wurden. a) Die Strafzwecklehre In der Diskussion um den Strafzweck wird die kantische Theorie als absolute Vergeltungstheorie vorgestellt, die ohne äußeren Zweck allein um der Strafe willen strafen wolle. Sie wird von den Lehren der allgemeinen und besonderen Prävention unterschieden. Erstere habe die Abschreckung anderer, letztere die Besserung des Täters als Strafzweck im Blick. Überwiegend wird heute im deutschen Strafrecht eine Vereinigungstheorie von spezial- und generalpräventiven Theorien angewendet.48 Mit der Einordnung der kantischen Rechtslehre als absolute Vergeltungstheorie wird sie als Vertreterin des Talionsprinzips angesehen. Das Talionsprinzip besagt, dass Gleiches mit Gleichem vergolten werden muss: Aug’ um Aug’, Zahn um Zahn. Begründet wird diese Zuordnung insbesondere mit einer Stelle aus der Metaphysik der Sitten, in der Kant fordert, dass selbst bei Auflösung eines Staates der letzte verurteilte Mörder hingerichtet werden müsse.49 Entsprechend wird der kantische Beitrag zur Strafzwecklehre als prä-modern und daher als hoffnungslos rückständig angesehen.50 48 Zur herrschenden Vereinigungstheorie von Spezial- und Generalprävention neuerdings auch unter Berücksichtigung des Opferschutzes siehe Tröndle/Fischer, StGB. Kommentar 53. Aufl., § 46 Rn. 2 und § 24 Rn. 2. 49 Kant, MdS, 332 und 334 f., aber schon mit der Unterscheidung von Quantität und Qualität der Strafe und mit der Einschränkung einer Bestrafung allein vor den Schranken des Gerichts. 50 Vgl. so etwa Roxin, Strafrecht AT I, 41–43, der die Philosophie des deutschen Idealismus, insbesondere die kantische Philosophie als wesentlichen Grund dafür ausmacht, dass das archaische Talionsprinzip („Aug’ um Aug’, Zahn um Zahn“) lange Zeit so einflussreich war, ebd., 42.

4. Zur Kant-Rezeption im deutschen Recht

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Bedenkt man aber, dass diese Stelle im Anwendungsteil der Metaphysik der Sitten für eine konkrete Rechtsordnung, nämlich die damalige preußische bestimmt ist, so sind für eine Rekonstruktion und Einordnung einer kantischen Strafzwecklehre zumindest noch ergänzend der allgemeinere Teil, der den Rechtsimperativ enthält, wie auch andere Stellen, die von dem Zweck der Strafe handeln, heranzuziehen. So unterscheidet Kant in der Metaphysik der Sitten zwischen einem ius talionis in formeller und in materieller Hinsicht. Dabei soll, so Kant, das ius talionis nicht in materieller, sondern nur in formeller Hinsicht Anwendung finden.51 Aus der Unterscheidung von formeller und materieller Hinsicht des Talionsprinzips ergibt sich, dass eine kantische Strafzwecklehre in der Tat nicht „talionsfrei“ gelesen werden kann. Aber das bedeutet auch, dass hier nicht eine absolute, materielle Vergeltung verlangt wird. Das Talionsprinzip hat auch nicht die Funktion, Strafe zu begründen. Die Begründung von Strafe muss dabei vor dem Hintergrund von wechselseitig abzugrenzenden Freiheitssphären erfolgen. Dabei werden bestimmte Freiheitsverletzungen als so gravierend angesehen, dass eine Strafe durch die Allgemeinheit in Form des Staates erforderlich scheint, um sie so zu sühnen. Daraus ergibt sich aber, dass mit Kant die Strafe nicht um der Strafe willen gefordert wird, sondern die Strafe als Instrument der Eingliederung des Straftäters in die Rechtsordnung zu verstehen ist, in dem auf seine Tat von Seiten der Rechtsordnung reagiert wird. Von daher ergibt sich eine Offenheit der kantischen Strafzwecklehre gegenüber spezial- oder generalpräventiven Überlegungen. Absolut ist eine kantische Strafzwecklehre dann nur noch in dem Sinne, dass allein rechtliche Wertungen den Ausgangspunkt für die Bestrafung bilden müssen – ein Gedanke, der nun genau nicht als ein Beispiel für eine veraltete und archaische Strafzwecktheorie taugt, sondern ebenso Bestandteil der vermeintlich viel tauglicheren Präventionslehren ist. Diese bergen aber ihrerseits immer nicht nur die Gefahr in sich, auf eine Gesamtbetrachtung der Lebensführung eines Täters und so auf eine Lebensschuld abzustellen.52 Sondern sie können unter Umständen auch aufgrund einer alleinigen Bezugnahme auf präventive, rechtsexterne Zwecke zu einem Vergessen ihrer eigenen Aufgabe führen, Recht zu realisieren. Dieser Betrachtungsweise wird durch eine kantische Perspektive entgegengewirkt, da diese als rechtliche Theorie stets auf einzelne Handlungen 51 Kant, MdS, 363 „das ius talionis der Form nach“. Zu präventiven Tendenzen der kantischen Strafzwecklehre vgl. Mosbacher, Kants präventive Straftheorie, der aber genau den Bezug des ius talionis formalis auf die Strafzumessung übersieht. 52 Davon ist die im deutschen Recht übliche Heranziehung der Lebensumstände und Vorgeschichte des Täters im Rahmen der Strafzumessung zu unterscheiden. Vgl. Kühl, Elemente der Lebensschuld im deutschen Strafrecht.

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V. Kants Rechtsphilosophie in der Diskussion

oder abgeschlossene Handlungszusammenhänge in allein rechtlicher Perspektive abstellt. b) Der Begriff der Menschenwürde Zu der Frage nach der Bedeutung des Terminus der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG wird auf die kantische Theorie in ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Form der von Dürig daraus erschlossenen ObjektFormel zurückgegriffen.53 Menschenwürde bedeutet demnach unter Rückgriff auf eine entsprechende Abwandlung des kategorischen Imperativs,54 den Einzelnen nicht nur als Mittel sondern stets auch als Zweck des eigenen Handelns zu begreifen.55 Kritisiert wird diese Fassung wegen ihrer abstrakten Formalität, sowie, weil sie aus Sicht der konkurrierenden Leistungstheorie56 zu wenig an das reale eigene Handeln und den daraus resultierenden Leistungen der Rechtssubjekte anknüpft. Aus Sicht der kritischen Rechtsphilosophie Kants ist der Einwand der Formalität voll berechtigt – allerdings aus einem anderen Grund. Denn die ObjektFormel verkennt den Aufbau der kritisch-praktischen Theorie.57 Der katego53 Vgl. Maunz/Dürig-Herdegen, GG-Kommentar, Art. 1 Abs. 1, Rn. 28, 34. Seit BVerfGE 6, 32, 36, 42; BVerfGE 30, 1, 25 f.; BVerfGE 96, 375, 399 und zuletzt durch die Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz, das in seinem § 14 Abs. 3 die Ermächtigung des Verteidigungsministers (der Streitkräfte), nach Rücksprache mit dem Innenminister, zum Abschuss eines von Terroristen entführten Flugzeuges enthält. 54 Dürig schließt dabei an die Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs an, die wie folgt lautet: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ Kant, GMS, 429. 55 Bis heute ist das die ausschlaggebende Formulierung bei Entscheidungen des BVerfG, zuletzt etwa im Zusammenhang mit der Entscheidung zum Luftfahrtsicherheitsgesetz, indem zunächst zwischen den verschiedenen Gruppen, die sich an Bord eines solchen Flugzeuges befinden, unterschieden wird: den Terroristen selbst, dem Personal und den Passagieren. Letztere werden, so das BVerfG, im Fall des Abschusses zu reinen Objekten staatlichen Handelns herabgewürdigt. Vgl. BVerfG, 1 BvR 357/05 vom 15.2.2006. Sehr kritisch zu dieser Entscheidung des BVerfG Dessauer, Philosophische Überlegungen zum Luftsicherheitsgesetz, der insbesondere mit einer Disabler/Enabler-Unterscheidung eine Instrumentalisierung der Passagiere im Abschussfall ablehnt, da sie nicht direkt als „Enabler“ benutzt würden (= willentlich getötet werden), um die Terroristen zu eliminieren, sondern deren Tod als „Disabler“ ein ungewollter Nebeneffekt (= collateral damage) einer Rettungshandlung sei. Da allerdings im deutschen Recht auch die billigende Inkaufnahme, hier der Tod des Disabler, als vorsätzliches Handeln angesehen werden muss, hilft die Disabler/Enabler-Unterscheidung nicht über den Instrumentalisierungsgedanken des BVerfG hinweg. 56 Vgl. dazu Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 354 für die „Mitgifttheorie“ und Rn. 355 zur „Leistungstheorie“. Die Leistungstheorie sieht in der Objektformel einen Fall der Mitgifttheorie und setzt dieser entgegen, dass sie nur auf das selbstbestimmte Verhalten des Menschen zurückgreife und daher einer bestimmten philosophischen Tradition nicht bedürfe. Die Gemeinsamkeiten betonend, ebd., Rn. 356, 358. 57 So auch Reisinger, Recht und Freiheit oder Recht als Freiheit?, 714.

4. Zur Kant-Rezeption im deutschen Recht

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rische Imperativ eingeschlossen seiner Abwandlungen hat innerhalb der kantischen Theorie die Funktion der Begründung von Handlung und einer dieser korrelierten Normativität. Erst die Tugend- und die Rechtslehre stellen Schritte der Anwendung dar.58 Da die Artikel des Grundgesetzes, insbesondere auch die Grundrechte als rechtliche Normierungen zu verstehen sind, ist der geeignete Anknüpfungspunkt beziehungsweise das heranzuziehende Theorieelement einer kritischen Rechtsphilosophie für eine Interpretation des Menschenwürdebegriffs aus Art. 1 Abs. 1 GG der Rechtsimperativ in Kombination mit dem angeborenen Freiheitsrecht und nicht der kategorische Imperativ. Dieser bestimmt die Rechtsfähigkeit sowie auch die rechtliche Perspektive, die von Staat und Bürger gegenüber Handelnden einzunehmen ist. Die Menschenwürde ist dann nicht im Sinne der Objekt-Formel zu deuten,59 sondern als Anspruch eines jeden auf Rechtsfähigkeit wie auf gleiche Freiheit beziehungsweise freie Gleichheit. Diese sind dann weiter auszudifferenzieren, etwa in Form der Auslegung einer allgemeinen Handlungsfreiheit, wie z. B. in Art. 2 Abs. 1 GG. Die Formel von der Herabwürdigung zum Objekt zielt damit aus der hier entwickelten kantischen Sicht auf etwas Richtiges, nämlich darauf, dass dem Einzelnen keine subjektiven Rechte mehr zugestanden werden, sondern er als Teil eines Kollektivs seiner individuellen Rechtsfähigkeit zugunsten eines meist unklaren Gesamtnutzens beraubt wird und so zum praktischen Nullum degradiert wird.60 Dies aber ist mit dem kategorischen Imperativ oder seinen alternativen Formulierungen nur dem Einzelnen im Hinblick auf seine individuelle Lebensführung und Willens- oder Willkürbestimmung vorwerfbar. Mit dem Rechtsimperativ ist es aber auch möglich, solches Handeln ohne ethische Adressierung zu unterbinden. Denn dieser fordert, die Interaktionsfähigkeit der einzelnen Handelnden in ihrem Verhältnis zueinander zu erhalten, um Recht zu realisieren. Damit ist ein Handeln, dass einer Person ihre individuelle Handlungsfähigkeit und damit ihre Rechtsfähigkeit abspricht, in rechtlicher Hinsicht zu unterbinden. Die Kritik der Leistungstheorie, dass das Handeln des Einzelnen mit einer kantischen Auslegung des Art. 1 Abs. 1 GG zu wenig berücksichtigt wird, kann so zurückgewiesen werden, da genau die interaktive Handlungsfähigkeit des Einzelnen durch eine Interpretation des Menschenwürdebegriffs im Sinne der kritischen Rechtsphilosophie im Mittelpunkt steht. 58

Vgl. IV. 2. dieser Arbeit. Für die zutreffende Diagnose, dass die Menschenwürde in der kantischen Rechtsphilosophie nicht verwendet wird, siehe auch von der Pfordten, Würde des Menschen bei Kant, 516, der allerdings im Weiteren nicht auf Rechtsimperativ und angeborenes Freiheitsrecht zurückgreift. 60 Die Entscheidung zum Luftfahrtsicherheitsgesetz ist damit im Ergebnis aus Sicht der kritischen Rechtsphilosophie zutreffend. 59

VI. Gegenwärtige Rechtsentwicklungen aus den Perspektiven von Wertungsjurisprudenz, Liberalismus und kritischer Rechtsphilosophie Rechtssetzung und Rechtsprechung werden in Deutschland immer mehr durch europäische Institutionen veranlasst, vorgegeben oder beeinflusst. Bei Rechtsgeschäften, die nationale Grenzen überschreiten, werden die verschiedensten nationalen Rechtsordnungen nebeneinander und weitgehend losgelöst von nationalstaatlicher Gerichtsbarkeit angewendet. Dies belegt unter anderem die zunehmende Beliebtheit der Schiedsverfahren, die bereits zu einer Diskussion um die Entstaatlichung des Rechts führt.1 Wie können Rechtstheorie und Rechtsphilosophie solche Entwicklungen des positiven Rechts aufnehmen? Können sie nur reagieren oder auch agieren? Diesen Fragen wird hier anhand der Diskussion um die Entwicklung eines einheitlichen europäischen Schadensrechts (1.) sowie der Diskussion um die Möglichkeit der Souveränitätsbegründung und die Rolle der Zentralmacht jenseits des Nationalstaats nachgegangen (2.). Ergänzt werden diese Beispiele um einen Blick auf einen möglichen theoretischen Neuansatz, der von den Antinomien des Privatrechts ausgeht und so einen realistischeren Blick auf die Situation eines faktisch stets uneinheitlichen Rechts anstrebt (3.). An diesen Beispielen faktischer, gegenwärtiger Rechtsentwicklungen werden die Unterschiede der kritischen Rechtsphilosophie gegenüber den rechtstheoretischen Ansätzen in einer konkreten Anwendung auf der Ebene der Rechtsprinzipien und konkreten Rechte deutlich. Es zeigt sich, dass der Ansatz der Wertungsjurisprudenz wegen seines Ausgangs vom positiven Recht auf solche Entwicklungen nur passiv reagieren kann, die einen nationalen rechtlichen Rahmen verlassen. Dworkins Ansatz verlässt wegen seines Ausgangs von einer Lebenshaltung den rechtlichen Bezugsrahmen und wirkt dadurch undifferenziert. Dagegen ist es möglich, die kritische Rechtsphilosophie produktiv in diese Diskussionen einzubringen, da sie weder auf einen nationalen Gesetzgeber noch auf eine Lebenshaltung angewiesen ist und dennoch rechtlich verfährt.2 1 Vgl. mit weiteren Nachweisen Kneisel, Vom Internationalen zum Transnationalen Recht, 163 f. 2 Die drei Problemfelder sollen und können im Rahmen dieser Arbeit nicht umfangreich aufgearbeitet werden. Unter Rückgriff auf die in Abschnitt IV. 4. dieser Arbeit eingeführten Ebenen soll die Anwendbarkeit der kritischen Rechtsphilosophie auf der Ebene der Rechtsprinzipien und der konkreten Rechte im Unterschied zu den rechts-

1. Zur Entwicklung eines europäischen Schadensrechts

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1. Zur Entwicklung eines europäischen Schadensrechts Während im Bereich der vertraglichen Schuldverhältnisse, insbesondere im Bereich des Verbrauchsgüterkaufes, auf europäischer Ebene bereits eine erste, größere Vereinheitlichung stattgefunden hat,3 steht eine solche Entwicklung auf den Gebieten der gesetzlichen Schuldverhältnisse und damit auch auf dem Gebiet des Schadensrechts noch aus.4 a) Die Zersplitterung des Schadensrechts in den verschiedenen nationalen Rechtsordnungen Eine Bestandsaufnahme der bestehenden nationalen Regelungen zeigt eine Zersplitterung der verschiedenen europäischen nationalen Regelungen,5 die hier kurz an einigen Unterschieden zwischen deutschem, französischem und britischem Schadensrecht erläutert werden kann. So bietet das deutsche Recht mit den §§ 823 Abs. 1, 823 Abs. 2 und 826 Abs. 1 BGB ein differenziertes schadensrechtliches System, in dessen Mittelpunkt § 823 Abs. 1 BGB steht. § 823 Abs. 1 BGB wiederum führt mit seinem System des Rechtsgüterschutzes zu weiteren Differenzierungen. Demzufolge ist nicht jeder durch den Schädiger schuldhaft verursachte Schaden zu ersetzen, sondern nur die Schäden an den in § 823 Abs. 1 BGB aufgeführten Rechtsgütern Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum und sonstigen Rechten. Sonstige Rechte werden dabei richterrechtlich bestimmt.6 Zu nennen ist dabei vor allem das allgemeine Persönlichkeitsrecht, das als schützenswertes Rechtsgut gilt.7 Als Schadensposten waren dabei bis zur Schadensrechtsreform 2002 mit der Einführung des § 253 BGB grundsätzlich nur Vermögensschäden anerkannt mit Ausnahme der seit Mitte der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts bestehenden prinzipiellen Möglichkeit des Schadensersatzes für immaterielle Schäden in Ausnahmefällen.8 Auf der Seite der Rechtsfolgen gilt der Grundsatz theoretischen Ansätzen von Canaris und Dworkin dargelegt werden. Insoweit kommt diesem Abschnitt ein „Laborcharakter“ zu. 3 So wurden die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie (RL 1999/44/EG), die Zahlungsverzugsrichtlinie (RL 2000/35/EG) und die E-Commerce-Richtlinie (RL 2000/31/EG) mit dem Schuldrechtsmodernisierungsgesetz zum 1.1.2002 in deutsches Recht umgesetzt. Vgl. auch ZEuP 2001, 963, 967. 4 Vgl. den Entwurf eines Draft Common Frame of Reference (DCFR) aus 2008. 5 So auch Jansen, Konturen eines europäischen Schadensrechts, JZ 2005, 160, im Anschluss an Zimmermann, AcP 193, 121 ff. 6 Vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht BT II/2, 355 f. 7 Seit BGHZ 13, 334. 8 So ist seit BGHZ 26, 349 (Herrenreiter-Fall) in Deutschland anerkannt, dass gewichtige Eingriffe in das allgemeine Persönlichkeitsrecht zur Geldentschädigung wegen eines Nichtvermögensschadens verpflichten.

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VI. Gegenwärtige Rechtsentwicklungen

der Naturalrestitution, was bedeutet, dass der Zustand in natura wiederherzustellen ist, wie er vor dem schädigenden Ereignis bestand. So soll das Schadensrecht seine Ausgleichs- und Präventionsfunktion erfüllen. Pönale Elemente, also den Zweck des Schadensersatzes nicht nur in der Wiederherstellung des Zustandes vor dem schädigenden Ereignis zu sehen, sondern auch in einer Bestrafung des Schädigers, etwa durch Abschöpfung des bei dem Schädiger durch den Schaden entstandenen Gewinnes, sind dem deutschen Schadensrecht fremd. Das französische Schadensrecht geht im Unterschied zum deutschen nicht von einem differenzierten System mit mehreren Normen und differierenden Tatbeständen oder einem System des Rechtsgüterschutzes aus, sondern von einer einzigen Generalklausel in Art. 1382 c.civ., der zufolge der Schädiger dem Geschädigten den durch ihn verursachten Schaden zu ersetzen hat. Es zielt dabei auf den Ersatz als solchen primär in Geld, ohne allein auf Naturalrestitution ausgerichtet zu sein. Ein Schadensausgleich in natura ist hingegen nur in Ausnahmefällen anerkannt. Zudem werden seit der Einführung dieser Generalklausel im Jahr 1803 alle Schäden, materielle und immaterielle Schäden ebenso wie Vermögensschäden als ersatzfähig anerkannt.9 Das britische Schadensrecht arbeitet mit Analogien und Fallgruppen und ist daher ebenfalls nicht wie das deutsche grundsätzlich auf bestimmte Rechtsgüter und den Gedanken der Naturalrestitution beschränkt.10 Es wird primär von einem Schadensersatz in Geld ausgegangen. Pönale Elemente sind dabei schon lange anerkannt, auch wenn sie seit 1950 durch höchstrichterliche Rechtsprechung auf drei Fallgruppen beschränkt sind, unter anderem im Falle eines berechnenden, gewinnstrebenden Verhaltens.11 b) Vereinheitlichung mittels Wertungsjurisprudenz oder liberaler Rechtstheorie? Die Herausbildung eines europäischen Schadensrechts bedeutet nun, die verschiedenen Regelungsmodelle zu vereinheitlichen. Eine solche Vereinheitlichung kann im Vertrauen auf die Herausbildung einer europäischen Rechtsprechung durch einen besseren Austausch der höchsten Richter der jeweiligen na-

9 Vgl. Staudinger-Hager § 823 Rn. 11 und Jansen, Konturen eines europäischen Schadensrechts, 163. 10 Dies zeigt sich etwa auch anhand des Schadensbegriffs. Während im deutschen Recht von einem Gesamtschaden ausgegangen wird, der sich aus der Differenz zwischen der Vermögenslage vor und nach dem schädigenden Ereignis ergibt, arbeitet das britische Recht mit je einzelnen Schadensposten. Zur Frage, inwieweit dazu ein Gesamtschaden vorausgesetzt wird vgl. McGregor 2003 (nach Jansen, 160). 11 Die anderen beiden Fälle sind das besonders krass rechtswidrige Verhalten sowie die Fälle der gesetzlichen Anordnung.

1. Zur Entwicklung eines europäischen Schadensrechts

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tionalen Gerichte den Gerichten und ihrer Rechtsprechung überlassen werden. Eine gesetzliche Vorgabe ist dann nicht mehr erforderlich.12 Ein solches Vorgehen birgt aber zum einen die Gefahr, dass die Entwicklung eben durch willkürliche Einzelentscheidungen erfolgt und so dem Rechtfertigungserfordernis der Wertung, etwa durch Gesetzgebungsverfahren, nicht Rechnung getragen wird. Denn die Rechtfertigung für eine neue Wertung erfolgt dann weder im Rahmen einer demokratischen Legitimationskette noch unter einem nachvollziehbaren Rückgriff auf ein Regelungskonzept, sondern allein im Vertrauen auf eine Kenntnis der Tradition durch die entscheidenden Richter – aber wo liegt in einem solchen Konzept der Maßstab für die Entscheidung? Zum anderen muss auch im Rahmen der richterrechtlichen Herausbildung eines europäischen Privatrechts aus Gründen der Rechtssicherheit wiederum in irgendeiner Art und Weise in einem regelhaften und insoweit systematischen Bezug auf die verschiedenen bestehenden Regelungen eingegangen werden. Kann daher auch trotz des mangelnden gesetzgeberischen Tätigwerdens zur Herausbildung eines einheitlichen europäischen Schadensrechts nicht auf eine systematische, wertungsorientierte Rechtfertigung einer rechtlichen Regelung verzichtet werden, so muss wiederum auf methodologische Ressourcen zurückgegriffen werden. Der Ansatz der Wertungsjurisprudenz nach Canaris muss dabei von dem Rechtsgüterschutz ausgehen, den die deutsche Rechtsordnung vorgibt. Denn ihr Ausgangspunkt ist das gesetzte Recht und seine Auslegung. Dass auch immaterielle Schäden ersatzfähig sind, ist dann ein Fall von richterrechtlicher Rechtsfortbildung, bis in irgendeiner Weise eine gesetzliche Regelung erfolgt.13 Da diese der gesetzlichen Grundlage als zentraler Legitimationsbasis entbehrt, muss sie auf Ausnahmefälle beschränkt bleiben und kann keine Bildung eines neuen europäischen Schadensrechts leisten. So müssen etwa pönale Elemente als Strukturmerkmale des Schadensrechts abgelehnt werden.14 Durch ihre enge Bindung an eine von einem nationalen, demokratischen Gesetzgeber vorgegebene Wertung kann die Wertungsjurisprudenz zur Herausbildung von neuen Wertungen eines europäischen Schadensrechts keinen schöpferischen Beitrag leisten. Für Dworkins liberale Rechtstheorie sind die Art und Weise des Regelungsmodells sowie das (Nicht-)Vorliegen eines Gesetzestextes dagegen weitestge12

So Jansen, Konturen eines europäischen Schadensrechts, 173. Vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht BT II/2, 359, die die Anerkennung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch den Bundesgerichtshof nach dem zweiten Weltkrieg im Unterschied zu der bis dahin bestehenden Ablehnung der Ersatzfähigkeit von Persönlichkeitsrechtsverletzungen durch das Reichsgericht allein aufgrund des Wertungswandels, der durch die Einführung des Grundgesetzes eintrat, für eine zulässige richterrechtliche Rechtsfortbildung einordnen. 14 Larenz/Canaris, Schuldrecht BT II/2, 354. 13

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hend unerheblich. Vielmehr muss das basale Recht mittels Rechtsprinzipien umgesetzt werden. Eines der Prinzipien ist dabei, dass der Schädiger aus dem von ihm verursachten schädigenden Ereignis keinen Profit schlagen darf. Dazu können aus seiner Sicht auch insbesondere pönale Elemente dienen.15 Problematisch ist aber zum einen, dass dabei etwa zwischen materiellen und immateriellen Schäden kaum unterschieden wird. Diese mangelnde Unterscheidungskraft ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass der Rechtsbegriff, der im Unterschied zum Ansatz der Wertungsjurisprudenz eine rechtsschöpferische Tätigkeit ermöglicht, selber von einer generalisierten individuellen Lebenshaltung abhängt. Zum anderen führt die in der Durchführung enge Bindung der liberalen Rechtstheorie an die Rechtsprechung dazu, dass nur die Fälle auf dem Gebiet des Schadensrechts vereinheitlicht werden, die durch ein gemeinsames europäisches Gericht verbindlich entschieden werden können. Die europäische Gerichtsbarkeit des EuG und EuGH aber entscheidet nur über Streitfragen, die sich aufgrund des geregelten Europarechts ergeben. Fehlt aber eine entsprechende Regelung, so kann auch keine Entscheidung erfolgen. Mithin kann Dworkins Ansatz zwar Wertungen entwickeln, bietet aber keinen geeigneten rechtlichen Ansatzpunkt zu deren Umsetzung. c) Die Perspektive der kritischen Rechtsphilosophie Mit der kritischen Rechtsphilosophie muss die gegebene, positive Rechtslage, die in einer Zersplitterung verschiedener Regelmodelle und Wertungen besteht, zunächst eingeklammert werden. Die Grundwertungen eines einheitlichen Schadensrechts sind dann im Ausgang von dem Rechtsimperativ zu entwickeln. Diese Entwicklung muss dann auf die vorhandenen Wertungselemente und -tendenzen bezogen werden. Dem Rechtsimperativ zufolge sollen die verschiedenen Handelnden in einem für alle Beteiligten wechselseitig freien Verhältnis der interaktiven Handlungshoheit zueinander stehen. Aus dieser Anforderung wird der Grundsatz des „neminem laede“ abgeleitet: Keiner soll den jeweils anderen Schaden zufügen, da eine Schadenszufügung ein Hindernis für die Freiheitsausübung bedeutet.16 Im Anschluss entsteht die Aufgabe, diesen Grundsatz weiter zu versinnlichen. Die Metaphysik der Sitten bestimmt durch die Anwendung der allgemeinen Unterscheidung von Innen und Außen auf dem Gebiet des Rechts zwei unverzichtbare rechtlich schützenswerte Sphären, die unabhängig vom Bestehen oder 15

Dworkin, Taking Rights Seriously, 46. Vgl. Kant, MdS, 236. Der Rechtsimperativ ermöglicht es dabei, den kantischen Wortlaut zu verlassen und die Teile der Ausführung der MdS unter Rückbezug auf ihn zu verändern oder beiseite zu lassen. Dies ermöglicht den Bezug dieser und der in den beiden folgenden Fußnoten zitierten Passagen der MdS auf das von Kant nicht verhandelte Problem des Schadensrechts. 16

1. Zur Entwicklung eines europäischen Schadensrechts

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Nichtbestehen weiterer vertraglicher Bindungen der Handelnden untereinander stets anzuerkennen sind. Zum einen handelt es sich um die empirischen Verwirklichungsbedingungen, d.h die äußerliche Sphäre des Handelnden, die beispielsweise den Körper des Handelnden und die ihm zuzuordnenden Eigentums- und Besitzrechte umfasst.17 Zum anderen handelt es sich um die innere Sphäre des Handelnden, die die unkörperlichen, ideal-geistigen Rechtsgüter umfasst, wie etwa das Persönlichkeitsrecht und auch das geistige Eigentum.18 Auf der Rechtsfolgenseite liegt für den Bereich der äußeren Handlung der Grundsatz der Naturalrestitution nahe, da das Interesse am Erhalt der willentlich erlangten Verwirklichungsbedingungen des individuellen Freiheitsrechts das Interesse des Schädigers an einfacher Schadensabwicklung überwiegt. Für Verletzungen persönlicher Rechte sind Schäden eben wegen ihres immateriellen Charakters auch immateriell, das heißt regelmäßig in Geld wiedergutzumachen. Denn körperliche Gegenstände können anders als immaterielle Schäden wiederhergestellt oder erneuert werden. Zudem wird durch den Grundsatz der Naturalrestitution verhindert, dass der Schädiger einen körperlichen Gegenstand dauerhaft dem Geschädigten entziehen kann. Dabei spricht aus der Perspektive des Erhalts der Verwirklichungsbedingungen auch nichts dagegen, ein Wahlrecht des Geschädigten zwischen Naturalrestitution und Geldentschädigung anzusetzen. Pönale Elemente auf der Rechtsfolgenseite sind im Sinne der kritischen Rechtsphilosophie nur dann pönal, wenn sie über den regulären Schadensersatz oder den Nutzen hinausgehen, den der Schädiger aus der Situation gezogen hat. Sie sind legitim, sofern sie einen Anreiz zu Beachtung des Präventionsprinzips bieten, demzufolge Schäden, also Freiheitsausübungshindernisse, zu verhüten sind.19 Denn die Verhinderung von Schäden bildet einen Bestandteil der kritischen Deutung des neminem laede, da sie den Schaden im Vorfeld verhindern soll und insofern die Verpflichtung zur Beachtung der bestimmten Willkür des anderen bei der Realisierung der eigenen, bestimmten Willkür enthält. Welches Regelungsmodell im Einzelnen dafür gewählt wird, ist für das Gelingen der Umsetzung eines kritischen Rechtsbegriffs daher gar nicht so entscheidend. Denn die eigentliche Wertung muss stets auch aus der Bedeutung von Recht aus Freiheit im Sinne des Rechtimperativs in der Einzelfallanwendung gewonnen werden. 17

Den Ausgangspunkt dafür bietet Kant, MdS, 245 ff. Den Ausgangspunkt dafür bieten die Stellen Kant, MdS, 27 ff. und Kant, Von der Unrechtmäßigkeit des Büchernachdrucks, 84, die ein eigentumsähnliches Recht des Urhebers an dem in den verkörperten Buch- und Zeichenexemplaren manifestierten Sinngehalt annehmen. 19 Zum Erfordernis einer rechtlichen Wertung, die solchen ökonomischen Überlegungen von Anreizen vorausgehen muss, vgl. IV. 5. dieser Arbeit und auch StaudingerHager § 823 I Rn. 15. 18

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Pragmatische Gründe der Anwendbarkeit und Vermittelbarkeit legen ein Regelungsmodell nahe, in dem ein Prinzip beziehungsweise eine Generalklausel gesetzt und durch typische Beispiele ergänzt wird.20 Die Einzelfallentscheidungen sind dann anhand beider gegebener Regelungen zu treffen. Dabei darf aber nicht zu sehr auf den Wortlaut, etwa durch eine Überdeterminierung mit Beispielen, vertraut werden, sondern die Entscheidung muss die Wertung des Rechts umsetzen. Mit dem Bezug auf ein Recht aus Freiheit bleibt so auch angesichts mannigfacher Rechtsordnungen das Anliegen der Einheit und Folgerichtigkeit als sinnvoll erhalten, wenn auch unter anderen Vorzeichen. Denn die vorgefundenen mannigfaltigen nationalstaatlichen positiv-rechtlichen Wertungen werden eingeklammert. Die Begründung schadensrechtlicher Wertungen erfolgt durch den Rückgriff auf den Rechtsimperativ in der Urteilsbildung. Somit wäre die Überformung bestehender gesetzgeberischer Regelungen, wie etwa des ausdifferenzierten deutschen schadensrechtlichen Systems, legitimiert. 2. Souveränitätsbegründung und Zentralmacht jenseits des Nationalstaats Der internationale Handel trägt zu einer Internationalisierung des Rechts bei. So kann davon gesprochen werden, dass sich neben den nationalstaatlichen Rechtsordnungen eine „lex mercatoria“, ein transnationales Wirtschaftsrecht, herausgebildet hat, das als Ausdruck eines globalisierten staatenlosen Rechts angesehen werden kann.21 Im europäischen Raum wird versucht, solche postnationalen Tendenzen durch eine Vergrößerung der politischen Einheiten aufzufangen, um politisch handlungsfähig zu bleiben.22

20 Aus Sicht der kritischen Rechtsphilosophie sind die schadensrechtlichen Regelungsvorschläge des DCFR, insbesondere die schadensrechtliche „basic rule“ des VI.1:101, wegen ihres gegenüber dem deutschen Recht höheren Abstraktionsniveau von Tatbeständen und Rechtsfolgen begrüßenswert, da das Bewusstsein für die reflexiven Potentiale von Recht ebenso deutlich wird wie die Aufgabe seiner fortwährenden Konkretisierung. Misslungen dagegen erscheint aus Sicht der kritischen Rechtsphilosophie die Definition des Vertrages in II.-1:101, die tatbestands- und rechtsfolgenfrei bleibt und daher dem nominalistischen Missverständnis Vorschub leistet, dass Begriffe wie Gegenstände greifbar seien und in ihrer Bedeutung irreflexiv vermittelt und bestimmt werden könnten. 21 Vgl. etwa Teubner, Global Law, xiii und Kneisel, Vom Internationalen zum Transnationalen Recht, 163 f. 22 Vgl. zu den Grenzen des Nationalstaates z. B. Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, 145–153 und zur Überwindung dieser Grenzen Projekte wie zum Beispiel der Entwurf eines Referenzrahmens zu einem einheitlichen europäischen Privatrecht (DCFR).

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a) Recht ohne Zentralmacht Diese Phänomene können als Ausdruck einer Überwindung des traditionellen Souveränitätsbegriffs gedeutet werden, dem zufolge der nach innen und außen unabhängige Staat die zentrale Herrschaftsmacht ausübt und die alleinige Entscheidungsgewalt für Regel- und Konfliktfälle innehat.23 Durch die Herausbildung eines staatenlosen Rechts werden ebenso wie durch den europäischen Einigungsprozess die Idee der allmächtigen, souveränen Zentralmacht aufgelöst und auch konkret allein auf dieser Idee basierende Nationalstaaten in ihrem Bestand erschüttert. Seitens der deutschen Gesetzgebung wird der europäischen Entwicklung durch den Art. 23 GG in rechtstechnischer Hinsicht Folge geleistet. Dieser bildet die Grundlage für die Kompetenzübertragungen des nationalen, deutschen Souveräns auf Institutionen der Europäischen Union und regelt die Beteiligung an entsprechenden Entscheidungsverfahren der deutschen Staatsorgane, wie etwa Bundestag oder Bundesrat.24 So ist bereits heute ein Teil der Gesetzgebungstätigkeit des Bundestages als dem nationalen, deutschen Gesetzgeber auf europarechtliche Regelungen zurückzuführen. Seitens des Bundesverfassungsgerichts als dem obersten deutschen Gericht wurden Probleme dieser Kompetenzzuordnung in mehreren Entscheidungsserien verhandelt. In diesen behält sich das Bundesverfassungsgericht zwar eine Letztentscheidungskompetenz vor, macht aber von dieser hinsichtlich europarechtlicher Materien keinen Gebrauch, sofern und solange die europäischen Gerichte, der EuG, der EuGH und auch der EGMR, einen dem deutschen Grundgesetz vergleichbaren Grundrechtsstandard bieten.25 Angesichts dieser Situation wird ein Kompetenzverlust des deutschen Gesetzgebers und der deutschen Gerichtsbarkeit diagnostiziert. Den Regelungen, die 23 Souveränität bezeichnet im Ausgang von Bodin, Über den Staat, 19 und 22 (Buch I Kapitel 8) die höchste, nach innen und außen unabhängige staatliche Herrschaftsmacht und Entscheidungsgewalt. Innere Souveränität bedeutet in den modernen Demokratien, dass die Staatsgewalt über sämtliche Hoheitsrechte verfügt und durch die Volkssouveränität sowohl legitimiert als auch begrenzt ist. Im gegenwärtigen, staatsrechtlichen Sinne ist der Begriff der Souveränität über Bodin hinaus um die Drei-Elemente-Lehre aus Jellinek, Allgemeine Staatslehre, zu ergänzen: ebd., 394 ff. zum Staatsgebiet; 406 ff. zum Staatsvolk und 427 ff. zur Staatsgewalt. Souveränität wird nach Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 485–487 und 495 als zunächst inhaltslose Eigenschaft der Staatsgewalt verstanden, die entgegen Bodin kein wesentliches Merkmal der Staatsgewalt sein muss, sondern historisch zu verstehen und bereits für die unterschiedlichsten Grade der rechtlichen Selbstbestimmung offen ist. 24 Für Probleme diesbezüglich siehe eine Zusammenfassung des Europa-Ausschusses des Bundestages aus der 15. Wahlperiode unter http://www.bundestag.de/aus schuesse/archiv15/a20/oeffentlichkeitsarbeit/c_a20_behandlung_eupolitik.html#4. (Recherche vom April 2006). 25 Seit BVerfGE 73, 339, 387 (Solange-II) ständige Rechtsprechung.

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auf die europäische Kommission zurückgehen, wird vorgeworfen, mangels eigener Gesetzgebungsbefugnis, der „Kompetenz-Kompetenz“, nicht in ausreichender Weise an die deutsche Legitimationskette anzuschließen. So entschieden im Ergebnis die europäischen Institutionen, vor allem durch die Verbindlichkeit der Rechtsprechung des EuGH für den deutschen Staat, die deutschen Gerichte und Behörden, am eigentlichen Souverän, dem deutschen Bundestag beziehungsweise Volk, vorbei und wären insoweit ohne ausreichende Legitimation gesetzgeberisch tätig.26 b) Rechtstheorie ohne Zentralmacht? Für Ansätze, die Recht reflexiv erfassen wollen, wird diese Situation zum Problem, da sowohl rechtstheoretische wie auch rechtsphilosophische Ansätze traditionell das Element einer Zentralmacht in ihrer Theoriebildung voraussetzen. So gehen etwa vertragstheoretische Ansätze zur Rechtsbegründung mit Hobbes von dem Erfordernis einer Zentralmacht aus, dem Souverän, durch dessen Gewaltmonopol der Naturzustand eines Krieges aller gegen alle überwunden wird.27 Bei Rousseau steht die Frage im Mittelpunkt, ob und wie die souveräne Zentralmacht legitime Entscheidungen treffen kann.28 Auch positivistische Ansätze gehen davon aus, dass ein Souverän Befehle gibt beziehungsweise diese in allgemein akzeptierter Weise durchsetzt.29 Für die Wertungsjurisprudenz wird eine solche Situation der Vervielfältigung von Gesetzgebern und Rechtsprechungsinstanzen ebenfalls zum Problem, weil sie ihr Projekt einer Einheit und Folgerichtigkeit im gesetzten Recht ohne einen zentralen Gesetzgeber verfolgen müsste. Dieser bildet aber als Schöpfer der positiven Normen, aus denen die Wertungsjurisprudenz die Rechtsprinzipien erschließt, eine zentrale Voraussetzung dieses Ansatzes. Sie kann insofern ihr Anliegen der Einheit und Folgerichtigkeit nur dann weiterverfolgen, wenn sie problemlos andere Legitimations- und Normenquellen als den bisherigen demokratischen Gesetzgeber akzeptiert und so etwa eine europarechtskonforme Auslegung nationalen Rechts vornimmt.

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So etwa Di Fabio, Richtlinienkonformität, 952. Vgl. Hobbes, Leviathan, 134 f. für den im Namen der Selbsterhaltung instrumentell vernünftigen Unterwerfungsakt der Einzelnen unter den Souverän. 28 Vgl. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 17 für das Selbstbestimmungserfordernis als Aufgabe des Gesellschaftsvertrages. 29 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, 196 f., die die Grundnorm als Quelle und Geltungsgrund von normativen Ordnungen ausmacht und für die Ausfüllungsbedürftigkeit der leeren Grundnorm das historische Leben heranzieht, ebd., 200 ff. Für eine Rückbindung der Grundnorm an die Demokratietheorie siehe Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie, 249–251. 27

2. Souveränitätsbegründung jenseits des Nationalstaats

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Dass die fehlende Zentralmacht für die Theorien, die von einer monistisch verfassten Zentralmacht ausgehen, ein nicht zu bewältigendes Problem darstellt, zeigt die von der Wertungsjurisprudenz vertretene Lehre von der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte.30 Sie besagt, dass der Gesetzgeber sowie staatliches Handeln, das heißt auch die Gerichte, grundrechtsgebunden sind, nicht aber der privat handelnde Bürger. Im Zivilrecht wirken die Grundrechte daher nur mittelbar, indem der Gesetzgeber zum einen bei der Schaffung zivilrechtlicher Normen auf deren Grundrechtskonformität achten muss, sowie zum anderen durch die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte in das Privatrecht, die bei der Auslegung von privatrechtlichen Normen (z. B. Generalklauseln) durch die Gerichte beachtet werden müssen. Diese Lehre wurde im Ausgang von dem nationalen deutschen Recht entwickelt und ist innerhalb dieses nationalen Rechts tragfähig und überzeugend. Nicht überzeugend aber ist sie in einem europäischen Modell, da der europäische Gesetzgeber nicht institutionell an die deutschen Grundrechte gebunden ist. Damit sind dann auch zivilrechtliche europäische Regelungen und Rechtsprechungen unbeeinflusst von den deutschen Grundrechten zu betrachten. Nun ließe sich argumentieren, dass ein vergleichbarer Grundrechtsschutz in der Rechtsprechung des EuGH gewährleistet ist. Aber zum einen gilt: wo kein Kläger, da kein Richter. Und zum anderen ist der Gesetzgeber, etwa die Europäische Kommission im Zusammenwirken mit dem Ministerrat und dem Europäischen Parlament, bei der Setzung von Richtlinien anders als der deutsche Gesetzgeber nicht direkt an die Grundrechte des Grundgesetzes und bisher auch nicht an eine europäische Verfassung mit Grundrechtsteil gebunden.31 Das grundsätzliche Umsetzungserfordernis einer europäischen Richtlinie in deutsches Recht löst dieses Problem nicht, da ja der Regelungsgehalt bereits verbindlich vorgeschrieben ist und im Falle der Nichtumsetzung einer Richtlinie diese nach Ablauf der Umsetzungsfrist unmittelbar gilt. Für Dworkin ist die Situation der abwesenden Zentralmacht anders als für die Wertungsjurisprudenz insofern kein Problem, als er nicht von einem Gesetzgeber abhängig ist, da er mit seiner Theorie primär auf von dem Gesetzgeber unabhängige Richterentscheidungen zielt und dabei an dem vom positiven Recht unabhängigen basalen right to equality of concern and respect ausgeht. Aus seiner Sicht wäre die fehlende Zentralmacht im Sinne der Abwesenheit von genau einem zentralen Gesetzgeber die Chance, in die Rechtsprechung neue Linien zu integrieren, die in diesem Sinne „prinzipiengerechter“ sind. Aber auch hier ist die Verfassung der Ausgangspunkt seiner Auslegung, was zu dem Problem der 30

Siehe Canaris, Grundrechte und Privatrecht. Eine Zwischenbilanz, 91 f. Ob der Vertrag von Lissabon einen solchen funktionierenden Grundrechtsbestand im Europarecht installieren kann, hängt davon ab, ob er überhaupt in Kraft treten wird – was zum Zeitpunkt der Drucklegung unabsehbar war. 31

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fehlenden Verrechtlichung des basalen Rechts führt. Das aber ist für Dworkins Ansatz ein nicht mehr zu lösendes Problem, da das basale Recht von der Lebenshaltung der liberal tolerance abhängt. Ohne einen positiv rechtlichen Anknüpfungspunkt kann daher auch das basale Recht nicht rechtlich umgesetzt werden. Beide rechtstheoretischen Ansätze können also die Situation einer Zersplitterung der Zentralmacht nicht produktiv integrieren. c) Kritische Rechtsphilosophie ohne Zentralmacht Die kritische Rechtsphilosophie erfordert neben durchaus sinnvollen normenhierarchischen Erwägungen32 vor allem Überlegungen dahingehend, ob diese oder jene Regelung ein Beitrag ist, der die Rechtsentwicklung im Sinne einer Realisierung der Freiheitsstruktur des Rechtsimperativs befördert. Insoweit muss zwischen einer formalen und einer materialen Legitimation von Rechtsprechung und Gesetzgebung unterschieden werden. Während die formale Legitimation auf den einmal positiv-rechtlich gesetzten Verfahren beruht, sind Fragen der materialen Legitimation am Maßstab des Rechtsimperativs zu orientieren. Letztere lassen sich daher unabhängig von einer faktischen Herrschaftsordnung und ihren Gesetzgebungsverfahren anstellen und bilden zudem auch den jedenfalls impliziten Ausgangspunkt für die Einschätzung verschiedener Verfahren im Hinblick auf ihre Eignung, Recht zu realisieren. Damit bildet die Zentralmacht im Unterschied zu dem Ansatz der Wertungsjurisprudenz keinen elementaren Bestandteil der kritischen Rechtsphilosophie, da der Rechtsimperativ nur aufgibt, Willkürstellen in einem freien und gleichen Verhältnis zueinander zu relationieren, um ihre interaktive Handlungshoheit zu erhalten beziehungsweise zu gestalten. Im Unterschied zu Dworkins Ansatz wird dabei auch die äußere Grenze des Rechts zur Ethik nicht überschritten, da die Frage nach der individuellen Willensbestimmung nicht adressiert wird. Insoweit muss auch keine positiv-rechtliche Regelung zur Identifizierung und Anwendung des Rechtsbegriffs vorausgesetzt werden, um rechtliche Entscheidungen zu rechtfertigen. Der Staat und damit die Zentralmacht dienen aus Sicht der kritischen Rechtsphilosophie der Realisierung des Rechtsbegriffs. Die Zentralmacht hat die Aufgabe, diese Realisierung abzusichern und zu verhindern, dass rein privat-subjek-

32 So auch Kersting, Kant über Recht, 137, im Anschluss an Kant, MdS, 314, der in dieser Möglichkeit den Unterschied zwischen Kant und Rousseau erblickt. Allerdings trennt auch Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 31 schon zwischen dem Willen aller, dem volonté generale als einem idealen Gemeinwillen und dem realen Gesamtwillen als tatsächlichem Willen mehrerer, dem volonté de tous.

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tive, rechtlich ungebundene Interessen durchgesetzt werden.33 Um überhaupt den Zustand eines Krieges aller gegen aller zu verlassen, erscheint die Herausbildung einer Zentralmacht daher durchaus sinnvoll. Ist aber ein souveräner Staat entstanden, so gilt es diesen wiederum auf seine rechtliche Legitimation hin zu befragen und gegebenenfalls ist es dann einer Rechtsentwicklung dienlich, dass sich bestimmte Staaten selbst auflösen und so neue Einheiten bilden, die dann anders verfasst sind. Die Funktion der Rechtsrealisierung muss daher nicht durch einen souveränen Staat im Sinne einer Zentralmacht erfolgen, sondern kann genauso durch mehrere, nebeneinander bestehende Institutionen erfüllt werden. Aber im Rahmen dieser Realisierung eines Rechts aus Freiheit durch eine konkrete, positivierte Rechtsordnung gibt es dann Alternativen, die dieses umfänglicher oder weniger umfänglich darstellen. Unter der Perspektive der Repräsentation, der Darstellung des Rechts durch seine Realisierung, lassen sich dann verschiedenste Argumente bilden. So ist etwa eine fehlende Verfassung oder ein fehlendes Bewusstsein von der jeweiligen impliziten Verfassung ein Anzeichen für eine weniger gelungene Darstellung des Rechts, ebenso wie eine Verfassung nicht überzeugen kann, die repräsentationale Elemente leugnet. Denn eine Verfassung dient dazu, das Bewusstsein von der Rechtsordnung öffentlich zugänglich zu machen und so die Handelnden im Hinblick auf die Wissensressourcen um diese Rechtsordnung in einen reziproken Zustand zu versetzen. Repräsentationale Elemente sind etwa erforderlich, da Recht eben vollzogen werden muss, das heißt dargestellt werden muss und eine Darstellung stets Repräsentation voraussetzt. Innerhalb verschiedener Staatsformen erscheint diejenige rechtsförmiger, die mit wechselseitigen Kontrollen arbeitet, als eine, die maximale Entscheidungskompetenz alleine in einer Institution bündelt, da eine solche Machtkonzentration keine Selbstbindung und -beschränkung erkennen lässt, diese aber dem Rechtsbegriff innewohnt, da dieser innere und äußere Grenzen mit sich bringt.34 Eine Festlegung auf das System der Gewaltenteilung ist aber nicht unbedingt erforderlich, sondern es lassen sich unter dieser Perspektive jeweils auch der historischen Situation angemessene Kontrollmechanismen entwickeln oder als rechtlich qualifizieren.35 33 Vgl. Kant, MdS, 230. In diese Richtung auch Kersting, Kant über Recht, 137, der aber als Maßstab den Volkswillen und nicht den Rechtsimperativ ansetzt sowie auch keine Überlegungen hinsichtlich der Repräsentation des Rechts anstellt. 34 Vgl. IV. 3. 35 Für ein funktionales Verständnis der Gewaltenteilung auch Di Fabio, Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, § 27, der aber offen lässt, für welche Aufgabe genau die Gewaltenteilung eingesetzt werden kann. Auch die Debatte um das Widerstandsrecht ist aus Sicht der hier vorgelegten Rekonstruktion der kritischen Rechtsphilosophie keine Frage, die innerhalb einer konkreten Rechtsordnung zu lösen ist, sondern unter Rück-

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Angewendet auf die Situation eines konkurrierenden nationalen und europäischen Gesetzgebers wie den entsprechenden Gerichtsbarkeiten ist es in formaler Hinsicht zu begrüßen, dass die Entscheidungen dieser nationalstaatlichen Institutionen nochmals einer Überprüfung unterzogen werden beziehungsweise entsprechende Vorgaben zur Rechtsentwicklung erhalten. Dabei muss allerdings auch auf europäischer Ebene eine solche Kontrollmöglichkeit bestehen. Mit dem EuGH ist eine solche Institution prinzipiell gegeben, allerdings wäre eine weitere Kontrollmöglichkeit angesichts der zu leistenden rechtlichen Aufgaben und Entscheidungen wohl wünschenswert. Entscheidend ist aus Sicht der kritischen Rechtsphilosophie aber, dass die Rechtsbedeutung angemessen realisiert wird. Bei entsprechender Reformierung des Europäischen Parlaments zur Verbesserung seiner Arbeitsfähigkeit wäre diese Institution im Rahmen der EU dafür ein geeigneter Kandidat. Nicht entscheidend ist aber insoweit das bloß formale Argument eines Demokratiedefizits, das oft zur Begründung der Forderung nach einer Stärkung des Europäischen Parlaments herangezogen wird. Zwar ermöglicht eine Demokratie eine angemessenere Darstellung des Rechts als andere Herrschaftsformen, da sie zumindest bei größeren Handlungseinheiten sehr starke repräsentationale Elemente enthält und der Reziprozität der Rechtssubjekte durch ein allgemeines Wahlrecht in besonderer Weise Rechnung trägt. Aber aus rein rechtlicher Sicht ist es eben auch nur eine Möglichkeit, was angesichts der unterschiedlichen Verfasstheit von Demokratien die Wirklichkeitsnähe der kritischen Rechtsphilosophie belegt, die in ihrer Rechtfertigungsstrategie nicht von einer bestimmten historischen Verwirklichung der Demokratie abhängig ist. Die kritische Rechtsphilosophie ist daher in der Lage, die theoretischen Ressourcen bereitzustellen, um sowohl verschiedene Erscheinungsformen staatlichen Handelns und rechtlichen Entscheidens zu erfassen als auch diese auf ihre Rechtsförmigkeit hin zu beurteilen. 3. Antinomien als Grundstrukturen des Privatrechts Die verschiedenen gegenläufigen Wertungen im Privatrecht, wie etwa Verbraucherschutz einerseits und Vertragsfreiheit andererseits, sind der Anlass für die Diskussion, ob das Privatrecht durch normative Grundkonflikte strukturiert ist. Eine solche methodologische Herangehensweise beansprucht, realitätsnäher griff auf die kritischen Ressourcen von Rechtsreflexion. Ein Widerstandsrecht besteht insoweit nicht, als eine positive Rechtsordnung relativ zu ihren zeitlichen Umständen und Alternativen eine überzeugende Darstellung des Rechts bietet. Es besteht aber dann ein Widerstandsrecht, wenn eine Rechtsentwicklung hin zu einer überzeugenderen Darstellung des Rechts von der bestehenden Rechtsordnung ausgeschlossen wird und diese zur Unrechtsordnung wird. Dies ist etwa der Fall, wenn jegliche Kontrollmechanismen der Machtausübung abgeschafft werden sollen und alles z. B. durch die „Institution“ eines „Diktators“ legitimiert wird.

3. Antinomien als Grundstrukturen des Privatrechts

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zu arbeiten, da sie nicht gezwungen ist, gegenläufige Wertungen zu vereinheitlichen, sondern in der Lage ist, die konkret vorgefundene Widersprüchlichkeit rechtlicher Wertungen auch theoretisch zu erfassen.36 Die normativen Grundkonflikte des Privatrechts werden als Antinomien bezeichnet und drei von ihnen identifiziert: der materiale Grundwiderspruch zwischen Individualismus und Kollektivismus, der formale Grundwiderspruch zwischen Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit und der institutionelle Grundwiderspruch zwischen Richterbindung und richterlicher Freiheit. Wegen seiner Nähe zu dem hier bereits in verschiedenen Sichtweisen behandelten Verhältnis von Freiheit und Gleichheit wird nur auf den ersten der Grundwidersprüche eingegangen. Anhand dieser Antinomie wird gezeigt, wie die Antinomien als Grundwidersprüche des Privatrechts von Antinomien im Sinne der kritischen Philosophie zu unterscheiden sind. Die Realitätsnähe, die eine Konzeption der Grundwidersprüche des Privatrechts mit sich bringt, lässt sich dabei auch durch eine kritische Konzeption der funktionalen Ergänzung erreichen. a) Die Antinomie von Individualismus und Kollektivismus Die Antinomie oder der materiale Grundwiderspruch zwischen Individualismus und Kollektivismus besteht dabei zwischen einer Sichtweise des Individualismus, die Selbstbestimmung und Selbstverantwortung bedeutet, und einer Sichtweise des Kollektivismus, die als zentrale Werte die Fremdbestimmung und Fremdverantwortung im Rechtsdenken als Wertedenken impliziert.37 Ein solcher Individualismus zielt, konsequent zu Ende gedacht, auf die Beseitigung jeden staatlichen Schutzes privater und sonstiger Rechte. Dies wird damit illustriert, dass jede Gemeinschaft, die nicht in einem gewalttätigen Urzustand verharrt, immer schon einen Schritt von der völligen Verwirklichung des individualistischen Standpunktes entfernt ist.38 Auf der anderen Seite führt ein allumfassender Kollektivismus zu einer vollständigen Fremdverantwortung jedes Einzelnen für alle anderen und überfordert diese so.39 36 Vgl. Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, 2 f. im Ausgang auch von Kennedy, Form and Substance, 1685 f., der von einem Gegensatz zwischen Individualismus und Altruismus ausgeht und diesen entwickelt, ebd. 1713 ff. Ebenso auf antinomische Strukturen weisen Wiedemann, Gleichbehandlungsgebot und Kaufmann, Rechtsphilosophie, 164, hin. 37 Vgl. Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, 11 und Wiedemann, Gleichbehandlungsgebot. 38 Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, 15 mit weiteren Nachweisen; insoweit ebenso I. 5., II. 4., III. 2. a). 39 Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, 20 mit weiteren Nachweisen.

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Da beide Positionen isoliert derart ad absurdum geführt werden können, sind sie dem Antinomie-Konzept zufolge lediglich als Argumentationsmuster zu begreifen. Im Privatrechtsdenken und insbesondere im Rahmen der Handhabung von Generalklauseln können Individualismus und Kollektivismus daher ihre normative Bedeutung „nur durch ihr Zusammenwirken, das heißt durch die relative Verwirklichung der einen Werteordnung im Verhältnis zur anderen entfalten“.40 Jede, auch die freiheitlichste Privatrechtsordnung enthalte daher kollektivistische Elemente, wie auch vice versa. Die Erkenntnis dieses Grundwiderspruches eröffne dann eine realistische Sichtweise auf eine Privatrechtsordnung, denn faktisch wird der Grundwiderspruch durch eine spezifische Relationierung der gegenläufigen Positionen in den bestehenden Regelungen und Entscheidungen einer Rechtsordnung bewältigt. Mit dem methodologischen Ansatz der Antinomien geht dann ein methodischer Perspektivwechsel einher. Denn nun kann nach der tatsächlichen Struktur des Rechtsfindungsvorgangs, z. B. anhand von Generalklauseln, gefragt werden. Anders als eine rein methodologisch-positivistische Herangehensweise, die immer von einem in sich geschlossenen, einheitlichen System rechtlicher Wertungen ausgeht, kann nun auch eine aus solcher Sicht bestehende Widersprüchlichkeit einer Rechtsanwendung theoretisch verstanden werden.41 Dworkins Ansatz einer liberalen Rechtstheorie wird von dieser Position aus als „Prinzipienpositivismus“ kritisiert. Demnach sollten bei Dworkin die ungeschriebenen Prinzipien in einem umfassenden teleologischen System der Rechtsordnung eine zumindest im Idealfall abschließende Rationalisierung der Rechtsfindung ermöglichen. Dagegen geht der Ansatz der Antinomien davon aus, dass sich die Grundwertungen des Privatrechtsdenkens nicht auf ein einheitliches und folgerichtiges System von Prinzipien zurückführen lassen. Vielmehr bestünden eben die bereits genannten unauflöslichen Wertungskonflikte. Konkrete rechtliche Entscheidungen könnten auf diese zurückgeführt werden. Die rechtliche Entscheidung selbst sei dagegen durch außerrechtliche, historische, moralische, ökonomische, soziale und rechtspolitische Erwägungen determiniert.42 Die Stärke eines solchen Ansatzes besteht darin, dass er eine ideal wie real unzutreffende Harmonie oder Geschlossenheit eines rein individualistischen oder kollektivistischen Ansatzes vermeidet.43 Auch dass bestehende Rechtsan40 Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, 21, insoweit übereinstimmend mit IV. 4. dieser Arbeit, allerdings ohne dazu Antinomien voraussetzen zu müssen. 41 Vgl. Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, 220. 42 So Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, 215 f. 43 Darauf zielt auch Dworkin, wenn er von der Gleichheit ausgeht, aber diese nur mit der Setzung von Freiheitsrechten ihren Sinn gewinnt, vgl. II. 4. dieser Arbeit.

3. Antinomien als Grundstrukturen des Privatrechts

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wendungen vor dem Hintergrund von Grundwidersprüchen verstanden werden, ermöglicht eine umfassendere Beobachtung einer Rechtsordnung, als eine, die immer schon auf Vereinheitlichung zielt. Allerdings ist problematisch, dass einerseits in der Theorie ein Grundwiderspruch der Privatrechtsordnung angesetzt wird, wie etwa der zwischen Individualismus und Kollektivismus, und andererseits zugleich von dem Zusammenwirken der beiden Pole der Antinomie in der Anwendung ausgegangen wird. b) Antinomie als Vernunftwiderspruch im Unterschied zu Antinomie als Grundwiderspruch Problematisch ist daher bereits die Diagnose von Antinomien. Denn was bedeutet Antinomie genau? Ein Grundwiderspruch im Denken, der in der Anwendung verschwindet? Wenn dies so wäre: Worin besteht dann der behauptete Theoriefortschritt einer realitätsnäheren Beschreibung, wenn die Theorie eine in der Praxis nicht vorgenommene Unterscheidung zu ihrem Ausgangspunkt macht? Unter Rückgriff auf kritische Theorieressourcen bezeichnet Antinomie einen Widerstreit zwischen zwei Sätzen, von denen jeder als richtig, wahr und beweisbar erscheint. Schon hier ist fraglich, ob die oben vorgestellten Grundwidersprüche solche sind, da sie wie gesehen relativ schnell ad absurdum geführt werden können und insoweit schon aus diesem Grund nicht als für sich alleine richtig erscheinen. Problematischer wird die Bezeichnung des Verhältnisses von Individualismus und Kollektivismus als Antinomie zudem, wenn im Rahmen einer kritischen Reflexion unter Antinomien solche Sätze verstanden werden, bei denen die reine Vernunft in einen unvermeidbaren Widerspruch mit sich selbst gerät. Eine Antinomie entsteht der kritischen Philosophie zufolge dadurch, dass eine Idee mit dem Verstande erfasst wird und so die sinnlichen und intelligiblen Erkenntnisbedingungen vermischt werden.44 Dies ist etwa der Fall bei der Frage nach einem Anfang der Welt oder auch nach der Möglichkeit einer praktischen Realität, der Realität von Freiheit. In diesen Fällen lassen sich sowohl Satz wie auch Gegensatz begründen45 – anders als der Ansatz in der Privatrechtstheorie, der Satz und Gegensatz durch ein argumentum ad absurdum als Positionen widerlegt.46 Satz und Gegensatz sind deshalb jeweils beweisbar, da jeweils ver44

Kant, KrV, B 434 f. So etwa Kant in der KrV A 426 ff./B 454 ff. für die erste Antinomie zum Anfang der Welt und KrV, A 444 ff./B 472 ff. für die zweite Antinomie; für das Muster, Satz und Gegensatz zu begründen und unter der Perspektive der Trennung zwischen sinnlichen und intelligiblen Theorieelementen die Entgegensetzung aufzulösen vgl. auch weitere Antinomien in der KpV, 114 f., MdS, 254 f. und KU, 339 f. 46 Vgl. Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, 15 und 20. 45

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kannt wird, dass eine Idee nicht in der Realität erkennbar ist. So wird die Idee der Freiheit unter Verweis auf die empirische Beobachtbarkeit von Handlungen widerlegt. Und die Realität der Idee der Freiheit wird mit der Notwendigkeit eines gedachten Anfangs begründet.47 Die Lehre des transzendentalen Idealismus in Verbindung mit der skeptischen Methode ermöglicht eine Einsicht in diese „Verwechslung“ von idealer und realer Argumentation.48 Eine Kausalität aus Freiheit kann daher nicht einfach negiert werden. In der Folge ist auch angesichts einer durch Beobachtung nach dem Paradigma der causa efficiens, also einer durch theoretische Erkenntnis voll erfassbaren Welt, eine Ordnung der Freiheit für Handelnde denkbar, die eine Reihe von Erscheinungen selbst anfangen und insofern absolut spontan wirken.49 Die Realität von Freiheit gilt es dann im je eigenen Handeln, auf dem Gebiet der Ethik wie auf dem Gebiet des Rechts, durch den Vollzug eines Rechts aus Freiheit als eigenen, praktischen Gegenstandsbezug darzustellen.50 Antinomien als Vernunftwidersprüche können so durch eine Reflexion auf die impliziten Voraussetzungen überwunden werden, die zur Begründung von Satz und Gegensatz in Anschlag gebracht werden. Sie können daher im Bereich des Denkens diagnostiziert werden, nicht aber aus der Beobachtung einer gegebenen rechtlichen Realität oder Diskussionslage, die nur der Anlass zu ihrer Entdeckung sein kann. Antinomien stellen daher eigentlich auch keine Argumentationstopoi dar, die in einem Verhältnis der stets verschiebbaren Betonung der widerstreitenden Pole angewandt und verwendet werden. Eine wie in dem Konzept von den Grundwidersprüchen des Privatrechts vorgeschlagene, nur graduelle Verschiebung zwischen den zwei Polen des Individualismus und Kollektivismus wird daher einem genaueren Antinomienbegriff nicht gerecht. Denn so, ließe sich auf Kant gewendet, sagen: Ein wenig Anfang der Welt, ein wenig Freiheit in der Idealität, aber auch ein wenig kein Anfang der Welt, ein wenig Unfreiheit in der Realität bieten keine überzeugende Antwort auf das Problem einer Antinomie im Rahmen einer Theoriebildung.51 Darüber hinaus führt eine rein theoretische Beobachterhaltung, auch wenn sie mit Antinomien befasst ist, stets zu einem Performanzproblem. Denn allein die 47

Kant, KrV, A 444 ff./B 472 ff. Kant, KrV, A 424/B 451 f. in Verbindung mit KrV, A 565 f./B 593 f. Für die Möglichkeit einer Kausalität durch Freiheit KrV A 538 ff./B 566 ff. 49 Siehe Kant, KrV, A 538 ff./B 566 ff. 50 Vgl. Kapitel IV. 1.–3. dieser Arbeit. 51 So aber Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, 5 f. und 21, die zwar teilweise von einer strukturellen Semantik spricht, aber dennoch an rein graduelle Verschiebungen zwischen den Polen Individualismus und Kollektivismus zu denken scheint. 48

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Einkleidung dieses Problems unter Begriffe wie Antinomie oder Grundwiderspruch vermeidet dieses nicht. So wird in der Antinomien-Konzeption des Privatrechts beansprucht, rechtliche Wertungen zu erfassen. Am Ende steht aber die Diagnose, dass rechtliche Wertungen nur durch außerrechtliche Vorentscheidungen erklärt werden können, wie etwa ökonomischer und politischer Art.52 Der Erklärungsgegenstand, die rechtlichen Wertungen, wird so in der Theoriedurchführung aufgelöst, obwohl er dem Theorieanspruch nach erklärt und befördert werden soll. c) Funktionale Ergänzung als kritische Alternative zur Antinomie als Grundwiderspruch Die kritische Rechtsphilosophie entwickelt dagegen eine originär eigenständige Rechtsbedeutung, unter deren Perspektive dann andere Faktoren, etwa ökonomischer Art integriert werden können. Damit sinnvoll von äußeren Faktoren gesprochen werden kann, muss eine Position vorausgesetzt werden, von der her diese Faktoren als äußere entgegen den inneren gesetzt werden können. Sonst geht die rechtliche Wertung, die auf Handlungen bezogen ist, in diesen äußeren Faktoren auf. Die immanente Dimension wird etwa auch implizit vorausgesetzt, wenn eine Rechtstheorie auf ökonomische Ressourcen zurückgreift, ohne sich zugleich allein als ökonomische Theorie zu verstehen. Diese Immanenz erschließt die kritische Rechtsphilosophie durch ein Recht aus Freiheit. Dabei steht nicht die individuelle Handlungsfreiheit im Mittelpunkt, sondern das Gewinnen von Handlungshoheit eben angesichts der vielen äußeren Faktoren, wie etwa ökonomischen Zwängen. Diese rechtsimmanente Bedeutungsreflexion geht von der Begründung einer praktischen Realität neben der theoretischen Realität aus und der Überformung letzterer im Rahmen des Primats der praktischen Vernunft. Denn nur dort im Rahmen einer Konzeption der praktischen Vernunft und damit im Ausgang von einer Kausalität aus Freiheit, die zu einem Recht aus Freiheit (mit den beiden Kernelementen Rechtsimperativ und angeborenes Freiheitsrecht) ausdifferenziert wird, bleibt eine Einsicht in das Verhältnis von Theorieanspruch und Theoriedurchführung, kurz das Theoriehandeln selbst, möglich.53 Unter dieser Perspektive lässt sich ein Verhältnis der funktionalen Ergänzung von Freiheit und Gleichheit bei der Versinnlichung der Idee der Freiheit entwickeln. Dabei sind Freiheit und Gleichheit keine sich widersprechenden Positionen, sondern auch in der praktischen Bedeutungsreflexion miteinander ver52 53

Vgl. Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, 215 f. Vgl. IV. 1.–3. dieser Arbeit.

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bunden.54 So stehen hier nicht Satz und Gegensatz gegeneinander, sondern in einem funktional abgegrenzten Verhältnis zueinander. Eine Antinomie liegt daher nicht vor. Vielmehr wirken Freiheit und Gleichheit zusammen ohne gegenläufige „ontologische“ Ausgangspositionen darzustellen, da der Rechtsbegriff immer schon auf eine strukturelle, ergänzende Relationierung verweist.55 Aus der Perspektive der kritischen Rechtsphilosophie kann so beobachtet werden, dass bestimmte Positionen einseitig Elemente einer Rechtsphilosophie verabsolutieren, wie etwa der Individualismus das persönliche Belieben oder der Kollektivismus die Gleichheitsansprüche. Aber diese Diagnose setzt eine kritische Distanz zu solchen Positionen voraus und eine Position, die selbst Freiheit und Gleichheit nicht gegeneinander stellt. Wenn also ohnehin von einem Zusammenwirken der Gegenpole der vermeintlichen Antinomie ausgegangen wird, so liegt es nahe, auch die Konsequenz zu ziehen, die Position reflexiv zu erschließen, von der aus diese Einsicht transempirisch, im Denken, nachvollziehbar wird. Eine solche Position bietet die kritische Rechtsphilosophie mit dem Rechtsimperativ, der die ursprüngliche Verbindung von Freiheit und Gleichheit aufweist.

54 55

Vgl. IV. 4. dieser Arbeit. Siehe IV. 4. dieser Arbeit.

Zusammenfassung Anlässlich einer als zunehmend individualisiert beschriebenen Gesellschaft wird die Frage aufgeworfen, ob Rechtsordnungen angesichts eines fortwährenden gesellschaftlichen und rechtlichen Wandels beanspruchen können, die Kriterien zu richtigen und gerechten Entscheidungen bereitzustellen. Dazu werden die Erkenntnisansprüche und unterschiedlichen Rechtfertigungsstrategien der Wertungsjurisprudenz, der liberalen Rechtstheorie und der kritischen Rechtsphilosophie Kants einander gegenübergestellt. Im Rahmen der Gegenüberstellung werden die jeweiligen Bedeutungen der beiden fundamentalen Rechtswerte Freiheit und Gleichheit verglichen sowie die jeweiligen Konzeptionen von Rechtsentwicklung beleuchtet. Neben diesen inhaltlichen Gegenüberstellungen wird erst der jeweilige Theorieaufbau selbst zum entscheidenden Moment für die nachhaltige Überzeugungskraft einer dieser Rechtfertigungsstrategien, nämlich der kritischen Rechtsphilosophie Kants. Wertungsjurisprudenz, liberale Rechtstheorie und kritische Rechtsphilosophie beanspruchen gleichermaßen jeweils einen Weg zu richtigen und gerechten rechtlichen Entscheidungen angeben zu können. Die Wertungsjurisprudenz beansprucht laut Canaris, die Rechtsidee, verstanden als allgemeinen Gleichheitssatz, zu realisieren. Sie ist dann realisiert, wenn eine Einheit und Folgerichtigkeit im Rechtsdenken in einer konkreten Rechtsordnung erreicht wird. Diese Bedingung wird als erfüllt angesehen, wenn eine Rechtsordnung auf einer Prinzipienebene widerspruchsfrei erfasst werden kann. Die Rechtsprinzipien werden dabei im Ausgang von einer positiven Rechtsordnung induktiv erschlossen. Die liberale Rechtstheorie nach Dworkin geht dagegen nicht so sehr von einer gegebenen Rechtsordnung und einem unterbestimmten Gleichheitsbegriff als Rechtsidee, sondern von dem individuellen right to equality of concern and respect als Grundlage jeder Rechtsordnung aus. Dworkin beansprucht, das basale Recht durch Rechtsprinzipien umzusetzen, die jeweils als Ausdrucksformen des basalen Rechts angesehen werden müssen. Das basale Recht wird durch eine Lebenshaltung der „liberal tolerance“ seitens des Rechtsanwenders abgesichert. Die kritische Rechtsphilosophie Kants bietet wie die liberale Rechtstheorie einen von der positiven Rechtsordnung unabhängigen Begriff von Recht. Jedoch wird dieser nicht als subjektives Rechts gesetzt und durch die Lebenshaltung des Rechtsanwenders abgesichert, sondern mittels einer denkenden Transformation der Kausalität aus Freiheit, das heißt der Grundlegung einer prakti-

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schen Realität, hin zu einem Recht aus Freiheit entwickelt. Recht bedeutet, die interaktive Handlungshoheit der Handelnden herzustellen oder zu erhalten. Relativ zu den unterschiedlich abstrakten Reflexionsebenen von Grundlegung und Anwendung, etwa zwischen der Grundlegung der praktischen Realität und dem kritisch-metaphysischen Rechtsbegriff, sowie zwischen dem kritisch-metaphysischen Rechtsbegriff und Rechtsprinzipien und konkreten Rechten, kann sich innerhalb der kritischen Rechtsphilosophie die Bedeutung von Freiheit und Gleichheit verschieben und entwickeln. Trotz des den beiden Rechtstheorien und der kritischen Rechtsphilosophie gemeinsamen Anspruchs, jeweils einen Weg zu richtigen und gerechten rechtlichen Entscheidungen angeben zu können, treten ihre Ergebnisse in der weiteren Durchführung auseinander. In Abhängigkeit zu den unterschiedlichen theoretischen Ansprüchen und Verfahren, die die Wertungsjurisprudenz, die liberale Rechtstheorie und die kritische Rechtsphilosophie jeweils in Anschlag bringen, resultieren jeweils unterschiedliche Bedeutungsgehalte von Freiheit, Gleichheit und Flexibilisierung beziehungsweise Rechtsentwicklung. Freiheit wird von der Wertungsjurisprudenz nicht als terminologisch konstitutiver Begriff verwendet und bleibt so ein vorrechtlicher Begriff. Daher kann Freiheit im Rahmen der Wertungsjurisprudenz die vorrechtliche Handlungsfreiheit des Einzelnen bedeuten. Erst die Gleichheit kennzeichnet eine Rechtsordnung, die diese vorrechtliche Handlungsfreiheit regelt. Sie besteht in dem allgemeinen Gleichheitssatz, demzufolge Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln ist. Flexibilisierung von Recht erfolgt entsprechend der Orientierung auf eine positive Rechtsordnung hin als Flexibilität im Recht. Das heißt, dass bestehende rechtliche Wertungen mittels Rechtsprinzipien auf neue Fallkonstellationen oder ungeregelte Lebenssachverhalte übertragen werden. Gemäß dem basalen Recht wird bei Dworkin die Gleichheit als Allgemeinheitsanspruch verstanden, wie auch – im Unterschied zur Wertungsjurisprudenz – als rechtstheoretische Bedingung subjektiver Freiheitsrechte. Insofern kann von einer vorrechtlichen Gleichheit gesprochen werden. Flexibilisierung von Recht bedeutet, in immer neuen Fallkonstellationen das basale right to equality of concern and respect als Bezugspunkt der Entscheidung durch einen Richter oder auch Gesetzgeber zu verwenden und so darzustellen. Da die Rechtsbedeutung anders als bei der Wertungsjurisprudenz losgelöst von einer positiven Rechtsordnung erschlossen wird, wird die Bedeutung von Rechtsentwicklung als Flexibilität des Rechts charakterisiert. Freiheit und Gleichheit stehen in der kritischen Rechtsphilosophie, anders als in den beiden Rechtstheorien, durchweg in dem Verhältnis der funktionalen Ergänzung. Im Recht bedeutet Freiheit auf der Ebene des Rechtsimperativs die Möglichkeit des Einzelnen, seine Willkürbestimmungen zu realisieren und

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Gleichheit die Relationierungsmöglichkeit, das heißt den Zusammenhang mit anderen Willkürbestimmungen zu gewährleisten. Flexibilisierung von Recht aus der Perspektive des Rechtsimperativs bedeutet, als immanente Flexibilisierung sowohl eine Flexibilität im Recht, das heißt die Weiterentwicklung einer bestehenden Rechtsordnung, wie auch eine Flexibilität des Rechts, das heißt die spezifisch rechtliche Kritik einer positiven Rechtsordnung mit ihren konkreten Rechten und Rechtsprinzipien aus der Perspektive des Rechtsimperativs, die so eine immanente Selbstkritikfähigkeit des Rechts ermöglicht. Die externe Flexibilisierung besteht darin, gesellschaftliche Strömungen oder Ergebnisse anderer Wissenschaften in die rechtsphilosophisch autonom begründeten oder zumindest begründbaren Rechtsnormen zu integrieren, um in die verschiedensten Lebenswelten jeweils eine rechtliche Transversale einzuführen. Auf der Ebene eines anwendungsorientierten Vergleichs der unterschiedlichen Bedeutungen von Freiheit, Gleichheit und Flexibilisierung bietet die kritische Rechtsphilosophie Kants den strategischen Vorteil einer umfassenden Differenzierung von rechtlicher Freiheit und rechtlicher Gleichheit, während die Wertungsjurisprudenz die rechtliche Gleichheit mit einer vorrechtlichen Freiheitsauffassung kombiniert und die liberale Rechtstheorie subjektive Freiheitsrechte an eine vorrechtliche Gleichheitsauffassung knüpft. Die Möglichkeit, zwischen einer Rechtsentwicklung im Sinne der Fortbildung von gegebenen Wertungen auf neue Lebenssachverhalte und einer Rechtsentwicklung im Sinne eines ständigen Zusammenspiels von transempirischer Rechtsbedeutung und dem ihr korrespondierenden angeborenem Freiheitsrecht bewusst zu unterscheiden, stellt einen weiteren anwendungsorientierten Vorteil der kritischen Rechtsphilosophie Kants dar. Die anwendungsorientierten, strategischen Vorteile der kritischen Rechtsphilosophie werden zu Ergebnissen von Denkvoraussetzungen, auf die jede Form von Rechtsreflexion notwendiger Weise rekurrieren muss, sobald der Theorieaufbau der jeweiligen Form von Rechtsreflexion selbst in den Blick genommen wird. Denn bei der Umsetzung ihres Theorieanspruchs fallen die beiden rechtstheoretischen Ansätze in einen performativen beziehungsweise pragmatischen Widerspruch auf der Ebene des Theorieaufbaus, indem der Theorieanspruch und die in der Theoriedurchführung erzielten Ergebnisse auseinander treten und nicht in einem produktiven Verhältnis zueinander stehen. So beansprucht der Ansatz der Wertungsjurisprudenz zwar, die Rechtsidee zu realisieren. Erreicht wird aber mittels der aus einer gegebenen Rechtsordnung erschlossenen Rechtsprinzipien nur die Einheit und Folgerichtigkeit der Wertungen einer bestehenden Rechtsordnung und so nur eine Beschreibung eben dieser bestehenden Rechtsordnung. In der Folge kann der Ansatz der Wertungsjurisprudenz, der wesentlich von der Rechtsidee und damit dem Gleichheitssatz ausgeht, einem Begriff von Flexibilisierung des Rechts als Liberalisierung, das

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heißt als Auflösung rechtlicher Bindungen zugunsten der unbeschränkten Handlungsfreiheit der Einzelnen, nichts weiter entgegensetzen und kann damit die Gleichheitsorientierung einer Rechtsordnung in seiner Anwendung nicht aufrechterhalten. Die liberale Rechtstheorie kann zwar mit ihrem Anspruch, ein basales Recht zu realisieren, eine schrankenlose Auffassung von Freiheit als unbegrenztes Belieben ablehnen. Die Realisierung des Rechts hängt aber letztlich allein von der Lebenshaltung der „liberal tolerance“ und so von der individuellen Überzeugung der jeweiligen rechtlichen Entscheider ab. Die Lebenshaltung ermöglicht keine weitere praktische Unterscheidung zwischen dem interaktiven Recht und der individuellen Lebenshaltung. So wird die Eigenständigkeit des Rechts, die mittels des liberalen Rechtsbegriffs abgesichert werden soll, in der Anwendung nicht erreichbar. Um diese performativen Widersprüche im Theorieaufbau zu vermeiden, müssen eine Einklammerung der gegebenen Rechtslage und eine davon unabhängige spezifisch rechtliche Bedeutungsreflexion erfolgen. Dies erfordert den Übergang zur kritischen Rechtsphilosophie, die beide Bedingungen erfüllt. Die kritische Rechtsphilosophie beansprucht, eine von der positiven Rechtsordnung unabhängige Bedeutung von Recht zu entwickeln, die zugleich auf ein positives Recht hin anwendbar bleibt. Diesem Anspruch wird sie mit der Transformation der Kausalität aus Freiheit zu einem Recht aus Freiheit gerecht. Wird Handlung als Realisierung einer Vorstellung verstanden, so muss dafür das Sittengesetz zur Grundlegung einer praktischen Realität vorausgesetzt werden, um eine eigenständige Bestimmung der Vorstellungsseite zu ermöglichen. Das Sittengesetz der Grundlegung wird zu dem Rechtsimperativ hin entwickelt und konkretisiert. Der Rechtsimperativ stellt die Voraussetzung für den Erhalt der interaktiven Handlungshoheit der Handelnden dar. Neben dem Gebiet des Rechts wird ebenfalls im Ausgang von der Grundlegung eine Tugendlehre beziehungsweise Ethik erschlossen, die der Ausbildung einer individuellen Lebenshaltung und Handlungshoheit zur Gestaltung des je eigenen Lebens dient und keine Voraussetzung für das Recht bildet, aber auf dieses bezogen werden kann. Die zu begründende Handlungsstruktur der Realisierung einer Vorstellung spiegelt sich im Verhältnis der Grundlegungs- und Anwendungsverhältnisse innerhalb der Entwicklung einer kritischen Rechtsphilosophie. Dabei wird der Rechtsbegriff in Form des Rechtsimperativs als eine Anwendung der Grundlegung der praktischen Realität erschlossen. Der Rechtsimperativ wiederum bildet die im Rahmen von Rechtsprinzipien und subjektiven Rechten beanspruchte Grundlage. Daher kann das eigene Theoriehandeln, das Hinterfragen der jeweils im Denken beanspruchten Voraussetzungen mit der kritischen Rechtsphilosophie selbst als Handeln begriffen werden.

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So besteht eine Strukturgleichheit zwischen dem Ergebnis der Theoriedurchführung und dem Vorgehen der Theorie, da die Theorie in ihrer Durchführung über Grundlegungs- und Anwendungsverhältnisse jeweils in der Lage ist, ihre Voraussetzungen ideal zu benennen wie auch faktisch als solche erkennbar umzusetzen – ebenso wie ihr Gegenstand, die Handlung, in der Lage ist, eine ideale Vorstellung faktisch umzusetzen. Die strategischen Vorteile der kritischen Rechtsphilosophie angesichts der Bedeutungsunterschiede hinsichtlich von Freiheit, Gleichheit und Flexibilisierung in Kombination mit der Lösung des Performanzproblems im Blick auf den Theorieaufbau durch die kritische Rechtsphilosophie haben weitere praktische Auswirkungen. So zeigt eine Betrachtung von juristischen wie auch philosophischen Rezeptionslinien von Kants Rechtsphilosophie, dass insbesondere das Element der interaktiven Handlungshoheit der jeweils Handelnden bisher nicht oder unzureichend berücksichtigt wird, obwohl der Handlungsbezug im Zentrum der kantischen praktischen Philosophie steht. Durch die Betonung des Handlungsbezuges kann so unter anderem der Anspruch sprachphilosophischer Ansätze auf Überwindung der kantischen praktischen Vernunft nicht nur zurückgewiesen werden, sondern zugleich können die Ansätze der kommunikativen Rationalität als Formen von Sprachhandlungen in die praktische Vernunft Kants re-integriert werden. Die Aktualität und Zukunftsorientierung der kritischen Rechtsphilosophie Kants kann anhand von gegenwärtigen Rechtsentwicklungen erläutert werden. Dabei wird deutlich, dass die kritische Rechtsphilosophie produktiv und inspirierend auf Diskussionen bezogen werden kann, die von einer Zersplitterung des positiven Rechts ausgehen, da sie im Unterschied zu den Ansätzen der Wertungsjurisprudenz und der liberalen Rechtstheorie weder auf einen nationalen Gesetzgeber noch auf eine bestimmte Lebenshaltung angewiesen ist und dennoch rechtlich verfährt. Die kritische Rechtsphilosophie bietet im Unterschied zur Wertungsjurisprudenz und der liberalen Rechtstheorie die Möglichkeit, Flexibilisierung von Recht als originäre Entwicklung eines Rechts aus Freiheit und so als eine Rechtsentwicklung zu begreifen, die nicht allein durch rechtsexterne, etwa soziale, naturwissenschaftliche oder historische Entwicklungen bedingt ist, sondern durch das rechtsimmanente Zusammenspiel von interaktiver Handlungshoheit und subjektivem Freiheitsrecht gestaltet wird. Durch die skeptische Methode der Einklammerung der gegebenen Rechtslage in Verbindung mit der transzendentalen Bedeutungsreflexion kann die kritische Rechtsphilosophie Kants so stets aufs Neue zur Darstellung, zur Versinnlichung von Recht und damit zur Kultivierung der praktischen Realität beitragen.

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Sachverzeichnis Abstraktion 63, 74 Antinomie 109, 173–178 Bedeutungsreflexion 27, 65, 72 f., 83 f., 87, 90–97, 112, 115, 117–119, 125, 131–135, 137, 144 f., 155, 177, 182 f. Begriffsjurisprudenz 34 f.

– des Beliebens 40–43, 47, 54, 64 f., 68–70, 75, 77 f., 132 – Gesetzmäßigkeit der 102–104, 106, 115 f., 123–126, 140, 142 – Kausalität aus 98, 101, 104 f., 112 – subjektives Recht auf 63–65, 67–69 Freiheitsrecht, angeborenes 126–128, 130 f., 136, 159, 181, 183

Dogmatik 84 Effizienz 91 Effizienzkausalität 100 Eigentum 127, 161, 165 Einheit 17, 25, 27, 30–33, 35, 37, 39, 41–46, 60, 62, 73 f., 126, 129, 142, 146, 148, 166, 168, 179, 181 Einklammerung 73, 86–90, 93–95, 118, 134, 144, 182 f. Ergänzung, funktionale 122–125, 128, 173, 177, 180 Erkennen 107, 119 Ethik 24, 69, 88, 94, 105, 108–111, 116, 119 f., 122, 128–130, 134, 137, 141, 147 f., 150, 170, 176, 182 Flexibilisierung 15, 16, 18, 22, 25–30, 34, 39–43, 46 f., 49, 67–69, 71, 75– 81, 98, 122, 125, 131–133, 135, 173– 177, 180 f., 183 Folgerichtigkeit 27, 30–35, 39, 41–44, 73 f., 146, 166, 168, 179, 181 Freiheit 15 f., 18, 22, 25–30, 39–42, 55, 62–64, 66, 68–70, 75–78, 81, 86, 95, 98–101, 104–109, 111 f., 115 f., 121– 126, 128 f., 133, 148, 151–153, 158 f., 161, 165 f., 171, 173, 175–183 – der Wahl 54, 69 f., 123 – der Willkür siehe Willkür

Gegenstandsbeziehung 103, 136, 149, 151 Gerechtigkeit 15, 20, 22, 24, 48, 50–52, 55, 71, 84, 94 Gesellschaftsvertrag 53 f., 154 f. Gleichheit 15 f., 18, 22, 25–30, 32, 39 f., 42, 49, 54 f., 62–71, 75–78, 81, 86, 95, 98, 121–126, 128 f., 132, 159, 173 f., 177–181, 183 Grundoperation 116 Grundwiderspruch 122, 173–175, 177 Handeln 17, 41, 47, 86, 99, 118 f., 121 f., 124, 139, 143 f., 151, 158 f., 169, 176, 182 Handlungshoheit 116, 123, 134, 164, 170, 177, 180, 182 f. Idealität 20, 145, 149, 176 Interaktion 111, 125, 130 Interessenjurisprudenz 30 f., 33–36, 41 ius talionis 157 Kritik 25 f., 40–42, 50, 65, 77, 82, 89, 92, 95, 97 f., 104 f., 108 f., 121, 128– 130, 135 f., 146, 149–151, 153, 159, 181

198

Sachverzeichnis

Lebenshaltung 27, 49, 65, 67, 69–73, 75, 79–81, 86, 111, 116, 119, 124 f., 130, 134, 160, 164, 170, 179, 182 f. Lüge 119 Menschenwürde 126, 156, 158 f. Naturrecht 22, 56, 94, 137 Neukantianismus 138, 151 f., 191, 195 Nutzen 53, 58, 165 Performanz 78, 89, 188, 196 Pflicht 53 Realität 20, 27, 52, 82 f., 95–98, 103, 107, 112, 115 f., 118 f., 122, 130, 134, 143–145, 149, 175–177, 180, 182 f. – praktische 98, 107, 112 f., 132, 136, 141, 151, 153 – theoretische 101, 153 Recht 71 – aus Freiheit 27, 78, 112, 177, 180, 182 – basales 54, 65, 68, 134, 182 Rechte 50 f., 53–55, 65, 70, 84, 122, 126, 128, 132, 159–161, 165, 173 Rechtfertigung 20, 22, 42, 45, 48, 50, 72, 103, 120, 140, 143, 163 Rechtfertigungsstrategie 95, 179 Rechtsbegriff 19, 27, 72, 74, 76, 80, 84, 92, 94 f., 112–116, 121, 124, 154 f., 164, 171, 178, 180, 182 Rechtsentwicklung siehe Flexibilisierung Rechtsfähigkeit 126 Rechtsfrieden 20, 136 f. Rechtsidee 20, 27, 30–32, 36, 38–40, 42–44, 46–48, 73, 75, 77–79, 81, 84, 86, 92, 94 f., 115, 154 f., 179, 181 Rechtsimperativ 25, 27, 94 f., 112, 115– 118, 120, 122, 125, 128, 131–134, 137, 142, 144, 146 f., 157, 159, 164, 166, 170 f., 178, 182 Rechtsphilosophie 19–22, 24, 26–31, 36, 48, 53, 62, 73, 81, 83 f., 85–89, 93–

98, 108, 111, 119, 121 f., 127, 131, 133–139, 143 f., 146, 149, 151–153, 156, 158–160, 164 f., 170–172, 177– 183 – kritische 25 f., 28, 135, 138 f., 142, 146, 149, 151, 154 f. Rechtsprinzipien 24, 30, 32, 36–44, 47, 59–61, 73–75, 77, 79 f., 86, 91, 117– 119, 126 f., 129, 132, 136, 146, 160, 164, 168, 179–182 Rechtsreflexion 23, 85 f., 92, 95, 97, 181 Rechtssicherheit 32, 133, 163, 173 Rechtstheorie 19–27, 49, 73–78, 80 f., 85 f., 92, 94 f., 97, 129, 143, 160, 168, 177, 179–183 Reflexion 19, 42, 46, 79, 83 f., 86 f., 90, 92, 98, 109 f., 121, 141, 147, 175 f. Relationsregel 116 f., 121, 124–126 Selbstbezüglichkeit 50, 71, 77, 83, 145 Sprechakttheorie 81, 140, 143, 145 Staat 15, 17, 21, 69 f., 94, 121, 128, 155, 159, 167 f., 170 f. Strafzweck 156 System 23, 31 f., 45, 55, 67, 74, 121, 133, 137, 146–149, 151, 161 f., 171, 174 Theorieanspruch 17 f., 22, 24, 26 f., 29, 71, 74, 78–80, 83 f., 144, 177, 181 Theorieaufbau 22, 47, 72, 78, 80, 83– 85, 89, 95, 128, 145, 179, 181–183 Theoriedurchführung 17 f., 22, 26 f., 29, 71, 73 f., 78–80, 83–85, 88, 93, 134, 144 f., 177, 181, 183 Transzendentalphilosophie 108 f., 148, 184 Urteilskraft 108, 121, 136 Utilitarismus 23 Vereinheitlichung 175

19, 45, 142, 161 f.,

Sachverzeichnis

199

Verhältnis, produktives (von Theorieanspruch und Theoriedurchführung) 18, 28, 45, 52, 78, 90, 92 f., 131, 151, 160, 170, 183 Vernunft 25, 77, 89, 94 f., 97 f., 100– 105, 107–109, 121, 130, 139 f., 146, 148 f., 175, 177, 183 – kommunikative 139, 142 f., 145 – praktische 102, 106, 109, 113, 137, 139, 141–143, 145, 153 – reine 101, 153 – reine theoretische 136, 149, 153 Vernunftrecht 55, 94, 116, 128, 192 Vernunftwiderspruch siehe Widerspruch, performativer (eines Theorieaufbaus) Vertrauen 118 f., 162 f. Vertrauensschutz 118 Vielheit 45, 146

– logischer (= formaler) 53, 82 – performativer 82 – eines Sprechaktes 81, 143 – eines Theorieaufbaus 27, 47 f., 71, 78, 80, 82 f., 85 f., 90, 95, 128, 134, 140, 144, 147, 181–183 Widerspruchsfreiheit 32 – logische (= formale) 38, 42 Willensbestimmung 24, 27, 98, 100 f., 103, 106 f., 113–115, 122 f., 141, 149 Willkür 58, 99–103, 107, 111, 114 f., 118, 125, 127, 132, 142, 165 Wirklichkeit 74, 96, 99, 103 f., 106, 113, 144 f., 151, 153 f. (siehe auch Realität) – praktische 140 (siehe auch Realität, praktische) Wunsch 99, 114

Wertungseinheit 34, 36, 44 Widerspruch 39, 140 f., 149, 175

Zentralmacht 15, 28, 155, 160, 166–171 Zwang 119 f., 136 f.