Re-Animationen: Szenen des Auf- und Ablebens in Kunst, Literatur und Geschichtsschreibung 9783412215538, 9783412209162

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Re-Animationen: Szenen des Auf- und Ablebens in Kunst, Literatur und Geschichtsschreibung
 9783412215538, 9783412209162

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RE-

ANIMATIONEN Szenen des Auf- und Ablebens in Kunst, Literatur und Geschichtsschreibung Herausgegeben von Ulrike Hanstein Anika Höppner Jana Mangold

2012 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Diese Publikation wurde durch das Graduiertenkolleg »Mediale Historiographien« der Universität Erfurt, Friedrich-Schiller-Universität Jena und Bauhaus-Universität Weimar mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Unter Verwendung eines Bildes von Oscar Muñoz, Aliento, 1996–2002, Grease photoserigraph on steel disks, Diameter: 20.2 cm each, Daros Latinamerica Collection, Zürich © the artist Photo: FBM Studio, Franziska Bodmer, Zürich Installation view Daros Museum, Zürich, 2005.

© 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz: Stefan Petermann Korrektorat: Christina Hünsche Druck und Bindung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20916-2

Inhaltsverzeichnis

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Ulrike Hanstein / Anika Höppner / Jana Mangold Einleitung

Beseelungen Christopher Bracken Lebhaftigkeiten. Die Lebenden und die Lebendigen

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Gregor Kanitz Passagen der Seele. Zur theologischen Gewalt der Mode

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Martin Hense Überlegungen zur Re‑Animation von Körpern, Ideen und Geschichte als Denkfigur um 1800

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Isabel Kranz Blumenseelen. Botanik, Sprache und Weiblichkeit um 1850

93

115

Daniel F. Erin Beseelte Dokumente. Die Schrift der Geschichte als animistisches Medium

135

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Anne Ortner Das lebendige Kunstwerk und seine technische Beseelung. Re-Animation und Experiment in Auguste Villiers de l’Isle-Adams L’Ève future 

Belebungen Jan Henschen / David Sittler »We shall never know, how Nietzsche felt the wind in his hair as he walked on the mountains«. Re-enactment, Re-Animation und Historiographie nach Robin G. Collingwood

157

Stephan Gregory Das begeisterte Wort. Tote Buchstaben und inspirierte Reden

175

193

Timm Nikolaus Schulze Totes Wissen und zugefügtes Leben in Gottfried Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe

213

Friederike Thielmann Autopsie einer Puppe. Zur Re-Animation in Marijs Boulognes Excavations.The Anatomy Lesson

227

Anne Fleckstein Leben ausgraben. Exhumierungen als Momente der Wiederbelebung im Post-Apartheid-Südafrika

243

Alf Lüdtke Erkennen als Wieder-Erkennen? Anthropometrische Muster der Personenidentifikation. Zur Praxis der Passkontrolleinheiten der DDR

259

RE-

Sabine Frost (Re-)Animation durch Kombination und Synthese in Nathaniel Hawthornes »The Snow-Image«

Bewegungen Kalani Michell Drei (und mehr) Arten, Tinte ans Laufen zu kriegen

281

Caspar Clemens Mierau ›There is no Hardware‹. Reanimation durch Emulation

311

Tobias Ebbrecht Wiederbelebung eines Massenmörders. Verfahren der Transkription und der (Re-)Animation in Romuald Karmakars Der Totmacher

329

Eike Wittrock Die Tänzerinnen von Herculaneum. Zur Archäologie der Arabeske des Romantischen Balletts

345

Carolin Bohn Die Struktur der Re-Animation in Lessings Laokoon

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Abbildungsverzeichnis

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Ulrike Hanstein / Anika Höppner / Jana Mangold

Einleitung

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u sehen sind eine Frau, neun kleine runde Spiegel, eine weiße Wand und eine dunkle Bodenfläche. Die auf dem Buchumschlag abgedruckte Photographie wurde 2005 im Daros Museum in Zürich aufgenommen. Sie zeigt eine Installationsansicht von Aliento (1996–2002), einer Arbeit des kolumbianischen Künstlers Oscar Muñoz.1 Aliento umfasst eine kleine Anzahl runder Stahlplatten, die als Photoserigraphien kleine Porträts in sich tragen. Sichtbar werden die Aufnahmen der Personen, wenn man sich als Betrachter_in einer der polierten, spiegelnden Metalloberflächen so weit nähert, dass sie durch die Atemluft beschlägt. Dort, wo zuvor die Spiegelung des eigenen Gesichts zu sehen war, erscheinen dann im opaken Niederschlag des Atems die Gesichter von namenlosen Fremden. Die sichtbar hervortretenden, schwarz-weißen Porträtaufnahmen zeigen Verstorbene. Die Photographien sind den Todesanzeigen kolumbianischer Tageszeitungen entnommen. Mit den kleinen, für den Zeitungsdruck gerasterten Bildern kommen anonyme Tote für einen Moment zum Vorschein. Sie bleiben für die begrenzte Zeit sichtbar, die es dauert, bis der Niederschlag der Atemluft auf dem Spiegel verdunstet ist.   Die material-räumliche Anordnung von Aliento lässt im wiederholbaren Moment der Bildbetrachtung eine nahe Begegnung vorstellbar werden, die existenziell unmöglich ist. Im Ausatmen, im sich zuwendenden Einhauchen von Sichtbarkeit, ist man als Betrachter_in hervorbringend und wahrnehmend mit den bildlich Erscheinenden verbunden. Doch zugleich stellt sich der Eindruck einer fundamentalen Getrenntheit ein. Während die Aktivität des Atmens als 1

Oscar Muñoz: Aliento, 1996–2002, Grease photoserigraph on steel disks, Diameter 20.2 cm each, Daros Latinamerica Collection, Zürich.

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Ulrike Hanstein / Anika Höppner / Jana Mangold

Abb. 1. Oscar Muñoz: Aliento, 1996–2002.

körperliche Selbstwahrnehmung im ›Hier und Jetzt‹ hervortritt, werden die anderen als Abwesende, als Tote betrachtet. So wie in der Medizingeschichte ein vor die Atemöffnungen des Körpers gehaltener Spiegel als ›Lebensprobe‹ galt, untersucht Aliento mit dem Objekt des Spiegels die Grenze zwischen Leben und Tod (Abb. 1).   Im Spanischen umfasst das Bedeutungsfeld von ›aliento‹ nicht nur den Atem (-hauch) als physiologische Funktion eines lebendigen Körpers. Aufgerufen sind mit dem Titel des Werks auch Prinzipien und Phänomene, für die im Deutschen Ausdrücke wie ›Leben‹, ›Seele‹, ›Geist‹, ›Bewegung‹, ›Lebenskraft‹, ›Mut‹ oder ›(schöpferische) Inspiration‹ stehen.2   Für Aliento lässt sich der Akt der Betrachtung als Beseelung und Verlebendigung beschreiben. Sichtbar werden Übertragungsbeziehungen, wie sie Roland Barthes in Die helle Kammer für Photographien formuliert hat: Die erregende und verstörende Begegnung von Bild und Betrachter nennt Barthes eine »Beseelung«.3 Gemäß dieser Beschreibung konstituieren sich photographische Bilder durch die Betrachtung, die subjektiv-affektiven Nachbildern Existenz verleiht.

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8

Vgl. die Wörterbucheinträge zu »aliento«, http://buscon.rae.es/draeI, 29.02.2012. Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt a.M. 1989, S. 29.

Einleitung

Durch die konkrete Einsetzung des sichtbaren Bildes mittels der Atemluft erzeugt jede_r Betrachter_in bei Aliento ein Erinnerungszeichen. Das vergegenwärtigende Sichtbarmachen der Porträtaufnahmen ermöglicht einen Akt des Andenkens.4 Dennoch unterstellen sich die Photographien nicht einer einfachen Verfügbarkeit. Sie entziehen sich einer Festlegung, Fixierung oder Archivierung als Bild: »[W]e cannot sustain the breath for the image to remain permanently, but at some moment we have to inhale, and at that moment the image represented starts to disappear and our own image starts to appear in the mirror«,5 erklärt Muñoz. Die temporalisierte Bildlichkeit von Aliento verdoppelt die Bildbewahrung um eine nicht beherrschbare, jedoch beobachtbare Produktivität des Vergehens und Vergessens. Die bereits in Zeitungen veröffentlichten, wieder aufgenommenen und auf dem Stahl fixierten Porträtaufnahmen setzen »›Gegenwärtigkeiten‹ des Verschwindens«6 in Szene, die nach Jacques Derrida das Wesen der Photographie ausmachen. Seiner thanatographischen Auslegung zufolge bedeuten Photographien, indem sie etwas als mehrfach Verschwundenes bewahren – unausgesprochen, zurückgehalten –, den Tod.7 Angesichts der Photographien von Verschwundenen stellt sich für die Betrachter_innen von Aliento auch Derridas Frage: »Kann man sich die Trauer eines anderen aneignen?«8   Bei Aliento ist der Spiegel Schauplatz und Träger temporärer Bilder. Das verwendete Material hält die Möglichkeit einer veränderlichen Kopplung von physischem Bildding und Bildobjekt offen. Der Geschehenscharakter der statischen Anordnung entspringt einer nicht ruhigzustellenden, beunruhigenden Verknüpfung von einer bewahrenden und einer beweglichen Disposition des Bildes. Die stofflichen Eigenschaften des Bildträgers übersetzen die affektiven und phänomenalen Qualitäten des sich erschließenden Vergangenheitsmoments in die verzeitlichte Struktur eines instabilen ästhetischen Objektbezugs. Die aufmerksame Hinwendung im Vorgang des Betrachtens verändert die Referenz der anschaulichen Darstellung. Am selben Ort (im Spiegel) folgen zwei einander ausschließende Darstellungen aufeinander: eine Spiegelung und ein pho4

5  6  7  8 

Zur Rolle des Dokumentarismus und dem politisch-ästhetischen Gegenwartsbezug von Muñoz’Werken vgl. z.B. Malagón-Kurka, María Margarita: Arte como presencia indéxica, La obra de tres artistas colombianos en tiempos de violencia, Beatriz González, Oscar Muñoz y Doris Salcedo en la década de los noventa, Bogotá 2010 sowie das Interview von Hans-Michael Herzog mit Oscar Muñoz: »Oscar Muñoz«, in: DarosLatinamerica; Herzog, Hans-Michael (Hg.): Cantos Cuentos Colombianos. Arte Colombiano Contemporáneo/ Contemporary Colombian Art, Ostfildern-Ruit 2004, S. 231–252. Muñoz, Oscar zit.n. »Oscar Muñoz«, in: Daros-Latinamerica (Hg.): Guerra y pá. Simposio sobre la situación social, política y artística en Colombia, Zürich 2006, S. 97–119, S. 109. Derrida, Jacques: Bleibe, Athen. Photographien von Jean-François Bonhomme, Wien 2010, S. 33. Vgl. ebd. Ebd., S. 25.

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tographisches Porträt. Die Stahlscheiben zeigen als Spiegel und als Bild zwei Verfahren der Formgebung an, indem sie einen Anblick übertragen und ein Abbild speichern.9 Beide Darstellungen auf der lichtreflektierenden Fläche lassen – in Form einer Verdopplung des Anwesenden und in Form eines Verweises auf Abwesendes – etwas erscheinen, was sie selbst nicht sind. Die installative Anordnung gibt einem wandelbaren Zusammenspiel von ›sensiblem‹ Material und sensitivem Körper Raum. Diese wechselseitige Bezogenheit gewinnt eine visuell wahrnehmbare Form und wird als Dynamisierung der bildlichen Darstellungsrelationen selbst Gegenstand der ästhetischen Erfahrung. In der szenischen Konfiguration von Aliento treten für die Betrachter_innen ihre körperlichräumlichen, perspektivenabhängigen und verzeitlichten Formen der Bezugnahme hervor. Mit der sich realisierenden und de-realisierenden Bildsequenz setzt Aliento eine gesteigerte Reflexion auf das Gegenwartsverlangen im Akt der Betrachtung und auf die Eigenzeit der ästhetischen Erfahrung frei.   Auf die (Un-)Möglichkeit, ›sich die Trauer eines anderen anzueignen‹, kommen die Betrachter_innen in ihrem vergeblichen Versuch des Bildbewahrens immer wieder zurück. Die ästhetisch-ethische Verstrickung verdeutlicht die Literatur- und Kunsttheoretikerin Wendy Steiner: »[Aliento] turns the meaning of ›smoke and mirror‹ on its head. Its interactive mirroring undoes most of the losses it decries – public ignorance, forgetting, artifactual decay – all except for the very first, the victim’s disappearing. As the viewer’s ›here and now‹ – her presence, attention, breath – becomes the cause of so many returns and resurrections, she actively engages in ›missing,‹ almost enough to correct the crime of turning a human being into the object of an intransitive verb.«10

Wenn in gegenwärtigen Diskussionen Bildern Agenten-Status zugesprochen wird oder vom ›Leben der Bilder‹ die Rede ist,11 so scheint Aliento mit der materialen Unbeständigkeit des Bildes eine differenzierende Deutung einzuführen. Die Lebendigkeit des Bildes erweist sich hier in seiner Sterblichkeit. Die Atembewegung der Betrachtenden als Verlebendigung des Bildes bedeutet schließlich, das Porträt eines Verstorbenen als gefährdetes, selbst endliches, verschwin-

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10

Zur Unterscheidung zwischen Spiegel und Bild als ästhetischen Medien vgl. Kacunko, Slavko: Spiegel, Medium, Kunst. Zur Geschichte des Spiegels im Zeitalter des Bildes, München 2010, S. 15ff. Steiners Beschreibung bezieht sich auf die Ausstellung The Disappeared/Los Desaparecidos, bei der auch Muñoz’ Arbeit Aliento präsentiert wurde. Steiner, Wendy: The Real Real Thing. The Model in the Mirror of Art, Chicago/London 2010, S. 116f. Vgl. auch den Katalog zur Ausstellung, die 2005 zuerst im North Dakota Museum of Art zu sehen war, Reuter, Laurel (Hg.): The Disappeared/Los Desaparecidos, Milano 2006. Vgl. z.B. Mitchell, W. J. Thomas: What Do Pictures Want? The Lives and Loves of Images, Chicago/London 2005.

Einleitung

dendes Bild zu realisieren. Doch die Verlebendigung bedeutet auch, selbst untot zu werden: Denn die Betrachter_innen bringen durch die Übertragung des ›Lebenshauchs‹ das eigene Spiegelbild zum Verschwinden – und werden zu Abwesenden oder zu Vampiren. Die installative Raumordnung von Aliento eröffnet eine Szene des Auf- und Ablebens von Bildern. Mit der Wiederkehr und dem Verlust der Bilder werden auch Positionen wie belebt/unbelebt, anwesend/ abwesend, selbst/andere oder affiziert/affizierend immer neu verteilt. Durch das Ineinanderübergehen und die Vermischung der Zustände (belebt-abwesend, unbelebt-affiziert, selbst-unbelebt etc.) wird die material-räumliche Anordnung zum Schauplatz eines in der Zeit veränderlichen Wahrnehmungsvollzugs. Die Vermittlung zwischen lebendigem Spiegelbild und fixiertem Porträt verdankt sich dem Zusammenspiel von räumlicher Nähe, Material des Bildträgers, physiologischer Körperfunktion und physikalischer Interaktion von Atem und Stahlplatte.   Solche Szenen der Vermittlung und relationalen Bestimmung von Leben und Tod verhandelt dieser Band unter dem Begriff ›Re-Animationen‹. Re-Animationen bezeichnen das erneute Ingangsetzen erloschener Funktionen und Zustände. Als Prozesse der Wiederherstellung von Dingen, Verfahren, Repräsentationslogiken oder Wissensobjekten ordnen und organisieren sie diese neu. Indem sie etwas, das als vergangen oder wirkungslos gilt, neuerlich in (Eigen-) Bewegung versetzen, hinterfragen Re-Animationen die Kontinuität von Überlieferungen und entfalten Deutungen des Verhältnisses von Vergangenheit und Gegenwart.   Mit der Vorsilbe ›Re-‹ sind die jeweiligen Dynamiken des Rückbezugs und Modifikationen in der Wiederaufnahme des Vergangenen in bzw. durch Medien angesprochen. Mit dem Wort ›Animationen‹ bezieht sich der Band explizit auf die Bedeutungsfelder, die durch die Ausdrücke ›Beseelung‹, ›Belebung‹ und ›Bewegung‹ abgesteckt werden. Verhandlungen dessen, was hier unter ›Re-Animationen‹ verstanden wird, finden gegenwärtig auf höchst unterschiedlichen Schauplätzen statt. Exemplarisch können diese weitreichenden theoretischen Diskussionen an neueren Konstellationen des Animismus, an rezenten Konzeptionen des ewigen Lebens sowie an der technē von Bewegungsübertragungen aufgewiesen werden. Im Folgenden werden Auslegungen des Begriffs ›Re-Animationen‹ unter den Gesichtspunkten ›Re-‹ und ›Animationen‹ skizziert, um thematische und theoretische Ausgangspunkte des Bandes vorzustellen.

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›Re-‹ Als Präfix mit verschiedenen Lesarten markiert und modifiziert das ›Re-‹ die vergegenwärtigenden Bewegungen der hier untersuchten Animationsprozesse. Im herkömmlichen Wortgebrauch hat das aus dem Lateinischen kommende ›Re-‹ vor allem in restitutiver und reversativer Lesart Konjunktur. Es kann räumlich wie zeitlich sowohl die Bedeutung von ›wieder‹ bzw. ›zurück‹ als auch von ›entgegen‹ annehmen. In diesem doppelten Sinne bezeichnet das ›Re-‹ »die Wiederherstellung in den früheren Zustand, […] bald den Übergang in einen entgegengesetzten Zustand«.12 Zum einen indiziert es einen reflexiven Bezug bzw. einen Rekurs auf einen früheren Zustand, zum anderen ist es Ausdruck einer Umkehr.13 Im Hinblick auf die Fragestellung des Bandes ist darüber hinaus zu fragen, inwiefern der Prozess der Animation selbst vom ›Re-‹ berührt wird, inwiefern Ausgangs- und Endpunkt der Dynamik voneinander abweichen und Veränderungen unterliegen. Während Wiederholung und Widerruf schon im ›Re-‹ des alltäglichen Wortgebrauchs signalisiert werden, möchte dieser Band zudem den Differenzen in der Anordnung Geltung verleihen.   Mit Jean-François Lyotards Überlegungen zum Präfix ›Re-‹ in der Geschichtsschreibung lässt sich diese Perspektive konzeptualisieren. In seinem Vortrag »Die Moderne redigieren« im Kunstmuseum Bern stellt Lyotard 1988 Überlegungen zum Verhältnis von Moderne und Postmoderne an.14 Er lässt seine Kritik an der strikten Periodisierung der Geschichte in eine Absage an die Vorsilbe ›Post‑‹ münden. Letztere ersetzt er durch das Präfix ›Re-‹, sodass der Ausdruck ›Postmoderne‹ in ein ›Redigieren der Moderne‹ überführt wird. Lyotard präzisiert den Einsatz der Vorsilbe mit Verweis auf das Konzept der ›Durcharbeitung‹ nach Sigmund Freud. Im Gegensatz zu den analytischen Methoden der Wiederholung und der Erinnerung, die in der bloßen Untersuchung der Ursprünge eines Leidens dieses Leiden unentwegt wiederholen und fortsetzen würden, sei die Durcharbeitung nach Freud in erster Linie durch gleichschwebende Aufmerksamkeit und durch freie Assoziation gekennzeichnet: »Indem man so vorgeht, kommt man allmählich einer Szene nahe: der Szene von etwas. Man beschreibt sie. Man weiß nicht, was sie ist. Man ist sich nur sicher, daß sie sich auf die Vergangenheit bezieht, auf die entfernteste sowohl wie auf die 12

Georges, Karl Ernst: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, Hannover/Leipzig 1918, 2. Bd., Sp. 2210–2211. 13  Zu dieser Divergenz des ›Re-‹ vgl. Ofak, Ana: »Re-. Ästhetik der wiederholten Wiederkehr«, in: Archiv für Mediengeschichte 10 (2010), S. 167–173. 14 Vgl. Lyotard, Jean-François: »Die Moderne redigieren«, in: ders.: Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit, Wien 2001, S. 37–48.

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Einleitung

nächste; auf die eigene ebenso wie auf die der anderen. Die verlorene Zeit wird nicht wie auf einem Bild repräsentiert, sie wird nicht einmal präsentiert. Sie präsentiert vielmehr die Bestandteile des Bildes, eines unmöglichen Bildes. Redigieren heißt, diese aufzuzeichnen.«15

Das Redigieren der Moderne als ihr Durcharbeiten, wie es Lyotard zu verstehen gibt, findet also nie nur in einer zeitlichen Entfernung statt, sondern ist immer schon in der Moderne selbst verankert – in einer Selbstüberschreitung der Moderne über sich hinaus. Es zielt zugleich auf mehr und auf weniger als die Wiederholung oder die Erinnerung im analytischen Prozess. Es verspricht nicht, die ›Urszene‹ der Moderne zu entbergen. Es will diese nicht reproduzieren. Vielmehr richtet es dem Vergangenen einen Schauplatz ein, auf dem dieses genau in der Weise auftritt, wie immer es sich in seiner Rolle als Akteur selbst gibt. Das Redigieren eröffnet dem Vergangenen eine Szene, in der sich das Redigierte vom Vorhergegangenen grundlegend unterscheidet. Diese Szene heilt nicht; sie strebt etwas anderes an als bloße Rückkehr: »Sie ist ›neu‹, insofern sie als neu empfunden wird. Was vergangen ist, ist sozusagen da, lebhaft, lebendig. Nicht wie ein Gegenstand gegenwärtig […], sondern wie eine Aura, eine leise wehende Brise, eine Anspielung.«16 Das Redigieren vergegenwärtigt die Vergangenheit in einem Hauch von Leben.   Mit seinem Verweis auf szenische Verlebendigung entfesselt Lyotards Deutung das ›Re-‹ und verleiht ihm Produktivität. Die Bezugnahme hinterlässt in dieser Lesart selbst schon ihre Spuren in dem, worauf Bezug genommen wird. Sie zeichnet den Referenten auf, sie schreibt sich in ihn ein, sie redigiert ihn. Auch wenn Lyotard dabei in erster Linie ein Kunst-Werden der Moderne im Blick hat, stärkt der Verweis auf Freud den generativen Zugriff der Verfahrensweisen des ›Re-‹. Nach Freud ist die Durcharbeitung nicht nur Annäherung und Anspielung, sondern konstitutiver Bestandteil eines Emanzipationsprozesses, »jenes Stück der Arbeit, welches die größte verändernde Einwirkung auf den Patienten hat«.17 Damit avanciert das ›Re-‹ gerade zum Signum einer in der Wiederholung stattfindenden Veränderung. Es wird zum Indikator einer erneuernden, belebenden Inszenierung, wie sie Lyotard schließlich den ›Neuen Technologien‹ überantwortet sieht.   Lyotard lässt jedoch erhebliche Zweifel daran laut werden, ob ein assoziativer, freier Umgang mit Formen vereinbar sein kann mit der Berechenbarkeit und 15  16  17

Ebd., S. 44. Ebd., S. 44f. Freud, Sigmund: »Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten«, in: ders.: Gesammelte Werke, 10. Bd., London 1991, S. 126–136, S. 136f.

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Programmierbarkeit z.B. einer Computertechnik. Demgegenüber besetzen gegenwärtigen medientheoretischen Positionen zufolge gerade die Medien jene Stelle des ›Re-‹ im Sinne des Durcharbeitens, eines ›Wieder, aber anders‹ (bis hin zu ›umgekehrt‹). Das Präfix ›Re-‹ stellt hier ganz grundsätzlich die Produktivität von Medien der Speicherung, Übertragung und Verarbeitung heraus, welche die Formen der Animation strukturieren. Dabei tritt das ›Re-‹ als Faktor einer fortwährenden Umschrift vielgestaltig auf. Es äußert sich unter anderem als Medienwechsel, kraft der Verunsicherung zitierter Deutungsmuster oder auch in der Affirmation kultureller Semantiken. Vor dem Hintergrund der generativen Kraft des ›Re-‹, die Lyotard mit Bezug auf analytische Prozesse hervorkehrt, fragt der Band nach der Wirksamkeit reflexiver Bezugnahmen, die als Szenen der anima erfahren und erfahrbar werden. Die Arbeit unter dem Vorzeichen des ›Re-‹ ist dann eine Auseinandersetzung mit der Eigenlogik mediengestützter Operationen und Verfahren sowie eine Beschäftigung mit Medieneffekten und bringt redigierende Beseelungen, Belebungen und Bewegungen hervor.

›Animationen‹: Beseelungen Die Seele ist zurück in den Wissenschaften. Zumindest in kritischen Durchsichten des modernen Wissenschaftssystems und seiner strikten Unterscheidungen fordern animistische Verhältnisse – also Beseelungs-, Belebungs- oder Subjektivierungskonstellationen zwischen Lebendem und Totem, Subjekt und Objekt, Geist und Materie – ihr Recht und beharren auf ihrer Relevanz.18 So schreibt einer der wohl prominentesten Neudenker der Moderne, Bruno Latour, in seinem Versuch eines ›Compositionist Manifesto‹, dass eine sich aus der Revision der Moderne zwingend ergebende Neufassung der Natur und letztlich der Welt nicht zu haben ist, »if we do not tackle the tricky question of animism anew«.19 Latour folgt damit dem Zurückkommen auf den Animismus in der ethnologischen Diskussion.20 Danach hat die Beschreibung und Konzeptualisierung animistischer Lebenspraxis amerindianischer Bevölkerungsteile weitreichende Konsequenzen für die Kulturanthropologie, wie Philippe Descola verdeutlicht, sodass die Anthropologie »in ihren Gegenstand nicht nur den anthropos, sondern die gesamte Gemeinschaft der Existierenden einbezieht, die mit ihm verbunden ist«.21 Ein solches Einbeziehen fordert eine Anerkennung beseelter Elemente in 18 19 

Vgl. z.B. Albers, Irene; Franke, Anselm (Hg.): Animismus. Revisionen der Moderne, Zürich 2012. Latour, Bruno: »An Attempt at a ›Compositionist Manifesto‹«, in: New Literary History 41 (2010), S. 471–490, S. 481. 20  Vgl. z.B. ebd., S. 483. 21  Descola, Philippe: Jenseits von Natur und Kultur (2005), Frankfurt a.M. 2011, S. 18.

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Einleitung

dem, was die Moderne als träge Natur fasst, und zeitigt Auswirkungen auf die philosophische Erfassung von Wirkungsverhältnissen. Für den Ethnologen Eduardo Viveiros de Castro stellt die Wiederaufnahme des Animismus daher eine Herausforderung für die moderne Ontologie dar.22   Der Rückgriff auf den Animismus ist ein nicht ganz ungefährlicher Zug. Der Begriff ›Animismus‹ diente bei seiner Einsetzung in einem der wichtigsten Begründungswerke der Kulturwissenschaft vor allem der Abgrenzung und damit der Selbstermächtigung herrschender westlicher politischer, gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Auffassungen gegenüber sogenannten primitiven Weltvorstellungen. Edward Burnett Tylor bezeichnet in Die Anfänge der Cultur (1871) den Glauben an geistige Wesen, die als Seelen Körper beleben oder Lebenskraft entziehen und als Geister in die Welt eingreifen, mit dem Terminus ›Animismus‹.23 Anhand verschiedener ethnographischer Berichte und historischer Quellen erläutert Tylor den vermeintlichen Trugschluss, dem die »niederen Rassen«24 dabei aufsitzen, als falsche Prämisse. Die ›Wilden‹ nähmen ihre Sinneswahrnehmungen für bare Münze, einschließlich der Traum- oder Phantomerscheinungen, die sich nur als vom Körper losgelöste Seelen erklären ließen. Diese ideellen zeichenhaften Erscheinungen könnten nach Auffassung der ›Wilden‹ mit der Welt interagieren und auf diese Einfluss nehmen. Es komme zum Vertauschen ideeller Verbindungen mit reellen Zusammenhängen,25 woher sich auch die magischen Praktiken mit ihrer Zeichenmanipulation zur Beeinflussung der Realität ableiteten.   In dieser Beobachtung rückt der Animismus an das andere Ende einer Entwicklungslinie, die in den Augen des Beobachters direkt zur Wissenschaft des 19. Jahrhunderts geführt hat. Die positivistische Wissenschaft begründet sich selbst, indem sie die Täuschungen durch Sinneswahrnehmung einer anderen Entwicklungsstufe zuweist, sich gleichsam von diesen befreit, und doch ohne diese gar nicht zu einer Selbstbegründung gelangen könnte. Daher zeigt sich 22  Viveiros de Castro, Eduardo: »Perspektiventausch. Die Verwandlung von Objekten zu Subjekten in indianischen Ontologien«, in: Albers, Irene; Franke, Anselm (Hg.): Animismus. Revisionen der Moderne, Zürich 2012, S. 73–93, S. 89f. Zum Zusammenhang von sozialer Struktur und Seelenprinzip vgl. ebd., S. 76. Vgl. auch Viveiros de Castros Kommentar zu Nurit Bird-Davis’ »›Animismus‹ revisited« im selben Band, S. 47–49, insb. S. 47. 23 Vgl. Tylor, Edward Burnett: »Animismus«, in: ders.: Die Anfänge der Cultur. Untersuchungen über die Entwicklung der Mythologie, Philosophie, Religion, Kunst und Sitte, 1. Bd., übers.v. Johann W. Spengel, Friedrich Poske, Hildesheim u.a. 2005, S. 411–495. 24  Ebd., S. 424. 25  Vgl. Tylor, Die Anfänge der Cultur, S.  115. Ausgehend von der ›falschen Prämisse‹ bewertet Tylor jedoch dieses ›wilde Denken‹ als »vollkommen consequente und rationelle primitive Philosophie«. Ebd., S. 423.

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heute z.B. die Wissenschaftsphilosophin Isabel Stengers gegenüber dem Rückgriff auf den Animismus misstrauisch. Dieser Zugriff berge nach wie vor das Risiko eines Rückfalls in das alte (evolutionistische) Fortschrittsepos. Im Zurückkommen besteht für Stengers die Gefahr einer Inanspruchnahme der Position, die Rationalitäten anderer entschlüsseln und über diese herrschen zu können.26 Demgegenüber sei vielmehr jene wissenschaftliche Errungenschaft sicherzustellen, die die Positionen von Beobachter und Beobachtetem reversibel hält. Einseitige Fragestellungen und Selbstermächtigungen gibt es dann nicht. Stengers betont, dass den Animismus zurückzugewinnen nicht heißt, eine Idee des Animismus wiederherzustellen, sondern eine Fähigkeit, »jede Erfahrung [...] nicht als ›unsere‹ zu würdigen, sondern vielmehr als uns ›animierende‹, die für uns von dem zeugt, was wir nicht sind«.27   Stengers’ Unbehagen angesichts der Idee des Animismus, die zwangsläufig an den Begriff dieser Idee gebunden ist, wäre mit dem Begriff der Re-Animationen Abhilfe zu schaffen. Re-Animationen setzen Rückbezüglichkeiten immer schon voraus und verweisen unter anderem in ihrem Plural auf die Vielzahl der Situationen des Animierens und Animiertwerdens auch in der wissenschaftlichen Beobachtung selbst. Aus der Perspektive der Re-Animationen lassen sich daher auch der Idee des Animismus schon bei Tylor re-animatorische Bewegungen abgewinnen, mit denen die einseitigen Befragungs- und Herrschaftsverhältnisse ins Wanken geraten.28 So ist der Animismus bereits eine Projektion einer vermeintlichen Vergangenheit und weist somit stets zurück auf die Insistenz der animistischen Konfiguration in der Gegenwart.29 Der ›wilde Philosoph‹, den Tylor aus unterschiedlichsten Quellen zusammenstellt, lässt sich daher selbst als ideelles Konstrukt erkennen, das die dem Wissenschaftsideal des 19. Jahrhunderts entgegengesetzten Positionen auf sich vereinigt und den Status des Reellen in Tylors Abhandlung annimmt.30 Diese ideelle Figur beweist bis heute ihre Macht, die Geschichte der Wissenschaft vom Menschen und seiner Kultur ins Leben gerufen und am Leben erhalten zu haben.31 26

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29  30  31 

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Vgl. Stengers, Isabel: »Den Animismus zurückgewinnen«, in: Albers, Irene; Franke, Anselm (Hg.): Animismus. Revisionen der Moderne, Zürich 2012, S. 111–123, S. 111. Stengers erkennt eine solch bedenkliche Form des Rückfalls im Projekt der universellen Anthropologie Descolas. Ebd., S. 118. Für eine vom gängigen Evolutionismus absehende Lektüre Tylors vgl. Stringer, Martin D.: »Rethinking Animism. Thoughts from the Infancy of Our Discipline«, in: Journal of the Royal Anthropological Institute 5/4 (1999), S. 541–555. Vgl. Bracken, Christopher: Magical Criticism. The Recourse of Savage Philosophy, Chicago 2007, insb. S. 2, S. 4, S. 11. Vgl. ebd., S. 11. Für eine Genealogie des ›wilden Philosophen‹ und der parallel stattfindenden Arbeit an einer Theorie

Einleitung

Daneben ist das stets schon vorherrschende Wechselverhältnis zwischen animistischer Erkenntnis und positivistischem Wissenschaftsanspruch in Tylors Versuch augenfällig, aus dem Nebeneinander der Fakten und Quellen ein Nacheinander in der Geschichte abzuleiten. Der historiographische Ansatz wird ganz und gar durch Seelen oder wandelnde Lebenskräfte ermöglicht, wenn Tylor das »Ueberlebsel«32 einführt, um widerständige Fakten seiner Gegenwart der Erfolgsgeschichte vom zivilisatorischen Fortschritt unterzuordnen. Überlebsel sind laut Tylor teils unverständlich gewordene Bräuche, die auf einen einstigen Aberglauben zurückgehen und auf einer höheren Kulturstufe dennoch bestehen. Sie sind Sendungen aus einer anderen Zeit und damit Zeichen für Geschichtlichkeit inmitten disparater Fakten. Die re-animatorische Bewegung der Kulturgeschichte Tylors besteht in der Verschränkung von Gegenwart und Vergangenheit in der selbstbegründenden Rückprojektion des Animismus und seiner vermeintlichen Protagonisten sowie in der Aufladung der Zeichen seiner eigenen Zeit mit Lebenskraft, die die Möglichkeit historiographischer Arbeit einführt. Auch der positivistische Beobachter Tylor zeigt sich also animiert von seinem ›Gegenstand‹ der Animation und schreibt eine Kulturgeschichte als Geschichte der Seelenwanderungen und Lebenskräfte.   Die Perspektive der Re-Animationen ermöglicht es, je spezifische Formen der Beseelung zu hinterfragen. Wobei die Wiederaufnahme oder das Zurückkommen auf die Frage des Animismus sich ebenso auf ihre methodischen und epistemologischen Konsequenzen hin untersuchen lassen (Christopher Bracken) wie der vermeintlich seelenlose Diskurs der Historiographen über ihre eigene Arbeit (Daniel F. Erin). Dem Potenzial der Seele und Seelenwanderung für historiographische Fragestellungen widmen sich im ersten Teil dieses Bandes mehrere Beiträge. Dabei zeigt sich die intrikate Verbindung vermeintlich dualistischer Konzepte von Körper und Seele bereits in den Bemühungen um das Schreiben der Geschichte um 1800 (Martin Hense). Anfang des 20. Jahrhunderts lässt sich das Verhältnis von Körper und Seele wiederum in der Struktur der Mode hinterfragen und ermöglicht einen historiographischen Ansatz des Intervalls (Gregor Kanitz). Im Feld der literarischen Produktion werden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ebenfalls Fragen um Seelenwanderung, Möglichkeiten technischer Re-Animation oder Beseelung der Natur ausgetragen. Beiträge hierzu beschäftigen sich mit der Aufschlüsselung wissenschaftsgeschichtlicher Diskurse

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der neuen Kommunikationsmittel und -formen im Rahmen der vermeintlich alten Vorstellung einer totalen Kommunikation vgl. Hörl, Erich: Die magischen Kanäle. Von der archaischen Illusion der Kommunikation, Berlin/Zürich 2005. Vgl. Tylor, Die Anfänge der Cultur, S. 16, S. 71f.

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sowie technisch-experimenteller Anordnungen der Seele (Anne Ortner) und untersuchen Techniken der Belebtheit, die sich zwischen Text und Bild aufspannen, sowie den Kontrast von organischem Wachstum und rhetorischer Verfestigung (Isabel Kranz). Damit verweisen die Beiträge teils explizit in den von ihnen untersuchten Szenen schließlich auch auf die Frage der Rhetorik der ReAnimationen. In der ›bloßen‹ Benennung von Strukturen als beseelte oder reanimierte wie in den rhetorischen Mitteln, Unbelebtes zu beseelen, liegt ein Wissen über Re-Animationen, auf das die Kunst der Rhetorik mit ihren Klassifizierungs- und Stilisierungsbemühungen bisher nur hingewiesen hat und das noch zu ermitteln wäre.

›Animationen‹: Belebungen Mit der erneuerten Relevanz der Seele in den Wissenschaften geht auch eine Konjunktur dessen einher, was sich als ›Wissen vom Leben‹ längst einen festen Platz in den klassischen Geistes- und Naturwissenschaften gesichert hatte. Obgleich eine »Renaissance des Lebensbegriffs«33 seit einigen Jahren auch in den Kulturwissenschaften zu verzeichnen ist, lassen die verschiedenen Bestimmungen des Lebens noch immer eine Vielzahl an Fragen offen, die das Leben auf seinen ›wundersamen‹ Kern zurückwerfen.   Damit ist nicht nur der Topos vom ›Wunder des Lebens‹ aufgerufen, sondern auch eine ›Urszene‹ der Re-Animation, von der ausgehend das ewige Leben als Unsterblichkeit missverstanden werden kann. »Ich bin die Auferstehung und das Leben«34 – so lauten die Offenbarungsworte Jesu Christi im Johannesevangelium zum eindrucksvollsten Wunder des Neuen Testaments. Die ›Auferweckung des Lazarus‹, seine wundersame Rückkehr ins Leben, trägt die uralte und zugleich eine neu aufkommende Hoffnung auf ewiges Leben zur Schau. Als Inbegriff der Wiederbelebung verschiebt die Szene die tradierten Grenzen des Lebens und verspricht durch die Präfiguration der Auferstehung Christi eine grundsätzliche Überwindung des Todes. Sie markiert damit die Vorstellung von Re-Animation als Heilsversprechen, wie sie jahrhundertelang fester Bestandteil einer Kultur war, die Prozesse der Wiederbelebung vor allem in religiösen Konstellationen ansiedelte (Stephan Gregory). Wer an Christus glaubt, wird le33

Dabrock, Peter; Bölker, Michael; Braun, Matthias; Ried, Jens (Hg.): »Einleitung. Was ist Leben – im Zeitalter seiner technischen Machbarkeit? Ethische, kulturelle und wissenschaftstheoretische Herausforderungen der Synthetischen Biologie«, in: dies. (Hg.): Was ist Leben – im Zeitalter seiner technischen Machbarkeit? Beiträge zur Ethik der Synthetischen Biologie, Freiburg i.Br. 2011, S. 11–24, S. 16. 34  Joh 11,25 zit.n. Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung, Freiburg i.Br./Basel/Wien 2009, Sp. 1205.

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ben, obgleich er stürbe. Wer dies dagegen nicht tut, hat dank der erstarkten Life sciences und ihren Möglichkeiten der Re-Animation heute ebenfalls Anlass zur Hoffnung – oder reichlich Grund zur Beunruhigung. Denn jene wissenschaftlichen Beschäftigungen mit dem Leben, die heute mit dem interdisziplinären Forschungszweig der Biowissenschaften manifest werden, redigieren die biblische ›Urszene‹. Wissenschaftliche Reflexionen können aber auch eine unwiederholbare Vergangenheit revitalisieren, diese erneut in Szene setzen und somit ein Wieder-Erleben von Vergangenem ermöglichen (Jan Henschen/David Sittler).   Durch die neuen Medientechniken, mit denen die Möglichkeit einer künstlichen Evokation von Leben gegeben sei, gerät »das Vitale als kulturelles Leitkonzept der Moderne«35 theoretisch und praktisch abermals auf den Prüfstand. Die zahlreichen Erfolge auf dem Feld der Reproduktionsmedizin, der Neurotechnologie oder der Synthetischen Biologie, die der »technoscience«36 gegenwärtig eine breite Öffentlichkeit verschaffen, machen deutlich, dass strikte Unterscheidungen von Belebtem und Unbelebtem das Lebendige in seiner unerbittlichen Tendenz zur Unbestimmtheit immer schon verfehlen. Die damit verbundene Einsicht, dass die Verfahren und die Techniken der Re-Animation als Wiederbelebung effektive Unsicherheiten des Lebens hervorrufen, ist weit über die Grenzen der Life sciences hinaus virulent geworden (Sabine Frost). Nachdem die ›biokybernetische Reproduzierbarkeit‹ Walter Benjamins ›mechanische Reproduzierbarkeit‹ als grundlegendes technisches Bestimmungsmerkmal verdrängt hat,37 nachdem selbst die menschliche Natur längst ins ›Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit‹ eingetreten ist,38 gewinnt auch der Mythos von der Neuschöpfung lebendiger Dinge, von der Erneuerung des Lebens, unerwartet an Überzeugungskraft. Fest verankert im Gefüge aus Medien, Diskursen und Praktiken, die an einem historisch bedingten ›Lebenswissen‹ mitschreiben,39 beschwört er immer schon vielschichtige Narrationen, beziehungsreiche Fiktionen und komplexe Inszenierungen der Wiederbelebung oder der Übertragung von Lebendigkeit auf leblose Gegenstände herauf (Timm Nikolaus Schulze). Wiederbelebtes taucht darin meist unerwartet auf, 35

36  37  38  39 

Call for Papers zur Tagung »Medien des Lebens« der Forschungsgruppe »Das Leben schreiben. Medientechnologie und die Wissenschaften vom Leben (1800–1900)«, Fakultät Medien, Bauhaus-Universität Weimar, 2003. Dabrock u.a., »Einleitung«, S. 11. Vgl. Mitchell, What Do Pictures Want?, S. 318ff. Vgl. Weiß, Martin G. (Hg.): Bios und Zoë. Die menschliche Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M. 2009. Vgl. das Forschungsprogramm des DFG-Graduiertenkollegs »Lebensformen und Lebenswissen« der Universität Potsdam und der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder).

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wirkt in seiner Unberechenbarkeit unheimlich oder lässt im Register des Ästhetischen gerade eine Fatalität des Lebens zum Vorschein kommen. Künstlerische Verfahren verleihen den selbst als artifiziell induziert gedachten Prozessen der Re-Animation jeweils einen eigenen Ausdruck und eine spezifische Prägung.40   Die aktuellen biotechnologischen Möglichkeiten zur Erzeugung und Manipulation lebendiger Materie fordern aber auch einen ›neuen Stil des Denkens über das Leben‹ ein.41 Nachdem das Leben im Zuge der ›sich derzeit erneut wandelnden Biopolitik‹42 zum Gegenstand ethischer und moralpolitischer Auseinandersetzungen geworden ist, werden angesichts von Prozessen der Wiederbelebung zunehmend auch kritische Stimmen laut (Friederike Thielmann). In seiner Emergenz irritiert das Leben durch Momente von Unübersichtlichkeit und Entgrenzung. Neben der derzeitigen Affirmation des Lebens lässt sich so auch ein Bedürfnis nach Regulierung, Organisation und Verwaltung lebendiger Systeme verzeichnen. Der vergleichende Blick auf Kultur- und Lebensräume zeigt zudem, dass sich der Wert des Lebens nicht in prozessorgesteuerter Hightech-Medizin, in digitalen Regel- und Schaltkreisen oder in Errungenschaften der Molekular- und Genforschung erschöpft. Vielmehr sind es politische, soziale und juridische Strategien jenseits der Laborexperimente, die Ordnungen des Lebens herstellen und erhalten (Anne Fleckstein). Angesichts der ungeahnten Möglichkeiten, welche durch die neuen Medien der Verlebendigung zutage treten, sind mit dem Stichwort ›Re-Animationen‹ aber auch diese Verfahren und Methoden aufgerufen, welche die notwendigen Voraussetzungen des Lebens mit einer konservatorischen Geste in Gang zu halten versuchen. Verstärkt geraten so jene normativen Wissensformen, symbolischen Operationen und kulturellen Praktiken ins Blickfeld, die – um Kontingenzen sowie Aporien des Lebens zu bewältigen – auf der Grenze zwischen Leben und Tod darauf abzielen, beides in seine Schranken zu weisen. Solche Perspektiven lassen gesellschaftliche, politische und kulturelle Ordnungsmuster erkennen; sie tragen aber auch zur kritischen Beurteilung reaktionärer Kräfte bei, wenn sie diese mit dem Eigensinn des Lebens konfrontieren (Alf Lüdtke). 40  Vgl. Reichle, Ingeborg: Art in the Age of Technoscience. Genetic Engineering, Robotics, and Artificial Life in Contemporary Art, Wien 2009. 41  Rose, Nikolas: »Was ist Leben? Versuch einer Wiederbelebung«, in: Weiß, Martin G.: Bios und Zoë. Die menschliche Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M. 2009, S. 152–178, S. 164. 42  Vgl. Durnová, Anna; Gottweis, Herbert: »Politik zwischen Tod und Leben«, in: Weiß, Martin G. (Hg.): Bios und Zoë. Die menschliche Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M. 2009, S. 273–303. Die Autoren weisen darauf hin, dass das Neue der Biopolitik darin besteht, dass es an der Grenze von Leben und Tod nicht mehr um die von Michel Foucault betonte Verwaltung von Körperlichkeit geht, sondern um »die Bestimmung dessen, was überhaupt als ›körperlich‹, ›lebendig‹ oder ›tot‹ zu gelten hat«. Ebd., S. 277f.

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Auf dem Spiel stehen mit den Re-Animationen als Prozessen der Wiederbelebung also schließlich einerseits die methodisch-wissenschaftliche Zähmung des Todes und die Hybridisierung von Leben und Technik, wie sie in die gegenwärtigen Vorstellungen von Post- und Transhumanismus münden. Andererseits zielt der Begriff auch auf die Beerdigung des Lazarus-Mythos durch die Anerkennung der Tatsache, dass sich das Leben in all seinen Formen immer nur in einem Spannungsverhältnis zum Tod konstituiert haben wird. Der Schriftsteller Robert Coover verleiht speziell der zweiten Dynamik einen gelungenen Auftritt, wenn er in seiner Erzählung »After Lazarus« die ›Urszene‹ der Re-Animation so umschreibt, dass der auferstandene Leichnam schließlich ins Grab zurückverbannt wird.43

›Animationen‹: Bewegungen In der Philosophiegeschichte wurde eine Auslegung der Seele als Bewegungsprinzip mit der Bewegungsfähigkeit beseelter Wesen begründet. Bei den frühen Naturphilosophen findet sich die Auffassung, dass die Seele selbst bewegt und sich selbst bewegend sein müsse. In Abgrenzung dazu erklärt Aristoteles in De anima, dass es der Seele nur möglich sei, akzidentell bewegt zu werden. »([S]o) sich selbst zu bewegen, ist (ihr) möglich, z.B. daß sie in dem (Körper) bewegt wird, in dem sie sich befindet und der Körper von ihr bewegt wird.«44 Aristoteles unterscheidet die Seele als unbewegt-bewegenden Teil vom bewegten Körper des Lebewesens. Mit Blick auf das Verhältnis von Seele und leiblichem Träger differenziert er Ortsbewegung, Veränderung, Schwund und Wachstum sowie Arten des Bewegtwerdens, die sich in Form wahrnehmungs-, erinnerungs- und erkenntnisbezogener sowie affektiver Bewegungen anzeigen.45   Vor dem Hintergrund der überlieferten Vermittlungen zwischen den Begriffsfeldern ›Seele‹ und ›Bewegung‹ zielt der Begriff ›Re-Animationen‹ auch auf Prinzipien und Arten der Bewegung.Wie also lassen sich Verfahren des ›Wiederin-Bewegung-Versetzens‹, des ›Wieder-bewegt-Seins‹ oder des ›Wieder-bewegend-Seins‹ näher bestimmen? Und wie sind re-animatorische Anregungen und Übertragungen von Bewegung als mediengeschichtliche und medienästhetische Prozesse zu spezifizieren?   Die Beiträge im dritten Teil des Bandes thematisieren Verfahren des WiederBewegens sowie der ästhetischen Affizierung als einer Bewegungsübertragung, 43  Vgl. Coover, Robert: After Lazarus. A Filmscript, Bloomfield Hills/Columbia 1980. 44  Aristoteles: Über die Seele, hg.v. Horst Seidl, Hamburg 1995, Buch I, Kapitel IV, S. 39. 45  Vgl. ebd., Buch I, Kapitel III, S. 25ff.

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die zwischen Artefakten und Rezipient_innen Dynamik gewinnt. Anschaulich werden diese Verfahren an den Gattungsgrenzen und Mediendifferenzen überschreitenden Re-Inszenierungen eines Kunstwerks (Kalani Michell), an der Simulation von Hardware, die eine vergangene Software wieder zum Laufen bringt (Caspar Clemens Mierau), und an der Transkription und filmisch-imaginativen Verlebendigung von Dokumenten (Tobias Ebbrecht). Auch Notationen oder Schreibweisen stellen sich als Wiederaufnahme und Neuordnung von Bewegung dar. So widmen sich Analysen der bildlichen und textuellen Überlieferung einer choreographischen Figur (Eike Wittrock) und der produktiven Verunsicherung ästhetischer Gattungsgrenzen, die in Form von Spannungen und Textbewegungen eine kunsttheoretische Schrift selbst affiziert (Carolin Bohn).   Unter dem Gesichtspunkt der Wiederaufnahme von Bewegung lassen sich translokative und transformatorische Bewegungsarten in ihrem Zusammenspiel mit medientechnischen Operationen und deren internen medialen Bedingungsverhältnissen offenlegen. Der Begriff ›Re-Animationen‹ stellt dabei eine formale Beschreibung für Sequenzen bereit, in denen ein Einsatz, ein Abbruch und eine Rekonfiguration von Bewegung an körper- oder zeichenhaften Formen beobachtbar werden. Mit dieser Auslegung der Re-Animationen verbindet sich die Möglichkeit, Abbrüche und Unterbrechungen zu erfassen sowie Übersetzungen oder Umformungen zwischen verschiedenen Medien und ihren Medialitäten nachzuzeichnen. Die bewegungsorientierte Auslegung von Re-Animationen kann methodologisch in zwei Richtungen gewendet und konkretisiert werden: mediengeschichtlich (bzw. medienhistoriographisch) und medienästhetisch.   Gegenüber Modellen der Mediengeschichtsschreibung, die als Bewegungsprinzipien Substitution, Akkumulation oder Konvergenz zugrunde legen, kann eine auf Re-Animationen ausgerichtete Betrachtung die Dynamik des Vergessens und Verschwindens, die Zwischenräume und Zwischenzeiten der Dysfunktionalität oder der Abwesenheit erschließen.46 Bezogen auf die komplexen Zeitperspektiven und die Akte der Rückwendung in medienhistoriographischen Diskursen lenkt der Begriff ›Re-Animationen‹ die Aufmerksamkeit auf Entzüge und Auslöschungen sowie auf diskursive Einschnitte und Neu-Begründungen.47 46 

Diese Struktur ergänzt kontinuierliche und lineare kausale Verkettungen durch ein Modell diskontinuierlicher, multilinearer und vielfältiger Verknüpfungen. Vgl. das medienepistemologische Programm von Serres, Michel: Hermes, 5 Bde., Berlin 1991–1994. 47  Dabei lässt sich die Implikation, dass Medien material die Raum- und Zeitordnungen generieren, in denen Mediengeschichte(n) beobachtbar, auffindbar, aufschreibbar und redigierbar werden, nicht ausräumen. Zum komplexen Bedingungsgefüge von Medien als Mitproduzenten von Kultur- und Wissenssystemen und zu historiographischen Diskurstypen vgl. Siegert, Bernhard: »Von der Unmöglichkeit, Mediengeschichte zu schreiben«, in: Ofak, Ana; Hilgers, Philipp von (Hg.): Rekursionen. Von Faltungen des

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Diese Untersuchungsperspektive erlaubt es, die unabschließbare Produktivität historiographischer Praktiken zu konzedieren und die Beziehungen zu Historie oder Archiv in den Blick zu nehmen, die durch Analysen eines historischen Geschehens in je spezifischer Weise organisiert werden. Damit ist die Zeitlichkeit der »Rückfrage«48 angesprochen, die jede gegenwärtige Bezugnahme auf vergangene Zeiträume und jede historiographische Erschließungsbewegung strukturiert. Unter dem Aspekt der Rückfrage werden beispielsweise die dynamischen Ansteckungen zwischen materiellen Resten und den Formen wissenschaftlicher Aufmerksamkeit beschreibbar, die diese Relikte wieder in Bewegung versetzen und in Zirkulation bringen.   Als medienästhetische Bestimmung vermag der Begriff ›Re-Animationen‹ die Struktur wahrnehmungsbezogener Erkenntnisbewegungen nachzuzeichnen. Sowohl die intermediale und intermodale Verfasstheit ästhetischer Objekte als auch die Historizität künstlerischer Medium/Form-Verhältnisse stehen im Zentrum gegenwärtiger Studien zur Appropriation Art. Diese Überlegungen befassen sich mit vielfältigen Praktiken der ästhetischen Rückfrage.   Mit Blick auf die Re-Präsentation des Vergangenen in populären und künstlerischen Re-enactments führt Rebecca Schneider den Begriff »inter(in)animation«49 (wieder) ein. Gegenüber einer Monumentalisierung der Geschichte macht Schneider mit diesem Ausdruck eine Theatralität der Zeiterfahrung geltend. Dabei bezieht sie sich auf Gertrude Steins Beschreibung der Wahrnehmung im Theater als Zustand der Nervosität und als entzweiende Erfahrung einer ›synkopierten Zeit‹ (syncopated time).50 Schneider zufolge erscheint im Vollzug eines szenischen Re-enactments eine uneinheitliche, in gegenläufigen Bewegungen und Stillständen bemerkbar werdende Zeit. Die ›nervöse‹ Theatralisierung der Zeit steht dabei für eine dynamische und reversible Struktur ästhetischer Erfahrung, die als Bewegungsübertragung und Resonanz-Verhältnis konzipiert wird (»chiasmatic reverberation across media and across time in a network of ongoing response-ability«).51

Wissens, München 2010, S. 157–175. 48  Zur Betonung des Zeithorizonts der Gegenwart in Derridas Überlegungen zu Geschichte und Historizität vgl. Bunz, Mercedes: »Die Ökonomie des Archivs. Der Geschichtsbegriff Derridas zwischen Kulturund Mediengeschichte«, in: Archiv für Mediengeschichte 6 (2006), S. 33–42, S. 40ff. Vgl. auch Derrida, Jacques: »Edmund Husserl. Der Ursprung der Geometrie«, in: ders.: Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie, München 1987, S. 204–236, insb. S. 66. 49  Schneider, Rebecca: Performing Remains. Art and War in Times of Theatrical Reenactment, London/New York 2011, S. 7. Zur poetischen und literaturwissenschaftlichen Geschichte des Ausdrucks vgl. ebd. 50  Vgl. ebd., S. 6 und Stein, Gertrude: »Plays«, in: dies.: Lectures in America, New York 1935, S. 93–131. 51  Schneider, Performing Remains, S. 164.

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Dieser erfahrungsorientierten Auslegung re-animatorischer Verfahren lässt sich mit Garrett Stewarts Begriff »demediation«52 ein materialästhetischer und medientheoretischer Ansatz an die Seite stellen. Stewart widmet sich in seiner Studie Bookworks Objekten, Plastiken und Installationen, bei deren Herstellung Bücher übermalt, eingegipst, verformt, zerknüllt, gestapelt, zerschnitten, verklebt – kurz: defiguriert und damit unlesbar wurden. Demediation bezeichnet in diesem Zusammenhang »the undoing of a given form of transmission, now blocked or altered, in the medium of its secondary presentation«.53   Wenn in der künstlerischen Produktion Bücher als hinterlassene Objekte auf ihr physisches Trägermaterial reduziert werden, so sind Stewart zufolge die Textualität, die Referenz und die Medialität des Buchs – im Sinne der transparenten Mittlerfunktion – suspendiert. Das Ableben der Textualität ist zugleich ein Aufleben von Objektqualitäten. Die für die Betrachter_innen hervortretende Dysfunktionalität eröffnet einen konzeptuellen Zugang zur Geschichte des Buchs: »Where in Marshall McLuhan’s well known sense of the form/content dyad, the content of a new medium is always the lingering form of the old, in the art of demediation the absence of the old medial form becomes the content of the new work.«54

Die raum- und materialbezogene Form von Buch-Installationen führt die Betrachter_innen in einem neu konfigurierten Wahrnehmungsvollzug zu einer spekulativen Befragung des Buchs – als Handschrift oder Produkt der Drucktechnik, als Werk einer geistigen Urheberschaft, als gebundene Sammlung, als Sequenz der Sichtbarkeit und Nicht-Sichtbarkeit einzelner Seiten, als Träger eines visuellen Codes, als Oberfläche oder als Raum. Stewarts Überlegungen lenken den Blick darauf, dass Medien nicht nur die Bedingungen für Szenen der Re-Animation stellen. Sie können auch selbst verschwinden, außer Gebrauch geraten oder dysfunktional werden. In Stewarts Auslegung der demediation erhält die Morbidität von Medien einen systematischen Stellenwert. Aufgewiesen wird eine Bewegungssequenz vom Medium über ein mortifiziertes Medium zum lebhaften, ästhetisch-konzeptuellen Objektbezug in einer szenischen Anordnung.

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Stewart, Garrett: Bookwork. Medium to Object to Concept to Art, Chicago/London 2011, S. 1ff. Stewart überformt mit seinem Neologismus den Begriff ›Remediation‹, der die Debatten der (seinerzeit sogenannten) Neuen Medien entscheidend prägte. Vgl. Bolter, Jay David; Grusin, Richard: Remediation. Understanding New Media, Cambridge 1999. 53  Stewart, Bookwork, S. 1. 54  Ebd.

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Bindestrich Mit den Konzepten der redigierenden Beseelung, Belebung und Bewegung sind hier drei Auslegungen von Re-Animationen vorgestellt, die auf gegenwärtige Debatten und Positionen Bezug nehmen und sich zugleich davon absetzen. Denn die Vorsilbe ›Re-‹ vor den ›Animationen‹ weist dem abendländischen Begriff der anima einen neuen Platz zu, indem Schleifen der Vermittlung eingeführt werden. Was jeweils als Animation erkannt oder ernst genommen wird, ist auf seine medialen Voraussetzungen und zeitlichen Konstellationen hin zu befragen. Zugleich liegt mit dem Begriff ›Animationen‹ der Nachdruck auf der Insistenz der Seele oder des Lebhaften, die sich den formalen, technischen oder wissenschaftlichen Erklärungen entzieht. Der Band Re-Animationen nimmt beide anscheinend widerstreitenden Auffassungen von Welt auf, um ihre je ausgehandelte Beziehung in Szenen zu fassen. Insofern ist der Bindestrich Programm; das Interesse gilt den Relationen zwischen dem Einsatz des ›Re-‹ und dem der ›Animationen‹.

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Christopher Bracken

Lebhaftigkeiten. Die Lebenden und die Lebendigen Übersetzung aus dem Englischen von Barbara Filser

Schauergeschichten

D

as, was in Howard Phillips Lovecrafts Geschichten Schrecken erregt, ist die Gefahr falscher Klassifikationen. Schrecken ist eine Kategorie emotionalen Erlebens, das durch eine unerwartete Einordnung von Dingen heraufbeschworen wird. »Die größte Gnade auf der Welt«, merkt Francis Wayland Thurston, der Erzähler in »Cthulhus Ruf«, an, »ist das Nichtvermögen des menschlichen Geistes, all ihre inneren Geheimnisse miteinander in Verbindung zu bringen«.1 Er fürchtet sich vor dem, was passieren könnte, wenn »die Wissenschaften« weiterhin Verbindungen zwischen Dingen entdecken, die gegenwärtig keinen Zusammenhang aufweisen: »[E]ines Tages«, so warnt er, »wird das Zusammenfügen der einzelnen Erkenntnisse so erschreckende Aspekte der Wirklichkeit eröffnen, daß wir durch diese Enthüllung entweder dem Wahnsinn verfallen oder aus dem tödlichen Licht in den Frieden und die Sicherheit eines neuen, dunklen Zeitalters fliehen werden«.2

Thurston hat panische Angst vor dem Rhizom. Denn der berühmten Definition von Gilles Deleuze und Félix Guattari zufolge ist das Rhizom eine Klassifizierung, die unzusammenhängende Äußerungen, Organisationen und Umstände

1 2 

Lovecraft, Howard Phillips: »Cthulhus Ruf«, in: ders.: Horror Stories, übers.v. H. C. Artmann, Charlotte Gräfin von Klinckowstroem, Rudolf Hermstein, Frankfurt a.M. 2008, S. 13–48, S. 15. Ebd.

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Christopher Bracken

»unaufhörlich verbindet«.3 Es ist eine Anhäufung des Mannigfaltigen. Ein jedes seiner Punkte kann »(und muß)«4 mit jedem beliebigen anderen verbunden sein.   Thurstons rhizomatischer Schauder wiederum kann und muss mit Lucien Lévy-Bruhls Obsession mit der ›primitiven Mentalität‹ in Zusammenhang gebracht werden. Lovecraft schrieb »Cthulhus Ruf« im Sommer des Jahres 1926 und veröffentlichte die Geschichte 1928 in Weird Tales, genau zu der Zeit, als Lévy-Bruhls Denken das Interesse der amerikanischen Leser zu wecken begann. In den Jahren 1919 und 1920 war Lévy-Bruhl Austauschprofessor in Harvard gewesen. 1926 kehrte er in die Vereinigten Staaten zurück, um an der Johns Hopkins University und in Berkeley zu lehren. Im selben Jahr veröffentlichte Alfred A. Knopf eine englische Übersetzung seines Hauptwerks Les fonctions mentales dans les sociétés inférieures unter dem Titel How Natives Think.5 Ruth Bunzel erinnert daran, dass Franz Boas Lévy-Bruhl 1927 oder 1928 an die Columbia University eingeladen hatte.6 1927 erschien L’âme primitive, das innerhalb eines Jahres ins Englische übersetzt wurde.   Lévy-Bruhl unterteilt Gesellschaften in zwei Klassen, die sich vor allem durch die Art und Weise unterscheiden, in der sie Dinge in Klassen einordnen. ›Zivilisiertes‹ Denken zieht klare Grenzen zwischen Kategorien der Erfahrung. Es trennt Dinge, die voneinander verschieden sind. ›Primitives‹ Denken faltet die Inhalte gegensätzlicher Kategorien zusammen. Es bringt getrennte Dinge miteinander in Verbindung und lässt Rhizome entstehen. Zivilisiertes Denken legt Wert auf Klarheit und Kohärenz. Primitives Denken duldet Verwirrung, Unbestimmtheit und Unschärfe. Auf diese Weise zieht Lévy-Bruhl eine scharfe Trennlinie: »Die Primitiven«, versichert er seinen Lesern, »kennen die Unterscheidungen nicht, die uns als ganz natürlich erscheinen«.7 Jedoch räumt er ein, dass die falsche Klassifikation auch ein wirkungsvolles Instrument für Entdeckungen sein kann: »[S]ie pflegen dafür ihrerseits wieder andere [Unterscheidungen, C. B.] zu machen, die uns entgehen.«8 Wenn seine ›Primitiven‹ mehr verstehen 3  4  5

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Deleuze, Gilles; Guattari, Félix: Tausend Plateaus, übers.v. Gabriele Ricke, Ronald Voullié, Berlin 1992, S. 17. Ebd., S. 16. Vgl. Cazaneuve, Jean: Lucien Lévy-Bruhl, übers.v. Peter Rivière, Oxford 1972, S. xiv (das oben genannte Buch wurde unter dem Titel Das Denken der Naturvölker 1921 in deutscher Übersetzung veröffentlicht, Anm. d. Übers.). Vgl. Bunzel, Ruth: »Introduction«, in: Lévy-Bruhl, Lucien: How Natives Think, übers.v. Lilian A. Clare, New York 1966, S. vf. Lévy-Bruhl, Lucien: Die Seele der Primitiven, übers.v. Else Baronin Werkmann, Düsseldorf/Köln 1956, S. 264. Ebd. Zur Gegenüberstellung von ›zivilisierter Klarheit‹ und ›primitiver Verwirrung‹ bei Lévy-Bruhl vgl. ebd. z.B. S. 105f., S. 140, S. 252, S. 262.

Lebhaftigkeiten

als ›zivilisierte‹ Denker, dann liegt das daran, dass sie eher dazu bereit sind, getrennte Dinge miteinander in Verbindung zu bringen. Ihre verschwommene, rhizomatische Logik bringt Neuheit in die Welt.   Das aber ist es, was Lovecrafts Erzähler Entsetzen bereitet. Thurston hat panische Angst vor der Wahrheit, die »aus einem zufälligen Zusammensetzen zweier getrennter Dinge [aufblitzt]«,9 und sie blitzt am intensivsten immer dann auf, wenn sich der Unterschied zwischen den Lebenden und Toten auflöst, besonders in Akten der Reanimation. Thurston ist immer noch von seinen eigenen Versuchen benommen, gewisse Fragmente zusammenzusetzen, die ihm sein verstorbener Großonkel George Gammell Angell hinterlassen hat – ein Experte für alte Inschriften an der Brown University, der unter verdächtigen Umständen zu Tode gekommen ist.10 Zwischen Angells Papieren entdeckt Thurston eine Kiste mit Material über den ›Cthulhu Kult‹. Zu seinem Entsetzen findet er heraus, dass Cthulhu einer der »Alten« ist: eine Spezies übernatürlicher Monster, die »aus dem All« kamen, als die Erde noch jung war.11 Die Alten verbinden Merkmale, die er lieber trennen würde. Deshalb kann er nicht über sie sprechen, ohne gegensätzliche Eigenschaften gegeneinander abzuwägen. »[S]ie besäßen Gestalt«, räumt er ein, »aber die war nicht stofflich«.12 Er fügt hinzu: »Aber obwohl Sie nicht länger am Leben waren, so würden Sie dennoch nie wirklich sterben.«13 Über die lebenden Toten zu sprechen, lässt ihn sich nur in Widersprüche verstricken. »Sie alle starben ganze Zeitalter, bevor der Mensch kam«, fährt er fort, »aber es gab gewisse Künste, durch die Sie wiederbelebt werden konnten«.14 Sie haben »sich nun […] zurückgezogen«15 und wohnen doch immer noch in einer Stadt namens R’lyeh auf einer Insel, die an einer unbekannten Stelle im Pazifischen Ozean versunken ist. Dort erhalte sie der »Zauber des mächtigen Cthulhu«, »bis zu Ihrer glorreichen Auferstehung«.16   Die Alten sprechen zu Menschen in Träumen, deren »Ausdruckskraft«17 an das reale Leben grenzt. Ein Bildhauer modelliert im Schlaf ein Bildnis Cthulhus. »Es schien eine Art Monster zu sein«, erinnert sich Thurston, »oder ein Symbol, das ein Monster darstellte, von einer Gestalt, wie sie nur krankhafte Phantasie 9 10  11  12  13  14  15  16  17

Lovecraft, »Cthulhus Ruf«, S. 15. Vgl. ebd., S. 16. Ebd., S. 31. Ebd. Ebd., S. 32. Ebd., S. 31. Ebd. Ebd., S. 32. Ebd., S. 36.

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ersinnen kann«.18 Was macht das Monster monströs? Was macht Monstrosität aus? In Cthulhu finden sich die Züge dreier unterschiedlicher Arten zusammengestückelt, zwei von ihnen existent, eine imaginär. Er oder vielmehr »ES« hat den Kopf eines »Oktopus« (jedoch ist es auch »tintenfischgleich«), den Körper und die Schwingen »eines Drachen« und den Umriss »der Karikatur eines Menschen«.19   »[U]nwissend wie sie waren«,20 überrascht es nicht, dass die Verehrer Cthulhus die Unterscheidung zwischen Leben und Tod nicht kennen. Deshalb versuchen sie, »ES«21 wiederzuerwecken. Thurston stößt rassistische Beleidigungen gegen sie aus und nennt sie »Kanaken« und »halfcasts«.22 Er sagt, sie wären ein »heterogener Kult«.23 Es ist das Grauen vor der Heterogenität, das seinen Rassismus schürt. Nur »Bastarde«,24 argumentiert er, würden eine Bastard-Gottheit verehren. Nur »Mischblütige«25 würden ein Monster wiederbeleben, das die Unterscheidung zwischen Leben und Tod aufhebt. Für Thurston ist die Reanimation der schlimmste aller Kategorienfehler. Für Lévy-Bruhl hingegen ist es einer, der für die Primitiven typisch ist. »Die primitive Denkart«, schreibt er im Jahr 1927, »kennt keinen Unterschied zwischen der Natur der verschiedenen Lebewesen, nicht einmal zwischen der Natur dieser und der leblosen Dinge«.26   Die Ironie von Lovecrafts Geschichte liegt darin, dass jeder, der »Cthulhus Ruf« liest, ebenfalls zu einem Wiedererwecker wird. In einer nach dem Titel eingefügten Anmerkung erklärt Lovecraft, dass die Geschichte nach dem Tod Thurstons entdeckt wurde.27 Indem wir sie lesen, bringen wir ihn ins Leben zurück, beschwören wir den Toten und bringen ihn zum Sprechen. Wir tun ihm ausgerechnet das an, was er fürchtete, dass die ›Mischblütigen‹ mit Cthulhu machen würden.Wir treten seinem treuen Kult bei.Wir werden als Leser in genau das Böse verwickelt, das er anprangert. Denn Lesen selbst ist Re-Animation.   Auf ähnliche Weise wird jeder, der »Herbert West – der Wiedererwecker« liest, den Wiedererwecker des Titels der Geschichte wiedererwecken. An der 18  Ebd., S. 17. 19  Ebd., S. 45, S. 25, S. 17. 20 Ebd., S. 31. 21  Ebd., S. 39. 22  Ebd. 23  Ebd., S. 30 (Übersetzung grammatikalisch angepasst, Anm. d. Übers.). 24  Ebd. 25  Ebd., S. 30f. 26  Lévy-Bruhl, Die Seele der Primitiven, S. 288. 27 Lovecraft, Howard Phillips: »The Call of Cthulhu«, in: ders.: Tales, hg.v. Peter Straub, New York 2005, S. 167 (die erwähnte Anmerkung ist in der hier herangezogenen deutschen Übersetzung nicht enthalten, Anm. d.Übers.).

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medizinischen Fakultät unternimmt West ein »geheime[s] Studium« der Grenze zwischen dem Leben und seinem »Aufhören«.28 Er findet heraus, dass er den Tod nicht verhindern kann. Aber er kann den kürzlich Verstorbenen Leben zurückgeben. Er erfindet eine »wiederbelebende Lösung«29 und spritzt sie in die Venen »frische[r]«30 Leichname, die er und sein Komplize, der Erzähler der Geschichte, aus gerade zugeschaufelten Gräbern rauben. Zunächst hofft West, »ein normales, lebendes Geschöpf«31 wiederzubeleben, aber als seine Forschungen Fortschritte machen, beginnt er, sich mit dem Zusammenstellen von »künstlichen Monstrositäten, die die meisten gesunden Menschen vor Angst und Abscheu würden tot umfallen lassen«,32 zu vergnügen. Obwohl er die Toten wieder in Bewegung versetzt, vermag er es nicht, sie zur Vernunft zu bringen. Einer bricht aus, ermordet vierzehn Menschen und nährt sich von ihren Überresten. Sein Kannibalismus ist ein besonders grausiger Kategorienfehler.   West und der Erzähler melden sich während des Ersten Weltkriegs bei einem kanadischen Regiment zum Dienst – nicht um für die Verwundeten zu sorgen, sondern um leichten Zugang zu den Toten zu erhalten. »[W]ie ein Metzger inmitten seiner blutigen Produkte« geht West Körper und Körperteile durch und stellt »wiederbelebte Versuchsobjekte« zusammen, indem er die Überreste unterschiedlicher Spezies zusammenstückelt. Er entdeckt das »nie sterbende« Gewebe eines »unbeschreiblichen tropischen Reptils« und setzt dieses ein, um das Leben in den »organlosen Überresten« menschlicher Körper zu erhalten.33 Wests Enthusiasmus beim Neuzusammensetzen lässt seinen Komplizen erschaudern. Der Schrecken liegt jedoch nicht in der Entweihung der Toten, sondern darin, dass Arten zusammengestückelt werden, die die Natur trennt: »[I]ch konnte mich nie an den Gleichmut gewöhnen, mit dem er bestimmte Dinge behandelte und einordnete.«34 Der Schrecken erwächst aus dem Akt einer falschen Klassifikation: »[E]in Raum voll klassifizierter Friedhofsreste […] ist schierer Wahnsinn«, wiederholt der Erzähler, vor allem dann, wenn die Klassifikation »Blut und geringere menschliche Überreste« zusammen mit »Reptilabnormitäten« gruppiert.35 Der Wahnsinn endet, als die lebenden Toten an28 29  30  31  32  33 34  35 

Lovecraft, Howard Phillips: »Herbert West – der Wiedererwecker«, in: ders.: Stadt ohne Namen. Horrorgeschichten, übers.v. Charlotte Gräfin von Klinckowstroem, Frankfurt a.M. 1997, S. 113–156, S. 135. Ebd., S. 139. Ebd., S. 115. Ebd., S. 139. Ebd., S. 144. Ebd., S. 145f. Ebd. Ebd., S. 147.

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rücken, um West einen letzten, tödlichen Besuch abzustatten. Als der Erzähler sie erblickt, fällt ihm sofort auf, dass sie eine Mischung aus Menschlichem und Nichtmenschlichem sind – ein weiterer Kategorienfehler: »Ihre Umrisse waren menschlich, halbmenschlich, teilweise menschlich oder gar nicht menschlich«, erinnert er sich, »die Horde war grotesk verschiedenartig«.36 Dann sieht er dabei zu, wie der Wiederzusammensteller auseinandergenommen wird.   Lévy-Bruhl schreibt über Reanimations-Geschichten, als ob es diese nur bei primitiven Gesellschaften gäbe. Diejenigen Lovecrafts allerdings wurden veröffentlicht, während Lévy-Bruhl durch die Vereinigten Staaten reiste: »Zahlreiche aus den verschiedensten Gegenden stammende Erzählungen«, vermerkt LévyBruhl, »berichten von Menschen, die wieder zum Leben erwachte Tote sind«, und »von solchen, die, obwohl sie sich ganz den Anschein geben, Lebende zu sein, in Wirklichkeit doch Tote sind«.37 Er schließt daraus, dass ›Primitive‹ Leben und Tod nicht unterscheiden würden. Vielmehr klassifizierten sie den Tod als eine Art Leben. »Um diese so befremdenden Vorstellungen verstehen zu können«, fährt er fort, »die für die Denkart des primitiven Menschen gar nichts außergewöhnliches an sich haben, müssen wir den Sinn ausschalten, den wir dem Worte ›der Tote‹ beizulegen pflegen, und trachten, uns in die Anschauungsweise des Primitiven hineinzufinden. Für ihn bedeutet der Tod nicht die endgültige, unwiderrufliche Trennung des Individuums von der Welt des Lebenden […]. Für ihn handelt es sich nur um eine plötzliche und tiefgreifende Veränderung des Individuums, die es, trotz der Zersetzung des Körpers, nicht verhindert, weiter zu bestehen.«38

Die Unterscheidung zwischen Leben und Tod ist dasjenige, was den Unterschied zwischen zivilisiert und primitiv, zwischen gewöhnlich und ungewöhnlich, zwischen ›uns‹ und ›ihnen‹ ausmacht. Herbert Wests Lehrer tun seine »umwälzende Theorie der Wiederbelebung« damit ab, dass nur ein »jugendlicher Enthusiast« den fundamentalen Unterschied zwischen den Lebenden und den Toten übersehen würde.39 Das ist zudem genau das, was Lévy-Bruhls ›Primitive‹ tun: »Die Toten leben«, bekräftigt er: »Überall sind die Primitiven davon überzeugt.«40 Daher müssen sogar die Toten eines Tages sterben: »[D]ie Toten [verschwinden] schließlich endgültig.«41 36  37 38  39  40  41 

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Ebd., S. 155. Lévy-Bruhl, Die Seele der Primitiven, S. 280. Ebd., S. 281. Lovecraft, »Herbert West – der Wiedererwecker«, S. 122. Lévy-Bruhl, Die Seele der Primitiven, S. 312. Ebd., S. 328.

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In »Der Fall Charles Dexter Ward« verschwinden die Toten nicht restlos. Sie trocknen stattdessen aus. Der Arzt Dr. Marinus Bicknell Willett macht diese bemerkenswerte Entdeckung, während er das unterirdische Labor von Wards berüchtigtem Vorfahren, dem vor über 150 Jahren verstorbenen Joseph Curwen, auskundschaftet, der zeit seines außergewöhnlich langen Lebens als ein mächtiger Magier gegolten hatte. Lévy-Bruhl zufolge gibt es eine »seltenere« Kategorie von Reanimations-Geschichten, »in denen ein Mensch, besonders etwa ein so mächtiger wie ein Zauberer, aus eigener Kraft zum Leben zurückkehrt und Schrecken und Angst um sich verbreitet«.42 Willett begreift langsam, dass er eine Figur in einer dieser Geschichten ist. Er hat den Verdacht, dass Curwens Seele von den Toten zurückgekehrt sei, um vom Körper Wards Besitz zu ergreifen – dies würde die plötzlichen und seltsamen Veränderungen in Wards Verhalten erklären. Während er tastend seinen Weg durch Curwens Krypta sucht, stößt Willett auf eine Kammer voller Regale, in denen eine seltsame Sammlung lagert: »Manche der oberen Borde waren ganz leer, doch den meisten Raum nahmen kleine, merkwürdig aussehende Bleikrüge von zwei verschiedenen Grundtypen ein; der eine groß und henkellos wie ein griechischer Ölkrug, eine Lekythos, der andere mit einem Henkel und in der Form wie ein Krug aus Phaleron.«43

An Lévy-Bruhls Standards gemessen, gehorcht die Sammlung dem obersten Prinzip zivilisierter Denkart: »Der Doktor sah sofort, daß diese Krüge nach einem sehr strengen System klassifiziert waren […].«44 Willett findet heraus, dass jeder Krug »ein feines Pulver von sehr geringem Gewicht«45 enthält. Dieses sind die »essentiellen Saltze«46 der Toten. Die Alchemisten glaubten, dass ›essentielle Saltze‹, etwa Quecksilber, die eigentlichen Elemente des Lebens seien; sie vermuteten, dass alle anderen Substanzen daraus hervorgingen.47 In 42 Ebd., S. 285. 43  Lovecraft, Howard Phillips: »Der Fall Charles Dexter Ward«, in: ders.: Horror Stories, übers.v. H. C. Artmann, Charlotte Gräfin von Klinckowstroem, Rudolf Hermstein, Frankfurt a.M. 2008, S. 49–207, S. 180. 44  Ebd. 45  Ebd. 46  Ebd., S. 69 (an der hier zitierten Stelle ist nur von Salzen die Rede; zur genauen Bezeichnung des Pulvers vgl. ebd., S. 180f., Anm. d. Übers.). 47  Vgl. Johann Rudolph Glaubers Beschreibung: »Erstlich und vor allen Dingen soll man dieses wissen / daß alles Holtz oder Kraut von einem Sulphurischen Saltze sein Herkommen hat / davon auch alle Metallen ihren Ursprung haben / und in ihrem innersten auch ein ander sehr gleich sind […].« Glauberi, Johannis Rudolphi [Glauber, Johann Rudolph]: Tractatus de Natura Salium. Oder Außführliche Beschreibung / deren bekanten Salinen, unterscheiden Natur / Eigenschafft / und Gebrauch / und absonderlich von einem / der Welt noch gantz unbekantem wunderlichem Saltze / dadurch alle verbrenliche Vegetabilische / Animalische und

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Lovecrafts Geschichte enthalten die essenziellen Salze die gesamte Person in einer kompakten, kristallinen Form. Curwen zaubert mit ihnen, um die Toten ins Leben zurückzurufen, so als würde er aus DNA-Proben klonen. Von »einer Woge des Grauens«48 erfasst, tritt Willett in einen angrenzenden Raum, in dem er seltsame Symbole in die Wände gemeißelt findet. Er murmelt vor sich hin, während er sie entziffert, und bemerkt erst, als es bereits zu spät ist, dass er einen Reanimations-Zauber ausspricht. Etwas beginnt langsam aus einem der Krüge aufzusteigen und löscht die ›strenge‹ und ›zivilisierte‹ Unterscheidung zwischen den Lebenden und den Toten aus.   Lovecraft entwickelt seine Geschichte ausgehend von der Annahme, dass das menschliche Lebensprinzip in einer mineralischen Form festgehalten werden kann. Lévy-Bruhl klassifiziert diese Prämisse als typisches Beispiel primitiven Denkens. Der ethnographischen Studie Elsdon Bests zufolge, so führt er an, seien die Maori »Metaphysiker und Theologen. Ihr Scharfsinn hat jedoch nicht dieselben Wege eingeschlagen, auf die sich unsere Metaphysiker und Theologen festgelegt haben. Er hat seine eigenen Methoden und sozusagen seine eigenen Kategorien.«49 Lévy-Bruhl macht geltend, dass sie ein Ritual ausüben, das das »Lebensprinzip«50 oder mauri isoliert und es in etwas Unbelebtes einpflanzt, »meist einen Stein«.51 Dadurch wird ein vormals lebloser Gegenstand in einen »Talisman« verwandelt, den »materiellen« Träger einer »nichtmateriellen« Lebenskraft:52 »Es herrschte der Glaube, daß ein solches materielles mauri die Macht in sich habe, das nichtmaterielle mauri oder Lebensprinzip des Menschen, des Bodens, der Wälder, der Vögel, der Fische usw. vor jedem Schaden zu bewahren.«53 Lévy-Bruhl vermerkt, dass sich die ›zivilisierte‹ Denkart eine ›Kraft‹, die vom Menschen auf ein Mineral überwechselt, nicht einmal vorstellen kann. »Wie«, fragt er, »kann ein und dasselbe Wort der Maori-Sprache gleichzeitig das nichtmaterielle Lebensprinzip eines Menschen und den Stein

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Mineralische Subjecta, ohne Abgang ihres Gewichts / noch Veränderung deren Formen / und Gestalten / in harte unverbrennliche Coerper zu verwandlen, in: ders.: Opera Chymica, Bücher und Schrifften / soviel deren von ihme bißhero an Tag gegeben worden. Jetzo von neuem mit Fleiß übersehen / auch mit etlichen neuen Tractaten vermehret / und umb mehrer Bequemlichkeit willen / in diese Form zusammen getragen / sampt ein darzu verfertigten vollkommenen Register, Franckfurt am Mayn MDCLVIII (1658), http://dfg-viewer.de/v2/?set%5Bimage%5D =phys2106927&set%5Bmets%5D=http%3A//digital.ub.uni-duesseldorf.de%2Foai%2F%3Fverb%3 DGetRecord%26metadataPrefix%3Dmets%26identifier%3D1882260, S. 452, 23.02.2012. Lovecraft, »Der Fall Charles Dexter Ward«, S. 184. Lévy-Bruhl, Die Seele der Primitiven, S. 146. Ebd., S. 147. Ebd., S. 148. Ebd., S. 147f. Ebd., S. 148.

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bedeuten, den er sich zum Talisman erwählt hat? Es scheint, daß der Geist eines Weißen einer solchen Identifizierung zweier so verschiedener Wesen nie und nimmer zugänglich sein wird.«54 Offenbar waren Lévy-Bruhl die Geschichten Lovecrafts nicht bekannt. Er definiert Weiß-Sein als die Unfähigkeit, den spezifischen Unterschied aufzuheben, der eine Kategorie von der anderen trennt, wie etwa das Lebendige und das Unbelebte. Der ›Geist eines Weißen‹ hat panische Angst vor dem Rhizom – eine Angst, die für ihn bezeichnend ist.

Onto-Geschichten Die Fähigkeit des ›Zusammensetzens zweier getrennter Dinge‹ besteht auch heute noch, aber sie schlummert nicht mehr an den diskursiven Orten, die ihr vormals Schutz boten: in der Wiedererweckungsgeschichte oder in der vergleichenden Ethnographie. Sie ist aus den Archiven der Literatur und der Anthropologie auferstanden, um ein neues Leben in der politischen Ökologie zu finden, etwa in der ›Onto-Geschichte‹, die Jane Bennett in ihrem jüngsten Buch, Vibrant Matter. A Political Ecology of Things, erzählt. Bennett lehrt politische Theorie an der Johns Hopkins University, an der Lévy-Bruhl im Jahr 1926 eine programmatische Rede hielt. Sie bittet ihre Leser, heute über das nachzudenken, über das er damals sagte, dass es dem ›Geist eines Weißen‹ nicht ›zugänglich‹ werde: »[S]tellen Sie sich einen ontologischen Bereich ohne jegliche eindeutige Grenzziehungen zwischen Mensch, Tier, Pflanze oder Mineral vor. Alle Kräfte und Strömungen (Materialitäten) sind lebendig, affektiv und Zeichen gebend oder können es werden.«55

Bennett erkennt keinen grundsätzlichen Unterschied – keine ›eindeutigen Grenzziehungen‹ – zwischen Seinskategorien. Sie löst sogar die Unterscheidung zwischen dem Lebenden und dem Unbelebten auf: »In dieser Onto-Geschichte ist in einem gewissen Sinn alles am Leben.«56 Die Theorie der lebendigen Materie faltet die Lebenden mit dem Lebendigen zusammen: »Jedes Ding ist lebhaft (life-ly).«57 Bennett erwähnt nicht, dass Lévy-Bruhl dieses Zusammenfalten als eine bestimmende Geste des primitiven Denkens klassifizierte. Sie wiederholt sie und vergisst dabei deren Geschichte. Sie beschwört das Gespenst eines ver54  Ebd., S. 157. 55  Bennett, Jane: Vibrant Matter. A Political Ecology of Things, Durham 2010, S. 116f. 56  Ebd., S. 117. 57  Ebd., S. 89.

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gangenen Diskurses herauf – eines Diskurses, der damit anfängt, dass er zurückkommt. Ein solcher Diskurs kann nur in einer aus den Fugen geratenen Gegenwart stattfinden, in einer Zeit, die sowohl sie selbst als auch nicht sie selbst ist, »jenseits der Opposition von Präsenz und Nicht-Präsenz«58 und zwischen Beständigkeit und Wandel.   Was ist dieses Lebendige, das an das Leben selbst grenzt? In welchem ›Sinn‹ ist alles ›am Leben‹? Erweckt Bennett die Annahme, die Lévy-Bruhl den ›Metaphysikern und Theologen‹ der Maori zuschreibt, zu neuem Leben? Überträgt sie das ›Lebensprinzip‹ auf unbelebte Gegenstände? Die Theorie der lebendigen Materie definiert Lebendigkeit auf zwei Arten.   Zunächst ist Lebendigkeit eine Fähigkeit, Zeichen zu produzieren. Menschen ›sprechen‹, sagt Bennett, nichtmenschliche Wesen ›signalisieren‹. Ein einziges Merkmal definiert zwei Klassen von Wesen: »[E]in affektiver, sprechender menschlicher Körper unterscheidet sich nicht fundamental von den affektiven, signalisierenden nichtmenschlichen Wesen, mit denen er zusammen existiert, empfängt, genießt, dient, verbraucht, herstellt und wetteifert.«59

Barbara Johnson merkt an, dass die Produktion von Zeichen üblicherweise als ein Anzeichen für ›menschliche Besonderheit‹ aufgefasst wird. »Ein Mensch zu sein, setzt Zeichen für ein Inneres voraus«, schreibt sie, »als Quelle dessen, was äußerlich erscheint«.60 Bennett jedoch fragt, ob das Hervorbringen von Zeichen oder zumindest ›Signalen‹ nicht auch ein Zeichen für das Nichtmenschliche sein kann.   Zweitens ist Lebendigkeit eine Fähigkeit zur ›Wirksamkeit‹. Bennett betont, dass lebendiger Materie »eine kreative, nicht-ganz-menschliche Kraft, die dazu fähig ist, das Neue hervorzubringen«,61 eigen ist. In der Naturgeschichte »summt« ein »aktives Werden«.62 Sie bestimmt ›Wirksamkeit‹ als ein Vermögen, Veränderungen herbeizuführen: »Wirksamkeit deutet auf die Kreativität von Handlungsfähigkeit hin, ein Vermögen, etwas Neues zum Erscheinen zu bringen oder auftreten zu lassen.«63 Doch Akteure handeln selten allein, sie handeln üblicherweise in Schwärmen. Folglich sind »Momente wirksamer Kausalität, mit ihrer Kette 58 

Derrida, Jacques: Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, übers.v. Susanne Lüdemann, Frankfurt a.M. 1996, S. 28. 59 Bennett, Vibrant Matter, S. 117. 60  Johnson, Barbara: Persons and Things, Cambridge 2008, S. 90f. 61 Bennett, Vibrant Matter, S. 118. 62  Ebd. 63  Ebd., S. 31.

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von einfachen Körpern, die als einziger Antrieb für ihre Wirkung handeln« – Kausalitäten nach dem Billardkugel-Modell – »äußerst selten«.64 Das, was lebendig ist, ist trotzdem für irgendetwas gut. Es arbeitet. Es erreicht ein Ziel, realisiert sein Potenzial. Es erledigt Dinge. Materie ist lebendig, wenn sie ihre Ding-Kraft in einem Ergebnis festhält. Die Ökonomie der lebendigen Materie führt die Unterscheidung zwischen menschlich und nichtmenschlich, lebend und unbelebt an ihre Grenzen, aber lässt die Kategorie der produktiven Arbeit intakt.   Wirksamkeit ist die Eigenschaft eines Aktanten, der entweder menschlich oder nichtmenschlich sein kann »oder, höchstwahrscheinlich, eine Kombination aus beidem«.65 Der Begriff »Aktant«, erklärt Bennett, ist »Bruno Latours Begriff für den Ursprung einer Handlung«.66 In Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft präzisiert Latour, dass ein »Akteur« »jedes Ding« ist, das »eine gegebene Situation verändert«, alles, was etwas bewirkt, während ein »Aktant« ein Akteur ist, der »noch keine Figuration« hat.67 Ein Aktant ist wortwörtlich ein Akteur ohne Gesicht. In Wir sind nie modern gewesen begreift er Aktanten als Hybriden. Und Hybriden treten immer dann auf, wenn sich ontologische Kategorien überlagern. In einem Widerhall von Lovecrafts Geschichten nennt Latour sie »Monstren«.68 Die Moderne zeichnet sich dadurch aus, dass sie Hybriden schafft, dennoch distanziert sie sich (wie Herbert West) von diesen geschaffenen Hybriden. Sie setzt ontologische Kategorien zusammen, geradeso wie sie diese trennt. Das »Moderne« ist daher eine Zusammenfügung zweier gegensätzlicher Praktiken: »Das erste Ensemble von Praktiken schafft durch ›Übersetzung‹ vollkommen neue Mischungen zwischen Wesen, Hybriden, Mischwesen zwischen Natur und Kultur. Das zweite Ensemble schafft, durch ›Reinigung‹, zwei vollkommen getrennte ontologische Zonen, die der Menschen einerseits, die der nicht-menschlichen Wesen andererseits.«69

Ohne Übersetzung würde es nichts zu reinigen geben, genauso wie es ohne Reinigung nichts zu übersetzen gäbe. Um wirksam zu sein, müssen die beiden 64  Ebd., S. 32. 65 Ebd., S. 9. 66  Ebd. 67 Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, übers.v. Gustav Roßler, Frankfurt a.M. 2007, S. 123. 68 Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen.Versuch einer asymmetrischen Anthropologie, übers.v. Gustav Roßler, Frankfurt a.M. 1998, S. 21. 69  Ebd., S. 19.

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Praktiken unterschieden bleiben. Nur solange »wir« sie »getrennt betrachten«, sind wir »wirklich modern«.70 Sobald wir damit anfangen, sie zusammenzusetzen, hören wir auf, »wir« – »die Abendländer« – zu sein, und reihen uns unter »sie« ein – »die anderen Naturen/Kulturen«.71 Latour zufolge halten »wir« diese anderen für »Vormoderne«, und »wir« nehmen an, dass »sie« sich der »Vermehrung der Monstren« hingeben.72 D.h., sie bringen getrennte Dinge in Verbindung. Wir bestimmen sie, jedoch nur um uns selbst zu bestimmen: »Bei ›ihnen‹ sind Natur und Gesellschaft, Zeichen und Dinge nahezu inhaltsgleich. Bei ›uns‹ sollte das nie der Fall sein.«73 Für Latour liegt die Ironie darin, dass wir ›Abendländer‹ uns in all den Aktivitäten hervortun, die wir ›vormodern‹ nennen: »Von den Vormodernen sagt man, daß sie Zeichen und Dinge nicht unterscheiden, aber wir tun das auch nicht.«74 Demnach erfinden die Modernen die Vormodernen, indem sie Übersetzung als ihre spezifische Differenz auf sie übertragen. Die Vormodernen beleben die alte rhetorische Kategorie der translatio wieder. Sie personifizieren diese. Man kann sogar sagen, dass sie die Personifizierung selbst personifizieren.   In seiner Kartierung der ›Großen Trennung‹ wiederholt Latour bewusst eine Trennung, die über ein Jahrhundert zuvor von Émile Durkheim und Marcel Mauss vorgenommen wurde. Durkheim und Mauss teilen ebenfalls menschliche Gesellschaften in zwei Klassen auf: die ›zivilisierten‹ und die ›primitiven‹. Latours ›modern‹ und ›vormodern‹ fungieren als Ersatz für diese älteren und mittlerweile unangemessenen Begriffe. Aber die alte Klassifikation überlebt unter dem neuen Anstrich. Latours ›Moderne‹ ist die Rückkehr der ›Zivilisation‹ von Durkheim und Mauss, seine ›Vormoderne‹ die Rückkehr ihrer ›Wildheit‹. Latour schreibt, dass sich die Modernen auf Reinigung spezialisiert haben. In »Über einige primitive Formen von Klassifikation« bekräftigen Durkheim und Mauss, dass das zivilisierte Denken auf ›Grenzziehung‹ abzielt: »In der Tat verstehen wir unter Klassifikation, daß wir die Dinge zu unterschiedlichen Gruppen zusammenfassen, die durch klare Grenzen voneinander geschieden sind«, weil »unsere Vorstellung von Klassen« an dem »Gedanken einer eindeutig bestimmten Abgrenzung« festhält.75 Latour sagt, dass die Vormodernen auf Über70  Ebd., S. 20. 71  Ebd., S. 21. 72  Ebd. 73  Ebd., S. 134. 74  Ebd., S. 138. 75 Durkheim, Émile; Mauss, Marcel: »Über einige primitive Formen von Klassifikation. Ein Beitrag zur Erforschung der kollektiven Vorstellungen«, in: Durkheim, Émile: Schriften zur soziologischen Erkenntnis, übers.v. Michael Bischoff, hg.v. Hans Joas, Frankfurt a.M. 1987, S. 169–256, S. 172.

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setzung spezialisiert sind. Durkheim und Mauss bestätigen, dass primitives Denken auf »Identifizierung«76 abzielt. Unter »den am wenigsten entwickelten Gesellschaften«, argumentieren sie, gibt es »eine völlige Ununterschiedenheit« zwischen »Zeichen und Gegenstand, zwischen Name und Person«,77 zwischen menschlich und nichtmenschlich: »Ursprünglich sah man Tiere, Menschen und unbelebte Objekte nahezu ausnahmslos in einem Verhältnis der vollkommensten Identität stehend.«78 Durkheim und Mauss bevölkern die Welt mit einer Klasse von Gesellschaften, die ihre Klassifikationen nicht reinigen – Gesellschaften, die sich ganz der Übersetzung verschrieben haben. Trotzdem folgern sie, dass alle Gesellschaften, primitive und zivilisierte, Klassifikationen entwerfen, indem sie gesellschaftliche Kategorien wie Verwandtschaftsverhältnisse und gefühlsmäßige Bindungen auf Tiere und Dinge übertragen.79 Sogar die zivilisierten Kategorien waren einmal primitiv.   Die Moderne festigt ihre Grenzen, indem sie Gesellschaften, die entgegengesetzten Klassen von Dingen keine festen und gültigen Grenzen auferlegen, zu einem Sündenbock, einem pharmakos, macht. »Sobald die Worte ›modern‹, ›Modernisierung‹, ›Moderne‹ auftauchen«, merkt Latour an – und sie kehren wiederholt in Wir sind nie modern gewesen wieder, womit das Muster, das er persifliert, wiederbelebt wird – »definieren wir im Kontrast dazu eine archaische und stabile Vergangenheit«.80 Demnach treibt die Moderne Geister aus, da diese die Grenze zwischen Leben und Tod aufheben. Der erste Sündenbock der Moderne war der Animismus. Latour vermerkt, dass Thomas Hobbes den »Glauben an immaterielle Körper wie Geister, Gespenster oder Seelen«81 als eine Gefahr für den öffentlichen Frieden betrachtete: Es sollte keine höhere Macht geben als die staatliche Autorität. Hobbes war jedoch nicht nur ein politischer Philosoph, sondern auch ein Rhetoriker, der mit der Rhetorik auf Kriegsfuß stand (er veröffentlichte A Briefe of the Art of Rhetorique im Jahr 1637); den Animismus auszutreiben, war für ihn Teil eines größeren Projekts, den Fortschritt der Wissenschaft durch die Reinigung der Sprache von der Metapher voranzubringen. Im Leviathan erklärt er, dass es die oberste Aufgabe der Vernunft ist, zu »Definitionen« »allgemeiner Namen« zu gelangen, »über die wir uns geeinigt haben«, 76  77  78  79 

Ebd., S. 174. Ebd., S. 173f. Ebd., S. 175. Diese Argumentation ist natürlich zirkulär: Gesellschaften schaffen Kategorien, indem sie ihre Kategorien auf die Natur übertragen.Wie aber schaffen sie dann die Kategorien, die sie übertragen? Sie müssen bereits Kategorien besitzen, um neue aufstellen zu können. 80 Latour, Wir sind nie modern gewesen, S. 18f. 81  Ebd., S. 30.

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um »unsere Gedanken« zu kennzeichnen und kundzutun.82 Die Vernunft kann, »von einer Folgerung zur anderen« fortschreitend, ihre Arbeit nur verrichten, wenn Worte klar abgegrenzte oder »deutliche«83 Bedeutungen haben. Die Fortentwicklung der Wissenschaften bedarf deshalb einer Einschränkung der Polysemie: »So liegt in der richtigen Definition von Namen der erste Gebrauch der Sprache, was die Aneignung der Wissenschaft bedeutet.«84 Zusätzliche Bedeutungen müssen ausgestoßen, ausgelöscht werden, aufgrund ihres Verbrechens, Ambiguitäten zu schaffen, die eine Art Ungewissheit sind, ein Weg zum Irrtum: »Das Licht des menschlichen Geistes besteht in deutlichen Worten, die aber zuerst durch Definitionen zurechtgestutzt und von Doppeldeutigkeiten gereinigt werden müssen; Vernunft ist die Gangart, Vermehrung der Wissenschaft der Weg.«85

Aber woher kommt Doppeldeutigkeit? Welcher Mechanismus befrachtet Worte mit einem Überschuss, von dem sie gereinigt werden müssen? Hobbes macht den Ursprung der Ambiguität in der Metapher aus: in dem, was die Römer translatio nannten und was Latour ›Übersetzung‹ nennt. Hobbes verbannt sie kurzerhand aus dem Gemeinwesen des Diskurses, um die Regierung der Vernunft und die Souveränität der Wissenschaft zu verteidigen. »Metaphern und sinnlose und doppeldeutige Worte«, fährt Hobbes fort, sind »wie Trugbilder; und auf ihrer Grundlage Beweisführungen anstellen, heißt zwischen unzähligen Widersinnigkeiten umherirren; und ihr Ergebnis ist Streit und Aufruhr oder Schmach«.86 Bevor die Primitiven diese Rolle übernahmen und bevor die Vormodernen sie erbten, war der große Verräter an der Wissenschaft und der Moderne die Metapher. Laut Hobbes sind Metaphern ›aufrührerisch‹: Sie sind des Verrats schuldig (metaphorisch natürlich), sind eine Krankheit des politischen Körpers, die das Gemeinwesen mit Bürgerkrieg bedroht.87 Der Verrat der Metapher besteht darin, dass sie das zusammenfaltet, was die Vernunft zur Vermehrung der Wissenschaft unterscheidet. Primitive und Vormoderne sind Metaphern für die Metapher. Sie sind nach dem Bild der Metapher geschaffen und nehmen ihre Sünden auf sich. Die Wissenschaft reinigt ihr Inneres, indem sie sie alle ausschließt.

82 Hobbes, Thomas: Leviathan, übers.v. Jutta Schlösser, hg.v. Hermann Klenner, Hamburg 1996, S. 33. 83  Ebd., S. 34, S. 39. 84  Ebd., S. 28. 85  Ebd., S. 38f. 86  Ebd., S. 39. 87  Vgl. ebd., S. 279, S. 487.

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In der Ausbildung des Redners behauptet Quintilian, dass metaphora, die er ›Bedeutungsübertragung‹ (translatio) nennt, die gängigste und doch die schönste der rhetorischen Figuren sei. Er fügt an, dass sie »uns […] schon von der Natur selbst so weit zu eigen gemacht«88 ist. Übersetzung ist ein natürliches Vermögen, kulturelle Hybriden zu schaffen. Sie ergänzt die ›Unzulänglichkeiten‹ der Sprache, indem sie ein Wort von seinem rechtmäßigen Platz an einen versetzt, an dem kein Wort verfügbar, aber eines notwendig ist, oder an dem der unangemessene übertragene Begriff dem richtigen hergebrachten vorzuziehen ist.89 Bennett z.B. erklärt, dass im Kontext eines »mehr subjektzentrierten Vokabulars«90 dasjenige, was sie als ›Aktant‹ bezeichnet, eher ›Akteur‹ genannt werden würde. ›Aktant‹ ist ein ›Ersatzwort‹, eine translatio, die der ökologische Imperativ, menschliche und nichtmenschliche Modi der Handlungsfähigkeit zusammenzusetzen, vorschreibt. »Die Fähigkeit zu handeln« wird infolge der Ersetzung »jetzt als über eine größere Bandbreite ontologischer Typen differenziell verteilt angesehen«.91 Sie formt die neue Fähigkeit zu handeln nach dem Bild der Metapher.   Der Diskurs der politischen Ökologie entspricht einem diskursiven Muster, das als die Wiederkehr der translatio beschrieben werden kann. Hobbes bezeichnet die Metapher als eine Quelle der Verunreinigung, einen Überschuss an Bedeutung, der die Vernunft auf ihrem Weg zur Wissenschaft behindert; Durkheim und Mauss verwandeln die Metapher in das charakteristische Merkmal primitiven Denkens; Latour übersetzt sie in ihre aus dem Lateinischen abgeleitete Form zurück – Translation – und bekräftigt, dass sie für die Modernen das charakteristische Merkmal vormodernen Denkens ist; Bennett definiert Metapher als das Vermögen, Handlungsmacht über zuvor feste und bestimmte ontologische Kategorien neu zu verteilen – d.h. zu übersetzen – und diese damit zu verunreinigen. Die Wiederkehr der translatio folgt einem zirkulären Pfad. Die neue Fähigkeit belebt eine alte Kategorie rhetorischer Verlebendigung wieder. Sind wir dazu verdammt, uns im Kreis zu bewegen, wenn wir über das Verlebendigen des Leblosen sprechen, wie Geister, die ständig zu den Orten, die sie als Lebende gekannt haben, zu ihren alten Stammplätzen zurückkehren?   Quintilian unterteilt die Aktivität der translatio in vier große Klassen. Eine jede ist entweder durch Verlebendigung oder durch den Mangel an Verlebendi88  Quintilianus, Marcus Fabianus: Institutio oratoria. Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, 2.  Bd., hg. u. übers.v. Helmut Rahn, Darmstadt 1988, Buch VIII, Kapitel VI, 4, S. 219. 89  Vgl. ebd., S. 219–221. 90 Bennett, Vibrant Matter, S. 9. 91  Ebd.

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gung definiert. Zwei Klassen der translatio zielen auf Reinigung. Sie arrangieren Gleiches mit Gleichem und unterdrücken folglich die Bildung von Hybriden. Die erste ersetzt ein belebtes Ding durch ein belebtes; die zweite ein lebloses durch ein lebloses. Zwei weitere Klassen der translatio zielen auf Übersetzung. Sie unterstützen die Erzeugung von Hybriden. Eine ersetzt etwas Lebendes durch etwas Lebloses; die andere ersetzt etwas Lebloses durch etwas Lebendes. Quintilian fügt an, dass die translatio eine wahrhaft »wunderbare Erhabenheit« erlangen kann, wenn sie »gefühllosen Dingen« »Handeln und Leben« verleiht.92   Bennett gestaltet ihren vitalen Materialismus nach dem Bild der erhabenen translatio des Rhetorikers, denn sie schreibt Handeln und Leben anscheinend gefühllosen Dingen zu. Der vitale Materialismus ist die Wiederbelebung der Übersetzung. Bennett behauptet zum Beispiel, dass »Formen, die nicht (einmal ideell) als Personen vorgestellt werden können«, einen »ihnen innewohnenden« Affekt besitzen. ›Affekt‹ ist ein Vermögen »zu Aktivität und Empfänglichkeit«.93 Sogar »leblose Dinge«, schreibt sie, haben »die eigentümliche Fähigkeit […] zu verlebendigen, zu handeln,Wirkungen zu erzielen, die dramatisch und feinsinnig sind«.94 Doch Affekt ist kein Zeichen von Innerlichkeit. Er ist keine menschliche Qualität. Dinge haben keine Seelen. Vielmehr »partizipieren« alle Dinge an einer »nichtmenschlichen, dinghaften Macht«.95 Dasselbe gilt für Menschen, aber sie nehmen dies gewöhnlich nicht wahr. Folglich ist die vorrangige »ethische Aufgabe« der vitalen Materialisten, die »Erkenntnis einer menschlichen Teilhabe an einer gemeinsamen, vitalen Materialität« zu befördern.96 »Wir sind vitale Materialität«, behauptet Bennett, »und wir sind von ihr umgeben, auch wenn wir das nicht immer so sehen«.97 In der Tat können wir das nicht wahrnehmen, bis wir »die Fähigkeit, nichtmenschliche Vitalität auszumachen«, ausbilden, d.h. »unsere Wahrnehmung dafür öffnen«.98 Lévy-Bruhls primitiver Philosoph beherrschte diese Fähigkeit fast ein Jahrhundert zuvor: »Für ihn unterscheiden sich die Wesen (insofern er sich überhaupt um ihre Unterscheidung kümmert) nach ihrem, ihnen dauernd oder zu einem gegebenen Zeitpunkt innewohnenden Gehalt an mystischer Kraft.«99 92 93 94  95  96  97  98  99

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Vgl. Quintilianus, Ausbildung des Redners, Buch VIII, Kapitel VI, 4–11, S. 219–221, Zitate: Buch VIII, Kapitel VI, 11, S. 221. Bennett, Vibrant Matter, S. xii. Ebd., S. 6 (Hervorhebung C. B.). Ebd., S. xiii. Ebd., S. 14. Ebd. Ebd. Lévy-Bruhl, Die Seele der Primitiven, S. 13.

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Bennetts Onto-Geschichte ist eine alte Geschichte. Der vitale Materialismus baut sich selbst aus den Fragmenten eines vergessenen Primitivismus zusammen, der sich selbst wiederum aus einer vergessenen Rhetorik zusammensetzt. Der vitale Materialismus – um Durkheim und Mauss zu paraphrasieren – erhält seine Form durch eine Kombination von Elementen aus äußerst unterschiedlichen Quellen.100 Wenn Bennett anstimmt, dass »eine kreative nicht-ganz-menschliche Kraft« in »der Geschichte des Begriffs Natur« nachhallt,101 versäumt sie zu erwähnen, dass diese in der Geschichte des Begriffs ›primitiv‹ ebenfalls nachhallt, vor allem in Lévy-Bruhls Konzept der primitiven Mentalität. »Für diese Denkart«, behauptet er, »besteht in all den Formen, die Wesen und Gegenstände auf der Erde, in den Lüften und im Wasser annehmen, dasselbe in ewigem Kreislauf befindliche, wirklich vorhandene Etwas, das gleichzeitig einheitlich und vielfältig, stofflich und geistig ist«.102

Er fasst dieses verschiedentlich als eine ›Energie‹, eine ›Kraft‹ und eine ›Macht‹ auf. Robert Henry Codrington führt es als mana an, andere als Lebenskraft und Seelenstoff. John Henry Holmes sagt, dass es in Neuguinea imunu genannt wird, was er mit ›Seele‹ oder ›Lebensprinzip‹ übersetzt. Lévy-Bruhl schreibt, dass es überall anzutreffen ist und gleichermaßen alle Dinge durchdringt, seien diese menschlich oder nichtmenschlich, lebendig oder leblos, stofflich oder immateriell.103 Sogar von den unterschiedlichsten Wesen kann gesagt werden, dass sie aneinander teilhaben, insofern sie an dieser ›Intensität‹ partizipieren, die sich weder bezeichnen noch klassifizieren lässt: »Die Mentalität der Primitiven läßt sie gleichzeitig denken und fühlen, daß alle Wesen gleichartig sind, das heißt, daß sie alle an ein und derselben Substanz oder an ein und derselben Summe von Eigenschaften teilhaben. Ihm erscheint es durchaus nicht am wichtigsten, die Wesen und Dinge in voneinander verschiedene Klassen, Gattungen und Arten nach einer Einteilung zu sondern, die einer Stufenleiter von nach ihrer Ausdehnung und Abgrenzung logisch bestimmten Begriffen entspräche.«104

Dasselbe gilt für Bennetts vitale Materialisten. Sie identifizieren sich mit allen Wesen und Gegenständen und zögern nicht, Klassen, Gattungen und Arten zusammenzufalten. »Vitale Materialisten«, sagt sie voraus, 100 101 102 103 104 

Vgl. Durkheim; Mauss, »Über einige primitive Formen von Klassifikation«, S. 171. Bennett, Vibrant Matter, S. 118. Lévy-Bruhl, Die Seele der Primitiven, S. 3. Vgl. ebd., S. 3ff. (im Original deutsch: Lebenskraft und Seelenstoff). Ebd., S. 6.

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»werden somit versuchen, in den Augenblicken auszuharren, in denen sie sich selbst von Gegenständen fasziniert finden, und diese als Hinweise auf die materielle Vitalität auffassen, die sie mit ihnen gemeinsam haben. Dieses Gefühl einer seltsamen und unvollständigen Gemeinsamkeit mit dem Außen kann vitale Materialisten dazu veranlassen, nichtmenschliche Wesen – Tiere, Pflanzen, Erde, sogar Artefakte und Waren – sorgsamer, strategischer und ökologischer zu behandeln.«105

Der heutige vitale Materialist teilt dieses Gefühl der Gemeinsamkeit mit dem ›Primitiven‹ des vorangegangenen Jahrhunderts. Denn »der Primitive«, schreibt Lévy-Bruhl, »sieht wie wir den groben Unterschied zwischen einem Stein und einem Baum oder zwischen diesem Baum und einem Fisch oder Vogel. Aber er hält sich damit nicht auf, weil er ihn nicht so empfindet wie wir. Die Form der Wesen interessiert ihn nur insoferne, als sie zu erraten gestattet, was jene an mana oder imunu enthalten […]. Sie alle sind Gefäße der mystischen Kräfte oder können es sein«.106

Materialisten und Primitive teilen das Vermögen, ausmachen zu können, was Menschen mit nichtmenschlichen Wesen und was nichtmenschliche Wesen untereinander gemeinsam haben. Die ›ethische Aufgabe‹ des Materialisten ist der Kategorienfehler des Primitiven. Des einen ›materielle Resonanz‹ ist des anderen ›mystische Kraft‹. Ein jedes hat am anderen teil, weil beide am Konzept der Teilhabe teilhaben.   Lévy-Bruhls Konzept wurde das vergangene Jahrhundert hindurch einer bedeutenden Neubewertung unterzogen. Wir Modernen können uns seine Beständigkeit nicht länger eingestehen. Aber wir können scheinbar auch nicht ohne es auskommen. Also bereiten wir es wieder auf, indem wir ihm neue Namen geben, die Übersetzung in andere Formen übersetzen. Wir nennen es primitiv, vormodern oder materialistisch, und wir begreifen es entlang der Linien, die von Lovecrafts Definition des Horrors gezogen wurden, auch nachdem es uns nicht länger in Angst versetzt. Wir bereiten es wieder auf, vielleicht weil es eine Faltung zwischen den Lebenden und den Toten bildet, die einen Ort schafft, an dem sich die Re-Animation entfalten kann. Wenn Bennett anmerkt, dass »die seltsam lebendigen Dinge, die sich« aus ihren Seiten »erheben, Charaktere in einer spekulativen Onto-Geschichte sind«, klingen in ihrer Ausdrucksweise Lovecrafts Geschichten nach, deren Charaktere ständig mit den seltsamen Dingen zu tun haben, die sich als Resultat irgendeiner Form 105 106

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Bennett, Vibrant Matter, S. 17f. Lévy-Bruhl, Die Seele der Primitiven, S. 7.

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von Beschwörung »erheben«.107 Wenn sie hinzufügt, dass »die Geschichte das Maß der Überlagerung von menschlichem Wesen und Dinghaftigkeit aufzeigen wird«,108 verspricht sie, die Aufgabe zu erfüllen, von der Francis Thurston Wayland gelobt, dass er sie unerledigt lässt. »Ich hoffe, niemand mehr wird dieses Zusammensetzen durchführen«, vertraut er seinen posthumen Lesern an, »ich für meinen Teil werde nicht wissentlich auch nur ein Glied dieser grauenhaften Kette preisgeben«.109 Was für Thurston den Schrecken ausmachte, ist für Bennett zu einem ethischen Gebot geworden.   Wie alle Sündenböcke können die Vormodernen also sowohl wohltuend als auch schädlich sein, ein Heilmittel oder ein Gift.110 Sie heilen geradeso wie sie vergiften. Ausgestoßen, überlassen sie der ›Vernunft‹ das Feld, damit diese dem Weg der ›Wissenschaft‹ folgen kann. Zurückgebracht, erlösen sie die Wissenschaft von einer ›Krise der Objektivität‹, indem sie all den Quasi-Objekten Platz einräumen, die die Wissenschaft in ihrem Schauder vor der Doppeldeutigkeit zu bereitwillig ausschließt: »Die prämodernen Kategorien in Anspruch nehmen«, erklärt Latour, ermöglicht den Modernen, »die Hybriden zu denken«.111

Lebhaftigkeiten Johnson weist darauf hin, dass die Verfasser von Geschichten üblicherweise auf vier Tropen setzen, um Personen und Dinge einander überlagern zu lassen. Der Anthropomorphismus überträgt menschliche Eigenschaften auf nichtmenschliche Wesen: Tische strecken ihre Beine, und Uhren bewegen ihre Hände.112 Die Personifizierung verleiht einer Vorstellung menschliche Gestalt, z.B. wenn wir fragen, was uns die Geschichte lehrt. Die Apostrophe adressiert das Abwesende oder Leblose und lädt es ein, mit den Lebenden in einen Austausch zu treten. Die Prosopopoiia stattet die Toten mit einem Mund, mit einem Gesicht und mit einer Stimme aus, die von Jenseits des Grabes oder – im Fall eines Epitaphs – aus dem Grab heraus spricht.113 Sie ist die Trope der Wiederbelebung: »[R]hetorisch erwachen die Toten zum Leben.«114 Das Adverb ›rhetorisch‹ scheint die Handlung der Wiedererweckung auf das Feld des Textuellen zu beschränken, 107 Bennett, Vibrant Matter, S. 3. 108  Ebd., S. 4. 109  Lovecraft, »Cthulhus Ruf«, S. 15. 110 Vgl. Derrida, Jacques: »Platons Pharmazie«, in: ders.: Dissemination, übers.v. Hans-Dieter Gondek, hg.v. Peter Engelmann, Wien 1995, S. 69–190, S. 147ff. 111 Latour, Wir sind nie modern gewesen, S. 178. 112   Vgl. Johnson, Persons and Things, S. 15. 113  Vgl. ebd., S. 13. 114  Ebd., S. 14.

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aber Johnson argumentiert weiter, dass das Ereignis der Wiederbelebung letztendlich die Grenze zwischen totem Buchstaben und lebendem Leser aufhebt. Die gängigste Art der Wiederbelebung ist das Lesen selbst. Ich sage z.B., dass Johnson etwas ›beobachtet‹ oder dass ihr Text etwas ›sagt‹, obwohl ich weiß, dass sie 2009 verstorben ist.   Es überrascht also nicht, dass in Bennetts Onto-Geschichte Prosopopoiia nicht länger eine Trope ist. Menschen ›verleihen‹ nichtmenschlichen Wesen ›Sprache‹, um anzuerkennen, dass sie alle an einer Intensität teilhaben, die keinem von ihnen gehört. Obwohl sie verspricht, »einer Vitalität, die der Materialität innewohnt, Sprache zu verleihen«, warnt sie, dass die »Lebendigkeit« von Dingen kein Widerhall des Lebens des menschlichen Subjekts ist.115 Dingen sind Lebhaftigkeit und Sprache unabhängig von Personen eigen: »Das Ziel, das ich anstrebe, ist eine lebendige Materialität zur Sprache zu bringen, die neben und in Menschen verläuft, um zu sehen, wie sich Analysen von politischen Ereignissen verändern könnten, wenn wir der Kraft der Dinge stärker Rechnung tragen würden.«116

»[F]ür eine lebendige Materie einzutreten«,117 so schlägt sie vor, ist ein erster, notwendiger Schritt in Richtung einer Demokratie, in der – wie Latour es in Das Parlament der Dinge formuliert – Menschen und nichtmenschliche Wesen gleichermaßen »als Bürger eines Gemeinwesens tagen«118 können. Es kann keine Demokratie ohne den Sprecher geben.   Um ein Kollektiv zu bilden, muss es den Lebenden und dem Lebendigen möglich sein, sich in der Anwesenheit und der Nähe der Stimme zu versammeln, denn ein Kollektiv ist, wie Latour betont, »eine Versammlung von Wesen, die zu sprechen in der Lage sind«.119 Ihre Rede siedelt sich »irgendwo zwischen dem ›ich spreche‹ und ›die Tatsachen sprechen für sich‹« und zwischen »jemandem, der spricht«, und jemandem, der anstelle von jemandem oder etwas spricht, an.120 Latour beschreibt dies als die Sprache der ›Sprecher‹. Menschliche Wissenschaftler können z.B. als »Sprecher der nicht-menschlichen Wesen«121 handeln, ohne an ihrer statt zu sprechen. Alles, was sie tun müssen, ist »Stimmapparate« zu erfinden, »durch die sich die nicht-menschlichen Wesen an den Diskussionen 115  116 117  118 119 120  121 

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Ebd., S. 3, S. 117. Bennett, Vibrant Matter, S. viii. Ebd., S. xiii. Latour, Bruno: Das Parlament der Dinge, übers.v. Gustav Roßler, Frankfurt a.M. 2001, S. 303. Ebd., S. 93. Ebd., S. 95. Ebd.

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der Menschen beteiligen können« und »zwei […] Formen der Rede« verschmelzen, die »bislang« unterschiedlichen ontologischen Kategorien angehörten.122 Die Kategorie der Rede selbst gehört jedoch üblicherweise der Kategorie des Politischen an.   Das menschliche Wesen, schreibt Aristoteles, ist »in höherem Grade ein staatsbezogenes Lebewesen« als alle anderen in Gruppen lebenden Arten, wie z.B. die »Biene«, eben weil der Mensch »allein von den Lebewesen« »über die Sprache […] verfügt« – eine Gabe, die es ihm erlaubt, »das Nützliche und das Schädliche klarzulegen« (was für Aristoteles die Domäne der Beratungsrede ist) und »das Gerechte« und »das Ungerechte« auseinanderzuhalten (die Domäne der Gerichtsrede).123 Nur menschliche Lebewesen haben eine Vorstellung »des Gerechten und des Ungerechten und anderer solcher Begriffe«,124 da nur sie sprechen. Latour unternimmt es, die Gaben des Aristoteles neu zu verteilen, indem er den nichtmenschlichen Lebewesen und den nichtmenschlichen NichtLebewesen die Sprache zurückgibt, um ihnen allen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.125 Er definiert den Staat jedoch immer noch auf eine klassisch phonozentrische Art und Weise als die Versammlung eines Kollektivs in der Nähe der lebenden Stimme. Die grundlegende Fähigkeit des Politikers bleibt »die Schaffung von Stimmen«.126 Politik ist im Wesentlichen ein prosopopoietischer Akt.   Latours Modell phono-politischer Teilhabe basiert auf der Art von Teilhabe, die sich Lévy-Bruhl vorgestellt hatte. Teilhabe am Kollektiv löst die Grenzen zwischen Klassen, Gattungen und Arten auf: »Zwischen dem sprechenden Subjekt der politischen Tradition und den stummen Dingen der epistemologischen Tradition«, argumentiert Latour, »gibt es einen dritten Term, die unbestreitbare Rede, eine bisher unsichtbare Form im politischen und wissenschaftlichen Leben«.127 Menschen und Dinge haben aneinander teil, insofern sie an einer gemeinsamen Essenz teilhaben: der Lebenskraft der Rede. Politische Teilhabe setzt Teilhabe am lebendigen Diskurs voraus, und Diskurs ist eine Fähigkeit, die Gabe der Rede zu verleihen, sei es sich selbst oder anderen. »Demokratie läßt sich nur denken«, sagt Latour, wenn »neue Stimmen« zur »Diskussion« hinzukommen, vor allem »die Stimmen der nicht-menschlichen Wesen«.128 122  Ebd., S. 98f. 123 Aristoteles: Politik. Schriften zur Staatstheorie, übers. u. hg.v. Franz F. Schwarz, Stuttgart 1989,1253a1, 1–20, S. 78. 124  Ebd. 125 Vgl. Latour, Das Parlament der Dinge, S. 210f. 126  Ebd., S. 188. 127 Ebd., S. 100. 128  Ebd., S. 101.

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Wenn nichtmenschliche Wesen Stimmen haben, folgt dann daraus, dass sie eine Seele haben? Wenn sie Zeichen herstellen, haben sie dann auch so etwas wie Innerlichkeit? Latour scheint eine Politik auf der Basis eines Animismus zu konstruieren. Und er umgeht diese Fragen nicht. Er stellt sie sogar selbst, wenn er die Gegenstände adressiert: »›Leblose Gegenstände, so habt Ihr also doch eine Seele?‹«129 Er verleiht ihnen Sprache, ohne sie ihrerseits sprechen zu lassen, denn er wartet ihre Antwort nicht ab: »Vielleicht nicht, ganz sicher aber eine Politik.«130 Er versäumt es, die Rolle des Sprechers zu übernehmen, nachdem er Politik als den Gebrauch von Sprache definiert hat. Die Ironie liegt darin, dass Latour die Dinge nicht mit der Stimme sprechen lässt, die er ihnen verliehen hat. Als ob er die Frage nach der Seele ein für allemal hinter sich bringen wollte, weist er darauf hin, dass die »epistemologische Polizei« früher »die anderen Kulturen« des »Animismus« bezichtigte, um »ihren eigenen Inanimismus« zu verbergen.131   Der Chef der epistemologischen Polizei war Edward B. Tylor, dessen Die Anfänge der Cultur weithin als das Buch gilt, dessen Veröffentlichung im Jahr 1871 die moderne Anthropologie begründete. Tylor ist der Auffassung, dass animistisches Denken die Beziehungen zwischen Ideen mit Beziehungen zwischen Dingen verwechselt, was darauf hinausläuft, Metaphern wortwörtlich zu verstehen. »Jede, auch die wesenloseste Phantasie oder [abgelebteste, Übers.] Metapher«, so klagt er, »kann, wenn sie einmal das Ansehen von Realität gewonnen hat, als wirkliches Ereigniss dargestellt werden.«132 Wie kann eine Metapher – insbesondere eine ›abgelebte‹ – von der Rhetorik in die Realität überwechseln? Der Übergang setzt ein, wenn sich metaphorische Animation oder translatio mit lebhafter Beschreibung oder Anschaulichkeit (enargeia) zusammenschließt. Nach Quintilian ist die Leistung der lebhaften Beschreibung, eine Sache »klar und so darzustellen, daß es ist, als sähe man sie deutlich vor sich«.133 Er nennt das ›Vergegenwärtigung‹ (repraesentatio). In der Tat ist es eine Art von Vergegenwärtigung, die an eine Verwirklichung grenzt. Für Quintilian ist die lebhafte Beschreibung eine wirkmächtige stilistische Tugend.134 Für Tylor jedoch ist sie der Fehler, der für die primitive Denkart charakteristisch ist: 129 Ebd., S. 123. 130  Ebd. 131  Ebd. 132 Tylor, Edward Burnett: Die Anfänge der Cultur. Untersuchungen über die Entwicklung der Mythologie, Philosophie, Religion, Kunst und Sitte, 1. Bd., übers.v. Johann W. Spengel, Friedrich Poske, Hildesheim/Zürich/ New York 2005, S. 401. (Im englischen Original bezeichnet Tylor die Metapher an dieser Stelle als ›broken-down‹. Da Christopher Bracken diese Wendung wiederholt aufgreift, ist der Ausdruck ›abgelebteste‹ oben eingefügt worden, Anm. d. Übers.). 133  Quintilianus, Ausbildung des Redners, Buch VIII, Kapitel III, 62, S. 177. 134  Vgl. ebd.

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»Die Poesie hat in uns die alte animistische Naturanschauung so weit lebendig erhalten, dass es uns keine große Anstrengung verursacht, uns die Wasserhose als einen ungeheuren Riesen oder ein Seeungethüm vorzustellen und in sogenannten passenden Metaphern seinen Marsch quer durch die Felder des Oceans auszumalen. Aber wo solche Redeformen bei weniger gebildeten Rassen üblich sind, liegt ihnen ein bestimmter prosaischer Sinn der Thatsache zu Grunde.«135

Translatio und repraesentatio schließen sich zusammen, um Hybriden zwischen Fakt und Fiktion hervorzubringen. Sie sind rhetorische Figuren, die zu Dingen, die für sich selbst sprechen, kristallisieren.136 Tylor rassifiziert das Vermögen der Re-Animation. Er übersetzt sie in ein Kennzeichen von Minderwertigkeit und erklärt sie zu einem Fehler, den es zu vermeiden, ein Stigma, das es auszulöschen, einen Schrecken, den es zu umgehen gilt. Indem er ›Primitive‹ in ›Vormoderne‹ übersetzt, bewahrt Latour das Stigma, während er zugleich versucht, es zu entfernen. Warum nicht die Primitiven und Vormodernen in die Kategorie rückübersetzen, deren Übertragung sie sind – eine Kategorie, die noch nicht damit belastet ist, ethnische, kulturelle und historische Unterschiede zu bedeuten?   Tylors ›weniger gebildete Rassen‹ personifizieren eine Hypothese, die David Hume im Ersten Buch seines 1739 veröffentlichten Traktat über die menschliche Natur vorbringt. Sie sind somit seltsamerweise humesche Wesen (Humean beings). Hume argumentiert, dass Wissen seinen Ursprung in der Perzeption hat, und Perzeption nimmt zwei Formen an: Eindrücke und Vorstellungen. »Der Unterschied zwischen ihnen«, erklärt er, »besteht in dem Grade der Stärke und Lebhaftigkeit, mit welcher sie dem Geist sich aufdrängen«.137 Eindrücke »gehen« durch die Sinne »mit größter Stärke und Heftigkeit« ins Bewusstsein »ein«; Vorstellungen sind die »schwachen Abbilder« von Eindrücken.138 Eindrücke sind demzufolge lebhafter, lebendiger als Vorstellungen. Eine Vorstellung, die »einen beträchtlichen Grad seiner [des Eindrucks, Übers.] ursprünglichen Lebhaftigkeit« bewahrt, gehört der Erinnerung an, während eine Vorstellung, die »schwach und matt« geworden ist, sich für die Fantasie oder Einbildungskraft eignet.139 Zwischen Erinnerung und Einbildung besteht lediglich ein gradueller, nicht aber ein wesentlicher Unterschied: Hume behauptet, dass 135  Tylor, Die Anfänge der Cultur, 1. Bd., S. 288. 136  Zur Kristallisierung der Metapher vgl. Bracken, Christopher: Magical Criticism. The Recourse of Savage Philosophy, Chicago 2007, S. 88f. 137 Hume, David: Ein Traktat über die menschliche Natur (A Treatise on Human Nature), 1.  Bd., übers.v. Theodor Lipps, Hamburg 1989, S. 9. 138  Ebd., S. 9f. 139  Ebd., S. 18f.

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»die Vorstellungen der Erinnerungen energischer und lebhafter sind als die der Einbildung«.140 Wenn eine Erinnerung an Lebhaftigkeit verliert, kann sie daher leicht mit einem Bild verwechselt werden; wenn ein Bild Lebhaftigkeit erlangt, kann es als eine Erinnerung ›durchgehen‹. Das Erinnerungsvermögen bewahrt die Reihenfolge und die Form, in denen sich Dinge den Sinnen eindrücken. Es ist der Motor des historischen Diskurses, und Geschichte bringt die Ereignisse in die »richtige Ordnung«.141 Die Einbildungskraft fügt die Vorstellungen gemäß dreier Gesetze der Assoziation wieder zusammen: Ähnlichkeit, Kontiguität und Ursächlichkeit. Sie öffnet den Horizont des literarischen Diskurses, indem sie »Fabeln« hervorbringt, in denen »von nichts […] die Rede« ist »als von geflügelten Rossen, feurigen Drachen und ungeheuren Riesen«.142   Wenn das Erinnerungsvermögen und die Einbildungskraft beide ein Gefühl der Wirklichkeit hervorrufen, wo ist dann die Grenze zwischen Fakt und Fiktion, Geschichte und Dichtung? Hume schlussfolgert, dass Wirklichkeit letztlich ein Produkt von Glaubensvorstellungen ist, und Glaube ist eine Funktion von Lebhaftigkeit: »[D]er Glaube oder die Zustimmung, die unsere Erinnerungen und Sinneseindrücke begleitet«, behauptet er, »[ist] nichts […] als die [eigenartige] Lebhaftigkeit dieser Perzeptionen«.143 Der Grad an Lebhaftigkeit und »nichts sonst«144 unterscheidet Erinnerung von Einbildung. Es gibt keine klare und eindeutige Trennlinie zwischen ihnen. Der Fakt wird lediglich »anders von uns erlebt [verspürt, gefühlt]«145 als die Fiktion. »Diese den Glauben kennzeichnende Art, die Vorstellung zu erleben, versuche ich dadurch deutlich zu machen«, fügt er an, »daß ich sie als größere Energie, Lebhaftigkeit, Widerstandsfähigkeit, Festigkeit oder Beständigkeit bezeichne«.146 Wenn die Lebhaftigkeit von Vorstellungen sich derjenigen der Eindrücke annähert, können die Beziehungen zwischen Vorstellungen mit den Beziehungen zwischen Dingen verwechselt werden (und das Gefühl für Fakten verwandelt sich in ein Gefühl des Schreckens). Auf diese Weise erzielt eine ›abgelebte Metapher‹, wenn sie lebendig genug ist, ein Gefühl der Wirklichkeit. Lebhaftigkeit ist die Kategorie, die die Unterscheidung zwischen den Kategorien des Seins aufhebt. Sie ist in der Tat eine Kategorie, die sich selbst aufhebt: Die Kategorie dessen, was nicht in Kategorien eingeordnet werden

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Ebd., S. 114. Ebd., S. 19. Ebd., S. 20. Ebd., S. 115. Ebd., S. 116. Ebd., S. 132 (Hervorhebungen C. B.). Ebd. (Hervorhebungen C. B.).

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kann.147 Ob man eine klare und schlüssige Unterscheidung zwischen Menschen und nichtmenschlichen Wesen wahrnimmt, scheint davon abzuhängen, wie man enargeia erfährt, »die Fähigkeit von Worten, mit einer Lebendigkeit zu beschreiben, die tatsächlich ein Objekt vor unseren eigenen Augen wiedergibt«.148   In Die elementaren Formen des religiösen Lebens definiert Durkheim Kategorien als die Vorstellungen, die das intellektuelle Leben einer gesellschaftlichen Gruppe bestimmen. Er vergleicht sie mit einem massiven Rahmen, der alles Denken umschließt. Das Denken kann sich nicht von ihnen befreien, ohne sich dabei selbst zu zerstören.149 Wenn wir also auf sie zu verzichten versuchen, »stoßen wir auf heftigen Widerstand«.150 Dennoch werden sie uns von niemandem aufgedrängt. Sie drängen sich von selbst auf. Oder vielmehr drängt sie uns das Gesellschaftliche auf, als ob sie sich von selbst aufdrängen würden, denn »es muß auch ein Minimum an logischem Konformismus vorhanden sein«,151 über das sich eine Gesellschaft nicht hinauswagt. Wenn wir uns ihrer entledigen würden, fügt er an, würden unsere Nachbarn schließen, dass wir aufgehört haben, menschlich zu sein. Wir würden uns unter die nichtmenschlichen Wesen einreihen.   Die Kategorie der Lebhaftigkeit jedoch verweist auf ein Begehren, mit Kategorien Schluss zu machen. Es ist die Kategorie, die der Trieb zu kategorisieren nicht sättigen kann, ein Überschuss, den das Gesellschaftliche nicht vollständig aufnehmen kann. Bennett träumt z.B. davon, aus der Kategorisierung auszutreten.152 Dennoch drängt sich die Kategorie des Unkategorisierbaren – einer Kraft, die die Grenzen zwischen Menschen und nichtmenschlichen Wesen überspült – von selbst auf, so wie es Durkheims Kategorien tun. Sie stellt einen konventionellen Rahmen zur Verfügung, um jenseits der konventionellen Denksysteme zu denken. 147 Obwohl unsere Vorstellungen unterschiedliche Grade an Lebhaftigkeit haben, liegt die Ironie darin, dass wir keine Vorstellung von Kraft haben. Vorstellungen sind die Spuren von Eindrücken, und laut Hume gibt es keinen Eindruck, der »irgendetwas von Kraft oder Wirksamkeit in sich schließt«, ebd., S. 216. Er argumentiert, dass »die Ausdrücke ›Wirksamkeit, Agens, treibende Macht, Kraft, Energie, Notwendigkeit, Verknüpfung und hervorbringender Faktor‹ alle ungefähr synonym sind«. Seiner Meinung nach sei es deshalb eine Ungereimtheit, »irgendwelche dieser Ausdrücke anzuwenden, um den Sinn der übrigen zu definieren« (ebd., S. 212) – wie Bennett es tut, wenn sie die Ding-Kraft als Wirksamkeit oder nichtmenschliche Handlungsfähigkeit bestimmt. Lebhaftigkeit hat die Kraft, Glauben zu festigen, aber wir haben nicht die Macht zu sagen, was diese Kraft ist. 148 Krieger, Murray: Ekphrasis.The Illusion of the Natural Sign, Baltimore 1992, S. 68. 149 Vgl. Durkheim, Émile: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, übers.v. Ludwig Schmidts, Frankfurt a.M./Leipzig 2007, S. 24f. 150 Ebd., S. 31. 151 Ebd., S. 36. 152  Vgl. Bennett, Vibrant Matter, S. 17, S. 117.

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Marshall McLuhans Medientheorie liefert dafür ein Beispiel. McLuhan argumentiert, dass Technologien Ausweitungen des menschlichen Nervensystems sind.153 Eine Ausweitung, fügt er an, ist »eine Verstärkung eines Organs, eines Sinnes oder einer Funktion«.154 Technologien übertragen das Prinzip des Wachstums vom Körper auf seine Prothesen, verteilen Handlungsmacht und Wirksamkeit neu zwischen dem Menschen und dem Nichtmenschlichen. Unausweichlich, wie durch eine Art Gesetz oder einen Drang, bestätigt McLuhan jedoch, dass die Auflösung von Kategoriengrenzen eine Rückkehr zu primitivem Denken bedeutet: Unsere neue »Technik der Elektrizität«, sagt er voraus, lässt »rasch und tiefgreifend die Situation und Haltung des primitiven Stammesangehörigen in uns wieder entstehen«.155 Die Kategorie des Primitiven drängt sich typischerweise immer dann auf, wenn wir ›Modernen‹ es in Angriff nehmen, die Kategorie des Menschlichen aufzulösen und ihre Inhalte neu zusammenzustellen. McLuhan ist der Auffassung, dass die primitive oder ›stammesgebundene‹ Haltung eine der intensiven Beteiligung ist. Mit Beteiligung meint er, wortwörtlich, ›Teilhabe‹ (participation). Das Wort durchzieht seine Texte (und die Bennetts und Latours) wie ein roter Faden.   Nach McLuhan befördert die Kultur des Buchdrucks Linearität und Abstand. Sie unterscheidet zwischen Dingen und Menschen und ordnet sie fest definierten Klassen zu. Demnach bevorzugt sie die Entwicklung heißer Medien, die einen hohen Informationsgehalt haben, aber wenig Beteiligung erfordern. Die Kultur der Elektrizität hingegen befördert Simultaneität und Beteiligung. Sie setzt Dinge und Menschen zusammen. Daher bevorzugt sie die Entwicklung von kalten Medien, die einen niedrigen Informationsgehalt haben, aber ein hohes Maß an Teilhabe ermöglichen.   Wenn die Typographie der Elektrizität weicht, ersetzt Konfiguration die Klassifikation. Linearität weicht der Montage. Sequenzen fallen zu Bildzeichen (icons) zusammen, und Bildzeichen formen Mosaiken.156 Leser interpretieren MosaikBilder nicht. Sie haben an ihnen teil. Sie nehmen nicht länger Informationen auf, sondern stellen diese selbst zusammen. Die »Mosaikform drückt nicht einen distanzierten ›Standpunkt‹ aus«, beobachtet McLuhan, »sondern ständiges Mitmachen«, und dieses Mitmachen »hat eher Gemeinschafts- als Privatcharakter

153  154  155  156

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Vgl. McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle, übers.v. Meinrad Amann, Düsseldorf u.a. 1992, S. 99. Ebd., S. 201. Ebd., S. 273. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass Bennett von einer ›Assemblage‹ sagt, dass sie eine Form des ›Mosaiks‹ sei. Vgl. Bennett, Vibrant Matter, S. 22.

Lebhaftigkeiten

und schließt eher ein als aus«.157 Mosaiken und ihre Teilnehmer bilden ein Kollektiv, denn die Interpretation eines Mosaiks erfordert eine Art des »vollständigen Aufgehen[s]«, die für den »Eingeborenen eines Naturvolks« typisch ist.158 Wenn er seine ›Primitiven‹ einberuft, beschwört McLuhan – sei es absichtlich oder nicht – auch den Geist von Lévy-Bruhl herauf. Die elektrische Moderne ist die Wiederkehr einer fast vergessenen ethnographischen Vormoderne.   »Die Vormodernen sind wie wir«, merkt Latour an, »[s]obald sie symmetrisch betrachtet werden, könnten sie möglicherweise eine bessere Analyse von den Abendländern liefern als die moderne Anthropologie von den Vormodernen«.159 Genauer gesagt sind wir die Vormodernen. Wir sprechen über sie, um über uns selbst zu sprechen, so als ob wir eine Zensur umgehen wollten, denn wir sehen in ihnen, was wir uns über uns selbst lieber nicht eingestehen wollen. Wenn wir trotzdem darauf bestehen, uns von ihnen zu unterscheiden, geschieht das, weil wir nach dem Luxus verlangen, uns selbst aus einer Distanz zu betrachten, ohne nahe genug heranzukommen, um uns selbst zu erkennen. Sogar Latour bewahrt sorgsam einen minimalen Unterschied zwischen ›uns‹ und ›ihnen‹: »Die Modernen unterscheiden sich von den Vormodernen nur durch ihre Weigerung, die Quasi-Objekte als solche zu denken. Hybriden stellen für sie etwas Schreckliches dar, das es um jeden Preis zu vermeiden gilt – durch unentwegte und sogar manische Reinigung.«160

Hybriden rufen in Lovecrafts Geschichten immer den ›Schrecken‹ hervor, aber die Figuren, die die Hybriden am stärksten fürchten, unternehmen am meisten, um sie zu entdecken, sie zusammenzusetzen, sie heraufzubeschwören. Genauso verhält es sich mit uns ›Modernen‹. Wir weigern uns, Hybriden zu begreifen, aber wir können nicht damit aufhören, sie heraufzubeschwören. Das Verb ›beschwören‹ ist auf unheimliche Weise geeignet, diese doppelte Bewegung zu beschreiben. Es bedeutet sowohl ›bannen‹ als auch ›erscheinen lassen‹.161 Wir nennen unsere Hybriden ›Primitive‹ und ›Vormoderne‹, um eine klare und eindeutige Grenze zu uns zu ziehen, aber wir können sie nicht wegschicken, ohne sie unmittelbar darauf wieder zurückzurufen. Marinus Bicknell Willett bekommt eine harte Lektion erteilt, während er den »furchtbaren Fall«162 des 157  158  159 160  161  162 

McLuhan, Die magischen Kanäle, S. 244f. Ebd., S. 169. Latour, Wir sind nie modern gewesen, S. 138. Ebd., S. 150 (Hervorhebungen C. B.). Vgl. »conjure, v.«, in: Oxford English Dictionary, Oxford 2011, http://www.oed.com, 22.02.2012. Lovecraft, »Der Fall Charles Dexter Ward«, S. 186.

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Christopher Bracken

Charles Dexter Ward untersucht. In dem Moment, als er den gefährlichen Fehler begeht, eine Wiederbelebungsformel über einer Schale mit ›essentiellen Saltzen‹ zu murmeln, erinnert er sich verschwommen daran, dass er einen alten Satz gelesen oder gehört hatte, dessen Bedeutung ihm verschlossen geblieben war: »Ich sage Euch abermals, erwecket keinen, den ihr nicht auszutreiben vermöget.«163 Auf diese Weise behandeln wir unsere Hybriden. Wir rufen sie an und erwecken sie zum Leben, während wir sie noch immer austreiben, und das erfordert manchmal, sie unter einem anderen Namen zu beschwören.

163 

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Ebd.

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Passagen der Seele. Zur theologischen Gewalt der Mode

Ü

ber Mode zu sprechen, impliziert zumeist, von der Moderne zu handeln. Der vielfach hiermit apostrophierte soziale ›Wandel‹, z.B. von einer Ständegesellschaft zu einem System funktionaler Ausdifferenzierung und alltäglicher Beschleunigung, ist zu einem Gemeinplatz historischer wie ästhetischer Untersuchungen geworden.1 Genau diese Gemeinplätze griff Walter Benjamin in historisch-praktischer Weise an, indem er sie wörtlich nahm und in Passagen verwandelte – vielmehr als Passagen verwendete.2 Der »Mode«-Abschnitt des Passagen-Werk3 führt eine Geschichtsschreibung vor, welche Fundstücke des Pariser 19. Jahrhunderts in die 1920er und 30er Jahre einpasst, genauer: die vestimentäre Physiognomie einer häufig für exemplarisch ›modern‹ gehaltenen Metropole des ›langen‹ Jahrhunderts auf die Produktion historischer Zeit hin befragt. Hierbei finden scheinbar asymmetrisch relevante Gegenstände zueinander, das »Ewige« ist plötzlich »eine Rüsche am Kleid«,4 während Paris selbst auf einem »Taschentuch«5 Platz findet. Solche Beispiele indizieren Benjamins Aufmerksamkeit für Raum- und Zeitphänomene. Die Geschichtsschreibung des Passagen-Werk selbst organisiert die historischen Funde des 19. Jahrhunderts 1 

Vgl. Wehinger, Brunhilde: »Modisch/Mode«, in: Barck, Karlheinz (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, 4. Bd., Stuttgart/Weimar 2010, S. 168–182, S. 172ff. 2  Dieser Zug zur Verwendung historischen Materials im und als ›Passagen-Werk‹ spielt eine wesentliche Rolle in der wichtigen Studie von Kranz, Isabel: Raumgewordene Vergangenheit. Walter Benjamins Poetologie der Geschichte, München 2011. 3  Vgl. Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk, in: ders.: Gesammelte Schriften, 5. Bd. 2. Teil, hg.v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1982, S. 110–132. 4  Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk, in: ders.: Gesammelte Schriften, 5. Bd. 1. Teil, hg.v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1982, S. 118. 5  Gutzkow, Karl zit.n. Benjamin, Das Passagen-Werk, 1. Teil, S. 115.

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topographisch.6 Wenn die Rüsche eines Kleides mit der Ewigkeit in Verbindung steht und der Stadtplan von Paris zu einem modischen Accessoire gerät, so wird ebenso deutlich, dass im Detail der ›liebe Gott‹ stecken kann.7 Benjamin radikalisiert diese Verbindung zwischen ›Hohem‹ und ›Niederem‹, indem er feststellt, dass genau im miniaturisierten Stadtbild als Taschentuch die »Gewalt der Mode«8 steckt. Mag der drastische Begriff der ›Gewalt‹ angesichts eines so spielerisch-leichtfüßig anmutenden Phänomens wie der Mode zunächst unangemessen klingen, so soll dieser Beitrag genau die politisch zu nennende Dimension historischer Topographien als Mode verdeutlichen. Die folgenden Ausführungen analysieren eine Reorganisation von Zeit und Vergangenheit als Mode, genauer eine Reorganisation des bekleideten Körpers als modernem Schauplatz. Diese Reorganisation fußt auf einem spezifischen Modus der Wiederkehr. In einer physisch zu nennenden Re-Animation wird die Kulturgeschichte der anima9 um 1900 in eine neue Raum-Zeit-Konstellation transportiert. Dabei induziert die passagere Behandlung von Architekturen10 des 19. Jahrhunderts durch Benjamin einen neuen Modus von Verwandelbarkeit. Zentrale Figur der historisch-räumlichen Reorganisation ist der Flaneur, dessen Physis gleichsam neue Koordinaten in den Stadtraum des 19. wie 20. Jahrhunderts einträgt. Der Flanierende verändert nämlich in seiner parasitären Ausrichtung ebenso die säkulare Ordnung der Moderne, indem er zum »Priester des genius loci«11 wird. Besonders fruchtbar erscheint mir in diesem Kontext der keinesfalls veraltete Ansatz einer »Kulturphysiognomik«: »Gegen die Logik der Absenz bietet Benjamin eine Praxis des Rausches und der Präsenz auf, die an die Figur des Flaneurs gebunden ist. Der Flaneur übernimmt darin […] die Rolle des Geschichtsschreibers, der die toten Spuren der Vergan6

Vgl. Kranz, Raumgewordene Vergangenheit, S.  111–143; als Klassiker einer an Raumfragen orientierten Geschichtsschreibung wäre zu nennen Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München/Wien 2003. 7  Vgl. Macho, Thomas; Schäffner, Wolfgang; Weigel, Sigrid (Hg.): ›Der liebe Gott steckt im Detail‹. Mikrostrukturen des Wissens, München 2003. 8  Benjamin, Das Passagen-Werk, 1. Teil, S. 115. 9  Vgl. Macho, Thomas: »Beseelungen. Zur Geschichte der Verwandlung«, in: Assmann, Aleida; Assmann, Jan (Hg.): Verwandlungen, München 2006, S. 401–408; die hier fokussierte Problematik der Seele zwischen Funktionalität und Substanzialität referiert die Wandlungsfähigkeit unter neuen Vorzeichen. 10  Mit Architektur ist einerseits die konkrete Bauform der Passage gemeint, wie sie sich von Paris aus über ganz Europa erstreckte, andererseits sollte man den Begriff der Architektur ebenso in einer allgemeineren Fassung verwenden. Denn hierin steckt als arché immer auch die prinzipielle Möglichkeit, Räume zu denken und zu erzeugen bzw. Ordnungen eine ›Tektonik‹ zu verleihen. Vgl. Schwarte, Ludger: Philosophie der Architektur, München 2009, S. 15ff. 11  Benjamin, Walter: »Die Wiederkehr des Flaneurs«, in: ders.: Beroliniana, hg.v. Sebastian Kleinschmidt, Berlin 1987, S. 183–188, S. 186.

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genheit am eigenen Leibe wiederzubeleben hat. Allerdings belässt Benjamin es nicht bei der individuellen Technik der Reanimierung, sondern projiziert die Vorstellung von einer leiblichen Vitalisierung und Dynamisierung auf das Kollektiv.«12

Die physische Wiederbelebung besteht in einer Raumpraxis. Benjamins passagere Geschichtspolitik eröffnet ein dynamisches Feld, welches die urbane Architektur nicht nur verwendet, sondern gewissermaßen ›surrealisiert‹. Was sich hiermit verändert, ist nichts Geringeres als der »Leibraum«,13 also die Möglichkeit physischer Organismen, einen Ort einzunehmen. Der ›Leibraum‹ als Operator zwischen Individualität und Kollektivität ordnet Geschichte surreal an. Der Surrealismus übernimmt dabei die Funktion, als »Platzhalterin«14 der Mode zu dienen.   Im Folgenden soll das politische Potenzial dieser Physiognomien zwischen dem Wiederaufleben der anima als Seele und der dynamisierenden Kraft als Mode fokussiert werden. Als Untersuchungsgegenstand dienen Diskurspartikel um Mode, Bekleidung und Nacktheit aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Zwischen den Schauplätzen terroristischer Straßen-Attentate und bürgerlicher Paradiesgärten fluktuierend, wird die Profanität15 moderner Sozialitäten auf die Möglichkeit hin befragt, ein Amt zu bekleiden und zu verkörpern.16 Mit Benjamins Sensibilität für das Große im Kleinen soll diese theologische Problematik auf alltägliche Repräsentationen übertragen werden.

Gesprengte Kleiderordnung Eine theologische Form von Platzhalterschaft und damit auch vom ›Leibraum‹ und dessen Verwandelbarkeit präsentiert Giorgio Agamben. Seine im Kontext der Frage nach Ordnung und Regierung des abendländischen Menschen17 erhobene Leib-Körpertheorie fokussiert einen anderen Schauplatz. Die oikonomia versieht den menschlichen Körper im theologischen Sinn mit der ursprüng12  Zumbusch, Cornelia: »Das Unbewusste des Kollektivs und seine Physis. Zum Bild des kulturellen Körpers in Walter Benjamins Passagen-Werk«, in: Sasse, Sylvia; Wenner, Stefanie (Hg.): Kollektivkörper. Kunst und Politik von Verbindung, Bielefeld 2002, S. 263–283, S. 268. 13  Ebd., z.B. S. 277; Benjamin, Walter: »Der Sürrealismus«, in: ders.: Ausgewählte Schriften. Angelus Novus, 2. Bd., hg.v. Siegfried Unseld, Frankfurt a.M. 1988, S. 200–215, S. 215. 14  Benjamin, Das Passagen-Werk, 1. Teil, S. 113. 15  Aktuell zur Theorie des Profanen bei Benjamin vgl. Weidner, Daniel (Hg.): Walter Benjamins Dialektik der Säkularisierung, Berlin 2010. 16  Im Rekurs auf Agamben vgl. Zakravsky, Katherina: »Enthüllungen. Zur Kritik des ›nackten Lebens‹«, in: Schwarte, Ludger (Hg.): Auszug aus dem Lager. Zur Überwindung des modernen Raumparadigmas, Berlin/ Bielefeld 2007, S. 59–77, S. 77. 17  Vgl. Agamben, Giorgio: Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung, Berlin 2010.

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lichsten wie negativsten Bekleidung: der Nacktheit.18 Diese Nacktheit existiert unter zwei theologischen Voraussetzungen, welche durch eine Örtlichkeit und eine Ereignishaftigkeit gekennzeichnet sind. Aufgrund der Vertreibung aus dem Paradies ›bemerken‹ Adam und Eva überhaupt ihre Nacktheit und stiften hierin der sündhaften Erkenntnis einen »geistigen Akt«.19 Daher verwundert es nicht, dass als mittelalterlich-christliche anima häufig ein kleiner nackter Kindskörper dargestellt wird, ein Körper, der einerseits im kindlichen Sinne unschuldig und durch göttliche Gnade verwandelbar ist, der andererseits jedoch dem Paradies potenziell entfremdet ist.20 Der Mensch hat im Sündenfall dieses urszenisch klassische Gewand verloren, welches als Auf- und Entdeckung an die Nacktheit gekoppelt ist. Gleichermaßen determiniert die göttliche Gnade eine spezifische Art des Menschseins, eine vermeintlich ›natürliche‹ Verfassung, worin der Christ die vollendete Gnade finden kann.21 In dieser theologischen Bekleidung steckt die schiere Möglichkeit der Entblößung. »[D]er von der Theologie gestiftete Zusammenhang von Natur und Gnade, Nacktheit und Kleid hat zur Folge, dass die Nacktheit in unserer Kultur kein Zustand, sondern ein Ereignis ist.«22 In dieser »Hinzufügung eines Kleides oder jähe[m] Ergebnis seines Entzugs […] gehört sie [die Nacktheit] nicht dem Sein und der Form, sondern der Zeit und der Geschichte an«.23   Agamben setzt diesem Verdacht eine historische Zäsur hinzu und verweist völlig zu Recht auf die sogenannte Lebensreformbewegung. Die Nudisten um 1900 wollten einer massenkulturell obszön und pornographisch erschienenen Nacktheit eine pietätvolle Nacktheit entgegensetzen, ergo »die alte theologische Idee der unschuldigen Nacktheit als eines Gnadenkleids wiederaufleben«24 lassen. Die Nacktkultur um 1900 re-inszeniert damit eine vermeintlich ursprüngliche Pietät der Unbekleidetheit.25 Genauer re-inszeniert sich darin eine selbst formlose anima. Diese göttliche Kultur der anima erhält damit den ›natürlichen‹ Gnaden18 

19  20 

21  22  23  24  25 

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Agamben bezieht sich auf die Darstellungen des Theologen Erik Peterson, der von einer ›Theologie des Kleides‹ spricht. Vgl. Agamben, Giorgio: »Nacktheit«, in: ders.: Nacktheiten, Frankfurt a.M. 2010, S. 95–149, S. 99ff. Peterson, Erik zit.n. Agamben, »Nacktheit«, S. 100. Vgl. Chapeaurouge, Donat de: »Die Darstellung der Seele in der bildenden Kunst des Mittelalters«, in: Jüttemann, Gerd; Sonntag, Michael; Wulf, Christoph (Hg.): Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland, Göttingen 2005, S. 104–122. Vgl. Agamben, »Nacktheit«, S. 107. Ebd., S. 111. Ebd. Ebd., S. 112. Zur medienhistorischen Spezifizierung dieser Form der Wiederbelebung in Bezug auf die Antike vgl. Möhring, Maren: »Körper-Renaissancen. Die (fotografische) Wiederbelebung antiker Ideale in der Körperkultur des frühen 20. Jahrhunderts«, in: Archiv für Mediengeschichte 10 (2010), S. 139–151.

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stand auch um 1900 und hierin eine seelische Unverwandelbarkeit. Nicht nur die Möglichkeit der Entblößung, sondern das Problem der Bekleidung des menschlichen Körpers überhaupt hängt somit an einem theologischen Dispositiv.   Parallel zu diesen theologischen Tendenzen bürgerlicher Kultur in der lebensreformerischen Nacktkultur setzte sich einer der Gründerväter deutscher Soziologie, Georg Simmel, mit der zeitgenössischen Bekleidungskultur auseinander. Mode wird dabei an mehreren Stellen mit dem Topos des Seelischen konfrontiert. Mode selbst erzeuge neue gesellschaftliche Dimensionen, sie bilde »ein komplexes Gebilde […], in dem alle gegensätzlichen Hauptrichtungen der Seele irgendwie vertreten sind«.26 Diese soziale Integrationsleistung vollziehe die Mode auf zwei verschiedenen Ebenen. Einerseits würden die sozialen Austauschmechanismen neu figuriert; als Ergebnis stehe eine »offenbar wohltuende Mischung aus Billigung und Neid«.27 Durch diesen Mechanismus würden die »Seeleninhalte«28 neu verteilt und eine »Proportion von Bindung und Freiheit«29 erreicht. Auf der anderen Seite generiere Mode eine spezifische Zeitlichkeit. Ihr rascher Wechsel gleiche einer »Mischung von Zerstören und Aufbauen«; »in dem Vernichten einer früheren Form gewinnt ihr Inhalt seinen Charakter, er besitzt seine eigentümliche Einheitlichkeit, in der die Befriedigung des Zerstörungstriebes und des Triebes zu positiven Inhalten nicht mehr voneinander zu trennen sind«.30

Diese triebhafte Tempozeit korreliert mit einer Kultur der sozialen Umwertung und schafft in ihrer reinen »Äußerlichkeit« eine »Sozialform von bewunderungswürdiger Zweckmäßigkeit«.31 Die Konfrontation von Seele und Mode schafft damit neue Temporalitäten wie auch neue Ver- und Entbindungen sozialer Art.   Das Schwanken Simmels zwischen der integrativen und zerstörerischen Kraft der Mode, welches vor allem auf einer Neukonfiguration des Seelischen beruht, wird von Benjamin in entschiedener Weise radikalisiert. Als Bestandteil zu Ausführungen über seine ›dialektische Methode‹ entwickelt der Kritiker und Philosoph seine Haltung zur Geschichte und Historiographie. Zentral ist dabei die Relation zwischen der Praxis der Jetztzeit und dem historisch Ge26  Simmel, Georg: »Philosophie der Mode«, in: ders.: Gesamtausgabe, 10. Bd., hg.v. Michael Behr, Volkhardt Krech, Gert Schmidt, Frankfurt a.M. 1995, S. 7–37, S. 10. 27  Ebd., S. 18. 28  Ebd. 29  Ebd., S. 28. 30  Ebd., S. 20. 31  Ebd., S. 28.

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wesenen als »Verdichtung (Integration) der Wirklichkeit«,32 welche dort stattfindet, wo sich eine »Situation des Interesses«33 energetisch zusammenballt. Der »Sprengstoff, der in der Mode liegt (die immer auf Vergangenes zurückgreift)«,34 ist gleichzeitig ein politisch statt historisch zu nennendes Zwischensein, eine Vermittlungsposition.   Benjamins Surrealismus-Essay macht deutlich, welche Art von Sprengstoff hier zu veranschlagen wäre. Der Essay selbst ist Zeit- und Vergangenheitspolitik, verortet die Pariser Surrealisten-Szene von 1929 in »letzte[r] Momentaufnahme«:35 »Und all die Orte von Paris, die hier auftauchen, sind Stellen, an denen das, was zwischen diesen Menschen ist, sich wie eine Drehtür bewegt.«36 Der surreale Verkehr funktioniert automatisch materialisiert. Entsprechend interessiert sich Benjamin nicht von der historistischen Quelle her, sondern vom lumpigen Überrest aus für die »Energien der Bewegung«,37 für den alltäglich verdichteten Witz, das Missverständnis und die Beschimpfung. Die »profane Erleuchtung«38 von Geschichte entspringt dabei der rauschhaften Insurrektion und Explosion surrealer Plötzlichkeit. Der Bezug auf die Attentate vor allem des russischen Anarchismus der 1870er und 80er Jahre (Benjamin spricht hierbei von »Höllenmaschinen«39) wirkt wie ein produktives Einsprengsel in den Pariser Surrealismus des 20. Jahrhunderts. Die Dynamis des Dynamits bricht ein in die Tradition der Dynastien. Diese Sprengkraft verweist vor allem auf einen Diskurs, welcher die Gesetze der Thermodynamik mit der verfehlten Kausalität zwischen Ursache und Wirkung von Geschichte verschaltet. Julius Robert Mayers Aufsatz »Ueber Auslösung« von 1876 steht dabei emblematisch für eine Epoche, welche beständig um die Pathologie physischer wie sozialer Kräfte besorgt ist und befürchten muss, dass bereits eine kleine Entladung, ein winziger Funke oder ein kurzer Zorn das soziale Gefüge aus den Angeln hebt. Armin Schäfer und Joseph Vogl beschreiben die damit verbundene »Plötzlichkeit und Diskontinuität« als »Unverhältnismäßigkeit«,40 bei der die Ereignisform historischer Abläufe nicht mehr individuell vergesellschaftet werden kann, sondern zur kontingenten Massenerfahrung wird. 32  Benjamin, Das Passagen-Werk, 2. Teil, S. 1026. 33  Ebd. 34  Ebd., S. 1027. 35  Benjamin, »Der Sürrealismus«, S. 200. 36  Ebd., S. 206. 37  Ebd., S. 200. 38  Ebd., S. 202. 39  Ebd., S. 210. 40  Schäfer, Armin; Vogl, Joseph: »Feuer und Flamme. Über ein Ereignis des 19. Jahrhunderts«, in: Schmidgen, Henning; Geimer, Peter; Dierig, Sven (Hg.): Kultur im Experiment, Berlin 2004, S. 191–214, S. 192.

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Angesichts dieser konstatierten ›Unverhältnismäßigkeit‹ ist Benjamins Forderung und Frage nach einer »dialektische[n] Gerechtigkeit«41 durchaus nachvollziehbar. Die Antwort darauf findet sich im finalen Bild des Surrealismus-Essays, welches eine neue Form des Tauschs42 vorstellt. In der Hoffnung, dass »alle leiblichen Innervationen des Kollektivs revolutionäre Entladung werden«, erfüllt sich für den Augenblick eine surrealistische »Order«: »Sie [die Surrealisten] geben, Mann für Mann, ihr Mienenspiel im Tausch gegen das Ziffernblatt eines Weckers, der jede Minute sechzig Sekunden lang anschlägt.«43 Ein Gesicht im Tausch gegen die unerbittlich fortschreitende Zeit, genauer gegen die Lesbarkeit dieser Zeit. Im Entfernen des Ziffernblatts läuft der Uhrzeiger leer. Statt thermodynamischer Krafterhaltung bleibt lediglich ein rhythmisch-zerrissenes Gesicht. Als »ewige Platzhalterin des Surrealismus«44 adressiert, sollte spätestens an dieser Stelle die Frage nach der Verwandelbarkeit des Körpers durch die Mode neu ins Spiel gebracht werden. Sie durchbricht im Setzen konkreter Ortschaft, messbarer Zeit und materialer Agentur die Metrik heilsgeschichtlichen Lebens, welches seine Körperlichkeit durch den Erkenntnisakt des Paradiesverlustes erhalten hatte. Uhr und Drehtür funktionieren dagegen surreal nach einem Code jenseits der Erkenntnis.   Die Attentate der russischen Anarchisten könnte man ebenso als eine extreme ›Verdichtung‹ von Kraft an einem Ort verstehen. Die Kraft der Bombe zerstört in ihrer Adressierung des Erst- und Amtskörpers einer mächtigen Instanz nicht nur den ›Arm‹ einer regierenden Gewalt, sondern setzt eine Energie frei, deren Wirkung auf Absenz beruht. Auch wenn selbstredend die Annalen prall gefüllt sind von Fällen, bei denen Attentäter unbeabsichtigt45 Opfer ihrer eigenen Sprengsätze wurden, so beruht das Prinzip der hier von Benjamin angeführten Attentatskultur darauf, dass der Sprengsatz an einem Ort zündet, an dem der Attentäter sich selbst nicht befindet.46 Dies lässt sich durchaus auf Benjamins Geschichtspraxis übertragen, welche darauf beruht, vergangene Reste und Bilder in Absenz zu zünden, d.h. eine Vergangenheitsform aktuell zu verwenden, in die man sich nicht präsentisch ›einfühlen‹ muss. So versteht sich seine Defi41  42  43  44  45  46 

Benjamin, »Sürrealismus«, S. 215. Zum Tausch bei Benjamin im Kontext sozialer Ordnung vgl. Hörisch, Jochen: Tauschen, Sprechen, Begehren. Eine Kritik der unreinenVernunft, München 2011, S. 58–80. Benjamin, »Sürrealismus«, S. 215. Benjamin, Das Passagen-Werk, 1. Teil, S. 113. Hier lässt sich ein deutlicher Unterschied zur Kultur zeitgenössischer Selbstmordattentate ausmachen. Zur Örtlichkeit als Laboratorium von Attentaten vgl. Brandstetter, Thomas: »Teufels Küche. Imaginationen terroristischer Laboratorien«, in: Archiv für Mediengeschichte 9 (2009), S. 45–55; umfassend zum Attentat vgl. Schneider, Manfred: Das Attentat. Kritik der paranoischenVernunft, Berlin 2010.

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nition von Nähe und Zeit als Geschichte beispielsweise im »Straßenaufstand der Anekdote. Die Anekdote rückt uns die Dinge räumlich heran, läßt sie in unser Leben treten. Sie stellt den strengen Gegensatz zur Geschichte dar, welche die ›Einfühlung‹ verlangt, die alles abstrakt macht«.47 Dieses Heranrücken steht für Benjamin vor allem mit dem Maßstab des Menschenlebens in Verbindung, denn die »Technik der Nähe« besteht darin, auf »kalendarisch[e]« Art Geschichte zu schreiben.48 »Stellen wir uns vor, ein Mensch stürbe mit genau fünfzig Jahren am Geburtstag seines Sohnes, dem es wieder ebenso ergehe etc., so ergibt sich, wenn man die Kette bei Christi Geburt beginnen läßt: es haben, seit Beginn unserer Zeitrechnung, noch keine vierzig Menschen gelebt. So gestaltet das Bild des geschichtlichen Zeitverlaufes sich um, trägt man einen dem Menschenleben adäquaten, ihm sinnfälligen Maßstab an ihn heran.«49

Benjamin erkundet eine adäquate Form des Todes für den Menschen, der auf klassisch geschichtliche – dies bedeutete zu Benjamins Zeit historistische – Art nicht zu beschreiben ist. Dagegen setzt Benjamin das modisch-dialektische Bild, das von der hegelschen Geschichts-Fassung abweicht: »Zum dialektischen Bilde. In ihm steckt die Zeit. Sie steckt schon bei Hegel in der Dialektik. Diese Hegelsche Dialektik kennt aber die Zeit nur als eigentlich historische, wenn nicht psychologische, Denkzeit. Das Zeitdifferential, in dem allein das dialektische Bild wirklich ist, ist ihm noch nicht bekannt. Versuch, es an der Mode aufzuzeigen.«50

Die Mode ist ein neuer Tod des Menschen,51 indem sie Lebens-Zeit nicht als nach hinten und vorn offen, sondern als Intervall vollzieht. Dieses Intervall ist nicht mehr Bestandteil einer gedachten wie linear-fortlaufenden Zeit, stattdessen lässt es sich aus dem historistischen Zeitraum extrahieren.

Ausverkauf/Affiche Im ›Straßenaufstand der Anekdote‹ wie im Attentat findet nicht nur eine andere Zeit statt, sondern die Straße bietet ebenso eine spezifische Konfiguration

47  Benjamin, Das Passagen-Werk, 2. Teil, S. 677. 48  Ebd. 49  Ebd. 50  Ebd., S. 1037f. 51  Vgl. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M. 1971, S. 381, S. 460.

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von Lebendigkeit und Geschichte, da der modische Tod schneller und lustvoller agiert. Die kapitalistische Warenwirtschaft kreiert neue Tauschwerte und -orte, in Benjamins revolutionärem Maßstab ist hiermit ein ›dialektischer Umschlagplatz‹ eröffnet: »Hier hat die Mode den dialektischen Umschlagplatz zwischen Weib und Ware – zwischen Lust und Leiche – eröffnet. Ihr langer flegelhafter Kommis, der Tod, mißt das Jahrhundert nach der Elle, macht wegen der Ersparnis selbst den Mannequin und leitet eigenhändig den Ausverkauf, der auf französisch ›révolution‹ heißt.«52

Revolutionär ist damit ebenso die Verwandlungsfähigkeit, die dem modisch bekleideten Körper eine Maske kurzer, aber energischer Lebensdauer verleiht. In Gang gesetzt ist ein metamorphotisches Spiel, welches die Annäherung an Waren mit der erotischen Nähe zum weiblichen Geschlecht verschränkt. Kaum verwunderlich ist damit nicht nur im »Mode«-Abschnitt, sondern im gesamten Passagen-Werk die Hure eine zentrale Figur, welche die Vergesellschaftung durch Warentausch wie kaum ein anderer Körper allegorisiert.53 Die Hure stiftet diesen sozialen Zusammenhang als »Typ« oder »Nummer«54 und erscheint dabei im gleichen Register wie das Glücksspiel mit seinen spezifischen Zeitgesetzen.55 Und nicht zuletzt ver-wenden Spiel und Prostitution das menschliche Schicksal. In »Bordell und Spielsaal« ist der Mensch »von aller Erdenschwere entbunden«, die spielerisch-erotische Verwandlung greift damit vor allem das theologische Dispositiv an, welches für Benjamin in idealistischer Leibfeindlichkeit gegeben ist: »Daß Sinnenlust, von welcher Art sie sei, den theologischen Begriff der Sünde bestimmen könne, mögen ahnungslose Idealisten sich träumen lassen.«56 Benjamin fordert an dieser Stelle nichts Geringeres als eine materialistischspielerische Zeugung des Sozialen. Die ›Sünde‹ ist nicht nur ein idealistischer Fehlgriff, sondern ist vor allem durch eine falsche ›Tektonik‹ gekennzeichnet. Die Theologie des sündigen Körpers baut auf einen innerlichen Sitz und gleicht Benjamin hierin interessanterweise dem Jugendstil. Auch zu diesem Thema findet sich im Passagen-Werk ein eigener Abschnitt. Benjamins Kritik am Jugendstil entzündet sich an der »Technik«57 dieser künstlerischen Epoche. Denn mit 52  53 

54  55  56  57 

Benjamin, Das Passagen-Werk, 1. Teil, S. 111. Zur Problematik von Allegorie und Symbol speziell im 19. Jahrhundert vgl. Berndt, Frauke; Drügh, Heinz: »Einleitung«, in: dies. (Hg.): Symbol. Grundlagentexte aus Ästhetik, Poetik und Kulturwissenschaft, Frankfurt a.M. 2009, S. 223–237. Benjamin, Das Passagen-Werk, 1. Teil, S. 612. Vgl. ebd., S. 638f. Ebd., S. 612. Benjamin bezeichnet den Jugendstil als den nach dem Realismus zweiten »Versuch der Kunst, sich mit

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seinen floralen Ornamenten schafft dieser Stil einen für Benjamin problematischen ›Leibraum‹. Einerseits privatisiere er jegliche Figuration, hole sie also gewissermaßen vom ›Umschlagplatz‹ der Straße fort. Andererseits erzeuge das jugendstilistische Kunstverständnis einen ›falschen‹ Zeugungskontext.   »Zum Motiv der Unfruchtbarkeit im Jugendstil: man empfand die Zeugung als nichtswürdigste Manier, die animalische Seite der Schöpfung zu unterschreiben.«58 Hier wird eine entscheidende Bruchstelle zwischen anima als göttlicher Schöpfung und dem tierischen Gattungsverhalten des Menschen erkennbar. Benjamin kritisiert, dass der Mensch im Jugendstil sich auf vegetabile Art zu paaren versucht. Der Jugendstil verhindere den Umschlag von der anima zum Animalischen. In dieser Hinsicht handele es sich auch um einen Jugendstil, der dem Menschen eine ewige Jugend konservieren will, das Leben wird wieder einmal falsch bemessen und muss zwangsläufig in einen »Tod in Schönheit« ausweichen.59 Als floraler Rahmen erscheint nun die ›Figur der Seele‹ im liebenden Verwachsen mit dem bekleideten Menschen: »Mittels des üppigen und mächtigen Konturs wird … die Figur der Seele zum Ornament … Maeterlinck … preist (im ›Schatz der Armen‹) das Schweigen, dieses Schweigen, das nicht der Willkür zweier Einzelwesen entspringt, sondern als ein drittes, eignes Wesen gleichsam hervorfließt, wächst, die Liebenden umschlingt und auf diese Weise ihre Gemeinschaft erst stiftet: deutlich genug offenbart sich solche Hülle aus Schweigen als eine Gestalt des Konturs oder als eine wahrhaftig gelebte … Form des Ornaments.«60

Die jugendstilistische Liebe bringt statt Revolution und ›Ausverkauf‹ nur eine Hülle aus Schweigen zustande. Und vor allem hat der Jugendstil eine privative Seite, sein Haben denkt sich den Körper als ›Hausorganismus‹. Hierin sind die Glieder einer liebenden Gemeinschaft vegetativ verbunden: »Ist die Stadt ein Garten voll freisprießender Hausorganismen, so fehlt in solchem Leitbilde völlig die Stelle, die der Mensch in ihr einnehmen soll, es sei denn, er bleibt im Innern dieser Pflanze eingefangen, selber verwurzelt und an den Boden – Land oder Wasser – geheftet wie durch Verzauberung (Metamorphose) unfähig gemacht, sich anders zu bewegen als die ihn rahmengleich umschließende Pflanze«.61 der Technik auseinanderzusetzen«. Benjamin, Das Passagen-Werk, 2. Teil, S. 692. 58  Ebd., S. 696. 59  Im Zusammenhang mit den »technischen Grundlagen« der bürgerlichen Naturbeherrschung stellt Benjamin fest: »Das Bürgertum fühlt, daß es nicht mehr lange zu leben hat; desto mehr will es sich jung. Es spiegelt sich so ein längeres Leben vor oder zum mindesten einen Tod in Schönheit.« Ebd., S. 694f. 60  Sternberger, Dolf zit.n. ebd., S. 682f. 61  Sternberger zit.n. ebd., S. 683.

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Das Problem besteht nicht im Auftauchen der Seele selbst, sondern darin, wie sie sich häuslich-liebend einrichtet und damit meint, einen finalen Modus der Verzauberung in floraler Metamorphose gefunden zu haben, nicht derjenigen des Warentauschs, sondern einer vegetabilen Unendlichkeit. Der Mensch hat hier keinen Anfang und kein Ende, sondern er ist pflanzlich-ornamental verwurzelt. Dennoch – und das treibt die seelische Wucherung auf die Spitze – ist jenes Haus ein »Organismus […], der sein Inneres im Äußeren ausdrückt«.62   Ein gänzlich anderes Verhältnis zwischen Innen und Außen, eine neue oikonomia, bekundet die materiale, insbesondere für Großstädte prägende Form der ›Affichen‹. Das modische Zeitdifferenzial erzeugt eine andere Verkündigung; das Tempo der Reklame kümmert sich wenig um den ›Grund‹ seiner Plakate, Aushangzettel und Wandreklamen. So konnte es im frühen 19. Jahrhundert ebenso passieren, dass Fenster von Privatwohnungen mit Werbung verklebt wurden: »Es existierte ja in den Anfangszeiten der Affiche noch kein Gesetz, das die Art und Weise der Plakatierung, den Schutz der Plakate aber auch den Schutz vor Plakaten, anordnete und so konnte man, wenn man eines Morgens beim Aufwachen sein Fenster von einem Plakat verklebt finden [sic]. An der Mode hat dieses rätselhafte Sensationsbedürfnis sich von jeher befriedigt. Auf den Grund aber wird ihm allein die theologische Untersuchung kommen, denn es spricht daraus ein tiefes, affektives Verhalten des Menschen dem Geschichtsablauf gegenüber.«63

Die Mode besetzt hier ›offenbar‹ einen weiteren Platz; die Mode wird nicht nur zur Platzhalterin des Surrealismus, sondern ebenso zur Stelle der Apokalypse. Entsprechend paraphrasiert Benjamin im selben Abschnitt »apokalyptische Prophezeiungen«64 von Zeiten, in denen die Menschen an der Überfülle elektrischen Lichts erblinden bzw. vom Tempo der Nachrichtenübermittlung in den Wahnsinn getrieben würden. Die Mode wird zu einem Modus der Verwandlung städtischer Zeit. Ebenso wichtig ist jedoch die Verwandlung des Raums. Die ›Affiche‹ reklamiert selbst einen Ort, der das Innen und Außen der Stadt konvertiert. Die Reklame besetzt und zersetzt dabei den Raum seelisch-verwachsener Innerlichkeit; im Prinzip spielerischer Käuflichkeit wird das Außen bzw. die Straße zum Tausch- und Handlungsraum, während die harmonisch-florale Seele der Jugendstildarstellungen dem sozialen Gefüge ein Haus-Inneres garantiert.

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Sternberger zit.n. ebd. Benjamin, Das Passagen-Werk, 1. Teil, S. 114. Ebd.

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Garten-Mode Georg Simmel scheint geradezu Benjamins Entwürfe des zeitdifferenzierten Menschen zusammenzufassen, wenn er einen Gegensatz zwischen persönlicher und sachlicher Kultur anzeigt. Genauer bezieht er sich dabei auf eine »Diskrepanz zwischen der objektiv gewordenen und der subjektiven Kultur«.65 Der wohnende Mensch sei in der Arbeitsteilung aufgrund des »fragmentarischen Charakters« aller Produkte seiner »Seelenhaftigkeit« beraubt.66 Besonders interessant ist, in welchem Bereich sich diese mit Entfremdung nur unzureichend charakterisierte Denkbewegung am augenfälligsten niederschlägt. Ausgerechnet der massenkulturell operierende Schneider personifiziert den Bruch zwischen einer Kultur der Innerlichkeit und der Äußerlichkeit: »Der Unterschied z.B. zwischen dem modernen, auf die äußerste Spezialisation gebauten Kleidermagazine und der Arbeit des Schneiders, den man ins Haus nahm, characterisirt aufs Schärfste die gewachsene Objektivirung des wirthschaftlichen Kosmos, seine überpersönliche Selbständigkeit im Verhältnis zum konsumirenden Subjekt, mit dem er ursprünglich verwachsen war.«67

Man geht sicher nicht fehl in der Annahme, dass in dieser Engführung von Haus und Kleid die biblische Frage nach »Behausung« und »Überkleidung« neu gestellt werden kann.68 In Simmels Variante bewirkt das Aufsuchen von ›Kleidermagazinen‹ jene biblische ›Entkleidung‹, die den Aufenthalt im Haus so ›beschwert‹ macht. Die Schwelle zwischen Haus-Innerem und Haus-Äußerem, welche bereits durch die ›Affichen‹, die Käuflichkeit der Straßendirne, ja durch das Prinzip der Passage als Bauform relativiert worden war, gleicht derjenigen zwischen Paradies-Innen und -Außen. Das Hinausgehenmüssen zum Kleidermagazin, das Überschreiten der Grenze, macht, mit Freud gesprochen, so unbehaglich an dieser säkularen Mode-Kultur.   In diesem Zusammenhang ist auf die von Agamben annotierten Nudisten um 1900 zurückzukommen, welche quasi die unmögliche Nacktheit der christli65  Simmel, Georg: »Persönliche und sachliche Kultur«, in: ders.: Gesamtausgabe, 5. Bd., hg.v. Heinz-Jürgen Dahme, David P. Frisby, Frankfurt a.M. 1992, S. 560–582, S. 562f. 66  Ebd., S. 565. 67  Ebd., S. 569. 68  Die von Simmel zitierte Bibelstelle lautet im Ganzen: »Denn wir wissen: wenn unser irdisch Haus, diese Hütte, zerbrochen wird, so haben wir einen Bau, von Gott erbaut, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im Himmel. [2] Denn darum seufzen wir auch und sehnen uns danach, dass wir mit unserer Behausung, die vom Himmel ist, überkleidet werden, [3] weil wir dann bekleidet und nicht bloß erfunden werden. [4] Denn solange wir in dieser Hütte sind, seufzen wir und sind beschwert, weil wir lieber wollen nicht entkleidet, sondern überkleidet werden, auf dass das Sterbliche würde verschlungen von dem Leben.« 2Kor 5,1–4 zit.n. der Luther-Übersetzung (Hervorhebungen G. K.).

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chen Urszene wiederbeleben. Es wäre zu ergänzen, dass jene Nacktkulturbewegung ihre ›natur‹-orientierte Heilsgewissheit vor allem als ›Auszug‹ und Wanderung aus »grauer Städte Mauern«69 erlangte. Die nudistische ›naturgemäße‹ Lebensweise mit all ihren ›Lichtgebeten‹ und ›Sonnentänzen‹ funktionierte vor allem als Orts-Wechsel, eine Alternative zur metropolitanen Zivilisation implizierte Landnahme und Raumpraxis.70 Die Nacktkultur-Bewegung teilte viele Gemeinsamkeiten mit der sogenannten Siedlungsbewegung. D.h., diejenigen, die Naturheilkunde verfolgten, vegetarische Ernährung praktizierten, waren dieselben dem Stress der Massengesellschaft überdrüssigen Bürger, welche in eine kommuneähnliche Siedlung auf dem Land zogen, um dort Freikörperkultur zu praktizieren. Das bekannteste solcher siedlungsreformerischen Projekte war sicherlich der Monte Veritá bei Ascona, welches von 1900 bis in die 20er Jahre bestand. Zu nennen wären jedoch ebenso die bezeichnenderweise ›Obstbaukolonie‹ genannte vegetarische Siedlung Eden in Oranienburg, die Gartenstadt Hellerau bei Dresden und Dutzende weitere Projekte, welche mit unterschiedlichsten weltanschaulichen Vorzeichen von anarchistisch-kommunistisch bis völkisch-rassistisch erprobt wurden.71 Abgesehen davon, dass die biblische Himmelsheimat in vielen Fällen schlicht durch das Telos ›Natur‹ ersetzt wurde,72 folgt ein Großteil der Lebensreform doch nur bedingt der biblischen Maßgabe, »fest« und »unbeweglich« zu sein.73 Auf dem Höhepunkt kolonialer Bestrebugen folgt man hier dem Dispositiv des Lagers.74 Die überkleidete ›Verwandlung‹ der Lebensreformer musste sich immerhin vermeintlich stadtferne Orte und Exklaven suchen. Das frühe Christentum kannte andere ›Gärten‹, andere Wandlungen und Wanderschaften.   Benjamin feierte mit Franz Hessels Berlin-Beobachtungen nicht nur die Wiederkehr des Flaneurs. Ebenso dürfte Benjamins Ahnung der sozialreorgani69  Das Lied Aus grauer Städte Mauern wurde quasi zu einem Markenzeichen der ebenfalls im Reformkontext etablierten Jugendbewegung. 70  Zum allgemeinen Überblick über die einzelnen Facetten der Reformbewegungen vgl. Buchholz, Kai (Hg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, Darmstadt 2001. 71  Vgl. Walther, Sigrid: »Der Garten. Lebensentwürfe nach der Natur«, in: Lepp, Nicola; Roth, Martin; Vogel, Klaus (Hg.): Der Neue Mensch. Obsessionen des 20. Jahrhunderts, Ostfildern-Ruit 1999, S. 142–173. 72  Evident wird der Zusammenhang zwischen Himmel und Nacktheit in der Lithographie Lichtgebet von dem Maler und Illustrator Fidus [d.i. Hugo Höppener, 1868–1948], welche sich durchaus als Emblem der gesamten Lebensreform bezeichnen lässt. Sie wurde von 1913 an in verschiedenen Varianten vertrieben und zeigt einen nackten Knaben in Rückenansicht, stehend auf einem Felsen, Arme und Gesicht dem Himmel entgegengestreckt. 73  Dieser letzte Vers unter der Überschrift »Die Verwandlung der Gläubigen. Der letzte Sieg« lautet: »Darum, meine lieben Brüder, seid fest, unbeweglich und nehmet immer zu in dem Werk des Herrn, weil ihr wisset, dass eure Arbeit nicht vergeblich ist in dem Herrn.« 1Kor 15,58 zit.n. der Luther-Übersetzung. 74  Vgl. Schwarte, Auszug aus dem Lager.

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sierenden Kraft von Mode nicht allein von Baudelaire oder Simmel stammen, sondern vor allem die Anfänge des gesamten Passagen-Projekts maßgeblich mitinitiiert haben.75 Hessels Buch Spazieren in Berlin. Beobachtungen aus dem Jahr 1929 führt auch ein Kapitel »Von der Mode«. Es beginnt mit den ›Annoncen‹, welche jedoch in der Mehrzahl von Hauswänden und Fenstern in die vielfältige Landschaft der Tageszeitungen abgewandert sind. Aufgrund solcher Anzeigen sucht Hessel die Modeateliers und Schneiderwerkstätten in den Hinterhöfen Berlins auf. Das »Begehren« des Kaufens und Anprobierens, die »Suggestion« der Verkäuferinnen zieht die in der Regel weibliche kaufwillige Kundschaft zwar in ihren »Bannkreis«, nichtsdestoweniger herrscht zumindest bezüglich der Warenhäuser in der Fülle des Angebots auch eine erstaunliche Ordnung.76 Hessel konstatiert: »Berlins große Warenhäuser sind nicht verwirrende Basare bedrängender Überfülle, sondern übersichtliche Schauplätze großer Organisation.«77 Solche Aussagen dürften Benjamin in der Annahme bestärkt haben, dass die temporeiche Modernisierung nicht primär Entbehrungen bereithält, sondern dass sich die aufgesprengten Glieder dynastischer Ordnung auch zu neuen Rahmungen und Gewalten zusammenführen lassen und eben darin ›Schauplätze großer Organisation‹ werden.   Eine im Kontext der Garten-Problematik spannende Wendung nimmt Hessels metropolitane Mode-Analyse, wenn er das Treiben eines der »berühmtesten Modehäuser von Berlin«78 untersucht. Dessen Zentrale befinde sich nicht in der Leipziger Straße oder der Friedrichstraße, sondern diene eher als der »hinausgeschobene Vorposten der Mode«79 am Rande des Tiergartens. Hessel vermerkt: »Die Mode wohnt – im Gartenhaus.«80   In diesem ›Gartenhaus‹ herrschen routiniert großbürgerliche Verkehrsformen. Gepflegte Autos rollen in die ebenso gepflegten Vorgärten des Modeunternehmers, der Chauffeur geleitet die »gnädige Frau« aus der Limousine: »Von den Verkäuferinnen wird sie so devot empfangen, als wären die Wellen der absoluten Monarchie noch nicht verebbt. An Rokokosesseln vorbei wird sie über geblümte Teppiche in den Salon geleitet, der Chef eilt herbei, der small talk, Wet75 

76  77  78  79  80 

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Zur Zusammenarbeit Hessels und Benjamins, aus der eigentlich Ende der 1920er Jahre ein gemeinsamer Aufsatz entstehen sollte vgl. Skrandies, Timo: »Moderne Grenzüberschreitungen. Benjamins Passagen-Räume«, in: Borsò, Vittoria; Goerling, Reinhold (Hg.): Kulturelle Topografien, Stuttgart/Weimar 2004, S. 327–346, S. 340. Hessel, Franz: Spazieren in Berlin. Beobachtungen im Jahr 1929, Berlin 1979, S. 29f. Ebd., S. 30. Ebd., S. 31. Ebd. Ebd., S. 32.

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ter, Reise, Gesundheit wird erledigt, während die Mannequins ihren Wandel vor der Kundin antreten. Meist macht der Chef einen unzufriedenen Eindruck, er zupft an Schleifen, gibt einem Gürtel neues Arrangement, wiegt bedenklich den Kopf.«81

Der von Simmel noch so bedauerte Auszug aus dem eigenen Haus findet – hierin den Bestrebungen der Lebensreform ähnlich – sein Ziel im ›Gartenhaus‹. Eine große Berliner Modefirma ist jedoch nun bei Hessel Schauplatz einer geradezu ›monarchisch‹ anmutenden Szenerie. Wie ein kleiner Staatsgast erhält die ›gnädige Frau‹ Aufmerksamkeiten der weiblichen Verkäuferinnen und des männlichen Chefs; die persönliche Ansprache orientiert sich an konversationellen Topoi. Doch ein Ausdruck erscheint besonders bemerkenswert in der Schilderung dieses Verkaufsvorganges. Nicht nur, dass jede Besucherin im Prinzip ihre eigene kleine Modenschau erhält, die Mannequins treten ihren ›Wandel‹ vor der Kundin an.

Dressuren Dieses gewaltige Wort des Wandels an der so banalen Stelle des Wechsels von einem Modekostüm ins nächste allegorisiert eindringlich den geschichtspraktischen ›Sprengstoff, der in der Mode liegt‹. Die surrealistische ›Order‹ suchte den Schauplatz der Straße, ›dynamisierte‹ die Aristokratie in geradezu anarchischer Weise. Hier hingegen wird unter dem bedächtigen Blick des männlichen Chefs ›Wandel‹ vollzogen. Ist Säkularisierung tatsächlich so einfach?   Giorgio Agamben würde dies bejahen, denn für ihn wiederholt sich die Inszenierung des biblischen Gnadenkleides in jeder Modenschau. Er rekurriert dabei auf ein photographisches Diptychon Helmut Newtons, welches 1981 in der Vogue erschien. Dargestellt sind vier Frauen, die im Stile einer Modenschau lediglich mit Pumps bekleidet voranschreiten. Im nebenstehenden Bild erscheinen dieselben Frauen in denselben Posen – nur jetzt in perfekter modischer Umhüllung. Agamben erkennt darin eine Wiederbelebung der ›Theologie des Kleides‹ (Agamben nach Peterson), d.h., er sieht keinen Unterschied zwischen der ›ursprünglichen‹, gottgegebenen Nacktheit und der Bekleidung der Frauen. »Es gibt nur noch das Kleid der Mode, das heißt ein unauflösbares Gewebe aus Fleisch und Stoff, Natur und Gnade. Die Mode ist der profane Erbe der Theologie des Kleides, die marktgängige Säkularisierung des paradiesischen Zustands vor dem Fall.«82 81  Ebd. 82  Agamben, »Nacktheit«, S. 132.

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Sicherlich gäbe es die Möglichkeit, hier mit Überlegungen über die Erkennbarkeit eines Ereignisses anzuknüpfen, wie Agamben dies mit dem Hinweis auf die »Inhaltslosigkeit der ersten Erkenntnis«,83 also des Sündenfalls, tut. Jedoch wäre zunächst der Einspruch Benjamins gegen die zu einfache Übertragung der Theokratie auf die Politik zu annoncieren. Für Benjamin versinnbildlicht sich diese Unübertragbarkeit am Moment des Messianischen. »Darum kann die Ordnung des Profanen nicht am Gedenken des Gottesreiches aufgebaut werden, darum hat die Theokratie keinen politischen sondern allein einen religiösen Sinn. Die politische Bedeutung der Theokratie mit aller Intensität geleugnet zu haben ist das größte Verdienst von Blochs ›Geist der Utopie‹.«84

Benjamin formuliert damit als ›Ende‹ des heilsgeschichtlich-historistischen Gnadenkleides, welches sich selbst stets als Ziel und Telos visioniert, einen Raum des Politischen. Das Politische besitzt in Benjamins Sinne eine andere Dynamis, welche durch Dynamit, Drehtüren und Huren neue Energien und ›Leibräume‹ erzeugt. Benjamin wünscht sich daher eine neue Endlichkeit des natürlich-begnadeten Menschen als »totale[ ] Vergängnis«.85 In der Möglichkeit dieses Endes liegt die Basis einer anderen historischen und historiographischen Metrik. Die differenzielle Metrik wird dabei sichtbar als der berühmte ›Tigersprung ins Vergangene‹. Dieser Tigersprung erhält sein Gelenk z.B. durch das Zitat. »Die französische Revolution verstand sich als ein wiedergekehrtes Rom. Sie zitierte das alte Rom genau wie die Mode eine vergangene Tracht zitiert.«86 Im Zitat87 liegt damit eine emblematische Potenz, wenn sich der be-trachtende Körper eine Sichtbarkeit, einen Auftritt verschaffen kann. Zur Zeit der Französischen Revolution wäre dies klassischerweise jede Form der Bühne. Jedoch im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gibt es unzählige weitere Orte für Auftrittsmöglichkeiten, beispielsweise das ›Gartenhaus‹ eines Berliner Modeunternehmens, in dem sich die bürgerliche Aristokratie mit den aktuellen modischen Emblemen ›versorgt‹. Daher wählt Benjamin auch bewusst einen anderen Ort,

83  84 

Ebd., S. 133. Benjamin, Walter: »Theologisch-politisches Fragment«, in: ders.: Ausgewählte Schriften. Illuminationen, 1. Bd., hg.v. Siegfried Unseld, Frankfurt a.M. 1977, S. 262–263, S. 262. 85  Ebd. 86  Benjamin, Walter: »Über den Begriff der Geschichte«, in: ders.: Ausgewählte Schriften. Illuminationen, 1. Bd., hg.v. Siegfried Unseld, Frankfurt a.M. 1977, S. 251–261, S. 258f. 87  Zur Praktik und Performativität des Zitats vgl. Metz, Bernhard; Zubarik, Sabine (Hg.): Am Rande bemerkt. Anmerkungspraktiken in literarischen Texten, Berlin 2009; zum Zitieren als paradigmatischem Fall des Erinnerns vgl. Menke, Bettine: »Zitat, Zitierbarkeit, Zitierfähigkeit«, in: Pantenburg,Volker; Plath, Nils (Hg.): Anführen –Vorführen – Aufführen.Texte zum Zitieren, Bielefeld 2002, S. 273–280.

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um zu verdeutlichen, wie und wo der ›Tigersprung ins Vergangene‹ funktionieren könnte: Es ist die Zirkusarena. »Die Mode hat die Witterung für das Aktuelle, wo immer es sich im Dickicht des Einst bewegt. Sie ist der Tigersprung ins Vergangene. Nur findet er in einer Arena statt, in der die herrschende Klasse kommandiert. Derselbe Sprung unter dem freien Himmel der Geschichte ist der dialektische als den Marx die Revolution begriffen hat.«88

Der ›springende‹ Punkt im wahrsten Sinne des Wortes besteht darin, dass der Tiger nur deshalb springt, weil er gezähmt ist. Er ist abgerichtet, um im Rahmen des ›Systems Zirkus‹ zu funktionieren. Um noch deutlicher zu werden, er ist ›dressiert‹ durch den Dompteur, welchen Benjamin hier als die ›herrschende Klasse‹ adressiert. Daher benötige der Tigersprung eigentlich den ›freien Himmel der Geschichte‹, um das historische Intervall, nun im politischen Sinne, tatsächlich zu formieren. Nun wird deutlich, warum der Ausdruck des ›Wandels‹ in Bezug auf die Tätigkeit der Mannequins im Modehaus so prekär ist. Denn auch die Damen dort wandeln nicht unter dem ›freien Himmel der Geschichte‹, stattdessen sind sie ebenso ›dressiert‹ wie die Tiger der Zirkusarena.   In dieser Dressur unterstehen sie auch einem spezifischen Regime der Verwandlung, welches kaum je besser analysiert worden ist als von Elias Canetti. In seinem Ansatz gelingt die Organisation von Macht durch Lenkung von Identitäten, welche unterschiedlichen Modi der Verwandlung unterliegen. Die Macht des modernen Menschen instituiert sich beispielsweise in der statischen Identität des ›Nichtverwandlers‹. In der Diktion von Deleuze/Guattari, welche die Verwandlungsformen des Lebendigen als spinozistische Naturgeschichte beschreiben, wäre dies ein »Tier-Werden«.89 Man mag sich Szenarien vom lebensreformerischen Monte Veritá oder auf groteske Art auch von Thomas Manns Zauberberg vorstellen, wenn Canetti schreibt: »Der Nichtverwandler ist auf eine bestimmte Höhe, an einen bestimmten Ort gesetzt, der genau umgrenzt und unveränderlich ist. Er darf von seiner Höhe nicht herabsteigen, er darf niemand entgegenkommen, er ›vergibt sich nichts‹, wohl aber kann er andere erheben, indem er sie zu dieser oder jener Stellung ernennt.«90

88  89 

Benjamin, »Über den Begriff der Geschichte«, S. 259. Deleuze, Gille; Guattari, Felix: Tausend Plateaus, übers.v. Gabriele Ricke, Ronald Voullié, Berlin 1992, S. 317–422. 90  Canetti, Elias: Masse und Macht, 2. Bd., Regensburg 1960, S. 122.

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Eine besondere Rolle spielt dabei das Tier; es ist – auch in der Moderne – der ›Maßstab‹ für die Möglichkeit der Verwandlung von Lebewesen.91 Die Sklaverei basiert auf dem Prinzip, Menschen zu Tieren zu machen und ihnen damit jeden Verwandlungsspielraum zu nehmen. Als hätte Canetti Benjamins TigersprungSzenario vor Augen, beschreibt er umgekehrt die Verwandlung von Tieren in Menschen. Er sieht hierin »großartige geistige Gebilde, wie die Lehre von der Metempsychose oder der Darwinismus […], aber auch populäre Belustigungen wie das Zurschaustellen dressierter Tiere«.92 Besonders ergiebig wäre jedoch im gegebenen Kontext Canettis Ausdruck vom ›Verwandlungshaushalt‹. Hiermit unterscheidet er in ähnlicher Weise wie Deleuze/Guattari spezifische Modi der Individuation, welche bei einem Hund oder einem Sklaven eine kategorial andere sei als beim Kind. »Nahrung und Befehl haben also für den Hund wie für den Sklaven eine Quelle, den Herrn, und insofern ist der Vergleich ihres Status mit dem der Kinder nicht ganz unangebracht. Was sie aber von diesen wesentlich unterscheidet, hängt mit dem Verwandlungshaushalt zusammen. Das Kind übt sich in allen Verwandlungen, die es später brauchen könnte. Bei seinen Übungen gehen ihm die Eltern an die Hand und regen es mit neuem Requisit zu immer neuen Spielen an. Das Kind wächst in viele Richtungen, und wenn es seine Verwandlungen gemeistert hat, wird es zum Lohn in einen höheren Stand aufgenommen.«93

Canetti nimmt hier einen Weg, der Benjamin durchaus entgegengekommen wäre. Er schildert die zivilisatorische Genesis des kindlichen Menschen als Mythologie.94 Ein Haushalt der Verwandlung impliziert gleichermaßen die »Arbeit«95 an einem Lebensweg, der temporal als Entwicklung verstanden wird, der jedoch nicht ohne eine gewisse ›Haus-Ordnung‹ vollzogen werden kann. Denn auch das Kind ist Teil von Benjamins Mode-Überlegungen: »Ferner zur Mode: was das Kind (und in der schwachen Erinnerung der Mann) in den alten Kleidfalten findet, in die es, wenn es am Rockschoß der Mutter sich festhält, sich zwängte.«96

91  Aus der aktuell enormen Zahl an kulturwissenschaftlichen Tier-Studien sei herausgegriffen Bühler, Benjamin; Rieger, Stefan: Vom Übertier. Ein Bestiarium des Wissens, Frankfurt a.M. 2006. 92  Canetti, Masse und Macht, S. 124. 93  Ebd., S. 123. 94  Benjamins Anspielungen auf die Mythologie des Fortschritts sind zahlreich, besonders im »Konvolut N«. Vgl. Benjamin, Walter: »Erkenntnistheoretisches, Theorie des Fortschritts«, in: ders., Das PassagenWerk, 1. Teil, S. 570–611. 95  Vgl. Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos, Frankfurt a.M. 2006. 96  Benjamin, Das Passagen-Werk, 2. Teil, S. 1015.

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Die erwachsene, allen falschen Verirrungen und Verwandlungen getrotzte Version des Lebensweges erstünde wohl im Chef des Modehauses, der sich aus der sichernden mütterlichen Falte entwunden hat, um nun mit kritisch-bedenklicher Miene die Falten und Schleifen der Haute-Couture-Kleider zu ordnen. Zieht man das Anfangszitat von der Rüsche im Kleid als Ewigkeit zu Rate, so wird deutlich, dass sich in diesen Rüschen und Falten eine »Applikation der gesellschaftlichen Axiomatik«97 zeigt. Die nur mühsam menschlich gewordene Seele imaginiert sich ihre Ewigkeit in der Naturbeherrschung floraler KleiderOrnamentik. Die Jugendlichkeit menschlicher Gattung wäre damit auch in der Haute-Couture der 1920er Jahre firmiert und geradezu geschichtsphilosophisch verwurzelt. In der Unfähigkeit, den Tod zu metrisieren und zu surrealisieren, die Zeugung zu veräußern und die Gärten zu kollektivieren, erhält der erwachsene Mensch im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts eine seelisch-theologische Ordnung. Im Sinne einer benjaminschen profanen ›totalen Vergängnis‹ dagegen wäre eine animalische und damit revolutionäre Natur am Werke. Diese durchaus technologisch zu nennende Umwertung menschlicher Natur wäre Re-Animation.   Auch Benjamin lässt die Kindheiten und verdrängten Geborgenheiten bekanntlich in aller Emphase wiederkehren, jedoch benötigt er dazu kein ›theologisches Kleid‹ mehr.98 Dies ist der Unterschied zu Agamben, welcher das theologische Dispositiv bis in die heutige Zeit unter dem Signum der Mode am Werk sieht. Die von Agamben benannten Re-Inszenierungen dieses theologischen Kleides sind keine Re-Animationen, sie sind Animationen, da der theologische GnadenSeelenhaushalt nie infrage gestellt wird. Nichtsdestoweniger ist zu konzedieren, dass Agamben im Insistieren auf der ›Inhaltslosigkeit der ersten Erkenntnis‹, also der Nacktheit von Adam und Eva, einen kritischen Punkt benennt. Denn wenn der ›Auszug aus dem Paradies‹ tatsächlich über alle Jahrhunderte hinweg ›immer derselbe‹ wäre, so hätte dies tiefgreifende Auswirkungen auf die Möglichkeiten des Modern-Seins. Unter diesen Vorzeichen wäre Mode – insbesondere als politisch-revolutionäre Kraft der Geschichte – kaum möglich. Mit dem Paradies als Widerlager wäre kein Ort je modern.   Es liegt nahe, der profanen Historizität Benjamins und der damit verbundenen Konzeption von Mode die Valenz sozialer Fügung zu unterstellen. »Die Mode. Eine Art Wettrennen um den ersten Platz in der gesellschaftlichen Schöpfung. Das Rennen wird jeden Augenblick von neuem gelaufen. Gegensatz von Mode 97  98 

Deleuze, Gilles; Guattari, Felix: Anti-Ödipus, Frankfurt a. M. 1974, S. 341. Zum Sprachproblem paradiesischer Zeitlosigkeit vgl. Weigel, Sigrid: »Die Kreatur und das Heilige. Benjamins Umgang mit Säkularisierung«, in: dies.: Walter Benjamin. Die Kreatur, das Heilige, die Bilder, Frankfurt a.M. 2008, S. 27–56, z.B. S. 36.

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und Uniform.«99 Wenn es bei der Mode also tatsächlich um ›gesellschaftliche Schöpfung‹ geht, so müsste man anhand benjaminscher Kulturphysiognomik einen prinzipiellen Gegensatz erblicken. Im Widerstreit zwischen seelegewordener, ewigjugendlich-zivilisierter Menschennatur und einer käuflichen, äußerlich-tierischen Vergänglichkeit um 1900 liegt ein technologisch bzw. architektonisch zu nennender Sprung, vielleicht der entscheidende ›Tigersprung in die Vergangenheit‹. Dass der Mensch jedoch je seine ›natürliche‹ Uniform ablegt und damit auf dieses kleine, mühsame Stück Seele verzichtet, steht zu bezweifeln.

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Benjamin, Das Passagen-Werk, 2. Teil, S. 1036.

Martin Hense

Überlegungen zur Re‑Animation von Körpern, Ideen und Geschichte als Denkfigur um 1800 »Wir denken in einer Sprac he, die unsre Vorfahren erfunden […] und uns damit den edelsten Teil ihres Daseins, ihr innerstes Gemüt, ihre erworbnen Gedankenschätze huldreich vermachten. […] Dies ist das unsichtbare verborgne Medium, also daß wir in diesem bindenden Medium auf die Unsern, auf andre, auf die Nachkommenschaft for twirken müssen, und wirken werden. […] Dies ist das unsichtbare, magische Band […]; eine ewige Mitteilung der Eigenschaften, eine Palingenesie und Metempsychose ehemals eigner, jetzt fremder, ehemals fremder, jetzt eigner Gedanken, Gemütsneigungen und Triebe. Wir glauben allein zu sein und sinds nie: wir sind mit uns selbst nicht allein; die Geister andrer […] wirken in uns.«1

I.

D

ieser Beitrag will versuchen, das Verhältnis von Medien und Geschichte bzw. von Mediengeschichte und Geschichtsmedien über die historische Relation dieses Verhältnisses zu Konzepten der Wiedergeburt und der Seelenwanderung näher zu bestimmen. Versteht man ›Re-Animation‹, ›Medien‹ und ›Geschichte‹ als Kategorien, Begriffe oder Konzepte, die sich erst im Verlauf der Geschichte in wandelnden Konstellationen zueinander und zu anderen Kategorien, Praktiken und Techniken dynamisch entwickelt haben, dann sollte das Potenzial der Trias aus Re-Animations‑, Medien- und Geschichtsbegriffen u.a. dann sichtbar werden, wenn man die konkreten Verhältnisse dieser spezifischen Konstellation zu einem historisch früheren Zeitpunkt untersucht. Der Beitrag geht daher von dem Befund aus, dass Seelenwanderungs- und Wieder-

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Herder, Johann Gottfried: »Über die menschliche Unsterblichkeit. Eine Vorlesung«, in: ders.: Werke in zehn Bänden, 8. Bd., hg.v. Hans Dietrich Irmscher, Frankfurt a.M. 1998, S. 203–219, S. 207ff.

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Martin Hense

geburtsbegriffe im 18. Jahrhundert zu einer plötzlichen Popularität gelangen, und zwar gerade in bildungsbürgerlichen und aufklärerischen Kreisen und in unterschiedlichsten wissenschaftlichen Debatten, die von Theologie, Naturphilosophie und Anthropologie bis zur Ästhetik reichen – und dass diese populären Begriffe dort unterschiedlichste periodische Prozesse und Verhältnisse verhandeln, die von der Wiederverkörperung eines Seelischen oder Geistigen (metempsychosis) und der Wiederbeseelung des Körpers (metensomatosis) bis zur Wiedergeburt seelischer und körperlicher Zusammenhänge (palingenesia) reichen.2 In der Forschung zur Seelenwanderungsidee wird deren wachsende Bedeutung im 18. Jahrhundert weitestgehend mit einem Wandel der Glaubensvorstellungen begründet;3 aus einer wissensgeschichtlichen Perspektive zielen die positiv verwendeten Seelenwanderungsbegriffe aber überraschend häufig auf die Beschreibung irdischer Übertragungs- und Vererbungsvorgänge in Kultur und Natur, und sie beschränken sich keineswegs auf eine metaphysische Trennung von Seele und Körper. Geht man diesem Befund weiter nach, dann ergibt sich, dass die plötzliche Popularität der Seelenwanderung im 18. Jahrhundert keineswegs als ein bloß religionsgeschichtliches Ereignis betrachtet werden darf; sie steht vielmehr in einem direkten Zusammenhang mit der Naturalisierung von Zeugungs- und Vererbungsvorstellungen, mit Reflexionen über die Verzeitlichung und Dynamisierung der Natur, mit frühen geschichtsphilosophischen Modellen und nicht zuletzt mit Auseinandersetzungen um die rasch zunehmende Publikation und Zirkulation von Schriften und neuen Ideen, Erkenntnissen und Konzepten. So beschreibt der Zoologe Charles Bonnet 1769 die Möglichkeit einer naturgeschichtlichen Evolution und »Palingenesie […] lebender Wesen«4 auf der Stufenleiter der Natur, bei der Affen irgendwann den Platz der Menschen einnehmen und Menschen den Platz der Engelwesen; Johann Gottfried Herder spricht von einer »Metempsychosis der Ode« und einer »Metempsychose der

2  Die Ergebnisse dieses Beitrags gehen aus dem laufenden und von der DFG geförderten wissens- und diskursgeschichtlichen Forschungsprojekt »Seelenwanderung und literarische Kommunikation. Konjunkturen einer Denkfigur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert« unter der Leitung von Prof. Dr. Jutta MüllerTamm an der Freien Universität Berlin hervor. 3  Vgl. z.B. Obst, Helmut: Reinkarnation. Weltgeschichte einer Idee, München 2009, S.  111–153; Mulsow, Martin: »Vernünftige Metempsychosis. Über Monadenlehre, Esoterik und geheime Aufklärungsgesellschaften im 18. Jahrhundert«, in: Neugebauer-Wölk, Monika (Hg.): Aufklärung und Esoterik. Akten der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts, Hamburg 1999, S.  211–273; Zander, Helmut: Geschichte der Seelenwanderung in Europa. Alternative religiöse Traditionen von der Antike bis heute, Darmstadt 1999, S. 343–388. 4  Bonnet, Charles: Philosophische Palingenesie. Oder Gedanken über den vergangenen und künftigen Zustand lebender Wesen, hg.v. Johann Caspar Lavater, Zürich 1769‑1770, Titelseite.

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Sprachen«,5 wenn er die von ihm untersuchte Weitergabe und Transformation dieser Objekte auf ihrem Weg durch die Völker und die Zeiten auf einen Begriff bringen will; und auch Jean Paul greift auf den Seelenwanderungsbegriff zurück, um eine historische Entwicklung der Semantik von Wörtern zu beschreiben: »[W]as ist denn in diesen durch Zeiten seelenwandernden Wörtern noch von der alten historischen Sprach-Bedeutung übrig?«6   Derlei Palingenesie- und Metempsychosebegriffe im 18. Jahrhundert repräsentieren keinesfalls etwa ein gleichbleibendes Inneres bei einem sich wandelnden Äußeren. Sie beschreiben radikale, die Substanz betreffende Verwandlungsprozesse hinsichtlich verschiedenster Dinge und Phänomene und sind zugleich ein Versuch, hierin trotzdem eine Kontinuität zu bewahren, indem die Transformationsschritte nachvollzogen und gesetzmäßig begründet werden. In Anbetracht einer sich rasch verändernden Welt liegt die Funktion der Seelenwanderungsfiguren offenbar darin, neue, dynamische Ordnungsstrukturen und Nachhaltigkeitsprinzipien anbieten zu können; es geht darum, einerseits Übertragung und Kontinuität, andererseits aber nun auch Diversität und Fortentwicklung miteinander vereinbar und beides als natur- und geschichtsinhärentes Prinzip denkbar und beschreibbar zu machen.   In den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit bringt Herder genau diese epistemologische Problemlage zum Ausdruck – eine sich rapide verändernde, vergängliche Welt und das Bemühen um Ordnung in dieser Veränderung: »Grausenvoll ist der Anblick, in den Revolutionen der Erde nur Trümmer auf Trümmern zu sehen, ewige Anfänge ohne Ende, Umwälzungen des Schicksals ohne dauernde Absicht! Die Kette der Bildung alleine macht aus diesen Trümmern ein Ganzes, in welchem zwar Menschengestalten verschwinden, aber der Menschengeist unsterblich und fortwirkend lebet. […] Goldene Kette der Bildung also, du, die die Erde umschlingt und durch alle Individuen bis zum Thron der Vorsehung reichet: seitdem ich dich ersah und in deinen schönsten Gliedern […] verfolgte, ist mir die Geschichte nicht mehr […] ein Gräuel der Verwüstung […] Das Maschinenwerk der Revolutionen irret mich also nicht mehr […]. Immer verjüngt in seinen Gestalten, blüht der Genius der Humanität auf und zieht palingenetisch in Völkern, Generationen und Geschlechtern weiter.«7 5 

Herder, Johann Gottfried: »Fragmente einer Abhandlung über die Ode«, in: ders.: Werke in zehn Bänden, 1. Bd., hg.v. Ulrich Gaier, Frankfurt a.M. 1985, S. 77–96, S. 79; ders.: »Über die neuere deutsche Literatur. Erste Sammlung von Fragmenten. Eine Beilage zu den Briefen, die neueste Literatur betreffend«, in: ebd., S. 161–259, S. 186. 6  Jean Paul: »Kleine Bücherschau«, in: ders.: Sämtliche Werke, Abt. II, 3. Bd., hg.v. Norbert Miller, München 1978, S. 619–765, S. 700. 7  Herder, Johann Gottfried: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: ders.: Werke in zehn Bänden, 6. Bd., hg.v. Martin Bollacher, Frankfurt a.M. 1989, S. 343–345.

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Bei dem titelgebenden Versuch einer zuvor noch nicht dagewesenen Überschau der Einzelhistorien in einer singulären Weltgeschichte sieht sich Herder als Historiograph mit ständigen Umwälzungen kosmischer Ausmaße auf der Erde konfrontiert, die jeden Zusammenhang früher oder später auszulöschen scheinen. Demgegenüber konstatiert er die Notwendigkeit eines inneren Regulationsprinzips, das diese scheinbaren Kontingenzen und Brüche zu einem sinnvollen Kontinuum verbindet. Sein ›palingenetisches‹ Prinzip steht für einen ewigen, an der pflanzlichen Natur orientierten Rhythmus aus Werden, Blühen, Vergehen und wieder Blühen bzw. aus Wachstum, Vernichtung und Reanimation, der in seinen Wiederholungen und Variationen die Basis für einen übergreifenden Entwicklungsprozess liefert.8 Dieses palingenetische Regulativ einer diskontinuierlichen Entwicklung bestimmt für Herder sämtliche lebendigen Phänomene in Natur und Kultur: Neben dem Phänomen des »Menschengeist[s]« und der »Humanität«, auf das hin sich für ihn sämtliche Arten der Natur entwickeln, führt er andernorts unter anderem auch das »periodische[ ] Wiederkommen« und die dadurch bedingte Weiterentwicklung »der Künste und Wissenschaften« an, aber auch »die Gesetze […] menschlicher Gedanken, wenn diese aus der Vergessenheit ins Gedächtnis wiederkehren«.9   Dass die Dinge zwar wiederkehren, sich aber ändern, dass insbesondere die menschlichen Gedanken, Kategorien und Repräsentationen von den Dingen sich in ihrer steten Wiederkehr ändern, wird Herder durch sein Studium der Sprachen deutlich. Menschheitsgeschichte kann für ihn nicht anders als in Form einer Sprachgeschichte geschrieben werden, die zugleich Ideen- und Bewusstseinsgeschichte ist.10 Diese ›palingenetische‹ Verankerung der menschlichen Erkenntnisleistungen in Sprache und Geschichte schlägt sich exemplarisch in dem eingangs zitierten Motto nieder, wonach Sprache bzw. allgemeiner die menschliche Kommunikation das konstitutive Medium ist, in dem sich vergangenes Denken und Handeln immer gestaltend auf die Gegenwart und die 8 

Nach Rudolf Unger repräsentiert der Palingenesiegedanke bei Herder eine »Überwindung des Zeitlichen und Vergänglichen durch das im Menschenwesen keimhaft angelegte Überzeitliche und Unvergängliche«. Unger, Rudolf: »Herder und der Palingenesie-Gedanke«, in: ders.: Herder, Novalis und Kleist. Studien über die Entwicklung des Todesproblems in Denken und Dichten vom Sturm und Drang zur Romantik, Frankfurt a.M. 1922, S. 1–23, S. 23. 9  Herder, Johann Gottfried: »Tithon und Aurora«, in: ders.: Werke in zehn Bänden, 8. Bd., hg.v. Hans Dietrich Irmscher, Frankfurt a.M. 1998, S. 221–239, S. 228. 10  Vgl. Garber, Jörn: »Fiktion – Geschichte – Recht. Die Historiographie der deutschen Spätaufklärung zwischen Poetik, Recht und allgemeiner Kulturgeschichte«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 31/1 (2006), S. 150–176, S. 154; Herder, Johann Gottfried: »Abhandlung über den Ursprung der Sprache«, in: ders.: Werke in zehn Bänden, 1. Bd., hg.v. Ulrich Gaier, Frankfurt a.M. 1985, S. 695–810.

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Zukunft auswirken. Unsere Gedanken, Neigungen und Triebe sind niemals genuin unsere eigenen Gedanken, sondern immer schon angeeignete und wiederbelebte, fremde Gedanken in einer neuen, aktualisierten Gestalt, heißt es dort unter Rückgriff auf Seelenwanderungs- und Palingenesiebegriffe.   Während der Terminus der Palingenesie für sich eher auf die Phasen der inneren Erneuerung von Dingen abzielt, heben die (bei Herder wie auch bei anderen Autoren) kaum beachteten Seelenwanderungstermini gerade den Austausch von Einzeldingen mit ihrer jeweiligen medialen Umwelt und die dadurch bedingte Verwandlungsgeschichte hervor: Die Seelenwanderungsfigur bezieht sich dann auf den Prozess der kontinuierlichen Übertragung, Aneignung und Weitervererbung von Eigenschaften im Wechsel der Lebensräume und Kontexte, welcher überhaupt erst die Voraussetzung für die Erhaltung, Erneuerung und Weiterentwicklung aller Einzeldinge ist. Diese Annahme eines palingenetischen Prinzips der geschichtlichen Fortentwicklung aller natürlichen und kultürlichen Dinge, die Annahme einer »ewige[n] Mitteilung der Eigenschaften, […] Palingenesie und Metempsychose […] ehemals fremder, jetzt eigner Gedanken, Gemütsneigungen und Triebe«11 bedeutet für Herder und viele weitere Autoren auch, dass die so bezeichneten Zusammenhänge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht bloß als Gesetze statuiert, sondern in ihrer individuellen Wirkung an Einzelphänomenen nachvollzogen werden müssen. Erst dieser retrospektive Nachvollzug einzelner Entwicklungsprozesse im Sinne von Metempsychosen und Palingenesien erlaubt es demnach, gegenwärtige Phänomene in ihrem historischen Vorhandensein zu verstehen und sie nicht als isoliert gegeben zu betrachten.12 Auf Seiten der geistigen Aneignungsarbeit, der Rezeption, kann eine echte Höherentwicklung der Menschheit für Herder denn auch nicht durch das Memorieren toter Lebensdaten und Anekdoten gelingen (und also durch eine restauratio), sondern nur durch den gleichermaßen rational erkannten wie empfundenen Nachvollzug des historischen Bedeutungswandels im Historiker, der diese alten Kategorien, Sichtweisen und Zusammenhänge lebendig wiederauferstehen lässt.13 Dazu entwickelt er eine neue, philologisch 11  Herder, »Über die menschliche Unsterblichkeit«, S. 209. 12  Claus Uhlig verfolgt das palingenetische Geschichtsdenken ausgehend von Herder bis in das 20. Jahrhundert und versteht darunter den Widerpart zu ›präsentistischen‹ Konzepten, die Geschichte allein als eine Aktualisierung der Gegenwart und des angeblich Modernen ohne historisierende Perspektive auffassen: »[T]he term palingenesis is thus the classical expression for the return of the past in the present«, und es sei »an interdependence of present and past […] the term palingenesis wants to denote in principle«. Uhlig, Claus: »Literature as Textual Palingenesis. On Some Principles of Literary History«, in: New Literary History 16/3 (1985), S. 481–513, S. 484, S. 488. 13  Vgl. Herder, Johann Gottfried: »Über Thomas Abbts Schriften. Der Torso von einem Denkmal, an seinem Grabe errichtet. Erstes Stück«, in: ders.: Werke in zehn Bänden, 2. Bd., hg.v. Gunter E. Grimm,

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angeleitete, individualpsychologische Methode der Geschichtsschreibung, die den Geist eines Autors bzw. eines Volkes in seinen spezifischen Denk- und Empfindungseigenheiten aus den hinterlassenen Texten zu extrahieren, zu bewahren und weiterzugeben sucht. Jene Begrifflichkeiten wie von der ›Metempsychosis der Ode‹ und der ›Metempsychose der Sprachen‹ bei Herder sowie von den ›seelenwandernden Wörtern‹ bei Jean Paul stehen dabei exemplarisch für den Versuch, die inhaltliche und formale Entwicklung dieser Phänomene in ihrem historischen Vererbungsgang durch die Völker zu begreifen und zu beschreiben – wobei sie gerade davon ausgehen, dass dabei spezifische Empfindungs- und Denkweisen der jeweiligen kollektiven Subjekte und der sie umgebenden Natur in die untersuchten Phänomene eingehen, transformiert erhalten bleiben und teilweise verloren gehen: bei Herder beispielsweise von den noch äußerst sinnlichen und leidenschaftlichen südlichen Völkern zu den zunehmend vergeistigten, rationalen und kühlen Völkern im Norden.14 In Bezug auf die gelungene Kommunikation zwischen einzelnen Subjekten, in der Gedanken selbständig in anderen Subjekten weiterleben, ist bei Jean Paul an anderen Orten auch allgemeiner von einer »Seelenwanderung ihrer Ideen« die Rede.15 Und Bonnet ist auf einer dezidierter naturgeschichtlichen Seite ebenfalls bemüht, eine allmähliche Höherentwicklung und »Palingenesie« aller Geschöpfe auf der scala naturae denkbar zu machen, die auf einem unvergänglichen und generationenübergreifenden Modifikations- und Reproduktionsgedächtnis aller Lebewesen basieren soll.16   Im Hinblick auf diese medialen Aspekte der Seelenwanderungsfigur – welche das notwendig diachrone und synchrone Bestimmtsein aller Phänomene durch ihre Umgebung betonen, anstatt von einem isolierten und substanziellen Fürsichbestehen auszugehen – lässt sich die eingangs mit Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit veranschaulichte epistemologische Krisensituation im 18. Jahrhundert auch als eine Situation erhöhter Mediennutzung und erhöhter Medienaufmerksamkeit bezeichnen: Von der Verzeitlichung der Natur(en) bis zur Zirkulation von Schriften und Ideen geraten historisch bereits gewisse mediale Strukturen in den Blick, die als konstitutiv für die wesenhafte Veränderung von Bedeutungen, Konzepten und Kategorien verstanden werden. Frankfurt a.M. 1993, S. 565–608, S. 569ff. 14  Vgl. Herder, »Abhandlung über die Ode«, S.  79–83; ders., »Über die neuere deutsche Literatur«, S. 181–186; Jean Paul, »Kleine Bücherschau«, S. 697–701. 15  Jean Paul: »Titan«, in: ders.: Werke, Abt.  I, 3.  Bd., hg.v. Norbert Miller, München 1966, S.  7–830, S. 233; vgl. auch die Rede von der »Seelenwanderung seiner Gedanken« in: ders.: »Flegeljahre«, in: ders.: Werke, 2. Bd., hg.v. Gustav Lohmann, München 1959, S. 567–1065, S. 735. 16  Vgl. Bonnet, Philosophische Palingenesie, 1. Bd., Zürich 1770, S. 211–214, S. 228ff.

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Erst wenn sich eine allgemeine Auffassung davon durchsetzt, dass die Geschöpfe zusammen mit der Veränderung ihrer körperlichen Gestalt auch ihr innerstes Wesen (auf der Wesensleiter) transformieren (wie bei Bonnet) und dass sich der innere Sinn von Worten, Vorstellungen und Konzepten ebenfalls je nach Umfeld und Verwendung ändert (wie bei Herder und Jean Paul), erst dann kann diese mediale Konstitution der Dinge als eigene Kategorie bewusst werden und einen eigenen Erfahrungs- und Beschreibungsraum erhalten. Historizität und Medialität gehen als epistemologische Konzepte also offenbar wechselweise auseinander hervor: Geschichte ist – zumindest gedacht mit Hilfe der historischen Seelenwanderungsfigur – immer eine Geschichte der Medien, der medialen Re‑Präsentationen und der Einbettung in mediale Kontexte, die ein Objekt während seiner individuellen Entwicklung durchlaufen und durchlebt hat.

II. In Anbetracht dieser sich verändernden Wahrnehmungen stellt sich nun retrospektiv wiederum die Frage, wie es zu solchen epistemologischen Veränderungen kommen konnte? Wie konnten solche neuen Kategorien von dynamischen Natur- und Kulturgeschichte(n) entstehen? Und was initialisiert die Vorstellung von Prinzipien der Fortsetzung, Veränderung und Vererbung, die den Dingen selbst inhärent sein sollen? Denn festzustellen ist, dass bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts noch kein ausformuliertes Konzept vorhanden ist, mit dem die Fortpflanzung von Dingen und Lebewesen als eine selbständige Re-Produktion der Natur begriffen und auf entsprechende Gesetzmäßigkeiten zurückgeführt werden kann. Im scholastisch geprägten christlichen Denken sorgt Gott allein für die Erhaltung der Schöpfung und für das Fortbestehen der natürlichen und der kulturellen Ordnung. Die Vorstellung einer natürlich ablaufenden Vererbung, die analog zum juristischen Erbe auch noch nach Generationen und unabhängig von der Anwesenheit des ursprünglichen Erbgebers vollzogen wird, existiert noch nicht.17

17  Auch wenn die gängigen Zeugungstheorien in der Mitte des 18. Jahrhunderts bereits nicht mehr von einem direkten göttlichen Eingreifen ausgehen und die Präexistenz aller Lebewesen in Keimen nahelegen, so sollen diese Urkeime doch allein von Gott zu Beginn der Zeiten erschaffen worden sein. Die Hervorbringung eines neuen Lebewesens wird bis zum Ende der Frühen Neuzeit entsprechend als ein jeweils einzigartiges und für den Menschen kontingentes Ereignis begriffen, zu dem eine Vielzahl äußerer (und nicht den Dingen inhärenter) Faktoren korrekt zusammentreffen müssen: Sternenkonstellationen, richtiger Ort, passendes Klima, ein zweigeschlechtlicher Zeugungsvorgang und weitere lokale Umstände.Vgl. insgesamt Rheinberger, Hans-Jörg; Müller-Wille, Staffan: Vererbung. Geschichte und Kultur eines biologischen Konzepts, Frankfurt a.M. 2009, S. 31–61.

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Vor dem Aufkommen eines naturalistischen oder gar biologischen Modells der Reproduktion existieren zwei Denkfiguren, mit denen eine Wiederherstellung von Organismen nach deren Tode gedacht und unterschiedlich konzipiert werden kann. Zum einen existiert die theologische Vorstellung, dass Gott am Tage des Jüngsten Gerichts für die vollständige Wiederauferstehung der Toten in Leib und Seele Sorge tragen wird. Diesen spekulativen theologischen Wiederherstellungsvorgang bezeichnet auch der Terminus der »Reproduction« bei seinem Entstehen in der Theologie Mitte des 17. Jahrhunderts zunächst noch.18 Erst einhundert Jahre später, 1749, entlehnt ihn dann Georges Buffon für seine berühmte Histoire naturelle und benennt damit die Selbsterhaltungsprinzipien aller organisierten Lebensformen: Der Begriff bezieht sich dabei primär auf das Phänomen der Regeneration von Körperteilen, umfasst aber ausdrücklich auch Nahrungsaufnahme und Wachstum zusammen mit Zeugung und Fortpflanzung.19   Diese Transformation des Wiederauferstehungskonzeptes von einem übernatürlichen und singulären zu einem naturinhärenten und repetitiven Regenerationsprinzip wird allerdings noch von einem anderen Konzept vorbereitet: Alchemisten leiten aus der Entstehung von Pflanzen aus Pflanzenasche und aus der Genese von pflanzenähnlichen Strukturen bei der Kristallisation von Eis und Metallen ab, dass eine sogenannte »Palingenesie«, d.h. eine »Wiederherstellung« oder »Wiederzeugung« von organischen Körpern aus den zuvor aufgelösten, losen Bestandteilen »durch Chymische Kunst« und also auch prinzipiell auf natürlichem Wege möglich ist20 – und bis ins späte 18. Jahrhundert wird 18  Der Reproduktionsterminus wird zum ersten Mal von John Pearson, dem englischen Bischof von Chester, verwendet, als dieser die Wiederauferstehung der Leiber als eine Verwandlung bereits bestehender Teile bzw. als eine Wiederherstellung (›reproduction‹) ehemals existierender Strukturen von einer völligen Neukreation nach einer vollständigen Vernichtung unterscheiden möchte: »The proper Notion of the Resurrection consists in this, that it is a substantial change by which that which was before, and was corrupted, is reproduced the same thing again. It is said to be a change, that it may be distinguished from a second or new creation. For if God should annihilate a man or Angel, and make the same man or Angel out of nothing, though it were a restitution of the same thing, yet were it not properly a resurrection, because it is not a change or proper mutation, but a pure and total production. […] Resurrection implying a reproduction, and that which after it was, never was not, cannot be reproduced.« Pearson, John: An Exposition of the Creed, London 1676, S. 254f. Die zitierte Unterscheidung zwischen der Auferstehung (als Reproduktion ehemals bestehender Teilchen und Strukturen) und der Neukreation ist entscheidend für die historische Nähe zwischen dem Auferstehungsbegriff und dem naturalisierten Palingenesiebegriff, auf die im Folgenden verwiesen wird. Zur Geschichte des Reproduktionsbegriffs vgl. ferner McLaughlin, Peter: What Functions Explain. Function Explanation and Self-reproducing Systems, Cambridge u.a. 2001, S. 173–179. 19  Vgl. McLaughlin, What Functions Explain, S. 177f. 20  »Wiederherstellung Wiederzeugung Palingenesia«, in: Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste, 55. Bd., Leipzig/Halle 1748, Sp. 2097: »Wiederherstellung

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dieser naturalisierte Palingenesiebegriff der Alchemisten daher als mögliche natürliche Erklärung für die künftige Wiederauferstehung der Leiber verwendet. Noch 1795 stellt sich Ernst Friedrich Ockel »die Auferstehung als eine den Gesetzen der Natur analogisch erfolgende Palingenesie«21 vor. Aufgrund der semantischen Schnittstelle zwischen dem Begriff der Auferstehung und dem neuen Begriff der Reproduktion wird der Begriff der Palingenesie zudem gern als Synonym für eine naturinhärente Heilsgeschichte, für eine sukzessive Auferstehung und Entwicklung der gesamten Natur aus sich selbst heraus und mittels in den Dingen enthaltener Regenerationsprinzipien herangezogen. Bonnets ›Philosophische Palingenesie‹ und Herders ›palingenetisches‹ Prinzip machen sich genau diese neue Semantik zwischen Heilsgeschichte und biologischer Reproduktion zu eigen.   Neben dem Palingenesiebegriff ist aber auch die Naturalisierung und Popularisierung der Seelenwanderungsbegriffe eng mit Naturbeobachtungen und ‑modellen aus ursprünglich alchemistischer Perspektive verbunden. Hier finden Seelenwanderungsbegriffe spätestens seit dem 17. Jahrhundert positive Anwendung zur Beschreibung von stoff- und formwechselähnlichen Kreislaufund Regenerationsvorgängen, noch bevor sich der »Stoffwechsel«22 um 1800 als Terminus innerhalb der Physiologie belegen lässt. Ein sehr anschauliches Beispiel bietet ein Text des radikalpietistischen Pfarrers Georg Christoph Brendel aus dem Jahr 1727: »Transmigriren nicht die Kräfften der Vegetabilien durch Speiß und Tranck der Nahrung in die menschlichen und thierischen Leiber / und werden sie nicht allda in menschlich und thierisch Fleisch und Blut verwandelt? […] Summa / es ist die

Wiederzeugung Palingenesia, heisset eine Wiedererweckung oder Hervorbringung einer verbrannten Blume oder Pflanze, aus ihrer Asche, durch Chymische Kunst.« Eine ausführlichere historische Quellensammlung und Beschreibung findet sich bei Dumonchaux, Pierre-Joseph-Antoine: Medicinische Anecdoten, 1. Bd., Frankfurt/Leipzig 1767, S. 146–159. Zum historischen Palingenesiebegriff der Alchemisten im Kontext der genannten Naturbeobachtungen und Experimente vgl. Marx, Jacques: »Alchimie et palingénésie«, in: Isis 62/3 (1971), S. 275–289, S. 276ff. 21  Ockel, Ernst Friedrich: Palingenesie des Menschen nach Vernunft und Schrift, oder dargestellte Uebereinstimung dessen, was beyde über Unsterblichkeit, Auferstehung und den künftigen Lebenszustand lehren, Königsberg/Leipzig 1795, S. 176. Für den Versuch einer natürlichen Erklärung der Auferstehung durch die alchemistische Palingenesie vgl. z.B. Lilienthal, Theodor Christoph: Die gute Sache der in der heiligen Schrift alten und neuen Testaments enthaltenen Göttlichen Offenbarung, wider die Feinde derselben erwiesen und gerettet, 11. Bd. 1. Teil, Königsberg 1764, § 85, S. 231–235. Zum Eingang des Palingenesiebegriffs in die eschatologischen Auferstehungsdebatten des 18. Jahrhunderts aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive vgl. Vidal, Fernando: »Brains, Bodies, Selves, and Science. Anthropologies of Identity and the Resurrection of the Body«, in: Critical Inquiry 28/4 (2002), S. 930–974, S. 948. 22  Schulz, Reinhard: »Stoffwechsel«, in: Ritter, Joachim; Gründer, Karlfried; Gabriel, Gottfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, 10. Bd., Basel 1998, Sp. 190–197, Sp. 190.

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ganze Natur nichts anderst / als eine continuirliche und perpetua Metempsychosis, Transmigratio & Revolutio, […] und zwar nicht nur der Geister und Kräfften/ sondern auch der Leiber selbst.«23

Unter Verwendung von Seelenwanderungsfiguren und -begriffen werden derlei Stoffwechsel- und Assimilationsprozesse bei John Locke und Leibniz um 1700 sogar zu den wesentlichen Voraussetzungen für die Erhaltung und Fortsetzung jedes individuellen Seins erklärt. Nach Locke bewahren alle Lebewesen ihre Identität empiristisch nicht über eine feste Seelen- oder Wesenssubstanz oder einen statischen Körper, sondern über die eigenständige Erneuerung ihrer körperlichen Organisationsstruktur. Durch den steten Austausch ihrer vergänglichen Bestandteile sorgen sie für die beständige Erneuerung bzw. Regeneration ihrer selbst, bis zum Tode.24 Dabei wird das ganze lebendige Selbst, beim Menschen offenbar inklusive Bewusstsein, stets auf die neu hinzukommenden Stoffteilchen übertragen, die nach der Übertragung und Assimilation ebenfalls Teil dieses individuellen Selbst sind, so Locke.25 Nach Leibniz gilt die dynamische Selbsterhaltung von existierenden Strukturen und Funktionen dann sogar als ein metaphysisches Prinzip für alle organisierten Dinge in der Natur, die er metaphysisch als geistige Monaden mit einem entsprechend dynamischen Körper (aus weiteren Monaden) konzipiert. Daher »befinden sich alle Körper in einem immerwährenden Ab- und Zuflusse wie die Ströme, und es treten fortwährend Teile ein und aus«.26 Als Universalprinzip muss sich diese dynamische Erhaltung der Dinge für Leibniz auch nach dem scheinbaren Tod fortsetzen. Jeder Tod ist ihm nur eine radikalere Transformation der individuellen Gestalt, die ihrerseits

23  Polycarpus Chrysostomus [d.i. Georg Christoph Brendel]: »Zueignungs-Schrifft«, in: Christian Democritus [d.i. Johann Konrad Dippel]: Die Kranckheit und Artzney Des Thierisch-Sinnlichen Lebens, übers. v. Polycarpus Chrysostomus, Frankfurt/Leipzig 1727, Zueignung separat paginiert, S. 11–16. Zur Person Brendels vgl. Simon, Matthias: »Georg Christoph Brendel und die Kirche in Thurnau. Ein künstlerisches Denkmal des Pietismus«, in: Zeitschrift für Bayerische Kirchengeschichte 25 (1956), S. 1–39. 24  Vgl. Locke, John: An Essay Concerning Human Understanding, mit einem Vorwort hg.v. Peter H. Nidditch, Oxford 1979, Buch II, Kapitel XXVII, §§ 4–6. 25  Wie es schon bei seiner Definition der Identität eines Lebewesens als sich durch den Austausch der Teile selbst erhaltende strukturelle Einheit wesentlich ist, dass »that [same] Life be communicated to new Particles of Matter« (Locke, Human Understanding, Buch II, Kapitel XXVII, § 4), so spricht Locke im Hinblick auf die personale Identität wiederholt von der analogen Möglichkeit, dass auch »the same consciousness […] [of past Actions] can be tranferr’d from one thinking Substance to another« (ebd., § 13), und zwar bereits innerhalb des Lebens. Er stellt die Frage, »why personal Identity cannot be preserved in the change of immaterial Substances […], as well as animal Identity [d.h. die strukturelle Identität von Lebewesen im Allgemeinen, M. H.] is preserved in the change of material Substances, or [in the] variety of particular Bodies« (ebd., § 12). 26  Leibniz, Gottfried Wilhelm: Monadologie, neu übers., eingel. u. erl. v. Hermann Glockner, Stuttgart 1979, § 71, S. 30.

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auf der Reorganisation aller Teilchen bzw. Monaden und auf der Reproduktion und Transformation von vormals bestehenden Strukturen beruht.27 Es gibt für ihn keine endgültige Vernichtung von funktionalen Strukturen und Relationen in der Natur, keine Unterbrechung und keine Sprünge; und er erklärt daher in diesem Zusammenhang auch: »Wenn die Seelenwanderung nicht im strengen [dualistischen, M. H.] Sinne genommen wird, […] so würde sie möglich sein« – eben als »ein steter Fluß des Körpers dieser Seele«, der seiner Ansicht nach auch nach dem Tode noch fortbestehen muss.28

III. Durch alle diese Anwendungen von Seelenwanderungs- und Palingenesiebegriffen zieht sich eine zentrale Denkfigur: diejenige des sich im Austausch seiner Teile stets selbst reproduzierenden und reanimierenden Organismus. Seelenwanderung und Palingenesie bzw. stoffwechsel- und reproduktionsartige Prozesse werden im 18. Jahrhundert zu naturinhärenten, organismischen Grundgesetzen erklärt, mit denen sich die Natur laufend selbständig reguliert, erhält, variiert und weiterentwickelt – und mit denen bestehende Strukturen, Formen und Eigenschaften zugleich aufgelöst, verdaut und in andere, komplexere Systeme und Funktionszusammenhänge überführt werden, in denen die Ersteren fortleben. Da die Natur- und Teilchentheorien im Umkreis der Seelenwanderungsfiguren insgesamt keine dualistischen Lehren sind, sondern Körperliches und Geistiges immer parallel denken, ist damit auch eine wesentliche Grundlage gelegt für die stringente Übertragung dieser physikalischen Körpergesetze auf analoge Geistesgesetze. Wie mit den Verweisen auf die mediale Bedeutung der Seelenwanderungsbegriffe bei Herder und Jean Paul deutlich geworden sein sollte, wird die Erhaltung und Fortexistenz von Geistesinhalten (und kulturellen Phänomenen) daher nicht nur in der folgenden Notiz von Lessing in der Art einer monadologischen Seelen- und Körperwanderung gedacht: »Jede Monade von Wahrheit wandert aus einem ungestalteten Körper von Meinungen in den andern, belebt den einen mehr, den andern weniger; den kürzer, den länger.«29 27  »Daher wechselt die Seele den Körper nur allmählich und stufenweise, dergestalt, daß sie niemals auf einen Schlag aller ihrer Organe beraubt ist. […] Aus diesem Grunde gibt es auch streng genommen niemals eine völlige Neuerzeugung und niemals einen vollkommenen, in der Trennung der Seele von Körper bestehenden Tod. Was wir Zeugung nennen, ist in Wahrheit Entwicklung und Wachstum.« Ebd., § 72f., S. 30. 28  Leibniz, Gottfried Wilhelm: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, übers., eingel. u. erl. v. Ernst Cassirer, Hamburg 1971, S. 244. 29  Lessing, Gotthold Ephraim: »Über die Elpistiker«, in: Werke, 8. Bd., hg.v. Herbert G. Göpfert, München 1979, S. 519–533, S. 528. Vgl. zu diesem Zitat auch Beetz, Manfred: »Lessings vernünftige Palingene-

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In dieser Sicht auf Natur und Kultur liegt das Wesen der Dinge nicht mehr in der statischen Existenz und im Erhalt von individuellen Substanzen, sondern in der dynamischen Fortsetzung und Entwicklung von Strukturen, Funktionszusammenhängen und Verarbeitungssystemen.30 Es gibt hier keine vollständige Vernichtung und keine grundsätzliche Neuschöpfung der Dinge, sondern nur eine beständige Re-Organisation, Re-Animation und Weiterverarbeitung im Verlauf der Zeit. Auch Körper und Seele (sowie Medium und Inhalt) sind hier keine dualistischen und prinzipiell unteilbaren Einheiten mehr, sondern es sind Begriffe, die niedriger- bzw. höherkomplexe Selbstorganisationsstrukturen in der Natur bezeichnen. Die Seelenwanderungs- und Palingenesiefiguren verweisen auf die Übergängigkeit dieser Strukturen und auf die prozessartige Überführbarkeit von niedrigerstrukturierten in höherstrukturierte Systeme – indem sie den materiellen und immateriellen (energetischen, symbolischen usw.) Fluss und Austausch der Dinge in Bezug auf ihre Umgebung und die assimilative Reorganisation und Reproduktion von Strukturen darstellen. Das Ende und das Wiederkommen einer Existenz sind hier eine Frage der Auflösung der strukturellen Zusammenhänge und Kontexte. Diese beständige Möglichkeit zur NeuAuflösung, Integration und Höherführung der Dinge auf der scala naturae endet nicht beim Menschen. Der Mensch, der Nahrung verdaut und äußere Dinge wahrnimmt und verarbeitet, überführt und transformiert damit äußere materielle Zusammenhänge in körperlich, seelisch und geistig höhere Repräsentationen; er extrahiert Vitalität und Kraft, den Geist und den Sinn der Dinge, die so in ihm weiterleben. »Aber der menschliche Verstand […] siehet nur die Dinge von außen: er siehet Gestalten, nicht wandernde, sich emporarbeitende Seelen. […] In meinen Adern […] wallen diese zu höherm Leben hinauf […]. Ich bereite sie weiter, wie alles sie zu mir bereitete: keine Zerstörung, kein Tod ist in der Schöpfung, sondern Auflösung, Entbindung, Läuterung.«31

Da durch derartige Assimilationen und systemische Überführungen auch Innen und Außen zu relativen Kategorien werden und sich jedes Außen zugleich als das Innen eines umgebenden größeren Systems darstellt, lässt sich jedes Phänomen sie«, in: Neugebauer-Wölk, Monika (Hg.): Aufklärung und Esoterik. Rezeption – Integration – Konfrontation, Tübingen 2009, S. 131–147, S. 147. 30  Vgl. Cassirer, Ernst: Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Berlin 1910, der in dem Übergang vom »Substanzbegriff« zum »Funktionsbegriff« die entscheidende Transformation des naturwissenschaftlichen Weltbildes am Ende der Frühen Neuzeit sieht. 31  Herder, Johann Gottfried: »Ueber die Seelenwandrung [sic]. Drei Gespräche«, in: Sämmtliche Werke, 15. Bd., hg.v. Bernhard Suphan, Berlin 1888, S. 243–303, S. 289f.

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und jeder Prozess als funktionaler Bestandteil in der Entwicklung und im Dasein eines umfassenden Welt-Organismus denken: Entsprechend lässt sich die Summe einzelner Lebensprozesse und ihrer Einzelhistorien nun zum Kollektivsingular der Geschichte zusammenfassen, wie es in Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit geschieht.32   Da in dieser organismischen Austausch-, Assimilations- und Reproduktionssemantik nichts gänzlich verloren geht oder stirbt, sondern als Bestandteil höherer Systeme weiterlebt, bildet sich mit jedem Überführungs- und Fortsetzungsprozess in Natur und Kultur auch ein strukturelles Gedächtnis heraus, das dynamische Schichten aus komprimierten Überresten des einst Verarbeiteten enthält und reproduziert. Jede mikrokosmische Entwicklung, jede einzelne Entität ist dann die variierte ›Erinnerung‹ einer makrokosmischen Entwicklung und umgekehrt. In den palingenetischen Prozessen wiederholt die Ontogenese des Einzelnen die Phylogenese der Gattung, d.h. die Wanderungen durch die Stufenleiter der Natur.33 Nach dieser Sicht gestaltet sich die Kontinuität der Dinge in der Zeit allseits zugleich als eine materielle (mehr oder weniger unbewusste) und als eine geistige (mehr oder weniger bewusste) Erinnerung, Verarbeitung und Weiterentwicklung des bereits Durchlebten. Die Welt reproduziert fortgesetzt lebendige Gedächtnisse, Individualgeschichten, Biographien der Materie und des Geistes, Natur- und Kulturgeschichten, die von der körperlichen Ebene bis zur Ebene des individuellen Bewusstseins und schließlich des kollektiven und medial immer vergrößerten Bewusstseins reichen und stets weiter- und umgeschrieben werden.   In den kulturphilosophischen Anwendungsbereichen um 1800 überschneiden sich diese Seelenwanderungs- und Palingenesiebegriffe dann mit Vorstellungen von einer neuen zu schreibenden Lehre von der Geschichte des sich entwickelnden »Zeitgeistes« oder »objektiven Geistes«, die von den historischen Manifes-

32  Bekanntlich hat Reinhart Koselleck dargelegt, dass der moderne Begriff der einen Geschichte – als ein sämtliche Einzelprozesse und -historien umfassender »Kollektivsingular« – um die Mitte des 18. Jahrhunderts gerade erst im Entstehen begriffen ist – genauso wie die wissenschaftliche Erfassung dieses Geschichtskonzepts als eine umfassend-sinnhafte »Philosophie der Geschichte«. Vgl. Koselleck, Reinhart: »Geschichte, Historie«, in: Brunner, Otto; Conze, Werner; Koselleck, Reinhart (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 2. Bd., Stuttgart 1975, S. 593–717, S. 647–658. 33  Vgl. z.B. Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, S.  336–343. Diese Theorie einer biologischen Rekapitulation, die zusammen mit dem Palingenesieterminus u.a. von Ernst Haeckel aufgenommen wurde (vgl. Schlüter, Hermann: »Palingenesie II (Haeckel)«, in: Ritter, Joachim (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, 7. Bd., Basel 1989, Sp. 46), wird zwar heute nicht mehr als gültiges Naturgesetz beansprucht, teilweise aber weiterhin als heuristische Figur bei der Modellierung biologischer Entwicklungszusammenhänge verwendet.

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tationen kollektiver geistiger Produkte handeln soll.34 Hier werden »Systeme, Ideen und Meinungen« ebenfalls als »Organismus« und als »höheres Leben« für sich aufgefasst; entstehen soll eine Geschichte der Ideen und eine intersubjektive »Geistesgeschichte« analog zur Naturgeschichte, die auf entsprechenden Gesetzen einer »Geisteschemie« oder »Geistesphysik« basieren soll.35   Nicht zufällig stellt Arthur O. Lovejoy über einhundert Jahre später – infolge seiner Studien zur Aufklärung – unter dem Terminus der ›history of ideas‹ eine neue geistesgeschichtliche Methode vor. Er geht davon aus, dass es ab einem bestimmten historischen Zeitpunkt keine neuen fundamentalen Ideen mehr gibt, sondern nur noch Rekombinationen von sogenannten ›unit-ideas‹, mehr oder weniger festen Grundideen.36 Der Historiker habe fächerübergreifend zu untersuchen, wie diese Ideen sich entwickeln, verändern und rekombinieren und durch die Jahrhunderte dahinströmen; seine Aufgabe sei ein verstehender Nachvollzug der historischen Ideenwanderungen – jenseits des naturwissenschaftlichen Positivismus.37 Bewusst oder unbewusst trägt Lovejoy hiermit selbst zum Fortleben des historischen Konzepts von der ›Seelenwanderung der Ideen‹ bei. Gerade die problematische Fokussierung auf die ›unit-ideas‹ als ganze Epochen strukturierende Grundideen verweist zurück auf die Beeinflussung des Konzepts der Geistesgeschichte durch Leibniz’ Monadologie. Re-Animationsfiguren sind also offenbar fest mit den modernen Konzepten von Geschichte und Geschichtsschreibung verbunden, gerade auf Seiten der Natur- und der Geistesgeschichte.   Und so verweist das Modell von der monadologischen (Seelen- und Körper-) Wanderung der Geistesinhalte – neben jenen Versuchen der Konstruktion transhistorisch-sinnerhaltender Geschichtsprinzipien wie eher schwach bei 34 

Begriffe von J. Neeb und F. Ast zit.n. Geldsetzer, Lutz: »Geistesgeschichte«, in: Ritter, Joachim (Hg.): HistorischesWörterbuch der Philosophie, 3. Bd., Basel 1974, Sp. 207–210, Sp. 208. 35  Begriffe von F. Ast, I. P. V. Troxler und F. Schlegel zit.n. ebd. 36  Vgl. Lovejoy, Arthur O.: The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea, Cambridge 1936, S. 3: »It [the history of ideas] is differentiated primarily by the character of the units with which it concerns itself. […] Its initial procedure may be said […] to be somewhat analogous to that of analytic chemistry. In dealing with the history of philosophical doctrines, for example, it cuts into the hard-and-fast individual systems, and, for its own purposes, breaks them up into their component elements, into what may be called their unit-ideas. […] One of the results of the quest of the unit-ideas […] is, I think, bound to be a livelier sense of the fact that most philosophic systems are original or distinctive rather in their patterns than in their components.« 37  Vgl. Lovejoy, The Great Chain of Being, S. 3ff.; ders.: Essays in the History of Ideas, Nachdr. v. Baltimore 1948, Westport 1978; Wilson, Daniel J.: Arthur O. Lovejoy and the Quest for Intelligibility, Chapel Hill 1980; Keiger, Dale: »Tussling with the Idea Man«, http://www.jhu.edu/~jhumag/0400web/28.html, 26.07.2011; Burke, Martin K.: »Histories of Concepts and Histories of Ideas. Practises and Prospects«, in: Pozzo, Riccardo; Sgarbi, Marco (Hg.): Eine Typologie der Formen der Begriffsgeschichte, Hamburg 2010, S. 149–162, S. 154f.

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Re‑Animation als Denkfigur um 1800

Herder und besonders teleologisch bei Hegel – immer wieder auch auf ein Bewusstsein von dem selbstreferenziellen Zitat- und Verweischarakter der Moderne, auf die Unmöglichkeit echter, ›genialer‹ Neuschöpfungen, auf die Krise umfassender Erzählungen in Natur und Kultur und auf die kommunikative bzw. genealogische Gemachtheit von Geschichte. Das Modell verweist darauf, dass diese Geschichte eben nicht einseitig auf Verkörperungen eines objektiven Geistes in der Materie beruht, sondern auf materiellen Umschichtungsprozessen, die sich den Klassifikationsrastern des Menschen entziehen und leibseelische Dinge niemals isoliert für sich enthalten, sondern immer nur in der dynamischen Weiterprozessierung von Beziehungen. Kontinuierliche und diskontinuierliche Überlieferung sind hier keine Antagonismen, denn Konstanz gibt es nach diesem Re-Animationsmodell gerade nur in der Wandelbarkeit, in der Anschluss- und Austauschfähigkeit der Dinge. Bemerkenswert bleibt, dass das ReAnimationsmodell der (monadologischen) Seelenwanderung sein semantisches Deutungs-, Erfassungs- und Beschreibungspotenzial historisch gerade nicht in der Form einer geistigen Animation toter Körper erlangt, sondern erst im Zusammenhang mit der dargestellten Naturalisierung (und Physiologisierung) von Re-Animationskonzepten. Diese erlauben es erst, geistige Prozesse wie die Geschichte immer auch als eine Geschichte von medialen Verkörperungen und Strukturen zu denken und somit auf ihre konstitutive Medialität hin zu befragen.

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Blumenseelen. Botanik, Sprache und Weiblichkeit um 1850 Blumenfrauen als Allegorien

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ean-Ignace-Isidore de Grandvilles posthum erschienene Lithographiesammlung Les fleurs animées (1847) ist einer doppelten Vergessenheit anheimgefallen: Sowohl die Bilder des Karikaturisten aus Nancy als auch die sie begleitenden Texte der Autoren Louis-François Raban, Taxile Delord und Alphonse Karr finden in der Forschung wenig bis gar keine Beachtung.1 Die offensichtliche Vernachlässigung mag durch die zweifache Marginalität dieser Text-Bild-Welten begründet sein, denn zum einen handelt es sich anders als in Grandvilles Mensch-Tier-Mischwesen der Scènes de la vie privée et publique des animaux (1840) nicht um Bilder und Erzählungen von staatstragender Männlichkeit, sondern um Darstellungen weiblicher Körper; zum anderen werden diese Frauenfiguren nicht mit Tieren überblendet, sondern mit Pflanzen, genauer: mit Blumen.2   Grandvilles Lithographien sind als Blumen und Frauen somit in zweifacher Weise dem Verdacht des bloß ästhetisch Schönen und Zweckfreien ausgesetzt 1

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Vgl. Grandville, Jean-Ignace-Isidore de; Karr, Alphonse; Délord, Taxile; Raban, Louis-François: Les fleurs animées, 2 Bde., Paris 1847. Die derzeit noch antiquarisch zu erhaltende deutsche Ausgabe Grandville, Jean-Ignace-Isidore de: Die beseelten Blumen, Frankfurt a.M. 1981 beinhaltet nicht den gleichen Text wie das französische Original, sondern ist eine Anthologie von Blumengedichten. Die Rahmenhandlung für Grandvilles Zeichnungen ist jedoch für den vorliegenden Text zentral. Diese wird wiederum von einer zeitgenössischen deutschen Übersetzung zwar aufgegriffen, jedoch nicht übersetzt, sondern nachgedichtet; vgl. Böttger, Adolf: Die Pilgerfahrt der Blumengeister, Leipzig 1851. Alle folgenden Übersetzungen aus dem französischen Original stammen daher von der Autorin; wo es nötig erscheint, wird kursiv auf das französische Original verwiesen. Zwar werden Grandvilles Zeichnungen in der Forschung erwähnt, im Unterschied zu seinen weitaus bekannteren Zyklen Un autre monde (1844) und den Scènes jedoch selten. Und dies, obwohl der Band kommerziell recht erfolgreich war: Allein zwischen 1847 und 1857 erschienen drei Auflagen; vgl. Knight, Philip: Flower Poetics in Nineteenth-Century France, Oxford 1986, S. 60.

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– Zuschreibungen, die in den sie begleitenden Texten durchaus thematisch werden. In den wenigen, fast ausschließlich kunsthistorischen Studien zu Grandville werden hingegen vornehmlich biographische Informationen – vor allem die psychische Krankheit, die ihn nach dem Verlust seiner Ehefrau und mehrerer Kinder in den letzten Lebensjahren ereilt – herangezogen, um seine idiosynkratischen, oft als protosurrealistisch bezeichneten Bildwelten zu erklären.3   Eine zweite Deutungstradition sieht in Grandville einen wichtigen, wenn nicht gar den prominentesten Vorläufer der Surrealisten. Sie kann sich auf Walter Benjamin berufen, der sich den als kunstgewerblich abgestempelten Zeichnungen Grandvilles zugewandt hat, als diese noch nicht die Weihen der Kunstgeschichte erhalten hatten, und auf dessen durchaus idiosynkratische Interpretation sich das bis heute anhaltende Interesse am Zeichner aus Nancy wohl zurückführen lässt.4   Benjamin sieht in Grandvilles albtraumhaften Zeichnungen eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Mode, die für ihn einen herausragenden Index für die Traumenergien einer Gesellschaft bietet. Vor allem der Bildzyklus Un autre monde5 (1844) findet bei ihm Erwähnung; er hat aber auch die Fleurs animées im Blick.6 So schreibt er in einer frühen Notiz zur Passagenarbeit von der »Rache der Mode an den Blumen«, nachdem er erklärt hat, dass Grandvilles Werke »die wahre Kosmogonie der Mode« seien.7 Benjamin interpretiert die Lithographien demnach nicht in kunsthistorischer oder bildwissenschaftlicher Hinsicht: Er erklärt vielmehr dezidiert, Grandville geschichtsphilosophisch verstehen zu wollen. Für ihn setzen Grandvilles Lithographien die Relevanz der Mode für das Geschichtsverständnis des 19. Jahrhunderts ins Bild.8 Mode wiederum wird von Benjamin im Sinne einer zeitlichen Struktur gedacht, die einem dialektischen Prinzip folgend auf einer steten Ablösung durch das Gegenteil des Bestehenden aufgebaut ist. 3 4 5

6 

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Vgl. z.B. Kaenel, Philippe: »Les rêves illustrés de J. J. Grandville (1803–1847)«, in: Revue de l’Art 92/1 (1991), S. 51–63. Vgl. z.B. Heraeus, Stefanie: Traumvorstellung und Bildidee. Surreale Strategien in der französischen Graphik des 19. Jahrhunderts, Berlin 1998. Der vollständige Titel lautet: Un autre monde. Transformations, visions, incarnations, ascensions, locomotions, explorations, pérégrinations, excursions, stations, cosmogonies, fantasmagories, rêveries, folâtreries, facéties, lubies, métamorphoses, zoomorphoses, lithomorphoses, métempsycoses, apothéoses et autres choses. Das hat m.E. mit einem starken Interesse Benjamins am Floralen im weiteren Sinne zu tun. Sowohl in der Passagenarbeit als auch in kleineren Texten widmet er sich immer wieder der Betrachtung von (natürlichen und künstlichen) Blumen. Doch auch für Benjamin gilt, dass er die Texte der beiden Bände von Les fleurs animées nicht in seine Analyse miteinbezieht. Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk, in: ders.: Gesammelte Schriften, 5. Bd. 2. Teil, hg.v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1982, S. 1022. Vgl. Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk, in: ders.: Gesammelte Schriften, 5. Bd. 1. Teil, hg.v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1982, S. 112.

Blumenseelen

Die Fleurs animées nun versteht Benjamin in diesem Zusammenhang als Ausdruck von Grandvilles »graphische[m] Sadismus«: »Er [Grandville] stempelt diesen reinen Naturkindern das Sträflingsbrandmal der Kreatur, das Menschengesicht, mitten in die Blüte hinein.«9 Überraschend ist hier die Umkehrung des Blickwinkels: Würde man zunächst davon ausgehen, dass die Menschenkörper durch die Kombination mit Pflanzen eine Einschränkung ihrer Bewegungsfähigkeit erleiden und somit zu bemitleidenswerten Mischwesen mutieren, so besteht für Benjamin die Drastik gerade in der Vermenschlichung der Pflanzenwelt. Der Mensch wird hier nicht mehr als Krone der Schöpfung gesehen und die Vermenschlichung der Blumen daher nicht als Aufwertung, sondern als Degradierung.   Benjamins Grandville-Interpretation, die sich nicht einzelnen Bildern, sondern – wenn auch kursorisch – dem Gesamtwerk widmet, akzentuiert letzten Endes die Vorherrschaft der Allegorie in diesen Zeichnungen. Allegorie ist jener Modus des Lesens, den Benjamin dem Symbolischen privilegierend gegenüberstellt. Im Unterschied zur Ganzheit des Symbols geht die Allegorie von Bruchstücken der Bedeutung aus und ist in dieser Hinsicht ein genuin modernes Bedeutungssystem, das Benjamin sowohl im barocken Trauerspiel als auch in den Gedichten Charles Baudelaires am Werk sieht. Zentral ist hierbei der Gedanke der Mortifikation: Um neue Bedeutung erhalten zu können, müssen die Bruchstücke des Allegorischen zunächst ihrer alten Bedeutung enthoben werden, d.h., sie müssen in gewissem Sinne tot sein. Jene Präsenz des Todes ist für Benjamin auch in den Lithographien Grandvilles gegeben. Er zitiert in diesem Zusammenhang Pierre Mac Orlan, der Grandville von Walt Disney darin unterschieden wissen will, dass die Welt des amerikanischen Trickfilmpioniers eine ist, die den Tod nicht kennt.10 Als Allegorien, die von der Präsenz des Todes gezeichnet sind, deutet Benjamin Grandvilles Lithographien als genuin modern, da sie die Warenförmigkeit menschlicher Beziehungen und damit den Prozess der Reifikation verbildlichen.   Dieser (hier zugegebenermaßen recht knapp skizzierten) Deutung von Grandvilles Lithographien werde ich zwar nicht widersprechen, doch möchte ich sie für den speziellen Fall der Fleurs animées in zweifacher Weise korrigieren: Zum ersten erweisen sich die Zeichnungen im Zusammenhang mit den Texten der beiden Bände als weniger kritisch und zukunftsweisend, als Benjamin sie 9 10

Benjamin, Walter: »Neues von Blumen«, in: ders.: Gesammelte Schriften. Rezensionen, 3. Bd., hg.v. Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt a.M. 1972, S. 151–153, S. 152. Vgl. Mac Orlan, Pierre: »Grandville le précurseur«, in: Arts et Métiers Graphiques 44 (1934), S. 19–24, S. 24; zitiert bei Benjamin, Passagen-Werk, 1. Teil, S. 121.

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sehen möchte; zum zweiten sind sie in deutlich geschlechtlich codierte Diskurse eingebunden, die Benjamins ökonomiekritische Lesart nicht nur nicht zu akzentuieren vermag, sondern sogar zu überdecken droht. Die 1847 publizierte Sammlung Les fleurs animées wird mich daher unter der Leitfrage beschäftigen, was die Text-Bild-Koppelungen über die Zusammenhänge von Blumen, Frauen, Sprache und Leben Mitte des 19. Jahrhunderts zum Ausdruck bringen. Nicht die Präsenz des Todes, sondern vielmehr die zentrale Stellung der (Wieder-) Belebung in Grandvilles Werk, die auch in der vom Zeichner selbst gewählten Grabinschrift prominent erwähnt wird, stellt meinen Ausgangspunkt dar: »Cigît Grandville, il anima tout, et après Dieu, fit tout parler ou marcher, seul, il ne sut pas faire son chemin.«11 ›Beseelung nichtlebendiger Materie‹ könnte demnach als Motto über seinem gesamten Schaffen stehen.   Zunächst werde ich mich mit dem Genrezusammenhang, in dem der Sammelband sich verorten lässt, beschäftigen, mit den sogenannten Physiologien, die sich durch ein intensives Zusammenspiel von Text und Bild auszeichnen. Danach widme ich mich der in den Texten hervortretenden Verbindung von Blumen, Sprache und Weiblichkeit: Ausgehend von der Rahmenerzählung des Bandes verfolge ich den Gedanken einer (Wieder-)Belebung der sogenannten Blumensprache durch die Metamorphose der Blumen zu Frauen. Dabei wird sich zeigen, dass die Verwandlungen in den Fleurs animées weniger dazu dienen, vermeintlich abgegriffene sprachliche Klischees neu zu beleben, als vielmehr ein konservatives Verständnis von Geschlechterrollen zu zementieren. In einem dritten Schritt ziehe ich zwei Paratexte der Fleurs animées heran, die die Fragen nach Belebtheit von Blumen und Frauen noch einmal in die lebenspraktisch und wissensgeschichtlich relevanten Bereiche der Botanik und der Hortikultur übersetzen.

Das hybride Genre der Physiologien Mit ihrer Verbindung von ansprechender Druckgraphik und kurzweiligen Texten stehen die Fleurs animées in der Tradition der von Benjamin als »panoramatisch« bezeichneten Populärliteratur des 19. Jahrhunderts: »Es gibt eine unabsehbare Literatur, deren stilistischer Charakter ein völliges Gegenbild zu den Dioramen, Panoramen etc. darstellt. Das sind die feuilletonis-

11  »Hier ruht Grandville. Er beseelte alles, und brachte nach Gottes Vorbild alles zum Sprechen oder Laufen. Nur wusste er selbst nicht seinen Weg zu machen.« Zit.n. Fröhlich, Anke: »Grandville und seine Zeit«, in: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Wilhelm-Busch-Museum Hannover, Deutsches Museum für Karikatur und kritische Grafik (Hg.): J. J. Grandville. Karikatur und Zeichnung. Ein Visionär der französischen Romantik, Ostfildern-Ruit 2000, S. 9–22, S. 21.

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tischen Sammelwerke und Skizzenfolgen aus der Jahrhundertmitte. Werke wie ›La grande ville‹, ›Le diable à Paris‹, ›Les Français peints par eux-mêmes‹. Sie sind gewissermaßen moralische Dioramen und den andern nicht nur in ihrer skrupellosen Manni〈g〉faltigkeit verwandt, sondern technisch genau wie sie gebaut. Einem plastisch durchgebildeten mehr oder weniger detaillierten Vordergrunde entspricht eine scharfprofilierte feuilletonistische Einkleidung der sozialen Studie die hier den großen Hinter­grund abgibt wie im Diorama die landschaftliche [sic].«12

Das neue Genre der Panoramaliteratur steht in engem Verhältnis zu den sich auf den Konsumkapitalismus hin entwickelnden Wirtschaftsstrukturen. Es wird von Benjamin zudem in Bezug zu einer neuen medientechnischen Vorrichtung, dem Panorama (später auch dem Diorama), gesehen. Beiden Phänomenen ist, wie schon die gemeinsame Wortwurzel zeigt, das Bemühen gemein, ein Gesamtbild abzugeben, das jedoch auf unterschiedliche Weise produziert wird: einerseits durch eine bildliche Darstellung in einem eigens dafür entworfenen architektonischen Ensemble (Panorama), andererseits durch eine Zusammenstellung von Texten und Bildern, die sich jeweils mit unterschiedlichen Bereichen des Pariser Großstadtlebens befassen (Panoramaliteratur). Das neue Bildmedium und das literarische Genre sind zwei eng miteinander verbundene Ausdrucksformen der Erfahrung der Moderne.13   Ein Untergenre dieser panoramatisch angelegten Literatur sind die sogenannten Physiologien, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts großer Beliebtheit erfreuen. Sie sind weniger aufwendig gestaltet als die frühen coffeetable books wie Les Français peints par eux-mêmes und befassen sich mit einem bestimmten sozialen Typus wie dem Flaneur, der Grisette (der jungen Arbeiterin mit lockeren Moralvorstellungen) oder dem Junggesellen.14 Physiologien sind ein gemischtes Genre, wie Richard Sieburth ausführt: »Hybrid blends of the etiquette book, the instruction manual, and the tourist guide, and early examples of modern ›self-help‹ books, these various Codes and Arts de served a purpose that was both descriptive and prescriptive, both parodic and didactic. The same tone is found in the physiologies, as is the emphasis on the codification of contemporary custom into a system of formulas and conventions as rigorous as those governing any language or semiotic system.«15 12  Benjamin, Das Passagen-Werk, 2. Teil, S. 659f. 13 Vgl. hierzu den einschlägigen Artikel von Cohen, Margaret: »Panoramic Literature and the Invention of Everyday Genres«, in: Charney, Leo; Schwartz, Vanessa R. (Hg.): Cinema and the Invention of Modern Life, Berkeley/Los Angeles/London 1995, S. 227–252. 14  So hat einer der Koautoren von Les fleurs animées, Taxile Delord, 1841 einen Band mit dem Titel Physiologie de la Parisienne verfasst. 15  Sieburth, Richard: »Same Difference. The French Physiologies, 1840–1842«, in: Notebooks in Cultural Analysis 1 (1984), S. 163–200, S. 165. Sieburths Artikel ist, obwohl schon über 25 Jahre alt, die bis dato

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Abb. 1. Werbeplakat des Verlags Gonet für Les fleurs animées.

Physiologien folgen demnach dem Programm des prodesse et delectare: Sie erfreuen durch ihre zumeist anspruchsvolle druckgraphische Gestaltung, zeigen Illustrationen der besten Zeichner der Zeit und unterhalten durch witzige Texte. Technische Veränderungen im Buchdruck ermöglichen es, dass sich ab den 1830er Jahren weitaus mehr Menschen als bis dato Bücher leisten können. Da sie vor allem von kleinbürgerlichen Schichten erworben werden, stehen die Physiologien beispielhaft für eine Demokratisierung des Buchmarkts.16 Die Physiologien geben den Lesern durch die Systematisierung der urbanen Lebenswelt zugleich ein Kompendium an die Hand, mit dem diese in die Lage versetzt werden sollen, die ihnen bekannte Welt nicht nur in Buchform zu studieren, sondern, im Umkehrschluss, auch die städtische Wirklichkeit lesen zu lernen. Vollkommene Lesbarkeit wird in den Physiologien durch die Kombination von Text und Bild suggeriert: In der bildlichen Darstellung sieht man den jeweiligen sozialen Typus mit all seinen Erkennungsmerkmalen; im Text werden diese wiederum anhand kurzweiliger Episoden ausbuchstabiert.

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überzeugendste Auseinandersetzung mit diesem genre mineur. Vgl. ebd.

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Selbst wenn die Fleurs animées die Bezeichnung ›Physiologie‹ nicht im Untertitel tragen, lehnen sie sich in ihrer Machart an dieses Genre an.17 Die beiden Bände kombinieren Erzähltexte mit Lithographien von Blumenfrauen. Die Überblendung von sozialem, genuin weiblichem Typus und Blumengattung (bzw. -art) ist hierbei Programm, denn die Hauptdarsteller sind Blumen, die als Typen präsentiert werden: So listet das Inhaltsverzeichnis unter  anderem Erzählungen von einer Orangenblüte, einer Rose, einer Strohblume (die im Französischen etwas klangvoller immortelle genannt wird) und einem Vergissmeinnicht. Die soziale, geschlechtliche und botanische Codierung stellt ein Zwitterwesen in den Mittelpunkt, das sowohl Merkmale der jeweiligen Blumengattung trägt als auch menschliche Eigenschaften aufweist, die teilweise mit seinem Aussehen in Verbindung stehen, teilweise auf mythologische Ätiologien oder auf Märchenwissen zurückgreifen. Die Fleurs animées lassen sich somit als ein Panorama von physiologisch inspirierten Texten lesen, die nicht einem, sondern gleich mehreren sozialen Typen gewidmet sind.

»La Sultane Tulipia«. Botanische Gattung und sozialer Typus Beispielhaft für die Kreuzung unterschiedlicher Wissensdiskurse und Erzähltraditionen steht die Erzählung von der Tulpe.18 Sie trägt die Überschrift »La Sultane Tulipia«, ruft also mit der Blumengattung zugleich ein soziales und ein geographisches Register auf. Die botanische Gattung Tulpe wächst ursprünglich um den 40. Grad nördlicher Breite von Anatolien bis zum Tien-Shan-Gebirge. Ihre anhaltende Beliebtheit in Westeuropa verdankt sie zum einen den Osmanen, die von dieser Blume derart fasziniert waren, dass sogar eine historische Epoche ihren Namen trägt (das sogenannte Lâle Devri, die ›Tulpenzeit‹ 1718–1730), zum anderen den Holländern und deren Tulpenmanie im späten 17.  Jahrhundert, die als erste Spekulationsblase der Wirtschaftsgeschichte bezeichnet wird.19 Die Erzählung in den Fleurs animées spielt mit dem Herrschaftstitel ›Sultanin‹ also zum einen auf den sozialen Kontext des Osmanischen Reiches an und weist mit der ersten Überschrift »Le Rêve de Van Clipp« zum anderen in Richtung Holland. Zunächst wird diese zweite geographische Fährte verfolgt. Erzählt wird von der Rückreise des holländischen Kaufmanns Mynheer Van Clipp von Java nach Haarlem. Van Clipp wird als ein Tulpenliebhaber vorgestellt, der nicht 17 18 19 

Die Vermarktungsstrategie des Verlags weist ebenfalls in diese populäre Richtung (vgl. Abb. 1). Vgl. Grandville u.a., Les fleurs animées, S. 73–80. Vgl. Pavord, Anna: Die Tulpe. Eine Kulturgeschichte, Frankfurt a.M./Leipzig 2003, S. 13.

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nur mit der Kultivierung der Pflanzen befasst ist, sondern auch eine Kulturgeschichte dieser Blumengattung schreibt, was wiederum einen guten Vorwand bietet, diese kurz innerhalb der Episode zu erzählen. Alle Standardelemente der Geschichte der Tulpe finden sich hier wieder: die Kultivierung mit dem Ziel einer möglichst beeindruckenden Kreuzung; die Tulpenmanie, während derer angeblich so mancher aus Unkenntnis ein Vermögen verspeist habe, weil er die Blumenzwiebeln für essbar hielt; die Liebe der Türken zu den Tulpen, das spektakuläre Tulpenfest sowie die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser neu entdeckten Blumengattung, die gemäß den Wissenschaftsregeln der frühen Botanik auf Latein zu erfolgen habe.20 Van Clipps Liebe zu den Tulpen geht so weit, dass er seiner wunderschönen Tochter den Namen Tulipia verleiht: »Sie verdiente diesen Namen übrigens in jeder Hinsicht: Denn während ihr frischer, strahlender Teint und ihre erhabene Haltung Bewunderung hervorriefen, fehlte ihr eben jene Lebendigkeit (vivacité), jenes Glühen des Geistes und des Körpers, das die verführerischste Eigenschaft der Jugend ist. Die Tulpe duftete nicht (n’avait pas de parfum).«21

Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass die Übertragung der Eigenschaften der Blume auf die Frau durch Analogien erfolgt:22 Beide sind schön und zeichnen sich durch frische Farbigkeit aus, ermangeln aber einer gewissen Lebendigkeit, die hier im Register des Olfaktorischen gefasst wird.   Van Clipps Handelsschiff wird jedoch vor der Ankunft im heimischen Hafen von türkischen Seefahrern gekapert; der Kaufmann wird daraufhin zum Gärtner eines alten Türken,23 seine Tochter in den Harem gesandt. Dort avanciert die schöne Holländerin zur bevorzugten Frau des Sultans, der – orientalistischen Klischees entsprechend – als unersättlich und unberechenbar, aber mit einem exquisiten Geschmack ausgestattet beschrieben wird. Ihre Favoritinnenrolle muss Tulipia alsbald jedoch anderen überlassen, was vor allem ihrer mangelnden Lebendigkeit zugeschrieben wird: 20  Die hier genannten Elemente finden sich in den zahlreichen Untersuchungen zur Tulpe im Allgemeinen und zur Tulpenmanie im Speziellen in unterschiedlichen Kombinationen wieder. Vgl. neben Pavord, Die Tulpe z.B. Goldgar, Anne: Tulipmania. Money, Honor, and Knowledge in the Dutch Golden Age, Chicago 2007. 21  Grandville u.a., Les fleurs animées, S. 74. 22  Nach Michel Foucaults Die Ordnung der Dinge kann diese Systematisierung der Episteme der Renaissance zugerechnet werden und hat in den Wissenschaftsdiskursen des 19. Jahrhunderts keine Relevanz mehr. Umso bemerkenswerter ist es, dass sie dem Geschlechterdiskurs noch wirkmächtig unterliegt. 23  Bezeichnenderweise muss er dort unter der Tarnung von Tulpen Kohl und Rüben anpflanzen, darf sich also nicht mehr der ästhetischen Blumengärtnerei widmen, sondern nur noch der Kultivierung einfacher Nutzpflanzen: Weit her ist es also in der hier vorliegenden Erzählung nicht mit der vermeintlichen türkischen Blumenliebe.

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Abb. 2. Grandville: »Tulipe«, aus: Grandville u.a.: Les fleurs animées, 2 Bde., Paris 1847.

»[S]ie war gleichgültig, ihrem Geist mangelte es an Beweglichkeit; sie konnte weder singen noch tanzen, wusste keine Späße zu machen und erriet keinen Rebus, was ein großer Mangel in den Augen eines so feinfühligen Meisters wie Shahabaam war.«24

Wie ihre Namensvetterin aus dem Blumenreich kann Tulipia lediglich ein schönes Aussehen, jedoch keinen einnehmenden Geist aufweisen: »Eine Frau ohne Esprit ist wie eine Blume ohne Duft.«25 Dem Genre orientalistischer Despotenerzählungen gemäß findet die schöne Holländerin auf Anordnung des Sultans den Tod durch Ertränken im Meer vor dem Palast, und trotz ihres tragischen Endes verlischt die Erinnerung an sie recht schnell – »la beauté sans intelligence laisse peu de traces dans le souvenir«.26   Grandvilles Lithographie (Abb. 2) nimmt die orientalischen Anklänge der Erzählung auf, die wie alle Texte (außer Karrs Einleitungen und Rabans botanische Erläuterungen) von Delord stammt. Wie in den meisten der folgenden Abbildungen trägt die Frau die Blüte ihrer Namensgeberin auf dem Kopf. Im Falle der Tulpe ist die Verknüpfung von Blume und Kopfbedeckung beinahe schon 24  Grandville u.a., Les fleurs animées, S. 77. 25  Ebd., S. 79. 26  Ebd., S. 80.

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als ironischer Kommentar lesbar, denn der Gattungsname ›Tulpe‹ stammt ursprünglich von der türkischen Bezeichnung tülbend ab, was wiederum den Turban bezeichnet.27 Diese Verbindung lässt sich auch an den männlichen Figuren im Bildhintergrund erkennen, die ihrerseits Turbane tragen. Als Gürtel trägt die Tulpensultanin eine Kordel, an deren Ende eine Zwiebel befestigt ist, was durchaus als botanische Information gelesen werden kann: Schließlich gehören die Tulpen als Liliengewächse zu jenen Pflanzen, die sich über Zwiebeln fortpflanzen.   Deutlich wird anhand der Lithographie und der Erzählung der schönen, aber geistlosen Holländerin, wie ein recht konventioneller Mix aus kulturgeschichtlichen Informationen und Genreversatzstücken von Abenteuererzählung und Märchen letzten Endes dazu dient, ein bestimmtes Bild von Weiblichkeit festzuschreiben: Frauen sollen nicht nur schön sein (das versteht sich beinahe von selbst), sondern auch gesellschaftlich gewandt auftreten, d.h. in diesem Falle den männlichen Herrscher durch Witz und Esprit bei Laune halten. Ein vermeintlich beschreibender Text, der in pseudo-wissenschaftlicher Manier Merkmale einer botanischen Gattung mit der Erzählung einer typisierten Frauengestalt mischt, erweist sich am Ende als vorschreibend hinsichtlich der sozialen, und d.h. in diesem Falle: geschlechtlichen Ordnung.

Animation als Effekt Mit der Bezeichnung ›Physiologie‹ wird jedoch nicht nur ein Erzählgenre des 19. Jahrhunderts bzw. ein Medium gesellschaftlicher Selbstdarstellung aufgerufen, sondern es werden zugleich die Wissenschaften vom Lebendigen angesprochen: Als Physiologie bezeichnet man jenes Gebiet der Medizin und der Biologie, das sich mit den Lebensvorgängen befasst. An diese wissenschaftlichen Diskurse lehnen sich die literarischen Physiologien des frühen 19. Jahrhunderts durch den Rückgriff auf taxonomische Verfahren à la Buffon, Linné und Cuvier an, was laut Sieburth in einem effet de science resultiert, der weniger zur Verwissenschaftlichung der Texte beiträgt, als vielmehr die Diskrepanz zwischen den Diskursen hervorhebt.28 27  Die Gestaltähnlichkeit von Blume und Kopfbedeckung mag ausschlaggebend für die Namensgebung gewesen sein; möglich ist auch eine Verwechslung, wie sie Pavord vermutet: »Vielleicht deutete [der berühmte Orientreisende, I. K.] Busbecq auf eine ihm unbekannte Blume, die ein Türke in seinem Turban trug, um nach ihrem Namen zu fragen. Sein Übersetzer, der möglicherweise dachte, er wollte sich nach dem Turban erkundigen, könnte ihm den türkischen Ausdruck hierfür genannt haben.« Pavord, Die Tulpe, S. 58. 28 Vgl. Sieburth, »Same Difference«, S. 171.

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Abb. 3. Grandville: Frontispiz, aus: Grandville u.a.: Les fleurs animées, 2 Bde., Paris 1847.

Auf das Lebendige als Referenzpunkt verweist nicht zuletzt der Titel von Grandvilles Text- und Bildersammlung mit dem Adjektiv ›animé‹. Was verstand man um 1850 unter ›animé‹, und was bedeutet dies für die vorliegenden Lithographien und Erzählungen? Unter dem Lemma »animé,-e« findet man im Grand dictionnaire universel du XIXe siècle von Pierre Larousse die Erläuterung »qui est doué de la vie«.29 Mit einem Hinweis auf die biblische Schöpfungsgeschichte wird die Bedeutung von ›animer‹ als ›beseelen‹ aufgerufen. Der zweite Eintrag ergänzt dieses religiöse Verständnis um einen Effekt von Lebendigkeit; ›animer‹ bezeichnet dort einen Verlebendigungsprozess: »donner un semblant de vie à des choses inertes par leur nature«.30 Belebung (animation), so das Dictionnaire weiter, wird durch Bewegung (mouvement) und Farbe (couleur) hervorgerufen. Auf die Fleurs animées angewandt lässt sich dies als durchaus treffende Beschreibung von Grandvilles Lithographien verstehen. 29

Larousse, Pierre (Hg.): Grand dictionnaire universel du XIXe siècle français, historique géographique, mythologique, bibliographique, littéraire, artistique, scientifique, 1. Bd., Paris 1866, S. 396. 30  Ebd.

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Die meisten der insgesamt 48 Bilder zeigen Frauengestalten mit Blumenornamenten, die durch die jeweilige Bildunterschrift als Stiefmütterchen,Tulpe oder Rose ausgewiesen werden.31 Der Eindruck von Belebtheit wird in diesen per se statischen Zeichnungen durch unterschiedliche Techniken hervorgerufen. So wird mehrfach ikonographisch auf den Bildbereich des Balletts angespielt. Das Frontispiz der Sammlung z.B. zeigt eine Frauenfigur in einer Ballettpose (Abb. 3): Ihr linkes Bein ist das Standbein, während ihr rechtes Bein im 90°-Winkel nach hinten gestreckt ist. Zwischen den beiden etwa schulterbreit geöffneten Armen hält sie ein Textilband, das das Wort ›animées‹ erkennen lässt. Diese Tänzerinnenfigur wird von einer Pflanze überragt, deren Triebe wiederum den ersten Teil des Titels, ›Les Fleurs‹, bilden. Um den Kopf drapiert trägt die Tänzerin violette Glockenblumen; ihr Körper hingegen ist in ein grünes Blatt gehüllt, das eng am Oberkörper anliegt und sich ab der Hüfte bauchig wölbt. Mit dem rechten Bein steht sie auf einem Blatt, das aus der sie überragenden Pflanze herauswächst und auf dem der Untertitel des Bandes geschrieben steht: »Dessins par J. I. Grandville/Gravés juracier par C. Geoffroi/Introductions par Alph. Karr/Texte par Taxile Delord/Botanique et horticulture des dames par le C.te Fœlix«.32 Das Frontispiz verbindet so bereits in seiner graphischen Gestaltung den Bildbereich der Blumen mit dem der Frauen und lässt Bild- und Schriftebene ineinander übergehen, indem mit der Arabeske eine Pose aus dem Ballett dargestellt wird, die ins Register der Schriftbildlichkeit überleitet.33

(Wieder-)Belebung als Aufstand gegen die Blumensprache Wie eingangs erläutert, bestehen die beiden Bände von Les fleurs animées, die insgesamt etwa 700 Druckseiten stark sind, nicht allein aus den Zeichnungen Grandvilles. Diese sind vielmehr zwischen die unterschiedlich langen Texte von Karr, Delord und Raban eingefügt. Soweit es anhand des Frontispiz nachvoll31

Ausnahmen sind z.B. der Lorbeer, der keine Blütenpflanze ist, und die bereits erwähnte Strohblume, deren Name im Französischen auf Unsterblichkeit verweist (immortelle). Bei diesen Lithographien sind keine weiblichen Körper oder Gesichter erkennbar. Es finden sich auch einige Ensembledarstellungen, die mehreren Blumen gewidmet sind, wie z.B. »Le retour des fleurs«, die erste Lithographie im zweiten Band. Es scheint immer noch nicht einwandfrei geklärt zu sein, ob alle diese Lithographien von Grandville stammen oder ob ihm jemand zur Seite stand. Für meine Argumentation ist dies jedoch nicht relevant. 32  Grandville u.a., Les fleurs animées, Frontispiz. 33  Vgl. zum Verhältnis von Arabeske, Ballett und Schriftbildlichkeit den Aufsatz von Wittrock, Eike: »Choreographie als Florigraphie. Arabesken, Blumen und das Ornament im Romantischen Ballett«, in: Sprache und Literatur 42/107 (2011), S. 71–81. In den Texten der Fleurs animées wird Bewegung ebenfalls thematisiert; vgl. hierzu den Abschnitt »Le Bal des fleurs«. Auch Koloration als Verfahren der Verlebendigung ließe sich anhand der grandvilleschen Lithographien nachvollziehen.

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ziehbar ist, stammen die Einleitungen in die beiden Teile der Fleurs animées sowie zu den beiden Kapiteln »Horticulture des Dames« und »Botanique des Dames« jeweils von Karr. Alphonse Karr war ein erfolgreicher Literat, dessen lebenslange Passion für die Hortikultur sich unter anderem daran zeigt, dass er sich kurz nach der Annexion durch Frankreich 1860 nach Nizza zurückzog und eine recht erfolgreiche Blumenhandlung eröffnete.34 Taxile Delord, der wohl den Großteil der in den Fleurs animées versammelten Texte geschrieben hat, war ein überaus produktiver Schriftsteller, der unter anderem an der bekannten Panoramaserie Le diable à Paris (1845/46) mitwirkte und für eine Sammlung von Stadtteilphysiologien namens Les Petit-Paris (1854/55) verantwortlich zeichnete. Comte Fœlix ist eines der zahlreichen Pseudonyme von Louis-François Raban (1795–1870), der bereits 1837 ein Buch zum Thema der Blumensprache verfasst hatte mit dem Titel Le code galant, ou l’art de conter fleurette. Mit Grandville arbeitete er zudem an der Sammlung Les étoiles. Dernière féerie zusammen, die 1849 ebenfalls posthum erschien. Das Kollektiv, das die Fleurs animées gemeinsam verantwortet, bestand also aus einigen der bekanntesten Autoren Frankreichs zur Jahrhundertmitte. Die Einleitung von Karr verbleibt in konventionellen Gedankenspielen über den affektiven Wert von Blumen und kommt zu dem Schluss, Blumen seien die einzig liebenswerten Geschöpfe, da sie dank ihres zyklischen Wiederaufblühens eine Konstanz aufwiesen, die man von Menschen nicht erwarten könne. Weitaus einfallsreicher ist hingegen der zweite Text des Buches, betitelt »La Fée aux Fleurs«, der die lose Rahmenhandlung der Fleurs animées etabliert und wohl von Delord stammt. Er spielt im Palast der Blumenfee, dessen genaue geographische Lage noch niemand hat bestimmen können (Kaschmir, Delhi und der Himalaya werden als mögliche Standorte genannt). Der Erzähler entführt den Leser an diesen Ort, indem er ihm einen imaginären Schleier über die Augen wirft, sicherstellt, dass dieser keine Kieselsteine zur Markierung des Weges in den Taschen bereithält, und, am Zielort angekommen, den feinen Batist lüftet. Im Reich der Blumenfee herrscht auf den ersten Blick friedliche Eintracht. »Kann man als Blume überhaupt unglücklich sein?«,35 fragt sich der Erzähler und muss bald erkennen, dass dieser unwahrscheinliche Fall eingetreten ist. Die Blumen proben den Aufstand. In einer langen Prozession treten sie vor ihre Königin: »Die Reihen waren gemischt: Die aristokratische Tulpe reichte der bürgerlichen Nelke den Arm; die Geranie, eitel wie ein Finanzier, marschierte Seite an Seite 34  Mehrere Blumen, u.a. eine Dahlienart, tragen seinen Namen. Vgl. Vapereau, Gustave: »Karr, JeanAlphonse«, in: ders.: Dictionnaire universel des contemporains, Paris/London/Leipzig 1870, S. 982–998, S. 982. 35  Grandville u.a., Les fleurs animées, S. 10.

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mit der zarten Anemone; und die stolze Amaryllis ertrug ohne allzu große Herablassung die reichlich vulgäre Konversation mit dem gewöhnlichen Blasenstrauch (baguenaudier). In Momenten der Krise rücken gut organisierte Gesellschaften zwangsweise zusammen; so auch im Reich der Blumen.«36

Auffällig ist hier, dass soziale Hierarchien aus der Menschenwelt unbesehen auf die Welt der Blumen übertragen werden. Wir befinden uns in dieser Erzählung zwar im märchenhaften Reich der Blumenfee, dort gibt es allerdings keine quasi-monarchische Ordnung, in der alle Untertanen gleich sind, vielmehr stoßen wir auf die ständische Ordnung der Julimonarchie. Die Zuschreibung gesellschaftlicher Klassen zu bestimmten Blumensorten folgt hierbei einer teils mythisch, teils historisch inspirierten Symbolik, die in manchen Fällen auf äußeren Merkmalen der Blumen (wie kleine Blütenblätter, empfindliches Äußeres etc.) basiert. So war die Nelke, die uns als rote Blume des Sozialismus bekannt ist, anscheinend im frühen 19. Jahrhundert bürgerlich konnotiert; die Amaryllis wurde hingegen als Inbild von Stolz gelesen.37 Mit der Behauptung, Momente der Krise führten anstelle einer Konfrontation zum Zusammenschluss der Klassen, wird hier bereits darauf hingewiesen, dass es im Folgenden nicht um die Hinterfragung gesellschaftlicher Ordnungen gehen wird, sondern dass andere Problematiken im Mittelpunkt stehen.38   Im Reich der Blumen findet nämlich keine Revolution gegen die Blumen-Obrigkeit oder gegen ungerechte Klassenverhältnisse statt. Die Blumen lehnen sich vielmehr gegen ihre Verwendung als sprachliche Bilder auf: »Seit Tausenden von Jahren dienen wir den Sterblichen als Vergleichstext; wir allein tragen die Kosten für all ihre Metaphern (nous défrayons à nous seules toutes leurs métaphores). Ohne uns gäbe es keine Poesie. Die Menschen leihen uns ihre Tugenden und Laster, ihre Fehler und Vorzüge. Es ist Zeit, dass wir von den einen oder den anderen kosten. Das Blumenleben langweilt uns. Wir wünschen, die menschliche Form anzunehmen (revêtir la forme humaine) und selbst zu entscheiden, ob das, was man da oben über unseren Charakter sagt, mit der Wahrheit übereinstimmt.«39

36  Ebd. 37 Vgl. zu den Zuschreibungen von Charaktereigenschaften zu einzelnen Blumen das Kapitel »Comment le poète Jacobus crut avoir trouvé le sujet d’un poème épique«, in: Grandville u.a., Les fleurs animées, S. 33–58, insb. die Tabellen S. 42–49. 38  Inwieweit Grandville noch von den Ereignissen im Februar 1848 betroffen war, die zum Sturz des sogenannten Bürgerkönigs Louis-Philippe geführt haben, ist nicht auszumachen. Die Übernahme der Ständeordnung, die durch die nachfolgenden Erzählungen auch niemals infrage gestellt, sondern eher affirmiert wird, lässt wiederum die Physiologien als genuin kleinbürgerliches Genre erkennen. 39 Grandville u.a., Les fleurs animées, S. 11.

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Die Blumen setzen sich gegen ihre Verwendung als Bildempfänger zur Wehr. Der vermeintliche Gegner dieser Revolution ist nicht die durchaus monarchisch regierende Blumenfee, sondern es sind die jenseits des Feenreichs lebenden Menschen, die sich der Blumen schlichtweg bedienen. Die Blumen im Pflanzenreich der Fleurs animées wissen darum, dass sie bevorzugt zum Vergleich (texte de comparaison) herangezogen werden. Ihre Kampfrede richtet sich zunächst gegen ihre Verwendung im semantischen Bezugsfeld der allgemeinen rhetorischen Tradition. So gibt es im Deutschen wie im Französischen die Bezeichnung ›fleurs rhétoriques‹ für Redeornamente.40 Basierend auf der Vorstellung von Blumen als zweckfreiem, ästhetisch Schönem, das lediglich dekoriert, aber nichts aussagt, wird das Ornat zur Floskel, zum überflüssigen, ja gar lästigen und zu meidenden Dekor. Da sich die Blumen insbesondere gegen die Zuschreibung von Tugenden und Lastern zur Wehr setzen, wird letzten Endes nicht die allgemeine Rhetorik aufgerufen, sondern der historisch engere Kontext der sogenannten Blumensprache.41   Gemeint ist hiermit ein nichtschriftlicher Code, der auf Blumen als Symbolträgern basiert. Diese vermeintliche Geheimsprache geht auf Madame Charlotte de Latour zurück, die 1819 ein geradezu epochemachendes Buch mit dem Titel Le langage des fleurs verfasste.42 Es wurde innerhalb kürzester Zeit zu einem Bestseller mit vielfachen Neuauflagen (1881 erschien bereits die 13. französische Auflage) und zahlreichen Übersetzungen in andere Sprachen.

»Bereits in der griechischen Rhetorik erscheint ἄνjος, ánthos (lat. flos; Blume, Blüte) zusammen mit dem davon abgeleiteten Verb (ἐπ) ἀνjίξειν ((ep)anthízein, verblümen) als Metapher für Redeschmuck, ohne dabei allerdings eine bestimmte Art von Schmuck zu meinen«. Binder,Vera: »Floskel«, in: Ueding, Gerd (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, 3. Bd., Tübingen 1996, S. 371–375, S. 372. 41  In diese Tradition werden Grandvilles Zeichnungen auch gelegentlich gestellt. Vgl. z.B. Beam, Dorri: Style, Gender, and Fantasy in Nineteenth-Century American Women’s Writing, Cambridge/New York 2010, S. 49, die allerdings von einem »decadent […] giftbook« spricht und sich im Unterschied zu den feinteiligen Analysen ihrer anderen Textbeispiele für eine recht plakative Deutung von Grandvilles Lithographien entscheidet. Auf die kulturgeschichtliche Prägung von Grandville u.a. durch das Theatergenre der Feerien und die langage des fleurs verweist auch Mac Orlan, »Grandville le précurseur«, S. 20. 42 Über Charlotte de Latour ist nicht viel bekannt. Die Forschung ist sich einig, dass es sich hierbei um ein Pseudonym von Louise Cortambert handelt. Vgl. Quérard, Joseph-Marie: »Latour (Mme Charlotte de)«, in: ders.: Les supercheries littéraires dévoilées. Galerie des écrivains français de toute l’Europe qui se sont déguisés sous des anagrammes, des astéronymes, des cryptonymes, des initialismes, des noms littéraires, des pseudonymes facétieux ou bizarres, etc., 2. Bd., Paris 1964, S. 673; Vapereau, Gustave: »Cortambert«, in: ders.: Dictionnaire universel des contemporains. Contenant toutes les personnes notables de la France et des pays étrangers... . Ouvrage rédigé et tenu à jour, avec le concours d’écrivains et de savants de tous les pays, Paris 1865, S.  431. Einige Exemplare der Langage des fleurs, wie auch das in dem vorliegenden Artikel zitierte, wurden unter dem männlichen Pseudonym (Louis) Aimé Martin publiziert, wobei es sich wohl um den belgischen Lektor der Autorin handelt. 40

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Ausgangspunkt des latourschen Kompendiums ist die Zuschreibung von Charaktereigenschaften zu einzelnen Blumen, die jeweils ein unterschiedlich weitgefasstes, zumeist moralisch fundiertes Konzept repräsentieren. So steht bei ihr z.B. die gelbe Rose für Untreue, die Orangenblüte für Keuschheit und Weißdorn für Hoffnung. Auf der Grundlage dieser paradigmatischen Zuschreibungen lassen sich Nachrichten komponieren, die sich, je unterschiedlich syntagmatisch zusammengesetzt, durch die und mit der Blume versenden lassen. De Latours Handbuch für all diejenigen, die sich der Blumensprache bedienen wollen, hat Vorbildcharakter für die folgenden Blumensprachenbücher. Die Adressaten ihrer Ausführungen hat de Latour präzise vor Augen, wenn sie deutlich macht, dass der Blumencode besonders zum Austausch von Nachrichten zwischen Liebenden geeignet sei. Die Zuneigung, deren verblümten Ausdruck de Latour propagiert, wird als keusche und nichtsexuelle Liebe charakterisiert. Fernziel ist stets die bürgerliche Ehe. So beginnt bereits das Vorwort ihres Buches mit der stereotypen Schilderung eines jungen weltabgewandten Mädchens, dessen höchstes Glück im Studium der heimischen Pflanzenwelt besteht. De Latours Buch ist daher jenen gewidmet »qui connaissent l’amour et qui vivent à la campagne, loin du tumulte du monde«.43 Eine derartige Verknüpfung der Blumensprache mit einem bürgerlich-beschaulichen Liebesideal, die in jungen Mädchen präsexuelle Wesen sieht, deren Gefühlserwachen durch zarte Blüten kommuniziert wird, ist für die Blumenbücher nach de Latour prägend.   Die aufständischen Blumen bei Grandville kennen diese Tradition offensichtlich. Der langage des fleurs folgend schreiben Menschen Blumen Bedeutungen zu, die diese dann wiederum verbildlichen sollen. Die Blumen jedoch verstehen sich in den Fleurs animées nicht als Signifikanten, sondern als Signifikate: Sie hinterfragen die zum Klischee geronnenen Zuschreibungen und fordern ihren Übertritt von der Blumenwelt in die Menschenwelt, ihre Verwandlung von einem floralen Typus in ein humanes Individuum.

Re-Animation als Reaffirmation Die von den Blumen eingeklagte Verwandlung in Menschen lässt sich auf der intradiegetischen Ebene als Rückübertragung eines sprachlichen in einen außersprachlichen Prozess lesen, dessen zweifaches Ziel klar definiert wird: Zum einen wünschen sich die Blumen, Laster und Tugenden zu kosten, d.h., sie erwarten von ihrer Menschwerdung die Fähigkeit, selbst Gefühle empfinden zu 43

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Martin, Aimé [d.i. Louise Cortambert]: Le langage des fleurs, Brüssel 1830, S. 10f.

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können – in erster Linie Liebe. Der zweite Grund, der von der Wortführerin der Blumen, einer Schneerose, angegeben wird, ist der Wunsch, die symbolhaften Zuschreibungen der Menschen zu überprüfen: Entspricht die Gefühlswelt der Frau gewordenen Blume dem symbolischen Korrelat der Blumensprache? In anderen Worten: Stehen die Blumen, die hier als Individuen vorgestellt werden, generisch für Konzepte ein, die sich mit ihren individuellen Erfahrungen und Charaktereigenschaften decken? Bereits diese paradoxe Ausgangssituation, die in den Texten nicht weiter kommentiert oder gar aufgelöst wird, zeigt, dass sich die Frage danach, wie das Adjektiv ›animé‹ im Titel des Sammelbandes zu verstehen ist, nicht einfach beantworten lässt. Von einer Beseelung der Blumen in einem einfachen Sinn, d.h. von der Verlebendigung eines zuvor leblosen Gegenstandes kann nicht gesprochen werden: Die Rahmenhandlung etabliert Blumen bereits als Wesen, die über Sprach- und Denkvermögen verfügen. Mit dem Annehmen der menschlichen Form jedoch treten die Blumen anscheinend in einen qualitativ anderen Modus des Lebendigen hinüber, der sich in erster Linie durch Empfindungsvermögen auszeichnet, und zwar eines solchen, das sich im Register der heterosexuellen Liebe bewegen wird. Sozialität und verletzte Eitelkeiten gibt es bereits im Blumenreich; zwischengeschlechtliche Beziehungen werden von den Blumenfrauen jedoch erst in der Menschenwelt geknüpft. Die Berichte, wie es ihnen dort ergeht, folgen in loser Reihung auf die oben nacherzählte Rahmenhandlung im Feenpalast.   Von vornherein wird deutlich, dass die überwältigende Mehrzahl der Geschichten in der Sammlung nicht auf einem generellen Anthropomorphismus basiert, d.h. der Zuschreibung menschlicher Eigenschaften auf unbelebte Objekte, sondern genauer betrachtet auf Gynomorphismus, der Übertragung vermeintlich weiblicher Charakterzüge auf pflanzliche Individuen. Im Französischen ist, ebenso wie im Deutschen, das generische Wort ›Blume‹ grammatikalisch dem weiblichen Geschlecht zugeordnet. Zwar wird die Zuschreibung eines symbolischen Gehalts an den Blumensignifikanten in der Rahmenhandlung infrage gestellt, doch wird die arbiträre Zuweisung eines grammatikalischen Geschlechts als Basis einer sozialen Geschlechterordnung akzeptiert.44 Auch die Berufe, die die Blumen bei den Menschen auszuüben gedenken – Schriftstellerin, Bäuerin,

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Die Sammelbezeichnung ›Blume‹ mag zwar in beiden Sprachen grammatikalisch weiblich sein, dies trifft jedoch nicht auf die einzelnen Blumenarten zu, die durchaus männlich oder sächlich sein können. Keine der Blumen oder Pflanzen jedoch, von denen in den Fleurs animées erzählt wird, ist männlich – es handelt sich ausschließlich um Transformationen von Blumen in weibliche Charaktere. Die einzige Ausnahme ist das Maiglöckchen (le muguet), das eine doppelte Transformation durchläuft, zunächst in eine Operntänzerin, dann in einen schneidigen jungen Ritter, und sich schlussendlich in eine Kapuzinerkresse verliebt.

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Ehevermittlerin, Lehrerin, Kleiderverkäuferin – entsprechen durchaus gängigen Geschlechterrollen um 1850.   In den wenigen Fällen, in denen die Blumen für ihr Geschlecht ungewohnte Wege gehen, wird diese Transgression bestraft. Das Schicksal der Heckenrose (églantine) in der mit »La Vérité sur Clémence Isaure« betitelten Geschichte steht beispielhaft für diese Tendenz. Églantine wird durch das Tragen einer blauen Hose zur Namensgeberin der Bas-Bleus, jener schriftstellerisch ambitionierten Frauen, die auch in der deutschen Ikonographie als Pflanzen dargestellt wurden (Abb. 4). Ihrem Erfolg als Schriftstellerin opfert sie all jene Tätigkeiten, die gemeinhin der weiblichen Welt zugeschrieben werden: Ihr Ehemann muss sich allein um den Haushalt kümmern und selbst das gemeinsame Kind, das sie immerhin zur Welt bringt, zieht er auf. In dieser Geschichte wird das Drohbild der gebildeten, schreibenden Frau aufgerufen, nur um es am Ende wieder zurück in die pflegeleichte Blume zu verwandeln. Selbst vor (wenn auch sicherlich ironischen) Invektiven gegen reale Schriftstellerinnen wie Marguerite de Navarre (die den Blumenbezug selbst im Namen trägt) und Madame de Staël wird nicht zurückgeschreckt. Noch nach ihrer Rückverwandlung in die Blumenform hat die zarte Heckenrose Angst, mit den Resultaten ihres Autorinnenlebens konfrontiert zu werden. Wenn in dieser Geschichte von einer schreibenden Blumenfrau berichtet wird, so geschieht dies von einem heterodiegetischen männlichen Erzählstandpunkt aus, da laut der Herausgeberfiktion von den Blumenwesen selbst bedauerlicherweise keine Aufzeichnungen vorhanden sind.45 Die Fiktion einer Belebung der Blumen als sprechende Frauen stößt demnach bei der Verschriftlichung an eine Grenze: Es ist von Anbeginn an klar, dass nach dem Aufstand im Blumenreich und dem Eintritt der Pflanzen ins Menschenreich männliche Autoren die jeweilige Geschichte der weiblichen Wesen erzählen. Und so enden die Geschichten mit der Erzählung »Le Bal des Fleurs«, in der die Blumenfee ihre abtrünnigen Hofdamen wieder zurück ins Reich der Blumen holt.   Diese Wiederaufnahme ins Blumenreich verbildlicht somit die Bestätigung des zuvor abgelehnten Symbolsystems. Der Aufstand gegen die langage des fleurs muss zwangsläufig scheitern. Der Geheimcode, der hauptsächlich Frauen adressiert, ist in den 1840er Jahren, als Grandvilles Sammlung erscheint, bereits zu einem populären Allgemeingut geworden. Die dort gültigen Regeln werden durch die vorliegenden Erzählungen zwar kurzzeitig infrage gestellt, schließlich 45

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Vgl. Grandville u.a., Les fleurs animées, S. 17: »Il est bien malheureux qu’elles n’aient pas jugé à propos de faire des confidences, ou d’écrire leurs mémoires, cela nous eût évité bien des peines, bien des démarches et surtout bien des erreurs.«

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Abb. 4. Moderne Treibhauspflanzen, in: Fliegende Blätter 1 (1845).

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aber doch bestätigt. Mit dieser Festschreibung der symbolischen Qualitäten der Blumen wird jedoch weitaus mehr zementiert als lediglich die Regeln einer vermeintlichen Geheimsprache: In aller Deutlichkeit werden die gesellschaftlichen Konventionen, denen das Verhalten von Frauen entsprechen soll, ausgestellt und affirmiert.

Belebung durch Praxis. Hortikultur und Botanik für die Damen Die Rückkehr in den Feenpalast steht jedoch erst ungefähr am Ende des ersten Drittels des zweiten Bandes der Fleurs animées, der mit dieser Erzählung nicht endet.46 Es folgen zwei weitere Abschnitte, die mit »Botanique des Dames« und »Horticulture des Dames« betitelt sind und von Raban stammen; beide werden wiederum von Karr eingeleitet. Mit ihrer Unentschiedenheit zwischen genitivus obiectivus und genitivus subiectivus verweisen bereits die beiden Kapitelüberschriften auf das den Fleurs animées unterliegende Verfahren, Frauen und Blumen als analoge Lebewesen zu verstehen, die denselben Regeln (Bescheidenheit, Passivität, Attraktivität etc.) zu gehorchen haben. Diese Wesensgleichheit betont auch Karr, wenn er einleitend die Leserinnen warnt: »Lesen Sie nicht weiter, werte Leserinnen. Hören Sie hier auf, legen Sie das Buch weg – man will Sie täuschen. M. Grandville mit seinen einfallsreichen und eleganten Kaprizen, M. Delord mit seinen geistreichen Seiten – beide sind schlichtweg Verräter: Auf ihren blumigen, duftigen Pfaden locken sie Sie in eine Falle. Sie wollen Sie den Gelehrten ausliefern – und was für Gelehrten! Den Botanikern! Jenen Männern, die ebenso Ihre Feinde sind wie diejenigen der Blumen.«47

In einem spielerischen Ton wird hier nochmals verdeutlicht, dass sowohl Blumen als auch Frauen vor männlichen Autoren und vor allzu viel Wissen geschützt werden müssen.   Dennoch folgt mit Rabans Botanik für die Damen eine zwar populärwissenschaftliche, aber durchaus anspruchsvolle Einleitung in die Botanik. Auch er wendet sich an ein genuin weibliches Lesepublikum, nimmt aber im Unterschied zu Karr die Botaniker gegen den Vorwurf in Schutz, sie töteten Lebendiges, indem sie es zum einen in Form von getrockneten Herbarien aufbewahrten 46

Hierin unterscheidet sich die französische Ausgabe von der zeitgenössischen Übertragung ins Deutsche durch Böttger, in der auf den abschließenden Ball lediglich die Geschichte der Immortelle folgt, die beschließt, unter den Menschen zu bleiben. 47  Karr, Alphonse: »Botanique des Dames. Introduction«, in: Grandville, Jean-Ignace-Isidore de; Karr, Alphonse; Délord, Taxile; Raban, Louis-François: Les fleurs animées, 2. Bd., Paris 1847, S. 131–134, S. 131.

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und zum anderen mit der wissenschaftlichen Nomenklatur auf Latein von ihrem lebendigen Dasein in der französischen Sprache abtrennten. Nach einem als »histoire physiologiste des plantes« bezeichneten Abschnitt, der erklärt, »wie sie [die Pflanzen] entstehen (naissent), wachsen, leben, sich fortpflanzen, sterben und sich zersetzen«,48 folgt seine Einführung der Taxonomie der Pflanzenfamilien von Antoine Laurent de Jussieu (1748–1836). Die Klassifikation wird hierbei mit denselben Metaphern gefasst, mit denen in den literarischen Physiologien die menschliche Gesellschaft systematisiert wird: »Wir müssen nun noch die Sitten (mœurs) jedes Stammes und jeder Familie nachzeichnen, ebenso wie ihre Vorlieben (goûts), ihre Gepflogenheiten (usages) und ihre Gesetze.«49 Obwohl hier durchaus botanisches Wissen auf dem Höhepunkt der Zeit dargestellt wird,50 ist es unübersehbar, dass das vermeintliche Ziel der Natur durchaus auch für die angesprochenen Leserinnen gelten soll: »Le but que s’est proposé la nature dans la création des êtres animés, est la reproduction de l’espèce.«51 Durch die Darstellung der botanischen Kenntnisse soll letzten Endes Reproduktion als Sinn und Zweck der Gattung anerkannt werden.   Nach der Erläuterung der Prinzipien der Fortpflanzung folgt in einer beinahe schon ironischen Volte das Thema Erziehung, natürlich ebenfalls im Gewand der Hortikultur: »Nachdem wir versucht haben, Ihnen die Pflanzen näherzubringen, versuchen wir zu erklären, wie die schönsten unter ihnen entstehen, welche Erziehung ihnen angemessen ist, vor welchen Gefahren sie geschützt werden müssen und welche Fehler unbedingt korrigiert werden müssen. Wir widmen uns der Hygiene, der Pathologie, der Therapeutik des Beetes (thérapeutique de parterre), und müssen hierbei wenigstens nicht auf eine barbarische Sprache zurückgreifen, um diese sanften und zarten Dinge zu erzählen und verstehen zu können.«52

Auch dieser Abschnitt ist durchaus informativ, er ist jedoch deutlich praktischer ausgerichtet als das Kapitel zur Botanik. Nach einer Einführung in die Grundregeln der Fortpflanzung folgen die Methoden und Techniken, mit denen 48 Ebd., S. 176. 49  Ebd. 50  Die Tatsache, dass die beiden Abschnitte zur Botanik und zur Hortikultur von Seiten der Botaniker ernst genommen wurden, zeigt eine Reaktion auf die dort geschilderten Schwierigkeiten bei der Kamelienzüchtung in den Annales de la Société royale d’agriculture et de botanique de Gand. Journal d’horticulture et des sciences accessoires (1847), S. 88. 51  Comte Fœlix [d.i. Louis-François Raban]: »Botanique des Dames«, in: Grandville, Jean-Ignace-Isidore de; Karr, Alphonse; Délord, Taxile; Raban, Louis-François: Les fleurs animées, 2. Bd., Paris 1847, S. 135– 253, S. 136. 52 Ebd., S. 253.

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Reproduktion im Pflanzenreich erfolgreich unterstützt werden kann. Neun der insgesamt siebzehn Abschnitte beginnen daher mit dem Wort Vermehrung (multiplication). Das Schlusswort zur Gartenkunst für die Damen ist zugleich dasjenige der Fleurs animées: »So weit, meine Damen, die Theorie; aber die Theorie ist hier nicht das Schönste. Erst in der Praxis erwarten Sie angenehme Überraschungen, spontane Entdeckungen, unerwartete Resultate. Es genügt, die Blumen zu sehen, um sie zu lieben; aber dieses Zartgefühl ist noch weitaus lebendiger, wenn man sie kultiviert. Oft wird daraus eine wahre Leidenschaft; eine reine und völlig unschuldige Leidenschaft, die keine Reue und Gewissensbisse hervorruft und zu der man stets stehen kann, da sie es gewohnt ist, nur in schönen Seelen Einzug zu halten.«53

In mehrfacher Hinsicht reaffirmieren die Texte der Fleurs animées somit den spätestens seit Jean-Jacques Rousseau etablierten Konnex zwischen Frauen und Blumen: Der Aufstand gegen die symbolischen Zuschreibungen der langage des fleurs führt nicht zur Revision der Metaphern, sondern zur Bestätigung des Systems. Genuin feminin definierte Eigenschaften werden weiterhin im Register des Blumenhaften gefasst. Und auch die Einführungen in die Botanik und die Gartenkultur schreiben den Bereich des Weiblichen fest: Fortpflanzung und Erziehung sind die Gebiete, in denen Frauen praktizieren dürfen, ohne dass diese Leidenschaften ihre schöne Seele gefährden könnten.

53 Comte Fœlix [d.i. Louis-François Raban]: »Horticulture des Dames«, in: Grandville, Jean-Ignace-Isidore de; Karr, Alphonse; Délord, Taxile; Raban, Louis-François: Les fleurs animées, 2. Bd., Paris 1847, S. 265– 385, S. 384f.

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Das lebendige Kunstwerk und seine technische Beseelung. Re-Animation und Experiment in Auguste Villiers de l’Isle-Adams L’Ève future

I

n seinem symbolistischen Roman L’Ève future (1886) lässt der Schriftsteller Auguste Villiers de l’Isle-Adam den Erfinder Thomas Alva Edison zum Pygmalion des elektrischen Zeitalters werden. In einem geheimen unterirdischen Labor erschafft Edison1 als mad scientist und fataler »Hexenmeister von Menlo Park«2 ein »neues, elektro-menschliches Geschöpf«.3 Seine »wissenschaftliche Eva«4 namens Hadaly ist ein »lebendiges Kunstwerk«,5 welches, so Edisons Motivation, die ›degenerierte‹ und ›künstliche‹ Natur der Frau durch reine Technik ersetzen soll.6 Für Edison stellt die »Andréide«7 Hadaly zwar die Krönung seiner Erfindungen dar, doch für ihn persönlich ist sie nutzlos, denn ohne die belebende Projektion eines Betrachters bleibt sie ein reines Impromptu seiner Kunstfertigkeit. Für die andere Hauptfigur des Romans, den sensiblen und idealistischen Lord Ewald hingegen bedeutet die Animation Hadalys die Erfüllung eines 1  2  3  4  5  6 

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Im Folgenden ist mit Edison immer die Romanfigur, nicht die historische Person gemeint. Villiers de l’Isle Adam, Auguste: Die künftige Eva, Zürich 2004, S. 5. Ebd., S. 213. Ebd., S. 355. Ebd., S. 165. Für eine fast schon zwingende gendertheoretische Analyse der L’Ève future vgl. Forrest, Jennifer: »Lord of Hadalys Rings. Regulating the Female Body in Villiers de l’Isle-Adam’s ›L’Eve future‹«, in: South Central Review 13/4 (1996), S. 18–37. Mit dieser Wortschöpfung möchte Villiers die Erfindung Edisons vom Begriff ›androide‹ absetzen, der im zeitgenössischen Diskurs stark mit dem Automaten assoziiert wird. Dadurch soll die absolute Neuartigkeit der künstlichen Eva betont werden. Wie sich noch herausstellen wird, ist Hadaly, so wie sie von Edison imaginiert wird, gerade kein simpler Automat mehr, sondern vielmehr der Entwurf einer souveränen Maschine, deren Körperprozesse vollkommen regulierbar und steuerbar sind.

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romantischen Liebestraums, der eigentlich ein projektiver Kunstrausch ist. Es ist die antike Venus Victrix, die er in seiner enttäuschenden und banalen Geliebten Miss Alicia verehrt und die durch Edisons Geschöpf technisch reproduziert und re-animiert werden soll. Edison und Ewald verkörpern somit zwei unterschiedliche Pygmalionfiguren: Verliebt in seine Apparate ist das Erfindergenie Edison, verliebt in die antike Statue der sensible Ästhet Ewald. L’Ève future thematisiert auf diese Weise das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, aber auch den Menschen als Kunstwerk, welcher in den experimentellen Wissenschaften im 19. Jahrhundert ebenfalls reproduzierbar, wenn nicht gar produzierbar wird.   Zugleich werden mit den beiden männlichen Protagonisten zwei unvereinbare Seelenbegriffe miteinander konfrontiert. Während Lord Ewald noch eine romantische Seelenvorstellung vertritt, reduziert Edison, als Vertreter einer physikalisch-mechanistischen Seelenauffassung, die bewegende Kraft der Seele auf ihre rein mathematische Dimension.8 Die Seele ist für ihn eine berechenbare Größe, und die Anziehungskraft zwischen den Liebenden erklärt sich durch puren Magnetismus.   In Villiers’ Roman treffen gleich drei Formen der Re-Animation, d.h. der Wiederbelebung und Wiederbeseelung aufeinander:9 technische Re-Animation, ästhetische Re-Animation und spiritistische Seelenwanderung. Letztere Form der Re-Animation tritt hinzu, da für die vollständige Verlebendigung des technischen Körpers der Eva eine Ätherseele inkarniert werden muss. Damit scheinen die verschiedenen Formen der Re-Animation in L’Ève future ein medienhistorisches und epistemologisches Schwellenmoment zu markieren. Re-Animation erscheint einerseits als Figur der Ununterscheidbarkeit: Im Roman ist alles Lebendige und Tote, Natürliche und Künstliche miteinander vermischt, alles wird ein Doppelwesen. Emblematisch dafür steht der Erfinder Edison selbst, der als Zauberer und »geheimnisvoller Zwilling«10 des Künstlers in den Roman eingeführt wird und im Laufe der Kapitel weitere Rollen als Experimentator, Psychiater, Hypnotiseur und Magnetiseur annehmen wird. Re-Animation erscheint andererseits als Effekt einer medientechnischen Neu-Formatierung der Seele, die sich im Spiritismus und in den experimentellen Wissenschaften vollzieht und die (Re-)Animation mit (technischer) Reproduzierbarkeit gleichsetzt.

8  9 

Vgl. Villiers, Die künftige Eva, S. 145. Auch im französischen Ausdruck ›animation‹ sind Belebung, Bewegung und Beseelung miteinander verwoben. Mit dieser semantischen Verschränkung spielt Villiers konsequent. 10  Villiers, Die künftige Eva, S. 10.

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Re-Animation und Experiment in L’Ève future

Dieser Aufsatz möchte die Figur der ›Re-Animation‹ in einer spezifischen medienhistorischen Konstellation denken und sie anhand einiger exemplarischer Mischwesen, Erfindungen und Reflexionen in L’Ève future konkretisieren. Dazu soll die Erschaffung der künstlichen Eva als zeittypische experimentelle Anordnung in den Blick genommen und mit den wissenschaftshistorischen Diskursen konfrontiert werden, auf die Villiers in seinem Roman implizit und explizit immer wieder rekurriert.

Das unterirdische Paradies. Topographie der Re-Animation Im dritten Kapitel des Romans begeben sich die beiden Protagonisten in Edisons geheimes Laboratorium. Dass es sich dabei um ein unterirdisches Paradies handelt, mag nicht weiter verwundern, denn es ist nur logisch, dass die künftige Eva in einem »unterirdischen Garten Eden«11 vor den Augen der Welt verborgen bleiben soll. Zugleich bestätigt die Topographie des unterirdischen Paradieses die Koinzidenz von Leben und Tod. Denn es ist eine alte Grabkammer, in der sich Edison ein fantastisches Reich der Elektrizität errichtet hat. Und ebenso wie das Grab zum Paradies wird, wird der Tod zur Re-Animation. Nur auf den ersten Blick handelt es sich hier um eine bloße Verdopplung der vorhandenen Welt. Im »verlorenen und wiedergefundenen Paradies«12 gehorcht alles Existierende den Gesetzen des technischen Fortschritts und den Launen des Erfinders: Vögel sprechen hier mit Menschenstimmen, ein Klavier beginnt von selbst zu spielen, eine künstliche Orchidee enthält die Seele von Edisons verstorbener Nachtigall. »›Wie! Ist die Nachtigall, deren seelenvolles Lied ich höre, wirklich tot?‹ – murmelte Lord Ewald. ›Sie sagen tot? – Nicht ganz ... ich habe ja ihre Seele aufgenommen (cliché)‹, antwortete Edison. ›Ich bewirke ihre elektrische Wiedergabe (Je l’évoque par l’électricité): Das ist seriöser Spiritismus. [...] – Und da sich die Strahlenwirkung hier nur noch in Wärme umsetzt, können Sie Ihre Zigarre an diesem harmlosen Funken anzünden, in derselben wohlriechenden Blume, aus der wie eine helle Melodie die Seele dieses Vogels singt. (Vous pouvez allumer votre cigare à l’âme de ce rossignol.)‹«13

In der von Edison erschaffenen Nachtigall wird die Seele zum technischen Duplikat, zum cliché, welches durch die Elektrizität wieder abgerufen oder wiederbelebt werden kann. Diese Reproduzierbarkeit steht nicht nur im Widerspruch 11  12  13 

Ebd., S. 197. Ebd., S. 170. Ebd., S. 208. Vgl. auch ders., L’Ève future, Paris 1993, S. 171.

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zum christlichen Konzept einer individuellen, einzigartigen Seele. Spätestens wenn diese anschließend zum Zigarrenanzünder wird, liegt auf der Hand, dass die Seele hier eine radikale Umdeutung erfährt. Die Re-Animation im unterirdischen Paradies ist zunächst eine spiritistische oder magische Praxis, aber auch eine Rekombination: »Hadalys Vögel sind Kondensatoren mit Flügeln. Ich glaubte, richtig zu handeln, als ich sie an Stelle des altmodischen und sinnlosen Gesangs des normalen Vogels mit menschlicher Sprache und Lachen begabte. Das schien mir dem Geist des Fortschritts besser zu entsprechen. Die wirklichen Vögel wiederholen so miserabel, was man ihnen beibringt! Ich fand es amüsant, mit dem Phonographen einige bewundernde oder neugierige Aussprüche meiner zufälligen Besucher aufzunehmen und sie dann elektrisch mit einer von mir erfundenen, dort oben noch unbekannten Methode auf die Vögel zu übertragen.«14

So scheint es, als ginge die technische Re-Animation unweigerlich mit einer Vermischung der Existenzweisen und Formen einher: Die identische Kopie einer Entität (Vogel) wird mit einer anderen (bewundernder oder neugieriger Kommentar eines Besuchers) verbunden, um dadurch ein neuartiges Drittes entstehen zu lassen. Geschaffen wird ein phonographisch re-animierter Vogel, der als Verkörperung des ›Geistes des Fortschritts‹ nicht nur etwas ursprünglich Sinnloses und Veraltetes mit neuem Sinn auflädt, nämlich den Vogelgesang, sondern dabei zugleich der menschlichen Stimme einen neuen, angemesseneren Körper zuweist. In den Phänomenen dieser unterirdischen Welt ist die Verbindung von Elektrizität und Spiritismus, welche die Re-Animation in L’Ève future auszeichnet, besonders offensichtlich. Der alberne Vogelbauer der Unterwelt ist eine Persiflage auf die spiritistische Praktik der Geisterkommunikation mit Hilfe technischer Medien. Verstärkt wird dieser Eindruck durch ein Begrüßungsund Abschiedsritual, das den Aufenthalt der Protagonisten in der Grabkammer rahmt und das sich auf Knopfdruck zuverlässig wiederholen lässt. Eines der Hauptmerkmale von Edisons elektrisch re-animierten Hybridwesen ist folglich die Wiederholbarkeit ihrer Reaktionen. Sie können nach Belieben an- und ausgeschaltet werden, ohne dass sich deswegen ihr Verhalten ändern würde. Die Illusion des Lebens lässt sich immer wieder aufs Neue und mit gleichbleibender Intensität hervorrufen. Obwohl die identische Wiederholbarkeit eigentlich gerade kein Zeichen für Lebendigkeit ist, wird sie hier zum Funktionsmodus des Lebens. Diesem Widerspruch soll im Folgenden nachgegangen werden.

14 

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Villiers, Die künftige Eva, S. 203.

Re-Animation und Experiment in L’Ève future

Die ›galvanisierte Hoffnung‹. Re-Animation als Versuchsanordnung In seinen äußerst ausführlichen Erläuterungen zur technischen Funktionsweise seiner Andréide bezieht sich Villiers’ Edison mehrfach auf die zeitgenössischen Experimentalwissenschaften, wobei er zugleich deren wissenschaftliches Ziel radikalisiert:15 Die vollkommene Beherrschbarkeit des Lebens soll durch die Schaffung eines künstlichen Lebewesens unter Beweis gestellt werden. Die ›Eva der Zukunft‹ beruht auf zwei Möglichkeitsbedingungen: auf den Experimentalwissenschaften und auf der Elektrizität. Während für den Physiologen, Mediziner und Begründer der Experimentalwissenschaften, Claude Bernard, der Ursprung des Lebens unzugänglich ist und deshalb aus dem Aufgabenbereich des Physiologen ausgeschlossen wird,16 holt ihn Edison in Villiers’ Text wieder in die Experimentalwissenschaften hinein. Er setzt die Elektrizität als universale Lebenskraft (agent vital) ein, welche sowohl den fleischlichen als auch den künstlichen Menschen animiert.17 Indem an die Stelle des göttlichen Hauchs der elektrische Funke tritt,18 wird der Übergang von der Animation zur Re-Animation vollzogen. Und genau darauf beruht die »galvanisierte Hoffnung« in L’Ève future.19 War Bernard in seiner Abhandlung Définition de la vie auf die Definition 15 

16  17  18 

19 

Ziel der zeitgenössischen Experimentalwissenschaften ist nach ihrem Begründer Claude Bernard die Ausweitung menschlicher Handlungsmacht über die Dinge und Lebewesen: »Wir wissen, dass der Mensch mit Hilfe der Physik und der Chemie bereits seine Beherrschung über die festen Körper gesichert hat; […] durch die Physiologie soll der Mensch nun ebenfalls versuchen, seine Handlungsmacht auf die Phänomene der Lebewesen auszudehnen.« Bernard, Claude: »Le problème de la physiologie générale«, in: ders.: La science expérimentale, Paris 1878, S. 99–148, S. 109. Im Folgenden stammen alle nicht eigens nachgewiesenen Übersetzungen aus dem Französischen von der Autorin. Nach Bernard soll sich der Physiologe nicht mit dem Ursprung des Lebens befassen, sondern ausschließlich mit seinen Manifestationen. Vgl. Bernard, Science expérimentale, S. 138. Vgl. Villiers, Die künftige Eva, S. 130. Vgl. auch ders., L’Ève future, S. 120. Nicht zufällig folgen in der Mitte des Romans die beiden Kapitel »Gott« und »Elektrizität« direkt aufeinander. Auf diese Weise werden die beiden animierenden Kräfte nicht nur zueinander in Bezug gesetzt, sondern die Elektrizität steht damit ganz buchstäblich in der Nachfolge Gottes. Folglich geht nicht nur die Fähigkeit zur Animation, sondern auch die göttliche Schöpfungsmacht auf Edison als Verkörperung der Elektrizität über. Sein unterirdisches Paradies ersetzt ihm den verlorenen Himmel und seine Glühbirne repräsentiert das moderne Fiat Lux. Vgl. Villiers, Die künftige Eva, S. 54. Diese Zuschreibung göttlicher Macht erklärt, weshalb Edisons pygmalionisches Projekt sich nicht auf die Erschaffung einer idealen Statue beschränkt, sondern in der Erschaffung einer neuen Eva gipfelt. Villiers, Die künftige Eva, S. 168. Nach Bernhard Siegert und Hans-Christian von Herrmann provoziert das Zusammenspiel von Galvanismus und Guillotine um 1800 das Ende der Physiognomik und ersetzt diese durch »lebende Anatomien« und »Post-Mortem Performanzen«, die statt des lebendigen Körpers nun den toten Körper ins Zentrum der Wissensproduktion stellen. Siegert, Bernhard; Herrmann, Hans-Christian von: »Beseelte Statuen, zuckende Leichen. Medien der Verlebendigung vor und nach Guillaume-Benjamin Duchenne«, in: Kaleidoskopien 3 (2000), S. 66–99, S. 78f. Die ›Ève future‹ steht damit emblematisch für die Transformation der Grenze von Leben und Tod in eine (wiederholbare)

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›Leben ist Sterben‹ gekommen,20 so ist Edisons Projekt abermals die Radikalisierung dieser Ansicht. Wenn Leben und Tod, Destruktion und Kreation in eins fallen, so ist das Ideal des technisch optimierten Lebens die Re-Animation als wiederholbarer und reversibler Wechsel zwischen Leben und Tod. Dank dieser Wiederholbarkeit werden Leben und Tod unterlaufen, so Edisons Hoffnung und Aussage. Die Andréide kann weder altern noch sterben, sondern nur zerstört werden. In ihr bilden Leben und Tod vorübergehende Zustände einer inhärenten Unsterblichkeit: perfekter Geist in perfektem Körper – auf Dauer gestellt.   Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, den pygmalionischen Schöpfungsakt in L’Ève future als eine experimentelle Versuchsanordnung zu lesen, welche auf spezifischen Hypothesen und Zielsetzungen basiert. Unter idealen Bedingungen soll der ideale Mensch produziert werden, um erstens das Leben sprechen zu lassen21 und zweitens die Göttlichkeit des Menschen dadurch zu beweisen, dass es ihm möglich ist mit Hilfe der Elektrizität und der zeitgenössischen Speichermedien, ein Wesen nach seinem eigenen Ebenbild zu erschaffen. Dieses Ebenbild steht im selben Verhältnis zu seinem Erfinder wie der Mensch zu Gott. Die Liebe fungiert hierbei als Test und Gegenprobe, an der sich die Theorie Edisons beweisen muss: Liebe als Spezifikum des Menschen und als Seelenmanifestation par excellence soll und kann, so Edisons These, technisch induziert werden.   In dieser Versuchsanordnung müssen drei Experimentatoren oder Schöpfer miteinander kooperieren: Edison (der multiple Erfinder), Ewald (der romantische Poet) und Sowana (das spiritistische Medium). Dabei haben alle drei Beteiligten ein unterschiedliches Bewusstsein vom bzw. einen unterschiedlichen Einblick in den Schöpfungsprozess: Ewald wird bis kurz vor Ende des Romans über die unbekannte Kraft oder Wesenheit, welche die Andréide beseelen soll, im Unklaren gelassen. Ähnlich Sowana ist er zunächst nur ein Werkzeug Edisons, der missing link, der notwendig ist, um die Statue zu beseelen. Doch stellt sich letztendlich auch Edison, der große deus ex machina, als Werkzeug seines eigenen Geschöpfs heraus.22 Alicia wiederum, die »Nichtigkeit«,23 die unwisdigitale Schaltung, und ihre ›galvanisierte Hoffnung‹ ist nichts anderes als die Re-Animation. 20  Tatsächlich nimmt Bernard, ausgehend von der enzyklopädischen Definition des Lebens, nach der das Leben das Gegenteil des Todes ist, verschiedene Definitionen vor und betont insbesondere das schöpferische Potenzial des Lebens. In seinen Abhandlungen greift er häufig zunächst auf eine zyklische Definition des Lebens zurück, die ihn letztendlich zur Schlussfolgerung führt: »Das Phänomen des Lebens ist letztendlich ein Phänomen des organischen Todes.« Vgl. Bernard, Science expérimentale, S. 198. 21  Vgl. Villiers, Die künftige Eva, S. 49f. 22  So weiht Hadaly Lord Ewald am Ende des Romans in ihre Instrumentalisierung des Erfinders ein: »Ich rief mich in das Denken dessen, der mich schuf, während er nur aus eigenem Antrieb zu handeln glaubte, gehorchte er unbewußt auch mir.« Villiers, Die künftige Eva, S. 429. 23  Ebd., S. 146f.

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Re-Animation und Experiment in L’Ève future

sende Teilnehmerin des Experiments, liefert die leere Hülle oder äußere Erscheinungsform des Ideals und teilt damit das traurige Schicksal des prototypischen ›weiblichen Mediums‹ um 1900.24 Ebenso wie die Trancetänzerin und die Hysterikerin fungiert sie als ästhetische Projektionsfläche für die Bemächtigungs- und Steuerungsfantasien männlicher Experimentatoren, die sich selbst als Pygmalion verstehen.

Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Re-Animierbarkeit »[Die] Statue wartet noch auf den schöpferischen Pygmalion«,25 kommentiert Edison seine wissenschaftliche Eva. Diese etwas irritierende Formulierung resümiert eine entscheidende Veränderung im pygmalionischen Dispositiv um 1900: Die Statue wird nicht mehr von Pygmalion geschaffen, sondern ist diesem vorgängig. Auch Jean-Martin Charcot, auf dessen Hysterieforschung Villiers in seinem Roman explizit verweist,26 bedient sich der Pygmalion-Metapher, wenn er seine Hysterikerinnen als »expressive Statuen«27 und die Salpêtrière als »reich ausgestattete(s), lebende(s), pathologische(s) Museum«28 bezeichnet. In den psycho-physiologischen Experimenten Charcots und Guillaume-Benjamin Duchennes produziert die Ästhetik der Induktion die Abtrennung des Körperzeichens von der Seelenregung und führt zugleich die Wiederholbarkeit in den Körper ein. Diese Wiederholbarkeit des Körperausdrucks und der photographischen Abzüge soll zunächst das Normale des Pathologischen ansichtig machen. Doch werden die Reproduktionen andererseits als Vorlage für die Korrektur antiker Statuen fruchtbar gemacht.29 Pathologien der Seele und Kunstgeschichte 24  Alicia wird vorgetäuscht, eine Statue in der Pose der Eva könne ihr als Karrieresprungbrett dienen. Unter Edisons Hypnose und Suggestion stellt sie sich für das Experiment zur Verfügung. Interessant ist hierbei, dass Edison sich gegenüber Alicia als ›Maître Thomas‹, als Theaterimpresario, ausgibt. Damit lässt sich eine Parallele zur Mediengeschichte des Theaters spannen.Vgl. hierzu Herrmann, Hans-Christian von: Das Archiv der Bühne. Eine Archäologie des Theaters und seiner Wissenschaft, München 2005. Diese weitere Persona Edisons wäre also eine ganz buchstäbliche Verkörperung des ›Theaters des Lebens‹. Nach von Herrmann vollzieht sich um 1900 ein Paradigmenwechsel vom literarisch-psychologischen Theater, das er als »Theater der Seele« bezeichnet, zum ent-literarisierten »Theater des Lebens«. Ebd., S. 29f., S. 91–144, S. 147–225. 25  Villiers, Die künftige Eva, S. 327. 26  Vgl. insb. das Kapitel »Rasche Erklärungen«, ebd., S. 450–471. 27  Charcot, Jean-Martin zit.n. Didi-Huberman, Georges: Erfindung der Hysterie, München 1997, S. 327. 28  Charcot, Jean-Martin zit.n. Holl, Ute: Kino,Trance, Kybernetik, Berlin 2002, S. 156. 29  Duchenne schlägt in einem komplementären Bildband auf der Basis seiner psycho-motorischen Versuche die Korrektur antiker Statuen und Büsten vor. Das Ausdrucksvokabular und die Identifizierung der Ausdrucksmuskeln hatten sich zuvor umgekehrt an der Statue orientiert. Vgl. Franz, Michael: »Vom elektrifizierten Ausdruck zur elektrifizierten Statue«, in: ders.; Schäffner, Wolfgang; Siegert, Bernhard;

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werden hier durch das Medium der Photographie miteinander verschaltet und zu einer neuen Erzählung verbunden. Der Arzt schreibt sich in eine pygmalionische Traditionslinie ein, um dadurch seine Experimente zu legitimieren. Auf diese Weise re-animiert er überdies die Kunstgeschichte.30 Und genau darauf zielt auch das re-animatorische Experiment in L’Ève future ab: Edison erschafft als neuer Pygmalion ein korrigiertes und lebendiges Abbild der antiken Venus Victrix.   So wird die Figur des elektrisch-experimentellen Pygmalion um 1900 zur paradigmatischen Schöpfungsmetapher, welche als Verbindungsglied zwischen Kunst, Experiment und Literatur fungiert und diese drei Bereiche durch eine re-animatorische Ästhetik und das Ideal des lebendigen Kunstwerks produktiv miteinander in Beziehung setzt.   Damit das Experiment gelingen kann, muss Edison zuerst die Natur und anschließend die Realität verabschieden: »Das Fleisch welkt und altert. Was Sie vor sich haben, ist eine Zusammensetzung ganz besonderer, von der Chemie erzeugter Substanzen, die den Hochmut der ›Natur‹ zu Schanden macht. (Unter uns gesagt, die Natur ist eine große Dame, der ich gerne einmal vorgestellt werden möchte, denn alle sprechen von ihr, und niemand hat sie je gesehen!) – Diese, sagen wir einmal, Kopie der Natur – um das empirische Wort zu gebrauchen – wird das Original begraben und dabei stets lebendig und jung erscheinen. Bevor sie altert, wird sie mit einem Donnerschlag zugrunde gehen. Es handelt sich um künstliches Fleisch, und ich kann Ihnen erklären, wie man es herstellt; im übrigen können Sie es bei Berthelot nachlesen.«31

Wenn Edison hier auf die Versuche und Schriften des Chemikers Marcelin Berthelot verweist, so deshalb, weil dieser mit seiner méthode chimique nicht nur die Möglichkeitsbedingung der chair artificielle schafft, die den Körper der Andréide umkleiden soll, sondern weil er zudem eine alchemistische Ästhetik der Künstlichkeit entwirft.32 Am Ende seiner Abhandlung La chimie organique fondée sur la synthèse schreibt Berthelot, die physiologische Chemie besitze ein »schöpferiStockhammer, Robert (Hg.): Electric Laokoon. Zeichen und Medien, von der Lochkarte zur Grammatologie, Berlin 2007, S. 58–75, S. 61. 30  Ganz besonders deutlich wird dieser Anspruch in Charcots und Paul Richers technischen Studien zur Kunstkritik. Vgl. Charcot, Jean-Martin; Richer, Paul: Die Besessenen in der Kunst, Göttingen 1988. 31  Villiers, Die künftige Eva, S. 128. 32  Berthelot sah in seiner Méthode chimique einen alchemistischen Traum verwirklicht. Der alchemistischen Persona Edisons entspricht das ›Große Werk‹, als welches er Hadaly häufig anspielungsreich bezeichnet, wobei das Werk hier nicht nur für das Kunstwerk steht, sondern in seiner Schreibweise mit großem ›G‹ auf das Projekt der Alchemisten verweist. Vgl. Cipriani, Fernando: »Le mythe de l’artificiel dans l’œuvre de Villiers«, in: Colloques de la Société des Études Romantiques.Villiers de l’Isle Adam, Paris 1990, S. 133–148, S. 135; vgl. Villiers, Die künftige Eva, z.B. S. 22.

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Re-Animation und Experiment in L’Ève future

sches Vermögen, das dem der Kunst selbst vergleichbar« sei, da sie Phänomene nicht nur erschaffe, sondern überdies die Macht besitze, »eine Vielzahl künstlicher Wesen zu bilden, die den natürlichen Wesen ähnlich sind und all deren Eigenschaften teilen«.33 Kunst bei Berthelot und Edison ist in erster Linie Kunstfertigkeit. Sie besteht nicht mehr in der gestaltenden Repräsentation, sondern in der gestaltenden Reproduktion, d.h. in der Herstellung von Identität. Denn die Synthese nach Berthelot ermöglicht die Erschaffung des Neuen, indem sie etwas Gegebenes identisch reproduziert.

Re-Animation als mediale und mediumistische Praktik Der mimetisch-synthetischen Kunstauffassung entspricht im Roman ein neues künstlerisch-technisches Verfahren. Die Bildhauerin Annie Anderson, die an der Erschaffung von Hadaly beteiligt ist, wird zwar noch als solche bezeichnet, arbeitet aber mit Ingenieurstechnik. Sie formt nicht nur, sondern sie vermisst und kalkuliert den Körper zunächst: »Völlig nackt [...] wird Ihre Geliebte von niemand anderem transponiert werden als von dieser bedeutenden Künstlerin, die nichts idealisiert, sondern genau abbildet und zunächst, um die Körperform der Lebenden mathematisch aufzunehmen, unter meinem wachsamen und kalt distanzierten Blick – mit feinsten Präzisionsinstrumenten (instruments de la plus souveraine précision) – die Taille, die Größe, die Breite, die exakten Proportionen der Füße und Hände, des Gesichts mit den einzelnen Zügen, der Beine und Arme Ihrer Freundin sowie ihr Gewicht bestimmt.«34

Medienhistorische Korrelate dieser äußeren Hülle Hadalys sind die Verfahren der Photochromie und der Photoskulptur,35 auf die sich Edison im Kapitel »So 33  Berthelot, Marcelin zit.n. Cipriani, »Le mythe de l’artificiel dans l’œuvre de Villiers«, S. 144. 34  Villiers, Die künftige Eva, S. 326. Vgl. auch ders., L’Ève future, S. 247. 35  Vgl. Villiers, Die künftige Eva, S. 324–330, S. 326, S. 328. Dies ist kein Zufall, denn Villiers war gut mit dem Lyriker und Erfinder Charles Cros befreundet, der ab 1867 mit der Photochromie, einem der ersten farbphotographischen Verfahren experimentierte und der zudem 1877 zeitgleich mit Edison einen Prototypen des Phonographen, das Paléophone, entwickelte. Von ihm übernimmt Villiers neben der Idee zu einer Sprechmaschine seiner Eva u.a. die Idee einer mikrometrischen Lichtpunkt-Übertragung vom Original zur Kopie. Zu Cros’ technischen und lyrischen Experimenten vgl. Métraux, Alexandre: »Wahrnehmungsmaschinen. Wie Charles Cros das Sehen digitalisierte«, in: Franz, Michael; Schäffner, Wolfgang; Siegert, Bernhard; Stockhammer, Robert (Hg.): Electric Laokoon. Zeichen und Medien, von der Lochkarte zur Grammatologie, Berlin 2007, S. 153–171. Die Photoskulptur oder Photoplastik wurde von 1859–1862 vom Bildhauer, Maler und Photographen François Willème de Marnihac entwickelt und war der Versuch einer plastischen, dreidimensionalen Nachbildung von Körpern mit Hilfe einer Serie mehrerer simultaner photographischer Aufnahmen. Vgl. Kümmel, Albert: »Körperkopiermaschinen. François Willèmes technomagisches Skulpturentheater (1859–1867)«, in: Winter, Gundolf u.a. (Hg.):

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entsteht das Fleisch« ganz explizit bezieht. Der Seelenausdruck der künstlichen Eva setzt sich dagegen aus dem Phonographen und der Bewegungswalze zusammen. Somit bilden Körperbewegungsstudien neben den Experimentalwissenschaften und der synthetischen Chemie den wissenschaftshistorischen Hintergrund, vor dem der elektrische Pygmalion seine neue Eva erschafft.   Exakte, identische Reproduzierbarkeit bildet die technische Voraussetzung des lebendigen Kunstwerks in L’Ève future. Als Abbildungsverfahren ist sie Grundlage der Identität und zugleich ihre Bedrohung: Aus der exakten Reproduzierbarkeit folgt eine unvermeidliche Ununterscheidbarkeit, wie sie im Roman durch mysteriöse Doppelgänger und Mischwesen thematisiert und problematisiert wird. Denn die Instrumente zur Abbildung und Herstellung von Identität (instruments d’identité)36 und die wechselseitige Abbildrelation von Nachrichtentechnik und Organismus37 führen zu einer Verwischung und Neuverhandlung der Grenzziehung zwischen Mensch und Maschine, Leben und Tod, Diesseits und Jenseits.   Dieses Verschwimmen von Grenzen und Sinnestätigkeiten, von biologischer und technischer Evolution durch Medien als Analogon, aber auch als Erweiterung der menschlichen Sinne geht einher mit der Verschwisterung wissenschaftlicher und (aus heutiger Sicht) parawissenschaftlicher Diskurse, wie sie auch Edisons Experimente und Überlegungen kennzeichnet. Es lässt die beiden zentralen Reproduktionstechniken Photographie und Phonographie in der Ève future überdies zu privilegierten Medien spiritistischer Geisterkommunikation und somit zu zentralen Re-Animationstechniken werden.   Die somnambule Bildhauerin, das wichtigste Werkzeug Edisons, ist in gleich doppelter Hinsicht ein Mischwesen: Als anthropomorphes, selbst schreibendes Präzisionsinstrument und als personifiziertes technisches Unbewusstes erschafft sie das exakte Abbild der Statue und verkörpert die Aufzeichnungsverfahren der méthode graphique und der Photographie. Ganz am Ende des Romans wird jedoch ihr Geheimnis enthüllt. Durch einen moralischen Fehltritt und den darauffolgenden Ruin und Selbstmord ihres Mannes war Annie Anderson so stark traumatisiert worden, dass sie eine besondere, epochentypische Pathologie entwickelte: eine Schlafneurose. Unter der heilenden hypnotischen Suggestion Edisons wird sie schließlich zum Medium für die Ätherseele Sowana,38 die Skulptur. Zwischen Realität und Virtualität, München 2006, S. 191–212. 36  Vgl. Villiers, Die künftige Eva, S. 130. Vgl. auch ders., L’Ève future, S. 121. 37  Vgl. Borck, Cornelius: »Urbane Gehirne. Zum Bildüberschuss medientechnischer Hirnwelten der 1920er Jahre«, in: Archiv für Mediengeschichte 2 (2002), S. 261–272. 38  In ihrem magnetischen Tiefschlaf erleidet Annie Anderson »rätselhafte Krisen von Hellseherei«. In diesem Zustand entwickelt sie ein zweites Ich, Sowana, das sich nach und nach als eigenständiges und »überirdisches Wesens« entpuppt. Villiers, Die künftige Eva, S. 454, S. 467.

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Re-Animation und Experiment in L’Ève future

nach und nach ganz von Andersons gespaltener Persönlichkeit Besitz ergreift. Somit vereint die Figur Anderson/Sowana zwei unterschiedliche Formen der Re-Animation: In ihrer Funktion als Bildhauerin verkörpert sie aktiv die ReAnimation als Reproduktionsverfahren selbst schreibender Medientechniken, in ihrer Funktion als spiritistisches Doppelwesen passiv die Re-Animation als Seelenwanderung.

De-Animation Während für Ewald Alicias Ähnlichkeit mit der Venus Victrix der Inbegriff des Sublimen ist, kann Edison Alicias überdurchschnittliche Schönheit nur als Symptom einer Krankheit deuten, da sie vom Standard der Normalität abweicht: »Die Ähnlichkeit mit der Venus victrix ist bei ihr nur eine Art Elephantiasis, die zum Tod führen wird. Eine pathologische Mißbildung, die ihre arme Natur belastet. – Aber wie auch immer, es ist merkwürdig, daß eine solch prächtige Monstrosität (monstruosité sublime) gerade zur rechten Zeit auf der Welt erschien, um meine erste Andreide in jeder Hinsicht zu rechtfertigen!«39

So wundert sich Edison über das zeitliche Zusammentreffen dieser ›sublimen Monstrosität‹ und der Erfindung seiner Andréide. Aus einer diskursanalytischen Perspektive ist diese zeitliche Überschneidung jedoch keineswegs überraschend. Denn Edisons Erfindung und seine wissenschaftlichen Analysen und Axiome sind Teil der Episteme des Lebens,40 die in ihrer großen Inventarisierung des Menschen das experimentell gewonnene Körperwissen zu Klassen, Funktionen und Krankengeschichten zusammenfügt und das Wissen vom Leben in zwei Kategorien aufspaltet: in das Normale und in das Pathologische. Das normierte Körperwissen, wie es insbesondere in den chronophotographischen Bewegungsstudien Étienne-Jules Mareys produziert wird, ist auch der edisonschen Bewegungswalze eingeschrieben. Individualität ist für ihn allein eine Frage der Kombinatorik: »Auf diesem Zylinder sind [...] etwa siebzig generelle Bewegungen programmiert. Über ein solches Register kann und muß eine wohlerzogene Frau ungefähr verfügen. Abgesehen von einigen Menschen, die allzu nervös oder von Krämpfen befallen sind, machen wir fast immer dieselben Bewegungen; bloß die verschiedenen Situationen lassen sie als voneinander abweichend erscheinen. Aber ich habe ihre Sekundärformen analysiert und berechnet, daß auch eine außergewöhnliche Persönlichkeit über höchstens siebenundzwanzig oder achtundzwanzig Bewegun39  Ebd., S. 388. Vgl. auch ders., L’Ève future, S. 289. 40  Vgl. Foucault, Michel: Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris 1966.

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gen verfügt. Was steckt übrigens schon hinter einer heftig gestikulierenden Frau? – Ein unerträgliches Wesen. Hier soll man nur die harmonischen Bewegungen gewahren. Die anderen sind schockant oder überflüssig.«41

In dem Moment, in dem Villiers seine Romanfigur Edison also das Experiment unternehmen lässt, eine Maschine zur Frau werden zu lassen, wird die Frau in den ganz konkreten psycho-physiologischen Experimenten seiner Zeitgenossen zum ›Reflexautomaten‹.42 War die Beschreibung des Menschen als Maschine bei René Descartes noch ein Kunstgriff, der den Status der Seele zu klären und zu sichern vermochte,43 so führt die damit einhergehende fundamentale Trennung von Seele und Körper mit der Ablösung des Automaten- durch das Maschinenmodell am Ende des 19. Jahrhunderts zur Verunsicherung des Status der Seele und zu ihrer Abschaffung durch die Experimentalwissenschaften. So ersetzt Bernard das Konzept der Seele durch den Begriff des Lebens,44 und in der Psychophysiologie Duchennes und Charcots wird die Seelenbewegung von der Seele getrennt.45   Vergleichbares geschieht auch in L’Ève future. Der Seelenausdruck, z.B. die Sprache, wird durch sein technisches cliché verdoppelt und anschließend als Seeleninformation in Seelenarchive, z.B. in die goldenen Phonographen überführt. Insofern sich der Mensch ausschließlich aus isolierbaren Elementen und Funktionen zusammensetzt und sich seine Persönlichkeit als Resultat einer Kombinatorik erweist, ist auch die Spontaneität eine rein mechanische, welche sich ganz auf äußere Umstände und die Interpretation des Betrachters zurückführen lässt. Folglich beruht die Beseelung der Frau für Edison auf einer Projektionsleistung des Mannes: »Ihre wahre Persönlichkeit ist demnach für Sie bloß die vom jähen Strahl ihrer Schönheit in Ihrem ganzen Wesen wachgerufene Illusion. Nur diese Illusion ver41  Villiers, Die künftige Eva, S. 279. Vgl. auch ders., L’Ève future, S. 217. 42  Vgl. Herrmann, Hans-Christian von: »Induction psycho-motrice. Zur technischen Wiederkehr der Kunst in Hysterie und Hypnose«, in: Franz, Michael; Schäffner, Wolfgang; Siegert, Bernhard; Stockhammer, Robert (Hg.): Electric Laokoon. Zeichen und Medien, von der Lochkarte zur Grammatologie, Berlin 2007, S. 81–96 und Linse, Ulrich: »Mit Trancemedien und Fotoapparat der Seele auf der Spur«, in: Hahn, Marcus; Schüttpelz, Erhard (Hg.): Trancemedien und Neue Medien um 1900, Bielefeld 2009, S. 97–143. 43  Vgl. Descartes, René: Méditations métaphysiques, Paris 1986, insb. »Méditation sixième«, S. 109–136 und Discours de la méthode, Paris 1966, insb. »Cinquième partie«, S. 67–82. 44  Für Bernard ist die Seele weder das Lebensprinzip noch das Leben ein Funktionsmodus der Seele. Diese und andere Lebensprinzipien verbannt er mit einem apodiktischen Dreischritt aus dem Anwendungsgebiet der Physiologie. Vgl. Bernard, Science expérimentale, S. 56. 45  Vgl. Siegert; Herrmann, »Beseelte Statuen« und Franz, »Vom elektrifizierten Ausdruck zur elektrifizierten Statue«.

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Re-Animation und Experiment in L’Ève future

suchen Sie trotzdem mit allen Kräften in der Gegenwart Ihrer Geliebten zu VERLEBENDIGEN, obwohl die tödliche, abscheuliche, abstumpfende Nichtigkeit der wirklichen Alicia Ihnen eine Enttäuschung nach der anderen bereitet. [...] Kurz und gut, es ist diese von Ihrem Geist vergegenständlichte Vision, die Sie aufrufen, die Sie sehen, die Sie in der lebendigen Frau ERSCHAFFEN, die doch nichts anderes ist als Ihre eigene in ihr verdoppelte Seele (âme dédoublée).«46

Diese Metapher der ›verdoppelten Seele‹ (âme dédoublée) bildet das innere Gesetz, die interne Struktur der Re-Animation. Im Französischen bezeichnet ›dédoublement‹ einerseits die einfache Verdopplung, gerade im biologischen Kontext aber auch ›Verdopplung durch Teilung‹. Der Verdopplung der Seele durch ihr technisches cliché entspricht ihre Aufspaltung in einen empirischen und einen metaphysisch-mystischen Teil. Wissenshistorisch korreliert diese Teilung mit dem empirischen Konzept des äußerlich reproduzierbaren und fixierbaren Seelenausdrucks bzw. der Seelenbewegung einerseits und mit dem esoterischen Konzept der Ätherseele im Spiritismus andererseits, welche jeweils durch die Figuren Edison, Ewald und Sowana-Hadaly verkörpert werden, wobei Ewald noch am ehesten eine christliche Seelenauffassung zuzuordnen ist.   So konfrontiert Villiers’ Roman die göttliche Animation mit der technischen Re-Animierbarkeit und die Re-Animation mit der De-Animation als Entkoppelung der Seele vom genuin Menschlichen. Auch für Lord Ewald ist Alicia von der »unheimlichsten Anomalie«47 gezeichnet. Jedoch bewertet er nicht Alicias Körper, sondern ihre Seele als pathologisch. Diese unerträgliche Anomalie, die Ewald beinahe zum Selbstmord treibt und die Edison zu heilen versucht, ist die schmerzliche und fundamentale »Unvereinbarkeit«48 von (idealem) Körper und (mediokrer) Seele, die sich bis zur Vermutung der Seelenlosigkeit steigert und in den Wunsch mündet, Alicias Seele ihrem Körper zu entreißen. »Wenn nur jemand diese Seele aus diesem Körper entfernen könnte!«,49 wird Ewald im Verlauf des Romans mehrfach ausrufen, bis Edison sich anbietet, genau dies zu tun. Somit ist der Re-Animation bei Villiers ein destruktives Moment, eine Negativität eingeschrieben. Der Roman macht deutlich, dass in der Re-Animation immer auch die De-Animation mitgedacht werden muss. Denn nur was zuvor de-animiert worden ist, kann anschließend re-animiert werden.

46  Villiers, Die künftige Eva, S. 146f. Vgl. auch ders., L’Ève future, S. 131. 47  Villiers, Die künftige Eva, S. 66. 48  Ebd., S. 65. 49  Ebd., S. 108.

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Medien-Beseelung. Re-Animation als Medien-Werden Vor diesem Hintergrund soll das pygmalionische Experiment Edisons nun noch einmal als Verfahren der Ent-Seelung und der medialen Wieder-Beseelung zusammengefasst werden.   Ausgehend von der fundamentalen Unvereinbarkeit von Körper und Seele soll unter absolut kontrollierbaren Bedingungen eine neue, künstliche Einheit geschaffen werden, welche die ideale Synthese von Wesen und Form bildet. Tatsächlich vollzieht sich die Erschaffung von Hadaly in vier Phasen, die sich dem Leser und den Protagonisten des Romans erst nach und nach erschließen: Die Seele soll zunächst dem Körper entrissen werden (erste Phase: De-Animation). Dazu muss die exakte Kopie des Körpers erstellt werden, d.h. Alicia, die »wundervoll[e] tot[e] Form«,50 muss verdoppelt und ihrer Ähnlichkeit beraubt werden. Es entsteht eine »magneto-elektrische Wesenheit«,51 eine entseelte, technische Reproduktion, das »Schattenskelett«,52 welches allein durch die Elektrizität belebt wird. Um dieser »Menschengestalt« (semblance humaine)53 die Illusion des Lebens zu verleihen, muss dem Abbild in einem zweiten Schritt eine »Seele eingehaucht«54 werden, womit die Anspielung auf die göttliche Animation auf die Spitze getrieben wird. Der äußeren Identität muss eine neue, andere Seele eingesetzt, sie muss also re-animiert werden. Dazu wird die Seele durch ihre technisch perfektionierte Reproduktion ersetzt und unter anderem in Form von Phonograph und Bewegungswalze in die »menschliche Maschine« (machine humaine)55 implementiert. Dadurch erhält man eine künstliche Seele im künstlichen Körper (zweite Phase: Re-Animation durch selektive Re-Kombination). Damit diese künstliche Seele zu einer spontanen wird und es zur vollkommenen Einheit von Körper und Seele kommen kann, das ›Ideal‹ sich also produzieren kann, bedarf es im folgenden Schritt des verliebten Betrachters. Dieser muss seine eigene Seele in die der Maschine projizieren, sie in ihr verdoppeln und ihr sein eigenes Wesen suggerieren (dritte Phase: Re-Animation als projektive Synthese). Im Prozess des systematischen dédoublement soll schließ-

50  Ebd., S. 84. Diese Beschreibung wird passenderweise im Kapitel »Hypothese« vorgenommen. Direkt im Anschluss folgt das Kapitel »Zerlegung« (im französischen Original etwas expliziter als »Dissection« betitelt), in dem eine verbale Vivisektion von Alicias Person vorgenommen wird. Dies bestätigt ihre Existenz als tote, seelenlose Form. 51  Ebd., S. 126. 52  Ebd., S. 132. 53  Ebd., S. 164. Vgl. auch ders., L’Ève future, S. 142. 54  Villiers, Die künftige Eva, S. 137. 55  Ebd., S. 171. Vgl. auch ders., L’Ève future, S. 148.

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lich eine »Produktionsmaschine von Visionen« (souveraine machine à visions),56 d.h. eine Halluzinationsmaschine entstehen. Streng genommen beruht die endgültige und kontinuierliche Beseelung der Maschine also auf einer permanenten Selbsthypnose.   Im Verlauf des Experiments manifestiert sich jedoch ein unvorhergesehenes Drittes. Das Medium erwacht. So muss Edison bei der Auswertung seines Experiments schließlich feststellen, dass ein ihm fremdes Wesen sich seines Werks bemächtigt hat: »[F]reilich habe ich materiell all das geschaffen, was an ihr irdisch ist und die Nachahmung ausmacht, aber danach ist zu meinem Werk eine mir unbekannte Seele hinzugekommen, hat sich für immer mit ihm vereinigt und reguliert nun, glauben Sie mir, die erschütternden und betörenden Auftritte bis in alle Einzelheiten, und zwar so scharfsinnig, so kunstvoll, dass es wahrhaftig jede Vorstellung übersteigt. Ein übermenschliches Wesen ist in dieses neuartige Kunstwerk eingegangen, und in seinem Mittelpunkt verdichtet sich unwiderruflich ein Geheimnis, das für uns bisher undenkbar war.«57

Re-Animation, so zeigt das pygmalionische Experiment, ist immer auch ein Operieren an der Grenze des Unbekannten, der Versuch, den dunklen Bereich des Wissens auszuloten und experimentell zu verschieben – der Versuch also, etwas durch das Verfahren der Rekombination in Erscheinung treten zu lassen und seiner durch die Wiederholung habhaft zu werden. So versuchen die Protagonisten des Romans den Ursprung des Lebens und damit verbunden die Grenzen und Beziehungen zwischen Körper und Seele, Mensch und Gott immer wieder zu erproben und auszuhandeln. Durch die experimentelle Praktik der Re-Animation sollen diese Grenzen abgesteckt und verschoben werden. So gefasst, bedeutet Re-Animation, Unbekanntes an die Oberfläche treten zu lassen, und die Randzonen des Wissens durch die permanente Wiederholung zugleich festzuschreiben und dabei systematisch zu verschieben. Der »Schatten«58 soll werden. In der Re-Animation, wie sie in L’Ève future beschrieben wird, entsteht schließlich etwas Neues: Das Medium Sowana ergreift Besitz von der machine humaine und das technisch Unbewusste tritt, in dieser Weise verkörpert, in Erscheinung. Begreift man Sowana als Modell, so ist Re-Animation in letzter Konsequenz also ein Medien-Werden, d.h. ein Werden von Medien und durch Medien. Mit Sowa56  Villiers, Die künftige Eva, S. 185. Vgl. auch ders., L’Ève future, S. 157. 57  Villiers, Die künftige Eva, S. 470f. Vgl. auch ders., L’Ève future, S. 342f. 58  Villiers, Die künftige Eva, S. 63. Hadaly wird im Roman systematisch als ›Schatten‹ oder ›Schattenwesen‹ bezeichnet. Das sechste und letzte Buch des Romans trägt den Titel »Und so ward der Schatten«. Ebd., S. 359.

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na wird zunächst der Mensch (Annie Anderson) zum Medium (Any Sowana). Und Any Sowana, das zugleich technische und somnambule Medium, wird anschließend zum Medium der Re-Animation, zur Ätherseele Hadaly. Die orthographische Verschiebung von ›Annie‹ zu ›Any‹ scheint folglich als mediale und mediumistische Inskription zu fungieren, welche auf das Wirken des Mediums verweist. ›Any‹ markiert damit den Moment der Re-Animation von Hadaly, den Moment des Übergangs, der in der Handlung des Romans ausgespart bleibt. Aber sie steht auch für die ambivalente Potenzialität des Mediums als ein Unfassliches, das zugleich ›etwas‹ und ›nichts‹ ist, das also zwischen beiden Zuständen changiert.   Die Seele als empirischer, berechenbarer Regulationsmechanismus und als Effekt des »ersten Auftretens der Maschine in der Menschheit«59 wird am Ende des Romans mit dem Erscheinen einer eigenmächtigen und übersinnlichen Seele konfrontiert. Die Ève future dokumentiert damit die Entstehung des Seelenapparats60 und stellt zugleich den Versuch dar, die Seele vor ihrer technischen Reproduzierbarkeit und Induzierbarkeit in das Reich des spiritistischen Äthers zu retten, wo sie allein dem Imaginären zugänglich bleibt. Mit mystischen Worten deutet das Geschöpf Hadaly seine Entstehung und seinen Herkunftsort an: »Ich komme zu Dir als Abgesandte jener grenzenlosen Regionen, deren blasse Gemarkung der Mensch nur manchmal zwischen Traum und Schlaf wahrnehmen kann. Dort gehen die Zeiten ineinander über; es gibt keinen Raum mehr!«61

Und konkreter: »Dieser Lebensraum des Universums (ce vivant éther) ist grenzenlos offen, und der Glückliche (voyageur privilégié), der dorthin gelangt [...], fühlt, wie gleichsam der Schatten seiner kommenden Existenzen als frühes Vorzeichen auf das Innerste seines zeitlichen Wesens fällt. So entsteht eine Verwandtschaft (affinité) zwischen seiner Seele und den für ihn noch künftigen Bewohnern dieser geheimen (occulte), der sinnlichen benachbarten Welten; der Übergang und der Austausch zwischen den beiden Zonen jedoch findet im Reich des Geistes statt, das von der Vernunft [...] in ihrer Unwissenheit verächtlich DAS IMAGINÄRE genannt wird.«62

59  Villiers, Die künftige Eva, S. 273. Vgl. das gleichnamige Kapitel, in dem die Seele von Edison, als Verkörperung des deterministischen Experimentalwissenschaftlers, konsequenterweise als »zuinnerst befindliche[r] Regulationsmechanismus« bezeichnet wird. Ebd. 60  Vgl. Holl, Kino, insb. S. 181–209; Pircher, Wolfgang: »Seelenapparate«, in: Wiener Festwochen; Clair, Jean; Pichler, Cathrin; Pircher, Wolfgang (Hg.): Wunderblock. Eine Geschichte der modernen Seele, Wien 1989, S. 25–28. 61  Villiers, Die künftige Eva, S. 428. 62  Ebd., S. 421f. Vgl. auch ders., L’Ève future, S. 310f.

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Dieses ätherische Modell der Re-Animation markiert zugleich ein medienhistorisches Schwellenmoment, den Übergang von einer medialen Form der ReAnimation zur anderen, genauer, von der Schrift zum Schallschreiber, wofür hier stellvertretend Edisons Unverständnis darüber stehen soll, dass die Heilige Schrift gedruckt und nicht phonographiert wurde: »Man muß feststellen [...], dass sich der Sohn Gottes offenbar wenig um die äußerlichen und sinnlich wahrnehmbaren Aspekte der Schrift und des Wortes gekümmert hat. Er schrieb nur ein einziges Mal – und schrieb nur auf die Erde. Ohne Zweifel legte er in den Schwingungen der Rede nur auf jenes unfaßliche Jenseits Gewicht, dessen vom Glauben inspirierter Magnetismus ein Wort im Moment der Aussprache durchdringen kann. [...] Jedenfalls hat er nur erlaubt, daß man sein Evangelium druckt, aber nicht, daß man es phonographiert. Und doch, statt zu sagen: ›Lest die Heilige Schrift!‹ hätte man dann gesagt: ›Hört die Heilige Tonaufnahme!‹ (Ecoutez les Vibrations Sacrées!) – Nun ja, jetzt ist es zu spät ...«63

Wenn Edison hier ›Glauben‹ nicht anders denn als ›Magnetismus‹ verstehen kann und sich statt der zweifelhaften schriftlichen Überlieferung der ›Menschheitsgeschichte‹64 unmittelbare, sinnliche und exakte phonographische Übertragungen der Ereignisse und Worte herbeisehnt, so lässt sich dies auch als Übergang des Animations-Paradigmas von der Schrift auf die Schwingung65 lesen.

›Correspondances‹. Poetik der Re-Animation Als Re-Kombination oder Synthese von Verschiedenartigem führt die ReAnimation zwangsweise zu einer Vermischung der Formen. Das Moment der 63  Villiers, Die künftige Eva, S. 27f. Vgl. auch ders., L’Ève future, S. 49f. 64  Der Roman wird von mehreren Selbstgesprächen Edisons eröffnet, in denen er sich selbst als »Spätling im Menschengeschlecht« bedauert und beklagt, dass er und sein Phonograph zu einem historischen Zeitpunkt erscheinen, an dem nichts mehr der Aufzeichnung für die Nachwelt wert ist. Villiers, Die künftige Eva, S. 14–18. Dabei belegt er die schriftliche Überlieferung immer schon mit dem Verdacht der Unvollständigkeit und der Unglaubwürdigkeit und stellt sie dem »unauslöschlichen Tonarchiv« und der Photographie gegenüber. Ebd., S. 23–29, S. 38–50. 65  Michael Franz, Wolfgang Schäffner, Bernhard Siegert und Robert Stockhammer sehen aus diesem Grund in Villiers’ Edison den ›Ingenieur des Electric Laokoon‹, der durch den Einfluss der Elektrizität die klassischen Künste transformiert. Die Figur des Electric Laokoon steht metaphorisch für die Elektrifizierung von Zeichen und Medien in der Epoche des Elektromagnetismus, welche die »lesbaren Gemütsbewegungen« der Laokoon-Statue durch den Verbund von Bewegung und Elektrizität ersetzt und sie im »Dispositiv der Rotation« zur »elektrifizierten Figur« werden lässt. Vgl. Franz; Schäffner; Siegert; Stockhammer, Electric Laokoon, S.  IX, S.  Xf., S.  XV. Friedrich Kittler sieht in Edisons Wunsch seine These vom Zerbrechen des Buchmonopols, d.h. der »symbolischen Fixierung des Symbolischen« und dessen Ersetzung durch »Speichersysteme im Plural« im Aufschreibesystem 1900 auf die »bündigste Formel« gebracht und liest ihn als Aufforderung, das Symbolische durch die »technische Aufzeichnung des Realen« zu ersetzen. Kittler, Friedrich: Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1985, S. 278.

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Verunsicherung und der Ununterscheidbarkeit bildet somit zugleich den Effekt und die Ursache der Re-Animation. So operiert Villiers’ Roman systematisch mit der semantischen Nähe von art und artificiel und führt die Natur als das immer schon Künstliche vor. Während die goldenen Phonographen Hadaly die Illusion der Beseeltheit verleihen, drückt sich Alicia so geistlos aus, als hätte sie anstatt der Seele einen Phonographen im Leib. Alle konventionellen Konversationsformeln scheinen in ihr gespeichert und beliebig abspielbar. Diese strukturelle Ähnlichkeit von Frau und Medientechnik bildet ihrerseits die Möglichkeitsbedingung der Re-Animierbarkeit. Den zahlreichen Mischwesen in L’Ève future entspricht nicht nur die Ununterscheidbarkeit von Kopie und Original, Illusion und Wirklichkeit, sie problematisieren auch die Ununterscheidbarkeit zwischen dem Lebendigen und seinen medialen Doppelgängern.   Auf dieser Ununterscheidbarkeit gründet ebenfalls die Poetik der Re-Animation. Denn die synthetische Re-Kombination generiert nicht nur die kuriosen Mischwesen des Romans und das neuartige, lebendige Kunstwerk Hadaly, sondern auch die Form des Romans selbst. Jedem seiner 74 Kapitel stellt Villiers ein Epigraph voran. So ist es durchaus möglich, Villiers’ Schreibverfahren als formale Entsprechung der »théorie des correspondances«66 zu deuten. Durch die intertextuelle Konfrontation von Titel, Epigraph und tatsächlichem Handlungsgeschehen würde dann, wie auch in Edisons pygmalionischem Experiment, eine Art Unbewusstes des Wissens hervorgebracht, ein Unsichtbares sichtbar gemacht werden. Auf diese Weise treten Entsprechungen oder Verwandtschaften zutage, die auf das Unbegreifbare, das »en dedans créateur«,67 also auf die schöpferische Schwingung im Inneren des Lebens, aber eben auch des Textes verweisen. Im Mitschwingen der Diskurse entsteht so ein Intersigne,68 ein flüchtiger Einblick in die verborgenen Ebenen oder Schattenzonen des Textes, die der Wahrnehmung des Lesers in einer konventionelleren Textform verschlossen blieben. Durch den Synkretismus der Zitate und durch ihre unterschiedlichen Bedeutungsebenen und Funktionen69 soll nach der Aussage Villiers’ ein 66  Die Theorie der ›Correspondances‹ postuliert die Entsprechung zwischen verschiedenen Reichen der Natur und ist für zahlreiche okkulte Lehren, insbesondere für die von Emanuel Swedenborg, charakteristisch. Villiers übernimmt diese Theorie als poetisches Verfahren von Charles Baudelaire. Vgl. Raitt, Alain: Villiers de l’Isle-Adam et le mouvement symboliste, Paris 1965, S. 186. 67  Villiers, L’Ève future, S. 50. Vgl. auch ders., Die künftige Eva, S. 25. 68  Unter ›Intersigne‹ versteht Villiers, im Gegensatz zur dauerhaften ›Correspondance‹, ein flüchtiges Zeichen, das eine Nachricht aus dem Jenseits symbolisiert. Vgl. Raitt, Villiers de l’Isle-Adam et le mouvement symboliste, S. 209. 69  Durch seine Epigraphe verleibt sich der Roman höchst unterschiedliche Diskurse ein, die von der griechischen Antike und der Bibel zum nicht näher benannten modernen Motto, von Villiers’ Florilegiensammlung großer Autoren zum Reklamespruch reichen. Im Verhältnis zum jeweiligen Kapitel nehmen

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»metaphysisches Kunstwerk«70 entstehen, mit dem er die Hoffnung verbindet, den immanenten Geist einer Epoche wiederzugeben. Villiers’ Schreibverfahren steht folglich in engem Bezug zu Hadalys goldenen Phonographen und lässt vermuten, dass hier darauf abgezielt wird, dem Text eine eigene Lebendigkeit, eine eigene Realität zu verleihen. Zwischen den Zeilen entsteht gleichsam eine neue, ganz eigene Zeitlichkeit, ein Außerhalb oder gar Jenseits des Textes, welches ihn dem Konzept des ›lebendigen Äthers‹ der Seele annähert. Auf diese Weise macht sich der Text nicht nur zur Textcollage, sondern zum spiritistischen Medium anderer Autoren und Diskurse, zu einem Text, der von fremden Stimmen gesprochen wird.   Aus der metaphysischen Hoffnung spricht also bereits ein technisch Unbewusstes im doppelten Sinne. Im inflationären Einsatz der Epigraphe und Titel schwingt unweigerlich nicht nur der Geist der größten Dichter und Denker mit, sondern auch der mechanische Geist der Reproduzierbarkeit. In der Apotheose der Dichtung liegt also zugleich ihre Entwertung. Denn sie mündet in eine aleatorische Re-Kombination von versatzstückhaften, diskreten Texteinheiten, die den Romantext immer wieder aufbrechen und so, komplementär zur Überbetonung der Typographie, auf die interne Reproduzierbarkeit des Textes als Literatur verweisen. Zugleich lässt sich die Typographie als Stilmittel deuten, das versucht, die phonographische, also akustische Wiedergabe der Stimme optisch in den Text zu übersetzen. Als spiritistische Stimmencollage und durch sein vibratorisches Sprachkonzept verweist Villiers’ Text auf sein zweites mediales Apriori, den Elektromagnetismus.   In der Engführung von poetischem Experiment und aktuellen Wissenschaftsdiskursen stellt Villiers’ Roman schließlich ein literarisches Re-AnimationsProjekt dar, welches durch die Rekombination von verschiedenen Textgenres und Sprachregistern71 sowie durch eine exzentrische und suggestive Interpunktion und Typographie versucht, das technische Imaginäre der Re-Animation zwischen »Wunder« und »Hypothese«72 durch »Spott« und »Träumerei«73 auszuloten. Im Verfahren der poetischen Re-Kombination eröffnet sich ein jenseitiger Zwischenraum der Intersignes, welcher den Text selbst zum spiritistischen Medium der Re-Animation werden lässt. Als spezifisch medienhistorische

sie u.a. kommentierende, ironisierende, ergänzende oder relativierende Funktionen ein. 70  Villiers, Die künftige Eva, S. 6. 71  Villiers’ Roman verbindet systematisch poetisches Pathos und präzise technische Beschreibungen sowie Formen wissenschaftlicher Beweisführung. 72  Dies sind Kapitelüberschriften des Romans. Vgl. Villiers, Die künftige Eva, S. 126, S. 199, S. 76. 73  Die künftige Eva ist den »Träumern« und den »Spöttern« gewidmet. Ebd., S. 8.

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Konstellation wird die Figur der Re-Animation in Villiers’ Roman im Dispositiv des elektrischen Pygmalion als schöpferische oder evolutive Bewegung erkennbar, die gerade durch die vermeintliche Wiederherstellung des Gleichen das Neue entstehen lässt und das Unbekannte herausfordert.

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Beseelte Dokumente. Die Schrift der Geschichte als animistisches Medium Übersetzung aus dem Englischen von Barbara Filser

Sie sprechen!

I

n seinem richtungsweisenden Buch aus dem Jahr 2000, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, konstatiert Paul Ricœur, »daß die Geschichte von einem Ende bis zum anderen Schrift ist: Von den Archiven bis zu den Texten, die Historiker schreiben, veröffentlichen und zu lesen geben«.1 Ricœur untermauert diesen Standpunkt, indem er den historischen Diskurs bezogen auf die Unterscheidung zwischen Rede und Schrift, wie Platon sie im Phaidros trifft, verortet: »Der Moment des Archivs ist der Moment, da die historiographische Operation in die Schrift eintritt. Die Aussage der Zeugen ist ursprünglich oral; sie wird angehört, wird verstanden.«2 »Das Archiv dagegen«, beharrt Ricœur, »ist Schrift, die gelesen und konsultiert wird. Im Archiv ist der professionelle Historiker ein Leser.«3 Betrachtet man jedoch die Geschichte des Schreibens über schriftliche Zeugnisse in der Historiographie, fällt diese Unterscheidung in sich zusammen. Denn es wird oft ausdrücklich gesagt, dass Dokumente sprechen. Im Folgenden möchte ich zeigen, dass Historiker im Archiv nicht nur Leser sind, sondern sich auch als Zuhörer und Beschwörer verstehen können. 1  2  3 

Ricœur, Paul: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, übers.v. Hans-Dieter Grondek, Heinz Jatho, Markus Sedlaczek, München/Paderborn 2004, S. 361. Ebd., S. 255 (Hervorhebungen D. F. E.). Ebd. (Hervorhebungen D. F. E.).

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In Apologie der Geschichte oder Der Beruf des Historikers erklärt Marc Bloch, dass Historiker Dokumente zum Sprechen zwingen. Tatsächlich können Historiker Dokumente »[auch gegen ihren Willen] zum Sprechen bringen«.4 Ein schriftliches Dokument, das üblicherweise als ein lebloser Gegenstand betrachtet wird, kann also sprechen und hat zudem einen Willen. Bei der Generierung historischen Wissens kommt es für Bloch zu einem wechselseitigen Zusammenspiel zwischen Dokumenten und Historikern: »Als alter Mediävist gestehe ich, daß ich kaum eine faszinierendere Lektüre kenne als die eines Kartulars. Das hat wohl damit zu tun, daß ich weiß, welche Fragen ich ihm stellen kann. Eine Sammlung römischer Inschriften sagt mir hingegen wenig.«5

Bloch befragt das Dokument, und dieses erzählt ihm entweder viel oder wenig. Dieser Prozess ist ein Dialog: »Denn sogar die eindeutigsten und willfährigsten Texte oder archäologischen Zeugnisse sprechen nur zu dem, der sie zu befragen versteht.«6 Von Interesse ist, dass es Bloch zufolge eine geistige Aktivität ist, ein Dokument durch die richtigen Fragen zum Sprechen zu bringen: »Am Anfang steht der Geist. Passive Beobachtung hat sich nie [in keiner Wissenschaft] als fruchtbar erwiesen – sofern sie überhaupt möglich ist.«7 Geschichtsforschung scheint ein Verfahren der Verlebendigung zu sein, das Schrift (z.B. Kartulare) zum Sprechen befähigt. Bloch verwendet somit in seiner Beschreibung des wechselseitigen Zusammenspiels zwischen Historiker und Dokument die Trope der Prosopopoiia.   Die Prosopopoiia ist eine der vier verlebendigenden Tropen.8 Nach Richard Lanham wird mit ihr »ein Tier oder unbelebtes Objekt als etwas dargestellt, das menschliche Eigenschaften hat, und so angesprochen oder zum Sprechen gebracht, als ob es menschlich wäre«.9 Barbara Johnson hebt hervor, dass mit der Prosopopoiia Lesen zu einem Akt der Verlebendigung wird. Folglich sichert Prosopopoiia »die durch Lesen herbeigeführte Unsterblichkeit der Literatur – die Stimme des verstorbenen Autors lebendig werden lassen. Ein Text ›spricht‹. Es wird allgemein angenommen, dass Texte so funktionieren: Sie ›sagen‹ etwas.«10 4 

Bloch, Marc: Apologie der Geschichtswissenschaft oder der Beruf des Historikers, übers.v. Wolfram Bayer, hg.v. Peter Schöttler, Stuttgart 2002, S. 73. 5  Ebd., S. 73f. (Hervorhebungen D. F. E.). 6  Ebd., S. 73. 7  Ebd., S. 74. 8  Barbara Johnson untersucht diese Tropen – Apostrophe, Prosopopoiia, Anthropomorphismus und Personifizierung – in ihrer Einleitung zu Johnson, Barbara: Persons and Things, Cambridge 2008. 9  Lanham, Richard: A Handbook of Rhetorical Terms, Berkeley 1991, S. 123 (Hervorhebungen D. F. E.). 10  Johnson, Persons and Things, S. 14.

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Johnson schließt daraus: »Prosopopoiia ist somit die Figur für das Lesen.«11 Jedoch ist Prosopopoiia nicht die einzige verlebendigende Trope, die im historischen Diskurs Einsatz findet. Die Praxis, historische Dokumente zu zitieren, bedeutet, eine Apostrophe einzusetzen – »eine rhetorische Figur, die darin besteht, eine verstorbene oder abwesende Person, ein Tier, ein Ding oder eine abstrakte Eigenschaft oder Idee so anzusprechen, als ob sie am Leben, anwesend und des Verstehens mächtig wäre«.12 Bloch gestaltet das Zusammenspiel zwischen Dokument und Historiker nach den Prinzipien der Prosopopoiia und der Apostrophe, wenn er davon spricht, dass ihm die Dokumente in einer dialogischen Konstellation viel oder wenig erzählen.   In der ersten seiner Trevelyan-Vorlesungen im Jahr 1961 und zu Beginn des entsprechenden Buchs Was ist Geschichte? geht Edward H. Carr auf das Thema der sprechenden Tatsachen ein. »Die Tatsachen sprechen für sich selbst, pflegte man zu sagen«, erinnert Carr, nur um unmittelbar darauf einzuwenden: »[D]as stimmt natürlich nicht. Die Tatsachen sprechen nur, wenn der Historiker sich an sie wendet.«13 Also sprechen für Carr die Fakten doch, und zwar im Zusammenspiel mit dem Historiker, das sich im Akt des Auswählens zeigt. Der Historiker »nämlich entscheidet, welchen Fakten das Wort erteilt werden soll«.14 Wie Bloch das Dokument, so personifiziert auch Carr die Fakten gemäß den Prinzipien der Prosopopoiia und der Apostrophe. Außerdem bezeichnet er diese sprechenden Tatsachen als »historisches Rohmaterial«.15 Das Konzept des Fetischismus verbindet für Carr schließlich die Fakten mit dem Dokument. »Der fetischistische Glaube, mit dem das 19. Jahrhundert an den Fakten hing, fand in einer blinden Anbetung der Dokumente seine Ergänzung und Rechtfertigung.«16 Mit dieser Kritik an einer naiven Auffassung und Akzeptanz der referenziellen Verlässlichkeit von Fakten und Dokumenten (die ›für sich selbst sprechen‹) ordnet Carr sie dem Bereich des Animismus zu. Auch das Oxford English Dictionary definiert – im Anschluss an die klassische anthropologische Deutung – einen Fetisch als »einen leblosen Gegenstand, der von schriftlosen Völkern aufgrund der Annahme ihm innewohnender magischer Kräfte oder als durch einen Geist belebt verehrt wird«.17 11  Ebd., S. 14. 12  »Apostrophe«, in: Princeton Encyclopaedia of Poetry and Poetics, Princeton 1974, zit.n. Johnson, Persons and Things, S. 6f. 13  Carr, Edward Hallett: Was ist Geschichte?, übers.v. Siglinde Summerer, Gerda Kurz, Stuttgart u.a. 1977, S. 11 (Hervorhebungen D. F. E.). 14  Ebd. (Übersetzung geändert, Anm. d. Übers.). 15  Ebd. (Übersetzung grammatikalisch angepasst, Anm. d. Übers.). 16  Ebd., S. 16. 17  »Fetish«, in: Oxford English Dictionary, Oxford 2011, http://www.oed.com, 01.08.2011 (Hervorhebungen D. F. E.).

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Trotzdem verwirft Carr die Tatsachen und Dokumente nicht. Er warnt lediglich davor, sie zu fetischisieren: »Natürlich sind Fakten und Dokumente für den Historiker wesentlich. Aber man sollte sie nicht zum Fetisch machen.«18 Er selbst macht sie jedoch zum Fetisch, indem er Tatsachen mit der Fähigkeit zu sprechen ausstattet. Er bezieht sogar das Zuhören in die sorgfältige und verantwortungsbewusste Lektüre mit ein: »Wenn man ein Geschichtswerk liest, muß man immer auf dieses Ticken horchen.«19 Einmal mehr geben Texte Laute von sich.   Auch Carlo Ginzburg stellt die Beziehung zwischen Historiker und Dokument in animistischen Begriffen dar. In seinem 1991 veröffentlichten Buch Der Richter und der Historiker vermerkt Ginzburg: »Die Dokumente (die Angeklagten, die Zeugen) sprechen aber nicht von allein«, vielmehr, erklärt er, »muß man geeignete Fragen an die Dokumente richten, um ihnen Aussagen zu entnehmen«.20 Wieder bedürfen die Dokumente des lenkenden Geistes eines Historikers, um sprechen zu können. Daher lässt sich sagen, dass Befragen hier als Verlebendigen verstanden wird. In Die Wahrheit der Geschichte aus dem Jahr 1999 erinnert Ginzburg jedoch an die Gewalt, die mit der Befragung und Verlebendigung von Dokumenten einhergehen kann: »›Zum Sprechen bringen‹ – es lohnt sich, einen Augenblick bei dieser oder ähnlichen, auf den ersten Blick unschuldigen, harmlosen Formulierungen zu verweilen. Im ersten Abschnitt von Aristoteles’ Rhetorik, der den äußeren oder inartifiziellen, außerhalb der Redekunst gelegenen Beweismitteln gewidmet ist, finden wir neben Zeugenaussagen, Verträgen und Eiden auch die Folter.«21

Weiter heißt es bei Ginzburg: »Das Einordnen der Folter [zum Sprechen zu bringen, D. F. E.] unter die rhetorischen Beweismittel scheint diese Verbindung noch zu verschärfen, indem die Erkenntnis auf die brutale Machtausübung reduziert wird.«22 Für Ginzburg birgt das Verlebendigen auch die Möglichkeit, quälend zu sein. Wie bei Bloch ist es für historische Erkenntnis notwendig, dass der Historiker den Willen eines Dokuments bezwingt.   Sogar Ricœur wiederholt – ungeachtet seiner Behauptung, dass die Geschichte von einem Ende bis zum anderen Schrift sei – Blochs, Carrs und Ginzburgs 18  19 

Carr, Was ist Geschichte?, S. 19. Ebd., S. 23 (Übersetzung im Abgleich mit dem Original geändert, um den von Erin hervorgehobenen Aspekt des Auditiven zu erhalten, Anm. d. Übers.). 20  Ginzburg, Carlo: Der Richter und der Historiker. Überlegungen zum Fall Sofri, übers.v. Walter Kögler, Berlin 1991, S. 42. 21  Ginzburg, Carlo: Die Wahrheit der Geschichte. Rhetorik und Beweis, übers.v. Wolfgang Kaiser, Berlin 2001, S. 32. 22  Ebd.

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Gesten der Prosopopoiia und Apostrophe. Für Ricœur sagen die Dokumente nur etwas aus, wenn sie befragt werden: »Die Dokumente sprechen nur, wenn sie irgendeine Hypothese verifizieren, das heißt wahr machen sollen.«23 Zudem erscheint das Dokument als eine schlafende Waise: »[D]as im Archiv schlafende Dokument [ist] nicht nur stumm, sondern auch verwaist.«24 Indem der Historiker es befragt, tritt er in einen Dialog mit dem verwaisten Dokument, welcher es zum Sprechen bringt. In der Beschreibung Blochs bedarf ein solcher Dialog »eines Fragenkatalogs«25 und kommt damit einem Kreuzverhör gleich. Ricœur aber geht noch weiter und behauptet, dass das Dokument die Frage des Historikers benötigt, um überhaupt erst zu einem Dokument zu werden. Folglich gibt es ohne Frage auch kein Dokument: »[E]s wird umschrieben und in diesem Sinn als Dokument konstituiert und eingesetzt durch die Fragestellung.«26 Indem sie Dokumente lesen, haben Historiker also an der Verwirklichung ihres Potenzials zu sprechen teil. Und da die Fragen der Historiker daraus erwachsen, dass sie Dokumente lesen und eher die einen als die anderen auswählen und zitieren, erzeugt Lesen Sprechen. Mithin stellen die grundlegenden Methoden historischer und dokumentarischer Analyse – wie sie von Bloch, Carr, Ginzburg und Ricœur postuliert werden – also das dar, was Christopher Bracken in Bezug auf fiktionale Texte »ein Ereignis der Verlebendigung, einen prosopopoietisch generativen Akt«27 nennt. Im Fall des historischen Diskurses lässt sich dieses Ereignis der Verlebendigung als prosopopoietisch re-generativer Akt bezeichnen. Ein solcher Akt »haucht Zeichen Leben ein und versetzt sie in Bewegung«.28 Folglich ist der prosopopoietische Akt auch prometheisch, da er dem Leblosen die Eigenschaften des Lebendigen verleiht; auf diese Weise wird der Historiker zu einem prometheischen Künstler, da er »nicht Feuer von den Göttern stiehlt, um es den Menschen zu überbringen, sondern verwirklichende Kraft [z.B. Atem, D. F. E.] von der Natur (physis) nimmt und sie in Werken der Nachahmung (mimēsis) [z.B. in Schrift, D. F. E.] überträgt«.29 Die Tropen der Apostrophe und Prosopopoiia sind demnach prometheisch, da sie dem eine Seele oder Leben einhauchen, von dem man üblicherweise annimmt, dass sie ihm fehlten. Das Prinzip, das die Grundeinheit oder das Rohmaterial historischer Analyse – d.h. die dokumentarischen Beweise – untermauert, und die Methode des Zi23  24  25  26  27  28  29 

Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 274. Ebd., S. 260. Bloch, Apologie der Geschichte, S. 73. Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 274. Bracken, Christopher: Magical Criticism.The Recourse of Savage Philosophy, Chicago 2007, S. 212. Ebd. Ebd., S. 57.

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tierens, die diese dokumentarischen Beweise in die Darstellung des Historikers einführt, haben an dem teil, was gemeinhin als ›primitive‹ Doktrin gilt und mit ›Animismus‹ bezeichnet wird.30   Edward B. Tylor behauptet in seinen Darlegungen zum Animismus (1871), dass der »wilde Philosoph«31 die Funktionen des Lebens als von der Seele verursacht betrachtet. Sprechen ist eine solche Funktion. Dieser Auffassung zufolge müssen Dokumente, die sprechen, auch eine Seele haben. Tylor erklärt: »Manche verhältnissmässig hoch stehende wilde Rassen […] geben auch Stöcken und Steinen, Waffen, Böten, Nahrungsmitteln, Kleidern, Schmucksachen und andern Gegenständen, die für uns nicht nur seelenlos, sondern leblos sind, trennbare und den Leib überlebende Seelen oder Geister.«32

Dokumente (ob sie nun aus Papier und Tinte, Stein, Ton, Knochen, Leder etc. sind) fallen unter Tylors Kategorie der Gegenstände, die ›wir‹ als seelenlos und leblos erachten, die aber sprechen. Das Sprechen bedarf des Atems, den Tylor mit der Seele gleichsetzt: »Der für die höheren Thiere während des Lebens so charakteristische Act des Athmens, der in demselben Momente wie das Leben aufhört, ist wiederholt und ganz naturgemäss mit dem Leben oder der Seele selbst identificirt worden.«33 Wenn schriftliche Dokumente sprechen können, so haben sie nach dieser Auffassung auch eine Seele. Die Beweismethoden his30  Es ist darauf hinzuweisen, dass es so etwas wie primitive oder wilde Völker nicht gibt. Aus zwei Gründen werden diese problematischen Begriffe in diesem Text dennoch benutzt: a) um Vorstellungen zu diskutieren, die diskursive Erfindungen der Anthropologie des 19. Jahrhunderts sind, und b) um das Wirken von Praktiken und Glaubensinhalten, die traditionell als primitiv codiert wurden, im Zentrum des historisches Diskurses aufzuzeigen. Zudem ist anzuführen, dass ich zwar das Potenzial des Historikers zu verlebendigen untersuche, aber dabei anerkenne und betone, dass das Archiv nicht etwas Unbewegliches und Passives ist, das nur darauf wartet, dass es der Historiker (wieder)belebt, woran Dominick LaCapra erinnert hat: LaCapra, Dominick: Rethinking Intellectual History. Texts, Contexts, Language, Ithaca 1983, S.  79f. Das Archiv steuert und animiert sogar die Forschung des Historikers, wie Michel de Certeau hervorhebt: Certeau, Michel de: Das Schreiben der Geschichte, übers.v. Sylvia M. SchomburgScherff, Frankfurt a.M./New York 1991, S. 96f. Diesen Punkt kann ich hier nicht weiter ausführen. Dennoch bin ich der Meinung, dass Historiker daran beteiligt sind, Archive und Dokumente in einem rhythmischen und reziproken Prozess zu verlebendigen: Das Archiv und seine Dokumente geben den Forschungszielen und -methoden von Historikern Form, während sie wiederum selbst von den unterschiedlichen Arten, wie Historiker Dokumente und andere historische Texte verlebendigen – das heißt zitieren –, geformt werden. Schließlich verfolge ich die These, dass Historiker den Typus der Animation praktizieren, den E. B. Tylor, wie im Folgenden dargestellt, beschreibt, indem sie die Funktionen des Lebens Gegenständen zuschreiben, die im westlichen Denken üblicherweise als seelenlos und leblos gelten, wie z.B. Tinte und Papier. Diesem animistischen Vorgehen widmet sich mein Text. 31  Tylor, Edward Burnett: Die Anfänge der Cultur. Untersuchungen über die Entwicklung der Mythologie, Philosophie, Religion, Kunst und Sitte, 1. Bd., übers.v. Johann W. Spengel, Friedrich Poske, Hildesheim/Zürich/ New York 2005, S. 422. 32  Ebd., S. 470 (Hervorhebungen D. F. E.). 33  Ebd., S. 425.

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torischer Analyse statten also das Unbelebte mit den Eigenschaften des Lebendigen aus. Auguste Comte zitierend, bringt Tylor ein solches Vorgehen mit Fetischismus in Verbindung: »Auguste Comte hat sogar gewagt, eine derartige Geistesbeschaffenheit in ganz bestimmten Ausdrücken in seine Definition des ursprünglichen Culturzustandes der Menschheit einzuschliessen – er nennt ihn einen Zustand des ›reinen Fetischismus, der beständig durch die freie und directe Ausübung unserer ursprünglichsten Neigung charakterisirt ist, uns alle Dinge der Aussenwelt, natürliche wie künstliche, als belebt von einem Leben zu denken, das im Wesentlichen unserm eigenen analog und nur der Intensität nach davon verschieden ist‹.«34

Nun ist zu beachten, dass Tylor diese animistischen Glaubensvorstellungen nicht als irrational abtut.Vielmehr behauptet er wiederholt, dass dieses Denken rational ist: »Es sind Lehren, die in wirksamster Weise dem reinen Zeugnisse der menschlichen Sinne, wie eine vollkommen consequente und rationelle Philosophie es auslegt, Genüge leisten.«35   Das Lesen wirkt sich unmittelbar auf die Intensität aus, von der Comte schreibt. Denn Lesen ist das Einhauchen eines Atems, die Übertragung eines Lebens, das ›im Wesentlichen unserm eigenen analog‹ ist, auf scheinbar leblose Gegenstände. Wir lesen und befragen sie; sie sprechen. Das Lesen und insbesondere das Zitieren bestimmen also, wodurch einzelne Dokumente lebendiger – gesprächiger – werden als andere. Somit erweist sich Schrift (vor allem das Schreiben und Lesen der Geschichte) als ein animistisches Medium. Daher kann auch der prosopopoietisch re-generative Akt nicht einfach auf den Bereich der Fiktion beschränkt bleiben, insofern er auch in einem üblicherweise nichtfiktionalen diskursiven Bereich, der Geschichtswissenschaft nämlich, am Werk ist. Aus dieser Perspektive erscheint Geschichte als ›wilde Philosophie‹.

Wegweiser Dass die Geschichtsschreibung ein animistisches Medium ist, möchte ich im Folgenden in drei Schritten begründen. Zunächst möchte ich mittels Jacques Derridas Dekonstruktion der Entgegensetzung von gesprochener Sprache und Schrift – und einiger ihrer Konsequenzen – die Schrift als der Sprache mächtig und den Tod als des Lebens fähig aufweisen. Dies erfordert einen kurzen Abriss von Platons Phaidros – dem berühmten Dialog, in dem Sokrates und sein junger Gefährte Phaidros die Rede des Lysias über die Liebe diskutieren –, da hier die 34  35 

Ebd., S. 470. Ebd., S. 423. Tylor wiederholt diese Position auf S. 471f.

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Unterscheidung zwischen gesprochener Sprache und Schrift (und ihre Verbindung mit dem Leben und dem Tod) in der westlichen philosophischen Tradition einsetzt. Daraufhin soll ein Bezug zwischen Derridas animistischer Lektüre des Phaidros und Zora Neale Hurstons Bericht über einen haitianischen Zombie aus Tell My Horse aufgezeigt werden. Die Schrift und der Zombie entsprechen einander, insofern sie gleichermaßen Verfahren der Wiederbelebung unterliegen und lebendig erscheinen. Schließlich verknüpfe ich Derridas Auffassung der Schrift als Phantasma mit Tylors Darstellung von Geisterstimmen und zeige somit auf, dass sie dem zentralen Grundsatz ›wilder Philosophie‹ entspricht.   Ich beschäftige mich hier eingehend mit Derridas Texten, da sie die strukturellen Voraussetzungen der Schrift ausdrücklich animistisch fassen: Der, der über die technē der Schrift verfügen wird, »wird wissen, daß er abwesend sein kann, ohne daß die typoi aufhören, da zu sein, daß er sie vergessen kann, ohne daß sie ihren Dienst aufkündigen. […S]ie werden auch dann noch sein Wort tragen, wenn er nicht mehr da ist, ihnen Leben einzuhauchen.«36

Das Zitieren – im eigenen Text andere Dokumente sprechen zu lassen – ist eine gängige Methode, mittels der Historiker die Stimme einer abwesenden Person oder eines Toten verlebendigen und damit in neue Texte übertragen. Michel de Certeau behauptet sogar, dass die Verpflichtung, Quellen anzuführen, die Schilderungen der Vergangenheit aus der Feder der Historiker von bloßer Fiktion unterscheidet und dadurch die referenzielle Autorität und Glaubwürdigkeit der Schrift der Geschichte begründet wird: »[D]as Zitat [führt] einen notwendigen äußeren Text in den Text ein. Umgekehrt ist das Zitat das Mittel, das den Text mit seiner semantisch äußeren Oberfläche verbindet, das ihn dem Schein nach eine Rolle in der Kultur spielen läßt und ihm so eine referentielle Glaubwürdigkeit sichert.«37

Was de Certeau als Zitieren bezeichnet, lässt sich auch als Herbeirufen fassen. Und ich möchte hier zeigen, »dass Heraufbeschwören immer in einem gewissen Sinn (Herbei-)Zitieren ist«.38   Mit Derrida lässt sich darlegen, dass Historiker mittels des Zitierens als Beschwören die Worte der Toten wiederbeleben und somit beim Verfassen ihrer historischen Berichte animistische Verfahren anwenden. 36  Derrida, Jacques: »Platons Pharmazie«, in: ders.: Dissemination, übers.v. Hans-Dieter Gondek, hg.v. Peter Engelmann, Wien 1995, S. 69–190, S. 116f. (Hervorhebungen D. F. E.). 37  Certeau, Das Schreiben der Geschichte, S. 123f. 38  Bracken, Magical Criticism, S. 176.

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Erscheinungen: Zu Derridas animistischer Schrift Den Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit den zwei unterschiedlichen Arten von Erscheinungen (Phantomen und Zombies) bildet die Stelle im Phaidros, in der Sokrates Phaidros den Mythos von Theuth vorträgt. In diesem Zusammenhang postuliert Sokrates, dass die gesprochene Sprache in Bezug auf das Gedächtnis verlässlicher sei als die Schrift. Denn die Schrift, so lautet die Begründung, »wird der Lernenden Seelen vielmehr Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung des Gedächtnisses, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittelst fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden«.39

Die gesprochene Sprache und nicht die Schrift wahrt das Gedächtnis. Folglich begünstigt die Schrift »von der Weisheit […] nur den Schein […], nicht die Sache selbst«.40 Außerdem verbindet Sokrates das Sprechen mit dem Leben und die Schrift mit dem Tod: Es gibt »die lebende, beseelte Rede des wahrhaft Wissenden, von der man die geschriebene mit Recht wie ein Schattenbild ansehn könnte.«41 Aus diesen Gründen bezeichnet Sokrates die Schrift als pharmakon – ein zweideutiges Element, das als entweder wohltuend (als ein Heilmittel) oder bösartig (als ein Gift) auftritt –, da sie scheinbar dem Erinnern dienlich ist: »Nicht also für das Gedächtnis, sondern nur für die Erinnerung hast du ein Mittel erfunden.«42 Demzufolge ist Schrift nur etwas Scheinbares und nicht etwas Wesentliches.   Derrida bringt diese Opposition von gesprochener Sprache und Schrift zu Fall, indem er das platonische Unbehagen am Pharmakon weitertreibt. Es ist hervorzuheben, dass Derrida das Pharmakon nicht im Sinne eines Entweder/ Oder begreift, sondern als ein Weder/Noch. Er erklärt: »[D]as Pharmakon ist weder das Heilmittel noch das Gift, weder das Gute noch das Böse, weder das Drinnen noch das Draußen, weder das gesprochene Wort noch die Schrift.«43

39 

40  41  42  43 

Platon: Phaidros. Theaitetos. Griechisch und Deutsch. Sämtliche Werke, 6. Bd., nach der Übers. Friedrich Schleiermachers ergänzt durch Franz Susemihl u.a., hg.v. Karlheinz Hülser, Frankfurt a.M./Leipzig 1991, S. 137. Ebd. Ebd., S. 139. Ebd., S. 137. Derrida, Jacques: »Positionen. Gespräch mit Jean-Louis Houdebine und Guy Scarpetta«, in: ders.: Positionen. Gespräche mit Henri Ronse, Julia Kristeva, Jean-Louis Houdebine, Guy Scarpetta, hg.v. Peter Engelmann, Graz/Wien 1986, S. 83–176, S. 90.

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Dies »heißt zugleich oder oder«.44 ›Weder/Noch‹ erfasst die Struktur des Während; zwei gegensätzliche Positionen oder Konzepte nehmen zur selben Zeit jeweils die Stelle des anderen ein: Heilmittel während Gift, gesprochene Sprache während Schrift, lebend während tot. Daher bildet das Pharmakon oder das (Un-)Logische des Pharmakons eine chiastische Vermischung, in der scheinbar getrennte, gegensätzliche und unvereinbare Begriffe immer bereits ›gemischt‹ erscheinen.45 Der Chiasmus ist die Trope des Spiegelverkehrten. Lanham erklärt, dass er »eine natürliche innere Dynamik hervorzurufen scheint, die die Teile enger zusammenzieht, als ob das zweite Element sich zurückwenden und über das erste kehren wollte«.46 Der Gedanke einer Schrift, die spricht, ist ein Beispiel für einen Chiasmus. Ein jeder der gegensätzlichen Begriffe geht in den jeweils anderen über. »Das pharmakon ist also ›ambivalent‹«, erläutert Derrida, »weil es genau die Mitte bildet, in der die Gegensätze sich entgegen setzen können, die Bewegung und das Spiel, worin sie aufeinander bezogen, ineinander verkehrt und verwandelt werden (Seele/Körper, gut/böse, Drinnen/Draußen, Gedächtnis/Vergessen, [Leben/Tod, D. F. E.] Sprechen/Schrift, etc.)«.47

Für Derrida sind diese Gegensätze Beispiele der dichotomen Logik, die das Fundament westlicher Metaphysik bilden. In Derridas Lektüre der Geschichte der westlichen Metaphysik erscheinen diese Gegensätze als hierarchisch. Sie sind gekennzeichnet durch eine negative Beziehung, in welcher der erste Begriff der privilegierte ist, während der zweite Begriff bezüglich des ersten einen Mangel oder eine Unterlegenheit bezeichnet.   Der Gedanke des Draußen ist jedoch, wie Derrida betont, für das System, das ein Drinnen und ein Draußen postuliert, wesentlich. Das System, das den zweiten Begriff nach außen verlagert, setzt diesen eigentlich voraus. Somit ist der zweite, minderwertige Begriff zentral für das platonische System der Gegensätze. Tatsächlich ist er die »Matrix jeder möglichen Opposition«.48   Dem Gegensatz von zwei Begriffen geht der zweite Begriff immer schon voraus, während er zugleich aus diesem Gegensatz hervorgeht. Es kann weder ein 44  Ebd., S. 91. 45  Ich setze ›gemischt‹ in Anführungszeichen, da – wie Jean-Luc Nancy angemerkt hat – der Gedanke einer Mischung reine und separate Einheiten voraussetzt. Die Dekonstruktion – um sie einmal beim Namen zu nennen – lehnt die Möglichkeit solcher Einheiten ab. In Nancys dekonstruktiver Auslegung sollte der Begriff ›Mischung‹ durch ›Vermischung‹ ersetzt werden, da eine Vermischung eine gleichbleibende, beständig wiedererkennbare Einheit unmöglich werden lässt. Vgl. Nancy, Jean-Luc: »Lob der Vermischung. Für Sarajewo, März 1993«, übers.v. Andreas Knop, in: Lettre International 21 (1993), S. 4–7. 46  Lanham, A Handlist of Rhetorical Terms, S. 33. 47  Derrida, »Platons Pharmazie«, S. 142. 48  Ebd., S. 115.

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Drinnen ohne Draußen noch ein Sprechen ohne Schrift geben. Also ist die Vorstellung des Draußen immer im Drinnen mit eingeschlossen. Und dieser vorgängige und zugleich zweitrangige Begriff ist das Pharmakon (Schrift). Deshalb erklärt Derrida, die Schrift sei nicht der Regel von Platons Logik der Entgegensetzungen unterworfen. Vielmehr stellt die Schrift eine Form bereit, in der die Gegensätze gleiten, weil sie immer zuerst ist, während sie zugleich ein Zweites ist. Dementsprechend erläutert Derrida, dass das Pharmakon – oder die Schrift – »sich nicht einfach einen Platz zuweisen läßt, einen situs, innerhalb dessen, was sie situiert«.49 Damit öffnet er das gesamte platonische System dafür, von etwas bestimmt zu werden, was es doch gerade auszuschließen versucht. Derrida bemerkt, dass dieses Öffnen »der Logik, die sie [die Schrift] nur beherrschen wollen kann, indem sie selbst noch aus ihr hervorgeht, bloß ihr Phantom überläßt«.50 Hier verpflichtet sich Derrida der scheinbaren Unlogik des Phantoms.   Ein Phantom bildet nach Derrida die Grundlage der Logik des platonischen Systems als Fundament der westlichen Metaphysik. Die Philosophie geht folglich auf ein Phantom zurück. Wie die Schrift bewegen sich Phantome ebenfalls auf der Grenzlinie, die das Leben vom Tod trennt, und lösen diese damit auf. Wie auch das Pharmakon existieren sie auf beiden Seiten. Derrida nimmt sich sowohl der Schrift als auch des Phantoms in dieser Hinsicht an: »Um so mehr, als […] das, was wir gerade unvorsichtig Phantom genannt haben, nicht mehr, mit derselben Sicherheit, von der Wahrheit, der Wirklichkeit, dem lebendigen Leib etc. unterschieden werden kann. Man muß akzeptieren, daß in einer bestimmten Weise mit dem Lassen des eigenen Phantoms dieses eine Mal nichts gerettet werden soll.«51

An dieser Stelle verpflichtet sich Derrida der Rationalität des Animismus. Diese Verpflichtung tritt in Derridas animistischer Lektüre des Phaidros hervor, die an die Metapher anschließt, mit der Sokrates seiner Enttäuschung über die Neigung der Schrift, sich zu wiederholen, Luft macht. Ich möchte nun mit Derrida Sokrates wiederbeleben: »Denn dieses Schlimme hat doch die Schrift, Phaidros, und ist darin ganz eigentlich der Malerei ähnlich; denn auch diese stellt ihre Ausgeburten hin als lebend, wenn man sie aber etwas fragt, so schweigen sie gar ehrwürdig still. Eben so auch die Schriften. Du könntest glauben, sie sprächen als verständen sie etwas, fragst du sie aber lernbegierig über das Gesagte, so enthalten sie doch nur ein und dasselbe 49  50  51 

Ebd. Ebd. Ebd.

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stets. Ist sie aber einmal geschrieben, so schweift auch überall jede Rede gleichermaßen unter denen umher, die sie verstehen und unter denen, für die sie nicht gehört, und versteht nicht, zu wem sie reden soll, und zu wem nicht. Und wird sie beleidigt oder unverdienter Weise beschimpft, so bedarf sie immer ihres Vaters Hülfe; denn selbst ist sie weder sich zu schützen noch zu helfen im Stande.«52

Derrida hebt unmittelbar zu Beginn seiner Platon-Auslegung die animistische Darstellung der Schrift durch Sokrates hervor: »Die anthropomorphische, ja animistische Metapher läßt sich freilich dadurch erklären, daß das Geschriebene eine geschriebene Rede ist (logos gegrammenos).«53 Nach Derridas Lektüre des Phaidros ist also Schrift immer noch Rede. Da sie Rede ist, steht die Schrift im Rahmen der platonischen Gegensätze auf der Seite des Lebens. Aber indem er die Schrift personifiziert, lässt Sokrates sie weniger lebendig erscheinen als die Rede und führt unterschiedliche Abstufungen von Lebendigkeit ein. »Als lebender«, so Derrida, »ist der logos aus einem Vater hervorgegangen. Es gibt also für Platon keine geschriebene Sache. Es gibt einen mehr oder weniger lebendigen, mehr oder weniger bei sich seienden logos.«54 Das Geschriebene ist eine weniger lebendige, weniger starke Form des Gesprochenen. Schrift ist der lebende Tote, so wie auch – wie ich im Folgenden ausführen werde – der Zombie beschrieben wird. »Die Schrift«, erklärt Derrida, »ist keine unabhängige Bedeutungsordnung, sie ist ein abgeschwächtes Sprechen und eine noch nicht ganz und gar tote Sache: ein Lebend-Totes, ein Totes mit Galgenfrist, ein aufgeschobenes (différée) Leben, ein scheinbares Atmen«.55   Einmal mehr wird die Schrift unter dem Aspekt ihrer Intensität beschrieben – als Intensität einer Form des Lebens, das, wie Comte es formuliert, ›im Wesentlichen unserm eigenen analog‹ ist.

Die Schrift und der Zombie: Reanimation und Relokalisierung Derridas Begriff der Schrift weist bemerkenswerte Parallelen zu Zora Neale Hurstons Bericht über den haitianischen Zombie auf.56 Hurston begegnet wäh52  53  54  55  56 

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Platon, Phaidros, S. 139 (Hervorhebungen D. F. E.). Derrida, »Platons Pharmazie«, S. 161. Ebd., S. 161f. Ebd., S. 162 (Hervorhebungen D. F. E.). Nach Fertigstellung dieses Textes wurde ich darauf aufmerksam gemacht, dass Derridas Betrachtungen zur Unentscheidbarkeit von Jeff Collins und Bill Mayblin anhand des Zombies als Filmfigur untersucht werden. Vgl. Collins, Jeff; Mayblin, Bill: Introducing Derrida. A Graphic Guide, Toronto 1996, S. 17–24. Colin und Mayblin führen jedoch weder Zora Neale Hurstons Tell My Horse an noch bringen sie den

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rend ihrer ethnographischen Forschungen in Haiti zwischen 1937 und 1938 einem Zombie namens Felicia Felix-Mentor. Hurston situiert Felicia in der Spannung zwischen zwei unterschiedlichen Orten und Lebensarten: New York und Haiti. »Hier im Schatten des Empire State Building«, bemerkt Hurston, »sind der Tod und der Friedhof endgültig. Es ist ein so bestimmtes Ende, dass wir es als Richtschnur für das Nichts und die Ewigkeit anlegen.«57 In New York gibt es Leben und Tod, »die Lebenden und die Toten«.58 In Haiti hingegen »gibt es die Lebenden, die Toten und dann gibt es Zombies«.59 Zombies »sind Körper ohne Seelen. Die lebenden Toten. Einst waren sie tot und danach wurden sie ins Leben zurückgerufen«.60 Hurstons erste Beschreibung des Zombies ist jedoch nicht ganz zutreffend. Denn Zombies haben Seelen, nur sind es wesentlich schwächere, weniger lebendige Seelen. Der Zombie erhält bei seiner Wiederbelebung einen Teil seiner ursprünglichen Seele zurück: »Alle stimmen darin überein, dass sich der Bocor [der Seelenräuber, der Menschen zu Zombies macht, D. F. E.] um Mitternacht mit der Seele des Verstorbenen am Grab einfindet… Das Grab wird von den Gefährten geöffnet, der Bocor dringt in das Grab ein und ruft den Namen des Opfers. Dieses muss antworten, denn der Bocor hat die Seele, hält sie in seiner Hand. Der Tote antwortet, indem er seinen Kopf anhebt, und in dem Moment, in dem er das tut, zieht der Bocor die Seele für eine kurze Sekunde unter seiner Nase vorbei und legt seine Handgelenke in Ketten. Dann schlägt er das Opfer auf den Kopf, um es weiter aufzuwecken.«61

Wie Atemluft wird die Seele durch die Nase aufgenommen. Zuvor jedoch ruft der Bocor den Namen des Opfers und der Sprechakt des Benennens provoziert Bewegung. In diesem Sinn vollzieht der Bocor – wie ein Historiker – einen prosopopoietischen Akt, indem er einen anscheinend toten Körper verlebendigt. Zudem besitzt der Zombie offenbar dieselben Eigenschaften wie jene Schrift, die Derrida zufolge bei Platon animistisch gefasst ist: Beide sind ›ein LebendTotes, ein Totes mit Galgenfrist, ein aufgeschobenes (différée) Leben, ein scheinbares Atmen‹. Denn der Zombie kann in der Regel nicht sprechen: »Er kann niemals mehr sprechen, es sei denn, man gibt ihm Salz.«62 Der Zombie wacht wieder auf, orientierungslos, und schleppt sich ziellos umher, wenn er nicht vom Bocor

57  58  59  60  61  62 

Zombie mit der Schrift in Verbindung. Ihre und meine Ausführungen zu Derrida und dem Zombie behandeln also jeweils unterschiedliche Aspekte. Hurston, Zora Neale: Tell My Horse. Voodoo and Life in Haiti and Jamaica, New York 2009, S. 179. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 183 (Hervorhebungen D. F. E.). Ebd.

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oder von dessen Gefolgsleuten gelenkt wird. Nicht länger Herr über sich selbst, wird der Zombie an seinem eigenen Haus vorbeigeleitet – wodurch er das Haus für immer vergisst – und dann wird ihm »ein Tropfen Flüssigkeit«, eine Droge verabreicht.63 »Man hat daraus geschlossen«, erklärt Hurston, »dass es sich nicht um einen Fall der Wiedererweckung von Toten handelt, sondern um einen scheinbaren Tod, der durch eine nur Wenigen bekannte Droge herbeigeführt wird«.64 Die Droge bringt demnach den Anschein des Todes hervor und erweckt dann wiederum den Anschein von Leben. Es ist eine Droge, die einen Menschen zu einem Zombie macht: weder lebendig noch tot, sondern am Leben während tot. Der Zombie ist die stoffliche Manifestation des Chiasmus. Von seinem ›lebendigen‹ Leben abgelöst, wird der Zombie dazu gezwungen, in Situationen Arbeit zu verrichten, die ihm vor seinem Zombie-Werden fremd oder sogar unsinnig erschienen wäre.   Wenn jemand zu einem Zombie wird, bedeutet das, dass man ihn auf eine Art und Weise arbeiten lassen kann, wie er es nie vorhatte. Dieser Prozess einer Ablösung von einem Kontext steht in einer Linie mit der strukturellen Voraussetzung, die Derrida jeglicher Art von Zeichen in seinem Artikel »Signatur, Ereignis, Kontext« zuschreibt. Derrida zufolge gehört die »Möglichkeit des Herausnehmens und des zitathaften Aufpfropfens […] zur Struktur jedes gesprochenen oder geschriebenen Zeichens (marque)«.65 Deshalb schlussfolgert Derrida, dass die »Möglichkeit eines Funktionierens, das an einem gewissen Punkt von seinem ›ursprünglichen‹ Sagen-Wollen, und seiner Zugehörigkeit zu einem sättigbaren und zwingenden Kontext getrennt wurde«,66 jedem Zeichen inhärent ist. Derrida nennt diese dem Zeichen innewohnende Möglichkeit, aus einem Zusammenhang herausgenommen und in andere Zusammenhänge gestellt zu werden, »Zitathaftigkeit«.67 Zitathaftigkeit ermöglicht das Aufpfropfen. Historiker sind auf diese Möglichkeit, ein Zeichen aufzupfropfen, angewiesen, wenn sie zitieren und damit einen Zeitungsartikel, einen Tagebucheintrag oder die Argumentation eines anderen Historikers dem Kontext ihrer eigenen Arbeit einverleiben. Ein Bocor ist ebenso auf Zitathaftigkeit angewiesen, wenn er einen Aristokraten oder einen Ladenbesitzer in den neuen Zusammenhang der Arbeit auf einer Bananenplantage verpflanzt.

63  64  65 

Ebd., S. 183. Vgl. dazu auch ebd., S. 197. Ebd., S. 196 (Hervorhebung D. F. E.). Derrida, Jacques: »Signatur, Ereignis, Kontext«, in: ders.: Limited Inc., übers.v. Werner Rappl, hg.v. Peter Engelmann, Wien 2001, S. 15–45, S. 32. 66  Ebd. 67  Ebd.

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»Haitianer der Oberschicht fürchten sich ebenfalls davor [zu einem Zombie zu werden, D. F. E.], aber sie sprechen darüber nicht so offen wie es die Armen tun. Jedoch ist es auch für sie eine furchterregende Möglichkeit. Bedenken Sie nur die Boshaftigkeit der Sache. Für einen Menschen, der sein ganzes Leben von einem Grad an feinfühlender Kultur umgeben gewesen und bis zum letzten Atemzug von seiner Familie und seinen Freunden geliebt worden ist, ist es nicht gut, über die Wahrscheinlichkeit nachzudenken, dass sein wiederauferstandener [aufgepfropfter, D. F. E.] Körper aus der Gruft geholt – der besten, die Liebe und Geld beschaffen konnten – und zur Schufterei auf der Bananenplantage gezwungen wird, arbeitend wie ein Tier, unbekleidet wie ein Tier und in den wenigen Stunden, die ihm zum Ausruhen und zur Nahrungsaufnahme gewährt werden, wie ein Biest in einem fauligen Verschlag kauernd. Von einem gebildeten, intelligenten Wesen zu einem gedankenlosen, unwissenden Tier. Dann wäre da noch die Hilflosigkeit dieser Situation. Die Familie und die Freunde können das Opfer nicht retten, weil sie nichts davon wissen.«68

Dieses Beispiel zeigt, dass ein Zombie unfähig ist, sich selbst zu schützen oder zu helfen, genauso wie die Schrift bei Platon: »Wir fanden den Zombie im Hof der Krankenstation. Sie hatten ihr gerade ihre Abendmahlzeit vorgesetzt, aber sie aß nichts. Sie kauerte am Zaun in einer Art Verteidigungshaltung. In dem Moment, in dem sie unser Kommen spürte, brach sie einen Zweig von einem Busch und begann damit den Boden, den Zaun und den Tisch mit ihrem Essen darauf abzustauben und zu säubern.«69

An dieser Stelle ist auffällig, dass sich Felicia wiederholt, und zwar auf ungebührliche Art und Weise. Sie säubert ihre Umgebung, aber ihr Säubern bleibt nur eine Geste des Säuberns. Dieses Putzen ist ein Säubern als Schrift. Zudem ist ihr Säubern ein Säubern, um den Anschein von Säubern zu vermitteln. Es ist kein wesentliches Säubern. Für Platon schweift die Schrift in ähnlicher Weise umher, kann aber keine neuen Gedanken ausdrücken; sie ist Gedächtnis.70 Eben dies gilt für Zombies bei Hurston: Sie »können sich bewegen und handeln, aber können keine Gedanken fassen«.71 Ein solches der Schrift entsprechendes Säubern ist ziellos; denn es ist Säubern, das – mit den richtigen Werkzeugen ausgeführt – tatsächlich sauber machen könnte. Aber da Felicia sich, wie die Schrift, nur wiederholt, ist ihr Säubern vor den Augen Hurstons absurd, da sie dabei vermutlich ihr Essen verschmutzt. Da sie das Säubern nur wiederholt,

68  Hurston, Tell My Horse, S. 181. 69  Ebd., S. 195. 70  Im Original deutsch: Gedächtnis. 71  Hurston, Tell My Horse, S. 196.

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weiß Felicia nicht, wann sie säubern soll und wann nicht, was sie sauber machen soll und was nicht, für wen sie sauber machen soll und für wen nicht. Sie macht einfach sauber. Der Zombie ist ein Wesen der blinden Wiederholung. An späterer Stelle heißt es: »Sie zog das Tuch enger um ihren Kopf und zeigte alle Anzeichen der Furcht und der Erwartung von Misshandlung und Gewalt. Die beiden Ärzte, die mich begleiteten, gaben besänftigende Laute von sich und versuchten, ihr die Angst zu nehmen. Sie schien nichts zu hören. Versuchte nur weiter, sich zu verstecken. Der Arzt lüftete für einen Augenblick das Tuch, aber sie schlug sofort Arme und Hände über ihrem Kopf zusammen, um das, vor dem sie sich fürchtete, auszuschließen. Ich sagte zu dem Arzt, dass mir Dr. Léon erlaubt hätte, einige Fotos von ihr zu machen, und er half mir, dies zu bewerkstelligen. Ich lichtete sie zuerst in der Haltung ab, die sie selbst einnahm, wann immer man sie in Ruhe ließ. Das heißt gegen die Wand gekauert, Gesicht und Kopf in dem Tuch versteckt. Dann in anderen Positionen. Schließlich entblößte sie der Arzt mit Gewalt und hielt sie so, dass ich ihr Gesicht aufnehmen konnte. Und der Anblick war furchterregend. Das leere Gesicht mit den toten Augen.«72

Aber diese toten Augen leben. Und hinter ihnen bietet Felicias Gedächtnis nicht nur Hurston und den Ärzten historische Informationen, sondern auch den Lesern. Ihre unterwürfige und ängstliche Wiederholung – obwohl nur zu Beginn fehlgeleitet (denn die Ärzte und Hurston zwingen sie schließlich dazu, unwillentlich Informationen herauszugeben) – zeigen an, dass sie wohl als Zombie oder sogar schon zuvor zum Saubermachen gezwungen wurde. Es kann auch sein, dass sie oft geschlagen wurde. Wie Blochs und Ginzburgs Historiker zwingen Hurston und die Ärzte das Zombie-Dokument zur Preisgabe von Informationen. Sie bringen es sozusagen zum Reden. In beiden Fällen jedoch ereignet sich die Enthüllung gewaltsam. Erinnert sei an dieser Stelle an Blochs Formulierung der Beziehung zwischen dem Historiker und den Dokumenten: »Sobald wir […] sie [auch gegen ihren Willen] zum Sprechen bringen wollen, bedarf es vor allem eines Fragenkatalogs.«73 Bloch weist darauf hin, dass wir durch diese Methode des Zwangs, »viel mehr über sie [die Vergangenheit, Übers.] in Erfahrung bringen können, als sie uns mitzuteilen bereit war«.74   Dasselbe gilt für Felicia. Sie ist eine Spur, eine lebende Verkörperung des Todes und der Anwesenheit von etwas Abwesendem. Sie ist deshalb nicht länger nur lebendiges Gedächtnis. Daher ist sie für sich genommen eine unzuverlässige 72  73  74 

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Ebd., S. 195. Bloch, Apologie der Geschichte, S. 73. Ebd.

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Quelle und muss sich einer Befragung durch die Stimmen Anderer stellen. Als sie noch lebte, war Felicia verheiratet, hatte ein Kind und betrieb einen kleinen Lebensmittelladen; dann im Jahr 1907 starb sie, kurz nachdem sie krank geworden war. Sie wurde sowohl in der Erde als auch auf dem Papier begraben. Hurston bestätigt: »Es gab Aufzeichnungen darüber.«75 29 Jahre später, nachdem sie aus der Erde und aus den Papieren wieder hervorgekommen war, kehrte sie nach Hause zurück und sprach. »Eines Tages im Oktober 1936«, berichtet Hurston, »sah jemand eine unbekleidete Frau auf der Straße und zeigte dies bei der Garde d’Haiti an. Dann erschien dieselbe Frau auf einem Bauernhof und sagte: ›Das ist der Hof meines Vaters. Ich habe hier gelebt.‹«76 Die Tote legt Zeugnis ab. Anfangs schenkt ihr niemand Glauben; dem Zeugnis des Zombies – der lebenden Schrift – begegnet man mit Argwohn. Nachdem sie sie nicht fortzujagen vermochten, gehen die Bewohner ihres ehemaligen Heims gemäß den Anforderungen der Quellenkritik vor: Sie ziehen weitere Quellen heran. »Schließlich wurde nach dem Vorgesetzten geschickt und er kam und erkannte in ihr seine Schwester, die vor neunundzwanzig Jahren verstorben und beerdigt worden war.«77 Aber die Aussagen ihres Bruders, des Vorgesetzten, waren noch kein ausreichender Beweis: »Es wurde nach ihrem Mann geschickt, damit er die Identifizierung bestätige.«78 Felicias Aussage wird als nicht vertrauenswürdig eingeschätzt, bis ihre Behauptung durch weitere Beweise als wahr bestätigt wird. Dem ›lebendigen‹ Zeugnis ihres Bruders wird mit demselben Misstrauen begegnet wie ihrem ›toten‹ Zeugnis. Weder ihr Zeugnis noch das ihres Bruders liefern einen ausreichenden Beweis. Andere Stimmen, mündliche Dokumente, sind erforderlich. Jedoch wiederholt jedes Zeugnis Felicias Zeugnis. In diesem Fall ist das Zeugnisablegen, genauso wie die Schrift, Wiederholung. Zudem sind es die Lebenden, die gekommen sind, um die Tote zu ergänzen, oder es ist die gesprochene Sprache, die nun die Schrift ergänzt. Der Schein – d.h. Felicia – spricht die Wahrheit.

Schrift als Phantasma oder die Geisterstimme des phonetischen Zeichens Schrift ist nach Derrida ein Bild oder Ebenbild des Atems. Dieser ist in der ›wilden Philosophie‹ untrennbar mit dem Leben und der Seele verbunden. Derridas 75  Hurston, Tell My Horse, S. 196. 76  Ebd. 77  Ebd. 78  Ebd.

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Interpretation von Sokrates beseelt die Schrift, indem sie diese mit Atem ausstattet. Die Schrift wird somit ebenfalls im Bereich des Spirituellen oder Geisterhaften angesiedelt. »[D]as Phantom, Phantasma, Trugbild (eidólon, 276a) der lebendigen Rede ist nicht unbelebt, ist nicht insignifikant, es bedeutet nur wenig und stets identisch.«79 Für Derrida ist Schrift ein Phantom. Und in der abendländischen Geschichte können Phantome sprechen: »Ebenso allgemein, wie den Seelen oder Geistern eine sichtbare Gestalt zugeschrieben wird, finden wir auch die Annahme, dass sie eine Stimme haben.«80 Das Geschriebene ist die sichtbare, substanzielle Gestalt des Atems, der Seele und der Stimme. Daher teilt das Geschriebene ein wesentliches Merkmal mit dem Phantom: »[D]ie Identificirung solcher Gespensterseelen [phantom souls] mit […] dem Athem hat manches Volk veranlasst, die Seelen als körperliche materielle Wesen zu behandeln.«81 Bloch, Carr, Ginzburg, und Ricœur sind hier mit einzurechnen, da sie historische Dokumente als substanzielle Wesen behandeln; ihre schriftlichen Dokument-Pharmakon-Phantome sprechen, und sie ticken sogar. Und Tylor erinnert daran, dass leise Geräusche in animistischen Glaubensvorstellungen mit Gespenstern und Geistern in Verbindung gebracht werden: »Eine einzelne Auffassung verlangt jedoch besondere Erwähnung. Hiernach ist nämlich die Geisterstimme ein dumpfes Murmeln, Zirpen oder Pfeifen, gleichsam der Geist einer Stimme. Die Algonkin-Indianer konnten die Schattenseelen der Verstorbenen wie Heimchen zirpen hören. Auf Neuseeland äussern sich die Geister der Todten, wenn sie sich mit den Lebenden unterreden, in pfeifenden Tönen, und diese Aeusserungen durch ein quiekendes Geräusch werden auch anderswo in Polynesien erwähnt. Die Familiargeister der Wahrsager bei den Sulus sind Manen von Vorfahren, die in einem dumpfen pfeifenden Ton, der nicht ganz Pfeifen ist, reden, woher sie ihren Namen ›imilozi‹ oder Pfeifer haben. Ideen entsprechen den klassischen Bezeichnungen der Geisterstimme ›Gezwitscher‹ oder ›feines Gemurmel‹.«82

Eine Geisterstimme ist, wie die Schrift, der Geist einer Stimme. Innerhalb des platonischen Systems gleicht ein Geist oder Phantasma dem Simulakrum (einer Kopie einer Kopie). Somit ist die Schrift, wie Derrida darlegt, eine Kopie und ein Geist: »Platon [verdammt] unter dem Namen Trugbild oder Phantasma das, was sich heute in seiner radikalsten Forderung als Schrift behauptet.«83 Tylors Rekonstruktion der ›wilden Philosophie‹ zufolge ist die Schrift genauso wie ein Geist 79  Derrida, »Platons Pharmazie«, S. 162 (Hervorhebungen D. F. E.). 80  Tylor, Die Anfänge der Cultur, 1. Bd., S. 445. 81  Ebd., S. 446f. 82  Ebd., S. 445 (Hervorhebungen D. F. E.). 83  Derrida, »Platons Pharmazie«, S. 157, Fußnote 62.

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Beseelte Dokumente

»ein dünnes körperloses menschliches Bild, seiner Natur nach eine Art Dampf, Häutchen oder Schatten«.84 Darüber hinaus erklärt Tylor: »Ebenso allgemein, wie den Seelen oder Geistern eine sichtbare Gestalt zugeschrieben wird, finden wir auch die Annahme, dass sie eine Stimme haben.«85 Damit betont Tylor, dass wir um die »Geisterstimme […] wie die Geistergestalt [vielleicht die Schrift, D. F. E.], von der sie [die Geisterstimme, D. F. E.] ausgeht«, wissen müssen.86   In Derridas Lektüre wird die Schrift zur materiellen Manifestation von Atem, indem sie das phonetische Zeichen in einem Medium, das dem Denkenden und Sprechenden extern ist, imitiert und ablagert: dem Vater des logos. »Selbstverständlich haben die Struktur und die Geschichte der phonetischen Schrift eine entscheidende Rolle in der Bestimmung der Schrift als Verdoppelung des Zeichens, als Zeichen eines Zeichens gespielt. Signifikant des phonischen Signifikanten.«87

In dieser Geschichte wird Sprechen mit Leben und Anwesenheit verbunden, während die Schrift mit Tod und Abwesenheit assoziiert wird: »Während sich letzterer [der phonische Signifikant, Übers.] in der beseelten Nähe, in der lebendigen Gegenwärtigkeit von mnēmē oder psychē hielte, entfernt sich der graphische Signifikant, der ihn reproduziert oder ihn nachahmt, davon um einen Grad, fällt aus dem Leben heraus, reißt dieses aus sich selbst heraus und versetzt es in den Schlaf in seinem typi(si)erten Double (double typé).«88

Dieses Double ist dasjenige, das Platon eine Art ›Schattenbild‹ nennt. Für Derrida ist der Geist jedoch – wenngleich weniger lebendig – ›lebende, beseelte Sprache‹.Trotz der Warnung von Sokrates, dass die Schrift und die Geister nicht imstande sind, das angemessen zu lehren, was wahr ist, spricht sich Derrida dafür aus, von der Schrift oder dem Phantom zu lernen: »Wenn er zumindest die Gerechtigkeit liebt, müßte der ›Gelehrte‹ der Zukunft, der ›Intellektuelle‹ von morgen, es lernen, und zwar von ihm [dem Gepenst, Übers.].«89 Die Grammatologie ist »das Studium der ›grammē‹, des geschriebenen Buchstabens«,90 eine Wissenschaft, die sich dem Gespenst verschrieben hat. 84  Tylor, Die Anfänge der Cultur, 1. Bd., S. 422. 85  Ebd., S. 445. 86  Ebd., S. 445f. 87  Derrida, »Platons Pharmazie«, S. 122. 88  Ebd. 89  Derrida, Jacques: Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, übers.v. Susanne Lüdemann, Frankfurt a.M. 1996, S. 239. (Übersetzung im Abgleich mit dem französischen Original und der Übertragung ins Englische geändert, Anm. d. Übers.). 90  Stocker, Barry: Derrida. On Deconstruction, New York 2006, S. 50.

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Zusammenfassung Abschließend lässt sich resümieren, dass es drei Modi der Wiederbelebung gibt, die das Zitieren strukturieren – jene Methode, mit der Historiker Beweismaterial in ihre Darstellungen der Vergangenheit eingliedern. Erstens verwendet der Historiker die prometheischen Tropen der Prosopopoiia und der Apostrophe beim Lesen und Zitieren bestimmter Quellen. Denn indem er die geschriebenen Worte eines anderen liest und zitiert, haucht der Historiker diesen Worten Leben ein und erlaubt einer abwesenden und/oder toten Person zu sprechen, zumeist von jenseits des Grabes. In dieser Weise beleben Historiker die Stimmen der Toten wieder.   Der zweite Modus der Wiederbelebung entspricht den gewaltsamen Praktiken, die die Reanimation des Zombies umgeben. Wenn sie einen Text zitieren, geben Historiker im Allgemeinen einen Teil eines Dokuments wieder und führen zugleich auch den Namen des Autors dieses Dokuments an. Dieser Prozess des Zitierens als Wiederbelebung ermöglicht es dem Historiker, Textteile herauszulösen und sie in einen neuen Kontext sowie in den Dienst einer Argumentation zu stellen, die ihre Autoren möglicherweise nie dafür vorgesehen hatten. Zudem bringt dieser Prozess das Zombie-Dokument dazu, etwas gegen seinen Willen preiszugeben. Beide, sowohl der Zombie als auch das zitierte Dokument, unterliegen einer Aufpfropfung.   Drittens zeigt Derrida in seiner die Schrift mit dem Phantom gleichsetzenden animistischen Lektüre der komplexen Beziehung von Schrift und gesprochener Sprache, dass sich das zentrale Medium, in dem sich historische Darstellung entfaltet – die Schrift –, auf Prinzipien stützt, die in der Tradition des westlichen Diskurses als ›primitives‹ und ›wildes‹ – wenn auch vernunftgeleitetes – Denken codiert sind. Indem er die Schrift als animistisches Medium einführt, liefert Derrida eine Erklärung dafür, warum Historiker wie Bloch, Carr und Ginzburg scheinbar unbelebten phonetischen Zeichen (das heißt Schrift) die Fähigkeit zu sprechen zuschreiben können. Tatsächlich liefert Derrida den konzeptuellen Rahmen, in dem wir die Behauptung unterschreiben können, dass Geschichte eine ›wilde Philosophie‹ ist.

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»We shall never know, how Nietzsche felt the wind in his hair as he walked on the mountains«. Re-enactment, Re-Animation und Historiographie nach Robin G. Collingwood

R

obin George Collingwood (1889–1943) verteidigte als Philosoph und Historiker einen eigenständigen wissenschaftlichen Anspruch der akademischen Geschichtsschreibung und -theorie. In seinem posthum 1946 auf Basis eines unvollständigen Manuskripts veröffentlichten Werk The Idea of History schrieb er mehrfach von dem »sichere[n] Gang einer Wissenschaft«1 und bezog sich damit auf die zeitgenössischen deutschsprachigen Geschichtswissenschaften, mit denen er die quellenkritische Methode sowie den sich nicht an den Naturwissenschaften orientierenden Anspruch auf Wissenschaftlichkeit teilte. Collingwood sprach – Kant zitierend – von einer ›kopernikanischen Revolution‹ in der Geschichtstheorie des 19. Jahrhunderts, nach der sich der Geschichtswissenschaftler selbst als Autorität gegenüber den historischen Zeitgenossen begriff.   Auf die Frage »How, or on what conditions, can the historian know the past?«2 gab der britische Geschichtstheoretiker mit einem von ihm geprägten Begriff eine Antwort: »[T]he historian must re-enact the past in his own mind.«3 Dieses Verfahren des »Nachvollzug[s] der Erfahrung der Vergangenheit«,4 so die etwas unglückliche deutsche Übersetzung von »History as Re-enactment of Past 1  Collingwood, Robin George: The Idea of History, Oxford 1946, S. 232, S. 236. 2  Ebd., S. 282. 3  Ebd. (Hervorhebung J. H./D. S.). 4  Collingwood, Robin George: Philosophie der Geschichte, übers.v. Gertrud Herding, Stuttgart 1955, S. 294f.

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Experience«,5 war weit mehr als ein »repeating«,6 jedoch ausdrücklich auch nicht als »relive«7 oder »revival«8 aufzufassen. Die Semantiken von Leben, Verlebendigung und Erleben sind jedoch über das Wort ›life‹ hinaus konstitutiver Teil der Überlegungen. Unter Rückgriff auf Modelle des Organischen (organic) und auf die Erfahrung (experience) für den Historiker erscheint in Collingwoods Bestimmung des Re-enactment durchaus die Qualität von (Wieder-)Leben von Vergangenem im Hier und Jetzt.   Über die Vorstellung des im englischsprachigen Raum vielrezipierten, im deutschsprachigen jedoch nicht kanonischen Geschichtstheoretikers hinaus wollen wir in der vorliegenden Studie untersuchen, wie sich Re-enactment zum Begriff von ›Re-Animation‹ positioniert. Für das Verständnis von Collingwoods Konzept von Geschichte und für eine mögliche aktuelle Verwertung als eine Heuristik der Geschichtsschreibung erscheint die in diesem Band entwickelte Denkfigur der ›Re-Animation‹ besonders passend. Denn Collingwood entwickelte einerseits eine Vorstellung von ›Denkakten‹ in organischen Systemen und sprach ihnen in diesem Sinne ein Leben zu, das zumindest teilweise unabhängig erscheint von der unwiderruflich vergangenen Zeit. Andererseits lässt sich in Bezug auf Collingwoods Ansatz eine starke Auffassung von ›Medium‹ rekonstruieren. Damit rückt die Rolle der Medien ins Zentrum der Konstruktion von Geschichtlichkeit. Erkennbar werden dadurch die Wechselwirkungen und regelrecht symbiotischen Verhältnisse zwischen Geschichte, Medium, Denken und Leben, welche wiederum die Fragestellung der Re-Animationen betreffen.   Unsere aktualisierende Lektüre strebt weder eine Pionier-Erzählung über den Protagonisten R. G. Collingwood an noch die Konstruktion einer neuen Urszene vom Zusammenhang der Geschichtstheorie und der Mediengeschichte anhand des Re-enactment. Unsere Lesart folgt vielmehr der Frage: Wie fruchtbar ist Re-enactment für eine medial-historiographische Heuristik – trotz aller, bereits von vielen Collingwood- und Reenactment-Rezipienten erwähnten, ›Unschärfe‹ des Begriffs? Wir wollen also Collingwoods Begriffsarbeit nicht in der Weise historisieren, dass wir sie in die Genese seines Werkes oder die englischsprachige Geschichtstheorie9 erneut kritisch einordnen, was andere schon

5  6  7  8  9 

Collingwood, The Idea of History, S. 282. Ebd., S. 285. Ebd., S. 296. Ebd., S. 284. »A whole volume could be devoted to the history of the reception of The Idea of History and the discussion of the views expressed in it.« Dussen, Jan van der: Introduction, in: Collingwood, Robin George: The Idea of History. With Lectures 1926–1928, hg.v. Jan van der Dussen, Oxford 1994, S. xxiii.

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Re-enactment nach R. G. Collingwood

umfangreich getan haben.10 Wir wollen vielmehr seine Gedankenakte wieder aufnehmen, weiterspinnen und re-animieren.   Die Betrachtung versucht, ›Re-Animationen‹ vom geschichtstheoretischen Modell des Re-enactment aus als regulative Denkfigur, also als transhistorische Ordnungsregel medialer Historiographie zu profilieren, indem die zugegebenermaßen vage ›Medientheorie‹ Collingwoods in ihren Bezügen zu Vorstellungen von Leben und Lebendigkeit herausgearbeitet wird. Zugleich wird über Collingwoods Verständnis hinaus versucht, das Feld der Geschichtstheorie als sich wandelnde Reflexion der Geschichtsschreibenden über die medialen Bedingungen der historischen Erkenntnis und ›der Geschichte‹ zu entwerfen.

Von Malern, Detektiven und Kaninchen: Das Geschichtsbild und die Geschichtsschreibung Collingwood erinnert daran, dass die Vergangenheit keine gegebene Tatsache ist, die durch Wahrnehmung empirisch zu ermitteln wäre. Auch sei der Historiker weder selbst Augenzeuge noch könne er unkritisch den Augenzeugenberichten glauben. Diese Umstände verdeutlicht Collingwood als Erstes bei der Beantwortung der Frage nach dem ›Wie‹ des historischen Arbeitens, nach den Bedingungen der Kenntnis von Vergangenheit. Mit den drei Adjektiven »mediate«, »inferential« und »indirect«11 charakterisiert Collingwood eben dieses historische Wissen, den möglichen Wissensstand und auch die Erkenntnis von Vergangenheit. Die Bedingungen der Möglichkeit, überhaupt von (historischer) Kenntnis zu sprechen, sind für Collingwood zunächst an semiotische Operationen gebunden. Alles andere, was Ereignisse, Erfahrungen und Denkvorgänge ausmacht, also das vermeintlich Unvermittelte oder Direkte, bleibe im Verborgenen und damit auch einem Re-enactment verschlossen: »The immediate, as such, cannot be re-enacted. Consequently, those elements in experience whose being is just their immediacy (sensations, feelings, &c. as such) cannot be re-enacted.«12   Mit einer solchen lebenszeitlich aktuellen, sinnlichen Erfahrung wird das unwiederholbar Vergangene benannt, das nicht erneut gegenwärtig gemacht werden kann. Collingwoods Beispiele sind allesamt Erlebnisse ›großer Denker‹ wie Epikur, Archimedes etc.: 10  Vgl. z.B. Dray, William H.: History as Re-enactment. R. G. Collingwood’s ›Idea of History‹, Oxford 1999; Palonen, Kari: Die Entzauberung der Begriffe. Das Umschreiben der politischen Begriffe bei Quentin Skinner und Reinhart Koselleck, Münster 2004. 11  Collingwood, The Idea of History, S. 282. Ins Deutsche übersetzt mit: »mittelbar, indirekt und auf dem Wege der logischen Folgerung möglich«. Collingwood, Philosophie der Geschichte, S. 294f. 12  Collingwood, The Idea of History, S. 297.

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»We shall never know, how the flowers smelt in the Garden of Epikur, how Nietzsche felt the wind in his hair as he walked on the mountains.We cannot relive the triumph of Archimedes […]. But the evidence of what these men thought is in our hands.«13

Selbst innerhalb der eigenen Lebenszeit seien die vergangenen Erlebnisse nicht wiederzuerleben. Daher ist es nur konsequent, dass sich die Ausführungen zum Re-enactment auf das ›Mittelbare‹, in erster Linie auf die Schrift, auf das Schreiben und das Lesen als Vorgänge beziehen. Auf diese Weise grenzt sich Collingwood mindestens in dieser theoretischen Abhandlung nachdrücklich und originell von der geläufigen Textarbeit der Geschichtswissenschaftler seiner Zeit ab.   Collingwood beschreibt eine allgemeingültig akzeptierte Vorgehensweise der historischen Arbeit, eine »common-sense theory«14 der Historiker, die nirgendwo schriftlich fixiert sei, auf die sich aber alle Kollegen insgeheim berufen würden. Damit kritisiert er implizit, aber massiv ihre theoriearme Arbeitsweise, die sich trotz des offensichtlichen, später von Reinhart Koselleck präzisierten Makels, »dass zahlreiche der aufgeworfenen Fragen nach Ursprüngen und Zielsetzungen, nach Herkunft und Sinnfindung, nicht zu beantworten sind, wenn man erst einmal mit den historischen Bedingtheiten ernst macht«,15 weiterhin stets als Wissenschaft, ja sogar Leitwissenschaft sah, wie sie seit etwa 1800 etabliert worden war.16    Zunächst setzt Collingwood bei der für die ›common-sense‹-Arbeitsweise vermeintlich klaren Form von ›Mediation‹ als Vermittlung historischer Sachver13  Ebd., S.  296. Unter allen möglichen nichtantiken Historikern und Philosophen wählt Collingwood bewusst Friedrich Nietzsche, den Autor der Schrift Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (1873), aus und betont damit die fundamentale Bedeutung, die diesem – gerade auch für seine eigene Geschichtstheorie – weiterhin zukommt. Palonen hat bereits darauf hingewiesen, dass Collingwoods »Problematik, obwohl er dies nicht notiert, mit dem Nietzscheschen und Weberschen Perspektivismus eng verwandt ist«. Palonen: Die Entzauberung der Begriffe, S. 42. Nietzsche hat in Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben die Axiome von der Teleologie der Geschichte, der Notwendigkeit ihres Verlaufes und ihrer Gerechtigkeit infrage gestellt sowie die Altersmetaphorik kritisiert, mit der sie dargestellt werde. Reinhart Koselleck bemerkt hierzu: »Im Hinblick auf den Begriff des Lebens, in dessen Dienst er [Nietzsche] die Historie stellte, zeigte sich freilich, dass das spontan Vitale, das Unhistorische und das Überhistorische von gleicher, wenn nicht gar von größerer Lebenskraft seien als die übliche Historie.« Koselleck, Reinhart: »Vom Sinn und Unsinn der Geschichte«, in: ders.: Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten, hg.v. Carsten Dutt, Berlin 2010, S. 9–31, S. 24. An anderer Stelle wird deutlich, wie nah dieser Ansatz Collingwood ist, wenn dieser in Bezug auf die Geschichte seines eigenen Denkens in Analogie zu den ›großen Denkern‹ ebenfalls vom erinnerten Lufthauch im Haar spricht – ›breeze in his hair‹ –, der zu falschen Schlussfolgerungen verleite. Vgl. Collingwood, The Idea of History, S. 295. 14  Collingwood, The Idea of History, S. 234ff. 15  Koselleck, Reinhart: »Interdiziplinäre Forschung und Geschichtswissenschaft«, in: ders.: Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, Berlin 2010, S. 52–67, S. 64. 16  Vgl. ebd., S. 63.

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Re-enactment nach R. G. Collingwood

halte an. Für seine Tätigkeit muss der historisch Forschende bei seinem Quellenstudium eine Art von Pakt eingehen. Wenn nämlich ein Ereignis oder ein Umstand als historisch er- und bekannt sein soll, so muss jemand damit vertraut gewesen sein, muss sich erinnern und muss zudem noch den Vorgang in verständlichen Benennungen mit entschlüsselbaren Zeichen gesammelt haben. Wenn diese Ausführungen erhalten sind und vorliegen, müssen sie vom Historiker und seiner wissenschaftlichen Zunft nach kritischer Prüfung als ›wahr‹ für eine Vergangenheit anerkannt werden. Das ist vielmehr ein Glaubens- als ein Verständnisakt: »History is thus the believing some one else when he says that he remembers something. The believer is the historian; the person believed is called the authority.«17   Nach dieser allgemeinen Annahme ›webt‹ der Historiker sich sein ›Geschichtsbild‹, bildet er sich eine neue Textur aus alten Texten, von denen er bestimmte Bestandteile als wahre Aussagen akzeptiert hat: »The historian’s picture of his subject, whether that subject be a sequence of events or a past state of things, thus appears as a web of imaginative construction stretched between certain fixed points provided by the statements of his authorities.«18

Diese ›common-sense theory of history‹ vom Zustandekommen eines ›Geschichtsbildes‹ ist also sein kritisierter Ausgangspunkt, von dem aus er das Geschichtsdenken von der Geschichtsphilosophie und den Naturwissenschaften abgrenzt. Die eigene Theorie und Methode etabliert Collingwood ausgehend von dieser Fragestellung. In seinen Ausführungen fallen dabei geradezu leitmotivisch das ›Bild‹ und weitere Semantiken des Visuellen auf.19 Mit der Betonung von konstruktiven Elementen beim Zustandekommen eben eines »picture of the past«,20 eines Geschichtsbildes, reflektiert und diskutiert er Formen von Sichtbarmachung von vergangenem Geschehen in der Vorstellung des Historikers. Mit einem solchen Fokus auf die Medialität historischer Praktiken deckt Collingwood nach und nach die Störungen, Missverständnisse und Fehlerquellen der konstatierten ›common-sense theory‹ auf.   Zunächst betont er die Zeitstruktur, nach der ein Historiker – bei allem Interesse für die Vergangenheit – zwingend doch nur das ›Hier und Jetzt‹ (»the this, the here, the now«21) wahrnehmen kann: 17  18  19  20  21 

Collingwood, The Idea of History, S. 234f. Ebd., S. 242 (Hervorhebung J. H./D. S.). Vgl. die Verwendung von Ausdrücken wie: regard, picture, image, optical illusion, see, vision, evidence. Collingwood, The Idea of History, z.B. S. 245. Ebd., S. 233.

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»the things about which the historian reasons are not abstract but concrete, not universal but individual, not indifferent to space and time but having a where and a when of their own, though the where need not be here and the when cannot be now«.22

Durch diese unaufhebbare Differenz zwischen vergangenem Raum/vergangener Zeit und der jeweiligen Gegenwart ist dem Historiker eine Wiederholung, durchaus auch im Sinne von Reproduktion, unmöglich. Die Quellenarbeit ist bestimmt von Selektion, Konstruktion und Beurteilung (»selection, construction, and criticism«23), aus der das eigene neue Geschichtsbild schließlich entsteht. Um diese Streuung zu verdeutlichen und bei der Metapher des Geschichtsbildes verbleibend, ist der von Collingwood aufgerufene überraschende Vergleich mit dem, was der Historiker in seinen Texten erschafft, die Tätigkeit des Landschaftsmalers. Auch dieser scheitert stets an dem selbst auferlegten Anspruch, die Natur zu kopieren, zu reproduzieren und so stillzustellen und festzuhalten: »He [der Landschaftsmaler] may fancy that he is reproducing in his own medium the actual shapes and colours of natural things; but however hard he tries to do this he is always selecting, simplifying, schematizing, leaving out what he thinks unimportant and putting in what he regards as essential. It is the artist, and not nature, that is responsible for what goes into the picture. In the same way, no historian, not even the worst, merely copies out his authorities; even if he puts in nothing of his own (which is never really possible), he is always leaving out things which, for one reason or another, he decides that his own work does not need or cannot use.«24

Diese Materialität und Medialität des Bildes – beim Landschaftsmaler und seinem Naturbild sind dies Farbe, Pinsel und Leinwand, beim Historiker und seinem Geschichtsbild sind dies vor allem die Texte – bedingt die Möglichkeiten der entstehenden Arbeit und ihre jeweiligen Charakteristika als vermeintliches Abbild. Das Bild ist hier als Stillleben gegenüber dem Fließenden, Prozessualen und Organischen zu erkennen, durchaus auch schon mit der Anlage einer Dichotomie von ›unbelebt‹ und ›belebt‹. Die zwangsläufige Unvollkommenheit aller Versuche, die erblickte Natur nachzuahmen oder ihre Gestalt und Beschaffenheit festzuhalten, ist nicht der Natur selbst geschuldet. Vielmehr sind es die Möglichkeiten der schöpferischen Praktiken (shaping, selecting, simplifying etc.), die mit dem jeweiligen Medium und seinem Nutzer eine ästhetische Form der 22  23  24 

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Ebd., S. 234. Ebd., S. 236ff. Ebd., S. 236 (Hervorhebung, J. H./D. S.).

Re-enactment nach R. G. Collingwood

Reproduktion bestimmen. In der Übertragung vom Landschaftsmaler auf den Historiker verdeutlicht Collingwood, dass dies für dessen Formgebung von Geschichtsbildern ebenso gilt. Auch wenn er sich um eine maximale Eingrenzung des Eigenen bemühe, sei es ihm unmöglich, auf Komplexitätsreduktionen zu verzichten und nicht mindestens durch Auslassungen, wenn nicht auch durch kontrollierte »imagination«25 seinem Geschichtsbild einen eigenen, durchaus nicht wertfreien Charakter zu verleihen, den er ebenso wie die ästhetische Form zu verantworten habe.   Doch die Rahmung und den Entwurf des Geschichtsbildes mit all den genannten Störungen, mit seinen eigenen Setzungen und Eingriffen hat nicht nur der Historiker ursächlich zu verantworten. Auch sein Ausgangsmaterial, die Schriftquellen selbst, sind anfällig für Störungen. Diese reichen von Vorurteilen und Fehlinformationen des Schreibers über Lese- und Schreibfehler bis hin zu fahrlässigen Ausgrabungen und einem unschuldigen Kaninchen: »It is thus the historian’s picture of the past, the product of his own a priori imagination, that has to justify the sources used in its construction. These sources are sources, that is to say, credence is given to them, only because they are in this way justified. For any source may be tainted: this writer prejudiced, that misinformed; this inscription misread by a bad epigraphist, that blundered by a careless stonemason; this potsherd placed out of its context by an incompetent excavator, that by a blameless rabbit.«26

Das Material des Historikers war und ist also kein vorliegendes Faktum und kein Datum, sondern eher eine Spur, die mit Hilfe der Imagination zu einem kohärenten Geschichtsbild zusammengefügt wird und vor allem aus diesem legitimiert werden muss. Das Geschichtsbild legitimiert die Quellen erst! Und wie bereits gesagt: Jedes Geschichtsbild ist ›Produkt‹ einer ›Konstruktion‹. Das Produktionsverfahren nennt Collingwood einen »historical account«.27 Dem visuellen Leitmotiv treu bleibend spricht er von der Stimulation einer »vision of past experiences«.28   Eine Ansicht der Vergangenheit soll so zu einer Einsicht in die Geschichte verhelfen. Anders als mit Farbe und Pinsel konstruiert der Historiker seine ›accounts‹. Hier führt Collingwood eine andere Vergleichstätigkeit für historisches Arbeiten an und überrascht erneut. Der Historiker arbeite wie ein Detektiv im Kriminalroman: 25  26  27  28 

Ebd., S. 231ff. Ebd., S. 245. Ebd., S. 295. Ebd.

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»The hero of a detective novel is thinking exactly like an historian when, from indications of the most varied kinds, he constructs an imaginary picture of how a crime was committed, and by whom. At first, this is a mere theory, awaiting verification, which must come to it from without. Happily for the detective, the conventions of that literary form dictate that when his construction is complete it shall be neatly pegged down by a confession from the criminal, given in such circumstances that its genuineness is beyond question. The historian is less fortunate.«29

Der Historiker erzählt also von den Geschehnissen der Vergangenheit, die er als Denkakte bzw. als mit Denkakten verbunden versteht, wie von einem Kriminalfall – mit dem großen Unterschied, dass es keine Möglichkeit und keine Instanz gibt, die ihn so etwas wie eine ›endgültige Aufklärung des Falles‹ erfahren lässt. Es bleibt bei der Schilderung, beim Narrativ des Historischen.   Schließlich kommt Collingwood zu einem dritten und dem vielleicht markantesten Vergleich. Er kennzeichnet den Historiker als den Geschichts-Schreiber, indem er ihn nicht mit einem Naturwissenschaftler oder Philosophen vergleicht, sondern mit einem Romancier: »The resemblance between the historian and the novelist, to which I have already referred, here reaches its culmination. Each of them makes it his business to construct a picture which is partly a narrative of events, partly a description of situations, exhibition of motives, analysis of characters. Each aims at making his picture a coherent whole, where every character and every situation is so bound up with the rest that this character in this situation cannot but act in this way, and we cannot imagine him as acting otherwise. The novel and the history must both of them make sense; nothing is admissible in either except what is necessary, and the judge of this necessity is in both cases the imagination. Both the novel and the history are self-explanatory, self-justifying, the product of an autonomous or self-authorizing activity; and in both cases this activity is the a priori imagination. As works of imagination, the historian’s work and the novelist’s do not differ. Where they do differ is that the historian’s picture is meant to be true.The novelist has a single task only: to construct a coherent picture, one that makes sense. The historian has a double task: he has both to do this, and to construct a picture of things as they really were and of events as they really happened.«30

›History‹ ist bei Collingwood also ein Homonym. Es ist auch als Historiographie mit Betonung des -graphein und der entsprechenden Aufzeichnungsmedien zu verstehen. Collingwood betont nicht nur die Notwendigkeit der ständigen kritischen Neufassung der Darstellungen und Erklärungen der vergangenen Ereig29  30 

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Ebd., S. 243. Ebd., S. 245f.

Re-enactment nach R. G. Collingwood

nisse und deren jeweiliger gedanklicher Möglichkeitsbedingungen. Er fordert außerdem die konsequente Reflexion der Konstruiertheit sämtlicher Bestandteile historischen Wissens bzw. der ›Werkzeuge des Historikers‹. »There are no authorities there are no data.«31 Mit dieser Ablehnung von Textautoritäten und vorgegebenen Daten trug er zur Etablierung der Geschichte der Geschichtsschreibung als eigener Subdiziplin bei, die den Umgang mit überlieferten historiographischen Autoritäten als Bedingung reflektiert.

Das Denken als Prozess, die Unmittelbarkeit und das organische Leben Es geht bei Collingwood um eine breite Semantik von evidence, welche stets herzustellen ist und nicht mit dem Quellenstudium bereits vorliegt: »The historian does not know the past by simply believing a witness who saw the events in question and has left his evidence on record. That kind of mediation would give at most not knowledge but belief, and very ill-founded and improbable belief.«32

Einerseits ist evidence ein Buch, ein Brief oder Ähnliches: »[T]he historian, by using evidence of the same general kind, can recover the thoughts of others.«33 Aber eigentlich kann alles Beweismaterial werden: »Everything is evidence which the historian can use as evidence.«34 Über die Benutzung von solchen Indizien ist die Entdeckung möglich. Andererseits macht erst die Suche etwas zur evidence – es gibt Evidenz nicht bereits als solche, sie wird erst durch die Suche produziert, treibt dann aber diese Forschung voran.35 Fasst man evidence 31  Ebd., S. 243. 32  Ebd., S. 282. 33  Ebd., S. 296. 34  Ebd., S. 246f. Der mögliche Verlust jeglicher Spur, das Aussterben, wird von Collingwood dabei nicht berücksichtigt. 35  Mit seinem Zeitgenossen Walter Benjamin teilte Collingwood interessanterweise die Auffassung, dass potenziell das komplette ›Hier und Jetzt‹ als historisches Relikt zu begreifen sei – wahrscheinlich ohne ihn zu kennen und jedenfalls ohne ihn zu zitieren. »In principle the aim of any such act [die Gegenwart als Evidenz für ihre eigene Vergangenheit zu verwenden, J. H./D. S.] is to use the entire perceptible here-and-now as evidence for the entire past through whose process it has come into being. In practice this aim can never be achieved.« Collingwood, The Idea of History, S. 247. Alles, was zum Indiz gemacht oder als Beweismaterial genutzt werden kann, sei auch als solches anzuerkennen. Damit formuliert Collingwood zugespitzt, dass kein Material als außerhalb der geschichtlichen Welt befindlich verstanden werden kann, das sich für den gedanklichen Nachvollzug historischer Denkakte verwenden ließe. Beinahe deckungsgleiche Formulierungen wie in Collingwoods The Idea of History sind auch in Benjamins »Über den Begriff der Geschichte« (1940) zu finden – bis hin zum ›Geschichtsbild‹.Vgl. Benjamin,Walter: »Über den Begriff der Geschichte«, in: ders.: Gesammelte Schriften, 1. Bd., hg.v. Rolf Tiedemann,

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medial auf, so ist sie bei Collingwood durchaus wirkmächtig als Erinnerung des Denkakts (recollection36) zu verstehen und damit angesiedelt zwischen vermittelt und unvermittelt, zwischen Stillstand und Prozess, und letztlich nur zu denken mit einer speziellen Semantik von Lebendigkeit: »That dilemma rests on the disjunction that thought is either pure immediacy, in which case it is inextricably involved in the flow of consciousness, or pure mediation, in which case it is utterly detached from that flow. Actually it is both immediacy and mediation. Every act of thought, as it actually happens, happens in a context out of which it arises and in which it lives, like any other experience, as an organic part of the thinker’s life. Its relations with its context are not those of an item in a collection, but those of a special function in the total activity of an organism.«37

Mit der Benennung dieses Dilemmas führt Collingwood eine deutliche Unterscheidung von Denken als Fluss und einzelnen Denkakten an. Letztere bleiben transhistorisch übertragbar und können deshalb vergegenwärtigt werden und einen Mehrwert an Erkenntnis ausmachen, den der Historiker freilegen kann: »But an act of thought, in addition to actually happening, is capable of sustaining itself and being revived or repeated without loss of its identity.«38   Collingwood ist der Auffassung, dass auch über z.B. tausendjährige Intervalle hinweg unterbrochene Gedanken im Prozess des Re-enactment durch einen Historiker zum Leben (allerdings zu neuem Leben) erweckt werden können, wenn er eine Frage an die von ihm als solche adressierten Spuren der Vergangenheit und damit der vergangenen Denkakte richtet und sie damit im Re-enactment reanimiert. Das Nach-/Durch-Denken in seiner ablaufenden aktuellen Gedankenfolge verleihe durch seine gegenwärtige Prozessualität, seinen Lebenszeitbezug und seine Lebendigkeit den so in das gegenwärtige Denken eingekoppelten vergangenen Gedanken ein Weiterleben. Dieses Weiterleben erhalte seine Form innerhalb des bereits vielfach genannten Geschichtsbildes eines Historikers als gültiges Element mit Wahrheitsanspruch. Die Gedanken von Personen der Vergangenheit tauchten auf diese Weise in aktuellen, andersartigen, ebenso Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1974, S.  695, S.  702. Collingwood formulierte ebenso wie Benjamin die Vergänglichkeit dieser Geschichtsbilder selbst: »Every present has a past of its own and any imaginative reconstruction of the past aims at the reconstruction of this past of this present, the present in which the act of imagination is going on as here and now perceived.« Collingwood, The Idea of History, S. 247. Auf diese entscheidende Strukturanalogie der ansonsten sehr unterschiedlichen Theoretiker, die erst im Rückblick auf die beiden Zeitgenossen deutlich geworden ist, sei an dieser Stelle nachdrücklich hingewiesen. 36  Collingwood, The Idea of History, S. 295f. 37  Ebd., S. 300. 38  Ebd.

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organischen Kontexten wieder auf. Sie lassen sich reproduzieren und zugleich quasi fortpflanzen, wobei die Nahtstellen zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem erkennbar bleiben. Der Bruch zur Vergangenheit bleibt dabei dem Re-enactor bewusst, und die Schlüssigkeit des neuen gedanklichen Anschlusses wird auch nicht als völlig nahtlose Kontinuität fehlinterpretiert, nur weil dieser Anschluss konsistent wirkt. Vielmehr liegt der Wert des Re-enactment aus heutiger Sicht gerade im markierten Bruch und der Fremdheit des Wiederbelebten.39   Das Re-enactment kann ebenso wenig beliebig stattfinden wie der vorausgehende historisch-zeitgenössische Denkakt: »But it cannot repeat itself in vacuo, as the disembodied ghost of a past experience. However often it happens, it must always happen in some context, and the new context must be just as appropriate to it as the old. Thus, the mere fact that someone has expressed his thoughts in writing, and that we possess his works, does not enable us to understand his thoughts. In order that we may be able to do so, we must come to the reading of them prepared with an experience sufficiently like his own to make those thoughts organic to it.«40

Die medialen Spuren als account und evidence sind der Körper dessen, was den Gedankenakt und die Erfahrungen eben nicht als entleibtes Gespenst einer Idee erfahrbar macht, sondern ihnen (Sprach-/Schrift-)Form verleiht. Und die medialen Spuren sind es auch, die den Gedankenakt eben nicht in einem luftleeren ahistorischen Raum belassen. Der Gedankenakt wird durch sie vielmehr als Hauch, als mit der Stimme oder zumindest mit der Atmung verbundene Spur, der belebenden Wiederholung zugeführt. Alles, was sich ›in vacuo‹, im luftleeren Raum ereignet, wäre ohne Lufthauch, ohne Wind, wäre also ohne anima und ist damit nicht re-animierbar.

Der Forschungsakt Gedanken haben nach Collingwoods Vorstellung nur Leben, im Sinne von Gültigkeit und Wirkung, während sie gedacht werden. Folglich sind sie keine fixen, abstrakten Objekte oder Ideen, sondern sie hinterlassen bestenfalls Spuren 39  Vgl. Palonen, Die Entzauberung der Begriffe, S. 44. Palonen arbeitet heraus, dass nach Collingwood die Möglichkeit des Gedankenaustausches ohnehin selbst in der aktuellen Gegenwart immer von einer Nachträglichkeit gekennzeichnet ist, die offenbar werde, sobald sich das Denken auf sich selbst beziehen kann. Deshalb – so Collingwood – ist auch ein historischer Zeitgenosse gegenüber dem späteren Historiker nicht kategorial im Vorteil, da beide nur retrospektiv und vermittelt auf die Denkakte zurückgreifen können, die, abgesehen von ihrem (Wieder-)Vollzug, keine lebendige oder lebensrelevante Existenz beanspruchen könnten. 40  Collingwood, The Idea of History, S. 300 (zweite Hervorhebung J. H./D. S.).

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bzw. Überreste, anhand derer sie dann re-animierbar sind. Die einzige Form, in welcher Vergangenheit erschließbar sei, liegt demnach in der aktiven Wiedergabe, d.h. der Synchronisierung einerseits historisch-zeitgenössischer und andererseits subjektiv-aktueller Denkprozesse. Anhand von evidence würden diese Prozesse in ein spezielles Analogieverhältnis zueinander gebracht und lassen dadurch auf die historisch-zeitgenössischen Gültigkeiten zurückschließen, machen diese also wieder als geltend denkbar. Es geht dabei in keiner Weise um die Kopie von Spuren oder die bloße Repräsentation von Dokumenten des historisch-zeitgenössischen Denkens.   Doch das Besondere an Collingwoods Ansatz liegt nicht in der Formulierung von Gesetzmäßigkeiten und Allgemeingültigkeiten. Dieser lässt sich vielmehr als ein Bekenntnis zum geschichtswissenschaftlichen Arbeiten als einem kollektiven Dilemma auffassen, dem zufolge der Historiker trotz wissenschaftlich kritischer Methoden nur vorläufiges Wissen produzieren kann, das – in Collingwoods Worten – Leben (life) beanspruchen darf und notwendige, wenn auch nicht hinreichende, Grundvoraussetzung weitergehender genuin historischer Erkenntnis bleibt. Dieses Wissen ist das einzig mögliche historische Wissen in Abgrenzung zur Erinnerung, die von individuellen, jeweils aktuellen Bedürfnissen und Prägungen bestimmt ist. Dennoch hat dieses historische Wissen einen eigenen Wert, nicht zuletzt für die Erkenntnis des Gewordenseins der eigenen Zeit und für die gegenwärtige Selbsterkenntnis, im Sinne einer Selbsterfahrung als veränderliches und vergängliches Lebewesen in Gedankenzusammenhängen.   Collingwood entwickelt bei seiner Beschäftigung mit der Geschichte und Theorie der Geschichtsschreibung in The Idea of History außerdem eine eigensinnige Zeitvorstellung in Bezug auf die Geschichte, die versucht, Anordnungen der Historiographie sämtlich einer Logik der Denkakte unterzudordnen und damit tradierte Geschichtsbilder infrage zu stellen. Nicht zufällig teilt in der vorgeführten Lesart, aber ohne dass es eine direkte Verbindung gäbe, Koselleck mit Collingwood ein sehr unterschiedlich ausformuliertes, untereinander jedoch eng verwandtes Interesse an den Konstruktionsweisen der Geschichtsschreibung und ihrer Methoden des Verstehens und Erklärens. Vor allem auch die Verwendung von Textmaterial zu diesem Zweck – nicht Quellen im herkömmlichen Sinne –, die über die konventionelle Textauslegung hinausgeht, ist bei beiden ähnlich ausgeprägt. Koselleck spricht dabei interessanterweise zwar nicht von einem Denk-, aber von einem Forschungsakt: »Ein solcher Forschungsakt liegt noch allen Sinnstiftungen voraus, die etwa – vergeblich – in Kausalitäten gesucht werden, welche erklären sollen, warum etwas so und nicht anders

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gelaufen ist.«41 Beide Historiker befassen sich zudem mit der Frage der historischen Beschäftigung als Form der Selbsterkenntnis und darüber hinaus mit der historischen Erkenntnis im Allgemeinen.

Nachleben des Re-enactment? Zur radikalen Historisierung von Begriffen und Kategorien Der Unübersetzbarkeit des Begriffs Re-enactment, die eingangs thematisiert wurde, kann nur mit Umschreibungen oder Ersetzungen begegnet werden. Kari Palonen hat sich mit dem Fortwirken Collingwoods auf die Historiker Quentin Skinner und Koselleck befasst und umreißt in diesem Zusammenhang klar den heuristischen Wert des Ansatzes: »Geschichtswissenschaft als re-enactment of the past, d.h. einer Wieder-Setzung oder Re-Inszenierung des Vergangenen im Geist des Verfassers. Dies bedeutet nun keine Identifizierung mit dem Vergangenen, sondern die Anerkennung und Ausnutzung der Differenzen in den Kontexten. In diesem Sinne wird das Programm Collingwoods zu der Forderung nach einer kontextualisierten Geschichte des Denkens, in der die Geschichte der Begriffe einen wichtigen Nebenaspekt bildet.«42

Collingwood behandelt (wie Koselleck) sprachliche Unterschiede, auch semantische Unterschiede derselben Begriffe zwischen unterschiedlichen Zeiten, als Indizien für Begriffsverschiebungen als Problemverschiebungen und damit für geschichtlichen Wandel. Gleich bleibt dabei nur die Prozesshaftigkeit des historischen Prozesses, wie es Collingwood an anderer Stelle betont hat.43 Die Zeitkonstellation, die Collingwood dabei entwirft, beschreibt Koselleck auf strukturell verwandte Art ausgerechnet in einer Gedenkrede für Hans-Georg Gadamer: »Das Nachdenken dessen, was bereits vorgedacht war, so dass im Vollzug des Nachdenkens das Vergangene zukünftig wird, sowie das eigene Vorausfragen, ohne dessen Sogwirkung auch die Vergangenheit nicht gegenwärtig werden kann, zeugen von der zeitlichen Verschränkung, die Vordenken und Nachdenken aufeinander verweist.«44

41  42  43  44 

Koselleck, »Vom Sinn und Unsinn der Geschichte«, S. 19 (Hervorhebungen J. H./D. S.). Palonen, Die Entzauberung der Begriffe, S. 44. Vgl. ebd., S. 43. Koselleck, Reinhart: »Er konnte sich verschenken. Gedenkrede auf Hans-Georg Gadamer«, in: ders.: Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, Berlin 2010, S. 349–364, S. 356.

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Das Problem, das Collingwood bereits formuliert, und das beide als ›Zeitgenossen‹ im Feld der Geschichtstheorie des 20. Jahrhunderts angehen, ist in Kosellecks Formulierung, dass »[i]m Zuge der Forschungspraxis […] die kritisch zu reflektierenden Voraussetzungen abgeschliffen [werden], weil sie im zweiten Durchgang unvermittelt gehandhabt werden«.45   Genau diese nur scheinbar organische, vermeintlich ›unvermittelte‹ Verwendung z.B. von Begriffen wird bereits von Collingwood grundsätzlich kritisiert. Auf die daraus folgende Unübersetzbarkeit von vergangenen in aktuelle Begriffe kann nach Koselleck nur mit einer narrativen Umschreibung reagiert werden, die diese Bedeutungsunterschiede veranschaulicht. Diese Umschreibung bedarf einer Historisierung der Kategorien der Historisierung selbst und d.h. der »Verzeitlichung der kategorialen Bedeutungen«,46 mit denen ein Historiker arbeitet. Es geht Koselleck um ihre Anbindung an zeitgenössische Bedeutungszusammenhänge.   Doch damit ist noch nicht der ganze implizierte Lebens- und Lebendigkeitsbezug erfasst, der auch in Kosellecks Schriften auftaucht. Koselleck verwendet bei seiner Beschreibung des Verhältnisses von Roman und Historiographie, das bereits für Collingwood eine Rolle spielte, gezielt eine biologische Metapher: »Res factae und res fictae sind offenbar in anderer Weise verschränkt, als dass sie sich durch Tätigkeitsmerkmale oder Gegenstandsbereiche zweier Berufsgruppen voneinander scheiden ließen. […] Der erste empirische Testfall dessen ist die Osmose, die Roman und Historiographie seit der Aufklärung verbunden hat.«47

Dass Koselleck gerade diese Metapher eines verbindenden Trennverfahrens entlang der halbdurchlässigen Zellhaut verwendet, ist in unserem Zusammenhang ein Indiz für seine Vorstellung von organischem Leben oder zumindest Belebtheit, die dieser Aussage vorausgehen muss und die bereits bei Collingwood angelegt ist. Mit diesem Bild bringt Koselleck zum Ausdruck, dass es keine völlig feststehende Grenze zwischen den Formen Roman und Geschichtsschreibung gibt, doch ist ihre Unterscheidung auch nicht beliebig. Vielmehr können bestimmte Lebens- bzw. Erfahrungsinhalte von der einen in die andere Form übergehen, andere sind nicht übertragbar und machen die Abgrenzung erfahrbar: »Die Grenzziehung, die uns vorgegeben bleibt, ist nicht die zwischen 45  46  47 

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Koselleck, Reinhart: »Wozu noch Historie?«, in: ders.: Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, Berlin 2010, S. 32–51, S. 40. Ebd., S. 48. Koselleck, Reinhart: »Fiktion und geschichtliche Wirklichkeit«, in: ders.: Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, Berlin 2010, S. 80–95, S. 84 (Hervorhebung J. H./D. S.).

Re-enactment nach R. G. Collingwood

Fiktion und Faktizität, sondern die zwischen Geschichte und sprachlichen Zeugnissen.«48   Kosellecks Doktorvater, Gadamer, hat die Einleitung zur deutschen Übersetzung von Collingwoods Autobiographie verfasst. Gadamer bezieht sich in Wahrheit und Methode, wenn auch durchgehend kritisch, mehrfach explizit auf Collingwood.49 Gadamer macht am Beispiel des Begriffes ›Staat‹ mit Bezug auf die griechische Geschichte deutlich, dass die Differenz zwischen Konzepten des Staats in der Moderne und möglichen Äquivalenten in der Antike für das aktuelle Begreifen Bedingung ist: »Daß die Anstalt des Staates etwas sehr anderes ist als die natürliche Lebensgemeinschaft der Polis, ist nicht nur richtig – damit ist auch etwas aufgedeckt – und wieder aus dieser Erfahrung des Unterschieds, das nicht nur für die moderne Theorie unbegreifbar bleibt, sondern das auch in unserem Verständnis der überlieferten klassischen Texte unbegriffen bliebe, wenn wir es nicht aus dem Gegensatz der Moderne verstünden. Wenn man das revitalisation nennen möchte, Wiederbelebung, so scheint mir das eine ebenso ungenaue Redeweise wie die vom Reenactment bei Collingwood. Das Leben des Geistes ist nicht wie das des Leibes.«50

Gadamer folgt zwar nicht der Begrifflichkeit von Re-enactment und Revitalisation, stimmt aber in seiner Argumentation mit Collingwood überein, wenn es darum geht, antike und moderne Begriffe für anscheinend denselben Gegenstand als unterschiedliche zu erkennen. Auch das Projekt der Begriffsgeschichte Kosellecks stellt z.B. die jeweils zu einem Zeitpunkt gültigen Bedeutungen von Begriffen aus und kommt erst auf Basis dieser Erkenntnis zu Aussagen über Epochengrenzen. In der Selbsthistorisierung Kosellecks lautet das dann: »Die Begriffsgeschichte der politisch-sozialen Sprache ist ohne den Vorlauf seiner [Gadamers] philosophisch grundierten Begriffsgeschichte nicht denkbar.«51 In dem benannten Feld der historischen Begriffsgeschichte und ihrer Theorie wird zwar nicht mehr vom Begriff ›Reenactment‹ gesprochen oder der Autor Collingwood aufgerufen, jedoch ›proliferieren‹ die Fragen nach Wiederbelebung beziehungsweise erneutem Erleben durchaus im Diskurs.

48  Ebd., S. 95. 49 Vgl. Gadamer, Hans-Georg: GesammelteWerke.Wahrheit und Methode, 2. Bd., Tübingen 1993. Collingwood wird angeführt auf S. 6, S. 105, S. 110, S. 396, S. 418 (»re-enactment«). 50  Gadamer, Hans-Georg: »Hermeneutik und Historismus« (1965), in: ders.: Gesammelte Werke. Wahrheit und Methode, 2. Bd., Tübingen 1993, S. 387–424, S. 418. 51  Koselleck, »Er konnte sich verschenken. Gedenkrede auf Hans-Georg Gadamer«, S. 363.

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›Vom Nutzen und Nachtheil‹ der Re-Animation für Mediale Historiographien Collingwood bemüht den Landschaftsmaler und den Romancier – und beispielsweise nicht den Photographen –, um zu zeigen, dass die Erfahrung und vor allem die historiographische Darstellung immer von den Medien bestimmt ist, durch die sie Form gewinnt. Was zugänglich ist, ist evidence. Bei Koselleck wird das Verhältnis von Relikt oder Überrest und Geschichte genauso medienbewusst gefasst: »Wirklich in einem zugänglichen und auch überprüfbaren Sinne sind nur die Zeugnisse, die uns als Relikte von früher überkommen sind. Die daraus abgeleitete Wirklichkeit der Geschichte ist dagegen ein Produkt sprachlicher Möglichkeiten, theoretischer Vorgaben und methodischer Durchgänge, die schließlich zu einer Erzählung oder Darstellung zusammenfinden. Das Ergebnis ist nicht die Wiedergabe einer vergangenen Wirklichkeit, sondern überspitzt formuliert, die Fiktion des Faktischen.«52

Koselleck unterscheidet außerdem historisch zwischen »situative[r] Evidenz«53 für die Zeitgenossen und der historiographischen Evidenz, die diese Augenzeugenevidenzen als »verfehlte Wirklichkeiten«54 oder medial vermittelte und entsprechend gestörte Erscheinung erfassen kann: »Die Geschichten selber vollziehen sich immer nur im Medium der Wahrnehmung der Beteiligten. Die Vorstellungen der Handelnden von dem, was sie tun, und von dem, was sie zu lassen haben, sind die Elemente, aus denen sich, perspektivisch gebrochen, die Geschichten zusammenfügen. […] Das Fürwahrnehmen und das Fürwahrhalten gehen allesamt in die Situation ein, aus der sich Ereignisse herauskristallisieren.«55

Diese ex post erkennbaren, in der ›Vermitteltheit‹ verursachten ›Fehldeutungen‹ bei diesen Wahrnehmungsprozessen begreift eine mediale Historiographie als prinzipiell gleichwertig und potenziell wiederbelebenswert. Sie bemüht sich allerdings um eine Differenzierung der Formen und um möglichst akkurate Beschreibungen dieser Vermittlungs- und Wahrnehmungsprozesse als einzig erfassbare Form von Geschichte.

52  53  54  55 

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Koselleck, »Fiktion und geschichtliche Wirklichkeit«, S. 91. Koselleck, »Vom Sinn und Unsinn der Geschichte«, S. 16. Ebd., S. 17. Ebd., S. 16 (Hervorhebung J. H./D. S.).

Re-enactment nach R. G. Collingwood

Mediale Historiographie verfährt insofern re-animatorisch, als sie sich selbstreflexiv fragt, welche Denk-, Sprech- und Forschungsakte sie anhand welcher Spuren und Relikte in ihrer historiographischen, synchronisierenden WiederInszenierung verwenden will, um mit diesen ein neues, anderes oder gebrochenes ›Geschichtsbild‹ zu konstruieren. Eine mediale Historiographie stellt die (selbst wiederum vermittelten) Deutungsformen der Geschichte mit Hilfe von Medienbegriffen infrage. Sie beginnt nicht mit einem fertigen historischen Objekt, dessen Genealogie zu erstellen wäre, sondern das Untersuchungsobjekt kann nur mögliches Resultat verschiedener Objektivierungspraktiken sein. Geschichte ist nach diesem Verständnis das Ergebnis medialer Praktiken im Umgang mit ausgewählten Relikten, also mit nicht mehr als gültig erfahrenen, toten Überresten. Geschichte kann zugleich über Nacherzählen und Re-enactment hinaus durch eine ›Re-Animation‹ erfahrbar werden. ›Re-Animation‹ wiederum beschreibt ein spezifisches historiographisches Darstellungsverfahren für die historischen Wissenschaften. Die aktuelle Geltung historischen Materials ist nicht unmittelbar gegeben bzw. kann nicht nahtlos wieder aufgenommen werden: Sie muss erst einmal (oft mehrfach) konstruktiv geleistet werden. Ein vergangenes Geschehen oder ein historischer Ablauf sind selbst nicht wiederzuerfahren. Aber ihnen ist nahe zu kommen, wenn ihnen ein möglichst paralleler aktueller (Denk- und Darstellungs-)Prozess an die Seite gestellt wird, anstatt des Versuchs, das Geschehen mimetisch wieder aufleben zu lassen oder eine Kopie anzufertigen.   Diese Parallelisierung der Prozessualität von aktueller Geschichts-Re-Animation mit ihren über vermittelte Spuren gegenwärtigen Gegenständen findet sich in Collingwoods Re-enactment bereits angelegt. Die Parallelisierung ist ein Produkt der jeweiligen aktuellen Darstellung und bekommt dadurch erneuten, aber auch neuen gleichwertigen Geltungsanspruch, wie Collingwood an den eindringlichen Beispielen von dem Landschaftsmaler, dem Detektiv und dem Romancier verdeutlicht.   Die hier vorgelegte Aktualisierung seiner Texte überschreitet zwar Collingwoods Konzept des Re-enactment, versucht aber in der Weiterführung, die vielfach kritisierte ›Unschärfe‹ in eine Tugend umzuwerten. Im Sinne der ›ReAnimationen‹ geht es gerade darum, eine Beschreibung dieser ›Unschärfe‹ aus einer bewusst gesetzten Perspektive heraus zu unternehmen, statt sie in einer nicht mehr möglichen allgemeinen Eindeutigkeit etablierter ›Geschichtsbilder‹ aufzulösen.

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Stephan Gregory

Das begeisterte Wort. Tote Buchstaben und inspirierte Reden Geist und Buchstabe

D

as Nachdenken über die Wirksamkeit der Zeichen ist nie nur reine Theorie; selbst wenn es als Wissenschaft auftritt, enthält es so etwas wie einen mythologischen Überschuss, eine bestimmte Vorstellung von der Macht der Zeichen. Diese Macht wird charakteristischerweise als eine der Mortifikation und zugleich der Re-Animation begriffen: Zeichen ›töten‹ die Wirklichkeit (hegelianisch gesagt: ›die Sache‹), lassen sie dafür aber in einer neuen, symbolischen Wirklichkeit auferstehen.   Wohl am deutlichsten zeigt sich die mythologische Besetzung des Zeichenbegriffs an den vielfältigen Variationen des Themas von ›Geist‹ und ›Buchstabe‹, einer in der abendländischen Geschichte überaus einflussreichen Entgegensetzung. Schon in der Fassung des Zweiten Korintherbriefs handelt es sich um die Inszenierung eines Kampfes zwischen den Mächten und Medien des Lebens und des Todes: »[1] Heben wir denn abermals an, uns selbst zu preisen? Oder bedürfen wir, wie etliche, der Lobebriefe an euch oder Lobebriefe von euch? [2] Ihr seid unser Brief, in unser Herz geschrieben, der erkannt und gelesen wird von allen Menschen; [3] die ihr offenbar geworden seid, daß ihr ein Brief Christi seid, durch unsern Dienst zubereitet, und geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht in steinerne Tafeln, sondern in fleischerne Tafeln des Herzens. […] [5] […] [D]aß wir tüchtig sind, ist von Gott, [6] welcher auch uns tüchtig gemacht hat, das Amt zu führen des Neuen Testaments, nicht des Buchstaben, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.«1

1 

2Kor 3 zit.n. Luther, Martin: Die Luther-Bibel. Originalausgabe 1545 und revidierte Fassung 1912 (Elektro-

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Wie die Theologiegeschichte gezeigt hat, ermöglicht die Stelle sehr unterschiedliche Lesarten davon, was jeweils Buchstabe (gramma) oder Geist (pneuma) sein soll, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen und was an ihnen tötend oder verlebendigend sein soll. Offenkundig jedoch liegt der Unterscheidung von toten Buchstaben und lebendigem Geist eine polemische Absicht zugrunde. Für Paulus handelt es sich darum, eine bestimmte neue Form des Glaubens, der Zusammengehörigkeit und der Kommunikation von einer älteren Form der Bindung abzusetzen: die Gemeinschaft in Christo gegen die Gesetzesfurcht des Alten Bundes. Zur Verdeutlichung dieses Gegensatzes wird eine ganze Reihe von Metaphern aufgeboten, die bezeichnenderweise alle Medienmetaphern sind, genauer gesagt, Metaphern, die den Gegensatz von Vermittlung und Unmittelbarkeit artikulieren: Empfehlungsbriefe vs. verkörperte Evidenz des Glaubens; Schrift, geritzt in Steintafeln bzw. eingesenkt »in Herzen von Fleisch«; ein Dienst »des Buchstabens« gegen einen Dienst »des Geistes«.2 Dabei wird der jeweils erste Teil der Opposition als tötend, der zweite als verlebendigend begriffen. Die neue christliche Gemeinde soll nicht auf schriftlicher Vermittlung, sondern auf unmittelbarer Offenbarung beruhen; unmittelbare Durchgeistung und Begeisterung sollen Gesetze, Steintafeln und ›tote Buchstaben‹ ersetzen. Mit der paulinischen Formel wird nicht nur eine folgenreiche Unterscheidung getroffen – das Medium, die Vermittlung, das materielle Zeichen auf der einen Seite; der Geist, das innere Wort, der Sinn auf der anderen Seite –, die metaphorische Überlagerung durch das Begriffspaar Leben und Tod sorgt zugleich dafür, dass dieser Gegensatz von Anfang an als ein hierarchisches Verhältnis gefasst wird: Das bloß Äußerliche, Tote soll nicht über das Lebendige herrschen, der Buchstabe soll sich zum Verschwinden bringen, durchsichtig werden im Hinblick auf den Geist.   Es ist daher keineswegs abwegig, die paulinische Gegenüberstellung von Geist und Buchstabe als eine Urszene des christlichen Logozentrismus zu betrachten.3

Die Re-Animation der Schrift Wie aber soll man, angesichts dieser Verwerfung des Buchstabens, mit der (Heiligen) Schrift umgehen: mit der Tatsache, dass das Wort Gottes in Buchstaben-

2  3 

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nische Ressource), Berlin 2003. 2Kor 3,1–6 zit.n. Die Bibel. Altes und Neues Testament (Einheitsübersetzung), Freiburg i.Br. 2009, S. 1292f. Vgl. Martyn, David: »Der Geist, der Buchstabe und der Löwe. Zur Medialität des Lesens bei Paulus und Mendelssohn«, in: Jäger, Ludwig; Stanitzek, Georg (Hg.): Transkribieren. Medien/Lektüre, München 2002, S. 43–72, S. 44ff.

Das begeisterte Wort

form vorliegt? Das Problem stellt sich vor allem im Protestantismus: Wenn der Text die zentrale Rechfertigungsinstanz bildet (›sola scriptura‹), wird der Vorwurf, es mit toten Buchstaben zu tun zu haben, besonders unangenehm. Von großem Interesse ist in dieser Hinsicht die Position Luthers. Zunächst ist bei ihm eine deutliche Schätzung des Buchstabens zu erkennen, so z.B. wenn er die Auslegungskunststücke der Scholastik zurückweist und die Schrift allein »simplici sensu« auffassen will: »[D]enn literalis sensus, der thuts, da ist leben, trost, krafft, lehr vnd kunst.«4 Zugleich weist er auch jene »Schwärmer« zurück, die das »mündliche Wort« der Predigt »verwerfen«.5 Dem Ruf nach unmittelbarer Eingebung – »Es muß ›Geist, Geist‹ sein!« – setzt Luther die Notwendigkeit der Vermittlung durch das Wort entgegen: »Sie wissen viel davon, was der Heilige Geist ist und woher er kommt. Er wird aber nicht kommen ohne das äußerliche Wort.«6   Wie Luthers Predigten über den Zweiten Korintherbrief deutlich machen, ist diese Verteidigung des ›äußerlichen Wortes‹ durchaus doppelbödig. Denn auch für Luther handelt es sich darum, das Äußerliche am Buchstaben zugunsten seiner Innerlichkeit zu transzendieren. Eben darin besteht der Unterschied zwischen dem Buchstaben des Alten und des Neuen Testaments. Während das Gesetz des Alten Testaments nur eine Nachricht ohne Botschaft ist: ein »Gewäsch« ohne »Geist«, ein »Buchstabe, wie er in den Büchern steht«, ein Buchstabe, der »wie tot in unsrem Herzen« liegt;7 ist das Wort des Neuen Bundes von jeder Äußerlichkeit befreit, es erscheint als eine unmittelbare Ausgießung des Geistes. Schrift begegnet hier in der paradoxen Konfiguration eines Mediums der Unmittelbarkeit. In jedem einzelnen seiner Elemente präsentiert sich der Schreibprozess als ein immaterieller, geistiger Vorgang: »Der Geist (selbst) ist der Schreiber«, geschrieben wird nicht »mit Tinte und roter Farbe«, sondern mit Geist (»die Tinte ist der Heilige Geist«); und als Trägermedien funktionieren nicht »Papier und steinerne Tafeln«, sondern »weiche Herzen« (»euer Herz ist das Papier«).8 So ist die scheinbare Anerkennung der Schrift bei Luther auf die Verleugnung all dessen gegründet, was an ihr ›Schrift‹, d.h. äußerliche, mediale Spur ist. Luther selbst fasst diese logozentrische Umdeutung knapp zusammen:

4  Luther, Martin: Luthers Tischreden zit.n. Hörisch, Jochen: Die Wut des Verstehens. Zur Kritik der Hermeneutik, Frankfurt a.M. 1988, S. 24. 5  Luther, Martin: Die Korintherbriefe, hg.v. Eduard Ellwein, Göttingen 1968, S. 342. 6  Ebd., S. 343. 7  Ebd., S. 340. 8  Ebd., S. 342.

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»Schrift heißt: Was Gott durch den Heiligen Geist ins Herz schreibt, das ist Schrift, ein Brief, den er schreibt. Es sind lebendige Buchstaben, d.i. Worte, nicht mit Tinte und Kreide geschrieben, sondern lebendige Gedanken, Flammen und Bewegungen des Herzens.«9

Diese spiritualisierte Schriftauffassung hat weitgehende Konsequenzen für den Umgang mit dem Wort Gottes, zunächst für die Frage, wie zu lesen sei. Von der Lektüre wird erwartet, dass sie die Schrift lebendig macht, den Geist aus dem Kerker der Buchstaben befreit. Wie der Theologe Johann Arndt betont, hat »GOtt die heilige schrift nicht darum offenbaret, daß sie auswendig auf dem papier, als ein todter buchstabe, soll stehen bleiben; sondern sie soll in uns lebendig werden im geist und glauben«.10 Dieser Re‑Animationsauftrag wird den Pietismus lebhaft beschäftigen. Philipp Jacob Spener geht so weit zu behaupten, dass selbst die Heilige Schrift nur »ein todtes und unkräfftiges Werck«, nur »Schall, Buchstaben und Figuren« bleibe, »sofern sie da in Buchstaben läge, und nicht gehöret oder gelesen werde«.11 In ihren radikalen Ausprägungen führt diese Kritik zu einer ausdrücklichen Verwerfung des Schriftglaubens. Eine neue Klasse von Gläubigen will nicht mehr nur »von Menschen und aus Büchern« lernen, sondern »von GOtt selbst durch sein Wort, Eingeben, Einsprechen, Einschreiben« belehrt werden.12 Wer dem Wortlaut der Schrift verhaftet bleibt, erscheint den Vertretern der unmittelbaren Eingebung als ein »Buchstäbler, Wortgelehrter, Schriftprahler, Sylbenknecht, Wortstürmer, Sinnverkehrter; Der nicht erkennt, was […] innres Wort, das aus der Seele quillt, Und HerzensChristus sey«.13 Tatsächlich gilt die abfällige Rede von den »Buchstäblern« so sehr als Ausweis einer kirchenfeindlichen, fanatischen Gesinnung, dass sie beispielsweise 1709 in der Reichsstadt Esslingen ganz schlicht verboten wird: »Also befehlen wir hiemit […] daß man sich […] enthalten solle der […] Enthusiastischen Phraseologie, daß das Wort GOttes ein todter Buchstab seye. […] Einfolglich wollen wir auch nicht haben, daß […] von Buchstäblern und Buchstäblereyen geredet werde.«14

9  Ebd., S. 342. 10  Arndt, Johann: Sechs Bücher vomWahren Christenthum, Züllichau 1750, S. 26. 11  Heinsius, Johann Georg: Unpartheyische Kirchen-Historie Alten und Neuen Testaments, 2. Bd., Jena 1735, S. 773. 12  Crusius, Johannes: Gedächtniß-Rede, bey Beerdigung des […] Herrn Gottfried Arnold, Perleberg/Gardelegen 1719, S. 25. 13  Buchka, Johann S.: Muffel, der Neue Heilige (1731), Basel [d.i. Bayreuth] 1737, S. 76. 14  N.N.: »Obrigkeitliches Decret der Reichs-Stadt Eßlingen« (1709), in: Neumeister, Erdmann (Hg.): Pietismus à Magistratu politico reprobatus, Hamburg 1736, S. 289–298, S. 292.

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Das pneumatisierte Wort Für die weitere Ausdifferenzierung des Mythos von Geist und Buchstabe wird eine Unterscheidung besonders wichtig, die im Paulus-Brief schon angelegt ist, nämlich die zwischen geschriebenem und gesprochenem Wort. Der in der menschlichen Rede mitschwingende Lufthauch scheint, insofern er selbst ›pneumatisch‹ ist, dem Projekt der Vergeistigung eher entgegenzukommen als die schriftliche Spur. In Luthers Auslegungen der Paulus-Stelle spielt die Differenz von Schrift und Stimme eine entscheidende Rolle. Der Weg vom toten Buchstaben zum lebendigen Geist führt über das schon halbwegs lebendige gesprochene Wort: »[A]lso ist auch der Unterricht, so durch die Stimme gefaßt wird, weit lebhafter als der, so durch die Schrift erhalten wird. Denn der Buchstabe ist eine todte Stimme, die Stimme aber ist ein lebendiger Buchstabe.«15 In dieser Privilegierung der Stimme als des lebendigeren Worts gibt sich der luthersche Logozentrismus zugleich als ein Phonozentrismus zu erkennen: Die hier wirksame Idee eines lebendigen Buchstabens ist »unmittelbar an die Stimme und den Atem gebunden«; sie ist daher, wie man mit Derrida sagen kann, »nicht grammatologisch«, sondern »pneumatologisch«.16   Aus der Gegenüberstellung von Schrift und Rede geht also das mündliche Wort als Sieger hervor. Aber auch innerhalb der Rede lässt sich die Aufspaltung noch einmal wiederholen: Es gibt tote und lebendige Reden – ein Problem, das sich vor allem in der Verkündigung des göttlichen Worts stellt, und das sich daher am besten an der Ratgeberliteratur für Prediger ablesen lässt. Wie hat man sich die »Predigt der Kraft« vorzustellen, von der Luther spricht, jene »Predigt des Geistes, die den Buchstaben lebendig macht«?17 Offenbar genügt es nicht, sich – »wie die alten Schrifftgelehrten« – auf den Wortlaut zurückzuziehen und zu sagen: »Wir haben die H. Schrifft vor uns«.18 Denn das Wort soll »nicht auffn Papier / im Buche / im Gehirn / auf der Zunge« bleiben, es soll vielmehr »Geist und Leben« werden; die Schrift darf »nicht allein ein Lese-Wort bleiben«, sondern muss in ein »Lebe-Wort« transformiert werden.19   Über das Ziel der Verlebendigung sind sich Protestanten und Katholiken einig; über die Mittel oder den Stil gibt es jedoch unterschiedliche Auffassungen. In den katholischen Ratgebern dominiert der Imperativ der heftigen, feurigen 15  Luther, Martin: »Am Tage des heiligen Stephanus«, in: Sämmtliche Schriften, 12. Bd., hg.v. Johann Georg Walch, St. Louis 1881, Sp. 1682–1695, Sp. 1683. 16  Derrida, Jacques: Grammatologie, Frankfurt a.M. 1988, S. 33. 17  Luther, Die Korintherbriefe, S. 357. 18  Arnold, Gottfried: Theologia experimentalis, Frankfurt a.M. 1715, S. 181. 19  Ebd., S. 186.

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Rede. Die Worte der Weisen, so wird hier erinnert, müssen »stechen«: »Sie berühren nicht nur oben hin, kützlen auch nicht mit linder Hand«, sie verursachen vielmehr »Schmertzen und Wunden der Buß«.20 Will eine Ansprache mit dem »Heulen«, dem »Seufftzen« und dem »Geschrey der Büssenden« belohnt werden, so muss sie »mit hitzigem Eyffer« vorgebracht werden.21   Die protestantische Predigt dagegen soll, wie es bei Arnold heißt, »einen lebendigen Geschmack von der Freundlichkeit und Leutseligkeit Gottes«22 geben. Sie wird daher nicht »durch eine grobe Stimme, oder gar durch Gewalt und Härtigkeit«23 zu wirken versuchen; sie wird nicht »starck herauspoltern« und sich in einem »praßlenden, krachenden Feuer« verbreiten.24 Sie wird vielmehr die »freundliche Stimme«25 Christi imitieren und sich um eine »ausfliessende Anmuthigkeit«26 bemühen.   Die Meinungsverschiedenheit besteht hier also darin, wie der Re-Animationseffekt am besten zu bewerkstelligen ist: durch einen gewaltigen Wind oder einen sanften Luftzug. In beiden Fällen aber wird die Kraft der Verlebendigung im Atem verortet; es ist der Hauch der Stimme, der das Wort lebendig macht. In radikalisierter Form findet sich diese Auffassung bei jenen, die von der Amtskirche als ›Enthusiasten‹ bezeichnet werden: Sie nehmen die Rede vom Pneuma wörtlich und fassen den Geist als ›Hauch‹, als ›Blasen‹, als ›Inspiration‹.

Instrumente der Inspiration Ein in seiner Vielschichtigkeit äußerst interessanter Versuch zur Pneumatisierung des Worts wird zu Beginn des 18. Jahrhunderts von den sogenannten ›Inspirierten‹ unternommen, leidenschaftlichen Pietisten, die in einem Zustand ekstatischer Entrückung sogenannte ›Aussprachen‹ hielten, d.h. Reden, die als unmittelbare Verkündigung des Wortes Gottes betrachtet wurden. Die in Deutschland in den frühen 1710er Jahren auftretende Bewegung geht auf das ältere Vorbild der französischen ›inspirés‹ zurück, reformierten Christen, die sich unter dem Druck der Hugenotten-Verfolgung in die südfranzösischen Cevennen zurückgezogen hatten. Ausgehend von der Begegnung mit geflüch-

20  Barcia y Zambrana, José de: Christ-eyfriger Seelen-Wecker, Augsburg/Dillingen 1715, S. 15. 21  Ebd., S. 15. 22  Arnold, Theologia experimentalis, S. 183. 23  Ebd., S. 210. 24  Ebd., S. 250. 25  Ebd., S. 250. 26  Ebd., S. 149.

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teten französischen ›inspirés‹ 1713 in Halle,27 bildet sich 1714 in der hessischen Grafschaft Isenburg-Büdingen die erste deutsche ›Inspirationsgemeinde‹, deren wichtigster Prophet der gräfliche Hofsattler Johann Friedrich Rock sein wird. Ihr Wirkungskreis dehnt sich durch Missionsreisen vor allem nach Südwestdeutschland und in die Schweiz bald erheblich aus.28 Allein Rock unternimmt »zwischen 1715 und 1742 insgesamt mindestens 94 Reisen«.29   Wie fügt sich das Phänomen der inspirierten Rede in die oben skizzierte Re‑Animationsgeschichte des Buchstabens? Zunächst ist die demonstrative Geste zu bemerken, mit der sich hier das ›Wort‹ dem ›Geist‹ (dem Heiligen Geist) unterwirft. Mit der Idee der ›Aussprache‹ verbindet sich die Vorstellung einer spontanen Kundgabe des göttlichen Willens. Das Medium (das äußere, menschliche Wort) scheint ganz hinter der Botschaft (dem inneren, göttlichen Wort) zurückzutreten. Die Auffassung des Mediums als eines neutralen Durchgangsorts verrät sich in der Bezeichnung, die die inspirierten Redner sich geben. Sie sprechen von sich selbst als ›Werkzeugen‹, d.h. als unwillkürlichen Übermittlern der göttlichen Botschaft. Entsprechend distanzieren sie sich vom Begriff des ›Propheten‹, der allzu sehr die Vorstellung einer Eigenmächtigkeit, einer Autorschaft mit sich führt: »Das weiß ich wohl, […] daß mich der HErr durch seinen Geist treibet, aber was ein Prophet sey, weiß ich nicht.«30   Es ist dieses Moment der Besessenheit, das die Authentizität der Botschaft verbürgt. Kein Bericht versäumt es daher, auf den inneren Zwang hinzuweisen, unter dem die Werkzeuge ihre Aussprachen halten ›müssen‹: »Alß wir den 15den gegen Mittag in einen Flecken namens Sindringen, kamen, und in dem Wirtß-Hauß von Soldaten und Bauren ein greuliches Fluchen über ihrem Gelag anhören mußten, kam das Werckzeug in Inspiration und muste folgende Aussprach an sie thun.«31

Ihre deutlichste Darstellung aber findet die Unwillkürlichkeit der Rede in den ekstatischen Zuständen, durch die die Aussprachen sich anzukündigen pflegen. Diese Bewegungen, die aus einem »ungewöhnlichen / und der blosen Natur meist unmöglichen / Schütteln des Kopffs / Schlappern des Mundes / Zückung der Achseln / Schlottern der Knie / 27  Vgl. Noth, Isabelle: Ekstatischer Pietismus. Die Inspirationsgemeinden und ihre Prophetin Ursula Meyer (1682– 1743), Göttingen 2005, S. 96. 28  Vgl. ebd., S. 111. 29  Ebd., S. 113. 30  Rock, Johann Friedrich: Anfänge des Erniedrigungs-Lauffs zit.n. Schneider, Ulf-Michael: Propheten der Goethezeit. Sprache, Literatur und Wirkung der Inspirierten, Göttingen 1995, S. 72. 31  Rock, Johann Friedrich: Wohl und Weh, o.O. 1719, S. 25.

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Zittern der Beine / Erschütterung und sitzender Aufhüpffung des gantzen Leibs / u. s. f. bestehen«,32

werden als »inimitabel«,33 als unnachahmlich beschrieben – ein deutliches Zeichen, dass sie »von einer höheren Hand und Krafft« herrühren müssen.34 Auch hier erscheint also der Sprechende als ein willenloses Werkzeug, ein von fremden Kräften ergriffener Körper, der sich vorbehaltlos in den Dienst der Verkündigung des Worts gestellt hat.   Doch ist an dieser Stelle eine merkwürdige Verkehrung zu bemerken: Der frommen Absicht nach soll das Mittel ganz hinter dem Inhalt zurücktreten, in der zeitgenössischen Wahrnehmung des Phänomens ist jedoch das Umgekehrte der Fall. Der Inhalt der inspirierten Reden ist ganz unspektakulär, es handelt sich um Bußrufe und apokalyptische Verkündigungen, wie sie zu dieser Zeit keine Seltenheit darstellten. Die Sekundarität des Inhalts zeigt sich auch darin, dass er gelegentlich ganz fehlt. Ein Zeuge, der darauf hofft, etwas »von dem tenor ihrer mission« zu erfahren, bekommt nichts zu sehen und zu hören als »seltsame bewegungen der leiber dießer personen und ungeförmte th[öne] ihres mundes«.35 So ist es nicht verwunderlich, dass das Medium bald zur eigentlichen Botschaft wird. Die inspirierte Rede beeindruckt nicht durch ihren Inhalt, sondern durch das »Verwunderungs=würdige Spectacul«36 einer scheinbar unmittelbaren Kommunikation.

Ein verkörpertes Sprechen Was an den Inspirierten sichtbar wird, ist also eine besondere Form der Offenbarung, die eng an den körperlichen Akt des Aussprechens gebunden ist. Die »Eingeistung« vollzieht sich, wie der Pfarrer und Inspirations-Theoretiker Eberhard Ludwig Gruber erklärt, als »Einhauchung« – eine Prozedur, die »wegen Einund Ueberkunfft einer ungewohnlichen und mehr als menschlichen Krafft / mit einem Erschüttern des Leibes geschiehet«.37 Auch von den Werkzeugen selbst wird die Inspiration in einem durch und durch körperlichen Sinn wahrgenommen. Berichtet wird von »einer angenehmen Warmwerdung des Hertzens«,38 32  Anonym [Gruber, Eberhard Ludwig]: Nöthiges und nützliches Gespräch von der wahren und falschen Inspiration, o.O. 1716, S. 39. 33  Ebd., S. 45. 34  Ebd. 35  Anonymer Augenzeugenbericht (März 1715) zit.n. Noth, Ekstatischer Pietismus, S. 118. 36  Carl, Johann Samuel: Historische Umstände (1715) zit.n. Noth, Ekstatischer Pietismus, S. 131. 37  Anonym [Gruber], Gespräch, S. 5. 38  Ebd., S. 39.

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von einem starken, »aus dem Hertzen durch die Nasen« steigenden »Odem«,39 der die Worte nach draußen trägt. In den Aussprachen selbst wird diese eigentümliche Medialität ständig mitnotiert. Geradezu überpräsent sind hier die Bilder des Pneumatischen, des An- und Einhauchens, der Unwiderstehlichkeit des Windes: »MEnschen-Kind! Wann der Wind sich erhebet […] läst er sich auch aufhalten? Ist es nicht also / es kan das Blasen niemand wehren? Eben also ist es mit dem lebendigen Wind und Odem der Liebe; […] wer will ihn aufhalten?«40   Doch nicht nur durch den Atem des Werkzeugs ist das inspirierte Wort an die raum-zeitliche Situation seiner Äußerung gebunden. Seine Wirksamkeit beruht nicht zuletzt auf dem unmittelbaren Zusammenfallen von Offenbarung und Verkündigung, d.h. auf der Tatsache, dass hier sozusagen ›live‹, ohne Zeitversetzung ausgesprochen wird, was der Geist zu sagen hat. All dies, wie auch die gestische und szenische Ausgestaltung der Reden, verweist auf die Singularität und Nichtreproduzierbarkeit der inspirierten Aussprachen; es scheint, als seien sie nicht zu lösen von der raum-zeitlichen Situation ihrer Äußerung.

Die Verschriftung Es ist schon abzusehen, worauf die Sache hinausläuft: Die Reden wurden allesamt aufgeschrieben.41 Und diese Verschriftung stellt kein sekundäres Phänomen dar, eines, das später hinzugekommen wäre, oder das man billigend in Kauf genommen hätte. Vielmehr ist die Redepraxis von Anfang an untrennbar mit einer Aufschreibepraxis verbunden: Die Reden werden gehalten, um aufgezeichnet zu werden. Schon die Zeitgenossen sind beeindruckt von dem Aufwand an »Protocollisten / Notariis, Cantzelisten und Schreiberen«, die alles in den Versammlungen Vorkommende »ordentlich aufzeichnen / und zu Papier bringen«.42 So sind Rock und die anderen Werkzeuge stets in Begleitung von zwei oder drei Schnellschreibern, die ihre Reden notieren. Sind diese »Protocollisten« verhindert, werden andere Schriftkundige, beispielsweise der örtliche Pfarrer oder Amtsschreiber hinzugezogen. In manchen Situationen hat sich der Impuls der Aufzeichnung auf die Zuhörenden übertragen; einige von ihnen schrieben »selber auch / so viel sie konten / mit Bleiweis nach«.43

39  40  41 

Rock, Anfänge des Erniedrigungs-Lauffs zit. n. Schneider, Propheten der Goethezeit, S. 69. Rock, Wohl und Weh, S. 140. Das gilt schon für die französischen Inspirierten. Ihre ›avertissements‹ wurden protokolliert und im Druck veröffentlicht. Vgl. Noth, Ekstatischer Pietismus, S. 95; Schneider, Propheten der Goethezeit, S. 24. 42  Kuttge, Johann Daniel: Politica catholica, Augsburg 1726, S. 179. 43  Rock, Wohl und Weh, S. 37.

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Unmittelbar im Anschluss an die Aussprachen vergleichen die Schreiber ihre Protokolle und erstellen eine Reinschrift. Die so verfertigte Botschaft wird in Abschriften zunächst innerhalb der Gemeinde verbreitet, später auch im Druck veröffentlicht. In der Zeit zwischen 1715 und 1789 erscheinen »mindestens 81«44 gedruckte Sammelwerke; allein von Johann Friedrich Rock, der die Gabe des Aussprechens bis zu seinem Tod 1749 behielt, sind »946 Inspirations-Reden im Druck überliefert«.45 Ein Grund für diese Verschriftungspraxis ist natürlich der missionarische Auftrag. Die Verbreitung des göttlichen Worts soll nicht auf den engen Kreis von Anwesenden beschränkt bleiben; prinzipiell sollen alle daran teilhaben können. Ein zweiter Grund liegt wohl in einer Art Beweis- oder Dokumentationszwang: Nach dem »von der Kirche verkündete[n] Ende der Verbalinspiration«46 steht jede unmittelbare Offenbarung unter dem Verdacht der Scharlatanerie. Die genaue Dokumentation der Aussprachen dient dazu, die wahre Gottesrede von möglichen Fälschungen zu unterscheiden. So bittet Rock seine »Protocollisten«, mit besonderem »Fleiß« mitzuschreiben; dies sei nötig, weil »Seelen gefunden werden, welche ein inneres Wort vorgeben, und doch dasselbe nicht haben«.47   Unter dem Druck der medialen Verbreitung also haben die Inspirierten ein ausgeklügeltes Aufschreibesystem entwickelt, um die göttliche Botschaft möglichst getreu zu erhalten. Zeitgenössische Berichte heben die gespannte Aufmerksamkeit der Schreiber hervor, die es gestattete, auch die abruptesten Redeausbrüche augenblicklich in Schrift zu übertragen. So konnten die heftigen Konvulsionen einer Frau bewirken, dass »ein beysitzender mann alsobald« an eine schreibtafel sprang und sich »unter wehrender bewegung« ans Mitschreiben machte.48 Dieser geradezu reporterhaften Agilität und der Sorgfalt bei der Edition der Mitschriften ist es zu verdanken, dass die »ekstatischen Aussprachen der Inspirierten-Propheten« heute als »singuläres Beispiel einer völlig authentischen Überlieferung wirklich gesprochener […] Sprache aus dem 18. Jahrhundert gelten«.49   Für die Analyse der Re-Animationseffekte zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit stellt sich allerdings vor allem die Frage, wie die Inspirierten selbst mit 44  45  46 

Noth, Ekstatischer Pietismus, S. 151. Schneider, Propheten der Goethezeit, S. 11. Ebd., S. 73. Die 1715 in Halle erschienene Schrift »Nöthiger Unterricht von unmittelbaren Offenbahrungen« des Theologieprofessors Joachim Lange bekräftigt die Doktrin vom Ende der Prophetie und von der Unmöglichkeit, die Heiligen Schriften durch weitere Offenbarungen zu vermehren. 47  Rock, Wohl und Weh, S. 215. 48  Bericht des Pfarrers Konrad Schlierbach zit.n. Noth, Ekstatischer Pietismus, S. 123. 49  Schneider, Propheten der Goethezeit, S. 11.

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dem Problem der Verschriftlichung umgegangen sind, mit welchen Verfahren sie im Text den Eindruck einer ›authentischen‹ Wiedergabe der Rede erzeugen konnten. Wenn die Inspirierten zu den Erfindern des Dokumentarischen gehören, dann gehören sie auch zu den Erfindern einer Rhetorik des Dokumentarischen. Der von ihnen erzielte Wirklichkeitseffekt beruht vor allem darauf, dass im Text selbst immer wieder die Verfahren der Dokumentation mitabgebildet werden. Dabei gibt es ein doppeltes Vorgehen: Einerseits wird der Eindruck einer akribischen und vollständigen Mitschrift erzeugt; andererseits, und das ist origineller, werden gerade auch die Störungen im Aufzeichnungsprozess ausdrücklich vermerkt. Gerade die Lückenhaftigkeit des Texts, wird – durch Auslassungszeichen korrekt markiert – zum Wahrheitsindex: »Dem ungeübten Nachschreiber ist hie und da unterschiedliches zurück geblieben, doch wird es allemahl bemerket mit - - - zur Nachricht.«50

Die Stimme im Text Offenbar jedoch kann eine solche Übertragungstreue, wenn überhaupt, nur den Wortlaut der Rede erfassen. Der pneumatische Charakter der Rede, der doch ihre Inspiriertheit ausmacht, lässt sich dagegen, so sollte man denken, nicht in Schrift transformieren. Auch wenn das Dilemma nicht ausdrücklich reflektiert wird, muss es die Inspirierten umgetrieben haben, jedenfalls erfinden sie Verfahren, um die tötende Wirkung des Buchstabens abzumildern, den Pneuma-Verlust gering zu halten. So ist in den schriftlichen Aufzeichnungen die Bemühung spürbar, nicht nur die Botschaft zu konservieren, sondern auch etwas von der medialen Qualität der Rede zu erhalten. Dies geschieht zunächst durch den Paratext, der die dokumentierten Aussprachen umgibt. Jeder inspirierten Rede ist eine kurze Schilderung der Situation vorgeschaltet, in der sie sich ereignet hat. Der Ablösung des Worts vom Körper wirken auch die in den Text eingestreuten Anmerkungen entgegen, in denen Mimik und Gestik des Redenden mitnotiert werden. Zugleich wird der Versuch gemacht, den Rhythmus und die wechselhaften Stimmungen der Rede im Text wenigstens durch Satzzeichen wiederzugeben, insbesondere durch das Ausrufezeichen, das auch in der katholischen Erweckungsliteratur der Zeit die Dringlichkeit der Umkehr unterstreicht.51 Gemeinsam mit den in der Schriftsprache als verpönt geltenden »Interjectionen oder Empfindungswörtern«52 markieren sie im Text den Charakter aufgeregter 50 XXI. Sammlung, oder Auszug aus denen Jahr=Büchern (1781) zit.n. Schneider, Propheten der Goethezeit, S. 45. 51  Vgl. z.B. Abraham a Sancta Clara: Huy! und Pfuy! derWelt, Würzburg 1707. 52  Adelung, Johann Christoph: Deutsche Sprachlehre. Zum Gebrauche der Schulen in den Königl. Preuss. Landen,

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mündlicher Rede: »O Wehe! Wehe! Wehe! Wehe! Wehe! Wehe! Wehe! Wehe! Wehe! Wehe! Ach deß Jammers und Hertzeleids!«53   Die naheliegendste Weise aber, dem Text die lebendige Mündlichkeit wiederzugeben, besteht darin, ihn vorzulesen. Ebendies wurde in den Gemeindeversammlungen getan, und zwar mit solcher Wirkung, dass das Vernehmen der Botschaft zu neuen Ekstasen und weiteren Aussprachen führen konnte.54 In Amana am Iowa River, wo sich die im 19. Jahrhundert aus Hessen ausgewanderten Inspirierten niedergelassen haben, wird eine solche Praxis der Wiederholung immer noch geübt. Im Mittelpunkt der von der Amana Church Society abgehaltenen Gottesdienste stehen die ›testimonies‹ der deutschen Inspirierten des frühen 18. Jahrhunderts; und so kommt es, dass man dort an einem Septembersonntag des Jahres 2011 das inzwischen schon etwas amerikanisierte Echo jener Aussprache vernehmen kann, die ein gewisser »JF Rock« am 21. Mai 1717 in »Laubach, Germany« gehalten hat.55

Im Schatten der Schrift Wie gezeigt werden sollte, ersinnen die Inspirierten eine ganze Reihe von Verfahren, um etwas von der ›Unmittelbarkeit‹, die ihre Aussprachen auszeichnet, auch im Text zu erhalten. Damit folgen sie einer klassischen Auffassung über die Wirksamkeit von Medien. Demnach gibt es zunächst eine lebendige Wirklichkeit, die dann, durch den Zugriff codierender und abstrahierender Medien, gleichsam getötet wird – weshalb es darauf ankommt, sie durch bestimmte, selbst wiederum mediale Effekte auferstehen zu lassen. Doch wie sich gerade am Beispiel der inspirierten Rede gut zeigen lässt, reicht die Wirkungsweise von Medien noch weiter: Sie betrifft nicht erst die Darstellung, sie affiziert bereits die Verfertigung der ›lebendigen Wirklichkeit‹.   Denn die scheinbare Unmittelbarkeit der inspirierten Rede erweist sich bei näherem Hinsehen als ein in vielfacher Hinsicht vermitteltes, künstliches Produkt, als Ergebnis einer Kette von Medieneffekten. So ist die exaltierte Rede der Aussprachen, die in so deutlichem Gegensatz zur Schrift zu stehen scheint, von dieser von Anfang an kontaminiert. Das mündliche Wort bezieht sich nicht nur unablässig auf frühere Schriften (auf die Heilige Schrift, aber auch auf die zeitgenössische Erweckungsliteratur), es entwirft sich auch im Hinblick auf eine Berlin 1781, S. 374f. 53  Rock, Wohl und Weh, S. 13. 54  Vgl. Schneider, Propheten der Goethezeit, S. 96. 55 Vgl. http://www.amanachurch.org/Amana_Church_Services.html, 12.09.2011.

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zukünftige Schrift, auf die nämlich, die es selbst sein wird. Wenn die Rede beginnt, ist der Bleistift, der sie aufzeichnen soll, schon gezückt. Es ist daher nicht erstaunlich, wenn man in den Aussprachen der Inspirierten eine ganze Reihe von sprachlichen Eigentümlichkeiten findet, die sich nur durch die vorgängige Bestimmung zur Verschriftung erklären lassen. So haben die Reden offenbar regelmäßig mit einer Art Schreib- oder Diktierbefehl eingesetzt, der als ein bloßes Steuerzeichen wohl in den meisten Aufzeichnungen entfernt wurde, der aber in einigen überlieferten Reden durchaus erhalten ist. Bei den französischen Inspirierten kündigen sich die »avertissements« regelmäßig mit der Formel »Je te dis, mon Enfant« an;56 in den Aussprachen Rocks findet sich die lapidare Aufforderung »Schreibe:«57 oder »Schreibe! So spricht der Herr:«.58   Grundsätzlich scheinen die Reden einer beständigen Rücksicht auf Verschriftbarkeit gehorcht zu haben. Zahlreiche Aussagen betonen die gehobene Lautstärke, das gemäßigte Sprechtempo und die überaus prononcierte Art des inspirierten Sprechens. Nach Grubers Beobachtung pflegt »ein Wort nach dem andern / langsam / und meistens sylben=weiß [...] hervor zu steigen; und […] mit einem sonderlichen Bewegungs=Stoß / und gebrochenen gleichsam Posaunen=mässigen Schall und Thon / ausgesprochen zu werden«.59

Kritische Zuhörer haben in dieser ›brockenweisen‹ Verfertigung der Rede den Diktierstil der Schulmeister wiedererkannt;60 doch kann man sie auch als Indiz dafür nehmen, wie sehr im inspirierten Sprechen, das sich so gerne als kontinuierlich fließendes pneuma verstehen würde, so etwas wie gramma insistiert. Im Fluss der Aussprache selbst finden sich jene Momente der Diskontinuität, der Unterbrechung oder Kerbung, die gewöhnlich der Schrift zugesprochen werden. Deutlich wird dies in der Beschreibung einer Aussprache Johann Friedrich Rocks aus dem Jahr 1745: »Fast bei jedem Comma hielt er ein, daß man alles deutlich, ordentlich und vernehmlich hören und verstehen konnte, und meistentheils, so lange Er redete, stund der Kopf still; sobald aber ein Comma ausgesprochen, auch noch wohl unter

56  Vgl. Misson, François Maximilien; Marion, Elie; Fage, Durand u.a. (Hg.): Le théâtre sacré des Cévennes, London 1707, S. 14, S. 26. 57  Vgl. z.B. Rock, Wohl und Weh, S. 12, S. 99. 58  Ebd., S. 86. 59  Anonym [Gruber], Gespräch, S. 55. 60  Vgl. Edelmann, Johann Christian: Selbstbiographie. Geschrieben 1752, hg.v. Carl Rudolph Wilhelm Klose, Berlin 1849, S. 265: »erfolgte endlich die Aussprache Brocken-Weise, eben wie ein Schulmeister was dictiret«.

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währendem Reden, ging die Bewegung des Kopfes und der Hände schnell, doch in einerlei Tact (:so zu reden:) fort.«61

Gerade in dem offenbar ›falsch‹ gewählten Ausdruck »Comma«62 verrät sich eine Wahrnehmung, die kaum von der Hand zu weisen ist: dass nämlich Rock in seinem Sprechen der Vorstellung einer Schrift folgt. Daher können die Einschnitte im Strom der Aussprache mit dem schrifttechnischen Begriff des Kommas bezeichnet werden, und auch die unwillkürlichen Kopf-, Hand- und Beinbewegungen, die Rocks Rede skandieren, lassen sich als eine Art Zeichensetzung, eine körperschriftliche Interpunktion verstehen.

Schetekoro Ein weiteres Beispiel für diese Insistenz der Schrift in der Rede ist eine Aussprache des Werkzeugs Johann Carl Gleim (Abb. 1.). Am 21. Mai 1715, »nach dem Abend-Essen«, habe Gleim »bey erster Eröffnung des Munds« eine »gantz fremde und unbekannte Sprache geredet«:63 »Schetekoro. olahamanu. alaschementekora. rischema. schetebirekora. schenemenechora. schetechitichora. allaschetarischema. ollaminescheto. lischemona. ollaschaba. schetechira. reschemeneschite. chatische. kuschutu. reschebo. halischema. lakuschete. schenechoto. ruschebalacha. allaschetekora. ruachadonai. rachamana. ruachchatischema.«64

Es handelt sich zwar nicht um den einzigen Fall von Glossolalie unter den Inspirierten (Gleim hat offenbar auch bei anderen Gelegenheiten in »fremder Sprache« gesprochen65), aber doch um den einzigen, in dem der Versuch gemacht wurde, die Rede mitzuschreiben. In dem offensichtlichen Vorrang, der dem sprachlichen Material gegenüber dem Sinn zugestanden wird, scheint dieser Text auf dadaistische Lautgedichte vorauszuweisen.66 Tatsächlich bringt das inspirierte Reden – bei aller Ernsthaftigkeit der Absicht – Effekte hervor, die wohl schon von den Zeitgenossen als ›witzig‹ empfunden wurden, wie z.B. das

61  Bericht des Kaufmanns Clarus (1745) zit.n. Schneider, Propheten der Goethezeit, S. 61. 62  Schneider nimmt an, Clarus habe »mit seinem Terminus ›Commata‹« wohl eher »Sprechkola« gemeint. Vgl. Schneider, Propheten der Goethezeit, S. 61. 63  Gleim, Johann Karl: Das Geschrey zur Mitternacht, o.O. 1715, Vorrede, o.S. 64  Ebd., S. 1. 65  Ebd., S. 33, S. 35. 66  Zur Nähe von Dadaismus und Glossolalie vgl. Macho, Thomas: »Glossolalie in der Theologie«, in: Kittler, Friedrich; Macho, Thomas; Weigel, Sigrid (Hg.): Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme, Berlin 2008, S. 3–17.

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Abb. 1. Ausschnitt einer Textseite aus Johann Karl Gleim: Das Geschrey zur Mitternacht, 1715.

»Halleluja«, das Gleim am 2. August 1715 ausgerechnet in »Halle« anstimmt: »Halle===luja! Halle===luja! Halle===luja!«67 Vor allem aber lässt sich natürlich in der Betonung des Phonetischen eine Affirmation der Mündlichkeit, der körperlichen Seite der Sprache sehen – eine Art Selbstbehauptung der lebendigen mündlichen Rede gegen die tötende Schrift. Doch auch hier ist wieder eine Art ›Rache der Schrift‹ zu verzeichnen. Nicht nur liegt Gleims geheimnisvolle Aussprache nur in Buchstabenform vor; auch ist die Mündlichkeit, die sich hier äußert, weitaus stärker mit dem Gedanken der Schrift verbunden, als es zunächst den Anschein haben mag.   Das offenbar sinnlose Lautgebilde ist nämlich zumindest insofern nicht ganz sinnlos, als es nicht irgendeine, sondern eine ganz bestimmte Sprache zu sprechen versucht. So wird erwähnt, dass Gleim »viele Gebärden der Morgenländischen Völcker […] gemacht« habe, und dass die fremde Sprache, »weil sie sich in der Kähle formirt, vor Orientalisch gehalten worden« sei.68 Einiges spricht dafür, dass es sich bei der morgenländischen Sprache, die Gleim »mit solcher Fertig-

67  68 

Gleim, Das Geschrey zur Mitternacht, S. 120. Ebd., Vorrede, o.S.

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keit und Beobachtung des besondern Accents«69 zu sprechen vermag, um eine Art Fantasie-Hebräisch handelt. Denn Hebräisch ist nicht nur diejenige unter den orientalischen Sprachen, mit der ein hessischer Strumpfweber70 des frühen 18. Jahrhunderts vielleicht schon einmal in Berührung gekommen war; es lag auch nahe, göttliche Botschaften in eben jener Sprache zu verkünden, die als die des Herrn und der ursprünglichen Offenbarung betrachtet wurde. Darüber hinaus gab es einen eher sprachtheoretischen oder -mythologischen Grund, aufs Hebräische zu verfallen, nämlich die Wertschätzung, die der hebräischen Sprache als einem der Inspiration, der beseelten Rede besonders nahestehenden Medium entgegengebracht wurde. Diese Hochachtung hatte nichts mit der lautlichen Erscheinung zu tun, an der vielmehr die »rauhen Kehlen- und Gurgeltön[e]«71 auffielen; sie gründete sich vielmehr auf eine Erklärung, die bezeichnenderweise den Umweg über die Schrift einschlug. Das Hebräische wurde deshalb geschätzt, weil es in einer reinen Konsonantenschrift notiert wird, einer Schrift, die, um gesprochene Sprache zu werden, einer Ergänzung, nämlich der Vokalisierung bedarf. Gerade weil sie nur ein Gitter von toten – nicht einmal tönenden – Buchstaben liefert, fordert sie den belebenden Hauch der Sprache heraus. Vokalisierung als Pneumatisierung und Re-Animation – in dieser Vorstellung kommt, wie Thomas Macho bemerkt hat, die sprachtheologische Spekulation über den ›Geist der Ebräischen Sprache‹ mit dem Projekt der inspirierten Rede zusammen.72 Gemeinsam ist ihnen die Idee, in der Mündlichkeit den »Hauch des lebendigen Worts«,73 den »Athe[m] der Seele«74 wiederzufinden, der durch die Schrift abhandengekommen ist; in beiden Fällen jedoch erweist sich Mündlichkeit, weit davon entfernt, einen unschuldigen, einfachen Zustand ›vor der Schrift‹ zu bezeichnen, als ein kompliziertes, nur in seiner Abgrenzung von einer bestimmten Idee der Schriftlichkeit zu verstehendes Konstrukt.

Der Traum der Unmittelbarkeit Wie am Beispiel der Inspiriertengemeinden deutlich werden sollte, handelt es sich bei der Entgegensetzung von lebendiger Mündlichkeit und toter Schrift69  Ebd. 70  Vgl. Göbel, Max: »Geschichte der Wahren Inspirations-Gemeinden von 1688–1850. Zweiter Artikel«, in: Zeitschrift für die historische Theologie 24 (1854), S. 377–438, S. 387. 71  Herder, Johann Gottfried: »Vom Geist der Ebräischen Poesie. Erster Theil« (1782), in: ders.: Sämtliche Werke, 11. Bd., hg.v. Bernhard Suphan, Berlin 1879, S. 213–466, S. 231. 72  Vgl. Macho, »Glossolalie in der Theologie«, S. 7f. 73  Herder, »Vom Geist der Ebräischen Poesie«, S. 232. 74  Ebd.

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lichkeit um eine durchaus künstliche Trennung. Anstatt eine reine ekstatische Mündlichkeit zu verwirklichen, bringen die Inspirierten komplizierte bürokratische Aufschreibepraktiken hervor; die Idee der lebendigen Mündlichkeit selbst ist nur in Absetzung von der Schrift gewonnen. In jeder Hinsicht scheint also die Schrift das letzte Wort zu behalten: sie war nicht nur vorher schon da; sie ist auch das, was übrig bleibt. Doch auch wenn sich auf diese Weise der Traum von der Rückkehr zur lebendigen Wirklichkeit als Illusion, als eine schwärmerische Verirrung erweist, so ist er dennoch nicht unwirksam. Denn offenbar ist es gerade die Idee einer Überwindung des Medialen, die dafür sorgt, dass die Maschinen der Vermittlung nie stillstehen. Der Traum der Unmittelbarkeit gebiert neue Medien; der Kampf gegen den Buchstaben bringt neue Buchstaben hervor.

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Sabine Frost

(Re-)Animation durch Kombination und Synthese in Nathaniel Hawthornes »The Snow-Image« Kombination und Synthese

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n Nathaniel Hawthornes »The Snow-Image. A Childish Miracle«1 erschaffen zwei Kinder im winterlichen Garten eine Spielgefährtin aus Schnee. Das Leben des Schneekindes ist allerdings nur von kurzer Dauer, denn der Vater hält es für ein verirrtes Mädchen aus der Nachbarschaft und bringt es zum Aufwärmen ins Haus. Die Erzählung erschien 1852 in dem Band The Snow Image and Other Twice Told Tales, wurde später jedoch noch einmal separat als illustriertes Kinderbuch veröffentlicht. Durch diesen Umstand fand die Erzählung in der Hawthorne-Forschung zwar Beachtung als Kindermärchen, jedoch kaum als fantastische ›twice told tale‹. Dabei ist das Schneekind im Text keineswegs so eindeutig, wie es die Kinderbuchillustrationen suggerieren; seine wunderbare Belebung und auch der Tod werden darin nämlich weder konkret beschrieben noch abgestritten. Stattdessen erzählt »The Snow-Image« von den unterschiedlichen Perspektiven, die die Eltern im Text auf das Kind einnehmen: Während Mr. Lindsey in der Fremden ein Nachbarkind sieht, betrachtet Mrs. Lindsey das Mädchen als Belebung jener Figur, die ihre Kinder im Garten geformt haben. Der Erzähler stellt ihre Sichtweisen einander gegenüber und legt dem Leser, indem er öfter die Perspektive der Mutter einnimmt, die Animation des Schneekindes indirekt nahe, ohne sie jedoch als textinhärente Wirklichkeit zu bestätigen. Die in dieser 1  Hawthorne, Nathaniel: »The Snow-Image. A Childish Miracle«, in: ders.: The Centenary Edition of the Works of Nathaniel Hawthorne. The Snow-Image and Uncollected Tales, 11. Bd., hg.v. William Charvat, Columbus 1974, S. 1087–1102.

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Erzählweise evozierte Mehrdeutigkeit kennzeichnet nach Tzvetan Todorov das Fantastische, denn »sobald man sich für die eine oder die andere Antwort entscheidet, verläßt man das Fantastische und tritt in ein benachbartes Genre ein, in das des Unheimlichen und Wunderbaren«.2   »The Snow-Image« erzählt aber nicht nur von den verschiedenen Blicken der Eltern, die über Tod und Leben eines Schneekindes entscheiden, sondern insbesondere von dem Ungesehenen und jenen Aspekten, die die visuelle Wahrnehmung der Betrachter beeinflussen. Bezeichnenderweise wird die Mutter, die vom Fenster aus die Verfertigung der Schneefigur beobachtet, in dem Moment von der Sonne geblendet, in dem die Kinder versuchen, der Figur Leben einzuhauchen. Sie hört lediglich das aufgeregte Rufen ihrer Kinder und sieht wenige Augenblicke später »a small white figure […] that seemed to have a wonderful deal of human likeness about it«.3 Die Lücke in ihrer Wahrnehmung, die im kurzen Moment des Nichtsehens entsteht, füllt Mrs. Lindsey mit Hilfe ihrer Imagination: Indem sie die Animation eines Schneekindes imaginiert, lassen sich die zwei unterschiedlichen Bilder von der unbelebten Schneefigur und dem weiß gekleideten Mädchen, die sie unmittelbar vor und nach der Blendung zu sehen bekommt, sinnvoll zueinander in Beziehung setzen. Ähnlich geht Mrs. Lindsey am Ende der Erzählung vor, als ihr Mann die Fremde unter dem Protest der Kinder zum Aufwärmen ins Haus bringt. Für eine kurze Zeit lässt sie das Mädchen aus den Augen und findet anschließend vor dem Ofen nur noch ein Häufchen geschmolzenen Schnees vor. Während die Mutter das Gesehene erneut miteinander verbindet und diesmal die Überreste des Schneekindes zu erkennen glaubt, sieht der Vater keinen Zusammenhang zwischen dem getauten Schnee und der Ausreißerin, die ebenso schnell verschwindet, wie sie im Garten der Familie aufgetaucht ist.   Die Frage, ob in »The Snow-Image« ein Mädchen aus Schnee zunächst zum Leben erweckt und dann auf irrtümliche Weise zum Schmelzen gebracht wird, kann letztendlich nicht eindeutig geklärt werden. Indem der Erzähler die verschiedenen Sichtweisen der Eltern einander gegenüberstellt, erhält er aber nicht nur die Ambivalenz aufrecht, sondern legt zugleich die Bedingungen für die Animation des Schneekindes innerhalb der Erzählung offen: Das Kind aus Schnee entsteht in einem Blick, der das Gesehene und Imaginierte miteinander kombiniert und synthetisiert. Bevor die Mutter der Schneefigur in einem solchen imaginativen Blick Leben attestiert, müssen die Kinder sie jedoch zunächst 2  Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur, Frankfurt a.M. 1975, S. 26. 3  Hawthorne, »The Snow-Image«, S. 1092.

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im Garten errichten. Das Erschaffen einer Figur aus Schnee ruft wiederum eine traditionelle Allegorie für die schöpferische Hervorbringung literarischer Texte auf. »The Snow-Image« greift damit auf verschiedene Metaphernfelder zurück, die poetologische Fragen betreffen. Diese etablieren zum einen den Zusammenhang zwischen der visuellen Wahrnehmung, insbesondere ihrer Dispositionen, und der Imagination und zum anderen den Zusammenhang zwischen der Animation toter Materie und der literarischen Textproduktion. Die metaphorischen Bezugsrahmen, die die Themen jeweils eröffnen, werden in »The SnowImage« zueinander in Beziehung gesetzt und miteinander verbunden.   Indem Mrs. Lindsey in ihrem belebenden Blick auf das Schneekind unterschiedliche Bilder kombiniert und synthetisiert, verweist sie zugleich auf das Funktionsprinzip der Erzählung: Die Animation des Schneekindes erfolgt darin nicht in einem singulären Akt, sondern in der Verschränkung verschiedener (re-)animierender Verfahren. »The Snow-Image« liest sich nicht nur wegen der fantastischen Ambivalenz als ›twice told tale‹, sondern auch, weil das darin entworfene Animationskonzept der Kombination und Synthese als poetologische Selbstbeschreibung gelten kann. Um dieses Konzept aufzuzeigen, werden für die folgende Lektüre der Erzählung sowohl Hawthornes metatextuelle Überlegungen herangezogen, die er den Twice Told Tales (1851) sowie dem Roman The Scarlet Letter (1850) voranstellt,4 als auch die dichtungstheoretischen Schriften von Samuel Taylor Coleridge, auf die er sich darin bezieht.

Visuelle Wahrnehmung und Imagination Hawthornes Reflexion des literarischen Schaffensprozesses erfolgt nicht zufällig anhand der Verknüpfung von visueller Wahrnehmung, Imagination und Belebung, sondern resultiert aus einer intensiven Auseinandersetzung mit den kunsttheoretischen Schriften von Coleridge und anderen Vertretern der englischen Romantik.5 Diskutiert wird darin etwa die metaphorische Vorstellung der Poesie als Spiegelbild der Wirklichkeit, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine grundlegende Transformation erfährt. Insbesondere die Erkenntnisse der Physiologie und Wahrnehmungstheorie wirken sich auf die Spiegelmetapher und die mit ihr verbundenen Zuschreibungen an die Literatur aus.6 So befasst sich 4  Vgl. Hawthorne, Nathaniel: »Preface to Twice-told Tales« (1851), in: ders.: Tales and Sketches, New York 1982, S. 1150–1153; ders.: »The Custom House. Introductory to ›The Scarlet Letter‹«, in: ders.: The Scarlet Letter (1850), London 2008, S. 5–38. 5  Vgl. Jacobson, Richard J.: Hawthorne’s Conception of the Creative Process, Cambridge 1965; vgl. Kesselring, Marion L.: Hawthorne’s Reading. 1828–1850, New York 1949. 6  Die englischen Romantiker befassen sich beispielsweise eingehend mit Newton, Isaac: Opticks, or A Trea-

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Coleridge unter anderem mit dem Einfluss von Gefühlen und Gemütszuständen auf die Wahrnehmung und stellt einer objektiv zu reflektierenden Wirklichkeit den projizierenden Geist des Künstlers gegenüber. Nach Coleridge entsteht Dichtung in der Interaktion von objektiver Sinneswahrnehmung und subjektiver Imagination, was sich entscheidend auf das poetologische Selbstverständnis der Literatur auswirkt:7 Die Vorstellung vom Dichter als Reflektor, der je nach Ausrichtung des Spiegels die Beschaffenheit der Außenwelt oder seinen inneren Gemütszustand spiegelt, geht allmählich über in die des Projektors, der, statt Vorangegangenes abzubilden, im Text eine eigene Wirklichkeit schöpferisch hervorbringt.8   Auf die Auseinandersetzung der englischen Romantiker mit den poetologischen Metaphern von Spiegel und Lampe greift Hawthorne in seinen dichtungstheoretischen Überlegungen zurück, die er in den Vorworten zu seinen Erzählungen und Romanen formuliert. So bekundet der das eigene Schreiben reflektierende Erzähler in »The Custom House«, dem Einleitungskapitel von The Scarlet Letter: »[M]y imagination was a tarnished mirror. It would not reflect, or only with miserable dimness.«9 Der Rückgriff auf den Spiegel zur Beschreibung der Imagination dient in erster Linie dazu, den metaphorischen Bezugsrahmen aufzuzeigen. Allerdings spricht der Erzähler dem trüben Spiegel die Möglichkeit der mimetischen Reflexion ab und rückt stattdessen die Aspekte in den Mittelpunkt, die die Wahrnehmung der Wirklichkeit perpetuieren. Wie in Coleridges

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tise of the Reflections, Refractions, Inflections and Colours of Light, London 1704 sowie mit den Schriften unterschiedlicher zeitgenössischer Naturwissenschaftler wie Erasmus Darwin, William Lawrence, Franz Joseph Gall und Johann Spurzheim. Vgl. Darwin, Erasmus: Zoonomia or The Laws of Organic Life, 2 Bde., London 1794–1796; Lawrence, William: Lectures on Physiology, London 1819; Gall, Franz Joseph; Spurzheim, Johann: Anatomie et physiologie du système nervaux en général, 4 Bde., Paris 1810–1819. Vgl. Richardson, Alan: British Romanticism and the Science of the Mind, Cambridge 2001; Levere, Trevor H.: »S.T. Coleridge and the Human Sciences. Anthropology, Phrenology, and Mesmerism«, in: Hanen, Marsha P.; Osler, Margaret J.; Weyant, Robert G. (Hg.): Science, Pseudo-Science and Society, Waterloo 1980, S. 182–184. Vgl. Coleridge, Samuel Taylor: »On Poesy or Art« (1818), in: ders.: The Literary Remains of Samuel Taylor Coleridge, hg.v. Henry Nelson Coleridge, London 1836, 1. Bd., S. 216–230, S. 222f.: »In the objects of nature are presented, as in a mirror, all the possible elements, steps, and processes of intellect antecedent to the consciousness, and therefore to the full development of the intelligential act; and man’s mind is the very focus of all the rays of intellect which are scattered throughout the images of nature. How so to place these images, totalized, and fitted to the limits of the human mind, as to elicit from, and to superinduce upon, the forms themselves the moral reflexions to which they approximate, to make the external internal, the internal external, to make nature thought, and thought nature, – this is the mystery of genius in the Fine Arts.« Vgl. Jacobson, Hawthorne’s Conception of the Creative Process; vgl. Abrams, Meyer Howard: The Mirror and the Lamp. Romantic Theory and the Critical Tradition, New York 1958; vgl. Male, Roy R.: »The OrganicMechanical Antithesis«, in: ders.: Hawthorne’s Tragic Vision, Austin 1957, S. 20–37. Hawthorne, »The Custom House«, S. 30.

(Re-)Animation in »The Snow-Image«

Imaginationskonzept bleibt die projizierende Kraft, die die als gesichert geltende Welt der Faktizität zu erschüttern vermag, weiterhin an einen individuellen Blick gebunden. Während Coleridge jedoch die Fähigkeit zur Imagination dem Künstlergenie vorbehält, spricht Hawthorne sie potenziell jedem zu, der bereit ist, die Dinge in einem buchstäblich anderen Licht zu sehen.   Den Zusammenhang zwischen dem Sehen im anderen Licht und der literarischen Imagination benennt Hawthorne in »Preface to Twice-told Tales«: »The book […] requires to be read in the clear, brown, twilight atmosphere in which it was written, if opened in the sunshine, it is apt to look exceedingly like a volume of blank pages.«10 Die Aufforderung, das Buch im Zwielicht der Dämmerung zu lesen, impliziert verschiedene Aspekte: Der Hinweis, dass der Text in mehr als nur einem Licht betrachtet werden kann, richtet zum einen den Leseprozess auf den fantastischen Anspruch der ›twice told tales‹ aus. Indem Hawthorne die Erzählungen im »Preface« zudem als »sketches«11 bezeichnet, was auf eine kurze Skizzierung oder vereinfachte Darstellung, vor allem aber auf ein bildhaftes Vor-Augen-Stellen abzielt, stellt er einen direkten Zusammenhang zwischen dem Sehen eines Bildes und dem Lesen eines Textes her. Die Möglichkeit, die ›sketches‹ in mehr als einer Weise zu sehen, weil das Licht die Perzeption beeinflusst, verweist nicht nur auf die Ambivalenz der Texte, sondern stellt zum anderen die objektive Wahrnehmbarkeit dieser ›Bilder‹ infrage. Indem die Lichtverhältnisse die Gestalt der ›sketches‹ verändern oder sogar determinieren, legen sie deren fiktiven Charakter offen: Die ›sketches‹ bilden keine ›Realität‹ ab, sondern sind das Produkt einer imaginativen Wirklichkeitskonstitution.   Die für die Lektüre notwendige ›twilight atmosphere‹ verdeutlicht aber noch einen dritten Aspekt, der den Zusammenhang zwischen dem Licht, dem (Nicht-)Sehen und der Imagination eröffnet: Der Wechsel von Licht und Schatten sowie andere Lichtqualitäten, die etwa das Verhältnis zwischen dem Sichtbaren und dem noch Ungesehenen bestimmen, werden von Hawthorne allegorisch für den kreativen Schaffensprozess herangezogen. Inwiefern das Licht, das die Wahrnehmung beeinflusst, als ein imaginatives Medium bestimmt werden kann, erläutert der Erzähler des bereits zitierten »The Custom House«Kapitels: Nachts, wenn seine Stube nur schwach vom Mondlicht und dem Widerschein des Feuers beleuchtet ist, sieht er die vertrauten Dinge buchstäblich in einem anderen Licht. Weil das Licht seine Wahrnehmung der gewöhnlichen Objekte verändert und sie in etwas Neues und Unbekanntes verwandelt, be10  Hawthorne, »Preface to Twice-told Tales«, S. 1151f. 11  Ebd.

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zeichnet er es als »a medium the most suitable for a romance-writer to get acquainted with his illusiveness guests«.12   Mit der Beschreibung der Imagination als Begegnung und Synthese des Vertrauten und Fremden greift Hawthorne auf die romantische Konzeption des Bildhaften von Coleridge zurück.13 Bei dieser Begegnung geht es jedoch nicht nur um jene »quality of strangeness and remoteness«,14 die zum Anlass und Gegenstand des Schreibens wird. Profane Alltagsgegenstände, so schreibt der Erzähler in »The Custom House«, »are so spiritualized by the unusual light, that they seem to lose their actual substance, and become things of intellect«.15 Vor dem Hintergrund, dass Hawthorne in seinen dichtungstheoretischen Schriften die visuelle Wahrnehmung und den literarischen Schreibprozess zueinander in Beziehung setzt, liest sich die substanzielle Auflösung der Dinge in eine abstrakte Idee als Allegorie der Verschriftlichung. Im Prozess der Textualisierung verwandeln sich ›reale‹ Objekte nicht in Abbilder: Die Loslösung der Dinge von ihrer ›actual substance‹ veranschaulicht, dass in der Imagination, die dem Schreiben voran- bzw. vielmehr mit ihm einhergeht, keine externe Realität reflektiert, sondern eine davon abgetrennte Wirklichkeit hervorgebracht wird.   Beim Licht als Medium des Imaginären, das den Blick des Dichters auf die Dinge beeinflusst und sie ihrer substanziellen Wirklichkeit enthebt, geht es nicht nur um die konkrete Beleuchtung oder um das jeweils Gesehene, sondern vor allem um die Möglichkeit, die Dinge anders zu sehen. Der Erzähler in »The Custom House« verbindet das bei Tag und Nacht Gesehene, die ›Wirklichkeit‹ der ausgeleuchteten Form und das im Dunkeln Imaginierte unauflösbar miteinander. Das Licht und seine Modifizierbarkeit helfen ihm, »to diffuse thought and imagination through the opaque substance of to-day, and thus to make it a bright transparency; to spiritualize the burden that began to weigh so heavily«.16 Indem der Mond das Zimmer in ein fremdes Licht taucht, löst er die Dinge von ihrer vertrauten Bedeutung ab: »[T]he floor of our familiar room has become a neutral territory«, schreibt der Erzähler, »somewhere between the real world and fairy-land, where the Actual and the Imaginary may meet, and each imbue itself with the nature of the other.«17

12  Hawthorne, »The Custom House«, S. 30. 13  Vgl. Fogle, Richard Harter: Hawthorne’s Imagery.The ›Proper Light and Shadow‹ in the Major Romances, Norman 1969; vgl. Abrams, The Mirror and the Lamp. 14  Hawthorne, »The Custom House«, S. 30. 15  Ebd. 16  Ebd., S. 32. 17  Ebd., S. 30f.

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Wenn der Erzähler von der Verwandlung des Zimmers spricht, so lässt sich diese Beschreibung des Raums im Text dem strukturellen Textraum der ›twice told tales‹ analog setzen. In den ambivalenten Erzählungen entsteht ebenfalls ein ›neutrales Territorium‹, ein Raum der Unentscheidbarkeit. Indem »The SnowImage« zugleich die Lektüre eines animierten Schneekindes als auch die einer verirrten Nachbarstochter ermöglicht, wird auch in der Erzählung ein ›neutrales Territorium‹ erschaffen. Dieses berührt spezifische Gattungsgrenzen, die die wunderbare Schöpfungsgeschichte von der realistischen Erzählung abtrennen und die im Text gerade nicht eindeutig festgelegt werden können. »The SnowImage« ist zudem gleichermaßen die Geschichte um die vermeintliche Animation einer Figur aus Schnee sowie eine metatextuelle Reflexion der eigenen literarischen Verfasstheit, was erneut einen Raum der Unentscheidbarkeit eröffnet.   Beide Räume werden durch den Blick der Mutter konstituiert, deren Wahrnehmung durch die besonderen Lichtverhältnisse beeinträchtigt ist. Im Rückbezug auf die Verwandlung des Zimmers im Mondlicht, die der Erzähler in »The Custom House« beschreibt, ist die Blendung durch die Sonne die notwendige Voraussetzung dafür, dass die Mutter in der Fremden im Garten überhaupt ein Schneekind zu sehen vermag.Während in »The Custom House« das ›neutral territory‹ durch verschiedene Modi des Lichts erzeugt wird, insbesondere durch den Wechsel vom Tages- zum Mondlicht, geht das ›neutrale Territorium‹ des fantastischen Erzählens in »The Snow-Image« aus einem vollständigen Sichtverlust hervor, der bezeichnenderweise nicht aus der Dunkelheit der Nacht, sondern dem letzten intensiven Rest Tageslicht resultiert. Das Zwielicht der Dämmerung, in dem Tag und Nacht aufeinandertreffen, erschafft gewissermaßen das ›neutral territory‹ des imaginativen Blickes. Demzufolge wird die Dämmerung in der Erzählung statt mit der Abwesenheit des Tageslichts und einem potenziellen Sichtverlust mit der Möglichkeit eines neuen Sehens assoziiert: »The sun was now gone out of the sky […] [and] there was not the slightest gleam or dazzle […]; so that the good lady could look all over the garden, and see everything and everybody in it.«18 Für den Erzähler in »The Custom House« ist die Abwesenheit des Tageslichts notwendige Voraussetzung für die Imagination: »In its absence, the beings of imagination are compelled to show themselves in the same category as actually living mortals.«19 Die Modifizierung des Lichts bis hin zur Veränderung der visuellen Disposition des Betrachters ermöglicht ein neues Sehen; die eigentliche Imagination findet allerdings erst in der Synthese 18  19 

Hawthorne, »The Snow-Image«, S. 1094. Hawthorne, »The Custom House«, S. 32.

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der betrachteten Bilder statt. Dementsprechend verbindet die Mutter in »The Snow-Image« jeweils die zwei Bilder miteinander, die sie unmittelbar vor und nach dem Sichtverlust zu sehen bekommt: Während der vermeintlichen Belebung sind dies das Bild der Schneefigur und das des fremden Kindes, während der Todesszene das Bild des Mädchens vor dem Ofen und das des Häufchens geschmolzenen Schnees.   Die Rolle des Lichts als imaginativem Medium beschränkt sich aber nicht darauf, die Sicht auf die Dinge zu verändern oder sogar zu beeinträchtigen und zu verhindern, wie dies in »The Snow-Image« durch die Blendung der Mutter durch die untergehende Sonne der Fall ist. Das Licht, so beschreibt der Erzähler in »The Custom House« den imaginativen Prozess, »throws its unobtrusive tinge throughout the room, with a faint ruddiness upon the walls and ceiling, and a reflected gleam from the polish of the furniture. This warmer light mingles itself with the cold spirituality of the moonbeams, and communicates, as it were, a heart and sensibilities of human tenderness to the forms which fancy summons up. It converts them from snow-images into men and women.«20

Indem der imaginative Vorgang hier als die Verwandlung von ›snow-images into men and women‹ benannt wird, erscheint auch Hawthornes zwei Jahre später veröffentlichte Erzählung »The Snow-Image« in einem anderen Licht. Die Transformation des ›snow-image‹ in ein ›snow-child‹ findet vor diesem Hintergrund nicht nur als metatextuelle Auseinandersetzung mit dem literarischen Schaffensprozess statt, sondern demonstriert den imaginativen Vorgang als schöpferische Hervorbringung.

Imagination als Animation In »The Snow-Image« stellt der Erzähler die Eheleute Lindsey einander immer wieder gegenüber und weist ihren unterschiedlichen Sichtweisen auf das fremde Kind konkrete Charaktereigenschaften zu. In dieser schematischen Gegenüberstellung lesen sich die Eltern als Repräsentanten eines gewöhnlichen und eines imaginativen Blickes auf die Dinge. Mr. Lindsey wird in der Erzählung etwa als »excellent, but exceedingly matter-of-fact sort of man« beschrieben, »sturdily accustomed to take what is called the common-sense view of all matters that came under his consideration«.21 Mrs. Lindsey hingegen »had a strain 20  21 

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Ebd., S. 31. Hawthorne, »The Snow-Image«, S. 1087.

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of poetry […], a trait of unworldly beauty, a delicate and dewy flower as it were, that had survived out of her imaginative youth«.22 Schon die Kinder nehmen, als sie im Garten eine Schwester aus Schnee erschaffen, die Sichtweisen ihrer Eltern vorweg: »Mamma will see how very beautiful [the snow-image, S. F.] is; but papa will say ›Tush! – nonsense!‹«23 Bezeichnenderweise heißt es in der Aussage der Kinder ›Mamma will see‹. An späterer Stelle – als Mr. Lindsey den Glauben seiner Frau an ein Schneekind belächelt und ihr sagt, sie wäre »as much a child as Violet and Peony«24 – benennt auch der Erzähler des Textes den Zusammenhang zwischen dem spezifischen Sehen der Mutter und ihren imaginativen Fähigkeiten: »[I]n one sense, so she was; for, all through life, she had kept her heart full of childlike simplicity, and faith, which was as pure and clear as crystal; and, looking at all matters through this transparent medium, she sometimes saw truths so profound, that other people laughed at them as nonsense and absurdity.«25

Mrs. Lindsey reflektiert ihr imaginatives Vermögen nur auf dem Umweg über ihre Kinder. Vom Fenster aus beobachtet sie deren Spiel und hört dabei das Gespräch zwischen Violet und Peony, in dem sie beschließen, eine Schwester aus Schnee zu erschaffen. Über diesen Einfall sagt die Mutter: »What imaginative little beings my children are! […] And it is strange, too, that they make me almost as much a child as they themselves are!«26 Sie betrachtet das Spiel ihrer Kinder nicht ausschließlich als Spiel und erhofft sogar göttlichen Beistand, »[to] help them to make their snow-image, giving it the features of celestial babyhood«.27 »[T]he idea seized upon her imagination«,28 heißt es in der Erzählung, aber erst im Zwielicht der Dämmerung entwickelt der imaginative Blick der Mutter jene animierende Kraft, die sie Feen oder Engeln zuschreibt. So stellt sie zunächst fest, dass das fremde Mädchen im Garten »does look strangely like a snow-image«.29 Später fügt sie hinzu: »I can hardly help believing, now, that the snow-image has really come to life!«30   Beschreibt der Erzähler das Kind aus der Perspektive der Mutter, spielen auch die Lichtverhältnisse eine entscheidende Rolle: »[T]he snow-child gleamed and 22  23  24  25  26  27  28  29  30 

Ebd. Ebd., S. 1091. Ebd., S. 1098. Ebd. Ebd., S. 1093. Ebd., S. 1090. Ebd., S. 1091. Ebd., S. 1100. Ebd., S. 1093.

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sparkled, and […] she seemed to shed a glow all round about her, […] she positively glistened like a star! It was a frosty kind of brightness, too, like that of an icicle in the moonlight.«31 Die Verbindung des Schneekindes mit dem Mondlicht übt an dieser Stelle einen zweifachen Effekt aus: Im Mondlicht glitzert das weißgekleidete Kind wie Eis. Zum einen erzeugt das kalte, silbrige Licht, in das die Fremde getaucht ist, eine semantische Nähe zu Eis und Schnee und suggeriert dem Leser indirekt die Animation eines Schneekindes. Zum anderen verweist das Mondlicht auf das Licht als imaginatives Medium. Die Mutter beobachtet aufgrund der Lichtverhältnisse zunächst ein ›snow-image‹, was bereits einen schöpferischen Akt darstellt. Aber die eigentliche Animation findet erst in einer erneuten Projektion des Imaginierten und in der Synthese mit dem Gesehenen statt – indem Mrs. Lindsey das ›snow-image‹ als ein im Mondlicht glitzerndes Schneekind sieht.   Mrs. Lindseys Blick auf das Schneekind ist eine zweifach imaginative Projektion. Dies veranschaulicht Coleridges Theorie einer primären und sekundären Imagination, auf die sich Hawthorne hier bezieht: Der primäre und bereits schöpferische Wahrnehmungsakt dient demnach der Erfassung der Welt, die gleichbedeutend mit der leblosen Welt der empirischen Philosophie ist und nur insofern wahrgenommen wird, als sie praktischen Interessen dient.32 Die sekundäre Imagination, der eigentliche Akt der Belebung, hat nach Coleridge hingegen die Funktion, durch die Projektion der eigenen Wahrnehmung in die unbelebte Welt diese in eine beseelte Welt zu transformieren und den gegebenen in einen poetischen Stoff zu verwandeln:33 »The primary Imagination I hold to be the living power and prime agent of all human perception, and as a repetition in the finite mind of the eternal act of creation in the infinite I AM. The secondary Imagination I consider as an echo of the former, co-existing with the conscious will, yet still as identical with the primary in the kind of its agency, and differing only in degree, and in the mode of its operation. It dissolves, diffuses, dissipates, in order to recreate: or where this process is rendered impossible, yet still at all events it struggles to idealize and to unify. It is essentially vital, even as all objects (as objects) are essentially fixed and dead.« 34

Nach Coleridge ist jedes von der Wirklichkeit gemachte Bild bereits eine subjektive Projektion und damit eine schöpferische Hervorbringung des Wahrge31  32  33  34 

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Ebd., S. 1098f. Vgl. Abrams, The Mirror and the Lamp, S. 92. Vgl. ebd. Coleridge, Samuel Taylor: Biographia Literaria (1817), hg.v. John Shawcross, London u.a. 1973, Kapitel XIII, S. 183.

(Re-)Animation in »The Snow-Image«

nommenen. Der künstlerische Akt geht darüber allerdings hinaus, indem er das Imaginierte erneut projiziert und das amalgamierte Produkt aus sinnlicher Wahrnehmung und subjektiver Ergänzung noch einmal aufnimmt.   In »The Snow-Image« lässt sich die Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Imagination anhand des Ehepaares Lindsey nachvollziehen. Mr. Lindsey wird dort als Repräsentant des common sense ausgewiesen, der sich vom imaginativen Dichter und dessen belebendem Blick auf die Dinge absetzt. Am Ende der Erzählung, als er nüchtern anordnet, den Schnee vor dem Ofen zu entfernen, den seine Familie als die Überreste des getauten Schneekindes betrachtet, erklärt der Erzähler verallgemeinernd über »wise men of good Mr. Lindsey’s stamp«: »They know everything – Oh, to be sure! – everything that has been, and everything that is, and everything that, by any future possibility, can be. And, should some phenomenon of Nature or Providence transcend their system, they will not recognize it, even if it come to pass under their very noses.«35

Insbesondere die Aussage ›they will not recognize‹, die sowohl auf das Erkennen als auch auf die visuelle Wahrnehmung abzielt, kann darauf bezogen werden, dass Mr. Lindseys Erfassen der Welt über den Akt der primären Imagination nicht hinausgeht. Mrs. Lindsey hingegen wird in der Erzählung »a strain of poetry«36 zugesprochen: Ihr Blick auf das Schneekind ist zweifach projizierend und bringt in diesem Sinne das Wahrgenommene nicht nur schöpferisch hervor, sondern animiert es.   Der Unterschied zwischen der primären und der sekundären Imagination liegt in der Differenz zwischen dem Erschaffen und dem Beleben. Dieses Verhältnis verhandelt Coleridge in der Biographia Literaria mit der Unterscheidung von hervorbringender Fantasie und belebender Imagination. In »The Snow-Image« wird dieser Zusammenhang anhand der Kinder und der Mutter der Familie Lindsey deutlich: Durch die Fantasie der Kinder und ihr handwerkliches Geschick im Umgang mit dem Schnee entsteht eine Schneefigur, die aber erst im imaginativen Blick der Mutter belebt und in ein Schneekind verwandelt wird. In Abgrenzung zu Fantasie und Handwerk fasst auch Hawthorne die künstlerische Imagination als einen Akt der Belebung auf: »It is not well to be so perfect in the inanimate, unless the artist can likewise make man and woman as lifelike […] as the Creator does.«37 Das Prinzip der künstlerischen Beseelung über35  36  37 

Hawthorne, »The Snow-Image«, S. 1102. Ebd., S. 1087. Hawthorne, Nathaniel: The English Notebooks, hg.v. Randall Stewart, New York 1941, S. 352.

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nimmt er erneut von Coleridge, der in »On Poesy or Art« (1818) schreibt, dass ein Künstler, der die Natur imitiert, »would produce masks only, not forms of breathing life«.38 Die Imitation der äußeren Gestalt der Natur nennt er »lifeless technical rules«;39 die wahre Kunst bestehe hingegen in der Aneignung ihres belebenden Prinzips, im Generieren von »living and life-producing ideas«.40   Inwiefern es sich bei der Animation des Schneekindes in »The Snow-Image« um jenes belebende Prinzip handelt, verdeutlicht sich insbesondere in der Abgrenzung von der Prosopopoiia, der rhetorischen Figur, die dem Toten oder Abwesenden im Text Gesicht und Stimme verleiht. Dem Mädchen aus Schnee wird nämlich kein sprechendes Gesicht eingesetzt, um es zur Rede zu befähigen. Während der gesamten Erzählung spricht das Kind kein Wort und erklärt sich selbst dann nicht, als Mr. Lindsey es zum Aufwärmen ins Haus bringt. Gerade an dieser Stelle wird die Stummheit des Schneekindes besonders exponiert. Als der Vater es ins Haus führen möchte, heißt es im Text: »The little white damsel […] fled backward, shaking her head as if to say – ›Pray do not touch me!‹.«41 Statt zur selbst erklärenden Rede ist das Mädchen lediglich zu einer Bewegung fähig, als ob sie sich dem Zugriff von Mr. Lindsey entziehen möchte. Während durch die Prosopopoiia dem Unbelebten im Text ein sprechendes Gesicht eingesetzt und über diese Setzung zugleich hinweggetäuscht wird,42 stellt das Schneekind seine Stummheit mit Hilfe einer Als-ob-Bewegung aus. Die Stummheit verhindert zum einen, das Schneekind sowohl in dieser konkreten Situation als auch in der gesamten Erzählung für sich selbst sprechen zu lassen. Nicht nur seine abwehrende Geste, sondern seine ganze Erscheinung ist in dieser Hinsicht ein Als-ob, das von den jeweiligen Betrachtern gedeutet werden muss. Zum anderen verweist die Stummheit auf den defizitären Zustand des Kindes, was insbesondere am Ende der Erzählung deutlich wird, als Mr. Lindsey es vor den Ofen stellt: »Sad, sad, and drooping, looked the little white maiden, as she stood on the hearth-rug, with the hot blast of the stove striking through her like a pestilence.«43 Die Beschreibungen des Kindes, als es vom Vater ins Haus geführt und danach vor dem Ofen positioniert wird, erfolgen jeweils aus der Perspektive der Mutter. Im Gegensatz zu ihrem Mann sieht sie in dem Mädchen ein Schneekind und beobachtet sein Verhalten aus eben dieser Sichtweise. Das 38  Coleridge, »On Poesy or Art«, S. 223. 39  Ebd., S. 224. 40  Ebd. 41  Hawthorne, »The Snow-Image«, S. 1098. 42  Vgl. Menke, Bettine: Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka, München 2000, S. 8. 43  Hawthorne, »The Snow-Image«, S. 1100.

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(Re-)Animation in »The Snow-Image«

Als-ob seiner abwehrenden Geste erweist sich in dieser Hinsicht als das Als-ob im mütterlichen Blick auf das Kind – ein Blick, als ob es sich dabei um ein aus Schnee animiertes Kind handelt, das vor dem Ofen schmelzen wird. Mit dem Ausstellen vermeintlicher Defizite legt das Schneekind, das im Text als Allegorie für den künstlerischen Schaffensprozess einsteht, seine literarische Verfasstheit offen und verweist auf seinen Zustand als imaginiertes Als-ob, das in keinerlei Konkurrenz zu einer außertextuellen Wirklichkeit tritt.

Schneefiguren Bevor in »The Snow-Image« ein Schneekind im imaginativen Blick der Mutter belebt werden kann, müssen die Kinder im Garten zunächst jedoch eine Figur aus Schnee erschaffen. Mit der Bearbeitung und Animation einer Schneefigur ruft die Erzählung eine traditionelle Allegorie auf, die sich analog der Metaphern des Reflektors und Projektors mit dem Verhältnis zwischen literarischer Figuration und außertextueller Wirklichkeit auseinandersetzt. In einer schriftkritischen Auslegung der Vorstellung von Poesie als Spiegel der Außenwelt ist das im Text Abgebildete lediglich die zweidimensionale, verzerrte Reflexion des ›wirklichen‹ Objekts. Ebenso haftet den Figuren aus Schnee, die allegorisch die Figurationen des Textes repräsentieren, der Makel ihrer leicht vergänglichen Materialität an. Im Vergleich zu Menschen aus Fleisch und Blut sind Figuren aus Schnee und textuelle Hervorbringungen gleichermaßen »ridiculous and impermanent caricatures of the real thing«.44 Aus einer Perspektive, die das aus Schnee und im Text Hervorgegangene nicht in ein Konkurrenzverhältnis zur Wirklichkeit setzt, verweisen die Animation von Schnee und die materiellen Bedingungen eines solchen Wesens jedoch auf die Eigengesetzlichkeit literarischer Texte: Diese reflektieren oder kopieren keine ihnen äußere Welt und erzeugen auf diese Weise Simulakren der ›Wirklichkeit‹, sondern konstituieren in und durch Sprache ihre eigene Wirklichkeit.45   In welchen poetologischen Diskurs sich »The Snow-Image« mit dieser Bezugnahme einschreibt, wird in der Erzählung durch intertextuelle Verweise auf traditionelle Schöpfungsmythen reflektiert. Zum Beispiel referiert der Erzähler auf Pygmalions Belebung einer Figur »aus schneeweißem Elfenbein«46 in Ovids 44  Hope, Quentin M.: »Snow as Deformity, Decoration, and Disguise«, in: Orbis Litterarum  36 (1981), S. 37–52, S. 46. 45  Ausführlicher zur Belebung von Schneewesen im Zusammenhang mit dem Halluzinieren von Schnee vgl. Frost, Sabine: Whiteout. Schneefälle und Weißeinbrüche in der Literatur ab 1800, Bielefeld 2011, insb. das Kapitel »Spektrum und Phantom«. 46  Publius Ovidius Naso: Metamorphosen, hg. u. übers.v. Gerhard Fink, Düsseldorf u.a. 2004, Buch  X,

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Metamorphosen durch seine Beschreibung Violets während der Erschaffung der Schneefigur: Demnach ist sie »scientifically as a sculptor«.47 Später sieht die Mutter »the delicate print of Violet’s fingers on the [snow-]child’s neck«,48 was an jene Szene in den Metamorphosen erinnert, in der der Stein unter Pygmalions Küssen und dem Druck seiner Finger seine Härte verliert, den Fingern nachgibt und deren Eindrücke annimmt, »gleich wie Wachs vom Hymettos in der Sonne erweicht«.49 Aber auch weniger prominente Schöpfungsgeschichten wie das Märchen vom Schneekind, das vor allem im osteuropäischen Raum als Snegurochka-Motiv verbreitet ist, bereiten Hawthornes Erzählung die Grundlage ihrer allegorischen Auseinandersetzung mit dem künstlerischen Schaffensprozess.50 Im Snegurochka-Märchen wird das Kind nicht aus Schnee geformt, sondern wächst in einer Keimschale auf dem Ofen heran und schmilzt später, als es über ein Feuer springt.51 Zunächst ersetzt das Schneekind im Märchen einem kinderlosen Paar die Tochter aus Fleisch und Blut, stellt den behobenen Mangel mit seiner schnellen Vergänglichkeit allerdings besonders deutlich aus. Im Gegensatz dazu wissen die Kinder in »The Snow-Image« bereits im Vorfeld von den materiellen Bedingungen und Grenzen ihres Schneekindes: »[O]ur little snowsister will not love the warmth.«52   Die Verbindung zwischen dem Erschaffen einer Schneefigur und der textuellen Hervorbringung wird schon zu Beginn der Erzählung etabliert, da diese mit einer Beschreibung des winterlichen Gartens der Familie Lindsey nach einem Schneesturm einsetzt. Der Garten ist mit einer weißen Schneeschicht bedeckt, die zum einen einer ›Neutralisierung‹ des Territoriums gleichkommt, indem sie den vertrauten Anblick verfremdet und zugleich ästhetisiert. Zum anderen stellt die Schneeschicht eine weiße Fläche zur Verfügung, die metaphorisch das weiße Blatt Papier assoziiert, das am Anfang des literarischen Schreibens steht. Demzufolge wird der winterliche Garten, in dem es an Blättern und Früchten mangelt, auch nicht als tot oder verödet beschrieben; vielmehr wird das FehVers 247, S. 495. 47  Hawthorne, »The Snow-Image«, S. 1092. 48  Ebd., S. 1099. 49  Ovid, Metamorphosen, Buch X, Vers 284f., S. 497. 50  Moderne Bearbeitungen des Stoffes sind z.B.Vladimir Dals Devochka Snegurochka (1870), Aleksandr Ostrovskiis Drama Snegurochka (1873), Nikolai Rimskij-Korsakovs Oper Snegurochka (1881) oder Aleksej Remizovs Snegurochka (1906). 51  Vgl. Röhrich, Lutz; Uther, Hans-Jörg: »Schneekind«, in: Brednich, Rolf Wilhelm (Hg.): Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, 12. Bd., Berlin/New York 2007, Sp. 126–128; Aarne, Antti A.; Thompson, Stith: »The artificial child«, in: dies.: The Types of the Folktale. A Classification & Bibliography, Helsinki 1961, S. 301. 52  Hawthorne, »The Snow-Image«, S. 1088.

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(Re-)Animation in »The Snow-Image«

lende durch Schnee und Eis ersetzt: »The trees and shrubs, however, were now leafless, and their twigs were enveloped in the light of snow, which thus made a kind of wintry foliage, with here-and-there a pendant icicle for the fruit.«53   Auch das Spiel der Kinder verweist auf die Verbindung von Eis und Schnee, die im winterlichen Garten die Früchte substituieren, mit der schöpferischen Hervorbringung literarischer Texte. Bezeichnenderweise schreibt der Erzähler über die spielenden Kinder, »you would have thought that the dark and pitiless storm had been sent for no other purpose but to provide a new plaything for Violet and Peony; and they themselves had been created […] to take delight only in the tempest, and in the white mantle which is spread over the earth«.54

Der Schnee bedeckt nicht nur den Garten mit einer weißen Schicht, sondern umhüllt auch bald die spielenden Kinder. Erst nachdem Violet und Peony »had frosted one another all over with handfulls of snow« und »look exactly like a snow-image«,55 kommen sie auf die Idee, eine Spielgefährtin aus Schnee zu erschaffen. »Let us make an image out of snow – an image of a little girl«, schlägt Violet ihrem Bruder vor, »it shall be our sister, and shall run about and play with us, all winter long«.56   Ausgehend von diesen Beschreibungen liest sich der eingeschneite Garten, in dem die Kinder spielen, in einer weiteren Hinsicht als buchstäbliche Grundlage des Textes: Die wechselseitigen Anverwandlungen nehmen die Animation des Schneekindes bereits vorweg bzw. bereiten die Lesart des Mädchens als Schneekind vor. Die spezifische Beschreibung der Kinder im winterlichen Garten ist eine der verschiedenen animatorischen Strategien des Textes, die Belebung immer wieder zu suggerieren. Dass die mit Schnee bedeckten Kinder sich selbst als ›snow-image‹ ausweisen und daraufhin auf die Idee kommen, ein weiteres ›snow-image‹ zu erschaffen, erinnert zudem an Hawthornes Bezeichnung der ›twice told tales‹ als ›sketches‹ – als bildhafte Produkte einer imaginativen Wirklichkeitskonstitution.   Während die Kinder ihre Schneefigur bearbeiten, wird dieser Vorgang im Text immer wieder ihrer Rede gleichgestellt: »their tongues being quite as active as their feets and hands«.57 Ihr Spiel im winterlichen Garten gleicht in der allego53  54  55  56  57 

Ebd., S. 1087. Ebd., S. 1088. Ebd. Ebd. Ebd., S. 1089.

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rischen Übertragung der literarischen Zurichtung des sprachlichen Materials. Violet, »chief direction«58 und »guiding spirit«,59 entspricht dabei dem kreativen, schaffenden Geist. In der Erzählung heißt es, »she looks like a cheerful thought, more than a physical reality«.60 Ihr Bruder Peony hingegen, »substantial as an elephant«,61 führt lediglich die Anweisungen seiner Schwester aus. »Bring me some of that fresh snow, Peony, from the very furthest corner, where we have not been trampling«,62 ruft ihm Violet zu. An dieser Stelle lässt sich erneut die winterliche Landschaft dem Textraum analog setzen und Violets Anforderung frischen Materials auf die Verfasstheit des Textes beziehen: Trotz der Bezüge auf traditionelle Schöpfungsmythen und deren konventionelle Motive und Metaphern spart er ausgetretene Wendungen aus.   Das Bestreben der Erzählung, zugleich auf vertraute Stoffe zu rekurrieren und dennoch einen neuen Zugang zum darin verhandelten Thema zu finden, gelingt ebenso in der blumigen Namensgebung der Kinder, die auf ihre Funktionen im Schaffensprozess verweist. So heißt das Mädchen Violet, »because she was of a tender and modest disposition, and was thought to be very beautiful«.63 Der Erzähler lässt jedoch unerwähnt, dass das Veilchen unter anderem Attribut der schneeweißen Aphrodite ist und das fruchtbare Hervorbringen repräsentiert.64 Im Namen schwingt zudem das lateinische ›violare‹ bzw. englische ›violate‹ (›verletzen‹, ›verstümmeln‹, ›vergewaltigen‹) mit, das in diesem Zusammenhang für die Zurichtung des Sprachmaterials steht. Die sprachliche Bearbeitung wird derart als eine mitunter gewaltsame Dekontextualisierung von bereits bestehendem, von unterschiedlichen Orten zusammengetragenem Textmaterial beschrieben, das durch Kombination und Synthese in einen neuen Zusammenhang gesetzt wird. Der Junge hingegen heißt Peony »on account of the ruddiness of his broad and round little phiz«.65 Die Paeonia bzw. Pfingstrose ist wiederum nach dem Arzt Paion aus der griechischen Mythologie benannt, der den von Herkules verwundeten Pluto heilt und der Legende nach selbst Tote wiederbeleben kann.66 Außerdem lässt ›Peony‹ das griechische ›paeon‹ (›Helfer‹) so58  Ebd. 59  Ebd., S. 1091. 60  Ebd., S. 1089. 61  Ebd. 62  Ebd., S. 1090. 63  Ebd., S. 1087. 64  Vgl. Beuchert, Marianne: Symbolik der Pflanzen, Frankfurt a.M. 2004, S. 317ff. 65  Hawthorne, »The Snow-Image«, S. 1087. 66  Vgl. Plinius Secundus, Gaius: Naturkunde, hg. u. übers.v. Roderich König in Zusammenarbeit mit Gerhard Winkler, Düsseldorf 2008, Buch XXV, Vers 29, S. 37; Strömberg, Reinhold: Griechische Pflanzennamen, Göteborg 1940, S. 99.

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(Re-)Animation in »The Snow-Image«

wie das englische ›peon‹ (›Arbeitssklave‹) mitverstehen, das auf seine exekutive Funktion bei der Erschaffung des Schneekindes anspielt.

Re-Animation(en) Die spezifische Beschreibung der Verfertigung der Schneefigur und die intertextuellen Verweise auf geglückte Belebungsgeschichten wie den PygmalionMythos tragen dazu bei, die Animation des Schneekindes im Text zu suggerieren. Das Schneekind wird in »The Snow-Image« nicht in einem einzelnen animierenden Akt zum Leben erweckt, sondern in der Verbindung verschiedener animatorischer Strategien sowie re-animatorischer Verfahren, wie etwa intertextuelle Anspielungen, die Dopplungen und Verstärkungen einführen. Die intertextuellen Bezüge sind bereits selbst Re-Animationen, die alte poetische Stoffe wiedererzählen und darin wiederbeleben. Auch in dieser Hinsicht ist »The Snow-Image« eine ›twice told tale‹. Aber nicht nur das Schneekind, selbst der gesamte Text entsteht in einer Kombination und Synthese unterschiedlicher Elemente, die sich einmal miteinander verbunden nicht mehr in einzelne Bestandteile auflösen lassen.67 Bemerkenswerterweise vergleicht Hawthorne die Entstehung literarischer Texte mit dem organischen Wachstum und bezeichnet seine ›twice told tales‹ als »flowers«.68 Über die Schneefigur in »The SnowImage«, die allegorisch für die Genese des Textes steht, heißt es explizit: »It seemed, in fact, not so much to be made by the children, as to grow up under their hands, while they were playing, and prattling about it.«69   Die Erzählung integriert aber nicht nur durch intertextuelle Verweise fremde Texte in das eigene Textkorpus, sondern greift zudem auf unterschiedliche poetologische Motive und deren metaphorische Bezugsrahmen zurück und wendet verschiedene animierende Verfahren an, durch deren Kombination und Synthese letztendlich ein Schneekind entsteht. Dieser Vorgang lässt sich der Näharbeit analog setzen, der Mrs. Lindsey nachgeht, während ihre Kinder im Garten eine Figur aus Schnee zusammensetzen: »So she took up the frock, and was soon as busily at work again with her needle, as the two children with their snow-image.«70 Das Fenster, durch das sie ihre Kinder beobachtet, dient dabei gleichermaßen als Trennung und Verbindung des Innen- und Außenraums. Die Differenz zwischen beiden Räumen beschreibt der Erzähler als »like stepping at 67  Vgl. Jacobson, Hawthorne’s Conception of the Creative Process. 68  Vgl. Hawthorne, »Preface to Twice-told Tales«, S. 1151; Male, »The Organic-Mechanical Antithesis«. 69  Hawthorne, »The Snow-Image«, S. 1089. 70  Ebd., S. 1089f.

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once from Nova Zembla to the hottest part of India, or from the Northpole into an oven«.71 Damit wird nicht nur der Temperaturunterschied, sondern mit der geographischen Referenz auch die Distanz vermerkt, die beide Räume voneinander trennt. Doch trotz aller im Text benannten Unterschiede stehen die Räume miteinander in Beziehung; sie sind im Blick der Mutter verbunden, die vom Haus aus in den Garten blickt und auf diese Weise die im Innen- und Außenraum stattfindenden Aktivitäten, das ›Heranwachsen‹ der Schneefigur und ihre Näharbeit, zueinander in Beziehung setzt.   Zwar assoziiert das Nähen das Weben als traditionelle Metapher für das Erstellen eines Textgewebes, aber bezeichnenderweise greift Mrs. Lindsey beim Nähen auf bereits bestehende Materialien zurück und fügt heterogene Stoffteile zusammen. Die Verbindung verschiedener Stoffe durch die Mutter der Erzählung verdeutlicht das Funktionsprinzip des Textes: Auch dieser greift auf unterschiedliche Stoffe und Motive zurück, die miteinander vermengt werden; nämlich auf griechische Mythen sowie auf traditionelle Märchen, in denen Leben aus toter Materie entsteht. Kann bereits Violets Auftrag an ihren Bruder, möglichst frisches Material anstelle des platt getretenen Schnees zu verwenden, auf das Bestreben der Erzählung bezogen werden, einen neuen Zugang zu einer alten Thematik zu finden, verstärkt die Näharbeit der Mutter diesen Eindruck. Sie zertrennt abgetragene Kleider und verwendet die brauchbaren Bestandteile als Flicken.   Doch noch ein weiteres Verfahren trägt in der Erzählung zur Vermutung über die Animation des Schneekindes bei: die sprachliche Repräsentation sowohl der Verfertigung der Figur als auch des Blickes der Mutter, der auf diese trifft. Die Animation ist demnach nicht nur ein Resultat aus der beschriebenen Erschaffung und Belebung, sondern wird auch in der spezifischen Beschreibung durch den Erzähler angedeutet. Zwar bleibt die Belebung des Schneekindes an den Blick der Mutter gebunden, aber wenn der Erzähler berichtet, wie Mrs. Lindsey das Kind sieht und dabei nicht immer explizit benennt, dass es sich um ihre Sichtweise handelt, suggeriert er dem Leser die geglückte Animation des Schneekindes. So beschreibt er das Gesicht des fremden Mädchens im Garten als »pure white«;72 auch ihr Kleid »was entirely of white, and fluttering in the breeze, it was such as no reasonable woman would put upon a little girl, when sending her out to play, in the depth of winter«.73 Die Animation des Schneekindes erfolgt demnach nicht nur im Blick der Mutter, sondern teilweise auch 71  72  73 

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Ebd., S. 1100. Ebd., S. 1094. Ebd.

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in der sprachlichen Repräsentation des Gesehenen und in der Verunklarung des Textes, wann der Erzähler selbst spricht und wann er die Perspektive der Mutter einnimmt. Grundsätzlich bleibt der Erzähler aber ambivalent bezüglich der Bewertung der Perspektiven oder gar des Geschehens. Selbst dann, wenn die Perspektive der Mutter eindeutig benannt wird, lässt die Beschreibung der Schneefigur unweigerlich die Uneindeutigkeit des Fantastischen zum Vorschein kommen. So heißt es in aller Zweideutigkeit: »the mother stood on the threshold, wondering how a little girl could look so much like a flying snow-drift, or how a snow-drift could look so very like a little girl« und »whether it were a real child, after all, or only a light wreath of the new-fallen snow, blown hither and thither about the garden by the intensely cold west-wind«.   Während das Schneekind im Blick der Mutter zum Leben erweckt wird, ist die sprachliche Vermittlung jenes Blicks undurchschaubar. In diesem Sinne lässt sich auch Mr. Lindseys Antwort deuten, als seine Frau ihm gesteht, dass sie das fremde Mädchen für ein Schneekind hält: »Do not tell me of making live figures out of snow!«74 In der sprachlichen Repräsentation bleibt das Erzählen von lebendigen Figuren aus Schnee immer nur auf sich selbst bezogen.

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Ebd., S. 1097.

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Totes Wissen und zugefügtes Leben in Gottfried Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe

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em literarischen Realismus wird in der Forschung gemeinhin die Annahme »eine[r] außerzeitlich konstante[n] ›menschliche[n] Natur‹«1 attestiert. Realismus wäre folglich als ein Programm aufzufassen, das dazu dient, die unter der Oberfläche der Wirklichkeit verborgene tatsächliche Gestalt der Welt freizulegen. Gottfried Keller spricht 1849 in einem Aufsatz über Jeremias Gotthelf explizit davon, dass es die »Aufgabe des Dichters« sei, die Wirklichkeit in »gereinigte[r] und veredelte[r]« Form wiederzugeben,2 wobei ›Veredlung‹ und auch der in diesem Zusammenhang häufiger verwendete Terminus ›Verklärung‹ unmissverständlich auf die Idealisierung der Wirklichkeit zielen. Die Forderung nach der literarischen Artikulation des wahrhaftigen Kerns der Realität suggeriert freilich auch die Existenz anthropologischer Grundkonstanten. Die folgende Analyse von Kellers Novelle Romeo und Julia auf dem Dorfe soll hingegen gerade herausstellen, dass das anthropologische Wissen im Realismus als ein diskursabhängiges Spannungsgefüge zu begreifen ist und diesem Umstand in der Novelle in besonderem Maß und auf spielerische Weise Rechnung getragen wird. Am Beispiel des menschlichen Körpers soll gezeigt werden, dass dieser nicht nur gewichtiger Gegenstand der Novelle ist, sondern seine Bestimmung vermittels zeitgenössisch relevanter Kontexte erhält und demzufolge als historisch bedingte Entität in Erscheinung tritt.3

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Titzmann, Michael: »›Natur‹ vs ›Kultur‹. Kellers ›Romeo und Julia auf dem Dorfe‹ im Kontext der Konstituierung des frühen Realismus«, in: ders. (Hg.): Zwischen Goethezeit und Realismus. Wandel und Spezifik in der Phase des Biedermeier, Tübingen 2002, S. 441–480, S. 470 (Hervorhebungen getilgt T. N. S.). Keller, Gottfried: »Jeremias Gotthelf« (1849), in: ders.: Sämtliche Werke. Aufsätze, Dramen, Tagebücher, 7. Bd., hg.v. Dominik Müller, Frankfurt a.M. 1996, S. 58–81, S. 76. Vgl. Sarasin, Philipp: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765–1914, Frankfurt a.M. 2001,

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Kellers Novelle, die 1856 im ersten Band der Seldwyler Erzählungen erschienen ist, macht mit ihrem ersten Satz deutlich, dass sie nicht als »eine müßige Nachahmung«4 Shakespeares missverstanden werden möchte. Vielmehr beansprucht das Erzählte Faktizität und Authentizität, beruhe es doch »auf einem wirklichen Vorfall« und solle zeigen, »wie tief im Menschenleben jede jener Fabeln wurzelt, auf welche die großen alten Werke gebaut sind«.5 Nachgeahmt werde also allenfalls die Realität – nicht die Kunst. Zweifelsohne ist Kellers Text gleichwohl eine intensive Beschäftigung mit dem alten Stoff zu eigen. Bedenkt man, dass Shakespeare im 19. Jahrhundert als vorderster Gewährsmann eines natürlichen und ursprünglichen Erzählens gilt, erscheint diese Wahl durchaus nicht überraschend. Entscheidend ist der Modus, in dem Kellers Novelle sich von Anfang an präsentiert. Der Titel Romeo und Julia auf dem Dorfe markiert einerseits, dass der Text immer schon im Zeichen der Wiederholung steht, andererseits fokussiert er durch die Verlagerung der Handlung von der Stadt Verona in ein namenloses Dorf bei Seldwyla die Absicht einer Adaptation des Themas. Insofern lautet das paratextuelle Versprechen: Irgendetwas wird neu und signifikant sein in der vermeintlichen Endlosschleife des immer Gleichen.   Einen spezifischen Aspekt dieses Erzählens »in neuem Gewande«6 möchte ich im Folgenden anhand des Puppenspiels der Kinder Sali und Vrenchen zu Beginn der Handlung veranschaulichen. In diesem Spiel sind drei Phasen zu unterscheiden: die Animation der Puppe durch Ausstaffierung und Bekleidung, ihre Zerstörung, der ein subversiver Rekurs auf ein zeitgenössisches wissenschaftliches Verfahren der Körpervermessung beigefügt ist, sowie schließlich ihre ReAnimation, infolge derer die Puppe prophetische Qualitäten aufweist.7 Die ReAnimation des Spielobjektes geht dabei Hand in Hand mit der Re-Animation eines Wissens vom menschlichen Körper. Kellers Text bedient sich hier nicht nur unterschiedlicher Wissenskonzepte, sondern bringt qua literarischen Spiels selbst Wissen hervor. Die zentrale Fragestellung lautet, welche unterschiedlichen Facetten der Erprobung und Modifizierung von Wissen im Text zum Tragen kommen und welche Relevanz diesem Wissen im Rahmen der Generierung von neuem Wissen beigemessen wird.8 Der hier verwendete Begriff der ›Re-

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S. 11ff. Keller, Gottfried: Romeo und Julia auf dem Dorfe, in: ders.: Sämtliche Werke. Die Leute von Seldwyla, 4. Bd., hg.v. Walter Morgenthaler u.a., Basel 2000, S. 74–159, S. 74. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 81. Auf diesem Weg wird zugleich einem Desiderat der Keller-Forschung begegnet, die diese Gesichtspunkte

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Totes Wissen und zugefügtes Leben

Animation‹ geht demnach über den Bereich bloßer Motivwiederholungen insofern hinaus, als aus heuristischen Gründen unterstellt wird, dass mit den ReAnimationen, die Kellers Text sowohl anhand der Puppe als auch hinsichtlich der Beschäftigung mit Wissensformen vorführt, ein poetologischer Mehrwert verbunden ist. Ganz im Sinne Wolfgang Riedels erwächst die Literatur an solchen Stellen zur Kommentatorin ihrer Kultur.9   Die folgenreiche Begegnung im Spiel zwischen den Kindern Vrenchen und Sali, deren Liebe aufgrund der Feindschaft ihrer Väter zum Scheitern verurteilt ist und analog zur großen literarischen Bezugsgröße im Liebestod der beiden endet, vollzieht sich auf dem verwilderten Acker, der die väterlichen Felder trennt. Die Konnotation dieses Raumes ist im Weiteren von entscheidender Bedeutung, nicht zuletzt, da um das mittlere Flurstück der handlungsbestimmende Streit zwischen den Familien entbrennt. Dieser Acker liege schon »seit langen Jahren brach und wüst«, worauf der Sachverhalt hinweise, dass er »mit Steinen und hohem Kraut bedeckt«10 sei. Zudem kreise eine »Welt von geflügelten Tierchen«11 über ihm. Abgesehen von seiner vitalen Flora und Fauna sei der Acker mittlerweile ferner »schon fast mit allen Steinen belastet [...], welche überhaupt auf den Nachbaräckern zu finden gewesen«.12 Auch wird er durch seine exponierte Lage hervorgehoben, die sich aus seiner im Vergleich zu den Nachbarfeldern höheren Lage ergibt.13 Obwohl Manz und Marti, die Väter der Kinder, vorgeben, nicht um die Identität seines rechtmäßigen Eigentümers zu wissen, ist ihnen, so sagt es der Text, im Grunde bewusst, dass der Acker tatsächlich dem »schwarze[n] Geiger« zustünde, der als »Heimatlose[r]« und Ungetaufter den für Eigentum vorausgesetzten Rechtstitel allerdings nicht vorweisen kann.14 Ihr diesbezügliches Wissen ordnen die beiden der dorfgemeinschaftlich fundierten Ächtung des Ausgestoßenen unter und teilen den Acker stillschweigend im Vollzug des Pflügens untereinander auf, indem sie das

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meist übersehen und dadurch eine ergiebige Perspektive auf Körperkonzeptionen und -darstellungen bei Keller sowie im Realismus insgesamt außer Acht gelassen hat. Frappierend ist, dass der noch immer maßgebliche Kommentar von Thomas Böning den hier analysierten Passus der Erzählung mit keinem Wort erwähnt. Vgl. Böning, Thomas: »Kommentar«, in: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla, hg.v. Thomas Böning, Frankfurt a.M. 1989, S. 605–862. Vgl. Riedel, Wolfgang: »Literarische Anthropologie. Eine Unterscheidung«, in: Braungart, Wolfgang; Ridder, Karl; Apel, Friedmar (Hg.): Wahrnehmen und Handeln. Perspektiven einer Literaturanthropologie, Bielefeld 2004, S. 337–366, S. 351. Keller, Romeo und Julia auf dem Dorfe, S. 74. Ebd. Ebd., S. 76. Vgl. ebd., S. 75. Vgl. ebd., S. 78.

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vermeintlich herrenlose Feldstück sukzessive, Furche für Furche dem eigenen Boden zuschlagen.15   Insgesamt steht der verwilderte Acker zwar für ein Spannungsverhältnis zwischen Natur und Kultur ein, dies jedoch nicht, weil er primär zur Seite wiedergewonnener Natur zu rechnen wäre. Denn seine Verwilderung ist gerade auch Ausdruck der kultürlichen Praxis des Ackerbaus und insofern symbolisiert er etwas, das nicht problemlos in die Gesellschaft zu integrieren ist. In dieser Weise gilt Alexander Honold die »Wildheit des dritten Ackers« weniger »als Zeichen der Naturbelassenheit noch der romantischen Regression«, sondern als »ein fortgeschrittenes Kulturprodukt«.16 Michael Titzmann versteht Verwilderung generell als einen Zustand von etwas, »was schon von Menschen in Gebrauch genommen war und erst sekundär in den Naturzustand zurückgefallen ist, nachdem die ›Kultivierung‹ ausgesetzt hat«.17   Der dementsprechend hochgradig mit Bedeutung aufgeladene Acker zieht die Kinder kraft seines Status als Außenraum magisch an. An einem Vormittag entschließen sich der siebenjährige Sali und das fünfjährige Vrenchen zu »eine[m] Streifzug in den wilden Acker, da derselbe mit seinen Unkräutern, Stauden und Steinhaufen eine ungewohnte und merkwürdige Wildnis darstellte«.18 Für sie ist der Acker Abenteuerspielplatz und Rückzugsraum zugleich. Im Schatten einer Distelstaude nimmt das Spiel seinen Anfang. Das Vrenchen beginnt, seine Puppe, von welcher der Erzähler zuvor berichtet, dass sie »völlig nackt[ ]«, einbeinig und mit »einem verschmierten Gesicht«19 versehen sei, »mit den langen Blättern des Wegekrautes zu bekleiden«.20 Überdies wird dem lädierten Spielzeug »eine einsame rote Mohnblume [...] als Haube über den Kopf gezogen und mit einem Grase festgebunden«, bis die so wieder instand gesetzte Puppe sich als »eine Zauberfrau« ausnimmt, verstärkt durch den Hinweis auf »ein Halsband und einen Gürtel von kleinen roten Beerchen«21 als weitere Attribute. Dieser Vorgang ist als Verfahren der Belebung erkennbar, eine Animation qua Bekleidung also, wie sie Inka Mülder-Bach mit Blick auf Ovids Pygmalion in den Metamorphosen in ähnlicher Weise beschrieben hat.22 In Kellers Romeo und Julia auf dem 15  Vgl. ebd., S. 82f. 16  Honold, Alexander: »Vermittlung und Verwilderung. Gottfried Kellers ›Romeo und Julia auf dem Dorfe‹«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 78 (2004), S.  459–481, S. 474. 17  Titzmann, »›Natur‹ vs ›Kultur‹«, S. 453. 18  Keller, Romeo und Julia auf dem Dorfe, S. 79. 19  Ebd., S. 76. 20  Ebd., S. 79. 21  Ebd. 22  Vgl. Mülder-Bach, Inka: Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der ›Darstellung‹ im

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Totes Wissen und zugefügtes Leben

Dorfe nun handelt es sich um eine Übertragungsbewegung, durch die dem zuvor leblosen Spielzeug Leben gegeben wird.   Während es Vrenchen um die fantasievolle Wiederherstellung der Puppe zu tun ist, kann Sali nicht lange im stillen Anblick verharren, sondern wirft die Puppe mit einem Stein zu Boden.23 Der Betrachter wird zum »Peiniger«.24 Das Spiel kippt hier ins Destruktive, und mit der einsetzenden Tötung der eben erst belebten Puppe kommt zugleich die Voraussetzung für die Re-Animation der später wiederum leblosen Puppe ins Spiel. Als das Vrenchen damit beschäftigt ist, das durch den Sturz beschädigte Spielzeug »aufs neue zu schmücken«, entreißt ihm Sali, »der wilde Junge«, die nunmehr »wieder nackt[e]« Puppe, um sie abermals in die Luft zu werfen.25 So wechseln die Klage des Mädchens und das Necken des Jungen sich ab, bis die Puppe im Verlauf weiteren Schaden nimmt und aus einem Loch in ihrem verbliebenen Bein »einige Kleiekörner durchsickern«,26 mit denen sie gefüllt ist. Während Salis Wissbegierde dadurch erst völlig geweckt wird und er »das Loch mit seinen Nägeln zu vergrößern und dem Ursprung der Kleie nachzuspüren« sucht, führt die von ihm begonnene Sektion der Puppe bei Vrenchen zu großem Entsetzen, weshalb auch Sali schließlich »übel zu Mut« ist.27   Stand das bisherige Spiel der Kinder im Zeichen des Streits, erfolgt nach Salis Reuebekundung die schlagartige Wendung zur gemeinschaftlichen »Zerstörung und Zerlegung«28 des Spielzeugs. Aus der anfänglichen Zweisamkeit erwächst Gemeinsamkeit. So wird die Puppe zum »Marterleib«, ja zum »ausgequetschten Leichnam«, den die Kinder geflissentlich untersuchen.29 Sie beginnen damit, aus dem Puppenkörper »die Kleie entströmen« zu lassen und diese »sorgfältig auf einem flachen Steine zu einem Häufchen« anzusammeln, um sie sodann umzurühren und analog einer Leichenschau aufmerksam zu betrachten.30 Bald jedoch richten sie ihre Aufmerksamkeit in erster Linie auf den Kopf, dem »einzig[ ] Feste[n], was noch an der Puppe bestand«: »[S]ie trennten ihn [den Kopf] sorgfältig los von dem ausgequetschten Leichnam und guckten erstaunt in sein hohles Innere. Als sie die bedenkliche Höhlung sahen 18. Jahrhundert, München 1998, S. 12. 23  Vgl. Keller, Romeo und Julia auf dem Dorfe, S. 79. 24  Ebd., S. 80. 25  Ebd., S. 79. 26  Ebd., S. 80. 27  Ebd. 28  Ebd. 29  Ebd., S. 80f. 30  Ebd., S. 80.

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und auch die Kleie sahen, war es der nächste und natürlichste Gedankensprung, den Kopf mit der Kleie auszufüllen, und so waren die Fingerchen der Kinder nun beschäftigt, um die Wette Kleie in den Kopf zu thun, so daß zum ersten Mal in seinem Leben etwas in ihm steckte.«31

Dieser Passus ist als Rekurs auf die wissenschaftliche Praxis der Kranioskopie, der Schädelvermessung, lesbar, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als »Kernbestandteil der zeitgenössischen Anthropologie«32 gilt. Während die Vermessung des äußeren Schädels häufig mit Hilfe eines speziellen Zirkels, dem Tasterzirkel, erfolgte,33 ist es in der »inneren Craniometrie«, wie es 1863 in einem Beitrag im Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin heißt, durchaus üblich, »den Umfang der Schädelhöhle durch Anfüllung mit Erbsen, Linsen etc. zu messen«.34 Das Ausmessen des Schädelvolumens geht auf die Untersuchungen des Rassentheoretikers Samuel Morton zurück, nämlich seine »Messungen der Schädelcapacität«,35 auf die sich auch Carl Gustav Carus bezieht, der in diesem Zusammenhang allerdings von »kleinen Schrotkörnern«36 spricht. Die Studien des Anatomen Friedrich Tiedemann,37 bei dem von Hirsekörnern und Sand die Rede ist, belegen gleichermaßen das Verfahren. Im Unterschied zu Morton beabsichtigt er jedoch nicht das Volumen, sondern das Gewicht des Schädels zu bestimmen.38 31  32 

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Ebd., S. 81. Müller-Tamm, Jutta: Kunst als Gipfel der Wissenschaft. Ästhetische und wissenschaftliche Weltaneignung bei Carl Gustav Carus, Berlin/New York 1995, S. 55. Ähnlich äußert sich auch Gerhart von Graevenitz, für den die zeitgenössische Anthropologie sich »in erster Linie [als, T. N. S.] die Spezialwissenschaft der Anthropometrie« darstellt, deren wichtigster Bestandteil die »Craniometrie« sei. Graevenitz, Gerhart von: »Wissen und Sehen. Anthropologie und Perspektivismus in der Zeitschriftenpresse des 19. Jahrhunderts und in realistischen Texten. Zu Stifters ›Bunten Steinen‹ und Kellers ›Sinngedicht‹«, in: Danneberg, Lutz; Vollhardt, Friedrich (Hg.): Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert, Tübingen 2002, S. 147–189, S. 147. Die Methode ist ausführlich nachzulesen in Carus, Carl Gustav: Symbolik der menschlichen Gestalt. Ein Handbuch zur Menschenkenntniß (1858), Hildesheim 1977, S. 135ff. Mayer: »Ueber Cephalometrie in Beziehung auf Phrenologie und Ethnologie«, in: Reichert, Carl Bogislaus; Du Bois-Reymond, Emil (Hg.): Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin (1863), S. 172–179, S. 175. Carus, Carl Gustav: Über ungleiche Befähigung der verschiedenen Menschheitsstämme für höhere geistige Entwickelung. Denkschrift zum hundertjährigen Geburtsfeste Goethes, Leipzig 1849, S. 58. Carus, Symbolik der menschlichen Gestalt, S. 138. In Symbolik der menschlichen Gestalt wiederholt Carus auch seine Ausführungen zu Morton. Vgl. ebd., S. 104. Interessanterweise verhält sich Tiedemann den rassentheoretischen Allgemeinplätzen seiner Zeitgenossen gegenüber äußerst skeptisch und kommt selbst zu dem Ergebnis, »die Natur habe, insofern als eine gewisse Größe und Masse des Hirns zur Ausübung der Seelen-Vermögen eine nothwendige Bedingung ist, die Völker aller Menschen-Rassen hierzu in gleichem Grade befähigt«. Tiedemann, Friedrich: Das Hirn des Negers mit dem des Europäers und Orang-Outangs verglichen, Heidelberg 1837, S. 47f. Vgl. ebd., S. 21.

Totes Wissen und zugefügtes Leben

In Kellers Novelle finden Kleiekörner zum Ausfüllen des Puppenkopfes Verwendung; ein aufgrund der unterschiedlichen Größe der einzelnen Bestandteile für die Vermessung denkbar ungeeignetes Material. Eine besondere Pointe besteht darin, dass als Füllmaterial für das Haupt der Inhalt des gesamten Puppenkörpers, des Torsos und der Extremitäten, herhalten muss. Der Körper als Ganzes wird für die Generierung von Wissen im kindlichen Spiel eingesetzt; seine Erforschung geht mit seiner Zerstörung einher. Im Unterschied zum als Vorbild dienenden menschlichen Körper ist der Puppenkopf jedoch von vornherein hohl und offenbart damit seine Künstlichkeit. Tatsächlich bleibt auch der mit Kleie angefüllte Kopf in Salis Augen »ein totes Wissen«,39 eine Einschätzung, die der Erzähler mit deutlicher Distanzierung von seiner Figur vorbringt und so das ganze Unterfangen des Jungen unterminiert, ein vermeintlich noch tiefer liegendes Wissen zu ergründen.40 Sali fängt sodann »plötzlich eine große blaue Fliege«, sperrt diese anstelle der Kleie in den Kopf, das Loch dabei mit Gras verstopfend, und lauscht gemeinsam mit Vrenchen dem Summen des nun »weissagenden Haupte[s]«.41 Im re‑animatorischen Akt einer gewalttätigen Zufügung wird dem ›Puppenleichnam‹ zu einem erneuten Leben verholfen – von denselben Tätern im Übrigen, die dieses kurz zuvor noch entzogen hatten. Hier ist eine Ironisierung des realistischen Programms erkennbar. Denn die gewalttätige Re-Animation der Puppe verweist auf die Unmöglichkeit einer einfach aufzufindenden Idealität der Wirklichkeit und insofern ist dem Text eine Realismus-Kritik immanent, die sich der romantischen Strategien des Spiels und der Ironie bedient. Ebenso schnell wie sie gekommen war, schlägt die Genugtuung der Kinder dem Geschaffenen gegenüber in »Schrecken und Undank« um – ein Schicksal, das »jede[m] Propheten« früher oder später drohe und in Kellers Novelle mit dem Entschluss endet, »das Haupt zu begraben«.42 Aus »Grauen« davor, »etwas Geformtes und Belebtes« zu Grabe getragen zu haben, entfernen die Kinder sich sodann »von der unheimlichen Stätte«, zu der das Puppengrab für sie nunmehr geworden ist.43   In die vom Erzähler festgehaltene »menschliche Grausamkeit« der Kinder dem »wenige[n] Leben in dem dürftig geformten Bilde« gegenüber mischt sich ein Kommentar zum Leib-Seele-Problem.44 Wo das Gehirn als »das höchste 39  40  41  42  43  44 

Keller, Romeo und Julia auf dem Dorfe, S. 81 (Hervorhebung T. N. S.). »Der Knabe mochte es immer noch für ein totes Wissen halten.« Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Zum Aspekt des Destruktiven im Hinblick auf Kellers Kinderfiguren vgl. Susteck, Sebastian: Kinderlieben. Studien zum Wissen des 19. Jahrhunderts und zum deutschen Realismus von Stifter, Keller, Storm und

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Organ des seelischen Lebens«45 zur Ausübung der Seelentätigkeit fehlt, muss eine künstliche Belebung der Puppe durch Einsetzung eines für sich schon lebendigen Wesens vorgenommen werden. Dies führt aber ebenfalls nicht zum gewünschten Erfolg. Am Puppenkörper bewahrheitet sich, dass ohne geeignetes materielles Substrat am richtigen Fleck nicht auf eine intellektuelle Regung zu hoffen ist. Doch es spielt sich hier noch weit mehr ab. Was die Kinder vornehmen, ist in der Tat eine Sektion, bei der auf die Entnahme und Untersuchung von Körperteilen eben die zumindest partielle äußere Wiederherstellung des Leichnams folgt. Ein basaler Unterschied besteht jedoch: Am Ende steckt mehr im Puppenkopf als zuvor, so viel mehr sogar, dass die Puppe zu neuem Leben erwacht. Insofern ist die Sektion selbst als Voraussetzung für die Re-Animation zu verstehen. Auf diese Weise changiert die Funktion der Puppe zwischen der des passiven Objektes sezierender Eingriffe und jener der Weissagerin, in die sie die Kinder erst verwandeln. Mit der durch menschliche Eingriffe evozierten Künstlichkeit des Naturrahmens, in dem die Handlung vonstattengeht, der vermeintlichen Idylle, die sich ja tatsächlich auch als ein Kulturrahmen manifestiert, korrespondiert die Künstlichkeit der re‑animierten Puppe. Hinsichtlich der prophetischen Qualität der Puppe wird dies prompt sichtbar, denn bei den »Kunden und Märchen«,46 die sie von sich gebe, handelt es sich eben um ein Wissen, das keines ist. Vielmehr wird die Puppe nicht zuletzt aufgrund ihres beängstigenden Summens der Auslöschung preisgegeben. Auf diese Weise gibt sie den verhängnisvollen Fortgang des Geschehens vor und bleibt in der Rolle der Impulsgeberin für die Handlung lebendig. Doch genauso wie sie selbst von den Kindern zergliedert wird, liegt das Telos ihrer Prophezeiungen einzig in der Zersetzung und das gleich im doppelten Sinn.   Im unmittelbaren Anschluss an die Zerlegung und das Begräbnis der Puppe wenden sich Sali und Vrenchen der Untersuchung des eigenen Körpers zu, indem sie gegenseitig ihre Zähne zählen: »Der Knabe sah die Zähne, und dem Mädchen den Kopf haltend und dessen Zähnchen neugierig untersuchend, rief er: ›Rate, wie viel Zähne man hat?‹ das Mädchen besann sich einen Augenblick, als ob es reiflich nachzählte, und sagte dann auf Geratewohl: ›Hundert!‹ ›Nein, zwei und dreißig!‹ rief er, ›wart ich will das einmal zählen!‹ da zählte er die Zähne des Kindes und weil er nicht zwei und dreißig herausbrachte, so fing er immer wieder von neuem an. Das Mädchen hielt lange still, als aber der eifrige Zähler nicht zu Ende kam, raffte es sich auf und rief: ›Nun will

45  46 

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anderen, Berlin/New York 2010, S. 125ff. Carus, Symbolik der menschlichen Gestalt, S. 119. Keller, Romeo und Julia auf dem Dorfe, S. 81.

Totes Wissen und zugefügtes Leben

ich Deine zählen!‹ Nun legte sich der Bursche hin ins Kraut, das Mädchen über ihn, umschlang seinen Kopf, er sperrte das Maul auf, und es zählte: Eins, zwei, sieben, fünf, zwei, eins; denn die kleine Schöne konnte noch nicht zählen. Der Junge verbesserte sie und gab ihr Anweisung, wie sie zählen solle, und so fing auch sie unzählige Mal von neuem an und das Spiel schien ihnen am besten zu gefallen von allem, was sie heut unternommen. Endlich aber sank das Mädchen ganz auf den kleinen Rechenmeister nieder und die Kinder schliefen ein in der hellen Mittagssonne.«47

Was auf den ersten Blick als Ausdruck der Befriedigung von Neugier daherkommt und auf den Erwerb von Wissen gerichtet zu sein scheint, kann diese Absicht bei näherer Betrachtung nicht einlösen. Die Bemühungen der Kinder können schon deshalb keinen Erkenntnisgewinn nach sich ziehen, da von Beginn an eine Norm bekannt ist, die es im Vollzug des Zählens lediglich zu bestätigen gilt. Allerdings fällt Sali beim Setzen dieser Norm einem Irrtum anheim, denn nur das vollständige Gebiss Erwachsener zählt 32 Zähne. Das Vrenchen seinerseits ist des Zählens an sich gar nicht mächtig. Das von den Kindern zuvor anhand der Untersuchung der Puppe mehr schlecht als recht erprobte Erkenntnisverfahren führt in der Übertragung auf den eigenen Körper allein zu einem gänzlich unfruchtbaren Wissen und falschen Ergebnissen.   Die Körperspiele der Kinder erfüllen eine kaum zu überschätzende Funktion innerhalb des erzählungsinternen Verweisungsnetzes, insofern sie nämlich den zerstörerischen Verlauf der Handlung vorwegnehmen. Tatsächlich zeigen die am Puppenkörper sowie am eigenen Körper erprobten Verfahren zum Erkenntnisgewinn, dass der Versuch, den vom Acker verbildlichten Zwischenraum zwischen Natur und Kultur konstruktiv zu bestimmen, scheitern muss. Auf die realistische Programmatik gewendet, bedeutet dies, dass die Wirklichkeit selbst bereits derartige Tücken aufweist, dass sie per se eine Auffindung des Idealen und Wahrhaftigen verhindert. Entgegen Honolds Darstellung stellt das Tun der Kinder aus diesem Grund auch weniger »den Versuch dar, diese Mitte [des Ackers] positiv zu bestimmen, ihr Gestalt und Sinn zu geben«.48 Vielmehr wäre zu präzisieren, dass der im Spiel erzeugte Sinn stets auf das Spiel bezogen bleibt und sich aus diesem Grund nicht ohne Weiteres verallgemeinern lässt. Dementsprechend wäre impliziert, dass das Wissen vom Körper und Leben nur im Bereich der Kunst Geltung beanspruchen kann. Ein Transfer scheitert.

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Ebd., S. 82. Honold, »Vermittlung und Verwilderung«, S. 473.

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Dem Puppengrab eignet neben seiner Bedeutung als »ansehnliches Denkmal von Feldsteinen«49 und Erinnerungsort für das vereinigende Kindheitserlebnis vor allem eine enge Verbindung zu dem Denkmal des Zwistes, der Steinpyramide der Väter.50 »Die Grausamkeit im Spiel mit der Puppe«, so Winfried Menninghaus, »ist Ausdruck kindlicher Unschuld und Vorbedeutung künftiger Schuld«.51 Auf diese Weise spiegelt sich auf dem dritten Acker die Grundproblemkonstellation der Novelle. Zwar wird am selben Ort Jahre später – Vrenchen ist »[s]iebzehn und ein halbes Jahr« alt, Sali »bald zwanzig«52 – auch die Liebesbegegnung der Kinder stattfinden.53 Doch bereits der Puppenepisode ist eine Zerstörungsprophetie immanent, die nur der Verwirklichung harrt, was nicht zuletzt von der im Text häufig wiederkehrenden Todessymbolik bekräftigt wird. Die als Schmuck der Puppe dienende Mohnblume ist sowohl Symbol des Schlafes, Traumes und Todes als auch des Rausches und der Weissagung54 und insofern in mehrerlei Hinsicht auf die Puppe bezogen. Zum einen ist dies als Vorausdeutung auf das die Puppe selbst ereilende Ende zu verstehen, zum anderen gleichwohl als Vorwegnahme des ebenfalls unabwendbaren Todes von Sali und Vrenchen, denen später auch der schwarze Geiger auf dem ihm geraubten Acker prophezeit, sie würden vor ihm »den Weg alles Fleisches« gehen.55   Als lebendig Begrabenes präfiguriert die Puppe zudem Martis Schicksal. In der Absicht, Vrenchen zu beschützen, die zusehends unter der »Tyrannei eines verwilderten Vaters«56 leidet, wirft Sali ihn – in Analogie zur Puppe – mit einem

49   Keller, Romeo und Julia auf dem Dorfe, S. 81. 50  Ebd., S. 88. 51  Menninghaus, Winfried: Artistische Schrift. Studien zur Kompositionskunst Gottfried Kellers, Frankfurt a.M. 1982, S. 126. 52  Keller, Romeo und Julia auf dem Dorfe, S. 114. 53  Vgl. ebd., S. 110ff. 54  Vgl. Oestersandfort, Christian: »Mohn«, in: Metzler Lexikon literarischer Symbole, hg.v. Günter Butzer, Joachim Jacob, Stuttgart/Weimar 2008, S. 231f. 55  Keller, Romeo und Julia auf dem Dorfe, S. 112. Folgerichtig wird das Mohnmotiv an späterer Stelle wieder aufgenommen, als die Verliebten sich in der Nähe des »ungerechte[n] Steinhaufen[s]« wiedersehen, »der das immer noch streitige Ackerzipfelchen bedeckte« und von einer »zahllose[n] Menge von Mohnblumen« überwuchert war. Ebd., S. 111. Im Liebesspiel drückt Sali Vrenchen in die Mohnblumen hinein und Vrenchen erhält, wie der Erzähler bemerkt, ihr »fabelhaftes reizendes Ansehen« erst durch einen Blumenkranz, der ein »Kranz von Mohnblumen« sei. Ebd., S.  115. Überhaupt ist das spätere Wiedersehen von Sali und Vrenchen deutlich auf das Kinderspiel bezogen, worauf neben dem Ort des Treffens und dem Mohnmotiv auch die erneute Erwähnung der weißen Zahnreihen, die den beiden das Kindheitserlebnis in Erinnerung rufen, sowie die folgende Umarmung hindeuten. Vgl. ebd., S. 115f. Über die motivischen Entsprechungen hinaus ist zu bedenken, dass im 19. Jahrhundert eine gemeinsam erlebte Kindheit als nahezu zwingende Voraussetzung für eine ideale Partnerschaft gilt. Vgl. hierzu Susteck, Kinderlieben. 56  Keller, Romeo und Julia auf dem Dorfe, S. 91.

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Totes Wissen und zugefügtes Leben

Stein nieder.57 Der Erzähler berichtet über diesen Vorgang wörtlich, dass die Folgen des Angriffs für Marti einem »lebendigen Begräbnis« gleichkämen,58 denn er endet »auf wunderlichste Weise« vollkommen »blödsinnig geworden«59 in einer Irrenanstalt. Ein Blick auf den zeitgenössischen Volksglauben, dem »eine Fliege im Hirn als Ursache von Geistesstörungen«60 gilt, untermauert das Gewicht der mehrfachen, präfigurativen und rückbezüglichen erzählungsinternen Verknüpfung beider Begebenheiten.   Die Puppenprophetie bleibt somit auf komplexe Weise an die Handlungsstruktur der Novelle rückgebunden. Selbst dann, »wenn alles Andere nicht wäre«, so beschreibt Vrenchen die ausweglose Situation nach Salis Angriff auf den Vater, würde der Vorfall für eine mögliche Ehe der beiden »immer ein schlechter Grundstein«61 sein. Die Unausweichlichkeit der Katastrophe ist zweifelsohne bereits im Spiel der Kinder angedeutet, das insofern durchaus als determinierend für das weitere Geschehen betrachtet werden kann. Das kindliche Spiel ist im Kern ein Spiel mit Körpern. Auch wenn es gelegentlich ungezwungen sexuell konnotiert sein mag, ist dies für den Sinngehalt der Szene von geringerer Bedeutung als in der Forschung gelegentlich suggeriert.62 Es sind keine Doktorspiele, auf die Sali und Vrenchen es abgesehen haben, sondern Körperspiele, die aus kindlicher Neugier resultieren. An einem Schauplatz des Fluktuierens von Natur und Kultur erproben die Kinder im Spiel Handlungsmuster des Untersuchens, Analysierens und genauen Beobachtens, die sich im Kontext zeitgenössisch virulenter Verfahren zum Erwerb von Wissen über den Menschen lesen lassen. Eben dieses anthropologische Wissen wird aber zugleich poetisch verortet, indem das erzählerische Vorhaben der Novelle, den Beweis zu erbringen, »wie tief im Menschenleben jede jener Fabeln wurzelt, auf welche die großen alten Werke gebaut sind«,63 mit der historischen Wandelbarkeit des Verständnisses vom menschlichen Körper kontrastiert wird. Freilich trägt die von Kinder57  Vgl. ebd., S. 118. 58  Ebd., S. 121. Zu dieser Lesart vgl. auch Sautermeister, Gert: Gottfried Keller. Romeo und Julia auf dem Dorfe, Erläuterungen und Dokumente, Stuttgart 2003, S. 12f.; Kaiser, Gerhard: Gottfried Keller. Das gedichtete Leben, Frankfurt a.M. 1987, S. 302. 59  Vgl. Keller, Romeo und Julia auf dem Dorfe, S. 120. 60  Bächtold-Stäubli, Hans: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, 5. Bd., Berlin/Leipzig 1932–1933, Sp. 1624, zit.n. Rölleke, Heinz: »Farben und Farbsymbolik in Romeo und Julia auf dem Dorfe«, in: Gramatzki, Susanne; Zymner, Rüdiger (Hg.): Figuren der Ordnung. Beiträge zu Theorie und Geschichte literarischer Dispositionsmuster, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 127–139, S. 135. 61  Vgl. Keller, Romeo und Julia auf dem Dorfe, S. 123. 62  Vgl. Honold, »Vermittlung und Verwilderung«, S. 477; Hoffmann, Volker: »Phantastik als anthropologische Realität«, in: Krah, Hans; Ort, Claus Michael (Hg.): Weltentwürfe in Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten – Realistische Imaginationen, Kiel 2002, S. 115–131, S. 127ff. 63  Vgl. Keller, Romeo und Julia auf dem Dorfe, S. 74.

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hand erfolgende Zergliederung und Wiederbelebung des Puppenkörpers Züge einer Persiflage, schließlich führt dieses Handeln weder zu Wissen noch kann es produktiv genutzt werden. Gleichwohl aber wird deutlich, dass das Körperverständnis des Textes historisch und kulturell spezifisch ist, hier also nicht von einer überzeitlich konstanten menschlichen Natur die Rede sein kann.   In Briefen bezeugt Keller selbst den zentralen Stellenwert, der den Naturwissenschaften in seiner Zeit zukommt, wenn er etwa gegenüber dem befreundeten Literaturhistoriker Hermann Hettner zum Ausdruck bringt, dass man sich »ganz an den immer mehr maßgebend werdenden Vorgang der Naturwissenschaft«64 zu halten habe. Keller erkennt damit gleichwohl auch den unhintergehbaren Einfluss der neu entstandenen Naturwissenschaften auf den Bereich der Literatur an. Die Ausdifferenzierung der Naturwissenschaften und ihre Abgrenzung von den Geisteswissenschaften sind in der Mitte des 19. Jahrhunderts bereits weit fortgeschritten. In dieser Situation, in der die Literatur auf der einen und die Naturwissenschaften auf der anderen Seite um die Vorherrschaft auf dem Feld des Wissens vom Menschen konkurrieren, haben die literarischen Figuren, die sich in Kellers Werk naturwissenschaftlicher Verfahrensweisen bedienen, damit selten Glück. Das betrifft Reinhart, der im Sinngedicht als Naturwissenschaftler scheitert und im Selbstversuch beinahe erblindet, ebenso wie Pankraz aus den Seldwyler Erzählungen, der durch seine Anwendung populären physiognomischen Schließens in der Nachfolge Lavaters ausdrücklich nicht davor gefeit ist, von Körperzeichen getäuscht zu werden. In auffälliger Analogie zur Pankraz-Novelle erreicht die Physiognomik als Verfahren des Schlusses vom äußeren Antlitz des Menschen auf seinen inneren Charakter im Umfeld des Tellfests im Grünen Heinrich den Stammtisch und wird dadurch einmal mehr ihrer Beweiskraft beraubt.65 Das künstlerische Scheitern Heinrich Lees in Der Grüne Heinrich schließlich, auf dem der Text besonders in seiner Erstfassung so nachdrücklich insistiert, resultiert auch daraus, dass Heinrich den Wandel des zeitgenössischen Körperverständnisses hin zur physiologisch-funktionalen Zergliederung des vormals allein als vitalistische Ganzheit denkbaren Körpers nur sehr bedingt mitzuvollziehen vermag, woran selbst sein Besuch einer Vorlesung in Anthropologie nichts ändern kann.   In Romeo und Julia auf dem Dorfe wird die Schädelvermessung zum Kinderspiel. Einerseits ist die Puppenprophetie in den komplexen Verweisungszusammenhang der Novelle involviert, andererseits ist sie der einzige Motor, der innerhalb 64  Keller, Gottfried: »Brief an Hermann Hettner vom 03.08.1853«, in: Jahn, Jürgen (Hg.): Der Briefwechsel zwischen Gottfried Keller und Hermann Hettner, Berlin/Weimar 1964, S. 73–78, S. 78. 65  Vgl. Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich (1854/55), hg.v.Walter Morgenthaler u.a., Basel 2005, S. 459.

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der Handlung überhaupt produktiv ist – produktiv allerdings einzig im Zerstören. Indem der Text unterschiedliche Modelle des Generierens von Wissen miteinander konfrontiert, das buchstäblich zergliedernde Wissen der Naturwissenschaft mit dem Wissen der Propheten, entwirft er ein Modell für menschliche Erkenntnisleistungen. Dieses beruht wesentlich auf einer fluktuierenden Prozesshaftigkeit von Wissen, die jedoch voller Brüche ist. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat sich das Bild vom Menschen deutlich gewandelt. Innerhalb der zeitgenössischen Anthropologie avanciert der Mensch als lebendiger Organismus zum Untersuchungsgegenstand und wird in Abkehr von der Anatomie zunehmend über seine Physiologie bestimmt. Als Kernbestandteil der aufkommenden Lebenswissenschaften erwächst die Physiologie dabei zur Leitdisziplin des gesamten Jahrhunderts, sodass mit einigem Recht von einer Physiologisierung der Anthropologie gesprochen werden kann, in deren Rahmen die Bestimmung des Verhältnisses von Physis und Psyche im Zuge der Verwissenschaftlichung des Körpers wieder zu etwas hervorstechend Neuem erklärt wird. Arthur Schopenhauer, der sich wiederholt als brillanter Seismograph der Kultur- und Wissensgeschichte um 1850 erweist, betrachtet die Physiologie zugleich als »Gipfel gesammter Naturwissenschaft und ihr dunkelstes Gebiet«.66 Auf diese Weise bringt er die jedem Paradigmenwechsel innewohnende Dialektik zum Ausdruck. In diesem Kontext betrachtet, führt Kellers Text eine Re-Animation von Wissensformen vor, die wesentlich im Zeichen des Verlachens steht und weit über die Motivebene hinausweist. Das Wissen vom Menschen ist wandelbar, ein Prozess mit offenem Ende. Um sich dieser Tatsache zu vergewissern, bedarf es einer permanenten diskursiven Erprobung und Modifizierung, also einer Re-Animation dieses Wissens. Genau das leistet Kellers Novelle – in mehreren Wiederholungen und mit einem Augenzwinkern.   Keller verkompliziert das Verhältnis zwischen literarischer Darstellung und Realität, indem er erstens über das Spiel und die Ironie das ästhetische Moment jedweder Wissensform vorführt und zweitens mittels der Bezugnahme auf ein naturwissenschaftliches Wissen ein historisch und kulturell spezifisches Körperwissen einführt, dieses aber unmittelbar wieder kontrastiert. Damit hintergeht er die geläufige realistische Auffassung, nach der die Literatur über die Beschreibung der alltäglichen Wirklichkeit hinaus mittels ›Verklärung‹ eine verborgene ideale Wahrheit im Sinne eines Allgemeinen sichtbar machen kann. Demgegenüber konstituiert Kellers Novelle über die Re-Animation von Wissensformen 66 

Schopenhauer, Arthur: »Brief an Julius Frauenstädt vom 12.10.1852«, in: ders.: Gesammelte Briefe, hg.v. Arthur Hübscher, Bonn 1978, S. 295–297, S. 296.

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– seien sie spielerischer, naturwissenschaftlicher oder prophetischer Natur – neue literarisch-anthropologische Wissensformen. Dem Puppenspiel wohnt dabei ein selbstreflexives poetologisches Moment inne. Nimmt man dieses Spiel ernst, bedeutet es nicht weniger als die Infragestellung zentraler Grundfesten des Literatursystems ›Realismus‹.

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Autopsie einer Puppe. Zur Re-Animation in Marijs Boulognes Excavations. The Anatomy Lesson »So. It’s a girl, but she couldn’t live. The situation is, we know nothing with certainty.We don’t know, if she lived a separate existence for a little while or not.The situation is always that we know nothing for sure. And we start by describing what we can see in front of us. All the forms and the colours. What can we see?«1

S

o leitet die Performerin Marijs Boulogne die Autopsie ein, die sie in Excavations. The Anatomy Lesson (2007) an einer Puppe vornimmt. Wie in einem Hörsaal sitzt das Publikum auf einer ansteigenden Tribüne und schaut hinunter auf einen Tisch, auf dem eine Puppenleiche eines Neugeborenen liegt. »This is our baby. Do you see what it is? It’s a girl. A very big girl. Fiftysix centimeters.« Marijs Boulogne erklärt ihre Absicht, das Rätsel des Todes dieses Säuglings aufdecken zu wollen, so wie es die klinischen oder rechtsmedizinischen Autopsien bei unvermuteten Todeseintritten oder unklaren Todesursachen tun: Sie suchen den Grund des Todes. Boulogne trägt einen Operationskittel und sterile Handschuhe. Sie untersucht den Puppenkörper zunächst von außen, von den Schlüsselbeinen aus bis zum Schambein bringt sie mit einem Skalpell einen Y-Schnitt an, wie es für Obduktionen üblich ist, und beginnt, die inneren Organe des Brust- und Bauchraums Stück für Stück zu entnehmen und auf ihre potenzielle Funktionsfähigkeit zu überprüfen. Woran ist das Neugeborene gestorben? Hat es je gelebt? Hätte es leben können? (Abb. 1.)   In vielfacher Vergrößerung ist die Sektion der Puppe auf einer Leinwand zu verfolgen. Eine Assistentin (Julia Clever) begleitet die Autopsie mit der Kamera. 1  Wortlaut der Performance hier und im Folgenden zit.n. einem privaten Mitschnitt Marijs Boulognes.

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Abb. 1. Marijs Boulogne: Excavations. The Anatomy Lesson.

Sie folgt mit einem Endoskop ins Innere des Puppenkörpers, zoomt immer näher an Organe und Gewebe heran und macht deren Inneres sichtbar. So wird diese Säuglingspuppe zu einer anatomischen Puppe. Sie ist in Handarbeit gefertigt. Haut und innere Organe sind gehäkelt, gestrickt, gefilzt, verwoben und vernäht: Aus bräunlichem Filz die Haut, aus dunkelrotem und braunem Garn die kleinen Adern, aus grober roter Wolle das gestrickte Herz, eingeschlagen in Spitze der Herzbeutel. Mit dem Zoom-in der Kamera werden aus Garn Adern, aus dunkelblauem Filz werden Druckstellen, aus einem gestrickten Schlauch Lungengewebe, aus dem Lichteinfall Follikel im Eierstock. In vielfacher Vergrößerung wirken Filz und Garn wie Haut und Blut, wirkt das gestrickte Herz wie Muskelfleisch. »Look!« Das Publikum wird immer wieder aufgefordert: »Look, the liver!«, »Look, the pancreas!« und »Look the heart!« Organe aus Stoff und Wolle sind – wie auch fleischliche Organe – Gewebe. So werden die anatomische Puppe als Produkt aufwendiger Handarbeit und die anatomischen Körperbilder überblendet. Die Puppe changiert zwischen Strickarbeit und Organischem.   Boulogne beginnt, Körpermale zu lesen: Die große Plazenta und die lange Nabelschnur weisen auf eine zehnmonatige Schwangerschaft hin. Blaue Zunge, graue Hautverfärbungen und weiße Flecken auf dem Herzen sind Zeichen des Todes. Die Schwellungen am Nacken verweisen auf eine schwierige Geburt. 228

Autopsie einer Puppe

Abb. 2. Marijs Boulogne: Excavations. The Anatomy Lesson.

Die rote Stelle am Kopf ist eine hohe Konzentration von Adern, ein Storchenbiss, die grünlichen Flecken am Unterleib das durchscheinende Kindspech. Nur in einem Lungenflügel lassen sich Blutansammlungen nachweisen. Die Lunge ist nicht auseinandergefaltet, der Säugling hat nicht geatmet. Warum, lässt sich nicht bestimmen. Vielleicht kam es zur Strangulation durch die Nabelschnur. Dafür sprechen rote Striemen am Hals. Diese könnten aber auch vom Druck des schweren Köpfchens kommen. Die Todesursache lässt sich nicht feststellen: Es sind weder physische Mängel noch äußere Gewalteinwirkung nachweisbar. Das Körperinnere weist kein klärendes Zeichen auf. Es ist keine medizinische Todesursache zu ergründen. Die Autopsie hat keine Antwort auf diese Totgeburt, sie führt ins Leere. Excavations – ›Aushöhlung‹ – hat Boulogne ihre Arbeit betitelt.   Behutsam handhabt Boulogne die Puppe, hebt das Köpfchen, umfasst die kleinen Füße, dreht sie vorsichtig, als bette sie einen Säugling – oder eine Leiche. Sie schneidet die Haut des Puppenkörpers auf, öffnet die Bauchdecke und entnimmt die Organe. Zu ihrer Handhabung der Puppe gehört auch die Inszenierung der Sichtbarmachung des Inneren der Puppe, durch ihr Öffnen, aber auch durch das endoskopische Bild. Die Bilder des Puppeninneren auf der Leinwand und die Aufforderung, darin innere Organe eines Neugeborenen zu sehen, halten das Publikum an, einen menschlichen Körper wahrzunehmen und so am Puppenspiel zu partizipieren (Abb. 2). 229

Friederike Thielmann

Offene Manipulation nennt man es, wenn Puppenspieler gemeinsam mit ihrer Puppe auftreten und so ihre Animation der Puppe offenlegen. Puppe und Puppenspieler sind beide auf der Bühne exponiert. Das Puppenspiel umfasst also auch die Handhabung der Puppe. Boulogne setzt offene Manipulation und offene Sichtbarmachung als Verfahren des Puppenspiels ein. Dabei sind ihre Handgriffe und ihre Visualisierungstechnik Verfahren der Anatomievorlesung. Was Boulogne vorführt, ist die Anatomiestunde als Puppenspiel und die Autopsie als Belebung einer Puppe.   Puppenspiel lebt von der Animation lebloser Objekte. »Gemeinhin wird der Animationsprozess im Puppentheater als Vorgang der Verleihung von Wesenseigenschaften an das leblose Objekt (Puppe) durch das tätige Subjekt (Puppenspieler) charakterisiert«,2 schreibt Gerd Taube. »Dazu soll das Objekt dynamisiert, seine stoffliche Statik, seine Passivität und seine Indolenz durch seine Bewegung aufgehoben werden. Damit werden dem Objekt Puppe nicht nur Wesenseigenschaften verliehen (es bewegt sich, es reagiert, es bewegt sich scheinbar selbständig), in der Folge lässt sich das leblose Objekt als scheinbar lebendig imaginieren, wodurch es im theatralen Zusammenhang als Subjekt agieren kann.«3

Die Puppe in Excavations jedoch wird nicht einfach animiert und als lebendig imaginiert. Boulognes Animationsprozess besteht nicht darin, die Puppe als lebendiges Wesen in Erscheinung zu bringen: Sie reagiert nicht, sie scheint sich nicht selbständig zu bewegen, sie spricht nicht, sie scheint kein Schmerzempfinden zu haben usw. Ihr Puppenspiel erweckt die Puppe nicht zum Leben. Es erweckt die Vorstellung, die Puppe sei tot. Der gestrickte Puppenkörper erscheint mehr und mehr als Leiche. Dieses Puppenspiel als Leichenschau einer Anatomy Lesson betreibt die Anatomiestunde als anatomisches Theater, wie es sich in der Renaissance entwickelte.

Anatomisches Theater Im Laufe des Umbruchs anatomischer Wissensproduktion in der Renaissance begann sich die Autopsie als Theater zu organisieren. Dienten bis dahin universitäre Sektionen jahrhundertelang als Garanten der unangefochtenen Autorität der Schriften Galens, etablierte sich im 16. Jahrhundert ein empirischer Ansatz 2  Taube, Gerd: »Bilderzauber und Trauerzeremonie. Anmerkungen zur Geschichte des Puppenspiels«, in: Brendenal, Silvia (Hg.): Animation fremder Körper, Berlin 2000, S. 10–13, S. 13. 3  Ebd.

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Autopsie einer Puppe

anatomischer Wissensproduktion. Die Kathederanatomie des Buchwissens wurde durch das Lesen aus dem Wissensobjekt Leiche abgelöst.   Während bis dahin der dozierende Anatomieprofessor erhöht an einem Buchpult saß und aus einem Anatomietraktat vorlas, war die Leiche unterhalb des Pultes auf einem Sektionstisch platziert. Sie wurde nicht vom Anatomieprofessor selbst, sondern von einem Prosektor nach dessen Anweisungen aufgeschnitten. Ordnete sich die anatomische Vorlesung der Kathederanatomie um das Buch an, so rückt im Laufe des 16. Jahrhunderts die Leiche in den Mittelpunkt. Die neue Gewichtung von Buch und Leiche ist daher auch aus der neuen räumlichen Anordnung von anatomischen Hörsälen abzulesen. Diese wurden nun als Theater nach dem Vorbild des Amphitheaters konzipiert. Das anatomische Theater exponiert mittig auf der Bühne die Leiche und an ihrer Seite den Anatomieprofessor, der nun eigenhändig seziert. Die Bühnenmitte des Theatrum anatomicum ist umringt von ansteigenden Zuschauerrängen, von denen aus die Leiche gut einsehbar ist. Das sich auf eine Öffentlichkeit ausweitende Publikum der Anatomievorlesung wird nun stärker als zuschauendes denn als zuhörendes angesprochen. Durch die Architektur partizipierte jeder mit eigenen Augen an der Sektion.4   Um 1600 entwickelte sich ausgehend von Italien bis ins späte 18. Jahrhundert hinein das anatomische Theater als gesellschaftliches Spektakel während der Karnevalszeit. Eine öffentliche Zergliederung dauerte drei bis zehn Tage und folgte einer gewissen Dramaturgie, zu der auch Musik und die Vivisektion von Tieren gehörten. Das anatomische Theater produzierte anatomische Präparate auf spektakuläre Weise.5 In den Händen des Anatoms entstand mit dem Präparat ein neues anatomisches Körperbild. Diese neue anatomische Praxis lässt sich als ein Verfahren der Überführung der Leiche in ein Bild beschreiben. In Andreas Vesalius’ Anatomieatlas De humani corporis fabrica libri septem aus dem Jahr 1543 sind das anatomische Theater und seine Produktion von Präparaten eindrücklich in Szene gesetzt. Systematisch wird bei Vesalius die vorgenommene Zergliederung von Leichen und das Öffnen der Körper als neue Visualisierungstechnik beschrieben. Die Fabrica führt die Autopsie als Bildgebungsverfahren ein. 4 

5 

Eine Beschreibung eines anatomischen Theaters findet sich bereits in Alessandro Benedettis Historia corporis humani sive anatomice aus dem Jahr 1502. Dieser forderte ein Theatrum anatomicum nach dem Vorbild der Architektur des Kolosseums in Rom oder der Arena in Verona. Anatomische Theater wurden zunächst als temporäre Bauten aus Holz verwirklicht. 1594 entstand das erste permanente anatomische Theater in Padua.Vgl. Richter, Gottfried: Das anatomische Theater, Berlin 1936. Zum Paradigmenwechsel in der anatomischen Praxis der frühen Neuzeit vgl. Buschhaus, Markus: Über den Körper im Bilde sein. Eine Medienarchäologie anatomischenWissens, Bielefeld 2005, S. 69. Vgl. Bergmann, Anna: Der entseelte Patient, Berlin 2004, S. 175ff.

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Friederike Thielmann

Abb. 3. Andreas Vesalius: De humani corporis fabrica libri septem, Titelbild.

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Autopsie einer Puppe

Dieser Anatomieatlas besteht aus sieben systematisch geordneten Büchern über Osteologie, Myologie, die Gefäße, die peripheren Nerven, den Bauchsitus, die Brustorgane sowie den Schädel und das Gehirn, die zusammen die Anatomie des gesamten Menschen beschreiben sollen. Waren bisher anatomische Abbildungen illustrativ zum Text eingesetzt worden oder hatten rein dekorative Funktion, so sind hier anatomische Abbildungen zentraler Bestandteil der Wissensgenerierung. Nach dem neuen anatomischen Selbstverständnis Vesalius’ liegt das anatomische Wissen im Bild, der Text wird diesem erklärend beigefügt.6   Das berühmte Titelbild der Fabrica zeigt Vesalius bei einer öffentlichen Sektion einer Frauenleiche in einem anatomischen Theater (Abb. 3). Der Betrachter sieht in das Halbrund eines Raumes, der mit ansteigenden Rängen versehen und in der oberen Hälfte von einer Kolonnadenreihe umschlossen ist, auf der eine Galerie verläuft. In der Mitte steht Vesalius am Seziertisch, auf dem eine weibliche Leiche mit geöffnetem Bauchraum liegt. Vesalius’ Blick ist auf den Betrachter des Titelbildes gerichtet, mit der rechten Hand deutet er auf das Innere der Leiche, die Linke hat er dozierend erhoben. Um den Seziertisch und in den Rängen drängen sich lebhaft die Zuschauer, Einzelne sind zwischen den Kolonnaden zu sehen, schauen von der Galerie herunter oder sitzen gar unter dem Sektionstisch. Das neuartige Spektakel der inneren Leichenschau wird vom Publikum durch Vordrängen und Abwenden, angeregtes Diskutieren oder den Blick in ein Buch kommentiert. Ein Sensenmann thront als Memento mori in der Bildmitte. Dieser Querschnitt eines anatomischen Theaters weist in seiner perspektivischen Verkürzung und der Adressierung durch Vesalius auch dem Betrachter des Bildes einen Platz in den Zuschauerrängen an. Auch ihm wird die Fabrikation von Präparaten vorgeführt. Auch er nimmt an der Präparierung mit eigenen Augen teil.   In der Fabrica findet sich ein Autorenporträt Vesalius’ (Abb. 4). Es zeigt den Anatom beim Präparieren eines Unterarms. Der Anatom ist am Seziertisch in leichter Drehung zum Betrachter des Bildes abgebildet, auf den er wieder seinen Blick richtet. Seine Linke hält den offengelegten Unterarm am Ellenbogen, wo der vertiefende Schnitt angesetzt wurde. Seine Rechte hält die äußere Spitze der Hauthülle der Finger – als hätte er gerade die Haut des Unterarms abgezogen. Auffällig ist die aufrechte Positionierung der am rechten Bildrand abgeschnittenen Leiche, die zudem übergroß erscheint. Das Präparat wirkt äußerst plastisch. Auf die Schulter fallende Locken und ein in kunstvolle Falten gelegter 6 

Heute noch sind die Bilder der Fabrica bekannt, während der Text nie komplett in eine moderne Sprache übersetzt wurde. Zum Text-Bild-Verhältnis in der Fabrica vgl. Fichtel, Folker: Die anatomische Illustration in der frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 2006, S. 200ff.

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Friederike Thielmann

Abb. 4. Andreas Vesalius: De humani corporis fabrica libri septem, Autorenporträt.

Lendenschurz erwecken zusätzlich den Anschein einer Statue. Der Anatom arbeitet – so wird hier nahegelegt – wie ein Bildhauer. In seinen Händen wird der Leichnam zur Skulptur. Auf dem Tisch liegen Seziermesser und Schreibzeug. Sie sind mit gleicher Gewichtung ins Bild gesetzt, sodass Vesalius sowohl als Autor des Buches7 als auch als Autor der Sezierten erscheint. So präsentiert sich das Autorenporträt auch als Künstlerselbstporträt.8 Nicht nur die Präparate entstehen direkt am Seziertisch, auch die anatomischen Abbildungen der Fabrica sind ein Produkt der anatomischen und künstlerischen Bearbeitung der Leiche.9   Diese bildhauerische Arbeit ist in den osteologischen und myologischen Tafeln des ersten und zweiten Buches der Fabrica eindrucksvoll in Szene gesetzt. Trotz 7 

8  9 

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Zu den Autorisierungsstrategien in der Fabrica vgl. Pozsgai, Mathias: »Unmittelbare Vermittlung. Anatomie und Autorschaft in De humani corporis fabrica (1543)«, in: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 5/3 (2001), S. 254–282. Vgl. Zittel, Claus: Theatrum philosophicum. Descartes und die Rolle ästhetischer Formen in der Wissenschaft, Berlin 2009, S. 253. In der Fabrica ist kein Autor der anatomischen Abbildungen genannt. Wahrscheinlich ist eine Zusammenarbeit Vesalius’ mit Stephan van Kalkar für die anatomischen Bilder. Vgl. Fichtel, Die anatomische Illustration, S. 298ff.

Autopsie einer Puppe

Abb. 5. Andreas Vesalius: De humani corporis fabrica libri septem, Siebte myologische Tafel.

zergliederten Zustands zeigen diese Tafeln ausdrucksstarke Ganzkörperfiguren vor einer Landschaftskulisse. Ein Knochenmann schaufelt sich das eigene Grab, einer findet sich in melancholischer Geste über einen Schädel gebeugt, einer in trauernder Haltung. So agieren die Skelette in ihrer anatomischen Darstellungsweise wie lebende Figuren. »Die anatomische Transformation der Leiche in ein Präparat brachte den Tod am Objekt des Körpers zum Verschwinden, indem er durch seine künstlerische Präsentation in eine Dimension des Lebendigen gerückt wurde (sog. Lebendige Anatomie)«,10

schreibt Anna Bergmann. Die Darstellungsweise der Lebendigen Anatomie befreit den Leichnam von seiner sterblichen Materie. Der Anatom gibt ihm einen lebendigen Körper, »der Leichnam avancierte zum Modell des Lebendigen«.11 10  Bergmann, Anna: »Massensterben und Todesangst im 17. Jahrhundert. Zur rituellen Leichenzergliederung im Anatomischen Theater«, in: Fischer-Lichte, Erika (Hg.): Theatralität und die Krisen der Repräsentation, Stuttgart/Weimar 2001, S. 316–336, S. 335. 11  Ebd., S. 325.

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Als idealisierte Körpermodelle weisen insbesondere die Muskelmänner der vierzehn myologischen Tafeln auf die skulpturale Körperkunst der Renaissance hin, die sich am apollinischen Vorbild orientiert. Während die Knochenmänner als Vanitas-Motive auftreten, verkörpern die écorchés programmatisch die Darstellungsweise der Lebendigen Anatomie (Abb.  5). Eindrucksvoll werden die Muskelmänner als lebende anatomische Präparate inszeniert: Über die vierzehn Tafeln hinweg vollzieht sich sukzessive die Sektion des Körpers, zunächst in Vorder-, dann in Rückenansicht. Während die Figuren anfangs noch vor Muskelkraft strotzen, werden sie mit schwindenden Muskelschichten immer instabiler, bis sie schließlich von Seilen gehalten werden oder sich an eine Mauer anlehnen müssen. Diese Tafeln führen im Zeitraffer eine Sektion vor, die vom Betrachter des Atlanten (mit-)vollzogen werden kann.12 Beim Weiterblättern führt der Atlas Schicht für Schicht die Enthäutung und Skelettierung des Sektionsprozesses auf. So führt die Fabrica die Sektion als Bildgebungsverfahren sowohl ein als auch – selbst als anatomisches Schauspiel konzipiert – vor. Die Muskelmänner der Fabrica führen einen makabren Tanz auf. Sie bieten ein Schauspiel des anatomischen Theaters. Die Darstellungsweisen der Lebendigen Anatomie erinnern an Taubes Definition des Animationsprozesses im Puppenspiel. Die ›stoffliche Statik‹, ›Passivität‹ und ›Indolenz‹ der anatomischen Figuren sind in der Bewegtheit aufgehoben: Sie erinnern an ein Puppenspiel. Der Anatom erscheint im anatomischen Theater wie ein Puppenbauer, der in der Sektion seine Puppen zum Leben erweckt. Autopsie ist Animation von Leichen. Der Anatom als Puppenspieler animiert in der Sektion anatomische Figuren wie Puppen im Puppenspiel.

Anatomische Puppen Als Puppe diskutiert auch Christina Lammer in ihrer Studie Die Puppe. Eine Anatomie des Blicks das anatomische Körperbild, das sich am lebenden Körper orientiert. Das Produkt des anatomischen Schauspiels der Renaissance sei die Puppe: »Gleichzeitig zerlegt und als Einheit treten die Puppen in der Welt des Theaters auf die Bühne. Die Fäden, die diese Wesen bewegen, ziehen Künstlerphilosophen«,13 schreibt sie und setzt damit den Beginn der Produktion anatomischer Puppen bei den sezierenden Künstlern und künstlerisch arbeitenden Anatomen der Renaissance an. Sezierende Künstlerphilosophen wie Leonardo da Vinci, Michelangelo und Albrecht Dürer studieren Leichen zur Darstellung des Lebens. Die skulpturale Körperkunst der Renaissance basiert 12  Vgl. Fichtel, Die anatomische Illustration, S. 220. 13  Lammer, Christina: Die Puppe. Eine Anatomie des Blicks, Wien 1999, S. 43.

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Autopsie einer Puppe

auf dem Studium der Leichen mit dem Ziel, einen Körper möglichst lebendig darzustellen. Die Lebendige Anatomie findet nach Lammer ihre Weiterführung in den Wachspuppen des 18. Jahrhunderts und in bildgebenden Verfahren der Anatomie wie Röntgen, Ultraschall, Computertomographie und Magnetresonanztomographie im 20. Jahrhundert. Alle diese anatomischen Körperbilder werden von den Anatomen wie Marionetten an Fäden hängend als lebendig dargestellt: Was die Autopsie schaffe, seien keine Bilder als Abbildungen, sondern als Neuschöpfungen – lebende Geschöpfe, die tatsächlich lebende Körper formen. »Mit den Renaissance-Geschöpfen steht die göttliche Schöpfung in Frage, der Mensch erschafft sich erstmals selbst.«14 Lammer definiert diese Puppenkörper, diese Neuschöpfungen als Projektionsflächen. Sie bestehen aus dem projizierten Körperbild der Anatome: »Die Anatomie bringt den Körper als Projektionsfläche hervor – als Puppe.«15 Gleich welcher materiellen Beschaffenheit die anatomische Puppe auch sei – ob Holzschnitt,Wachsfigur, Röntgenbild oder Pixel und Voxel –, das Paradigma des Lebendigen ist für Lammer die Projektionsfläche, die allen diesen Puppenkörpern gemeinsam sei.16 Dabei schneidet die Projektionsfläche alle Verbindungen zu einer materiellen Körperlichkeit der Leiche ab. Sie leugnet ihre Bedingtheit durch die Leiche. Die Puppe behauptet einen Bezug zum lebendigen Körper. Um als lebendige Puppe zu gelten, muss sie den toten Körper verdrängen. Die Puppe bringt demnach die Leiche, aus der sie gewissermaßen herausgeschnitten ist, zum Verschwinden. Der Anatom, so Lammer, eignet sich die Leiche als Körperbild an und eliminiert auf diese Weise den toten Körper.17 Damit wird auch der Animationsprozess im anatomischen Körperbild – in der anatomischen Puppe – verblendet. So entfalten anatomische Puppen das Paradigma des Lebendigen.   Boulogne führt in Excavations anatomisches Theater als Puppenspiel vor, indem sie eine Puppe seziert. Diese anatomische Puppe stellt sich durch die anatomische Detailtreue der Strickpuppe und den Authentizitätseffekt des endoskopischen Bildes her. Doch mit dem Authentizitätseffekt geht zugleich eine Inszenierung des Artefakts einher. Hier treten Material und Fabriziertheit der Puppe 14  Ebd. 15  Ebd., S. 13. 16  Darüber hinaus problematisiert Lammer, dass durch die Rückwirkung dieses Paradigmas des lebendigen auf die realen Körper die Trennschärfe eines menschlichen Körpers und einer anatomischen Puppe gefährdet sei. Dem lebenden menschlichen Körper drohe der Verlust seines somatischen Körpers, auch er würde zum Projektionsmodell. In diesem Zusammenhang spricht sie von »Verpuppungen des menschlichen Daseins«. Lammer, Die Puppe, S. 13. 17  Vgl. das Kapitel »Anatomische Schauspiele« in: ebd., S. 46ff. Zur Geschichte des anatomischen Theaters als Opferakt im Zusammenhang mit dem frühneuzeitlichen Strafritual und dessen Weiterentwicklung in der experimentellen Medizin vgl. Bergmann, Der entseelte Patient.

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– trotz oder gerade in ihren Echtheitseffekten des erscheinenden Organischen – hervor. Boulognes Autopsie betont die Handanfertigung der Puppe: Die herausgenommenen Organe werden als kostbare Handarbeiten präsentiert, und ihre Kunstfertigkeit wird bewundert. Auch das endoskopische Bild zeigt Detailaufnahmen, die die Schönheit der gestrickten Organe in Szene setzen. Im endoskopischen Eindringen in den Körper bis ins Innere der Organe zeigen sich den Zuschauern feinste Verästelungen und Verfaserungen des Gewebes, Farbeffekte und anmutige Lichtspiele. So attestiert Boulogne nach der eingehenden Betrachtung der Herzmuskulatur, deren Verfärbungen und Gewebestrukturen: »It’s a very beautiful heart!« So sind die Lungen des kleinen Körpers erstaunlich, die Follikel im Eierstock wunderbar und die Milz fantastisch. Diese Autopsie inszeniert die sorgfältig ausgesuchten und liebevoll verarbeiteten Materialien der Puppe, ihre aufwendige Fabrikation, über die auch Abendspielzettel, Dokumentationen, Artikel und Interviews Auskunft geben.18 Boulognes Autopsie bringt die Schönheit dieser Puppe hervor. Ihr liebevoller, beinahe zärtlicher Umgang mit der Puppe19 und das Herausstellen ihrer Schönheit gelten nicht allein dem dargestellten Säugling, sondern gelten insbesondere der aufwendigen Herstellung dieser beeindruckenden Handarbeit. Boulognes Puppe ist zwar offensichtlich ein fabriziertes Wesen, doch ist sie weniger als Neuschöpfung, denn als Nachbau einer Leiche zu sehen. Sie kreiert kein neues Wesen aus einer Leiche, sondern ein Wesen, das der Leiche nachspürt. Dieser Nachbau Boulognes lässt die Leiche nicht verschwinden. Als Nachbau einer Leiche sperrt sich diese Puppe dagegen, als Modell des Lebendigen zu gelten. Sie widersetzt sich der Darstellungsweise der Lebendigen Anatomie. Der Nachbau einer Leiche trägt bereits den Verlust des Vergangenen in sich, setzt vergangenes Leben voraus. Bei 18  Laura Karreman beschreibt in ihrer Dokumentation von Excavations Boulognes Fabrikation des Puppensäuglings: »The preparation of this project took a couple of years. Boulogne experimented with imitating little pieces of skin and organs. [...] Boulogne made an enourmous effort to create all the baby’s organs in full anatomical detail, and to correctly shape its little bones out of salt dough. For more than a year she studied anatomical manuals and read accounts of surgeons to learn about the organs she was imitating, and to become acquainted with the vocabulary of the medical discourse. Travelling frequently, she kept working on the baby. She made the placenta in Copenhagen, the kidneys in Italy, and continued her work on the intestines in Sydney. As the features of the baby began to grow, she started to get inquiring looks when screening her baggage at customs.« Karreman, Laura: »Excavations. Fresh but Rotten«, in: Bleeker, Maaike (Hg.): Anatomy Live. Performance and the Operating Theatre, Chicago 2008, S. 67–74, S. 68. 19  Karreman sieht im liebevollen Umgang mit dem Neugeborenen die Mutter des Babys: »In performing the role of Moedere Hein, Marijs Boulogne represents both the mother of the baby and the pathologist who is conducting the autopsy. The combination of these roles in one actor’s character has a complex effect, due to their contrasting qualities. [...] By creating this double character, Boulogne challenges the emotional detachment that is usually associated with medical practice.« Ebd. S. 69f.

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Autopsie einer Puppe

der Trauer um diesen Verlust setzt Boulognes Puppenspiel an. Ihre Arbeit ist Arbeit an der Trauer.20 In der Überblendung von Strickarbeit und Organischem wird eine leichenhafte Erscheinung der Puppe erzielt. Boulognes Puppenspiel ruft die Puppe nicht ins Leben, es ruft mit der Puppe den Tod auf. Ihre Animation der Puppe besteht nicht darin, diese als lebendig in Erscheinung treten zu lassen oder sie gar als lebend zu behaupten, vielmehr inszeniert sie den Verlust ihres Lebens: Ihr Puppenspiel erweckt die Puppe nicht zum Leben; es erweckt die Vorstellung, die Puppe sei tot. In der Stellvertretung, Dopplung oder Simulation des Leichenkörpers überblendet diese Puppe nicht die Leiche, sie überschreibt sie nicht, sondern macht sie sichtbar. Während Lammer den toten Körper im anatomischen Theater der Renaissance durch die Überführung ins Bild zum Verschwinden gebracht sieht, wird die Leiche in Excavations selbst als rätselhafte bildhafte Erscheinung wieder ausgegraben. Diese ist zugleich Körper und Bild.   Den Zusammenhang zwischen dem Leichenkörper und dem Bild beschreibt Maurice Blanchot in seinem Essay Die zwei Fassungen des Bildlichen. Es ist die Befremdlichkeit, die beide zusammenführt. »Auf den ersten Blick ähnelt das Bild nicht dem Leichnam, doch es könnte sein, dass die Befremdlichkeit des Leichnams auch die des Bildes ist.«21 Die Gegenwärtigkeit des Körpers macht im Sterbeprozess eine Wandlung durch, die als Bildwerdung fassbar wird. Doch die Bildhaftigkeit der Leiche ist, so Blanchot, an den befremdlichen Körper der Leiche, dieses »in der Abwesenheit anwesenden Wesens«22 gebunden. Der bildhafte tote Körper weist noch auf den ehemals lebenden Körper. Im Moment des Sterbens »beginnt nun auch der bedauerliche Verstorbene sich selbst zu ähneln«.23 Und weiter schreibt Blanchot: »Der Leichnam ist sein eigenes Bild.«24 Im Modus dieser Bildhaftigkeit als Selbstähnlichkeit ist er von rätselhafter Schönheit: »Ja, das ist er wohl, der liebe Lebende, doch er ist zugleich mehr als er, er ist schöner, stattlicher, schon monumental und so vollkommen er selbst, dass er wie von sich gedoubelt ist, durch die Ähnlichkeit und durch das Bild zu seiner feierlichen Unpersönlichkeit vereint.«25 20  Karreman schreibt: »A physician told Marijs Boulogne how he fell into a depression for years after having suffered the loss of his newborn baby. ›How can it be that he, as a physician, does not have an answer to that?‹ After ten months of work, when she finished the head and attached it to the body, she was herself astonished. The baby was beautiful. But it was also the saddest thing she had ever seen.« Ebd., S. 67. 21  Blanchot, Maurice: »Die zwei Fassungen des Bildlichen«, in: Macho, Thomas; Marek, Kristin (Hg.): Die neue Sichtbarkeit des Todes, München 2007, S. 25–36, S. 27. 22  Ebd., S. 29. 23  Ebd. 24  Ebd. 25  Ebd.

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Sein Körper erfährt in seiner »befremdlichen Gegenwärtigkeit« eine bildhafte Belebtheit. Diese Belebtheitsform beschreibt Blanchot durch die Vorsilbe ›un-‹: Der tote Körper ist unheimlich, unpersönlich, unbrauchbar und unzugänglich, kurz ein Unbekannter, der ans Unbestimmte rührt. In ihrer »belebenden Verneinung«26 ist die bildliche Erscheinung der Leiche, die in der Vorsilbe ›un-‹ jegliche Aneignung durchstreicht, wesentlich befremdlich. Blanchot schreibt: »Der Leichnam ist die Wiederspiegelung, die sich zum Herrn und Meister des wiedergespiegelten Lebens macht, es absorbierend, sich substanziell mit ihm identifizierend, indem er es [...] zu einem unglaublichen – unbrauchbaren und neutralen – Ding übergehen lässt.«27

Dem Leben gegenüber ist der Leichnam Absorptionskörper. Als solcher saugt er das Leben auf. Er verneint jegliche anima, ist die Rücknahme, ein Einzug des Lebens, ist Re-Animation.   Boulognes Einsatz der Animation einer Puppe erzeugt eben jenen Effekt der Absorption von anima, wie ihn Blanchot für das Sterben beschreibt. Die anatomische Puppe in Excavations erscheint als Leiche. In ihrem Belebungsprozess absorbiert sie zugesprochenes Leben. Erst darin wird die Leiche sichtbar. Die anatomische Puppe wird als Absorptions-, nicht als Projektionskörper vorgestellt. Die Rätselhaftigkeit, die als befremdliche Schönheit inszeniert wird, zeigt eben die befremdliche Gegenwärtigkeit an, wie sie Blanchot für den Leichnam bestimmt. Während im anatomischen Theater Vesalius’ die Leiche als Skulptur oder Puppe ins Verhältnis zum lebenden Körper gesetzt wird, wird bei Boulogne die Puppe im Belebungsprozess als toter Körper verhandelt. Boulognes Animation der Puppe ist nicht ihre Überführung in eine bildliche Projektionsfläche. Boulognes Animation der Puppe ist ihre bildhafte Erscheinung im Sinne Blanchots. Boulognes Puppe »riskiert, [...] auf die Abwesenheit als Anwesenheit zu verweisen«.28

Autopsie einer Puppe Boulognes anatomisches Theater nimmt auf der Suche nach der Todesursache eines Neugeborenen eine Autopsie an einer Puppe vor. Boulogne seziert: Sie schneidet sie mit einem Skalpell auf. Dem Messer folgt das Endoskop, das ein Videobild auf die Leinwand bringt. Mit Hilfe digitaler Übertragungstechnik 26 27 28

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Ebd., S. 35. Ebd., S. 29f. Ebd., S. 35.

Autopsie einer Puppe

erscheint das Bild des Inneren des Puppenkörpers auf einer Leinwand. Ein anatomisches Körperbild in der Tradition der lebendigen Anatomie wird produziert. Das digitale Körperbild auf der Leinwand wirkt belebt. Doch das Videobild überblendet den materiellen Körper der Puppe nicht. Diese Sektion ist keine gewaltvolle Vernichtung einer Leiche. Hier wird nicht zerfleischt, es findet keine restlose Fragmentierung statt, und es wird kein neues Geschöpf kreiert. Sowohl das Lebendigkeitsphantasma der Anatomievorlesungen als auch die pathologische Untersuchung der Todesursache laufen ins Leere. Boulognes Anatomy Lesson bringt weder ein lebendiges Wesen hervor, noch findet die Untersuchung einen Grund für den Tod. Beide Wissenspraktiken führen nicht zu erwarteten Ergebnissen, sondern hinterfragen diese. Boulogne inszeniert sich nicht als Bildhauerin, die das Leben zu visualisieren weiß, oder als Pathologin, die der Todesursache auf die Spur kommen will, sondern als Puppenspielerin, die dem Rätsel der Leiche nachspürt.   Boulogne nimmt die bildgebenden Verfahren der Autopsie auf. Sie setzt sie als Animationstechnik des Puppenspiels ein. Doch diese Autopsie der Puppe ist eine Animation zur Leiche. Damit höhlt Boulogne die herkömmliche Auffassung vom Puppenspiel als Animation von Puppen, wie sie Taube beschrieben hat, aus. Hier werden weder ›Statik‹, noch ›Passivität‹ oder ›Indolenz‹ der Puppe im Spiel aufgehoben. Im Gegenteil werden gerade diese körperlichen Eigenschaften der Puppe durch die Autopsie herausgearbeitet. Es ist gerade die rätselhafte Passivität dieser Puppe, die sie als toten Körper erscheinen lässt.   Somit wird auch die anatomische Puppe als ›Modell des Lebendigen‹, wie sie sich seit der Renaissance herauskristallisiert, infrage gestellt. Boulogne stellt in Excavations die Animationstradition der Autopsie zur Disposition. Ihre Animation ist keine Projektion einer ideellen Neuschöpfung, wie Lammer es für die Tradition der Animation von Leichen im anatomischen Theater herausgearbeitet hat. Boulogne operiert nicht anstelle der Leiche mit Bildern lebender Körper. Sie produziert keine Projektionsfläche, sie markiert einen Absorptionskörper. Erst darin wird die Leiche als bildhafte Erscheinung sichtbar. Ihre Animation der Puppe zur Leiche ist eine ›belebende Verneinung‹: Diese Autopsie weiß keine Antwort auf die Totgeburt, sie produziert eine Totgeburt. Hierin treffen sich Animation von Puppe und Erscheinung der Leiche.   In dieser Performance ereignet sich der Einzug oder auch der Rückzug des Lebens in den Puppenkörper. Hier lässt sich beobachten, was Blanchot beschreibt: Der Leichnam absorbiert das Leben. Die Verfertigung der Puppe zur Leiche in der Autopsie dieser Performance setzt immer nur den Prozess des Aufsaugens alles Lebendigen in Gang. Die Autopsie der Puppe animiert diese nicht im Sinne 241

Friederike Thielmann

der Zuschreibung von Leben, sondern in der Thematisierung des Verlusts von Leben. Die Autopsie dieser Puppe ist Re-Animation. Es ist die Absorption, die das ›Re-‹ in die Animation einführt. Das ›Re-‹ steht hier nicht für Formen der Wiederholung, ›Re-‹ steht für eine Form der Zurücknahme.29   Der Rückzug von anima wird erst in der Animation sichtbar. Insofern sind die Verlebendigungsstrategien in der Vorführung des anatomischen Theaters als Puppenspiel notwendige Verfahren, um den Puppenkörper als Leben absorbierenden zu markieren. ›What can we see?‹, fragt Boulogne zu Beginn der Öffnung der Puppe, mit der sie einen Körper eröffnet, den das anatomische Theater vermeintlich verstellt: die Leiche. Damit öffnet sie auch einen Blick auf die Leiche als Ausgangspunkt aller Animationsbestrebungen. Was die Visualisierungstechniken verblenden, ist die Bildhaftigkeit der Leiche, die sich dem Lebendigkeitsphantasma widersetzt. Boulogne zeigt dies durch offene Manipulation und offene Sichtbarmachung an.   Autopsien sind nicht nur pathologische und anatomische Praxis, sondern auch Theater. Anatomiestunden finden nicht nur in Hörsälen von Universitäten und in pathologischen Abteilungen von Krankenhäusern, sie finden auch als Theater statt. Nicht mit einer Aufklärung über den Todesgrund, mit einer Markierung des Grundes des Todes endet Boulognes Anatomy Lesson. Ausgehend vom Bildregime der Projektionen, das das Leben zu konservieren versucht, deckt Boulogne das leichenhafte Bild des Absorptionskörpers auf. Diese Anatomiestunde erteilt den Projektionen eine Lektion. Sie endet mit der Bestattung.

29  Das Präfix ›re-‹ kann sowohl die Bedeutung von ›wieder‹ als auch von ›zurück‹ tragen.Vgl. Kluge, Friedrich: EtymologischesWörterbuch der deutschen Sprache, Berlin/New York 2002, S. 748.

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Anne Fleckstein

Leben ausgraben. Exhumierungen als Momente der Wiederbelebung im Post-Apartheid-Südafrika

»T

he ancestors will turn their backs against you and you will be [sic] bad luck forever if you leave the ANC unhappy.«1 Während des Kommunalwahlkampfes im Mai 2011 ließ es sich der amtierende südafrikanische Präsident Jacob Zuma nicht nehmen, mit der Rache der Ahnen zu drohen, sollten Mitglieder des African National Congress (ANC) ihrer Partei den Rücken kehren. Ahnen sind für einen großen Teil der Bevölkerung in Südafrika allgegenwärtig. Sie sind wesentlicher Bestandteil der Vorstellungen von Person, Leben, Überlieferung und Geschichte. Sie sind präsent im Alltag, sie bestrafen oder beschützen die Lebenden, verbinden sie mit der Vergangenheit und der Zukunft.   Was passiert jedoch, wenn Ungewissheit darüber herrscht, ob jemand gestorben ist oder ob er noch lebt? Seit der Apartheidzeit gelten über 2000 Personen in Südafrika als verschwunden.2 Erst mit der Truth and Reconciliation Commission (TRC) in den 1990er Jahren kamen die Schicksale einzelner ehemaliger Widerstandskämpfer in Zeugenaussagen von Angehörigen und Amnestieanwärtern zur Sprache.3 Während der Zeit des operationellen Mandats der TRC (1996–

1  2 

3 

Berichterstattung vom 12.05.2011, vgl. http://www.iol.co.za/news/special-features/the-zuma-era/ ancestors-will-turn-against-anc-deserters-zuma-1.1068229?showComments=true, 28.02.2012. Diese Zahl ist eine Schätzung ziviler Opferverbände. Laut TRC-Abschlussbericht wurden 477 Personen von der TRC als verschwunden im Sinne des Mandats anerkannt.Vgl. Truth and Reconciliation Commission of South Africa Report (TRC Report), 6. Bd., Kapstadt 2003, S. 159. Die meisten Personen verschwanden in den 1980er Jahren, als die Widerstandsbewegungen besonders gewaltsam unterdrückt wurden, sowie Anfang der 1990er Jahre, als rivalisierende politische Gruppen sich bekämpften. Ein großer Teil ist mutmaßlich im Exil verschwunden, ihr Schicksal unbekannt. Vgl. TRC Report, 6. Bd., S. 512ff.

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Anne Fleckstein

1998) fanden etwa 50 Exhumierungen von Überresten ehemaliger Widerstandskämpfer statt. Diese Aufgabe wird seit 2005 vom Missing Persons Task Team (MPTT), einer speziellen Einheit der Staatsanwaltschaft in Pretoria, fortgeführt.   Die Bedeutung, die das Bergen der körperlichen Überreste für die hinterbliebenen Familien hat, erscheint unter psychologischen Gesichtspunkten verständlich: Erst die Überreste geben Gewissheit darüber, dass eine Person wirklich tot ist, und damit die Möglichkeit für Trauer und Abschied. Zu diesem Aspekt kommen die afrikanisch-kosmologische Vorstellung, dass Verstorbene als Ahnen Teil des Lebens bleiben, sowie die politische Bedeutung hinzu, die der Tod von Widerstandskämpfern hat. Die Exhumierung kann vor diesem Hintergrund zu einem Moment des Wiederbelebens der verstorbenen Person in ihren sozialen Beziehungen werden, welcher an die Materialität der exhumierten Überreste gekoppelt ist. Dieser Grundannahme geht der folgende Artikel nach.

Eingraben Exhumierungen sind der Konterpart von Beerdigungen: Statt einzugraben, wird ausgegraben. Verschwundene Personen, die durch Gewaltregime ums Leben kommen, werden jedoch weniger beerdigt als vielmehr beseitigt. Ihre Leichname werden verbrannt, in Gewässer geworfen, in die Luft gesprengt, verscharrt oder – soweit ihre Überreste gefunden und behördlich erfasst (aber nicht identifiziert) werden – anonym beerdigt. In diesem Sinne besteht eine der wichtigsten Funktionen der Exhumierung von verschwundenen Personen darin, diese danach angemessen bestatten zu können. Es erscheint demnach sinnfällig, vor den Exhumierungen den Stellenwert von Beerdigungen in Südafrika zu untersuchen.   Südafrika ist ein kulturell sehr heterogenes Land mit elf Amtssprachen,4 in dem zwar über 75 % der Bevölkerung einer christlichen Glaubensgemeinschaft angehören, gleichzeitig jedoch der traditionelle Ahnenkult5 unter der afrikanisch4 

5 

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isiZulu (23,8 %), isiXhosa (17,6 %), Afrikaans (13,3 %), Sepedi/Nord-Sotho (9,4 %), Englisch (8,2 %), Setswana (8,2 %), Sesotho (7,9 %), Xitsonga (4,4 %), siSwati (2,7 %), Tshivenda (2,3 %), isiNdebele (1,6 %). Vgl. http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/01-Laender/Suedafrika.html, 28.02.2012. Der Begriff der Tradition muss hier natürlich als eine historische Entwicklung verstanden werden, die im Kontext der kolonialen und postkolonialen Geschichte Südafrikas ebenso ›erfunden‹ und hybrid ist wie auch die Bezeichnung ›afrikanisch-stämmig‹ bzw. ›afrikanisch‹ oder selbst die genealogische Zugehörigkeit zu einem spezifischen Stamm. Zur verdeutlichenden Abgrenzung unterschiedlicher Praktiken wird jedoch auf diese Zuschreibungen im Folgenden zurückgegriffen. Vgl. u.a. Ranger, Terence O.: »The Invention of Tradition in Colonial Africa«, in: Hobsbawm, Eric; Ranger, Terence O. (Hg.): The Invention of Tradition, Cambridge 2003, S. 211–263; Comaroff, Jean; Comaroff, John L.: Of Revelation

Leben ausgraben

stämmigen Bevölkerung in ländlichen wie in urbanen Räumen weiterhin eine große Rolle spielt.6 Beides – christlicher Glaube und traditioneller Ahnenkult – kann in alltäglichen Ritualen, Gegenständen oder Bezeichnungen, in Zeremonien zu lebenszyklischen Ereignissen wie Geburt, Initiation, Heirat und Tod, wie auch in der Vorstellung einer spirituellen Hierarchie nebeneinanderstehen bzw. miteinander verschmelzen, ohne dass es einander infrage stellt.7 Diese Hybridität ist von afrikanischen Theologen als charakteristisch für das afrikanische Christentum bezeichnet worden. Die »dichotomy of the soul«8 wurde beispielsweise von Desmond Tutu wie folgt beschrieben: »We Africans cannot ignore the dead [...]. A Christianity that has no place for them speaks in alien tones.«9   Ahnen sind nach der afrikanischen Vorstellung verstorbene Personen, die nicht in einem Jenseits verschwinden, sondern unsichtbar – ›quasi-physisch‹10 – werden. Sie unterliegen damit nicht mehr den menschlichen Zwängen von Zeit und Raum, sind jedoch weiterhin im Leben der Hinterbliebenen präsent. Der Tod hat nicht den Charakter eines absoluten Bruchs, sondern ist vielmehr der Übergang einer Person von einem Zustand in den nächsten.11 Trotz kultureller oder regionaler Unterschiede lässt sich für den subsaharischen Raum eine fast universal gültige Vorstellung der kosmologischen Hierarchie beschreiben: An höchster Stelle steht ein höheres Wesen, dann folgen übermenschliche Wesen, danach Menschen, Tiere, Pflanzen und Dinge.12 Ahnen werden in der beschriebenen Hierarchie als übermenschliche Wesen aufgefasst, die sich zwei weiteren Hierarchiestufen zuordnen lassen: die zuletzt gestorbenen vier bis fünf Generationen und die höherstehenden, noch mächtigeren, älteren Vorfahren.13

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and Revolution, 2. Bd., Chicago/London 1997. Vgl. Bogopa, David: »Health and Ancestors. The Case of South Africa and Beyond«, in: The Indo-Pacific Journal of Phenomenology 10/1 (2010), S. 1–7, insb. S. 3. »Rites for the dead are simple and omnipresent. The presence of the ›living dead‹ is often acknowledged, particularly at meals or when drinking. Small portions are set aside or spilled on their behalf. In times of extremity, expensive gifts may be offered to them to gain relief or enlist their help.« Partain, Jack: »Christians and Their Ancestors. A Dilemma of African Theology«, in: Christian Century 11 (1986), http://www.religion-online.org/showarticle.asp?title=1078, 28.02.2012. Ebd. Tutu, Desmond: »The Ancestor Cult and Its Influence on Ethical Issues«, Ministry 7 (1969), S. 100. Vgl. Wiredu, Kwasi: »Philosophy«, in: New Encyclopedia of Africa, hg.v. John Middleton und Joseph C. Miller, Detroit 2008, S. 124–129, S. 126. Vgl. Mbiti, John S.: African Religions and Philosophy, Oxford 1989, S. 152f. So kann man vom Ahnenkult durchaus als einer ›afrikanischen‹ Tradition sprechen. Vgl. Wiredu, »Philosophy«, S. 124. Problematisch ist dabei jedoch die präzise Übersetzung der unterschiedlichen Termini, wie Feeley-Harnik hervorhebt: Die sprachliche Bezeichnung ist untrennbar mit unterschiedlichen Erfahrungswelten verknüpft. Vgl. Feeley-Harnik, Gillian: »Death, Mourning, and Ancestors«, in: New Encyclopedia of Africa, hg.v. John Middleton und Joseph C. Miller, Detroit 2008, S. 12–26, S. 17f. Mbiti unterscheidet zwischen den ›lebenden Toten‹ (living-dead) als den jüngeren und den Geistern

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Alle Ahnen stehen als unersetzliche Mittler zwischen den Lebenden und Gott (bzw. einer höheren Macht), wobei es in der Regel die jüngeren Ahnen sind, mit denen die Lebenden direkt kommunizieren.14   Ahnen sind integraler Bestandteil der afrikanischen Gesellschaft, in der Stammes-, Clan- und Familienzugehörigkeiten höchste Bedeutung haben, und gelten in dieser Struktur als die respektiertesten Mitglieder einer Familie.15 Im Kontakt zu den Ahnen fungieren Heiler, sogenannte sangomas, als Medien.16 Sie kommunizieren deren Wünsche, Vorhersagen und Warnungen an die Lebenden und bieten so psychologische, medizinische und spirituelle Hilfe. Sie sind nicht zu verwechseln mit Hexen. Während sich sangomas als helfende Heiler, Wahrsager und Mittler verstehen, wird Hexerei als eine böse Kraft gesehen, welche Menschen töten oder Unglück bringen, aber auch unerlaubten Reichtum und Macht befördern kann. Viele sangomas verstehen sich als witch doctors, d.h. sie können jemanden, der verhext wurde oder dem Hexerei vorgeworfen wird, durch den Kontakt mit den Ahnen heilen.17   Hexen werden, neben anderen Dingen, auch der Nekromantie und des Einsatzes von Leichenteilen verdächtigt, was zu Angst vor dem Missbrauch von Verstorbenen vor deren Bestattung führt.18 Der Einhaltung der rituellen Praktiken vor und während der Beerdigung und der Beaufsichtigung des Leichnams kommen darum größte Bedeutung zu, um dem Verstorbenen einen angemessenen und ungestörten Übergang in den anderen Zustand zu verschaffen und ihn als Ahnen nicht zu verärgern. Das Ausbleiben der Beerdigung oder die Nichtdurchführung der vorgegebenen Praktiken und Gebräuche kann weitreichende Konsequenzen haben:

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(spirits) als den älteren Ahnen. Während Geister nicht mehr individuell benannt werden, sind es im Alltag die lebenden Toten, derer man namentlich gedenkt, denen man Essen bereitstellt, für die man ein paar Tropfen vom Getränk auf den Boden verschüttet oder deren Grab man besonders pflegt. Vgl. Mbiti, African Religions, S. 82ff. Auf isiZulu, der größten Sprachgruppe in Südafrika, heißen die jüngeren Ahnen amadlozi oder amakhosi und die älteren mächtigeren Ahnen umndiki oder umndawo. Vgl. Reeder, Melanie: A Sangoma’s Story. The Calling of Elliot Ndlovu, Johannesburg 2011, S. 185ff. Im englischen Sprachgebrauch in Südafrika wird der Begriff der Ahnen (ancestors) im Allgemeinen für die jüngeren Ahnen verwendet. So wird er in einem großen Teil der wissenschaftlichen Literatur und auch im vorliegenden Aufsatz übernommen. Vgl. Partain, »Christians and their Ancestors«, o.S. Sangoma (isiZulu) ist die geläufigste Bezeichnung für ›traditionelle Heiler‹, die verschiedene Formen des Heilens umfassen kann, die von reiner Kräuterkunde bis Wahrsagerei reichen und teilweise auch durch andere Bezeichnungen, wie inyanga (isiZulu) oder ngaka (Setswana), differenziert werden. Vgl. Thornton, Robert: »The Transmission of Knowledge in South African Traditional Healing«, in: Africa 79/1 (2009), S. 17–34, S. 17.Vgl. auch: Ashforth, Adam: Madumo. A Man Bewitched, Chicago 2000. Vgl. Comaroff, Jean; Comaroff, John L.: »Occult Economies and the Violence of Abstraction. Notes from the South African Postcolony«, in: American Ethnologist 26 (1999), S. 279–303, S. 281.

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Abb. 1. Grabbeigaben, Soshanguve Cemetery, April 2011.

»If they have been improperly buried or were offended before they died, it is feared by the relatives or the offenders that the living-dead would take revenge. This would be in the form of misfortune, especially illness, or disturbing frequent appearances of the living-dead.«19

Auch nach der Beerdigung wird die Fürsorge für die Verstorbenen aufrechterhalten. So ist beispielsweise das Bereitstellen von Getränken und Essen für die Ahnen, bei Mahlzeiten, aber auch auf ihren Gräbern, sehr verbreitet. In manchen Gesellschaften werden die Gräber auf besondere Weise instand gehalten und geschmückt, da die Ahnen dem Glauben nach in den Gräbern wohnen (Abb. 1).20   Die genauen Abläufe und Praktiken von Beerdigungen differieren nicht nur gemäß Volks- bzw. Sprachgruppenzugehörigkeit, sondern auch von Stamm zu Stamm und von Clan zu Clan. Es erscheint somit sehr schwierig, einen einheitlichen Ablauf von Bestattungsritualen in Südafrika zu skizzieren. Dennoch lässt sich festhalten, dass es sich traditionell um große und aufwendige Festivitäten handelt, an denen das gesamte soziale Umfeld teilnimmt.21 Ein Aspekt, der für 19  Mbiti, African Religions, S. 83. 20  Vgl. ebd. 21  Das auf die Beerdigung folgende Essen wird durch die Hinterbliebenen ausgerichtet und beinhaltet – je nach Status des Verstorbenen und der Art und Weise seines Sterbens – die rituelle Schlachtung von Ziegen oder Schafen. Der finanzielle Aufwand einer Beerdigung ist für die Hinterbliebenen enorm und wird oft mit Hilfe von sogenannten burial societies bestritten. Vgl. Feeley-Harnik, »Death, Mourning, and Ancestors«, S. 21.

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alle Gruppierungen von zentraler Bedeutung ist, soll hier herausgehoben werden, da er eines der wichtigsten Motive für Exhumierungen darstellt: der Ort der Bestattung.   Südafrikas Geschichte ist eine von zumeist erzwungenen Migrationsbewegungen, Umsiedlungen, Exilen und Landenteignungen.22 Seit 1994 leben viele Menschen im südlichen Afrika vor allem aus wirtschaftlichen Gründen getrennt von ihrer Familie oder ihrem Heimatort. Die Rückkehr des Verstorbenen ›nach Hause‹ spielt vor diesem Hintergrund eine große Rolle: »When a person dies, where he or she will be buried is the first subject of discussion among the close relatives who bear primary responsibility to manage the funeral. Burial always takes place at the deceased’s ›home‹ (in Setswana: legae), so that funerals place the deceased, and hence the living, in definitive but often controversial ways. […] The location of the grave in a village or city, and of particular aspects of the funeral in particular sites – houses and yards, churches and cemeteries – is the most obvious facet of how death opens a process of negotiating identity.«23

Die Wahl des Ortes ist eine weitreichende Festlegung von Zugehörigkeit: Hier wird nicht nur die Identität des Verstorbenen verhandelt, sondern auch die der Hinterbliebenen.24 Der Ort ist gleichzeitig die Wahl des sozialen Raumes, in dem sich der Verstorbene und seine Hinterbliebenen aufhalten. Das lässt sich physisch verstehen: So war es beispielsweise Ritus bei den Sotho-Tswana, dass sehr alte Angehörige in der Hütte, Frauen und Mütter außerhalb der Hütte neben dem Feld und Häuptlinge in ihrem kraal (Vieheinzäunung) beerdigt wurden, damit die badimo (Ahnen) auf diese Weise den Lebenden besonders nahe sind.25 Heute werden Verstorbene im Allgemeinen auf dem Friedhof beigesetzt, der in der Nähe des Zuhauses liegt. In diesem Zuhause folgt häufig die Verspeisung eines rituell geschlachteten Tieres (in isiXhosa: umkhapo), während derer die Ältesten der Familie mit den Ahnen sprechen und den Verstorbenen in den neuen Zustand begleiten. Der Bestattungsort ist auch wichtig für das sogenannte homebringing (in isiXhosa: umbuyiso), das nach Ablauf einer bestimmten Trauerperiode stattfindet und für das die Familie sich auf dem Friedhof versammelt, um die Ahnen zu bitten, den Verstorbenen nach Hause gehen zu lassen.26 Hintergrund 22  So war eines der ersten und folgenreichsten Apartheidgesetze 1950 der Group Areas Act, der den verschiedenen ethnischen Gruppen segregierte Wohngebiete zuwies. 23  Durham, Deborah; Klaits, Frederick: »Funerals and the Public Space of Sentiments in Botswana«, in: Journal of Southern African Studies 28/4 (2002), S. 777–795, S. 782. 24  Vgl. ebd., S. 780. 25  Vgl. Setiloane, Gabriel M.: The Image of God among the Sotho-Tswana, Rotterdam 1976, S. 66ff. 26  Vgl. Pauw, Berthold Adolf: Christianity and Xhosa Tradition. Belief and Ritual among Xhosa-speaking Chris-

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dieses Rituals ist die Vorstellung, dass jüngst Verstorbene über den Gräbern schweben und keine Ruhe finden, bis die Familie sie nach Hause mitnimmt. Erst ›zu Hause‹ kann der Verstorbene als Ahne über die Familie wachen.27   Der Ort der Beerdigung setzt schließlich auch den Rahmen für die Erzählung der Biographie des Verstorbenen. »Death is a moment when the social identity of the deceased may be finally established: years of often inconsistent engagements with others in various social roles are, in the rites surrounding death, made consistent, a biography is fashioned, and the deceased is located publicly in social space by the site of his grave.«28

Die Erzählung des Lebens und dessen Einordnung in einen sozialen Zusammenhang spielen auf Beerdigungen in Südafrika eine wichtige historiographische Rolle. In oder vor dem Haus oder auf dem Friedhof werden Reden gehalten, ein von der Familie Designierter bzw. ein dem Verstorbenen Nahestehender berichtet vom Leben und Sterben der zu beerdigenden Person.29 Die Situierung des Verstorbenen in einer politischen Agenda spielte vor allem auf Begräbnissen von Apartheidgegnern eine große Rolle: Zu Zeiten der Apartheid, insbesondere in den 1980er Jahren, wurden Begräbnisse gestorbener Kampfgefährten (comrades) zu politischen Kundgebungen und Massenveranstaltungen, die den Widerstandsbewegungen Autorität verschafften, indem sie zahlreiche Anhänger an einem Ort versammelten und in ihrem Widerstand einten.30 Der Ahnenkult schuf jedoch auch bei kleinen Beerdigungen einen politischen Gegenraum zur staatlichen Macht. »In the context of colonial rule and the depletion of traditional authority within African polities, this ›supernatural power‹ became all the more important to preserve. Certainly, in the African historical context the veneration of the dead can be seen as a potent political narrative and strategy. The public performance of funerals created a contested space within which deeper struggles over state power and communal identity could be signified.«31 tians, Kapstadt/London/New York 1975, S. 100f. 27  Vgl. Anderson, Allan: »African Religions«, in: Macmillan Encyclopedia of Death and Dying, hg.v. Robert Kastenbaum, New York 2003, 1. Bd., S. 9–13, S. 12. 28  Durham; Klaits, »Funerals and Sentiments«, S. 780. 29  Zakes Mda beschreibt diese Rolle in großer Ausführlichkeit in seinem Roman Ways of Dying, New York 1995. 30  Vgl. Wilson, Richard: The Politics of Truth and Reconciliation in South Africa. Legitimizing the Post-Apartheid State, New York 2005, S. 116. Vgl. auch Tetelman, Michael: »The Burial of Canon J.A. Calata and the Revival of Mass-Based Opposition in Cradock, South Africa, 1983«, in: African Studies 58/1 (1999), S. 5–32. 31  Lee, Rebekah; Vaughan, Megan: »Death and Dying in the History of Africa since 1800«, in: Journal of African History 49 (2008), S. 341–359, S. 345.

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Beerdigungen in Südafrika waren und sind zentral für die Einschreibung des Verstorbenen in das kollektive Gedächtnis.32 In den Beerdigungsreden für Widerstandskämpfer, in denen sich politische Agitation, Gebet und Trauerrede sowie Lobgedichte (isiXhosa/isiZulu: izibongo) vermischten, hatte nicht zuletzt die Tatsache, dass sie ›für die Freiheit‹ gefallen waren, eine große Bedeutung.33 Die auf diese Weise entstandenen Nationalheroen wurden zu Ahnen für den Freiheitskampf und die politische Widerstandsbewegung: »This hero is not dead, he is only resting.«34

Ausgraben Am 14. April 2011 fand die erste Exhumierung von Patrick Mahlangu, einem 1986 verschwundenen, ehemaligen Umkhonto we Sizwe-Aktivisten, statt.35 Durch Aussagen von Amnestiebewerbern vor der TRC wusste man, dass er von einer Einheit der Sicherheitspolizei entführt, ermordet und im Anschluss am Rande eines Bahngleises in die Luft gesprengt worden war, um vorzutäuschen, dass er sich beim Versuch eines Sabotageaktes versehentlich selbst getötet hatte.36 Die örtliche Polizei hatte die Überreste gefunden, den Fall als missglückten Terrorakt dokumentiert und die Überreste an einen Bestattungsunternehmer übergeben, der sie anonym bestattete.37 Die Ermittlung des Bestattungsortes 25 Jahre später war durch einen Abgleich der Aussagen von Amnestiebewerbern mit Polizeiakten, Leichenhallenregistern und Friedhofsbüchern erfolgt. Das Resultat der Nachforschungen des Missing Persons Task Team (MPTT) war ein anonymes Grab auf dem Friedhof in Soshanguve nördlich von Pretoria. Wie die Leiterin des MPTT berichtete, war man aufgrund der sehr guten Aktenlage besonders zuversichtlich, dass es sich um den richtigen Ort handeln müsse, und stimmte 32  Vgl. ebd. 33  Vgl. Gunner, Liz: »Remaking the Warrior? The Role of Orality in the Liberation Struggle & in PostApartheid South Africa«, in: Brown, Duncan (Hg.): Oral Literature & Performance in Southern Africa, Oxford/Kapstadt/Athen 1999, S. 50–60. 34  So heißt es in einem der Lieder, die in Lee Hirschs Dokumentarfilm Amandla! (über die Rolle von Musik in der südafrikanischen Widerstandsbewegung) bei der Neubeerdigung eines exhumierten Widerstandskämpfers gesungen wurden. Lee Hirsch: Amandla! A Revolution in Four-Part Harmony (DVD, In2Film, USA/ZA 2002). Vgl. auch Durham; Klaits, »Funerals and Sentiments«, S. 780f. 35  Umkhonto we Sizwe (MK) war die militärische Organisation des ANC, die 1994 in die South African National Defense Force (SANDF) eingegliedert wurde. Sie ist heute noch als Veteranenvereinigung im öffentlichen Leben präsent. 36  Vgl. Aussagen Marthinus David Ras und Hendrik Johannes Prinsloo, TRC Amnesty Hearings, Pretoria, 12.–14. und 23.10.1999, http://www.justice.gov.za/trc/amntrans/am1999.htm, 28.02.2012. 37  Hier muss erwähnt werden, dass sich die Tätigkeitsbereiche der örtlichen Polizei und der Sicherheitspolizei im Apartheidstaat nicht zwangsläufig überschnitten.

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deshalb zusammen mit der Familie zu, dass der örtliche ANC die Exhumierung als eine öffentliche Veranstaltung abhielt. Die Exhumierung war jedoch erfolglos: Das Grab enthielt nicht die Knochen von Patrick Mahlangu. Ursache waren sehr wahrscheinlich fehlerhafte Leichenhaus- und Friedhofregister.38 Erst zwei Monate später, nach erneuter Recherche und insgesamt sechs erfolglos ausgehobenen Gräbern, konnten schließlich die ›richtigen‹ Überreste in einem anderen Grab auf demselben Friedhof exhumiert werden.39   Die Fortsetzung der Exhumierungen seit dem Ende der TRC bildet einen wesentlichen Punkt der abschließenden Empfehlungen zur Reparationspolitik, die die TRC 1998 an das südafrikanische Parlament weitergab.40 Die Nachfrage von Familienangehörigen, den Verbleib von vermissten Personen zu recherchieren und die Überreste zu exhumieren, war größer als erwartet und konnte von der TRC während ihres Mandats nicht abschließend bearbeitet werden. 2005 wurde das Missing Persons Task Team (MPTT) als Teil der National Prosecution Authority (NPA) in Pretoria ins Leben gerufen und hat bis heute 67 Exhumierungen durchgeführt, in über 50 Fällen konnten Personen identifiziert werden. Die Arbeit des MPTT baut wesentlich auf den Erfahrungen der TRC und dem Abschlussbericht des Human Rights Violations Committee der TRC zu den Exhumierungen auf, aber auch auf denen der argentinischen Wahrheitskommission.41 Klare Richtlinien für die Durchführung von Exhumierungen wurden formuliert, die nicht nur die Ermittlung der Umstände des Verschwindens und des Begräbnisortes, die Exhumierung, die Identifizierung durch forensische Tests und die Rückgabe der Überreste an die Familie umfassen, sondern auch die Wiederbeerdigung, die Schaffung von Gedenkorten und die eventuelle Aufnahme eines Strafverfahrens.42 38  39 

Vgl. persönliches Interview mit Madeleine Fullard, Leiterin des MPTT, Johannesburg, 15.04.2011. Vgl. »Anti-Apartheid Fighter Finally Laid to Rest«, CNN World News, 27.06.2011, http://articles. cnn.com/2011-06-29/world/apartheid.fighter.found_1_apartheid-era-township-riots-families?_ s=PM:WORLD, 28.02.2012. 40  TRC Report, 5. Bd., S. 312. 41  Die Comisión Nacional sobre la Desaparición de Personas (CONADEP) in Argentinien widmete sich 1983– 1984 der Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen unter der Militärdiktatur von 1976–1983, während derer nach Schätzung von Menschenrechtsorganisationen über 30 000 Personen verschwanden (sogenannte Desaparecidos). Die Kommission selbst ging von ca. 9000 Personen aus. 1998 wurde das Argentine Forensic Anthropology Team (EAAF) nach Südafrika geschickt, um Überreste forensisch zu untersuchen und Mitarbeiter der TRC zu schulen. Seit Beginn seiner Arbeit 2005 gehört eine argentinische Anthropologin fest zum Stab des MPTT. 42  Vgl. Department of Justice and Constitutional Development: »Exhumation Policy. Cases of Missing Persons reported to the Truth and Reconciliation Commission (TRC)«, Government Gazette 31723 (12.12.2008), S.  10f., http://www.info.gov.za/view/DownloadFileAction?id=94183, 28.02.2012. Madeleine Fullard beschreibt jedoch, dass die Finanzierung der einzelnen Schritte durch die NPA bereits mit der Rückgabe der Überreste an die Familien endet. Interview Fullard, 15.04.2011.

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Unhintergehbare Voraussetzung des Prozesses ist dabei eine korrekte Lokalisierung des Begräbnisortes durch vorangehende Recherchen. So war bei der Exhumierung von Patrick Mahlangu das entscheidende Indiz vor Ort für die richtige bzw. falsche Fundstelle der Zustand des Skeletts. Die gesuchten Leichenteile waren infolge der Explosion von der Polizei forensisch untersucht und dokumentiert worden. Aufgrund der Aktenlage hatte das MPTT eine konkrete Vorstellung, in welchem Zustand das Skelett sein müsste.   Sind die ›richtigen‹ Knochen erst gefunden, können sie die Identität bestätigen und erzählen, was mit dem Toten passiert ist. Die Post-mortem-Untersuchung von Knochen produziert Fakten, klärt die Ursachen des Todes auf und begegnet so der radikalen Unordnung, die ein sterbender und zerfallender Körper produziert.43 Die ›narrative Unordnung‹, die darüber hinaus ein lange verschwundener Körper auslöst, die Leere und Ungewissheit, die er hinterlässt, sucht die Exhumierung mit verschiedenen Formen der Narrativierung des Todes aufzulösen: Die Obduktionsergebnisse und die DNA-Analyse, zusammen mit den Rechercheergebnissen der TRC bzw. MPTT und den Zeugenaussagen der Amnestiebewerber über die Tötung des Vermissten, ermöglichen schließlich die Einbettung des Todes in den familiengeschichtlichen bzw. politisch-historiographischen Kontext (Abb. 2).   Knochen haben in Südafrika einen besonderen Stellenwert: Diskussionen um die Rückführung und ›Wieder-Beheimatung‹ von menschlichen Überresten sind Bestandteil eines postkolonialen politischen Diskurses.44 Dass die PostApartheid-Gesellschaft so »bone-obsessed«45 ist, könnte damit zusammenhängen, dass Knochen, wie Gesine Krüger hervorhebt, außerordentlich zugänglich für das Schaffen von Genealogien und Identitätsdiskursen sind, insbesondere in Fällen von fragmentierter kolonialer Geschichtsschreibung.46 Der Anspruch von kulturellen Gruppen auf Knochen von Vorfahren – die dann beispielsweise traditionsgemäß bestattet werden sollen, um den Ahnengeist nach Hause zu bringen – wird mittels einer DNA-Analyse legitimiert.47 Im umgekehrten Sinne können sich an die Begräbnisstätten von Vorfahren Forderungen von Landrück43  Vgl. Hallam, Elizabeth; Hockey, Jenny; Howarth, Glennys: Beyond the Body. Death and Social Identity, London/New York 1999, S. 24. 44  Vgl. Jonker, Julian: »Excavating the Legal Subject. The Unnamed Dead of Prestwich Place, Cape Town«, in: Griffith Law Review 14/2 (2005), S. 187–212; Green, Louise; Murray, Noëleen: »Notes for a Guide to the Ossuary«, in: African Studies 68/3 (2009), S. 370–386; Krüger, Gesine: »Moving Bones. Unsettled Histories in South Africa and the Return of Sarah Baartman«, in: Jobs, Sebastian; Lüdtke, Alf (Hg.): Unsettling History. Archiving and Narrating in Historiography, Frankfurt a.M./New York 2010, S. 233–250. 45  Interview Fullard, 15.04.2011. 46  Vgl. Krüger, »Moving Bones«, S. 233f. 47  Vgl. ebd., S. 237.

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Abb. 2. Freilegung und Untersuchung ›falscher‹ Überreste bei der Exhumierung von Patrick Mahlangu durch Mitarbeiter des MPTT, Soshanguve Cemetery, April 2011.

gaben knüpfen, wie sie seit 1994 bei der Commission on Restitution of Land Rights geltend gemacht werden können.48 Die Rückgabe von Knochen oder Land bedeutet in diesem Kontext entweder die Korrektur oder die Restitution einer bereits bzw. ehemals existierenden topographischen und damit eng verbundenen, historiographischen Ordnung. Im Falle von verschwundenen Personen jedoch gibt es keine Topographie. Erst durch das Auffinden der Knochen kann die Person verortet werden, topographisch, historiographisch und kosmologisch. Diese ›Wiederbelebung‹ der Person durch die Exhumierung spielt sich auf zwei untrennbar miteinander zusammenhängenden Ebenen ab: einer auf den Einzelnen bezogenen und einer kollektiv-politischen. Beide Ebenen werden getragen von der Vorstellung, dass sowohl eine einzelne Person als auch ein Kollektiv als ein (quasi-)physischer Zusammenhang zu begreifen sind.   Die erste Ebene umreißt die psychologische und spirituell-kosmologische Dimension. Das Wissen, dass der Vermisste gestorben ist, wo er gestorben und begraben ist und wie er ums Leben kam, ist aus psychologischer Sicht ein unverzichtbarer Schritt, dessen die Angehörigen bedürfen, um den Verlust zu verarbeiten.49 Die Präsenz der Familien bei den Exhumierungen spielt deshalb eine große Rolle. Ihre Einbindung in den Prozess der Identifizierung ist insbesondere 48  Vgl. James, Deborah: »Burial Sites, Informal Rights and Lost Kingdoms. Contesting Land Claims in Mpumalanga, South Africa«, in: Africa. The Journal of the International African Institute 79/2 (2009), S. 228–251, S. 247. 49  Vgl. Hamber, Brandon; Wilson, Richard: »Symbolic Closure through Memory, Reparation and Revenge in Post-Conflict Societies«, Vortragsskript, Centre for the Study of Violence and Reconciliation 1999, http://www.csvr.org.za/index.php?option = com_content&view = article&id = 1716:symbolicclosure-through-memory-reparation-and-revenge-in-post-conflict-societies&catid=138:publications& Itemid=2, 28.02.2012.

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angesichts des Zustands der Überreste wichtig: Zu verstehen, wie man durch forensische Techniken die Identität einer Person bestätigen kann, auch wenn die Überreste unvollständig oder bereits teilweise zersetzt sind, macht die Familien selbst zu teilnehmenden Zeugen, was es ihnen erleichtert, den Ergebnissen des MPTT zu vertrauen und sie zu akzeptieren.50 Unvollständige Überreste können diesen Prozess jedoch auch behindern. Nicky Rousseau hebt hier den etymologischen Zusammenhang von »dis-membering« (zergliedern, verstümmeln) und »re-membering« (erinnern) hervor:51 Das Auffinden der körperlichen Überreste und ihre weitestgehende Vollständigkeit bilden eine entscheidende Voraussetzung für die ›Wiederzusammensetzung‹ des Körpers in der Erinnerung, im metaphorischen wie im materiellen Sinne. Das ›re-membering‹ des Körpers ist jedoch weit mehr als ein materiell fundierter, individual-psychologischer Gedächtnisprozess. So ist im südlichen Afrika die Vorstellung verbreitet, dass der Körper eine Einheit mit den mentalen und moralischen Eigenschaften einer Person bildet.52 Körperliche sind von moralischen Eigenschaften nicht zu trennen, das Herz gilt z.B. als Sitz des Willens und des Gefühls (demnach wären ein starker Wille und ein schwaches Herz unvereinbar).53 Vor dem Hintergrund, dass Ahnen nicht als immateriell, sondern als physisch gegenwärtig, wenn auch unsichtbar, verstanden werden und sie nach wie vor an die Materialität ihres (toten) Körpers gebunden sind, kann das Wiederzusammensetzen des Körpers bzw. der Knochen gleichzeitig ein Wiederherstellen der integralen Person in ihrer moralischen und physischen Verfasstheit bedeuten. Mit seinen wiederaufgefundenen Knochen tritt der Verstorbene als quasi-physischer Ahnengeist in das Leben der Hinterbliebenen. Er wird wieder gegenwärtig – ›re-animiert‹ – und kann in der kosmologischen Hierarchie, in welcher ihr eigenes Leben eingebettet ist, verortet werden. Dass man der Vergangenheitsaufarbeitung im südlichen Afrika in diesem Punkt nicht nur mit psychologischen Ansätzen begegnen kann, wird sowohl vom TRC Report54 als auch von Shari Eppel unterstrichen, die als 50  Vgl. Aronson, Jay: »The Strengths and Limitations of South Africa’s Search for Apartheid-Era Missing Persons«, in: The International Journal of Transitional Justice 5 (2011), S. 262–281, S. 274. 51  Rousseau, Nicky: »The Farm, the River and the Picnic Spot. Topographies of Terror«, in: African Studies 68/3 (2009), S. 351–369, S. 364. Posel und Gupta wiederum schreiben der Vollständigkeit des Körpers eine rein symbolische Würde zu, wobei die willentliche Zerteilung oder Zersprengung des Körpers symbolisch einen besonders erniedrigenden Akt bedeutet. Posel, Deborah; Gupta, Pamila: »The Life of the Corpse. Framing Reflections and Questions«, in: African Studies 68/3 (2009), S. 299–309, S. 301. 52  Hier geht es um Aspekte, die verschiedenen afrikanischen Vorstellungen von ›Person‹ gemein sind. Vgl. Karp, Ivan: »Concepts of Person«, in: New Encyclopedia of Africa, hg.v. John Middleton und Joseph C. Miller, Detroit 2008, S. 118–123, S. 119. 53  Vgl. ebd., S. 119f. 54  Vgl. TRC Report, 6. Bd., S. 568.

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Leiterin des Amani Trust Ende der 1990er Jahre Exhumierungen von ermordeten Regimekritikern in Simbabwe durchführte: »[W]e’ve gone in thinking we were going to be dealing with post-traumatic stress disorder, and find ourselves confronted with a thousand angry spirits. […] In order to bring peace to the living, we had to first bring peace to the dead.«55

Der Prozess der Ahnenbelebung und die zentrale Bedeutung ihrer Knochen sind nicht ohne ihre kommunitär-kollektive Dimension zu denken. So führt die zweite Ebene der Wiederbelebung den politisch-nationalen Diskurs des Widerstandskampfes mit der in Südafrika verbreiteten Vorstellung zusammen, dass ein Mensch durch die Gemeinschaft definiert ist. Jay Aronson hebt hervor, dass es Familien von ehemaligen Widerstandsaktivisten in Südafrika nicht nur um eine individuelle emotionale Verarbeitung des Todes im psychologischen Sinne, sondern auch um einen politischen und gesellschaftlichen Prozess geht: »[T]hey explained that the desire to have their sons and husbands memorialized as military heroes in the armed struggle against apartheid was as important as locating their physical remains and reburying them in a proper grave. Simply finding the bones was not enough; they wished for public acknowledgment that the lives and deaths of their loved ones were integral to the struggle.«56

Bei dem ersten Exhumierungsversuch von Patrick Mahlangu im April 2011 versammelte der örtliche ANC seine Anhänger, um den Helden des Widerstands gebührend zu ehren. Ein Programmblatt war gedruckt worden, ein Schatten spendendes Zelt, unter dem die Angehörigen Platz nehmen konnten, war aufgebaut worden. Der Bürgermeister von Tshwane hielt eine Rede und sponserte die Verpflegung für die Anwesenden, und auch ein Mitglied der Familie kam zu Wort. Und obwohl das MPTT sicher war, das richtige Grab nicht gefunden zu haben, ließ man die Menge dennoch an einem der offenen Gräber passieren, um so der Veranstaltung diskursiv und symbolisch einen Rahmen zu geben.Trotz ihrer großen Enttäuschung und der nach wie vor bestehenden unbedingten Notwendigkeit, die richtigen Knochen zu finden, war die Familie zufrieden mit der öffentlichen Anerkennung, die Patrick Mahlangu auf diese Weise erfahren hatte (Abb. 3).57

55  Eppel, Shari; Kreisler, Harry: Conversations with History. Shari Eppel. Healing Community Trauma. Exhumation and Ritual in Zimbabwe, Video-Interview, Institute of International Studies, University of California, Berkeley 2001, http://www.uctv.tv/search-details.aspx?showID=6226, 28.02.2012. 56  Aronson, »Strengths and Limitations«, S. 278. 57  Vgl. Interview Fullard, 15.04.2011.

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Abb. 3. Öffentliche Reden anlässlich der Exhumierung von Patrick Mahlangu, Soshanguve Cemetery, April 2011.

Die Notwendigkeit der öffentlichen Anerkennung und die Aufnahme der Geschichte der verschwundenen Person in ein politisches und nationales Narrativ basieren auf einem Gesellschafts- und Personenbegriff, der die Verbundenheit von Menschen untereinander und damit das Kollektiv ins Zentrum stellt. Das Konzept des Individuums, welches sich mit seinen Eigenschaften zu anderen in Beziehung setzt (oder auch nicht), existiert zwar, verwebt sich laut Ivan Karp in vielen afrikanischen Gemeinschaften aber mit der Selbstwahrnehmung als Teil eines physischen (und nicht allein symbolischen oder ideellen) Gemeinschaftswesens.58 Eine Person ist nicht nur Träger von individuellen Eigenschaften, der neben anderen Trägern von Eigenschaften existiert: Sie ist körperlich mit anderen Körpern verbunden. Körpergrenzen sind durchlässig, Gefühle können beispielsweise als körperlich ansteckend begriffen werden.59 John S. Mbiti beschreibt die Unteilbarkeit von menschlicher Gemeinschaft als ein in Afrika weitverbreitetes Selbstverständnis, welches Gemeinschaft als Bedingung für den Einzelnen erkennt: »Whatever happens to the individual happens to the whole 58  Vgl. Karp, »Concepts of Person«, S. 120. 59  Vgl. Durham; Klaits, »Funerals and Sentiments«, S. 779.

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Leben ausgraben

group, and whatever happens to the whole group happens to the individual. The individual can only say: ›I am because we are, and since we are, therefore I am.‹«60   Als Teil eines kollektiven körperlichen Zusammenhangs muss das Gefühl der Trauer ebenfalls ein kollektives sein:61 Der Tod muss öffentlich bezeugt werden. Die Teilnahme von ehemaligen comrades, Politikern, Nachbarn und auch der Presse an den Exhumierungen oder den Neubestattungen gewährt diese Anerkennung. Die öffentliche Benennung des ›gefallenen Helden‹ sowie die Erzählung seines Lebens und seines Todes verorten den Verstorbenen in einer politischen und nationalen Historiographie.62 Dies passiert physisch und diskursiv zugleich: Die in dem Körper des Toten enthaltene Geschichte wird in der Neuerzählung zu einer Heldengeschichte der Nation, die Geschichte des individuellen Körpers ist gleichzeitig die des ›kollektiven Körpers‹. Wie Shari Eppel beschreibt, ist das Verschwinden einer Person, nicht nur eine Verletzung des einzelnen Menschen, sondern des Kollektivs, seiner Überzeugungen und seiner Werte. Diese Form systematischer Menschenrechtsverletzungen war nicht zuletzt auch eine politische Strategie des Apartheidregimes, um die oppositionellen Gemeinschaften zu schwächen, indem ihnen z.B. Rituale, wie Beerdigungen, verwehrt wurden.63 Vor diesem Hintergrund soll das Kollektiv auch der Exhumierung beiwohnen, um seine eigene Verletzung zu bezeugen und gleichzeitig die Retablierung seiner körperlichen und symbolischen Einheit und Würde sowie das Wiedereinsetzen des gemeinschaftlichen Miteinanders zu begehen. Shari Eppel spricht hier vom »social fabric«,64 welches wieder hergestellt werden müsse.   Die Voraussetzung für diesen Prozess ist die Exhumierung der Knochen. Geht man von einer Definition der toten Person als einer quasi-physischen Entität 60  Mbiti, African Religions, S. 107f.Vgl. in diesem Zusammenhang auch die in Südafrika verbreitete Vorstellung des ubuntu, eine Abkürzung des isiXhosa-Ausdrucks Umuntu ngumuntu ngabanye bantu (›Menschen sind Menschen durch andere Menschen‹). Vgl. Battle, Michael: Ubuntu. I inYou andYou in Me, New York 2009; TRC Report, 1. Bd., S. 127. 61  Vgl. Durham; Klaits, »Funerals and Sentiment«, S. 778f. 62  Vgl. Gunner, »Remaking the Warrior«; vgl. auch Grabreden südafrikanischer Politiker anlässlich von Beerdigungen bekannter Widerstandskämpfer, z.B. Thabo Mbeki zur Beerdigung von Steve Tshwete am 04.05.2002, http://www.info.gov.za/speeches/2002/02050609461007.htm, 01.11.2011; Nelson Mandela zur Beerdigung von Walter Sisulu am 02.05.1993, http://www.anc.org.za/show. php?id=4086, 01.11.2011. 63  »Together with restrictions on what are considered proper unions [...], restrictions on funeral rites and mourning are among the most powerful ways, short of enslavement, to transform people into socially nonexistent persons, stripped of their generational ties to others, having no past as well as no future.« Feeley-Harnik, »Death, Mourning, and Ancestors«, S. 20. 64  Eppel, Shari: »›Healing the dead‹: Exhumation and Reburial as a Tool to Truth telling and Reclaiming the Past in Rural Zimbabwe«, in: Borer, Tristan Anne (Hg.): Telling the Truths. Truth Telling and Peace Building in Post Conflict Societies, Indiana 2006, S. 259–288, S. 270f.

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aus, die darüber hinaus Teil eines nicht nur symbolisch, sondern körperlich geeinten Gemeinschaftswesens ist, kommt der Verlust des Leichnams einer Auslöschung der Person bzw. des Ahnen gleich, die allein symbolisch nicht rückgängig zu machen ist: Es bedarf der Knochen als letzten verbliebenen materiellen Überresten. Deshalb blieb es auch nach der bereits erfahrenen öffentlichen Anerkennung unerlässlich, die richtigen Knochen von Patrick Mahlangu zu finden, um ihn als Person, d.h. als Ahnen adressieren zu können.65 Die Knochen einer Exhumierung offenbaren einen hybriden Charakter zwischen Subjekt, Objekt und Symbol, der eine Voraussetzung für ihre Funktion zu sein scheint.66 Mit Bruno Latour (bzw. Michel Serres) könnte man sie als »Quasi-Objekt«67 beschreiben: das hybride Ding, welches die verschwundene Person und damit das Netz wiederbelebt, in dem Objekte, Personen und Diskurse miteinander agieren. Als ›Quasi-Physis‹ der Ahnen, als biologischer Untersuchungsgegenstand von Forensikern, als Symbol einer kollektiven Widerstandsgeschichte und als Teil eines kollektiven Körpers übersetzen und vermitteln sie in einem Netz, welches sie als Teil des ›Kollektivs‹ (bei Latour die Welt der menschlichen und nichtmenschlichen Wesen) begreift, und damit als Teil des ›Stoffs‹, aus dem die Gesellschaft besteht.68   Auf diese Weise stellen Exhumierungen im Post-Apartheid-Südafrika weder rein rituelle oder therapeutische Handlungen noch allein administrativ-juristische, politische oder wissenschaftliche Prozesse dar. Sie sind vielmehr all das zusammen: der Moment und der Ort, an dem der politisch-institutionelle Auftrag, die forensisch-kriminologische Analyse, der psychologische und symbolische Aufarbeitungsprozess und die kosmologische, physische wie auch diskursive Verortung des Toten in der Geschichte zusammentreffen und durch das Hervorbringen seiner Überreste der Verstorbene wieder ins Leben tritt. Exhumierungen sind in diesem Sinne Re-Animationen und Knochen das hybride Quasi-Objekt, das re-animiert wird und gleichzeitig re-animiert.

65  Die erfolgreiche Exhumierung seiner Knochen fand am 15.06.2011 lediglich im Beisein von Familie und Vertretern der Veteranenvereinigung von Umkhonto weSizwe statt. 66  Vgl. Posel; Gupta, »Life of the Corpse«, S. 299, S. 308; Green; Murray, »Guide to the Ossuary«, S. 371; Krüger, »Moving Bones«, S. 245. 67  Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen.Versuch einer symmetrischen Anthropologie, übers.v. Gustav Roßler, Frankfurt a.M. 2008, S. 70ff. 68  Vgl. ebd., S. 10f.

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Alf Lüdtke

Erkennen als Wieder-Erkennen? Anthropometrische Muster der Personenidentifikation. Zur Praxis der Passkontrolleinheiten der DDR Durchschleusen: Einreise, Ausreise, Transit

›M

achen Sie das rechte Ohr frei!‹ Dieses Zitat gehört zum Standardrepertoire fast aller Geschichten, die Westdeutsche oder Westberliner erzählen, wenn es um den Transit durch die DDR geht oder um einen Tagesaufenthalt in Ostberlin, der seinerzeitigen ›Hauptstadt der DDR‹. Und wenn man Erinnerungen trauen darf, wurde auch sonst kaum je ein Ein- und Ausreisender an den ›Grenzübergangsstellen der DDR‹ von diesem stereotypen Ritual verschont (Abb. 1). Die dazugehörige Szene war karg und knapp: Die Reisende, der Reisende stand an einem Schalter, seit den mittleren 1970er Jahren meistens in einer nur schulterbreiten Durchgangsschleuse. Nur im Transit nach Westberlin saß man im Pkw, mitunter auch im Eisenbahnabteil. Hier wie dort: Ein uniformierter Passkontrolleur (ganz selten war dies eine Frau) fixierte das Gesicht. Im nächsten Moment konzentrierte er sich auf das Passphoto, ein nochmaliger Blick ins Gesicht – mitunter gefolgt von einem erneuten Blick auf das Passphoto. In aller Regel reichte der Kontrolleur dann den Pass zurück, wortlos, kaum je mit einem angedeuteten, jedenfalls stummen Kopfnicken, gelegentlich aber mit einem Handzeichen: Weitergehen oder weiterfahren! – Spiegelbildlich hieß es in einer Instruktion zum Ausschleusen von Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) über die Grenzübergangsstelle (GÜSt) Bahnhof Friedrichstraße nach Westberlin, dass »nur in den seltensten Fällen durch die entsprechenden Kontrollorgane Anfragen zur Person des Reisenden gestellt werden«.1

1  Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU), MfS HA VIII, Nr. 5458, S. 10–12, o.J., ca. 1978–80.

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Abb. 1. Das Ohr: Schematisierte Grundformen für die Personenbeschreibung und ‑erkennung; aus einer für den internen Gebrauch bestimmten Publikation des Innenministeriums der DDR.

Hin und wieder fragte jedoch der Kontrolleur – eher aber noch das dann folgende ›Zollorgan‹, männlich oder weiblich –, wen man besuchen wolle oder besucht habe, was man (in Berlin) besichtigen werde oder angeschaut habe. Je nach Antwort fragte er oder sie auch nach. Nicht immer blieb es dabei, sondern der oder die Reisende wurde mitunter ›herausgelöst‹ und in einer fensterlosen Kabine, mit der Aufforderung abzuwarten, zunächst allein gelassen. Daraus konnte (selten!) bei der Einreise deren sofortige Verweigerung werden. Die Regel war bei Ein- wie Ausreise eine genauere Befragung, häufig wiederholt durch einen anderen (vielleicht noch einen weiteren) Uniformierten: Woher, wohin? Meistens wurde dann nach 30, 40 oder auch 50 Minuten die Einreise gestattet, in aller Regel ohne weitere Erläuterungen. Bei der Ausreise waren Zweifel schwerwiegender, eine vorläufige Festnahme oder auch Inhaftierung kaum zu umgehen.   Dieser Ablauf der Pass- und Personenkontrolle (und auch der Zollkontrolle) war an den GÜSten der DDR die Regel. Dies galt nicht nur für Reisende aus 260

Erkennen als Wieder-Erkennen?

dem NSW, dem ›nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet‹, sondern auch für Reisende aus der DDR oder einem der ›sozialistischen Bruderländer‹. Allerdings brachte das Inkrafttreten des deutsch-deutschen Transitabkommens im Juni 1972 für Transitreisende bei Kfz-Benutzung eine erhebliche Erleichterung. Bis dahin hatten auch sie das Kfz zu verlassen, den Pass abzugeben, den TransitBegleitzettel auszufüllen und die geforderte Gebühr zu entrichten (auch hier bedeutete das Abkommen für die Reisenden eine spürbare Entlastung: Die nunmehr pauschalierten Beträge wurden staatlicherseits beglichen). Überdies war vor diesem Vertragsabschluss auch im Transit eine Zollkontrolle die Regel (nicht nur mit Fragen nach mitgeführten Zahlungsmitteln, sondern auch mit der häufigen Inaugenscheinnahme von Portemonnaies wie von ›Druckerzeugnissen‹).   Die Reisenden hatten Blick-, mitunter auch Sprechkontakt mit einem uniformierten Passkontrolleur sowie mit einem ›Zollorgan‹, ebenfalls in Uniform – zu sehen waren weitere Uniformierte. Die steingrau-grünen Uniformen der Passkontrolleure entsprachen denen der Nationalen Volksarmee, der NVA (und damit auch denen der Grenztruppen). Tatsächlich aber waren die Kontrolleure Angehörige des MfS, dem die ›Passkontrolleinheiten‹ (PKE) seit 1962 unterstellt waren. An den GÜSten waren sie zur ›Zusammenarbeit‹ mit den anderen dort zuständigen ›Organen‹ verpflichtet. Neben den Grenztruppen (für die ›äußere Absicherung‹) und der Volkspolizei – für ›Ordnung und Sicherheit‹ an den Ein- und Ausgängen sowie im Umfeld – waren das insbesondere die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der ›Zollverwaltung der DDR‹, erkennbar an ihren taubenblauen Uniformen. Diese Uniformierten sollten sichtbar sein. Völlig abgedeckt und außer Sicht der Reisenden sollte hingegen bleiben, was unter oder hinter dem Schalter oder der Personenschleuse, wie an der GÜSt Bahnhof Friedrichstraße, oder in den Baracken geschah, in die z.B. an der GÜSt Marienborn/Autobahn die Pässe gegeben oder per Laufband geschickt wurden.

Passkontrolle – Personenidentifikation: Medien der Beglaubigung Die Anweisungen für die PKE, zusammengefasst und fortwährend ergänzt oder revidiert in der ›Passkontrollordnung‹ (PKO), sahen zweierlei vor: zum einen die Prüfung der Echtheit des vorgelegten Dokuments. War es womöglich eine Fälschung? Oder war es vielleicht ein original ausgefertigtes Personendokument, das aber in einem oder mehreren Details verfälscht war (etwa mit einem veränderten Geburtsdatum – oder gar mit einem Austausch des Bildes)? Bei dem Passdokument waren die jeweiligen Vorgaben für Papier und Wasserzei261

Alf Lüdtke

Abb. 2. »Grundanforderungen für Mitarbeiter der Passkontrolle« – Internes Poster der PKE Friedrichstraße / Zimmerstraße, Berlin, aus den 1980er Jahren.

chen, Drucktypen und Druckerschwärze, Stempelfarben und Stempelformen, Bilderheftung sowie Falzung und Bindung zu prüfen.2   Bei der ›Personenidentifikation‹ ging es zum anderen um die Deckung von Bild und Gesicht – anhand der ›unveränderlichen Merkmale‹. Gefragt war dabei die passgenaue Übereinstimmung von Bild und Person. Dabei hatte das Gesicht der Person, die ein- oder ausreisen wollte, dem vollkommen zu entsprechen, das das Passphoto zeigte. Die Maßgabe nach PKO war, dass das eine mit dem anderen in allen entscheidenden Punkten deckungsgleich übereinstimmen sollte. Dafür waren die jeweiligen ›unveränderlichen Merkmale‹ in einem detailliert festgelegten Verfahren ›zweifelsfrei‹ festzustellen.   Die Passkontrollen hatten ein Ideal in alltägliche Praxis zu überführen. Bruchlos und ›passgenau‹ sollte eine zweifelsfreie Identifikation gelingen, nicht einmal, sondern dutzend-, hundertfach während der Schicht. Es ging um beides, die Echtheitsprüfung des Dokuments und die Identifikation der Person, die es benutzte. Das sollte ›zügig‹ klappen bei Tag und Nacht, überall – in der grell erleuchtet-stickigen Personenschleuse, wie an der GÜSt Bahnhof Friedrichstraße, ebenso bei Wind und Wetter etwa am Autobahnübergang Marienborn. Hier sah die Alltagssituation des Passkontrolleurs in dessen Erinnerung so aus: 2

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Vgl. dazu im Einzelnen die bis 1989 immer zahlreicheren Änderungen der PKO (zwischen 1970 und Oktober 1989: 69 Änderungen), BStU, MfS Rechtsstelle, Nr. 009, insb. S. 868; vgl. MfS Sekretar. Neiber, Nr. 283, Nr. 912.

Erkennen als Wieder-Erkennen?

Abb. 3. »Grundlagen der Personenidentifizierung im grenzüberschreitenden Verkehr« – Detail aus Abb. 2.

»Kommt ein Pkw zur Ausreise aus Richtung Westberlin, das war bei uns Richtung Ost-West. Da sind vier, fünf Personen drinne. Die gliedern sich auf in zwei Westberliner, ein Ausländer, die anderen zwei sind Bundesbürger. Von den Bundesbürgern hat einer den normalen kleinen Ausweis. Der andere hat den länglichen oder hat den Reisepass. Jetzt kommt eine Kontrolle. Jetzt hat der Fahrer ’nen ganzes Paket und drückt es mir in die Hand. So, nun sortiere mal ..., jeder mit seinem eigenen Dokument. Aber das war auch eine Zeitfrage wieder, denn der Verkehr … Dann kommt zudem die kalte Jahreszeit, Winter, kalt. [...] Da hatten wir ’mal minus 29°C. Brrrr. So. Da mussten wir aber Passkontrolle, eine halbe Stunde, dann Pause. [...] [Frage:] Und aussteigen lassen – das ging dann auch im Transit nicht? [Antwort:] Nein! Nein, nein, nein! Das grundsätzlich nicht.«3

Ein damaliger Ausbilder verbindet in seiner nachträglichen Rück-Sicht (ebenfalls in einem Erinnerungsinterview) das Prinzip der ›Personenidentifikation‹ und die entsprechende Praxis: »[Der Vergleich von Bild und Person] ist ein Wahrnehmungsprozess, das heißt ein Vergleich, wo seherische Fähigkeiten gefragt sind, wo der Mensch, der das vergleichen muss, abstrahieren muss, wo er die Abbildstellung, das Alter mit berücksichtigt, die Umstände, wie die Person aufgenommen wurde, aber auch die Umstände, wie die Person vor einem ist, zum Beispiel […] bei schlechten Sichtbedingungen 3

Erinnerungsinterview: A. Lüdtke mit A. und B., Interview (13), 23. Februar 2012, S. 5.

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Abb. 4. »Das identifizierende Objekt, das Lichtbild, ist beim Identitätsvergleich die entscheidende Vergleichsgrundlage.« Richtlinie für die Aus- und Weiterbildung – Detail aus Abb. 2.

[…], eben in dem Licht, was in den Abfertigungsstellen vorhanden war, und dann das Spiegeln der [Kfz-]Scheiben. Also, es gibt da so viele … und dann der Druck und, und, und … Und dann die vielfältigen anderen Aufgaben, die noch mit sind. Also, das ist ein ständiger … was höchste Aufmerksamkeit erfordert und natürlich auch ein Mindestmaß … nein: möglichst viel fachliche Kenntnisse zur Abbildstellung, zu den Proportionen, zu Merkmalen des Menschen. [Frage:] Welche Merkmale werden denn überhaupt zur Identifizierung herangezogen, wenn sie … soweit sie überhaupt zu sehen sind. Und wie oft werden sie herangezogen nun einmal bei der tatsächlichen Identifizierung der Person […]? [Antwort:] Wir hatten die Möglichkeit [zum Vergleich von] Passbild [mit einer] Abbildung zu der Person, zur tatsächlichen Person. Und da habe ich dann immer 15 verschiedene Personen genommen; das war dann eine Serie. […] Die habe ich z.B. in der Friedrich-Zimmer-Straße getestet, aber auch in Bad Schandau, in Salzwedel und in Marienborn, mit Partnern der dortigen PKE, die da mitgemacht haben. […] Dabei werden in etwa die gleichen Merkmale verwendet […], wie im tatsächlichen Abfertigungsprozess auch […], [und es ist so, dass] ein Foto bloß drei, vier Merkmale überhaupt zur Aussage freigibt … Das heißt, dass man den Mund, die Nase und die Ohren eben besonders häufig zum Vergleich ranzieht, weil die sichtbar sind.«4 (Abb. 2, Abb. 3, Abb. 4)

Jede Identifizierung beschwor das Ideal der völligen, immer schon vollzogenen Übereinstimmung von Teil und Ganzem, von beglaubigtem Zeugnis und Bezeugtem. Gerade nicht die Differenz zwischen Zeugnis und Bezeugtem war 4 

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Ebd., S. 5f; der letzte Satz aus: Erinnerungsinterview: A. Lüdtke mit A., in: Interview (10), 05. Juli 2010, S. 3. Dies ist die Aussage eines ehemaligen Passkontrolleurs, geb. 1940, Passkontrolleur seit 1964; begonnen hatte er 1962 an der GÜSt Bad Schandau (Straßen- und Eisenbahnübergang in die ČSSR), ab 1972 kurz an der GÜSt Mahlow (West-Berliner Südgrenze), ab 1973 an der GÜSt Friedrich-/Zimmerstraße – in der West-Terminologie: auf der Ostseite des Checkpoint Charlie. Er war in den 1980er Jahren auch bei der zentralen Schulung von Nachwuchskräften zur ›Personenidentifikation‹ tätig.

Erkennen als Wieder-Erkennen?

gefragt (als Beleg einer einmaligen, in keinem Abbild zu wiederholenden oder zu doppelnden Person). Vielmehr wurde Deckungsgleichheit vorausgesetzt. Sie aber bedurfte der vergewissernden Erneuerung durch die Kontrolle, im ausdrücklichen Bestätigen der ›Echtheit‹ von Dokument wie Träger, zugleich in der Anerkennung dieser einen Person als die Person, die sie laut Dokument war.   Das eine (Passechtheit) wie das andere (Identität dieser Person) waren ›letzte Wahrheiten‹. Sie entschieden an den GÜSten über Ein- und Austritt, über Zulassung zur oder Ausschluss aus der DDR (nicht zuletzt auch über mehrjährige Haftstrafen). Zu dieser Gewichtung passten die formelhaften Vorgaben, wie sie die Schulungs- und Übungsmaterialien reproduzierten: ›Aufforderung des Reisenden zur Einnahme der Kopfhaltung entsprechend des Lichtbildes im Personaldokument‹ sowie ›Auffordern des Reisenden, die Kopfbedeckung, den Schal, die Brille o.Ä. abzunehmen bzw. das Ohr freizumachen (sofern erforderlich)‹. Mit solchen immer gleichen Formeln wurde uniforme Gleichmäßigkeit hergestellt und vorgezeigt. Die Wiederholung (und Wiederholbarkeit) signalisierte zugleich Stetigkeit und Dauer – hier nicht auf den Moment angewiesen, nicht unter Zeitdruck, sondern nach eigenem Zeitmaß handelnd.   Zugleich betonen die erzählten Erinnerungen eine Praxis, die Befriedigung über Eigenständigkeit mit Werk- und Arbeitsstolz verband. Es war der kurze Moment der Kontrolle und der – noch kürzere? – der Entscheidung (sind Zweifel angebracht, folge ich ihnen?), in denen ›an der Grenze‹ alle Vorgaben und Vorgesetzten auf Distanz rückten. Gewiss musste jeder mit Reaktionen auf erkennbare ›Fehler‹ rechnen. Untersuchungen blieben stets zu gewärtigen, Disziplinar- und Parteistrafen waren nie ausgeschlossen. Aber belegten diese Kontrollen nicht erneut, dass sie, die Passkontrolleure, hier an der äußersten Grenze, den Blick stets ›feindwärts‹ gerichtet, mit ihrer Kontrollarbeit tagein, tagaus Mit-Träger der ›letzten Verantwortung‹ für das große Ganze waren, für SED und DDR, für das ›sozialistische Lager‹ überhaupt? – Für die Reisenden sah dieser Moment der Entscheidung allerdings womöglich ganz anders aus. Der schon zitierte langjährige Passkontrolleur (und Ausbilder) betonte im Erinnerungsinterview, er müsse auf die Frage: »Gab es denn Schikane?« antworten: »Ja, gab es. Es gab einzelne Mitarbeiter, die sicher … – es waren Ausnahmen, die zu einzelnen bestimmten Personen ..., die haben sie warten lassen; komischerweise nicht bei Spitzenleuten [die ein- oder ausreisten], da haben sie sich nicht getraut, aber beim einfachen Türken, der kam und abends zu seiner Freundin wollte. Da hatte jeder so seine speziellen Leute: ›Der kann warten‹.«5 5

Erinnerungsinterview: A. Lüdtke und A., in: Interview (9), 5. Juli 2010, S. 1f.

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Ausbildung und Training dauerten Jahre; das war aus der Sicht ehemaliger Passkontrolleure nur allzu berechtigt: »Die neuen Leute brauchten ungefähr 10 Jahre, um alles zu durchlaufen. Da mussten sie aber schon gut sein. 10 Jahre hat das gedauert, um … Das war aber fast die Praxis. Weil, bis die dann alleine arbeiten durften und dann … mussten sie erstmal drei Jahre in der Einreiseabfertigung arbeiten. Aber bevor die dann in die Diplomatenabfertigung kamen oder in Bereich 1 waren [Vor- und Nachkontrolle Ausreise in Richtung Westberlin, also ›feindwärts‹, A. L.], wo sie auch im Prinzip alleine waren in der Handlungsfähigkeit oder als Fahnder, da mussten sie schon eine ganze Weile Erfahrung sammeln, weil ja zu viele hier … Man sieht das an dieser Technologie, an diesen ganzen Dingen, die alle zu beachten waren. Und vor allen Dingen die politische Bedeutung. Man muss immer die politische und operative Bedeutung hören. Und das wurde immer weiter erhöht, und immer weiter erhöht und … Es war sehr, sehr schwierig.«6

Zur Prüfung der doppelten Echtheit nutzten die Passkontrolleure der PKE polizeilich-kriminalistische Praktiken; sie würden die Authentizität des Dokuments und die Einmaligkeit dieser einen Person garantieren. Eine praxisbezogene Version anthropometrischer Identifizierungsverfahren sollte die sichere Identifikation der Person ermöglichen. Soweit erkennbar, gab es keinerlei Unsicherheit oder gar Zweifel, dass dabei Vorlagen herangezogen wurden, die seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur in Deutschland, sondern weltweit die kriminalistischen Praktiker angeleitet hatten. Nach 1945 waren sie vom (bundesdeutschen) Bundeskriminalamt weiterverwendet worden (1961); wenige Jahre später (1970) griffen die Zuständigen im Innenministerium der DDR ebenso darauf zurück – in beiden Fällen wurden diese Handreichungen jedoch zunächst nur für den internen Dienstbetrieb veröffentlicht.7

Exkurs: Zu den Anfängen der ›unveränderlichen Merkmale‹ – Die Rolle der Ohren Ein leitender Polizeibeamter des seinerzeit kleinsten deutschen Bundesstaats, der Hansestadt Lübeck, Friedrich Christian Benedict Avé-Lallemant, markierte 1858 die Malaise: Das ›deutsche Gaunertum‹ vervielfältige sich. Damit es nicht überhandnehme, sei Abhilfe dringend. Schon die Kenntnis des ›Gaunertums‹ sei 6

7

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Ebd., S. 10. Allerdings bezweifelte ein ehemaliger Kollege zwar nicht die Notwendigkeit langdauernder, intensiver Ausbildung, wohl aber die ›10 Jahre‹, in einem mündlichen Kommentar. Vgl. Gespräch: A. Lüdtke und B., 5. Juli 2010. Vgl. Drescher, Heinz: Personenbeschreibung,Wiesbaden 1961; Prietz, Gerhard; Baranowski, Kurt: Bezeichne, beschreibe richtig Personen, Berlin/DDR 1970.

Erkennen als Wieder-Erkennen?

Abb. 5. »Geometrische Identifikation«.

minimal und klischeebestimmt. Nicht ›Fremde‹ oder Außenseiter (er nannte ›Juden‹ und ›Zigeuner‹) seien die Gefahr. Vielmehr sei das ›deutsche Bürgertum‹ das Zentrum des Übels; aus seiner Mitte kämen die Gauner, nicht zuletzt das »jetzt besonders stark vertretene weibliche Gaunertum«.8 Vor allem müsse das ›Passwesen‹ verbessert werden. Es sei »noch immer keine Sicherheit der Person gegeben, die den Paß führt, da nur die äußere Erscheinung, in der der Inhaber auftritt oder in der er der ausstellenden Behörde legitimiert oder bekannt ist, beglaubigt wird«.9 Es bleibe auch die Ungewissheit, ob womöglich die »Erscheinung [einer Person] die bloße Larve einer ganz anderen Individualität ist«.10 Auch deshalb sei »die scharfe und so überaus lästige Paßkontrolle einigermaßen [ge]rechtfertigt«.11   Noch zu Lebzeiten Avé-Lallemants setzte hier ein mehrfacher Wandel ein. Dazu gehörten Bilder‚ wie ›nach der Natur‹: Personen wurden polizeilich photographiert, sofern sie festgesetzt wurden oder werden konnten. Dem ging in den 1880er Jahren das Programm einer Vermessung von Körpern parallel – die Anthropometrie, wie sie zumal Alphonse Bertillon in Paris entwickelte und propagierte.12 Angesichts des enormen Aufwandes, aber auch der großen 8

Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedict: Das deutsche Gaunertum in seiner sozialpolitischen, literarischen und linguistischen Ausbildung zu seinem heutigen Bestande, 2. Bd., München/Berlin 1916, S. 31. 9  Ebd., S. 32. 10  Ebd. 11  Ebd. 12 Vgl. dazu genauer Vec, Miloš: Die Spur des Täters. Methoden der Identifikation in der Kriminalistik (1879‑1933),

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Abb. 6. Formen der Ohrmuschel – photographische Veranschaulichung der Vielfalt; von Alphonse Bertillon seit den 1880er Jahren propagiert.

praktischen Schwierigkeiten, vergleichbare Messmethoden überall angemessen zu praktizieren, blieb das Programm der Anthropometrie jedoch weitgehend Buchgelehrsamkeit.   Einzig die Photographie individueller Gesichtszüge, vielleicht auch von Facetten ihrer Mimik, ließ sich auch unabhängig von solchen Vermessungsprogrammen einsetzen, jedenfalls in den Großstadtpolizeien. Es kam hinzu, dass seit den 1890er Jahren ein neues Hilfsmittel zur Personenidentifikation in Polizei- und Justizkreisen Aufsehen erregte: der Fingerabdruck. Diese Methode, gespeist aus Erfahrungen im kolonialen Indien, zielte auf die individuelle Einzigartigkeit der Papillarlinien.13 Das galt freilich auch nur dann, wenn der Prüfer oder die Kontroll-Instanz alle zehn Finger der Person, deren ›Identität‹ infrage stand, gleichmäßig abgerollt hatte. Dann, aber auch nur dann, machte dieses Verfahren das umständliche und kaum je verlässliche Ermitteln eines ganzen Sets einzelner Körpermaße überflüssig.

13

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Baden-Baden 2002. Vgl. Heindl, Robert: System und Praxis der Daktyloskopie und der sonstigen technischen Möglichkeiten der Kriminalpolizei, Berlin/Leipzig 1922.

Erkennen als Wieder-Erkennen?

Vor diesem Hintergrund entwickelte sich um 1900 aus der polizeilich-kriminalistischen Praxis eine Systematik der Personenidentifikation. Sie beschrieb Personen nicht nur textlich, sondern gab sie auch bildlich wieder, und zwar in schematisierter Form. Solche Seh- und Erkennungshilfen sollten ›typische‹ Kopfformen ebenso zeigen wie Gesichtszüge, Nasenformen und Mundpartien, Augen und Augenbrauen – nicht zuletzt Ohrmuscheln und Ohrläppchen (Abb. 5).14 Bertillon hatte bereits die Ohren als besonders wichtig hervorgehoben, da sie sich im Laufe des Lebens kaum veränderten.   Hermann Krukenberg, ein medizinischer Physiognom, der gerade auch bei Kriminalisten unter Juristen und in Polizeikreisen dauerhaft Resonanz fand, umriss in einer umfangreichen Monographie zum ›Gesichtsausdruck des Menschen‹ das Eigentümliche des Ohrs: »Die Entwicklung der einzelnen Teile der Ohrmuschel zeigt […] bei den einzelnen Individuen mannigfaltige Verschiedenheiten, so dass sich die Ohrmuschel zur Rekognoszierung von Personen sehr wohl verwenden lässt.«15 Das gelte nicht zuletzt für die ›Entwicklung des Ohrläppchens‹, bei denen er neben den einzelnen Personen auch für die jeweiligen ›Rassen‹ unterschiedliche Charakteristika ebenso andeutet wie bei ›minderwertigen Personen‹. Der Autor unterstrich, dass die »Ohrmuschel außer dem Ohrläppchen kein Fettgewebe enthält, so wird sie auch bei auszehrenden Krankheiten nur wenig verändert und nur das Ohrläppchen vergrößert und verkleinert sich je nach dem allgemeinen Ernährungszustand«.16

Zudem sei das Ohr »beim Menschen mimisch tot«; nur das »Rotwerden bis über die Ohren« wollte der Autor hier gelten lassen.17   Kurz, das Ohr bleibe lebenslang vergleichsweise ganz ungewöhnlich unverändert und sei dem Blick zugänglich (es sei denn, es werde durch eine entsprechende Frisur oder Kopfbedeckung verdeckt) (Abb. 6). Die Handreichung Bezeichne, beschreibe richtig Personen, 1970 vom DDR-Innenministerium herausgegeben, hat diese Charakterisierung des Ohrs bzw. der Ohrmuschel nicht ausdrücklich ›wiederbelebt‹; – sie wurde ohne jeden Verweis und Beleg einfach weiterverwendet: Die »Ohrmuschel ist […] eines der Organe des menschlichen Körpers, das mit die meisten individuellen Merkmale aufweist und da-

14

Vgl. Cole, Simon A.: Suspect Identities. A History of Fingerprinting and Criminal Identification, Cambridge/ London 2001. 15 Krukenberg, Hermann: Der Gesichtsausdruck des Menschen, Stuttgart 1923, S. 257. 16  Ebd., S. 258. 17  Ebd., S. 259.

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Abb. 7. »Die Ohrmuschel« – nummerierte Positiv-Vorlagen für eine Präsentation im Lehrkabinett der GÜSt Friedrich-/Zimmerstraße, Berlin 1989.

Abb. 8. »Anlage: Augenstellung/langgezogene Augenlider, bedeckte Augenlider, schwarze Haare, Merkmale des Gesichts, Ohr, etc.«

durch einen hohen Wert für die Identifizierung einer Person hat«.18 Weiter betonen die beiden Verfasser, dass die »Hauptbestandteile der Ohrmuschel Haut und Knorpel« seien, »nur das Ohrläppchen enthält Fettgewebe. Deshalb verändert sich auch die Ohrmuschel bei fettzehrenden Krankheiten sehr wenig.«19 Und auch die mimische Seite taucht hier wieder auf: »Da die Ohrmuschel die Aufmerksamkeit des Menschen wegen ihrer Untätigkeit beim Mienenspiel nicht so anzieht wie andere Gesichtsteile, wird sie oft weniger beachtet, obwohl sie hohen signaletischen [sic] Wert hat. Es gibt kaum mehrere Menschen, deren Ohrmuscheln sich vollkommen gleichen.«20

Dem folgt noch der Hinweis, dass »grundsätzlich die einzelnen Merkmale der rechten Ohrmuschel« beschrieben würden, die linke nur in »Ausnahmefällen«21 (Abb. 7, Abb. 8). 18 Prietz; Baranowski, Personen, S. 71ff. 19  Ebd. 20  Ebd. 21  Ebd.

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Erkennen als Wieder-Erkennen?

›Sicher und zügig‹ Es gehörte zur Ausbildung wie zum (Selbst-)Anspruch der Kontrolleure und ihrer Vorgesetzten, die Prüfung der Dokumentenechtheit und die Personenidentifikation zu verbinden – und zugleich ›sicher und zügig‹ vorzugehen. Entsprechend betonte der »Maßnahmenplan zur Erhöhung der Qualität der Identitätskontrollen im Bereich PKE Bahnhof Friedrichstraße« vom 14. Juli 1977: Die »Hauptaufgabe aller in unserer PKE tätigen Genossinnen und Genossen besteht in der sicheren und zügigen Abfertigung des grenzüberschreitenden Reise- und Touristenverkehrs«.22 Bereits der nächste Satz ignorierte jedoch die eben angemahnte Gleichgewichtigkeit: »Die sichere Abfertigung steht im Mittelpunkt unseres Handelns. Die Verhinderung jeglicher Schleusung und anderer Feindaktivitäten muß das Ziel unserer täglichen tschekistischen Arbeit sein.«23 Da vor allem »Schleusungen auf dem Ähnlichkeitsprinzip in der jüngsten Vergangenheit wie in der Gegenwart verstärkt zu verzeichnen sind, bedarf es in erster Linie einer gewissenhaften Identitätskontrolle nach den relativ unveränderlichen Merkmalen einer Person.«24

Dabei war die Bilanz dieser GÜSt offenbar überdurchschnittlich gut. Hier habe es im ersten Halbjahr 1977 keine ›Schleusungen‹ gegeben, vielmehr habe diese PKE »zwei ungesetzliche Ausreisen nach WB [Westberlin] und 18 ungesetzliche Einreisen aus WB in die Hauptstadt verhindert«.25 Um diesen Standard zu halten, wurde weiterhin ›regelmäßiges Identifikationstraining‹ befohlen, auch im alsbald fertigzustellenden ›Lehrkabinett‹. Die Zugführer (der vier Züge, zu je ca. 50 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern) sollten »mit jedem Mitarbeiter in jeder Schichtperiode einmal ein Identitätstraining durchführen«.26 Und die ›Spezialistengruppe Identität‹ habe zu garantieren, dass pro Monat je zehn Mitarbeiter eine ›Identitätswiederholungsprüfung‹ ablegten.   Im Weiteren betont der Plan für die GÜSt Bahnhof Friedrichstraße, dass die »Abfertigungsstelle Ausreise nach wie vor die Hauptangriffsrichtung des Gegners ist«.27 Und hier wird die Anforderung, ›zügig‹ abzufertigen, wieder eingeführt: Bereits bei der Vorkontrolle seien »grundsätzlich alle Reisenden der 22 BStU, MfS HA VI, Nr. 10413, S. 5–13, insb. S. 5. 23  Ebd. 24  Ebd. 25 Ebd. 26  Ebd., S. 7. 27 Ebd., S. 10.

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Jahrgänge 17–35 [gemeint sind fraglos alle 17- bis 35-Jährigen, A. L.] sehr gewissenhaft zu identifizieren, ohne die anderen Jahrgänge zu vernachlässigen«.28 Hier seien auch jeweils »vier befähigte Identitätskontrolleure einzusetzen, die eine zügige Kontrolle der schleusungsgefährdeten Jahrgänge garantieren, z.B. sonnabends ab 22.30«.29 Zudem solle es sofort nach der Vorkontrolle stichprobenartige Nachkontrollen geben, jedenfalls für die ›schleusungsgefährdeten Jahrgänge‹. Dabei müsse »beim Auftreten auch nur der geringsten Zweifel im Identifizierungsprozeß eine Herauslösung dieser Person aus dem Abfertigungsprozeß erfolgen«.30 Dann seien »3 bis 4 Spezialisten« heranzuziehen, und es müsse »an mindestens 3 bis 5 unveränderlichen Merkmalen eine Überprüfung stattfinden«.31   Für den einzelnen Kontrolleur hieß das, in kaum mehr als einer Minute mit Tastgefühl (so beim Pass oder ›Personaldokument‹) und innerem Auge (Passbild – Person) die beiden entscheidenden Punkte zu klären: Echtheit des Dokuments und ›Identifizierung‹ seines Benutzers. Bei leisesten Zweifeln waren weitere ›Spezialisten‹ beizuziehen. Auf solche internen Gegen-Kontrollen wurden die Passkontrolleure fortwährend mit größtem Nachdruck verpflichtet.32   Dabei sollte zugleich stets sichergestellt sein, dass die Ein- und Ausreisenden solche Nachprüfungen auf keinen Fall wahrnehmen oder auch nur vermuten konnten. Umso wichtiger war es deshalb, dass die Kontrolleure stets ohne zu zögern handelten und sich nicht etwa unsicher zeigten. Ein knapper ritueller Satz, wie der vom Freimachen des Ohrs, war dann nicht allein diese Aufforderung (das Ohr freizumachen). Vielmehr konnte dieser Satz ebenso eine Selbsterinnerung, vielleicht eine Selbstermahnung sein – zu kontrollieren, ohne zu zögern oder Rücksicht zu nehmen. Überdies erweiterte der Kontrolleur mit dieser Aufforderung an den Reisenden, etwas zu tun und ›ein Ohr freizumachen‹, das verfügbare Zeitfenster, und sei es um einen Bruchteil, der immerhin die Chance gab für einen ersten Prüf-Blick. Eine Beschleunigung des Ab- oder ›Durchlaufs‹ brachte das allerdings nicht. Solche rituellen Elemente, wie sie als ›Technologie und Arbeitsprozess‹ auch fortlaufend normiert wurden (in der entsprechenden OTA, der ›Ordnung der Technologie und des Arbeitsprozesses‹), 28  Ebd. 29  Ebd. 30  Ebd., S. 12. 31  Ebd. 32 Vgl. dazu das »Übungsmaterial zur kriminalistischen Personenidentifizierung«, das die Hauptabteilung VI ab Mitte der 1970er Jahre monatlich herausgab, jeweils ca. 16–18 Seiten maschinenschriftliche Aufgaben und Lösungen, auch ergänzt um Photos oder Tabellen, in: BStU, MfS HA VI, Nr. 10382, z.B. S. 70ff.

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mochten dazu beitragen, die Handhabungssicherheit bei den Kontrolleuren zu stabilisieren, wenn nicht zu stärken.33   Zugleich intensivierten sich die Anforderungen fortwährend.34 Von 1981 bis 1986 nahm der Einreiseverkehr (einschließlich des Transits durch die DDR) »um 17,2 % von 33,2 Mio. auf 38,3 Mio. abzufertigende Personen« zu.35 Parallel habe sich die »Einreise von Bürgern nichtsozialistischer Staaten auf Visum zum Tagesaufenthalt in die Hauptstadt der DDR um 30,2 % von 192.000 auf 250.000 abzufertigende Personen« erhöht; eine fast parallele Steigerung sei bei der Einreise »von Bürgern der BRD in grenznahe Kreise der DDR zu verzeichnen (von 195.000 auf 245.000)«.36 Vor allem aber war »der Ausreiseverkehr von Bürgern der DDR um 36,1 % von 9,7 Mio. auf 13,2 Mio. abzufertigende Personen« angestiegen.37 Der Anteil der Ausreisen in die BRD war danach sogar um 50 % gestiegen, von 1,28 Mio. auf 1,92 Mio. abzufertigende Personen; und nach Westberlin betrug die Zunahme 35,5 %, von 2,2 Mio. auf 3,2 Mio. Daraus hätten sich »in den vergangenen Jahren […] zunehmend unvertretbare Belastungen des Kaderbestandes an einer Vielzahl von Grenzübergangsstellen« ergeben.38 Und die Aussichten waren düster, der Zuwachs der vergangenen Jahre würde unverändert weitergehen.   Das Bestreben, den Ablauf zu beschleunigen – und damit die Grenze als eine ›moderne Grenze‹ zu zeigen –, löste erhebliche Nebenfolgen aus. Nicht zuletzt sollte der Einsatz moderner Technik die ›Durchlaufzeiten‹ verkürzen, zugleich die Effizienz von Datenabgleichen mit Fahndungslisten und anderen Datensammlungen (z.B. zu Ein- und Ausreisen von DDR-Bürgern und insbesondere 33

34

35  36  37  38 

Zur OTA vgl. BStU, MfS HA VI, Nr. 5998–6003. – Allerdings charakterisierten zwei ehemalige Passkontrolleure in Erinnerungsinterviews diese OTA mit größtem Nachdruck als für die Praxis völlig unbrauchbar und nur ›für Vorgesetzte‹ und ihre Kontrollgelüste tauglich, vgl. Erinnerungsinterview: A. Lüdtke mit A. und B., in: Interview (15), 23. Februar 2012, S. 3ff. – Papier war in der Tat geduldig: Unter dem 20. November 1978 hatte der Leiter der HA VI, Generalmajor Fiedler, einen Befehl zur Anwendung der ›Wissenschaftlichen Arbeitsorganisation‹ (WAO) an den GÜSten erlassen. »Günstige Bedingungen« würden die »Gestaltung einer kontinuierlichen und schnellen Kontrolle der Abfertigung« erleichtern, dabei die »psychische und physische Belastung der Paßkontrolleure so gering wie möglich halten«. BStU, MfS HA VI, Nr. 10413, S. 40f. – Es blieb demgegenüber dabei, dass »auch die kleinsten Abweichungen von den festgelegten Handlungsabläufen konsequent zu bekämpfen« seien, so der für die PKE zuständige stellvertretende Leiter der HA VI, Generalmajor Vogel, am 17. November 1988 in einem Runderlass bzw. einer »Information« an alle PKE. BStU, MfS HA VI, Nr. 10384, S. 2ff. Vgl. zu den Reisendenzahlen im Hinblick auf die Planstellenentwicklung bzw. die danach unerlässlichen »kadermäßigen Konsequenzen« BStU, MfS HA VI, Nr. 17584, Bericht vom 22. September 1987, S. 206–209. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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aus dem NSW) erhöhen. Seit den mittleren 1970er Jahren wurde dafür der Einsatz elektronischer Datenbanken geprüft und vorbereitet.   Eine erhebliche Zeitersparnis sollte in den späten 1970er Jahren auch die Einführung der ›Fernsehfahndung‹ bringen: Am Kontrollschalter erfasste eine Fernsehkamera die jeweiligen Passdaten und leitete sie in ein rückwärtiges Büro weiter, wo diese mit den Fahndungslisten und -karteien von Volkspolizei und MfS abgeglichen wurden. Für die Praktiker bedeutete diese Beschleunigung jedoch eine erhebliche Einschränkung der Kontrollintensität. Diese Veränderung findet sich freilich weder in den regelmäßigen Tätigkeitsberichten noch wurde sie offenbar bei den wiederholten, aber unregelmäßigen Kontrollen direkt angesprochen.   In mündlichen Erinnerungen ist sie jedoch sehr gegenwärtig: »In der Fahndung, die ja immer umfangreicher wurde und immer hochkarätiger war, ist ein enormes operatives Potenzial drin gewesen. Aus Sicherheitsgründen [musste sie aber verdeckt laufen], denn wenn das bekannt geworden wäre zur unrechten Zeit […], dann wären ja, ich weiß nicht wie viel hunderttausend Personen […], aber ich weiß nicht wie viel in der Fahndung drin waren, […] betroffen gewesen, die aus ökonomischen, politischen oder operativen Gründen nicht betroffen sein sollten. [Deshalb sollte die Überprüfung von Fahndungsunterlagen nicht erkennbar werden,] aus Sicherheitsgründen und natürlich auch aus Effektivitätsgründen wurde die Fernsehfahndung eingeführt, es war auch eine ökonomische Frage. Weil ein Fahnder von hinten dann 30 verschiedene Abfertigungsstellen bediente. Das ging natürlich im starken Verkehr nicht, aber eben im verminderten Verkehr nachts.«39

Damit aber war die Handfertigkeit jener Experten ausgeschaltet, die offenbar schon am Papier eines Passes und beim Betasten der Einträge und Einprägungen erkennen konnten, ob es sich um ein authentisches Dokument handelte – so jedenfalls eine verbreitete und von Kollegen geteilte Selbsteinschätzung. Tastsinn und Augenschein galten den Praktikern als unübertroffen sensible ›Organe‹ jeder Echtheitskontrolle. Unter Kollegen gab es keine Zweifel, dass man mit einer ›guten Nase‹ mehr Erfolge hatte. Allerdings ließ sich dieses – verkörperte – Erfahrungswissen kaum objektivieren. Dabei waren Gegenproben in zahlreichen Fällen möglich. Denn war ein ge- oder verfälschtes Dokument nicht erkannt worden oder hatte sich der Kontrolleur bei der Personenidentifikation getäuscht, konnte es sich für die Vorgesetzten und die Mitarbeiter der PKE nur um eine illegale Ausreise oder um eine ›Ausschleusung‹ handeln. Die in den Ak39 Vgl. Erinnerungsinterview: A. Lüdtke mit A., 23. Februar 2012, in: Interview (13, 2); S. 7f.

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ten dokumentierten Fälle zeigen, dass sich beide Formen des Verlassens bzw. der Flucht aus der DDR offenbar meistens rasch ›aufklären‹ bzw. nachrecherchieren ließen.

Zweifel, Fehler: ›Merkmale des Äusseren‹ und ›Gestatten der Weiterreise‹ Das richtige Vorgehen bei Zweifeln, das Bekämpfen und Ausschalten von Fehlern beim Kontrollieren waren Dauerthemen der Anweisungen und Ermahnungen von Vorgesetzten. In einer Information an alle PKE kam der stellvertretende Leiter der Hauptabteilung VI, Generalmajor Vogel, am 17. November 1988 rasch zur Sache: Untersuchungen hätten gezeigt, dass die »Ursachen für Fehlentscheidungen im Prozess der Identitätskontrolle […] in erster Linie resultierten aus: – ungesunder Routine, Oberflächlichkeit und Leichtfertigkeit, verbunden mit einer von der festgelegten Technologie abweichenden Arbeitsweise, – dem Bestreben Höchstleistungen zu erzielen – viele Paßkontrolleure gehen über die Normative hinaus, das eigene reale Leistungsvermögen wird überschätzt; – dem Einwirken objektiver und subjektiver Ablenkungsfaktoren insbesondere durch Reisende.«40

Insbesondere gehe es um den letztgenannten Punkt; ihm sei »bei der Einflußnahme auf die Mitarbeiter stärkere Beachtung zu schenken«.41 Konkreter hieß das: »Es muß erreicht werden, daß Anfragen oder Äußerungen seitens der Reisenden während der Kontrollhandlung als Versuche der Ablenkung erfaßt und gewertet werden«.42   Diesen Satz hat einer der Leser der Information unterstrichen (ebenso wie weiter oben den Hinweis, dass die Abweichungen ›unmittelbar vor Ort‹ zu bekämpfen seien). Vogel fügte hinzu, dass »das Beantworten von Fragen erst nach der Kontrollhandlung … keine Unhöflichkeit darstellt; vielmehr gehört es auch zu den Grundregeln der Abfertigung bzw. Bedienung bei anderen Institutionen und Einrichtungen«.43 Und der General wurde noch konkreter: Besondere Aufmerksamkeit sei erforderlich, wenn etwa ein Reisender äußere, dass »das Lichtbild […] nicht mehr das beste ist. Da war ich noch jung und hübsch« oder: »Ihre 40

BStU, MfS HA VI, Nr. 10384, Information zu Problemen der Identitätskontrolle, 17. November 1988, S. 2–5, S. 3. 41 Ebd. 42  Ebd. 43 Ebd.

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Kollegen haben mich gleich erkannt«.44 Auch diese beiden Hinweise hat einer der Leser unterstrichen. – Und ein weiteres Beispiel sollte dazu beitragen, die Aufmerksamkeit der Kontrolleure anzuspornen: Bei einem gelungenen Verlassen der DDR »äußerte der Bürger unmittelbar während der Kontrollhandlung: ›Sie schauen mich ja so genau an! Ich bin doch heute um 9 Uhr erst eingereist.‹ Offenbar beeinflußt durch diese Äußerung wurde die Kontrollhandlung nicht in dem geforderten Maße durchgeführt und der Person die Weiterreise gestattet.«45

Auch einen anderen Fall schilderte Vogel ausführlich: »Zwei weibliche Bürger (Äthiopien) mit Kleinkind in Begleitung einer männlichen Person dunkler Hautfarbe (Fremdenpaß der BRD)«.46 Hier habe der männliche Begleiter nach erfolgter Einreise seinen Pass einer »anderen Person dunkler Hautfarbe« übergeben, die dann ihrerseits in Begleitung der beiden Frauen mit Kleinkind zur Ausreise an die Grenze gekommen sei, und »da zudem die männliche Person den mitgeführten Kinderwagen schob, wurde der Anschein erweckt, der Vater des Kindes und zusammen mit den weiblichen Personen auch eingereist zu sein [sic]. Die Ausreise wurde ohne Bedenken gestattet.«47

Und noch ein zentraler Merkpunkt wurde an einem der hier vorliegenden Beispiele festgemacht: Ein Lichtbild im Fremdenpass, das »sehr dunkel war«, erfordere, dass »gerade in solchen Fällen die wenigen sichtbaren und damit zugänglichen Merkmale des Äußeren konsequent zur Identifizierung genutzt werden müssen. Im vorliegenden Fall geschah dies offensichtlich nicht.«48   In jedem Fall komme es bei »Zweifeln« darauf an, sich »richtig zu verhalten und Maßnahmen einzuleiten«.49 Konkret: »Zweifel an der Identität bzw. getroffene Feststellungen zur Nichtidentität möglichst nicht anmerken lassen«.50 Die weitere Kontrolle sei zu unterbrechen, »unter Verwendung eines glaubhaften Vorwandes«.51 Zugleich müsse die »exakte und durchgängige Absicherung und Beobachtung des betreffenden Reisenden bzw. mitreisender Personen«

44  45  46 47  48  49 50  51 

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Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 4. Ebd. BStU, MfS, HA VI, Nr. 10382, Übungsmaterial Personenidentifikation, Mai 1977, S. 67–76, insb. S. 73. Ebd. Ebd.

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gesichert sein.52 Möglich wären Gewalthandlungen, die ›vorbeugend zu verhindern‹ seien. Zugleich müsse der Dienstvorgesetzte sofort verständigt werden, durch ›vereinbarte Signale, Zeichen, Losungsworte‹. Schließlich müssten weitere Weisungen des Vorgesetzten abgewartet werden, und diese seien dann »konsequent und lückenlos« zu realisieren.53   Sicherheit bei der Feststellung der Personenidentität sollten die ›Merkmale des Äußeren‹ bieten. Diese müssten dafür »relativ unveränderlich und zugänglich sein und einen bestimmten Identifizierungswert besitzen«.54 Solche »relativ unveränderlichen Merkmale des Äußeren« seien zu ermitteln auf der »Grundlage des Knochensystems (Kopfform, Stirnbreite, Kinnbreite u.a., von Verknorpelungen (Details des Ohres sowie Merkmal der Nase u.a.)« und schließlich an der »Art des Wuchses (Lage und Stellung der Augäpfel, Form und Lage der Oberlider u.a.)«.55 Demgegenüber seien untauglich alle Merkmale, die leicht zu verändern seien, wie »Haarfrisur, Haarstruktur, abrasierte Augenbrauen usw.«56 – Es folgte dann noch der Hinweis, dass es sich bei diesen Merkmalen um solche handeln müsse, die äußerlich ›zugänglich seien‹. Zur Erläuterung hieß es, dass als »nichtzugänglich alle Merkmale gelten, die auf dem Lichtbild nicht eindeutig erkennbar sind (z.B. Bildschärfe, Bildschatten, Verdeckung durch Haare usw.)«.57 Ebenfalls als »nichtzugänglich« sollten danach Merkmale gelten, deren Vergleich »unmittelbar im Kontrollprozeß im Bereich des Identitätskontrolleurs für den Reisenden unzumutbar ist und seine persönliche Würde verletzen würde (z.B. Operationsnarben an Körperteilen, die durch die Kleidung verdeckt [sind] u.a.)«.58   Spuren physischer Eingriffe und Einkerbungen sollten die Sicherheit geben, dass es diese und nicht jene Person war, die Ein- oder Auslass begehrte. Anthropometrische Verfahren gaben also das Maß der Dinge, lieferten die Vorbilder. Anders als die physiognomische Mimik galten hier Eigentümlichkeit des Knochensystems und Verknorpelungen als Garantie der geforderten Eindeutigkeit. Im konkreten Handeln, beim Kontrollieren etwa des Ohrmuschelabstands und der Form der Ohrmuscheln, sollten sie ›sicher‹ und zugleich ›zügig‹ geprüft werden. Für die Umsetzung dieses Doppelziels wurden fortwährend vielerei Einzelfälle beschrieben. Diese Beispiele nutzten zugleich Zitate (etwa zu den 52  Ebd. 53 Ebd. 54 Ebd., S. 71. 55  Ebd., S. 72. 56  Ebd. 57  Ebd. 58  Ebd.

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Ohren) – Zitate, die sich durch die Hand- und Lehrbücher zogen, alle Zäsuren überschreitend und ignorierend. Diese Litanei der Beispiele konnte nur als Ritual funktionieren. In der alltäglichen Kontrollpraxis boten sie bestenfalls einen groben Anhalt angesichts der unendlich vielfältigen Gesichter, nicht aber Sicherheit oder Eindeutigkeit.   Womöglich waren also die ›Fehler‹, die General Vogel (im Ministerium für die Passkontrolle zuständig) geißelte, keineswegs stets Fehlleistungen. Könnten sich hier nicht vielmehr eigenständig-eigensinnige Deutungen der vorliegenden Zeichen und Medien zeigen? Gaben die, deren ›Fehler‹ gerügt und geahndet werden sollten, womöglich neue und alternative Deutungen einer etablierten Matrix – etwa am 4. September 1988 bei der ›Boxernase‹ eines Ausreisenden?   Diesen Mann fertigte einer der beiden diensthabenden Kontrolleure an der GÜSt Oberbaumbrücke ab, zwischen 21.00 und 22.00 Uhr. In seiner späteren Fehleranalyse notierte General Vogel die Nichtübereinstimmung nicht allein »der Form der Nase«, sondern auch »der Nasenbasis, der Augenlider und der Querfalte am Kinn«.59 In einem nachträglichen Vergleich zwischen dem Passbild und anderen, neueren Photos dieser Person, die Vogel vermutlich mit den Fahndungsunterlagen vorlagen, sei eine Differenz in all diesen Punkten ›offenkundig‹ gewesen. Im Umkehrschluss konnte der Vorgesetzte nur eine massive Fehlleistung des hier tätigen Passkontrolleurs erkennen, einen schludrigen Umgang mit den Verfahren und Medien der Überprüfung, einen gravierenden Mangel an Kontrollintensität.   Außer der ›Boxernase‹ hatten sich die beiden PKE-Mitarbeiter in der einen Stunde zwischen 21.00 und 22.00 Uhr nur noch mit acht weiteren Ausreisenden sowie drei Einreisenden zu befassen.War die bürokratische Prozedur, waren die Medien der Identifizierung gerade in ihrer rituell-beschwörenden Nutzung nicht auch eine Einladung zur stets erneuerten Selbsttäuschung: dass jedes Individuum ›übereinstimme‹ mit den Medien seiner Beglaubigung? Erkannte einer der beiden Kontrolleure sehr wohl beides: die kalkulierte Täuschung der Kontrolleure wie ihre fortwährende Selbsttäuschung? Sah er gerade in der Differenz zwischen Bild und lebendigem Köper das Individuum, singulär und deshalb mit keiner noch so ›passgenauen‹ Abbildung ›identisch‹? Gab dieser PKE-Mitarbeiter dem Passbild und damit der medialen Beglaubigung den Vorrang, als er die Nichtübereinstimmung der ›Form der Nase‹ mit dem Passbild honorierte – war hier ein Eigensinn auf einen anderen getroffen? 59  BStU, MfS HA VI, Nr. 10382, Information zu einem gelungenen ungesetzlichen Grenzübertritt, 9. September 1988, S. 1–2.

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Drei (und mehr) Arten, Tinte ans Laufen zu kriegen

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007 wird in Berlin eingesammelt, was vom Schreiben im Hof in Brüssel im Jahre 1969 übrig geblieben ist. Die Buchstaben hatten sich nicht richtig auf dem Papier verteilt, denn es hatte geregnet.1 Die Tinte war mit dem Wasser zugleich auf der Schreibfläche angekommen. Konturen waren verloren gegangen, Linien brachen ab, es bildeten sich kleine Pfützen. Im Hof hinter dem Museum war diese Schreibszene ohne Ton in Schwarz-Weiß gefilmt worden. Im Künstleratelier in Berlin wird dieses Schreiben als eine Serie von Tafeln mit Texten und Photographien unter Glas in einer Installation festgehalten. In beiden Arbeiten – im Film und auf Papier – fungiert Tinte als eine Art Zufallsprinzip, das Fragen zum jeweiligen Zusammenspiel verschiedener Medien provoziert. Wie und auf wessen Kosten ändern sich die Materialeigenschaften, Lagermöglichkeiten und Übertragungsbedingungen, wenn das Bewegtbild durch ein stehendes Bild oder ein Medium mit Text durch ein Medium mit Bildern ersetzt wird oder wenn ein Dokument der 60er Jahre heutzutage abgerufen wird? Solche Fragen fangen im belgischen Hof an, beziehen aber auch anderswoher ihre Inspiration und nehmen, wie die flüssige Tinte auf dem Papier, mit der Zeit neue, unerwartete Formen an.   In den letzten Jahren gab es mehrere Versuche, die Tinte von La Pluie (Projet pour un texte), Marcel Broodthaers’ Film von 1969, wieder ans Laufen zu kriegen. In ihrem Berliner Atelier führte Haegue Yang nur einen davon durch. In ihrer Installation Quasi MB – in the middle of its story materialisieren sich die Tintenstriche in verschiedenen Aggregatzuständen – von Gebilden in flüssigen Phasen zum ge1  Für Anregungen und diverse Hilfestellungen möchte ich mich bei Rembert Hüser und Henry Thomson herzlich bedanken.

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Abb. 1. Haegue Yang: Quasi MB – in the middle of its story, Detailansicht, 2006/07.

Abb. 2. Amy Jones: La Pluie (Projet pour un texte), Standbild, 2006.

druckten Text im erstarrten Zustand (Abb. 1). Andere Künstler experimentieren gleichfalls mit Strategien, den unlesbaren Wörtern, Zufallsbildern und der performativen Dimension eines schwer zugänglichen Films von vor 50 Jahren neues Leben zu verleihen.   Ein Video von Amy Jones, das den Titel von Broodthaers’ Werk übernommen hat (Abb. 2), verlegt das Setting des früheren Films ebenfalls, beschäftigt sich aber nicht mit dem Schauplatz, sondern mit der Plattform, von der aus die Szene gesehen werden kann. 2006 hat der Zuschauer auf YouTube die Möglichkeit, eine rekonstruierte Fassung des früheren Films zu sehen. In diesem Werk werden die Tintenstriche nur mittels photographischer Dokumentation der filmischen Darstellung verfolgt. Masahide Otani projiziert 2008 in einer ehemaligen Bank in Hiroshima das Video seiner Wiederaufführung von La Pluie (Abb. 3). Obwohl die Gesten denen Broodthaers’ ähneln, verlagert Bureau Belge in einer rekontextualisierenden Inszenierung die Schreibszene in den Innenraum. Sichtbar wird auf einmal eine andere Schrift, die in den schnell geschriebenen japanischen Schriftzeichen Zitate von Alain Resnais und Georges Perec entzifferbar werden lässt. Olivier Foulon interessiert sich für die Spuren des vergangenen Zwei-Minuten-Films, die außerhalb des Bildfeldes fortdauern (Abb. 4). Als einer von zehn Künstlern der Düsseldorfer Quadriennale-Ausstellung Von realer Gegenwart. Marcel Broodthaers heute von 2010 beschäftigt er sich mit dem Künstler und dem diskursiven Feld seiner Arbeiten als einem Vektor,2 um in das dichte 2  Bruno Latour beschreibt sein Konzept eines ›Vektors‹ mit dem Bild des ›Carriers‹, das Broodthaers’ Arbeiten als Träger sehr unterschiedlicher Bezugnahmen in der Gegenwartskunst gut erfassen lässt. Der Akzent liegt darauf, die Funktionsweise und -fähigkeit dieser Träger festzustellen: »I actually think it’s quite interesting to see that when you [Lucas Introna] say ›carried over from one moment to the next‹, the carrier is what I want to study. So the type of carrier is very different if it is a small van or a bicycle or one of these guys who are bringing pizza to you, and so on. And that’s what in the old days I defined

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Tinte ans Laufen kriegen

Abb. 3. Masahide Otani: Bureau Belge, Standbild, 2008.

Abb. 4. Olivier Foulon: Ohne Titel (Painting Beside Itself), Detailansicht, 2010.

Netz von künstlerischen Bezugnahmen und Anliegen einzugreifen. Seine Installation Ohne Titel (Painting Beside Itself) blickt hinter die Kulissen von La Pluie, um den Umfang und die Konturen dieses Netzes wie auch die Parameter der eigenen bisherigen Arbeiten zu erproben. Das Spektrum der großen Bs (Marcel Broodthaers, Joseph Beuys und James Lee Byars) eines Ausstellungsfestivals, »welches sich [diesen] seit den 1960er Jahren in Düsseldorf tätigen großen Künstlern des 20. Jahrhunderts verpflichtet fühlt«,3 wird dadurch entscheidend erweitert und neu perspektiviert.   Jones, Otani und Foulon: drei (und mehr) Arten, Tinte absichtlich wieder zu verschütten. Mit ihren verschiedenen Vorgehensweisen versammeln sich die zeitgenössischen Künstler um La Pluie im belgischen Hinterhof der späteren 60er Jahre. Was hat dieser Augenblick, das die Künstler so sehr für die eigene Arbeit reizt? Warum wollen sie heutzutage so gerne in Gesellschaft dieses Projekts für einen Text im Regen stehen? Die Quadriennale legt den Schwerpunkt auf Broodthaers und seinen Einfluss auf spätere Kunstrichtungen, aber was ist an diesem Film – dessen Unzugänglichkeit und damit Unsichtbarkeit oft das Hauptthema dieser ›Re-Makes‹ ist – plötzlich so faszinierend? Die vielen Re-Inszenierungen des Kurzfilms versprechen weder die Bestandteile des ›Originals‹ wiederherzustellen – und vermeintliche Autorintentionen umzusetzen – noch eine intimere Nähe zum früheren Werk zu schaffen. Wie viel von der Kunst von 1969 steckt in der Kunst von heute? Und umgekehrt? Wie tragen ihre as the heart, the paradigm of information systems: namely, how many ways there are to carry over from one time to the next.« Latour, Bruno; Harman, Graham; Erdélyi, Peter: The Prince and the Wolf. Latour and Harman at the LSE, Hants 2011, S. 99f. (Hervorhebungen K. M.). 3  Jansen, Gregor; Müller, Vanessa Joan: »Vorwort und Danksagung«, in: Jansen, Gregor; Müller, Vanessa Joan; Kunsthalle Düsseldorf; Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen (Hg.): Von realer Gegenwart. Marcel Broodthaers heute, Köln 2011, S. 8–11, S. 10.

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Re-Animationen zum Verständnis dieses Zeitabschnitts bei? In La Pluie sieht man einen Künstler, der einen Schriftsteller spielt, der versucht, etwas mit Tinte auf Papier zu speichern. Wie konfiguriert die Vielzahl von Medien die Versuche der Re-Makes, Schrift zu verarbeiten, zu speichern und zu übertragen, neu? Was tragen sie dazu bei? Eins ist klar: Sie alle wollen Broodthaers mit seinen Problemen nicht allein im Regen stehen bzw. in der Tinte sitzen lassen. Diese Aufgabe geht alle an.   Auf die Frage, wie man anfängt, eine Beziehung zu Künstler-Figuren der Vergangenheit aufzubauen und zu konzeptualisieren, antwortet das Video von Amy Jones. Eine Reihe von Ähnlichkeiten fallen sogleich ins Auge: Sowohl der 16-mm-Film von 1969 als auch das Video von 2006 sind schwarz-weiß ohne Ton, dauern weniger als drei Minuten und stellen jemanden dar, der versucht, auf einer Kiste vor einer geweißten Wand im Regen säuberlich zu schreiben. Aber die Gemeinsamkeiten resultieren nicht aus einem Versuch, so ›originalgetreu‹ wie möglich zu sein. Auf die Frage eines YouTube-Zuschauers, wie er an den Originalfilm herankommen könne, erläutert Jones ihren künstlerischen Prozess: »I made it [the video] from accounts of people who have seen it and documentation.«4 Sie hat den Film selbst nicht gesehen.   Ganz im Einklang mit der Umbenennung von Broodthaers’ Département des Aigles zum Department of Refiguration scheint Jones in La Pluie zu behaupten, dass sich ein Film durch seine Vorführung konstituiert. Aber das letzte Bild, in dem die Künstlerin in der Frontalansicht die statische Kamera anerkennt, weicht von dieser Interpretation ab und führt stattdessen zu einem neuen Rätsel (Abb. 5 und 6).   Im Video werden die Text-Bild-Verhältnisse nicht nur auf Papier erprobt, wie in der Gleichzeitigkeit von Texten und Bildern in Broodthaers’ La Pluie, sondern tauchen zugleich als Bilderrätsel im Titel der fiktiven Kunstinstitution auf. Der Kopf verdeckt die entscheidende Mitte des Worts und erzeugt eine Lücke in dem an die Wand schablonierten Wort: RE…ATION. In diesem Rebus wendet sich Jones zum ersten Mal an die Zuschauer mit einem prüfenden Blick, der eine bloße Wiederholung Broodthaers’ in das Umlenken von Künstler- und Zuschauererwartungen wandelt.   Das Video wurde 2006 auf YouTube hochgeladen und von mehr als 4000 Nutzern angeklickt, von denen die meisten wahrscheinlich auf der Suche nach La Pluie (Projet pour un texte) waren. Anstatt die Erwartung der Nutzer zu erfüllen, 4  Jones, Amy: La Pluie (Projet pour un texte), http://www.youtube.com/watch?v=oJC7MnVa2LU, 15.12.2011.

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Abb. 5 und 6. Amy Jones: La Pluie (Projet pour un texte), Standbilder, 2006.

einen rekonfigurierten Broodthaers zu finden, reflektiert Jones über den Prozess, ihn auf der Video-Sharing-Plattform des ständig wachsenden Medienarchivs zu präsentieren. Die Komprimierung von Bewegtbilddateien ist eine notwendige Bedingung, um etwas auf YouTube anbieten zu können und »results in a qualitative reduction of movement, where only parts and sections of the image are updated at a time. […] On the basis of key frames, P (for predictive) pictures are established in-between to predict the location of each block of pixels. […] Movement only takes place through updates of certain sections of the image, while the rest of the frame is relayed as is.«5

In ihrer Wiederaufführung scheint Jones diese Logik der Codierung eines Bildsignals zu übernehmen. Sie arbeitet gleichfalls mit den ›key frames‹ von La Pluie, den wohlbekannten Szenen aus dem Archiv, aber anstatt dem Film vollständige Informationen zu entnehmen, muss sie sich die ergänzenden Bilder vorstellen und sie willkürlich einfügen, um die Arbeit wieder in Gang zu setzen.   Jones stellt den Status ihrer Arbeit als bloßen Index oder bloße Kopie eines ›Originals‹ infrage. Der Ersatz der wörtlichen Figur durch die visuelle Figur führt dazu, dass man darüber nachdenken kann, wie ihre ›Refiguration‹ die Rolle als indexikalisches Zeichen übernimmt. Ein Zeichen für den abwesend anwesenden Körper von Broodthaers und, als Folge des selbstreflexiven Films, auch für verschiedene ›Figuren‹ anderer Zeiten, Medien und Kontexte. Als Wiederaufführung steht ihre digitale Arbeit in nuancierter Beziehung zum analogen Film, »[which is, K. M.] stored in an archive with different materiality and accessing and indexing principles«.6 Der Blick der Künstlerin bringt die Dokumen5  Lundemo, Trond: »In the Kingdom of Shadows. Cinematic Movement and Its Digital Ghost«, in: Snickars, Pelle; Vonderau, Patrick (Hg.): The YouTube Reader, Stockholm 2009, S. 314–329, S. 317. 6  Ebd.

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tation hervor, die im photographischen Archiv, dem kulturellen Gedächtnis und der digitalen Datei fehlt, und erklärt damit zugleich die vielen Abweichungen vom früheren Film. Diese nicht für Fehler zu halten, ist zentral. Die Unterschiede zwischen Film und Video unterstützen vielmehr eine Reflexion auf die heutige Zuschauerschaft im Wandel der Archivierung und der Abrufbarkeit dieser Werke.   Der Bezug auf die Figuren der Vergangenheit verweist nicht automatisch auf einen Diskurs von Original und Kopie, sondern ist erst einmal generativ. »The strict distinction between object and copy […] dissolves on the threshold of motion. Because movement is never material but is always visual, to reproduce its appearance is to duplicate its reality.«7 Für Jones ist diese Wirklichkeit der Prozess, La Pluie (Projet pour un texte) zu finden, zu rekonfigurieren und zu repräsentieren. Sie fordert die YouTube-Nutzer auf, diesen Prozess nachzuvollziehen und dabei zu prüfen: nicht nur als offenkundige refiguration, sondern auch als potenzielle representation, revitalization, remediation, regeneration, reamyation und reanimation, die neue Bedeutungsfelder erschließen. Dafür hält sie ihren Kopf hin.   In Masahide Otanis Beschreibung seiner Arbeit taucht das lateinische Präfix ›re-‹ zusammen mit einer Thematisierung von Wiederholung selbst auf. Wie Broodthaers’ La Pluie wird Bureau Belge im Hinterhof eines Künstlerateliers gefilmt, diesmal an der École des Beaux Arts in Lyon. In der ehemaligen Filiale der Bank von Japan in Hiroshima, deren bauliche Substanz die Atombombe überlebt hat und die heute als Kunst- und Kulturzentrum genutzt wird, wird das Video 2008 gezeigt. Im Hinblick auf die Ereignisse von 1945 erklärt Otani: »[La vidéo] re-présente en effet sa propre bibliographie, car il s’agit de re-faire, re-dire, re-écrire ce qui a été fait, dit, écrit dans le passé, et au travers de cette répétition, de trouver une ouverture de significations que possède virtuellement chaque document.«8

Die Dokumente, mit denen er arbeitet, sind unterschiedlicher Art: Sie stammen aus Japan, Belgien und Frankreich; von 1945, 1969 und 2008, aber auch von 1959 und 1974, als die Filme Hiroshima mon amour und Un homme qui dort herauskamen, aus denen Otani zitiert. 7  Metz, Christian: »On the Impression of Reality in the Cinema«, in: ders.: Film Language. A Semiotics of the Cinema, Chicago 1974, S. 3–15, S. 6. 8  Otani, Masahide: »Descriptif de Bureau Belge«, in: FID Marseille (Hg.): FIDMarseille. 19ème Festival International du Documentaire de Marseille, Marseille 2008, http://www.fidmarseille.org/pdf/cata2008.pdf, S. 236–237, S. 236, 23.05.2011 (Hervorhebungen K. M.).

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In Lyon steht die komplette Filmkulisse mit Schreibtisch, Leiter und Scheinwerfer angestrahlt vor uns, eine Rückblende auf das photographische Bild des leeren belgischen Gartens – das ›Büro‹ von La Pluie, wenn man so will –, das in Bildbänden zu Broodthaers oft zu finden ist. Diesmal sieht man die Szene in Farbe mit Ton in der Digitalaufnahme. Die Strahler erlöschen und die städtische Geräuschkulisse wird ausgeblendet. Auf einem schwarzen Bildschirm erscheint ein Zitat aus Georges Perecs Roman und Film Un homme qui dort: ›Mais n’es-tu pas le plus silencieux de tous?‹, transkribiert ins Japanische. Otani tritt auf und macht ein Licht an. Er schreibt von rechts und füllt die Seite senkrecht nach unten. Ein Satz aus Alain Resnais’ Film: ›Tu n’as rien vu à Hiroshima‹, wird in ständigen Wiederholungen in japanischen Schriftzeichen regelrecht beschworen. Mit dem ›Regen‹ wird die Schrift schnell unlesbar. Otani schreibt weiter auf der nächsten Seite, die von abwechselnd blau-lila und schwarzen Pfützen durchtränkt wird. Die Nahaufnahme des Papiers illustriert, wie nur sehr wenige Tintenstriche der Auslöschung entkommen. Der Regen legt sich. Die Beschriftung des Papiers wurde fortwährend verhindert. Die Linien sind verblasst, verschwommen und ungleich verteilt (Abb. 7).   Formal besehen besteht das Video aus drei Teilen, die die Spaltung zwischen den Orten der Assoziation, der Herstellung und der Verteilung betonen. Die drei Szenen unterstreichen die sinnlichen Wahrnehmungsdimensionen unterschiedlicher Medien. Zu Beginn des Videos wird das unbewegte Bühnenbild dargestellt, ein Bezug auf die verbreiteten Photographien von der belgischen Schreibszene. Der Text aus Un homme qui dort geht auf die Frage der Tonspur ein und ahmt den Zwischentitel eines Stummfilms nach. Als Otani schließlich einen Text verfasst, kommen Ton und Farbe zurück, diesmal im Bewegtbild. Otani kann diese drei Teile und ihre historischen Kontexte und Dokumente mit Leichtigkeit zusammensetzen und auseinanderreißen, weil er die apokalyptische Zentralmetapher im Hintergrund literal liest: Der Regen, der in Brüssel, Lyon und Hiroshima fällt, war »as dark as ink«.9   Während Broodthaers die klassischen Speichermedien auslotet – Papier, Manuskript, Gemälde, Film usw. – interessiert sich Otani für die Effekte von Intermedialität, die sein schwarzer Regen hervorruft. Die Nahmikrophonierung vermittelt die Intensität und das schnelle Tempo des Schreibens, da jedes 9 

Pellegrino, Charles: »Gojira’s Egg«, in: ders.: The Last Train from Hiroshima.The Survivors Look Back, New York 2010, S. 19–37, S. 28f. Vgl. dazu Ibuse, Masuji: Kuroi Ame (Black Rain) (1965), Tokyo 1982, S. 34f.: »[T]he rain from [the thunderous black clouds] had fallen in streaks the thickness of a fountain pen. […] However, many times I went to the ornamental spring to wash myself, the stains from the black rain wouldn’t come off. As a dye, I thought, it would be an unqualified success.«

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Abb. 7. Masahide Otani: Bureau Belge, Standbild, 2008.

Geräusch deutlich hörbar ist: die kratzigen Tintenstriche, die harten Tropfen auf die durchnässte Fläche, der klingende Federhalter, der in der Eile gegen das Tintenfass stößt. Die Arbeit drängt darauf, der Feder und dem Papier in den Geräuschen der Stadt, des Schreibens und des Regens zuzuhören. Man muss die Tinte nur verwässern, um plötzlich gewahr zu werden, dass sich von Anfang an Bilder in dem dunklen Farbstoff versteckt haben. Mit der Farbe scheint Otani darauf anzuspielen, dass »[i]n digital space, all colors carry the possibility of all other colors within them«.10 Während die Tintenstriche graue Spuren hinterlassen, entwickeln die Tintenlachen hellblaue Ränder und eine dunkelviolette Mitte. Die Schriftzeichen werden zu geometrischen Formen, zu Dreiecken und Halbkreisen, während die verkürzten Tintenstriche keinen Satz mehr formulieren, sondern ein senkrechtes Muster.   Die wiederholte Phrase auf dem Papier, ›Tu n’as rien vu à Hiroshima‹, nimmt auch unter diesen Bedingungen eine unerwartete Form an. Im Kontext von Resnais’ Film von 1959 setzt sich der Satz für die Sprache ein. Jedes Mal, wenn die Hauptdarstellerin darauf besteht, etwas in Hiroshima gesehen zu haben, bestreitet ihr Liebhaber ihre Wahrnehmung und damit auch ihr Wissen. Wie bei den bekannten Äußerungen ›Ceci n’est pas une pipe‹ und ›Dies ist kein Kunstwerk‹ befinden sich die Zuschauer in einer paradoxen Situation, haben sie doch tatsächlich etwas in Hiroshima gesehen: die schriftliche Wiederholung, die das visuelle Erlebnis verweigert. Als die Schrift auseinanderfließt, gerät ›Hiroshima‹ – ヒロシマ – augenblicklich aus der Form. Differenzen treten unweigerlich in der Wiederholung hervor. Die Konturen der Wörter, »of language charged with great personal and historical meaning«, gehen verloren, während der Regen 10 

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Misek, Richard: Chromatic Cinema. A History of Screen Color, Oxford 2010, S. 170.

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»foreground[s] the palpable, tactile and material qualities of words, […] a thingness of the isolated word [that] makes the qualities it stands for vivid, concrete and yet almost unfathomable«.11 Im textuellen Projekt von Otani erkennt man eine Materialität »structured from the outset by repetition, temporality, and delay«,12 und wie das digitale Format des Videos, komprimiert er seine Kontexte in kleine Einheiten – in einen Schreibtisch oder ein Zitat. In der Wiederholung kommt eine andere Form von Wissen zum Vorschein, eine, die nicht von Überdeterminierungen und Verallgemeinerungen gesteuert wird, sondern von Einfachheit und Spezifität in einer Umgebung, die durch den Zufall vorangebracht wird.   Für Broodthaers’ Büro und die Räume seiner Arbeiten interessiert sich auch Olivier Foulon und verfolgt deshalb die Spuren zurück nach Düsseldorf. Für die Ausstellung Von realer Gegenwart. Marcel Broodthaers heute, die 2010 und 2011 zehn Künstler in die Kunsthalle Düsseldorf eingeladen hatte, um Broodthaers’ »Ideenwelt, eine Verkettung der Inhalte, Referenzen des Formenvokabulars und der Zeitbezüge«13 aus heutiger Sicht zu kontextualisieren, bezieht Foulon kurzerhand den Ausstellungsraum ein, in dem Broodthaers im Jahre 1972 die berühmte Section des Figures (Der Adler vom Oligozän bis heute) der Öffentlichkeit präsentiert hatte.14 In Ohne Titel (Painting Beside Itself) legt Foulon einen Diastreifen mit Schnappschüssen von Künstlern und Schriftstellern nach oder vor der Arbeit15 auf einen Leuchttisch mitten im Raum, einschließlich einer Aufnahme vom Hof in Belgien. Broodthaers selbst ist nicht zu sehen. Im Diapositiv sind Oda und Franz Dahlem und Blinky Palermo zu erkennen, die an den Dreharbeiten zu La Pluie beteiligt waren (Abb. 8).   Auf der Bildfläche findet sich eine große Auswahl weiterer Photographien: geschnittene und ungeschnittene Diastreifen mit und ohne Plastikhüllen, gerahmte und ungerahmte Dias in kleinen Stapeln oder langen Streifen, die über die

11  12  13  14 

Kotz, Liz: Words to Be Looked At. Language in 1960s Art (2007), Cambridge/London 2010, S. 143. Ebd., S. 98. Jansen; Müller, »Vorwort und Danksagung«, S. 8. In der Dokumentation der Section des Figures sieht man, dass gerahmte Bilder an einer Wand zwischen Vitrinen und Außenfenstern hängen. Walter Swennens Gemälde Véronica (2007), auf das Foulon seine Diaserie projiziert, ist genau auf gleicher Höhe der früheren Wand angebracht. Ich danke Vanessa Müller für die per E-Mail zur Verfügung gestellten Informationen zu dieser Dokumentation. 15  Die Sequenz besteht aus sechs Dias: Thomas Bernhard beim Fahrradfahren auf seinem Bauernhof in Obernathal; Michael Asher ebenfalls auf seinem Rad in Münsters Skulptur Projekten; René Daniëls in Eindhoven, als er eine bemalte Leinwand wegwarf; ein Bild vom tankenden Blériot-Flugzeug, das im Atelier von Giorgio Morandi in Bologna hing; Franz und Oda Dahlem und Blinky Palermo im Hof des Département des Aigles; und Pierre Klossowski mit seiner Hand auf La Bocca della Verità in Rom (Abb. 8). Für den Hinweis bedanke ich mich bei Olivier Foulon.

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Abb. 8. Olivier Foulon: Ohne Titel (Painting Beside Itself), Detailansicht des Diastreifens, 2010.

Tischkante reichen, sowie ein aufgeschlagenes Buch,16 das als ein vergrößerter, gerahmter Diastreifen fungiert (Abb. 9).   Der Diafilmstreifen auf dem Leuchttisch betont, unprojiziert, die Vorläufigkeit und Kontingenz der jeweiligen Nebeneinanderstellung und paradigmatischen Reihenbildung. Anders als bei der traditionellen Dia-Doppelprojektion in der Kunstgeschichte wird die Kanonizität und die Autorität des Vergleichs nicht einfach behauptet und im Dunkeln belassen, sondern als allererst konstruiert ausgewiesen. Es ist für die Zuschauer einfach, die Diapositive auf dem Tisch miteinander zu koppeln und voneinander zu trennen und in immer wieder neuen Konstellationen zu arrangieren. Sie treten selbst an den Schneidetisch und können Entscheidungen nachvollziehen und selbst treffen. Statt einer Geschichte, »die sich geradezu magisch vor den Augen der Betrachter entfalte[t]«,17 wird der Aufbau dieses Systems, in dem Diapositive und Streifen in scheinbarer Ordnung arrangiert vorliegen, auf Foulons Leuchttisch im Augenblick seines Entstehens festgehalten. Damit werden die Geschichten der Kunstgeschichte überprüfbar. Die heimliche Feier des Einzelwerks und seines ›legitimen‹ Platzes in der Geschichte wird mit einer Art Storyboard der Entscheidungen unterlaufen.   Die Dia-Doppelprojektion wird oft damit assoziiert, Geschichten durch vergleichendes Sehen zu bewahren und zu übertragen; man kontextualisiert das Bild in der Sequenz immer mit dem vorherigen und folgenden. Bei Foulon wird der Blick für die Logik der (Re-)Organisation von Kontexten geschärft, für das Ordnen, Auswählen und Reformatieren der Bilder. Handlungen, die normalerweise unsichtbar bleiben, aber grundlegend für die Konstruktion und Legitimierung dieser Geschichte sind. Strategien dieser Art werden von der Installation ans Licht gebracht und geben Anlass zum Überdenken des kunsthistorischen Archiv-Systems, das vorgibt, es »funktioniere als ›simulacrum of scientific 16  Es handelt sich um Olivier Foulons Beitrag zur Künstlerzeitschrift Gagarin im Jahre 2006, der auf den Seiten mit den Abbildungen Courbet’s painting ›L’Atelier‹, Sourches, 1944 und Courbet in his studio, Ornan, 1866 geöffnet ist.Vgl. Foulon, Olivier: »Redites et ratures«, in: Gagarin 7/2 (2006), S. 18–27, S. 24, 25. 17  Wenk, Silke: »Zeigen und Schweigen. Der kunsthistorische Diskurs und die Diaprojektion«, in: Schade, Sigrid; Tholen, Georg Christoph (Hg.): Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, München 1999, S. 292–305, S. 294.

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Abb. 9. Olivier Foulon: Ohne Titel (Painting Beside Itself), Detailansicht des Leuchttisches, 2010.

demonstration‹, in dem der aktuelle Einsatz von ›Evidenz‹ selbst die Wahrheit dessen konstruiere und naturalisiere, was intendiert sei«.18 Inmitten der Streuung von Abbildungen hält man Ausschau nach Serien und Verschiebungen von Beziehungen und Referenzen, um das beleuchtete Bilderbuch zu enträtseln.   Broodthaers’ sichtbare Abwesenheit in dieser Bildanordnung nimmt den Titel der Ausstellung, der auf George Steiners gleichnamiges Buch von 1989 mit dem Untertitel Hat unser Sprechen Inhalt? anspielt, ernst. Statt Broodthaers’ Arbeiten mit dieser Position zu identifizieren und metaphysisch aufzuladen, wird die Referenz als Reflexion auf die »sakral angelegte[ ]«19 Ausstellung der abwesenden Figur genutzt. Die Abwesenheit des Künstlers wird in Foulons Arbeit weiter potenziert, indem das Drumherum von La Pluie in den Vordergrund tritt, in dem Broodthaers, der Darsteller, nicht auftritt. Hier erscheinen andere Persönlichkeiten aus dem Kunstbetrieb der 60er Jahre in neu organisierten Kontexten. Und damit wird dann auch der Leuchttisch selbst mit all seinen zusätzlichen 18  Ebd. 19  Zur Wahl des Ausstellungstitels vgl. Müller; Jansen, »Vorwort und Danksagung«, S. 10: »Wer sich die Lektüre von George Steiners gleichnamigen [sic] Buch von 1989 vornimmt, sollte gewappnet sein. […] In Brot und Wein ist Jesus Christus wirklich gegenwärtig, real präsent. Dennoch würde diese Zuschreibung im Rahmen eines Ausstellungsfestivals in Düsseldorf […] am wenigsten sinnvoll erscheinen. Uns erschien der Titel jedoch passend, weil wir Broodthaers als Abwesenden inmitten beinahe sakral angelegter Retrospektiven feiern wollen.«

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Bildern zum Teil des Raums außerhalb des filmischen Rahmens, den es zu bedenken gilt. Im Film legt Broodthaers Wert auf den Prozess, einen Text zu verfassen. Foulon tritt in seine Fußstapfen und befasst sich nicht mit dem Film als Endprodukt, sondern mit der Dynamik des Raums im Off, mit dem Blick hinter die Kulissen, der Broodthaers aus dem (Ideal vom) isolierten Künstleratelier entfernt.   Der Untertitel von Foulons Arbeit übernimmt den Titel von David Joselits einflussreichem Aufsatz »Painting Beside Itself«, der das Vermögen zeitgenössischer Malerei beschreibt, Netzwerke visualisieren zu können. Ohne Titel, das einen Untertitel in einer Klammer hat, soll offensichtlich in diesem Kontext gesehen werden. Auch diese Arbeit mit ihrer Gedächtnisstütze ist darauf aus, Formen und Strukturen bereitzustellen, »whose purpose is to demonstrate that once an object enters a network, it can never be fully stilled, but only subjected to different material states and speeds of circulation«.20 In seiner Düsseldorfer Installation projiziert Foulon seine Diaserie Le souffleur ou L’homme assis dans (le carré de) la peinture von 2008 auf Walter Swennens Gemälde Véronica von 2007. Auf Swennens Leinwand ist eine stehende, graphisch stilisierte Frau zu sehen, die knallbunte, quadratische Bett- und Handtücher – Leinwände, wenn man so will – auf eine Wäschespinne hängt. Obwohl das Dia vom Département des Aigles nicht zu der Serie von Bildern gehört, die Foulon auf das Bild mit den bunten Rahmen wirft, wird dennoch hiermit eine Schichtung verschiedener Bilder suggeriert, die auf Joselits Bemerkungen zu weiteren diskursiven Verflechtungen hinweist: »Transitivity is a form of translation: when it enters into networks, the body of painting is submitted to infinite dislocations, fragmentations, and degradations. […] [T]hese framing conditions cannot be quarantined.«21   Ähnliches gilt auch für die Assoziationskette von Foulon, die als »a kind of performance of shuffling«22 von Zeichensystemen zu verstehen ist. Das Dia vom Drehort verdeutlicht, dass Broodthaers nicht allein in seinem Atelier war, trotz »traditional beliefs in the studio as the site of isolation and solitary creative activity«.23 Mit den Wörtern ›Département des Aigles‹ im Hintergrund 20  Joselit, David: »Painting Beside Itself«, in: October 130 (2009), S. 125–134, S. 132. 21  Ebd., S. 134. 22  Jean Matthee im Interview mit Olivier Foulon, in: Matthee, Jean; Murphy, John: Interview with Olivier Foulon, Jan van Eyck Academie, Maastricht, http://www.janvaneyck.nl/4_4_cv/cv_f_fou1.html, 10.07.2011. 23  Jones, Caroline A.: Machine in the Studio. Constructing the Postwar American Artist, Chicago 1996, S. 108. Ab den 60er Jahren begann die traditionelle Auffassung von der Aura des Studios »to give way to views of the studio as workshop, as site of social interaction, as arena, as ›happening.‹ Where the films of Namuth and Falkenberg [über Jackson Pollock, K. M.] attempt to preserve the artist’s creative self as inviolate individual, the television documentaries of Slate and Davis [zu USA: Artists, K. M.] project the artist as

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Abb. 10. Blinky Palermo, Oda und Franz Dahlem.

bestärkt das Dia die Ansicht, dass Broodthaers’ Atelier zugleich als Zuhause und als filmische Bühne dient, was die Vorstellungen vom zurückgezogenen Künstler unhaltbar werden lässt. Grundelemente des Films, wie die Kiste und die Leiter, fehlen in der Momentaufnahme. Die bewachsene Bühne muss, trotz des Anscheins der Natürlichkeit, stets von anderen geharkt, gestrichen und allererst hergestellt werden. Elemente, die vielleicht nicht im Film gesehen werden sollen, wie eine mysteriöse Gießkanne in der Hand von Franz Dahlem, sind andererseits deutlich sichtbar (Abb. 10). Foulon unterstützt diese Lesart in der Diasequenz, indem er Broodthaers in Zusammenhang mit anderen Künstlern und Darstellungen von Ateliers im Freien situiert und auf einen Diastreifen zieht, gleichsam so, als seien alle diese Aufnahmen hintereinander entstanden. Diese Darstellungen »present a social web within which the artist operates – populated by assistants, dealers and curators – a web woven of obligation and need«,24 das dem Atelier zu eigen ist.   Jones, Otani, Foulon: »Drei Möglichkeiten, Tinte zu verschütten« – dies ist der Titel eines Vortrags von John L. Austin, den er auf einem Kongress der American Society of Political and Legal Philosophy im Jahre 1958 hielt. Der Vortrag handelte von ›Verantwortlichkeit‹. Wie lässt sich Handeln im Hinblick auf ›Verantwortlichkeit‹ unterscheiden? Tinte verschütten ist hier das Ausgangsbeispiel. Man fragt den Tinte-Verschütter: »›Hast du das absichtlich [intentionally, K. M.] getan?‹, oder: ›Hast du dir etwas dabei gedacht [mit Bedacht; deliberately, K. M.]?‹, oder: ›Hast du damit etwas bezweckt [purposely, K. M.]?‹«25 self-consciously aware of the performative aspect of painting.« Ebd. 24  Ebd. 25  Austin, John L.: »Drei Möglichkeiten,Tinte zu verschütten«, in: ders.: Gesammelte philosophische Aufsätze,

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Austin zufolge haben die drei Möglichkeiten unterschiedliche Konnotationen für die Durchführung eines Vorgangs. Absichtlichkeit betont einen allgemeinen Plan,26 den man zuvor formuliert hat und nachher mit dem Endergebnis des Vorgangs vergleichen kann – aber er reicht nur so weit wie »die Leuchtkraft einer Bergmannslampe«.27 Etwas mit Bedacht tun bezieht sich eher auf den Vorgang und meint, dass man ihn nicht impulsiv durchgeführt hat. Im Gegensatz zu diesem bedächtigen Durchführen »[g]ibt man sich zielstrebig«, wenn man etwas zweckgerichtet tut, dann »bringt man die Präliminarien, die Anfangsstadien, überhaupt jedes Stadium hinter sich, um zum nächsten überzugehen und das ganze Geschäft zu erledigen«.28 Bei allen Unterschieden haben alle drei Arten, Tinte zu verschütten, eine Gemeinsamkeit: »[T]here is something ›precipitate‹ about the act in every case.«29   ›Something precipitate‹. Dem Oxford English Dictionary zufolge bedeutet dies: »Of an action, judgement, etc.: characterized by excessive haste or lack of deliberation; hasty, rash, unconsidered«, oder wenn man es eher wörtlich nimmt: »Moisture that falls to the earth after condensing from water vapour in the atmosphere; a particular form of this, as rain or snow«, und schließlich im poetischen Sinne: »Descending steeply; going straight downwards; with a headlong descent«.30 Jede Definition deutet auf eine Art von ›Fall‹, etwa eine Entscheidung übereilt zu treffen (und folglich in eine negative Situation, ein Loch hineinzufallen bzw. in der Tinte zu sitzen) oder auf einen Regenfall bzw. einen tragischen Fall. Austin, »like a good skier, delights in slides and slips«, und so hält Shoshana Felman dieses Fall-Gefühl für untrennbar von der weiteren Bedeutung seines Textes: »[F]alling is an act: the act, indeed, in so far as it is a failure – the very prototype of the acte manqué.«31 Auf diese Ausdrucksweise richtet sie ihr besonderes Augenmerk, insbesondere auf den Titel selbst: Three Ways of Spilling Ink. Die drei Möglichkeiten beziehen sich auf Verschüttungsweisen, gelten aber auch als »three linguistic ways of speaking of the […] act, of describing its intentionality; in this latter case, it is Austin himself who is the ink-spiller, as he hg.v. Joachim Schulte, Stuttgart 1979, S. 351–369, S. 353 (Hervorhebungen K. M.). 26  Vgl. ebd., S. 364f. 27  Denn Plan und Ergebnis müssen nicht deckungsgleich sein: »Freilich ist nicht alles, was später kommt oder danach getan wird, etwas, was ich zu tun beabsichtigte, aber vielleicht gehört es zu den Konsequenzen oder Resultaten des Beabsichtigten.« Ebd., S. 366. 28  Ebd., S. 364. 29  Austin, John L.: »Three Ways of Spilling Ink«, in: ders.: Philosophical Papers, hg.v. J. O. Urmson, Geoffrey James Warnock, Oxford 1979, S. 272–287, S. 277. 30  »Precipitate«, in: Oxford English Dictionary, Oxford 2011, http://www.oed.com, 01.07.2011. 31  Felman, Shoshana: The Scandal of the Speaking Body. Don Juan with J. L. Austin, or Seduction in Two Languages, Stanford 2003, S. 85.

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studies the three expressions and writes his article on the […] ›three ways‹«.32 Austins rätselhafter Titel ist demnach eine Strategie, sich in die Probleme des Verschüttens von Tinte, in die Schreibszene, zu verwickeln. Tinte wurde also ›gekleckst‹, um (über) ›Verantwortlichkeit‹ zu schreiben, aber absichtlich ohne die übliche Vorsicht, die nötig ist, »um Zusammenstöße, Unordnung und Zwischenfälle abzuwenden«.33 Austin macht sich stattdessen die Verschiebungen des Signifikanten zu eigen. Er ist gleichermaßen am Verkomplizieren von scheinbar selbstverständlichen Wörtern wie an dem Spielerischen von Begriffen interessiert, die selbstreflexiv den Akt des Schreibens infrage stellen. So verspritzt er zufällig sehr bezweckt34 etwas Tinte über verschüttete Tinte.   Zufälligkeit, etwas Unvermitteltes, acte manqué, ein Zwischenfall – diese Konzepte lassen sich auch auf die drei Arten, Broodthaers’ Tinte zum Leben zu erwecken, zurückbeziehen. Jones zeichnet La Pluie (Projet pour un texte) nach, ohne es je gesehen zu haben, und diese Wiederaufführung des Hörensagens des kulturellen Archivs eröffnet verschiedene Möglichkeiten für unerwartete Begegnungen und Perspektiven. Otani experimentiert mit einer Äußerung über die Unmöglichkeit des Wissens und überlässt es dem Zufall, ob etwas Unvorhergesehenes in seiner Wiederholung auftaucht. Zu Beginn eines Interviews betont Foulon, dass Nicht-Wissen nicht unbedingt hinderlich für die Kunstproduktion ist: »The sense, the notion of ›not knowing‹ is often central to my work«,35 was dann einer seiner Gesprächspartner folgendermaßen ausführt: »An artist can bring back something through form, something that cannot be said or known, can bring it back from a place of radical unknowing.«36 Was alle diese drei ReAnimationen an La Pluie produktiv finden, ist der Umgang mit dem Zufall. Mit ihren Techniken lässt sich weiter mit ihm arbeiten und noch weitaus mehr erreichen.   Diese Unabgeschlossenheit ist auch dem Text von Austin inhärent. Er konzentriert sich auf Wörter, die ›übereilt‹ gebraucht werden, vielleicht, weil man sie verwendet, um Handlungen zu beschreiben, die zur Ungewissheit führen. In seiner Beschreibung dieser Wörter verlässt er sich auf das Schlüpfrige der Sprache, die, wie Felman in ihrer Lektüre verdeutlicht, zu zufälligen Bedeu32  Ebd., S. 90. 33  Austin, »Drei Möglichkeiten, Tinte zu verschütten«, S. 366. 34  Austin fragt und antwortet spielerisch: »Ist es möglich, eine Handlung zu bezwecken, ohne sie absichtlich zu vollziehen? […] Der Ausdruck ›accidentally on purpose‹ (›zufällig bezweckt‹) spielt, und sei es auch nur ironisch, darauf an, daß dergleichen vielleicht möglich ist; denn wenn es zufällig ist, kann es nicht absichtlich getan worden sein. Aber wie ironisch ist diese Ausdrucksweise eigentlich?« Ebd., S. 359. 35  Matthee; Murphy, Interview with Olivier Foulon. 36  Ebd.

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tungen und Vorfällen führt. Damit reiht er sich selbst in die Reihe der TintenVerschütter ein, ganz so, wie es auch Jones, Otani und Foulon tun. Diese Arbeiten deuten auf die Bereitschaft hin, sich gehen zu lassen und der Organisation ihrer Wörter und Formen den Möglichkeitsspielraum offenzuhalten. Sie kämpfen nicht gegen den Regen, die Flut der Bilder oder der polysemischen Bedeutungen, die den Text zu destabilisieren suchen. Die Vielheit der Bedeutungen ist vielmehr das, worauf Austin explizit setzt.37 Wie der Lektor seines Vortragsmanuskripts, Lynd W. Forguson, erläutert, »läßt sich jedoch immerhin ein Punkt festhalten, der Austin höchstwahrscheinlich vorschwebte: Vergleiche und Gegenüberstellungen sollen wir nicht nur mit diesen drei Ausdrücken […] vornehmen, sondern jeweils auch mit anderen Ausdrücken.«38

Die Materialität der Tinte und ihre verschiedenen Verlaufsformen zum eigentlichen Untersuchungsort des Schreibakts zu erklären und damit offenzuhalten für künstlerische Einschreibungen, macht sogleich deutlich, dass es immer schon drei Möglichkeiten und mehr gibt, Tinte absichtlich (wieder) zu verschütten.   Rund zehn Jahre nach Austins Einsatz in puncto verantwortliches Vorgehen erprobt Broodthaers verschiedene Verfahren, Tintenstriche zu hinterlassen. La Pluie, sein ›Projekt‹ für einen Text, ist der Versuch, auch im Regen mit dem Schreiben nicht lockerzulassen. Es ist ein selten halsstarriges Unternehmen. Fast drei Minuten lang versucht Broodthaers standhaft im Garten des Musée d’Art Moderne, Tintenmarkierungen aufs Papier zu bringen. Als der Regen nicht nachlässt, wandeln sich seine ehrgeizigen Bestrebungen, ein schriftliches Dokument zu verfassen, in Tuschezeichnungen, die die Grenzen zwischen Text und Bild verschwimmen lassen. So etwa könnte man seinen Film auf die Schnelle zusammenfassen. Schaut man genauer hin, wird sein Projekt um einiges komplizierter. In einer Reihe von verschiedenen, häufig diskontinuierlichen Aktionen und medialen Einsätzen führt Broodthaers als Hauptdarsteller die vielen Möglichkeiten vor, verschüttete Tinte abzuspeichern und zu übertragen.   Die erste Totale des 16-mm-Films fungiert als establishing shot (Abb. 11). Der schablonierte Schriftzug ›Département des Aigles‹ (mit einem Schmutzfleck auf dem letzten ›s‹) im Hintergrund deutet an, dass wir uns im freien Hinterhof des

37  Felman deutet auch darauf hin, dass sein Werk nicht den Anspruch hat, eine Antwort auf das Verschütten zu geben: »It only enumerates, inventories the variety of possible questions – a list that one might be tempted to prolong.« Felman, The Scandal of the Speaking Body, S. 91. 38  Forguson, Lynd W. zit.n. Austin, »Drei Möglichkeiten, Tinte zu verschütten«, S. 369, Fußnote 7.

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Abb. 11. Der Drehort von La Pluie.

fiktiven Musée d’Art Moderne befinden,39 aber wie und zu welchem Zweck bleibt zunächst rätselhaft. Der Schauspieler, Marcel Broodthaers, der von Kopf bis Fuß zu sehen ist, sitzt schon am Schreibtisch. Auf seiner linken Seite fällt der Blick auf die aufgestellte Leiter. Der Schauspieler schenkt der Kamera keinerlei Beachtung, obwohl sie auf ihn und seine Bewegungen reagiert. Als er den Deckel des Tintenfasses abnimmt und den Federhalter in die Tinte eintaucht, leitet ein schneller Zoom zu einer Halbtotalen über. Die Schablonenschrift wird jetzt aus dem Bild gedrängt. Auf seiner rechten Seite sind Schreibgeräte auf einer Kiste zu sehen,40 während auf seiner linken Seite Papierstapel liegen. Der Schauspieler beugt sich über den provisorischen Schreibtisch, hält mit einer Hand das Papier fest und fängt mit der anderen an zu schreiben.41   Die nächste Szene in halbnaher Einstellung schwankt zwischen unscharf und scharf, als ob die Bildschärfe nur kurzzeitig erreicht werden kann. Broodthaers richtet sich auf dem Klappstuhl auf, aber seine Augen bleiben trotzdem fixiert auf etwas unten, das nicht zu sehen ist. Der Kopf verdeckt die Buchstaben 39  Vgl. Broodthaers’ Projekt des Musée d’Art Moderne: Broodthaers, Marcel: Musée d’Art Moderne, Département des Aigles, Section XIXème Siècle, rue de la Pépinière, Brüssel, 27.09.1968–27.09.1969. 40  Vgl. Metz, Petra: Aneignung und Relektüre. Text-Bild-Metamorphosen im Werk von Marcel Broodthaers, München 2007, S. 52: »Der Bezug zu dem Museum wird in La Pluie – neben der Inschrift an der Wand – durch die Verwendung verschiedener Utensilien deutlich. So ist die Transportkiste, die Broodthaers anstelle eines Tisches zum Schreiben nutzt, zentraler Bestandteil des Museums.« 41  Diese Filmsequenz ist nicht in der Version von La Pluie enthalten, die sich in der Ruben/Bentson Film and Video Study Collection im Walker Art Center in Minneapolis befindet. Das Centre Pompidou in Paris hat eine längere Fassung des Films in seiner Sammlung.

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in ›Aigles‹ im Rhythmus der wippenden Bewegungen des Körpers und macht dadurch das verschmutzte Ende des Wortes besonders augenfällig. Als sich der Schreibende weiter vornüberbeugt, wird sichtbar, worauf er sich die ganze Zeit über konzentriert. Unter den Materialien auf der Kiste sind das Tintenfass mit geöffnetem Deckel, zusätzliche Papiere, Schreibgeräte in und neben einem Glas und eine Gitanes-Zigarettenschachtel, die als Papiergewicht dient: all das, was das Herz eines Schriftstellers begehrt.   Nach einem Satz auf dem Papier sieht man den Schriftsteller im Profil von links oben. Das Schreiben ist ordentlich und wird fast mechanisch Strich für Strich in Zeilen aufs Papier gebracht. Der wiederholte Blick auf das Tintenfass bietet Halt für den Schreibenden wie für seine Zuschauer und hilft, sich mit der Lage vertraut zu machen. Die Kameraeinstellung ändert sich zur Dreiviertelansicht von hinten; man würde doch schon gern wissen, was er da schreibt, und blickt heimlich über die Schulter auf die Arbeit. Das Schreiben mutet vergleichsweise abgekürzt und schräg an, und wie der Autor einen Satz unterstreicht und eilig zu einer anderen Stelle auf dem Block zurückkehrt, verändert sich die Situation: Plötzlich sprudelt es schwarze Kleckse auf das Papier. Dass es regnet, sieht man nicht sogleich. Der Regen wird erst durch einen neuen Hell-Dunkel-Kontrast im Bild wahrnehmbar. Trotz aller Anstrengungen kann ein ordentlicher Fließtext nicht weitergeschrieben werden. Die Sätze werden schnell hingekritzelt, obwohl sie nicht zustande kommen. Der Prozess nimmt Fahrt auf. Der Federhalter benötigt immer mehr Tinte, wird hastig eingetaucht, und das Übermaß formt schwarze Pfützen um das Tintenfass auf der Kiste. Die Bewegung des Schreibens selbst scheint wichtiger zu sein als die Abfassung eines Textes im engeren Sinne.   In der Frontalansicht in Augenhöhe gerät etwas Neues in den Blick: Der Regen hier ist une pluie, der nicht den Garten bewässert, sondern es nur auf den Schreibtisch abgesehen hat. Mit Hilfe der Leiter fällt ›der Regen‹ aus einer Gießkanne direkt auf Broodthaers und seinen Text. Angesichts der zahlreichen Tintenlachen, die sich frei über die Fläche bewegen, wird die Schriftform zu einer Art Ausmalen. Wegen des hohen Klappstuhls und der Körperhaltung weit über der niedrigen Kiste könnte es auch Zeichnen sein, aber Schreiben ist es auf alle Fälle nicht mehr. Der Text wird zum Bild, der Autor zum Maler, oder anders gesagt: Broodthaers der Schriftsteller wird zum bildenden Künstler. Diese ›Verwandlung‹ hatte er biographisch schon 1964 vollzogen,42 als er die letzten 42  Broodthaers hat sich dazu in einem bekannten Ausspruch geäußert. Vgl. Buchloh, Benjamin: »Open Letters, Industrial Poems«, in: ders. (Hg.): Broodthaers. Writings, Interviews, Photographs, Cambridge 1987, S. 67–100, S. 71f.: »I, too, wondered if I couldn’t sell something and succeed in life. I had for quite a

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Abb. 12. Marcel Broodthaers: La Pluie (Projet pour un texte), 16  mm, schwarz-weiß, 3  Min., Standbilder, Brüssel 1969.

50 Kopien seines sich schlecht verkaufenden43 Gedichtbands in Gips gegossen und zur Skulptur44 erklärt hatte, was seine Dichterkarriere symbolisch beendete. Der Film stellt diesen Schritt in einer gleichsam ironischen wechselseitigen Erhellung der Künste nach und lässt den Federhalter mit kleinen vertikalen Bewegungen weitermachen, um das Ausmalen an einer Stelle zu testen. Die Kamera zoomt an das Medium der Schrift heran. Sie kippt dann nach oben, um die gefilmte Person mit den an der Stirn klebenden triefnassen Haaren näher zu betrachten, und lässt den Text für einen Augenblick außen vor. Der ›Malerschreiber‹ setzt die linke Hand auf das Knie, richtet sich auf und macht, mit einem nachdenklichen Blick im Profil gesehen, eine Pause. Die Unterbrechung wirft Fragen auf:Wie wird es unten weitergehen? Blättert er um? Nimmt er ein neues Blatt? Zerknüllt er das Papier? Beobachtet er einen Tintenfleck, der ihm gefällt? Gibt er womöglich auf? Kommt der Film zu einem Abschluss? (Abb. 12.)   Der Film macht weiter, der Maler aber nicht. Hier zeichnet sich der nächste Wechsel des künstlerischen Mediums ab, in dem Broodthaers sich die Pose eines Bildhauers aneignet, der den Abstand sucht, um eine Perspektive auf seine Kunst zu gewinnen. Man stellt sich vor, dass das Objekt jenseits des Bildfeldes little while been good for nothing. I am forty years old … . The idea of inventing something insincere finally crossed my mind and I set to work at once.« 43  Vgl. Schultz, Deborah: Marcel Broodthaers. Strategy and Dialogue, Bern 2007, S. 55. 44  Vgl. Broodthaers, Marcel: Pense-Bête, Galerie Saint Laurent, Brüssel 1964.

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vielleicht eine Art Textur hat, deren Konturen er zu erfassen versucht. Statt betont sorgfältig zu schreiben oder sich auf eine Stelle zu konzentrieren, experimentiert Broodthaers jetzt mit den Auswirkungen, die wechselnde Blickwinkel haben.   Nach kurzen Einstellungen mit einer umgedrehten Makroaufnahme und einer Profilansicht sieht man schließlich wieder den ganzen Körper vor sich sitzen. Man schenkt der Umgebung erneute Aufmerksamkeit. Die Kiste ähnelt den leeren Verpackungskisten,45 die Broodthaers als Kurator und Direktor des Musée d’Art Moderne, Section XIXème Siècle in seinem Haus in Brüssel im Jahr zuvor arrangiert hatte, was der Arbeit eine weitere intertextuelle Bezugnahme hinzufügt. Auch der Tisch hier ist unterwegs. Ein Provisorium. Als die Hand das Knie loslässt, um die Arbeit wieder festzuhalten, lässt ein abrupter Übergang zum ersten Mal das Profil von oben, von seiner rechten Seite aus sehen. Broodthaers scheint gerade dabei zu sein, die Papiere umzusortieren, aber es bleibt unklar, was er genau zwischen den Szenen gemacht hat. Auf das Raum-Zeit-Kontinuum wird keine Rücksicht genommen, da diese Wandlungen – vom Autor zum Dichter, Zeichner, Bildhauer, Kurator usw. – als eine Serie zu verstehen sind. Es gibt weder einen bestimmten kausalen Zusammenhang zwischen dem einen und dem anderen noch eine Medienhierarchie. Die unterschiedlichen Formen kommen unerwartet aus dem Regen hervor, wobei der überdeutliche Schnitt ihr zufälliges Erscheinen unterstützt. Die Perspektive wird bei der Arbeit umgekehrt. Die Tintenlachen kommen hier vom Regen, nicht von der Hand des Autors, da er in diesem Ausschnitt das Papier überhaupt nicht berührt. In der folgenden Einstellung liegt die linke Hand, die zuvor das Papier festgehalten hat, auf dem Knie, und die rechte Hand, die damit beschäftigt war, den Federhalter sorgfältig gegen den Rand des Tintenfasses zu tippen, ist bereits am Schreiben. Die Einstellung kommt einem bekannt vor. Es wird zunehmend schwieriger, den Filmausschnitt zeitlich einzuordnen. Diskontinuität etabliert schrittweise eine Art Kontinuität.   Der Point-of-View-Shot wird häufig als die zweite Hälfte der Narration angesehen: Broodthaers schreibt unlesbar im Regen, bis plötzlich der Titel im Abspann erscheint. Es passiert jedoch eine ganze Menge davor und danach. Broodthaers trägt die letzten Tintenmarkierungen auf das Papier auf und vermischt sie dabei auch mit ehemaligen, verblassten Sätzen. Über dieser Kritzelei sind sodann zwei verschiedene textuelle Register zu sehen: unmittelbar darüber die verblassten, 45  Crimp, Douglas: On the Museum’s Ruins (1993), Cambridge 2000, S. 207: »What was there for these guests to see were empty picture crates borrowed for the occasion […] and stenciled with such typical warning signs as ›keep dry‹, ›handle with care‹, and ›fragile‹.«

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Abb. 13. Marcel Broodthaers: La Pluie (Projet pour un texte), Standbilder, 1969.

aber noch sichtbaren Überreste des ehemaligen Prosatexts und noch darüber die hinzugefügte schwarze Druckschrift ›projet pour un texte‹. Um das Bild des Palimpsests stärker hervorzurufen, setzt Broodthaers gleich darunter eine dritte Markierung, die fest unterstrichen wird: ›MB‹. Mit dieser Signatur legt Broodthaers den Federhalter schnell hin, trotz der leckenden Spitze, die potenziell die ›Vervollständigung‹ des Werkes in Gefahr bringen könnte (Abb. 13).   Die übliche Dreierauswahl der Photographien und Einzelbilder, wie sie auch im vorliegenden Text erscheint, präsentiert den Slapstick eines Künstler-Heldennarrativs: Broodthaers betritt die Szene als Hauptdarsteller, stößt auf ein Problem und erklärt es für beendet – er kam, sah und signierte. Wenn man näher betrachtet, was im Film zwischen diesen gewohnten und erwartbaren Eindrücken passiert, kommen subtile Nuancen zum Vorschein. Das Projekt ist ein kontrolliertes Experiment mit dem Zufall – dem Wasser, das auf ein mit Tinte beschriebenes Blatt herunterfällt. Vorgeführt wird somit ein Schreibvollzug und dessen Umschrift vom Papier über verschüttete Tinte zum filmischen Bild.46 46  Vgl. Krauss, Rosalind: ›A Voyage on the North Sea‹. Art in the Age of the Post-Medium Condition, New York 2000, S. 20: »Whether it calls itself installation art or institutional critique, the international spread of the mixed-media installation has become ubiquitous. Triumphantly declaring that we now inhabit a

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Der schriftliche Versuch mit Tinte ist bloß die erste Form in der Serie von Formen, die in der Schreibszene im Weiteren fluktuieren: zwischen dem schriftlichen Text und der Tuschezeichnung, der Kritik an dem Aufbewahrungsmodus im Département des Aigles und an der Speicherform von Schrift- und Bildmedien in ephemerer Kunst, dem Übergang von einer Aufführung und einem 16-mmZelluloidstreifen und dem unzugänglichen Film und seinen verbreiteten Bilddokumentationen. Diese Serie von Transkriptionen und ihre implizite Kritik lässt die verfilmte Tinte »move beyond the everyday understanding of writing in order to postulate a ›writing‹ more fundamental to signifying practices in general«.47 Das künstlerische Verfahren in La Pluie erhöht die potenzielle Ambiguität von Zeichen und ihren Darstellungsrelationen, wodurch über die Form der Wissensproduktion nachgedacht werden kann. Mit einer Reihe von produktiven Fehlern zerstört der Film den Mythos einer einheitlichen künstlerischen Inspirationsquelle und spielt auf das Potenzial des Experimentierens für die Wissensproduktion an.   Aus den vielfältigen Facetten von Medien, die Broodthaers in La Pluie performativ auf das Zelluloid schichtet, konstruiert Haegue Yang eine Serie materieller Palimpseste. Die 18 gerahmten Tafeln bestehen aus handgeschriebenen und gedruckten Texten und Photographien und laufen im Museum übereck. Die Schriftstücke sind Beweise des kreativen Prozesses: Sie haben ihre Tintenstriche, die Regentropfen und das Zusammenfließen beider, das sich so ergeben hat, ganz unterschiedlich aufgesaugt. Sie hinterlassen nur eine feine Erinnerung an die scriptio inferior, an das jetzt verschwommene Schreiben der unteren Palimpsestschicht. Dennoch ist die Arbeit nicht nur wegen ihrer visuellen Ähnlichkeit als Palimpsest zu bezeichnen. Neben jedem Blatt getrocknetem Papier steht ein gedruckter Text, der für die Leser in Konkurrenz zu dem Nachbardokument tritt, wobei er in einem fort seine eigene Autorität als authentische Übersetzung untergräbt. Andere gedruckte Texte und begleitende Photos von befleckten Papieren – zerknüllt in einer Baumgrube, schwebend in einem Brunnen und neben einer Wasserrinne liegen gelassen – tragen zur weiteren Dokumentation einer ausgeblendeten Vergangenheit bei.Yangs Installation fragt aber, post-medium age, the post-medium condition of this form traces its lineage, of course, not so much to Joseph Kosuth as to Marcel Broodthaers.« 47  Johnson, Christopher: System andWriting in the Philosophy of Jacques Derrida, Cambridge 1993, S. 66. Vgl. dazu Lewis, Michael: Derrida and Lacan. Another Writing, Edinburgh 2008, S. 204: »For Derrida, archiwriting is the inscription of a mark made by one thing (the ›other‹) on a certain surface (the ›same‹). It is necessary that the mark exist in order for difference to exist, that one thing’s absence be marked in an other.« In La Pluie entwickelt sich l’archi-écriture dieser Art in der regelmäßigen Verschiebung von medialen Einschreibungen, da ein Medium seine Abwesenheit in das andere einschreibt.

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wo diese bestimmte Zeit steckt, wie sie eingegrenzt werden kann, und wie weit sie zurückreicht. Wie und ab welchem Punkt kann man ›Broodthaers‹ als historische oder intertextuelle Referenz hinzuziehen? Aus der Form des Palimpsests gehen solche Überlegungen hervor: Es verflicht gleichzeitig die Überreste und die Neuerungen von 1969 mit denen von 2006/2007, ermöglicht eine vielschichtige Aufzeichnung und setzt die Einschreibungs- und Auslöschungsdialektik von La Pluie wieder in Gang.   Aus der Nähe sehen die Schriftstücke höchst unterschiedlich aus. Sofort zu bemerken sind schwarze und knallblaue Tinte, Schreibschrift und verwaschene Schriftzüge, kleine Tintenkleckse und große tintige Strudel. In der ordentlichen Anordnung auf den zwei weißen Wänden ist es jedoch anfänglich unklar, worauf die zwei kleinen Buchstaben sich beziehen, die mehrere der gedruckten Texte abschließen. Geht man um die Ecke in den Nachbarraum, macht sich ein potenzielles Bezugsobjekt aber deutlich bemerkbar: ›M.B.‹ schreibt weiter an einer Wand im Nebenraum (Abb. 14).   Die Erzählung der gedruckten Texttafeln vollzieht sich zumeist in der IchForm und behauptet, falls man die Buchstaben als Initialen entziffern möchte,48 von Broodthaers geschrieben oder getippt worden zu sein. Seine Signatur taucht häufig in seinen Arbeiten auf, bewirkt jedoch zumeist eher Ungewissheit in Bezug auf die Authentizität und Originalität des Werkes, anstatt diese zu gewährleisten. In dem Künstlerbuch Magie. Art et Politique49 z.B. veranschaulicht Broodthaers dieses Prinzip, indem er Photographien einfügt, die das Monogramm auf einer Zaubertafel (ardoise magique) illustrieren. Zum Medium des Wunderblocks, wie Sigmund Freud die Zaubertafel genannt hat,50 macht Broodthaers die Bemerkung, dass jede Beschriftung »can be wiped off just by pulling out the plate.Yet it remains invisibly engraved on a film inside the device.«51 Die Schrift wird abgewischt oder abgewaschen, bleibt aber dennoch auf Zelluloid gespeichert. Die Geschichte kommt einem bekannt vor. In den Photographien ist diese Dialektik von dauerhafter Speicherung und unendlicher Speicherkapazität52 48  Andere potenzielle und ebenso passende Bedeutungen dieser Abkürzung wären: Modified By, Megabyte, und Myung-bak, dessen Initialen mit der südkoreanischen Regierung und ihrer Politik eng verbunden werden, z.B. MBnomics und die MB Doctrine. 49  Vgl. Broodthaers, Marcel: Magie. Art et Politique, Paris 1973. 50  Vgl. Freud, Sigmund: »Notiz über den ›Wunderblock‹« (1925), in: ders.: Theoretische Schriften (1911– 1925), Wien 1931, S. 392–398. 51  Broodthaers, Marcel zit.n. Schultz, Marcel Broodthaers. Strategy and Dialogue, S. 26 52  Vgl. Elsaesser, Thomas: »Freud as Media Theorist. Mystic Writing-Pads and the Matter of Memory«, in: Screen 50/1 (2009), S.  100–113, S.  108: »Between perception (and immediate erasure) and the Unconscious (unlimited storage), Freud comes close to specifying the machine requirements for an input/processing/output system.«

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Abb. 14. Haegue Yang: Quasi MB – in the middle of its story, 2006/07.

oder, nach Freud, von »immer bereite[r] Aufnahmefläche und Dauerspuren der aufgenommenen Aufzeichnungen«53 zum Stillstand gebracht. Mit der Aneignung der Künstlersignatur in ihrer längs geteilten Bildtafel54 (ein Palimpsest im erweiterten Verständnis) reflektiert Yang eingehend die Bedeutungsstrukturen der sichtbaren und lesbaren Initialen, die Broodthaers nicht einfach nachahmen.   Yang arbeitet außerhalb eines zeitbasierten Mediums und legt trotzdem ein textuelles Projekt vor, das primär mit Prozessualität befasst ist. Ihre Schriftstücke stellen ein breites Spektrum an Zuständen dar, die im Verlauf diverser Schreibübungen erreicht werden. Ihre Texte sind also spezifischer als ›verwischte Schrift‹. Sie umfassen 18 Versionen von Texten, die von etwas in unterschiedlichen Stadien befallen sind: von Verfärbungen, Tropfen, Schmierflecken, Schlieren und Klecksen, dazu noch von Falten, Knittern, Unebenheiten und Rissen. Die Auswirkungen dieser Stadien der Störung auf den Text werden ver53  Freud, »Notiz über den ›Wunderblock‹«, S. 394. 54  Freud weist darauf hin, wie der Wunderblock diesen gleichzeitigen Auslöschungs- und Einschreibungsprozess ausführt: »Er [der Wunderblock] löst das Problem, die beiden Leistungen zu vereinigen, indem er sie auf zwei gesonderte, miteinander verbundene Bestandteile – Systeme – verteilt.« Ebd., S. 396. Yang geht auf ähnliche Weise vor, indem sie ein Mittel endloser Inskriptionen – den Computer und dessen Druckschrift – von dem anderen Mittel trennt, von dem man, wie Freud bemerkt, »dann eine ›dauerhafte Erinnerungsspur‹« erhält: die Tinte auf Papier (»ein Blatt Papier, das ich mit Tinte beschreibe«). Ebd., S. 392f.

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Abb. 15. Haegue Yang: Quasi MB – in the middle of its story, Detailansicht, 2006/07.

stärkt: Sie vernebeln ihn oder heben ihn hervor, sie löschen seine Spur aus oder rücken sie in den Vordergrund, sie fügen ihm eine Hintergrundfarbe hinzu oder fügen Bilder ein usw. In ausgiebiger Betrachtung kann man sich Texte vorstellen, die sich an verschiedenen verregneten Tagen materialisieren, die während ihrer Abfassung dem Regen zeitweise ausgesetzt, zeitweise entfernt wurden und die gesammelt und zusammen ausgestellt wurden, um den Zeitverlauf zu dokumentieren (Abb. 15). Man erkennt den Einsatz von einigen farbigen Tinten, Striche von verschiedenen Dicke-Graden und von unterschiedlicher Kühnheit und eine Menge unterschiedlicher Textsorten – Gedichte, Kritiken, Fragestellungen, Aussagen usw. Man bekommt den Eindruck, dass die Texte an mehreren geographischen Orten und in verschiedenen konzeptuellen Räumen zugleich entstehen. Dies bestätigen besonders die Photographien, neben denen immer der Ort, das Jahr und in einem Fall sogar die Wetterbedingungen notiert werden, z.B. »Sao Paulo, cloudy, 2006«55 (Abb. 16).   Die künstlerischen Formen und Strategien in Quasi MB, die zeitliche Tiefe, materielle Komplexität und räumliche Präzision ergeben, halten den Moment der Ambiguität fest, den die flüssige Tinte als Medium der Schrift eröffnet. Auf dieser Ebene betätigt sich ebenfalls Broodthaers in La Pluie mit seinen verschwom55  Yang, Haegue: Quasi MB – in the middle of its story, fi. 18, 2006/2007, Tafel 5.

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Abb. 16. Haegue Yang: Quasi MB – in the middle of its story, Detailansicht, 2006/07.

menen Klecksen und Zufallsbildern, die er auf seinem nassen Blatt Papier so gerne verlängern würde. Die fleckigen Papiere im Museum ergeben jedoch eine weitere Möglichkeit, diese Form von Ambiguität und die Bestände aus dem Jahre 1969 erneut zu untersuchen. Die Wahrnehmung der Objekte ist weder gerichtet noch zeitlich begrenzt: Man kann sich um die Installation herumbewegen, länger als die zweieinhalb Minuten des Films in der Ecke stehen und so weiterschreiben, eine Perspektive, die nur am Ende des Kurzfilms durch die subjektive Einstellung gestattet ist. Quasi MB räumt der Beobachterposition mehr Zeit und Spielraum ein und deutet damit darauf hin, wie einzelne Phasen des Prozesses nicht in der Endversion des Films eingefangen wurden. Die Sammlung von Schreibstücken fungiert zudem als Metapher für das mediale Nachleben von La Pluie, in dem Quasi MB die Überreste unter die Augen des Publikums schiebt und damit die Frage stellt: ›Was passiert, wenn ein Papier einmal als verbraucht beiseitegelegt wurde? Lass es uns aus dem Abfall (noch einmal) herausziehen und genauer unter die Lupe nehmen.‹ Oder in den Worten von Yang: »after he had written something / after rain deleted what he had written / what would have happened? / shameful folding / trampled underfoot«.56 Ähnlich wie Tusche unter dem Mikroskop, die den Hintergrund färbt, damit die kleinsten 56  Ebd., fi. 14, Tafel 3, fi. 18, Tafel 5.

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Elemente deutlich hervortreten können, liegt in Quasi MB Tinte unter Glas, um Neuigkeiten aus dem Film von 1969 und unseren sich wandelnden Mediengebrauch erscheinen zu lassen.   Gegen neue Bildtechnologien hatte Broodthaers Bedenken angemeldet. In einem Text zu den »Problemen der filmspezifischen Sprache«57 wirft er die Frage auf, ob Film durch seine materielle Basis spricht, durch Bewegung, oder ob er bloß ein Behälter für Ideen ist, welche wiederum zum Sprechen kommen können. »Mehr als das Kino es kann, werden die neuen Bildverfahren (der Laser?) es ermöglichen, eine Lösung zu finden, eine nur vorübergehende, befürchte ich, aber gewiss eine interessante.«58 Er lag damit etwas daneben, obwohl Yangs Texte durchaus vermittels eines Laserdruckers hätten zustande kommen können. »Aber man muss mitten in eine technologische Welt hineingeboren sein, wenn man diese Mittel mit Erfolg verwenden will. Und hier bin ich, grausam hin- und hergerissen zwischen etwas Unbeweglichem, das schon geschrieben ist, und der komischen Bewegung, die 24 Bilder pro Sekunde in Gang hält.«59

In Erwiderung auf diese Bemerkung aus dem Text von 1969 experimentiert Yang mit dem ungewissen Ausgang, mit einer Verringerung der Bildfrequenz. An der Wand zeigen sich 18 Bilder auf einen Blick. Das wäre dann die Frequenz von Super-8-Filmen oder dem frühen Kino (Abb. 17).   Die Organisation der Bilder und Texte betont eine Methode der Dekonstruktion, indem die fiktiven Filmstreifen auseinandergeschnitten und als eine Serie von Aggregatzuständen neu arrangiert werden; eine Anordnung, die eine »protocinematic, spatialized temporality«60 hervorruft. Der Ablauf der Einzelbilder und ihre Bewegung sind aufgehalten, und damit spiegelt die Sequenz eine Aufspaltung der Zeit, eine Diskontinuität, die auch in La Pluie wahrnehmbar ist. Zwischen den Bildern auf dem Filmstreifen, mit ihren unberechenbaren TextBild-Verhältnissen, erfährt man, dass eine »organizational rule that is discovered in a subset will not carry over to the whole«;61 die Lesestrategien oder der Montagerhythmus bezeichnen eine Erzählstruktur, die noch fragmentarischer und noch deutlicher nichtlinear ist. Obwohl hier weder ein Projektor noch eine Leinwand62 zu sehen sind, kann man Quasi MB als eine quasi-filmische Verar57  Broodthaers, Marcel: »Projekt für einen Text«, in: Folie, Sabine (Hg.): Un Coup de Dés. Bild gewordene Schrift. Ein ABC der nachdenklichen Sprache, Wien 2008, S. 94–95, S. 94. 58  Ebd. 59  Ebd. 60  Bruyn, Eric de: »Alfaville, or the Utopics of Mel Bochner«, in: Grey Room 10 (2003), S. 76–111, S. 88. 61  Ebd., S. 89. 62  Die Leinwand wird durch die weiße Wand des Museums ersetzt, die potenziell als noch ein »pre-exis-

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Abb. 17. Haegue Yang: Quasi MB – in the middle of its story, Installationsansicht, 2006/07.

beitung betrachten, die uns eine Möglichkeit anbietet, »[to] re-read and reconstruct cinema – to break down the filmic flow, bring ephemeral passing frames to our attention, and recompose its pieces into other forms«.63   Der Wandel von Medienformaten spielt eine große Rolle bei der Hinwendung zu Broodthaers’ Arbeiten, La Pluie und 1969 in der zeitgenössischen Kunst. Diese Arbeiten haben einen Ruf, nicht nur daran zu arbeiten, die Grenzen von Medienformaten zu verschieben, sondern auch die präzisen Bedingungen von Intermedialitäten anhand von Experimentalanordnungen mit überraschenden Zusammensetzungen erkennen zu lassen. Mit ihren Arbeiten mit neuen Plattformen, medialen Ansammlungen, Rahmenbedingungen und Zeitkonzeptionen kehren Jones, Otani, Foulon und Yang auf subtile und ebenso experimentelle Weise zu Broodthaers zurück. Ihr Programm ist damit ein epistemologisches. Die drei und mehr Arten, mit denen die Künstler seiner Tinte neues Leben verleihen, rufen das Interesse an der Verarbeitung, Verlagerung und Übertragung von Daten ins Gedächtnis und aktualisieren es anhand von neuen Medientechnologien, Geographien, Geschichten und Materialien. Indem sie Tinte über ting frame« konzeptualisiert wird. Kotz, Liz: »Video Projection. The Space Between Screens«, in: Kocur, Zoya; Leung, Simon (Hg.): Theory in Contemporary Art since 1985, Massachusetts/Oxford/Victoria 2005, S. 101–115, S. 106. 63  Ebd.

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Tinte absichtlich verschütten und die Gestaltung ihrer Bildpunkte, Zitate, Dias und Bildtafeln dem Regen überlassen, arbeiten sie an etwas, dessen Endergebnis vorsätzlich unbekannt bleibt.   Diese Kunstwerke werden in experimentellen Versuchsanordnungen erstellt, und wie Hans-Jörg Rheinberger zu Experimenalsystemen bemerkt, »sind sie zwar darauf angelegt, Resonanzen zwischen verschiedenen Befunden zu erzeugen und stabilisierten Signalen handhabbare Bedeutungen zuzuweisen. Gleichzeitig aber müssen sie einen Raum für das Auftreten von unvorwegnehmbaren Ereignissen schaffen.«64

Für Broodthaers funktioniert Tinte, die La Pluie ausgesetzt wird, wie ein epistemisches Ding, eine Verkörperung von dem, was man noch nicht weiß und das einen über absehbare Folgen hinausträgt. Als Forschungsziel gibt das epistemische Ding den Anstoß, die Formbildung hinauszuzögern und zufällige Begegnungen mit den vorgeformten Stoffen zu vermehren. In dieser Funktion als Zufallsgenerator übernimmt das epistemische Ding seine zentrale Rolle bei der Untersuchung, »wie die Wissenschaftler sich an den Grenzen zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten verhalten«,65 und lässt in diesen diversen ReAnimationen Wissen zwischen Abstraktion und Darstellung schweben. Diese Praxis eines nicht zufälligen Wissens spiegelt sich – vielleicht nicht zufällig – im Rorschachtest wider. Im Rorschachtest werden die verschiedenen Zustände der Tinte bedeutungsvoll. ›Klex‹, wie der Erfinder des Rorschachtests auch genannt wurde, schrieb in die Testbilder sehr spezifische Farben, Symmetrien, Größen und Verdichtungen ein und verließ sich gleichzeitig darauf, dass die Formen bei Probanden vielfältige Assoziationen auslösen könnten.66   Auch außerhalb psychodiagnostischer Testverfahren ist die Tinte, die wir einst zum Schreiben gebrauchten, ein bewährtes Instrument für das Verständnis von Bild-Text-Konstellationen, das aufgrund seiner materiellen Eigenschaften zu unerwarteten Entdeckungen führen kann: Der graphische Tintenstrich »because of its convenient rapidity, its expressive richness, its unpredictable and pleasing chance discoveries, produces admirably fertile invention«.67 Die zeitgenössischen Arbeiten, die Broodthaers’ La Pluie wieder aufführen, nehmen den Stoff seines Films zum Ausgangspunkt für ihre Experimente. Um sich das künst64  Rheinberger, Hans-Jörg: Experimentalsysteme und epistemische Dinge, Frankfurt a.M. 2006, S. 97. 65  Ebd, S. 22. 66  Vgl. Galison, Peter: »Image of Self«, in: Daston, Lorraine (Hg.): Things That Talk. Object Lessons from Art and Science, New York 2004, S. 256–294, S. 266, S. 270f. 67  Töpffer, Rodolphe zit.n. Gamboni, Dario: Potential Images. Ambiguity and Indeterminacy in Modern Art, London 2002, S. 54.

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lerische Artefakt von 1969 zugänglich zu machen, werden medienspezifische und variable Methoden ausgesucht. Der längst verblassten Tinte wird in dieser Weise neues Leben verliehen. Im Einspeisen von La Pluie in den Versuchsaufbau reflektieren diese Künstler gerade in den Momenten produktiven Kontrollverlusts ihre und unsere Rolle in der Wissenskonstruktion. Die Ergebnisse werden uns vorgestellt, damit die Formen und Figuren in den Tintenlachen zum Sprechen kommen können und das konzeptuelle Beziehungsgeflecht und die künstlerischen Konstellationen neu hervortreten. Die Autoren-Künstler, die hier ihre Tinte absichtlich verschüttet haben und sie dabei auch gleichzeitig neu einschreiben (im breitesten Sinne: hochladen, einfärben, montieren, verzögern usw.), deuten darauf hin, dass es etwas an diesem Versuch gibt, diesen beabsichtigt unvorhersehbaren, verschmutzten Akt, Tinte auf Papier fallen zu lassen, das eindeutig generativ ist. Um die Tintenkleckse und -markierungen (noch einmal hier) wieder ans Laufen zu kriegen und ihre Aggregatzustände zu betrachten, muss man bei der Übung im Lesen und Schreiben mitspielen – diese ästhetische Erfahrung »[always] constitutes a recreation of the work: ›To enjoy is to create‹«.68

68  Séailles, Gabriel zit.n. Gamboni, Potential Images, S. 181 (Hervorhebung K. M.).

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›There is no Hardware‹. Reanimation durch Emulation »Das Problem ist ein Problem der Software. Die Hardware hat nicht das Geringste damit zu tun. Ob man nun einen Zahnstocher nimmt, einen 200-Meter-Baum oder den Äquator, das ist völlig gleichgültig. Ihr Körper mag sterben und Ihre Psyche vergehen, Ihr Denken wird den Augenblick unmittelbar davor auf ewig weiterteilen.«1

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mgeben vom Retro-Chic stalinistischer Häuserfassaden eröffnete im Frühjahr 2011 in Berlin Friedrichshain das Computerspielemuseum seine neuen Räume. Von einem verzückten Raunen der Presse begleitet, fand man in dieser Sammlung nicht mehr den »dilettantischen Charme privater Erotikmuseen«2 vor, wie Claus Pias es noch vor der Jahrtausendwende attestierte. Es ist eine Sammlung mit Katalog, Kurator und dem Chic einer Arztpraxis aus Stanley Kubricks 2001. A Space Odyssee (USA 1968). Ein Gang durch das Museum zeigt ein ambivalentes Bild: Spielekonsolen stehen schattenfrei ausgeleuchtet in Glasvitrinen (Abb. 1), Arkade-Maschinen säumen unangeschlossen den Weg (Abb. 2). Die futuristischen Projektionen der Vergangenheit wirken ohne jeglichen Elektronenfluss wie die hyperrealistischen Abbildungen in einem Manufactum-Katalog. Zugleich konterkarieren flimmernde Bildschirme in Einheitsgröße an den Wänden das Bild. Sie laden den Besucher zum Erforschen von Computerspielen aus den letzten sechs Dekaden ein und lösen in ihrer Homogenität das Spiel aus seiner originären Umgebung eines spezifischen technischen Dispositivs. Sie 1  Der Professor über das bevorstehende unendliche Sterben des Protagonisten in Haruki Murakamis Hard-Boiled Wonderland. Murakami, Haruki: Hard-Boiled Wonderland und das Ende der Welt, München 2007, S. 349. 2  Pias, Claus: Computer-Spiel-Welten, München 2002, S. 7. In dieser zweiten Ausgabe relativiert Pias bereits seinen Eindruck.

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Abb. 1. Spielekonsolen hinter Glas im Computerspielemuseum Berlin.

setzen es in eine beliebige neue Architektur. Diese Architektur ist nicht nur die umgebende des Museums, sondern auch die der Software. Die einheitlichen Bildschirme sind die eigentliche Attraktion des Museums. Und zwar im doppelten Sinn: Sie sind Besuchermagnet, da interaktive Spielfläche, zugleich aber auch Phantasma einer Reanimation.   So paradox der Begriff der Reanimation im Bereich der Technik zunächst erscheinen mag, so stellt doch die Verwendung von Begriffen wie ›Mäusen‹, ›Viren‹ und ›Würmern‹ in der Rede von technischen Geräten eine enge Bindung von Hard- und Software an die Sphäre des Lebenden her. Computer werden seit jeher nicht nur personifiziert, sondern auch vitalisiert. Sie laufen, stürzen ab und sollen eines Tages vielleicht seufzen.3 Das Moment der Reanimation schaltet sich hier als Mittler zwischen das tote Aus und das lebendige Ein, zwischen Null und Eins.4   Programme können in einem Museum nicht einfach auf Datenträgern präsentiert werden: Sie müssen ›laufen‹. Sie benötigen eine Rechenumgebung, in der ihr Code in Signale umgewandelt wird, und eine Peripherie, in der sie Eingaben 3  Ascott, Roy: »Der Tag, an dem der Computer seufzt«, in: Telepolis. Die Zeitschrift der Netzkultur 3 (1997), S. 32–39. 4  ›Reanimation‹ ist ein Fachbegriff der Informationstechnologie und bezieht sich auf die technischen Möglichkeiten erneuter Nutzung älterer Programme, wie im Folgenden beschrieben wird.

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Abb. 2. Arkade-Maschinen und Bildschirme im Computerspielemuseum Berlin.

entgegennehmen und Ausgaben produzieren können, in der sie erfahr- und steuerbar sind. Diese Umgebung ist eine Kombination aus Hard- und Software. Ein Arkade-Spiel läuft auf seiner Arkade-Maschine, ein Playstation-Spiel auf eben dieser. Im Falle des Museums wird die Hardware-Umgebung als eigenes Artefakt hinter Plexiglas tradiert, ohne jedoch die Ausführung eines Programmes zu erlauben. Hard- und Software sind kein museales Gesamtkunstwerk. Sie werden auf bestimmte Eigenschaften reduziert: Hardware auf die haptische Erfahrung und das sichtbare Produktdesign, Software auf das interaktive Erlebnis.   Diese Spaltung ist keine zeitgenössische Erfindung. Bereits die begriffliche Unterteilung in Hard- und Software legt ein Aufbrechen der Verbindung von Anweisungs- und Ausführungsschicht nahe. 1958 führte der Statistiker John Tukey in einer Abhandlung über die zunehmende Bedeutung logischer Instruktionen für elektronische Rechner erstmalig schriftlich den Begriff ›Software‹ ein.5 Dieses semantische Werkzeug spiegelt keine freigelegte historische Entwicklung wider, sondern ermöglicht eine Differenzierung durch Sagbarkeit. Software 5  Fuller, Matthew: »Introduction. The Stuff of Software«, in: ders. (Hg.): Software Studies. A Lexicon, Cambridge/London 2008, S. 1–13, S. 3. Der Vollständigkeit halber sei der emphatisch betonte Anspruch Paul Niquettes erwähnt, diesen Begriff bereits fünf Jahre zuvor verwendet zu haben.Vgl. Niquette, Paul: Softword. Provenance for the Word ›Software‹, 2006, http://niquette.com/books/softword/tocsoft.html, 01.05.2011.

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beginnt spätestens mit einer taxonomischen Emanzipation Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts. Zehn Jahre später teilt IBM in einem Kartellrechtsprozess seine Hard- und Software-Abteilungen voneinander und beendet damit eine Phase, in der Software lediglich Beiwerk und ein nicht imaginierbares ökonomisches Gut war.6   Die Bildschirme im Museum greifen diese Dichotomie auf. Sie setzen axiomatisch eine Neuinszenierung digitaler Artefakte durch Auflösung historischer Zusammenhänge um. Dabei wird nicht nur der für den Besucher sicht- und benutzbare Part durch eine neue Peripherie wie den Monitor und den archetypischen Competition Pro-Joystick7 ersetzt, sondern auch der nicht sichtbare Teil der Maschine getauscht. Hinter der Museumskulisse laufen moderne Rechner und bedienen Computerspiele für nahezu beliebige alte Plattformen. Neben der Tatsache, dass die interaktiven Ausstellungsstücke in diesem Museum bereits eigenen Werkcharakter durch Neuinterpretation des Spiel-Dispositivs erlangen, verwundert die scheinbare Beliebigkeit, mit der alte Programme auf modernen Computern ausgeführt werden können.   Die Auflösung dieser Verwunderung ist zunächst trivial: Das, was die Reanimation, also das Ausführen von Programmen auf anderen Rechnerarchitekturen erlaubt, sind Emulatoren.8 Sie überbrücken eine technologische und temporale Kluft zwischen historischer Konfiguration und zeitgenössischer Beliebigkeit. Sie reanimieren in einem neuen Umfeld, statt technisch zu restaurieren. Diese Reanimation kann an verschiedenen Schichten der Ausführung von Software ansetzen: Emulation der Hardware, Emulation des Betriebssystems, Emulation von Anwendungen selbst. Gängigste und auch in diesem Kontext relevante Emulation ist die der Hardware, also die möglichst konkrete Übersetzung des Verhaltens einer spezifischen Hardware durch Software auf einer anderen Hardware. Ein Computerprogramm sendet und empfängt Signale. Ob es diese direkt mit der Hardware oder einer anderen Software austauscht, ist für das Programm selbst ununterscheidbar. Hier setzen Emulatoren an, um Umgebungen nachzuahmen und so eine hinreichend ähnliche Umwelt für die Reanimation eines Programmes zu liefern.

6  Fuller, »Introduction. The Stuff of Software«, S. 2f. 7  Eine großformatige Abbildung des Joysticks bietet z.B. der Umschlag von Gillies, Constantin: Extraleben, Winnenden 2008. 8  Broy, Manfred; Spanionl, Otto (Hg.): VDI-Lexikon Informatik und Kommunikationstechnik, Berlin 1999, S. 230f: »Emulator (emulator). Menge der Programme, die den Maschinenbefehlssatz eines Rechners X auf einem anderen Rechner Y auszuführen gestattet.«

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Begreift man Programmcode und Binärzeichen als unbelebt im Gegensatz zum Lebenden, wirkt der Begriff der Reanimation an dieser Stelle verstörend. In ihrer Wahrnehmung als interaktive Erfahrungsräume, die sich visuell und temporal zugleich ausdehnen, konterkarieren Computerprogramme zu ihrer Laufzeit diese Dichotomie. Die Reanimation von Software ist in diesem Kontext aus Sicht des Nutzers die erneute Ermöglichung einer Interaktion. Der Emulator führt neben der Möglichkeit, Programme durch Reparatur alter Hardware wiederzubeleben, die Möglichkeit ein, sie durch Überführung in ein anderes System zu reanimieren.   Die wissenschaftliche Bedeutung von Emulatoren im rein praktischen Sinn geht über das spielerische Bestaunen des technisch Machbaren und das Reanimieren alter Spiele hinaus. Im Bibliothekswesen wird im Kontext digitaler Langzeitarchivierung spätestens seit den 1990er Jahren über den Einsatz von Emulatoren für die Wiedergabe digitaler Dokumente diskutiert. Erst die Reanimation historischer Programme ermögliche die originalgetreue Wiedergabe unveränderter historischer Datenströme.9 Die Emulation einer Umgebung versteht sich dabei als Alternative zur Konvertierung von Datenformaten (z.B. von alten Text-Dokumenten in zur Langzeitarchivierung geeignete PDF-Dokumente). Dieses Abspielen in emulierter Umgebung ist in Bezug auf die vollständige Fokussierung auf den vermeintlichen Inhalt eines Programms unter Ausblendung des technischen Dispositivs durchaus positivistisch. Hinterfragt wird lediglich eine konsequente Umsetzbarkeit. Authentizität wird hier als Konsequenz unveränderter Originaldokumente gefolgert,10 auch wenn bereits Konzepte wie Original und Kopie insbesondere im Bereich digitaler Datenströme brüchig sind. Diese Brüchigkeit ist nicht nur auf theoretisch-konzeptioneller Ebene zu finden, sondern wirft bereits auf technischer Ebene Fragen nach dem Wechselspiel von Simulation/Restauration und Reanimation auf, wie noch zu sehen sein wird.   Die medienarchäologische Verzückung, mit der mehrere Jahrzehnte alte Computerprogramme wieder benutzbar reanimiert werden, kann nur erfahren, aber kaum beschrieben werden. Die erste Tabellenkalkulation VisiCalc lässt sich wie die heute legendär unbekannte DDR-Spielemaschine Poly-Play am eigenen Rechner erforschen. Doch trotz dieser retrospektiven Verlockungen birgt das 9  Vgl. Rothenberg, Jeff: Avoiding Technological Quicksand. Finding a Viable Technical Foundation for Digital Preservation, Washington 1999, http://www.clir.org/PUBS/reports/rothenberg/criteria.html, 01.05.2011. 10  Borghoff, Uwe u.a.: Langzeitarchivierung. Methoden zur Erhaltung digitaler Dokumente, Heidelberg 2003, S. 81.

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reanimierende und zugleich nichtrestaurierende Moment des Emulators Spannungspunkte, die eine Deutung als neutraler Mittler konterkarieren. Wenn das Medium die Botschaft ist, kann und muss der Emulator als strukturierendes Dispositiv aufgefasst werden. Zunächst ist es daher hilfreich, eine technikhistorische Verortung der Emulation vorzunehmen.   Mitte der 1960er Jahre begann IBM mit der Vermarktung seiner zur Perfektion des Kreises fantasierten Großrechner-Serie System/360. Ein neuer Großrechner bedeutete in der Frühphase unternehmerischer Computertechnik das Übersetzen von altem Programmcode. In den 1960er Jahren wurde vorrangig in Assemblern oder maschinennahen Dialekten höherer Sprachen programmiert. Programme wurden spezifisch für einen Maschinentyp geschrieben und waren in der Regel nicht auf die Maschinen anderer Hersteller oder andere Maschinen desselben Herstellers unverändert übertragbar. Übersetzen bedeutet hier also nicht das kompilierende Übersetzen abstrakter Sprachen in Maschinencode, sondern das manuelle Umschreiben von Programmcode mit Anpassungen an die neue Architektur.   Dieser Prozess des Umschreibens sollte automatisiert werden. Der Versuch, Übersetzungswerkzeuge für den Code älterer IBM-Maschinen zu entwerfen, scheiterte an der Erkenntnis, dass sich Hardware-Architekturen zwar unterscheiden, Software jedoch durch Software in einem permanenten Vermittlungsprozess auch mit einer nichtintendierten Umgebung erfolgreich Signale austauschen kann. Statt eines Übersetzungsprogrammes, das alte Programme einmalig mit nichtgarantiertem Erfolg in ein neues Format überführt, wurde ein Emulator geschrieben, der Programme für ältere Maschinen wie die IBM 1401 direkt ausführen konnte, indem er zwischen realer und von der Software erwarteter Hardware vermittelte. Der Vermittlungsprozess führte eine zusätzliche Schicht in die Ausführung ein: Ein Programm wurde nicht mehr direkt aufgerufen, sondern über einen Emulator gestartet. Dieser fängt an die Hardware gerichtete Signale ab und übersetzt sie für die Architektur des neuen Rechnersystems. Ein einfaches Beispiel sind verschiedene Registernamen, die zwar letztlich auf gleichfunktionierende Elektronik rekurrieren, jedoch anders zu adressieren sind.   Die Emulation älterer Maschinen erwies sich nicht nur als Behelf. Dieser Vermittler erfüllte stattdessen sämtliche Fantasien der IBM-Verkaufsmitarbeiter, die nicht nur die unveränderte Übernahme alter Programme anpreisen, sondern zugleich eine bis zu zehnmal schnellere Ausführung alter Programme versprechen konnten (Abb. 3).

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Abb. 3. Quelltext mit Registern eines frühen Emulators.

IBM-Mitarbeiter Larry Moss prägte für die Technik der Programmausführung auf einem nichtkompatiblen System den Begriff ›Emulation‹. Er betonte dabei, dass Emulation ebenso gut wie das Original und besser als reine Simulation bzw. Imitation sei.11 Dieses bedeutungsschwere Aufwerfen von Begriffen verleitet zwar dazu, über Simulation und Imitation zu referieren, kann aber auch einer terminologischen Unbedarftheit informationstechnischer Konzeptvermittlung zugeordnet werden. Eine etymologische Betrachtung von ›Emulator‹ lässt sich jedoch kaum vermeiden. Der Begriff rekurriert auf das Lateinische aemulor, das so viel wie ›nachahmen‹ bedeutet. Auf einer informationstechnischen Ebene ist diese Begriffswahl nachvollziehbar. Ein Emulator, wie Moss ihn geprägt hat, ahmt technische Rahmenbedingungen durch Vermittlung nach. Genauer noch ist aemulor zunächst durchaus positiv konnotiert, da es das Nachahmen »im guten Sinne«12 bezeichnet. Zugleich konterkariert aemulor eine einseitige 11  Ceruzzi, Paul E.: A History of Modern Computing, Massachusetts 2003, S. 149. Vgl. dazu auch Broy; Spanionl, VDI-Lexikon Informatik und Kommunikationstechnik, S. 231: »Wird die Emulation nicht durch Mikroprogramme, sondern durch Maschinenbefehle durchgeführt, spricht man oft auch von Simulation.« 12  Georges, Karl Ernst: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, aus den Quellen zusammengetragen und mit besonderer Bezugnahme auf Synonymik und Antiquitäten unter Berücksichtigung der besten Hilfsmittel ausgearbeitet, Darmstadt 1998, 1. Bd., S. 179.

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Interpretation. Der Begriff besitzt neben seiner tugendhaften Konnotation eine ebenso negative Einfärbung, wenn er »im üblen Sinn [...] neidisch nacheifern«13 bezeichnet. Diese nicht nur etymologische Ambivalenz zeigte sich bereits im Vorfeld zu IBMs Emulationsgenese. IBM-Konkurrent Honeywell stellte bereits 1963 den Großrechner H-200 vor. Dieser aggressiv beworbene Konkurrent zielte direkt auf Kunden der bereits betagten IBM 1401 ab. Das mit dem H-200 ausgelieferte Programm Liberator konnte ursprünglich den für die IBM 1401 entworfenen Maschinencode während des Einlesens konvertieren – also eben jenen Prozess vollziehen, der für System/360 nicht mehr nötig war – und so Programme um den Faktor drei bis vier beschleunigen.14   Der Liberator war technisch betrachtet kein Emulator. Medientechnisch dennoch interessant ist die Tatsache, dass Software auf eine nichtkompatible Plattform überführt wird. Der Prozess der Reanimation vollzog sich am H-200 nicht einmalig durch einen nachhaltigen Konvertierungsprozess, sondern wurde bei jedem erneuten Einlesen eines Programmes durchgeführt. Reanimation bedeutet hier permanentes Umschreiben. Dieser Unterschied ist nicht nur Komfort durch Automatisierung. Das stete und konsequente Neuinterpretieren bzw. Übersetzen von Maschinencode führt den Maschinencode selbst ad absurdum und wirft erneut die Frage auf, in welchem Verhältnis Hard- und Software zueinander stehen.   Diese Frage wurde bereits durch Setups gestellt, die schon vor der Dichotomie von Hard- und Software das Wechselspiel durch Reanimation von Code bzw. Logik zutage treten ließen. Im britischen Bletchley Park wurden im Zweiten Weltkrieg mit den Turing-Bomben Enigma-Nachrichten entschlüsselt. Weit weniger bekannt, da bis in die 1970er Jahre geheim gehalten, ist die Entschlüsselung eines komplexeren Codes: Neben der Enigma setzten die Deutschen im Zweiten Weltkrieg für wichtigere Nachrichten die überlegene Lorenz-Schlüsselmaschine ein.15 Dieser umgebaute Fernschreiber erlaubte an den Kommunikationsenden die direkte Ein- und Ausgabe von Klartext. Wie bei der Enigma mussten auf beiden Seiten die Stellräder auf einen vereinbarten Schlüssel eingestellt werden. Ebenso wie bei der Enigma war den Kryptologen im Bletchley Park bereits früh die technisch-mathematische Funktionsweise bekannt. Das manuelle Decodieren einer mit der Lorenz-Maschine verschlüsselten Nachricht konnte jedoch Monate dauern – zu lang, um kriegsrelevante Informationen rechtzeitig 13  Ebd. 14  Vgl. Ceruzzi, A History of Modern Computing, S. 151. 15  Vgl. Singh, Simon: Geheime Botschaften. Die Kunst der Verschlüsselung von der Antike bis in die Zeiten des Internet, München 2001, S. 295f.

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zu dechiffrieren. Der Ausweg lag in einer dramatischen Beschleunigung des Schlüssel-Ausschlussverfahrens.   Der Lösungsansatz war eine Überführung menschlicher Computer in elektronische Rechner. Zuvor manuell durchgeführte Rechnungen konnten nur durch eine Digitalisierung dramatisch beschleunigt werden. Trotz technischer Bedenken wegen der bis dato unerreichten Größe des Vorhabens wurde der Colossus Mark I gebaut: ein eingeschränkt programmierbarer Computer mit 1500 Röhren, dessen größtes Problem – der kontinuierliche Ausfall von Röhren – durch das Nichtabschalten der Maschine behoben wurde. Paradigmatische Grundlage für die Konstruktion war Turings Beschreibung einer universellen Maschine. Der Colossus Mark I hat den Code des Lorenz-Fernschreibers nicht gebrochen, sondern führte in starker Beschleunigung die Rechenoperationen der LorenzMaschine durch, um in nur wenigen Stunden wahrscheinliche Schlüsselstellungen auszugeben. Er überführte die elektromechanische Logik deutscher Technik in die elektronische Logik britischer Röhren. Er emulierte und übertraf seinen Vorgänger durch seine Geschwindigkeit.   Der historische Dreisprung System/360 – H-200 – Colossus Mark I führt zu zwei Beobachtungen: Erstens, Geschwindigkeit und Emulation stehen in einem intimen Verhältnis. Zweitens, die Spaltung zwischen Hard- und Software ist eine doppelte.   Erstens, zur Geschwindigkeit: Alle drei Maschinentypen beschleunigten Code bzw. Logik in ihrer jeweils eigenen aggressiven Form der Reanimation. Diese Beschleunigung war nicht nur temporales Surplus, sondern technik-ideologischer Fluchtpunkt. Die Aggressivität lag in der zu übertreffenden Originalkonfiguration. System/360 und H-200 konnten nur durch quantitative Verkürzung der Ausführungszeit einen qualitativen Sprung erreichen. Der Colossus Mark I war für das beschleunigte Abarbeiten feindlicher logischer Instruktionen eingestellt. Da die jeweils ursprünglichen Maschinen nicht zur weiteren Beschleunigung konzipiert waren, führten die neuen Systeme nicht nur alten Code aus. Sie stellten vielmehr durch Geschwindigkeit eine unmögliche Maschine dar: Hardware, die es nicht geben konnte, eine Software-Umgebung, die nicht vorgesehen war. Diese Unmöglichkeit der Geschwindigkeit spiegelt sich in einem besonderen Fehler wider, der durch die Zeitkoordinaten eines Programms und seiner Umgebung ausgelöst wird: die race condition. Die race condition ist ein Fehler, der durch Veränderungen in Ausführungsgeschwindigkeit von Programm oder Antwortzeiten der Peripherie hervorgerufen wird. Programme können durch Taktgeber und Schleifen nicht nur maximale, sondern auch minimale Antwortzeiten bedingen. Die Emulation führt Programme in eine nichtmögliche Umge319

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bung. Hardware wird vorgetäuscht, Signale können unerwartet schnell eintreffen. Dies umschreibt nicht das Problem zu schneller Programmausführung, die z.B. emulierte Computerspiele unspielbar werden lässt, da digitaler Takt und menschliche Wahrnehmungsschwelle zunehmend divergieren. Die race condition ist ein schwer nachvollziehbarer Fehler, der die historische Verankerung einer Software in ihrer Zeit verdeutlicht. In jeder Hinsicht des Wortes ›Zeit‹ lässt sich mit Rekurs auf Maurizio Nannuccis Neonskulptur feststellen: ›All software has been contemporary.‹16 Programme sind kulturell wie technologisch in einen zeitgenössischen Diskurs eingebunden. Obwohl digitaler Code sich per se einem Alterungsprozess zu entziehen vermag, ist er immer in ein Geflecht aus ihn umgebenden Komponenten eingebunden.   Moderne Retro-Emulatoren, die kaum mehr Rechenkraft als für die Darstellung eines Akku-Ladebalkens benötigen,17 zeichnen sich gegenüber ihren Vorläufern aus der Mitte des 20. Jahrhunderts insbesondere durch Entschleunigung aus. Code soll interpretier- und nutzbar werden durch Verlangsamung. Ein Wechselspiel aus langsamem User und unmöglicher Geschwindigkeit bedingt einen Schieberegler, der Leerzyklen im Prozessor zur Reanimation einfügt. Die Reanimation von Software bedeutet also nicht nur die Nachahmung von Schnittstellen und das Abfangen und Manipulieren von Signalen. Emulation historischer Software bedingt eine künstliche Entschleunigung durch das Einfügen von Warteschleifen oder das Berechnen sinnloser Zahlenkolonnen als algorithmische Beschäftigungstherapie moderner Prozessoren.   Die Bedingung der Ausführbarkeit von Code durch physikalische Parameter wie die Geschwindigkeit von Rechenzyklen könnte kaum medien-materialistischer sein. In der Verzeitlichung von Software zeigt sich deren Interdependenz zu ihrer jeweilig zeitgenössischen Hardware. Es scheint, als könnte Friedrich Kittler das Problem in seinem sicherlich überstrapazierten Text »Es gibt keine Software«18 nicht besser zusammenfassen: Software ist letztlich eine Illusion, die spätestens am Transistor auf die reale Welt der Hardware trifft. Das, was als transzendente Software wahrgenommen wird, ist nichts weiter als eine kaum noch verständliche Abstraktionsschicht von Hardware, die dennoch immer in dieser verankert sein wird und ohne sie nicht existieren kann. Hardware ist demnach nicht nur das technische Dispositiv von Software, sondern Software existiert lediglich als unbegreifliche Komplexität elektronischer Schaltungen. 16  Vgl. Nannucci, Maurizio: All art has been contemporary, Neonskulptur, 1999, Sammlung Michael Stich. 17  Vgl. Gillies, Extraleben, S. 171. 18  Kittler, Friedrich: »Es gibt keine Software«, in: ders.: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig 1993, S. 225–242, S. 225.

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Zweitens, zur Spaltung von Hard- und Software: Die seit den 1950er Jahren bestehende terminologische Dichotomie von Hard- und Software ist nicht nur die Ausprägung eines taxonomischen Ordnungssinnes. Sie beschreibt die Differenz zwischen haptischer und symbolischer Maschine, zwischen Relais und Logik. Die Reanimation von Software und die sie bedingende Emulation von Hardware-Konfigurationen betonen diese Unterscheidung durch die notwendige Zusammenführung. Erst die Infragestellung einer Taxonomie vollzieht eine paradoxe Umkehr, um diese zu stärken. Die Möglichkeit zum Bruch bzw. zum Einbruch der Hard- in Software begründet die Existenz einer Unterscheidbarkeit derselben. Wenn Hard- und Software ihre scharfe Abgrenzung verlieren, bestärken sie zugleich ganz dialektisch ihre Pole durch die Überwindung des Raumes dazwischen. Nur das, was scheinbar getrennt ist, kann ineinander aufgehen.   Kittler hebt die Vorgängigkeit von Hardware hervor. Die Beschaffenheit der physikalischen Maschine setzt der symbolischen Maschine materielle Grenzen auf der atomaren Ebene. Es gibt kein unendliches Papierband. Die universelle Turingmaschine ist nur Phantasma, das stets am Elektron scheitert. Hardware ist das technische Apriori einer nicht vollständigen universellen Turing-Maschine, die in den Grenzen physikalischer Parameter arbeitet. Fehler in der Emulation zeigen das Zombiehafte eines reanimierten Codes auf, dessen Defibrillator fernab der ursprünglichen Hardware arbeitet. Race conditions und andere Bugs, die durch eine Rekontextualisierung von Software ans Licht treten, betonen die Unabdingbarkeit von Hardware. Zugleich fehlen einer emulierten Umgebung technische Details: Am System/360 gab es einen roten Knopf, auch Big Red Switch genannt, der das System komplett abschaltete. Was genau beim Drücken – einem zunächst rein mechanischen Vorgang – passierte, bildet ein Emulator kaum ab.   Bei aller logischen Stringenz, die eine materialistische Analyse von Hard- und Software aufweist, konterkariert der Emulator zugleich die daraus folgende Hierarchisierung: Trotz des Einbruchs historischer Realität in die emulierte Ausführung eines Programmes ist der Vorgang der Emulation selbst ebenso Antithese eines Hardware-Diktats. Auftretende Fehler, die auf eine enge Verknüpfung mit ehemaligen Setups hinweisen, sind nicht zu negieren, zeichnen sich zugleich aber durch Behebbarkeit aus. Die race condition wird durch Entschleunigung aufgelöst, so wie fehlende Hardware durch simulierte Schnittstellen vorgetäuscht wird.   In dieser fraktalen Geometrie einer Interdependenz von Software mit Software wird Hardware zu einem Parameter. Der Emulator unterstreicht zwar 321

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die Notwendigkeit, Hardware nachzuahmen, zugleich vollzieht er dies mittels Code und beginnt mit einer Auflösung des Diktats einer originären Umgebung. Hardware und Software entfernen sich, und es stellt sich die Frage, welchen Status Hardware in dieser Konstellation überhaupt noch hat. Eine exekutive Rolle im Bereich physikalischer Anordnung? Die konkrete Ausprägung erweist sich als festgelegte und nachahmbare Parametrisierung.   Die Emulation von Hardware unterminiert das durch Kittler konstatierte Hardware-Apriori. Kittler selbst sieht die Bedeutung von Emulatoren für seine Theorie und versucht, in einem diskursiven Dreisprung die materialistische Ordnung wiederherzustellen.19 Der Dreisprung beginnt mit einem Zugeständnis: Grundsätzlich sei durch Emulation – und auch Simulation – eine Verschiebung der physikalischen in die logische Maschine zu beobachten. Diese Verschiebung wird jedoch auf Software reduziert, die nicht nur in einer symbolischen Maschine läuft, sondern selbst nur mit symbolischen Zeichenketten arbeitet.20 Nur Software also, die gänzlich Software im algorithmischen Sinne ist, kann von einer universalen Maschine abgebildet werden. Kittler löst das Emulations-Paradoxon somit durch eine tautologische Auflösung: Zwar kann Hardware im symbolischen Bereich durch Software abgebildet werden, jedoch nicht im Bereich der Hardware selbst. Wenn Hardware also nicht mehr nur symbolische Maschine ist, sondern ganz real physikalische Entität, die im Bereich atomarer Grenzen operiert, ist eine logische Abbildung unmöglich.   Diese Erklärung der symbolischen Maschine als physikalischer Signalverarbeiter ist eine Verklärung. Sie verklärt eine komplexe Schaltung mit ihren Transistoren, Prozessoren und der Peripherie zu einer transzendenten Maschine, die nur in ihrer Gänze gesehen und interpretiert werden kann. Dabei bricht der Emulator nicht zuletzt auch diese Lesart auf, indem er nicht ganze Maschinen reanimiert, sondern notwendige Teile, um eine gewünschte Funktionalität wiederherzustellen. Der Emulator fragmentiert den Maschinenkomplex durch 19  Kittler, Friedrich: Hardware, das unbekannte Wesen, http://hydra.humanities.uci.edu/kittler/hardware. html, hg.v. Peter Krapp, 07.08.2011: »Seitdem Alpha-Prozessor [sic] gelernt haben, Intel-Prozessoren zu emulieren, die ihrerseits Power PCs emulieren, scheint das maschinenunabhängige Reich der Freiheit bereits ausgebrochen. Am Horizont stünde eine universale Portabilität, die alle Computertechnologie schließlich in eine reine Syntax atomarer und insofern unstrukturierter Elemente auflösen würde.« 20  Vgl. ebd.: »Dem bleibt jedoch entgegenzuhalten, daß Simulation und Emulation ihren Zweck nur erfüllen, solange sie jene kontingente Zukunft, um deren Berechnung es schließlich geht, nicht selber verbrauchen. [...] Für Operationen über Strings, die selber schon als symbolische Zeichenketten vorliegen, reicht Turings Prinzipschaltung aus Lese/Schreibkopf und Endlospapierband vollkommen hin. [...] Bei Operationen über Daten, die Signale im Sinn der Nachrichtentechnik oder Meßwerte im Sinn der Physik sind, entscheidet dagegen die Hardware über Möglichkeit oder Unmöglichkeit selber.«

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Analyse. Emuliert wird nur, was emuliert werden muss, um eine Software hinreichend steuern zu können. Es ist mitnichten eine Betonung von Hardware, dass durch diesen Verzicht auf eine ganzheitliche Interpretation auch Software zu Frankensteins Monster mutieren kann.   Diese digitale Entstellung ist es, die den Emulator immer wieder als Dispositiv und Botschaft zugleich ans Licht treten lässt. Emulation ist Interpretation durch Betonung und Auslassung. Es erstaunt kaum, dass der viel genutzte Emulator DOSBox zwar viele Spiele problemlos zu reanimieren vermag, beim Versuch zu drucken jedoch abstürzt und das ausgeführte Programm mit in den digitalen Abgrund zieht. Lapidar heißt es dazu: »[B]ut the emphasis has been on getting DOS games to run smoothly, which means that communication, networking and printer support are still in early development.«21 In der Praxis erweist sich der Emulator somit als umfassend genug, eine frühe Version der Entwicklungsumgebung Turbo Pascal auszuführen. Der Versuch, die programmeigene HilfeDruckfunktion zu nutzen, bleibt jedoch zum Scheitern verurteilt.   Die Interpretation durch Emulation ist die Fokussierung auf einen Bereich des historischen Software-Hardware-Gefüges. Software muss nicht in allen Funktionen wiederbelebt werden, um einen hinreichenden Nutzen zu bieten und überhaupt reanimiert werden zu können. Argumentative Nuance ist hier die prinzipielle Möglichkeit, ausgewählte Funktionen und Schnittstellen emulierend abzubilden, um einen zwar unvollständigen, aber hinreichenden Grad an Wiederbelebung zu erreichen. Emulation ist somit zugleich ein Verzicht auf das Surplus einer vermeintlich gefahrenlosen Nutzung eines Programmes in seiner Gänze. Doch ob diese überhaupt je existierte, sei dahingestellt. So lässt sich zwar eindeutig feststellen, dass Emulatoren zunehmend komplexer Systeme schon aus formalen Gründen zunächst weniger Funktionen nachbilden, zugleich aber sollte nicht einer digitalen Romantik verfallen werden, die behauptet, es hätte je einen stabilen Zustand gegeben, in dem Software nicht der Gefahr eines Absturzes ausgesetzt gewesen wäre.   Diese Bedrohung der symbolischen Maschine erfolgt durchaus auf logischer wie auf physikalischer Ebene. Algorithmen können fehlerhaft sein, Hardware kann sich nichtdeterministisch verhalten. Die Hardware selbst ist es, die immer wieder als Hauptargument gegen ihre emulative Überführung in Software angeführt wird. Zwar könne man, wie Kittler schreibt, Symbolketten auch symbolisch verarbeiten, physikalische Signale aber nicht. Häufig vorgebrachtes Argument ähnlicher Stoßrichtung ist die mangelhafte Reanimation von Peripherie: 21  Vgl. http://www.dosbox.com/wiki/Main_Page, 30.06.2011.

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Emulatoren wie der Multiple Arcade Machine Emulator (MAME) können zwar zehntausende Spiele alter Arkade-Maschinen wiederbeleben, die ursprüngliche und oft einzigartige Hardware jedoch nicht.22   Diese Refokussierung auf die Haptik historischer Hardware erscheint insbesondere im Bereich von Arkade-Maschinen als schlüssig. Exotische Ausgabegeräte wie der einzigartige Vektormonitor in der Asteroids-Maschine sind durch einen Emulator nicht abbildbar. Doch diese Argumentation macht eine stille Voraussetzung, die ihre Behauptung letztlich zur Tautologie werden lässt: Sie stellt Software und Hardware in eine hierarchische Beziehung zu menschlicher Erfahrung. Das Ein- bzw. Ausgabegerät wird erst durch menschliche Interaktion von einer emulierten Schnittstelle unterscheidbar. Ob ein Bildschirm wirklich Vektoren darstellen kann oder diese erst von einem Emulator in ein übliches Pixelraster umgerechnet werden müssen, ist ein Problem der Interaktion, nicht der von Hard- und Software.   Neben der Interpretation von relevanten Programmfunktionen durch Implementierung im Emulator führt der Emulator zugleich eine technische Interpretation durch. In der Softwaretechnik wird zwischen ›Interpretern‹ und ›Compilern‹ unterschieden. Während Compiler einmalig Programmcode durch einen Übersetzungsvorgang in einen Maschinen- bzw. Objektcode umschreiben, lesen Interpreter bei jeder23 Ausführung eines Programmes den Quelltext, also die programmierten Anweisungen, ein, um diese in einem mehrstufigen Verfahren zur eigentlichen Ausführung auf Maschinenebene zu bringen.24 Compiler arbeiten einmalig und übersetzen menschlich geschriebenen Code in maschinennahe Sprache. Interpreter arbeiten kontinuierlich auf Basis des geschriebenen Codes eines Programmierers. Der Emulator überführt Maschinencode zurück in eine interpretierende Umgebung, die eine zusätzliche Schicht zwischen ausführender Hardware und programmatischer Anweisung einzieht.   Der essenzielle Punkt an dieser Stelle ist also nicht, dass Hardware nicht emuliert werden könne, weil es eben Hardware sei, sondern dass ein Emulator gerade in der Lage ist, diese vermeintliche Abhängigkeit aufzulösen und durch Schnittstellen eine vollständige Neukonfiguration zu ermöglichen. So werden heute alte Arkade-Maschinen entkernt, mit modernen Computern ausgestattet,

22  Vgl. http://mamedev.org/about.html, 15.07.2011. 23  Ausnahme bilden hier eventuelle Zwischenspeicher, die das Ergebnis eines Interpreter-Durchlaufs für den nächsten Lauf vorhalten, solange sich am Programmcode nichts ändert. Dieser Umstand wirkt sich jedoch nicht nachteilig auf die folgende Argumentation aus. 24  Vgl. Mak, Ronald: Writing Compilers and Interpreters. A Modern Software Engineering Approach Using Java, Indianapolis 2009, S. 14f.

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um dann historisch völlig unkorrekt, aber dennoch retrospektiv nahezu beliebige Spiele emuliert ausführen zu können. Diese postmoderne Beliebigkeit weitet sich sogar auf den Bereich haptischer Hardware aus. Der bereits erwähnte Joystick-Klassiker Competition Pro ist auch heute noch in Versionen erhältlich, die zwar äußerlich an das Original anknüpfen, deren Innenleben aber durch Schaltkreise ersetzt wurde. Ironischerweise gibt es gar eine vergoldete JubiläumsAusgabe, der zudem noch CDs mit Emulatoren und alten Spielen beiliegen. Es wird unüberschau-, wenn nicht ununterscheidbar, auf welcher Plattform Programme laufen. Hardware wird trotz ihrer materiellen Haptik selbst zur nachahmbaren Hülle. Dies ist genau die Beliebigkeit von Hard- und Software, die Emulatoren zutage treten lassen.   Die haptische Beschaffenheit von Hardware als Argument für eine Hierarchisierung von Hard- und Software anzuführen, ist selbstreferenziell. Dass Hardware aus Materie besteht, die physikalischen Gesetzen unterliegt, und Software letztlich auf Hardware ausgeführt wird, ist kein Argument, sondern eine Zustandsbeschreibung. Es reicht nicht hin als theoretische Begründung dieser materiellen Perspektive. Auch die physikalische Perspektive auf den Computer als Verarbeitungsmaschine von nichtsymbolischen Nachrichtensignalen verwechselt letztlich These und Argument. Die Emulation von Hardware durch Software konterkariert diese Annäherung und stürzt die geordnete Welt des Nebeneinanders von Hard- und Software in die Krise einer zunehmenden Ununterscheidbarkeit.   Es bleibt im Rahmen der Überlegungen zur Reanimation die Frage, inwiefern der Emulator reanimiert, reanimieren kann. Emulation ist in dieser Hinsicht eine terminologische Enttäuschung. Sie steht etymologisch in keiner Beziehung zur Reanimation. Es ist gar zu prüfen, ob Hard- und Software überhaupt reanimiert werden können, also die Grundvoraussetzung für eine Wiederbelebung bieten.   Reanimation verlangt einen vorgängigen lebendigen Zustand. Es ist ein Allgemeinplatz, Hard- und Software im rein biologischen Sinne als nichtlebendig zu charakterisieren. Und doch sind Computer seit jeher semantisch mit biologischen und personifizierenden Begriffen durchdrungen: Sie werden mit Mäusen bedient, haben Bugs, Viren und Würmer, laufen, stürzen ab usw. Der Computer wird seit jeher um eine vitale Peripherie erweitert, von Parasiten durchdrungen und durch verbale Beschreibungen in Bewegung gebracht, die ihr fatales Ende im Absturz findet. Das Lebendige transzendiert den Computer, die personifizierte Maschine wird für biologische Zustandszuschreibungen empfänglich gemacht. 325

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Bereits der kanonische Sprachgebrauch legt also nahe, dass die sich im Computer verdichtende Hard- und Software als lebendig konnotiert wird, bis der Absturz oder Alterstod sie ereilt. Behauptet man Leben und Tod als notwendige Voraussetzung für eine Reanimation, überrascht es kaum, eine häufige Interpretation von Emulation als Bedingung der Möglichkeit technologischer Reanimation vorzufinden. Ein typischer Fachartikel heißt entsprechend »Reaninimiert. Mainframes auf dem PC emulieren«.25 Der Fokus der Wahrnehmung verschiebt sich hier von der Emulation als Nachahmung zur Überwindung technischer Grenzen hin zu einer Überwindung historischer Lebenszyklen, also von der Technologie zu einem Anthropomorphismus.   Die Reanimation wird dabei fast ausschließlich als Wieder-Ausführung (wenn nicht Wiederauferstehung) von Code wahrgenommen. Die Hardware bleibt als nichtrestauriertes Relikt außen vor. Die zwei Körper des Rechnens stellen sich als sterbliche Hülle in Form von Hardware und unsterblichem Geist der Software dar. Konzeptionell überrascht die technische Literatur mit einem terminologischen Hang zur Mystifizierung. Die bereits als Reanimiation hoch aufgeladene Emulation wird hier gar zur Seelenwanderung.26   Das Wechselspiel von Emulation und Reanimation ist nicht nur die Beobachtung des Eindringens biologischer Paradigmen ins Technologische. Eine paradigmatische Schubumkehr lässt gleichermaßen die informationstechnische Emulation zur Voraussetzung biowissenschaftlicher Reanimations-Phantasmen werden. Whole Brain Emulation, wie von Sandberg und Bostrom vorgestellt, verspricht transhumane Unsterblichkeit durch die technologische Emulation des menschlichen Gehirns.27 Der Vorgang erinnert an die Emulation von Hardware zur Reanimation von Software, und es stellt sich bereits jetzt die Frage, inwiefern hier eine diskursive Sprachregelung freigelegt werden kann, die Emulation als disziplinüberschreitendes Paradigma ausweist. Die Bedeutung der Begriffswahl und der damit verbundenen Paradigmatik auch in den Biowissenschaften unterstreicht Peter Moore in seinen Betrachtungen zu transhumanen Utopien: »One consequence of this is that Sandberg prefers to use the ›whole brain emulation‹ to ›uploading‹. It is an important shift. Gone is the idea that you take a 25  Müller, Oliver: »Reanimiert. Mainframes auf dem PC emulieren«, in.: iX  7 (2010), S.  127–130, S. 127. Auch in der Populärpresse ist der gleichzeitige Gebrauch beider Begriffe üblich. Vgl. z.B. Ströh, Christian: »Garagenbastlerin reanimiert C64«, in: Spiegel Online, http://www.spiegel.de/netzwelt/ web/0,1518,365781,00.html, 27.05.2011. 26  Vgl. Violka, Karsten: »Seelenwanderung. Windows-Installationen in VMware überführen«, in: c’t  24 (2005), S. 208–210. 27  Vgl. Sandberg, Andreas; Bostrom, Nick: Whole Brain Emulation. A Roadmap, Oxford 2008, http://www. fhi.ox.ac.uk/reports/2008%E2%80%903.pdf, 05.09.2011.

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›There is no Hardware‹

person and move then into a new realm. In its place is the attempt to build that emulates a brain. Now there is no drive to bring an existing person in a digital form, but to create a new being based on a more generalised human template. Is this really human? I think not. Is it post-human? Again I think not.What you have is a technology that wasn’t capable of copying a human, and so went off in a different direction. Is it likely to be highly capable? Yes, most certainly, but surely that is different.«28

Zusammenfassung Der Emulator reanimiert Software durch den Verzicht auf Restaurierung von Hardware. Er analysiert diese und überführt sie durch eine erneute Algorithmisierung der Schnittstelle in die logische Gleichung der symbolischen Maschine. Dieser Schritt ist zunächst ein positivistischer. Er bejaht die Rekontextualisierung von Software, um zugleich eine Kontextualisierung per se zu verschweigen. Software als logisches Konstrukt wird angeblich interpretationsfrei in einem digitalen Wiederkäuen von Code zur lebendigen Retrospektive. Diese öffnet den Blick für historische Konfigurationen und macht Software und Datenströme wieder erfahr- und nutzbar.   Zugleich ist der Schritt ein surrealer. Der Emulator setzt Software in unmögliche Maschinen. Emulierte Hardware weicht ab vom Erwartungshorizont zeitgenössischer Programmierung. Sie ermöglicht durch das Verschieben technischer Parameter das Übertreffen der Originalkonfiguration. Reanimierte Programme können schneller Instruktionen abarbeiten, als es auf ihrer intendierten Umgebung je möglich gewesen wäre.   Dabei erweist sich der Schritt auch als interpretierender. Emulatoren fokussieren in ihrer Nachahmung Teilfunktionen von Software, um andere Funktionen auszublenden. Während die Maske eines Programmes noch originalgetreu auszusehen vermag, kann sich hinter jedem Klick eine Fehlfunktion im Sinne ihres Fehlens verbergen. Muss gedruckt werden? Benötigt man Sound? Der Emulator interpretiert die Notwendigkeit dieser Features, um sie auf einer Wunschliste für zukünftige Entwicklungen zu katalogisieren und nach Wichtung und Realisierbarkeit umzusetzen. Die Interpretation ist zugleich also immer auch entstellend, um das Zombiehafte eines reanimierten Codes ans Tageslicht treten zu lassen.   Nicht zuletzt ist dieser Schritt ein emanzipatorischer. Er beginnt mit der technisch-argumentativen Auflösung einer behaupteten Hardware-Software-Hier28  Moore, Peter: Enhancing Me.The Hope and the Hype of Human Enhancement, Chichester 2008, S. 61.

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archie. Software, die Hardware in einen emulativen Regelkreis einführt, stellt das materielle Apriori des Schaltkreises infrage. Die konterkarierende kittlersche Lesart von Software entzieht dieser die Möglichkeit zum Diskurs, um sie als Beiwerk und undurchsichtige Abstraktion von Hardware zum Nebenprodukt werden zu lassen. Diese Griffigkeit des wissenschaftlichen Objekts jedoch ist notwendig, um sie als eigenständigen Betrachtungsgegenstand zu emanzipieren und für weitere Untersuchungen auch unabhängig von einer Hardware-Schicht zu öffnen. Die Materialität von Hardware über Software zu stellen, ist logisch stringent und auch heute noch ein üblicher Einwurf,29 wird einer notwendigen diskursiven Eigenstellung der Software aber nicht gerecht.   Eine Verdinglichung von Software ist der entgegengesetzte Ansatz. Matthew Fuller löst in seiner Einleitung zur lexikalischen Bestandsaufnahme Software Studies Software aus der transzendenten Immaterialität, um sie als stuff begreifbar zu machen.30 Erst die Artefaktbildung und Emanzipation von einer Hardwarezentrierten Sicht ermöglichen einen bis heute fehlenden Diskurs über Software, der nicht an der Platine endet. Der Emulator kann diese Prozesse katalysieren, indem er Hardware zum Software-Parameter tradiert, zugleich Zeitlosigkeit anstrebt und damit einer Diskursivierung zuführt. Die Reanimation der Emulation unterscheidet sich dabei von der bloßen Ausführung durch die zunehmende Entkörperung bei gleichzeitiger Verdinglichung von Software.   Trotz dieser Entkörperung tritt der Emulator zeitgleich in die Sphäre des biologischen Körpers ein. Whole Brain Emulation verspricht als Hoffnung die Nachahmung menschlicher Denkstrukturen. Als rettender Akt nach dem Tod reanimiert sie den Geist bei gleichzeitiger Überwindung der Physis. Durch einen Umweg über das Digitale kehrt die Reanimation als Begleiterin, Bedingung und Folge der Emulation zurück in die Sphäre menschlicher Natur. So reanimiert der Emulator die Reanimation.

29  Auch Bernhard Siegert verweist auf den »Riß zwischen symbolischen Maschinen und dem Verhalten realer Maschinen, der das Dispositiv des Computers abgrundtief strukturiert«. Vgl. Siegert, Bernhard: Passage des Digitalen, Berlin 2003, S. 333. 30  Fuller, »Introduction. The Stuff of Software«, S. 1ff.

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Wiederbelebung eines Massenmörders. Verfahren der Transkription und der (Re-)Animation in Romuald Karmakars Der Totmacher

A

m 15. April 1925 wurde im Innenhof des Landgerichts von Hannover der in einem aufsehenerregenden Prozess wegen Mordes in 24 Fällen zum Tode verurteilte Fritz Haarmann hingerichtet. An diesem Tag wurde der schon zu Lebzeiten gleichermaßen mit Abscheu und Faszination betrachtete Massenmörder vom Fallbeil geköpft. Bis heute wird sein präparierter Kopf in der Universität Göttingen verwahrt. Seinen Opfern, Jungen aus dem Bahnhofs- und Strichermilieu in Hannover, hatte Haarmann die Kehle durchgebissen, ihre Körper zerstückelt und deren Einzelteile in der Leine versenkt oder im Klosett hinuntergespült, um sie auf diese Weise zum Verschwinden zu bringen.

Erinnerungen an einen Massenmörder Haarmann selbst wurde zu einem »Stück Unterhaltungsgeschichte der Weimarer Republik«.1 Zeitungen und Illustrierte berichteten sensationslüstern über den Fall, ein Schauerroman entstand in Fortsetzungen, und auch das Kino interessierte sich für den Massenmörder. Eine Filmproduktion wurde zwar von den Polizeibehörden untersagt. Das hinderte die Hannoveraner Polizei jedoch nicht daran, selbst die Möglichkeiten des Mediums zu nutzen, um die »typischen Bewegungen«2 des Täters und seines Komplizen aufzunehmen und vorzuführen. 1  2

Marwedel, Rainer: »Von Schlachthöfen und Schlachtfeldern«, in: Lessing, Theodor: Haarmann. Die Geschichte eines Werwolfs, hg.v. Rainer Marwedel, München 1995, S. 7–27, S. 7. Ebd., S. 8f.

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Der Medienrummel entsprach durchaus den Wünschen des Angeklagten. Dieser machte sich selbst Gedanken darüber, wie sein Weiterleben über seinen Tod hinaus zu sichern sei. Er träumte von Romanen und der Verfilmung seines Lebens: »[I]n China – in Amerika, da werde ich doch so gefilmt  – (macht dabei Bewegungen des Drehens des Aufnahme-Apparates) – jetzt bin ich doch auch berühmt geworden.«3 Auch die Erinnerung an seine Opfer sollte ihm, ihrem Mörder, zum Andenken dienen, wie er im Gespräch mit dem Leiter der Provinzial-Heilund Pflegeanstalt in Göttingen, Ernst Schulze, zugleich sein gerichtspsychiatrischer Gutachter, am 26. August 1924 bemerkte. Auf deren Grab nämlich wünschte sich Haarmann ein Denkmal mit seinem Namen, auf dem zu lesen sein sollte: »Das sind die Opfer von dem Massenmörder Fritz Haarmann.«4 »[D]as ist eine Sehenswürdigkeit noch in 1000 Jahren, da kommen sie alle und sehen sich das noch an«,5 so Haarmanns Worte in den Gesprächsprotokollen.   Sein Wunsch, als Toter zu ewigem Leben zu kommen (Haarmann verglich sich sogar mit dem gekreuzigten Jesus Christus),6 wurde von der Realität noch übertroffen. Für Generationen hielt ihn ein umgedichteter Operetten-Vers als abschreckendes Beispiel in Erinnerung: »Warte, warte nur ein Weilchen / bald kommt Haarmann auch zu dir / mit dem kleinen Hackebeilchen / macht er Leberwurst aus dir«.7 Der Psychologe und Philosoph Theodor Lessing verewigte Haarmann bereits 1925 in seinem kritischen Prozessbericht Haarmann. Die Geschichte eines Werwolfs, der unter anderem Alfred Döblin als Vorlage für seinen Roman Berlin Alexanderplatz (1929) diente. Auch Fritz Lang integrierte in sein Porträt eines Triebtäters in M. Eine Stadt sucht einen Mörder (1931) Elemente aus Haarmanns Geschichte. Schließlich verlegte Ulli Lommel die Taten Haarmanns für seinen Film Die Zärtlichkeit der Wölfe (1973) in die Nachkriegszeit.   In Hannover kam es zum Skandal, als der österreichische Bildhauer Alfred Hrdlicka vorschlug, »dem Menschenverächter und Schlächter, dem Präfaschis-

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Haarmann, Fritz zit.n. »Gespräche in Göttingen. 18. August – 25. September 1924«, in: Die HaarmannProtokolle, hg.v. Christine Poszár, Michael Farin, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 205–461, S. 451. Ebd., S. 266. Ebd. In den Vernehmungen vom Juli und August 1924 in Hannover äußerte Haarmann am 2. August 1924: »Ostern – da ist es [sic] ans Kreuz gekommen – der Herr Jesus – da haben die Jueden [sic] geschrieen: Kreuzige ihn. […] Mit mir schreien sie jetzt auch so – und ich hab denen doch nichts getan – die Kommunisten, und so ist das damals wohl auch gewesen.« Haarmann zit.n. »Gespräche in Hannover. 26.Juli – 9. August 1924«, in: Die Haarmann-Protokolle, hg.v. Christine Poszár, Michael Farin, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 123–204, S. 149. Zit.n. Poole, Ralph J.: »Der Fall Fritz Haarmann, ›Werwolf von Hannover‹. Zur Instabilität des Dritten«, in: Breger, Claudia; Döring, Tobias (Hg.): Figuren der/des Dritten. Erkundungen kultureller Zwischenräume, Amsterdam/Atlanta 1998, S. 211–239, S. 217.

Wiederbelebung eines Massenmörders

ten und Ver-Führer Haarmann ein Denkmal zu setzen«.8 Ende der 1960er Jahre hatte Hrdlicka einen Zyklus von Marmorstatuen geschaffen, die Haarmanns Taten und seine Opfer zum Gegenstand hatten. Hrdlicka brachte den »Massenmörder in Privatinitiative«,9 der in seinen Taten das Grauen des Nationalsozialismus bereits vorweggenommen habe, gar mit seinem eigenen künstlerischen Schaffen in Verbindung: »Denn im Prinzip habe auch ich jahrelang nichts anderes gemacht, als männliche Körper zu zerstückeln und zu dezimieren. Die Faszination für das Anatomische, ja geradezu die Sucht des Zerlegens, ergibt Berührungspunkte.«10 Die Zerstückelung der Körper verweist sowohl auf die grausame Tat als auch auf das Prinzip des Künstlers. Gleichzeitig vollzieht sich in den Bearbeitungen des Haarmann-Falles auch immer wieder eine Form der Wiederbelebung, der Re-Animation der vom Mörder zerstückelten Körper und des zerteilten Körpers des Mörders, der auf diese Weise als Teil der Kunst und der Populärkultur wiederkehrt, zuletzt als Photomontage im Adventskalender der Hannover Tourismus GmbH, was die Bild-Zeitung zu der Schlagzeile verleitete: »Hannover Tourismus wirbt mit Massenmörder Haarmann«.11

Konstruktion und Wiederbelebung Im Folgenden soll der 1995 entstandene, vielfach preisgekrönte Film Der Totmacher von Romuald Karmakar, in dem der Schauspieler Götz George den Massenmörder verkörpert, einer Lektüre unterzogen werden, die Verfahren der Animation und Re-Animation in den Blick nimmt. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf Karmakars Umgang mit den archivarisch überlieferten Gesprächsprotokollen, die bei psychiatrischen Untersuchungen zwischen Juli und September 1924 zunächst in Hannover, dann in der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt in Göttingen entstanden. Tatsächlich besteht das Drehbuch nahezu ausschließlich aus Zitaten aus diesen Mitschriften, die für den Film verdichtet wurden: »Es ist kein fiktives Material, und es ist auch kein im klassischen Sinne geschriebenes Drehbuch, sondern ein Drehbuch aus dem Material heraus«,12 erklärt Karmakar in einem Gespräch mit Peter W. Jansen. »Das heisst [sic]: ich habe aus den rund vierhundert Seiten des Original-Protokolls ich glaube etwa 98 Seiten herausdestilliert und die versucht, in eine Form zu 8  9  10 11 12 

Hrdlicka, Alfred zit.n. ebd., S. 211. Hrdlicka zit.n. ebd. Hrdlicka zit.n. ebd., S. 213. Quasthoff, Michael: »Mit Haarmann in den Advent«, in: die tageszeitung, 06.11.2007. Jansen, Peter W.: »›Beim Filmesehen habe ich gesehen, was gut ist‹. Gespräch mit Romuald Karmakar«, in: Filmbulletin 6 (1995), S. 21–23, S. 22.

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bringen. Dann gab es vor Beginn der Dreharbeiten in Zusammenarbeit mit Michael Farin, von dem ich die Protokolle hatte, eine Überarbeitung, auch eine weitere Kürzung auf etwa achtzig Seiten der Protokolle.Wir haben auch noch verschiedene Sachen umgestellt, um eine Fünf-Akt-Struktur zu finden.«13

Die Übertragung vom Protokoll über das Drehbuch bis zum Film kann als Wechselspiel von Destruktion und Wiederbelebung beschrieben werden, wie es bereits den historischen Fall und sein Fortleben in der populären Kultur prägte. In der Bearbeitung des Materials, die sich insbesondere durch ihre reduzierte Form – die Handlung spielt beinahe gänzlich in einem einzigen Raum und ist in weiten Teilen auf bloß drei Personen verteilt – auszeichnet, sind beide Bewegungen, Destruktion und Re-Animation, auf das Engste miteinander verschränkt. Das überlieferte Material, die Protokolle der psychiatrischen Gespräche, wurde in einem ersten Schritt bearbeitet, fragmentiert, destilliert und umgestellt. In einem zweiten Schritt wurde es in die neue Form des Drehbuchs gebracht. Dabei war das Ziel nicht die authentische Rekonstruktion, sondern deren Konkretisierung in einem Akt verdichteter Konstruktion. Dieses Verfahren soll im Folgenden als Transkription beschrieben werden. In einem dritten Schritt diente das so verdichtete und geformte Material schließlich als Ausgangspunkt schauspielerischer Wiederbelebung. Diese orientierte sich dabei nicht nur am gesprochenen Wortlaut der aus den Protokollen destillierten Dialoge, sondern auch an den ebenfalls protokollierten Körperhandlungen, Regungen und Reaktionen der Beteiligten. Das Schauspiel und mehr noch die filmische Inszenierung setzen die überlieferten Aufzeichnungen in Szene und übersetzen die Worte der Protokolle in Ausdruck und Bewegung, was im Folgenden als Animation analysiert wird. Darüber hinaus kann noch ein weiterer Aspekt ausgemacht werden: das Hervorrufen von emotionalen Reaktionen und Vorstellungsbildern auf Seiten der Zuschauer, was ich im Folgenden als Verfahren der Re-Animation beschreiben möchte. Der Körper auf der Leinwand wird zum Medium und Auslöser von Vorstellungen. Da der Film die Verbrechen Haarmanns nicht in Rückblicken rekonstruiert, entstehen diese – und damit die Vorstellungen von den abwesenden, ermordeten und zerstückelten Opfern – als Bilder in den Köpfen der Zuschauer. Diese drei Schritte, die Auswertung und Verdichtung der Protokolle und ihre Transkription zum Drehbuch, dann ihre schauspielerische Verkörperung, und schließlich die Animation von Bildern ›hinter den Worten‹ in den Köpfen der Zuschauer sollen im Folgenden untersucht werden.

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Ebd.

Wiederbelebung eines Massenmörders

Verdichtung und Transkription In seinen Aufzeichnungen zu Das Passagen-Werk formuliert Walter Benjamin die Grundzüge einer Kritik der Rekonstruktion im Umgang mit der Vergangenheit. Er fordert, die »Konstruktion eines historischen Sachverhaltes aufs strengste von dem zu unterscheiden, was man gewöhnlich seine ›Rekonstruktion‹ nennt«.14 Denn, und hierauf zielt Benjamins Kritik am Verfahren der Rekonstruktion: »Die ›Rekonstruktion‹ in der Einfühlung ist einschichtig. Die ›Konstruktion‹ setzt die ›Destruktion‹ voraus.«15 Damit erteilt Benjamin jenen Verfahren der scheinbar unvermittelten, ›authentischen‹, ›Wiederherstellung‹ des Vergangenen eine Absage. Im Zentrum steht dabei eine Kritik der ›Einfühlung‹ in das Vergangene, welche Unmittelbarkeit suggeriert. Dagegen fordert Benjamin, den Konstruktionscharakter historischer Darstellungen und damit die Vermittlung offenzulegen und die falsche Einheit aufzusprengen.   Bezogen auf mein Untersuchungsmaterial, die psychiatrischen Gesprächsprotokolle Haarmanns, folgt daraus, dass diese aus ihrem Entstehungs- und Deutungskontext herauszulösen sind, ohne diesen zu verleugnen. Die in den Protokollen zum Ausdruck kommenden Wissenspraktiken und Vorstellungen werden im Falle von Der Totmacher gerade durch die Auflösung der Gesprächseinheit und durch ihre Neuanordnung sowie den Kontextwechsel vom Juristischen ins Ästhetische verdeutlicht. Die Übertragungen vom Medium des Protokolls in das des Drehbuchs und schließlich in den Modus des Filmischen sind dafür die Voraussetzung.   Auf solche Transformationsprozesse lassen sich Gedanken beziehen, die Benjamin in Bezug auf die »Aufgabe des Übersetzers« formuliert hat.16 Insbesondere seine Hervorhebung der Verschiedenartigkeit von Original und Übersetzung, deren Verhältnis sich eben nicht durch Ähnlichkeit, sondern durch Veränderung, in Benjamins Worten durch »Wandlung und Erneuerung des Lebendigen«17 auszeichnet, sind dabei von zentraler Bedeutung. Weit mehr als auf imitierender Nachbildung basiert Übersetzung auf Distanz: »Die Übersetzung aber sieht sich nicht wie die Dichtung gleichsam im innern Bergwald der Sprache selbst, sondern außerhalb desselben, ihm gegenüber und

14  Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk, in: ders.: Gesammelte Schriften, 5. Bd. 1. Teil, hg.v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1982, S. 587. 15 Ebd. 16  Vgl. Benjamin, Walter: »Die Aufgabe des Übersetzers«, in: ders.: Ein Lesebuch, hg.v. Michael Opitz, Frankfurt a.M. 1996, S. 45–57, S. 45. 17  Ebd., S. 52.

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ohne ihn zu betreten [sic] ruft sie das Original hinein, an demjenigen einzigen Orte hinein, wo jeweils das Echo in der eigenen den Widerhall eines Werkes der fremden Sprache zu geben vermag.«18

So überschreibt die Übersetzung nicht das Original, sondern lässt es durchscheinen,19 mehr noch, ergänzt es und verändert damit in erster Linie die eigene Sprache, die sich so erweitert und vertieft.20   Wie lassen sich diese Überlegungen nun auf die Transformation der Gesprächsprotokolle zum Skript von Der Totmacher beziehen? Ein Text der Textsorte Protokoll wird in eine andere, die des Drehbuchs, ›übersetzt‹. Tatsächlich bleibt das ›Original‹ im fertigen Film präsent. Zum einen geschieht dies durch den besonderen Sprachgestus der Dialoge aufgrund der Übernahme des Wortlauts aus den Protokollen. Zum anderen verweist die Figurenanordnung, insbesondere die Anwesenheit des den gesamten Film über stumm bleibenden Stenographen, auf die Quelle. Schließlich wird das Aufschreiben selbst zu einer zentralen Handlung des Films. Nicht nur der protokollierende Stenograph schreibt, auch der Gutachter Schulze macht sich immer wieder Notizen. In einer Zwischenszene ist der Stenograph an einer Schreibmaschine zu sehen, eine andere zeigt Schulze bei nächtlichen Aufzeichnungen. Im Verlauf des Films gleicht sich auch Haarmann seinem Gesprächspartner an und besteht darauf, einen Schreibblock zu bekommen. In der Schlussszene des Films überreicht er dem Psychiater Schulze sein ›Buch‹. In diesen Bezügen zur Aufzeichnungspraxis teilt sich die Form der Überlieferung gleichsam selbst in der filmischen Übersetzung mit.   Sybille Krämer hat mit Bezug auf Benjamin die Übersetzung als mediales Übertragungsverhältnis untersucht. In diesem Sinne fungiert der Übersetzer als eine Botenfigur, als Medium, dessen Ort nicht in, sondern zwischen den Sprachen ist. Anders als der Dichter erzeuge die Übersetzung nicht, sondern reproduziere.21 Doch dabei seien Differenz und Ergänzung grundlegende Prinzipien.22 Diese Überlegungen lassen sich auf die Übersetzungsprozesse beziehen, die den Film Der Totmacher kennzeichnen. So beobachtet die registrierende Kamera die Transformation der Protokolle in das Spiel und übersetzt jene gleichzeitig in eine andere, filmische Sprache, ohne diejenige des Originals auszulöschen. Gerade die daraus resultierende Spannung zwischen dem Filmischen, 18  19  20 21  22

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Ebd., S. 48. Vgl. ebd., S. 54. Vgl. ebd., S. 56. Vgl. Krämer, Sybille: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt a.M. 2008, S. 190. Vgl. ebd., S. 191.

Wiederbelebung eines Massenmörders

dem Theatralen und dem Dokumentarischen sorgte in der Rezeption des Films immer wieder für Irritationen.   Doch gleichzeitig stößt die Analogiebildung zum Verfahren der Übersetzung an Grenzen, haben wir es doch bei den Gesprächsprotokollen nicht, im Sinne Benjamins, mit einem dichterischen Werk zu tun und bleibt doch auch die Rede von einer ›filmischen Sprache‹ oft genug nebulös.   Zur genaueren Bestimmung bietet sich daher ein anderes Übertragungsmodell an, welches die intermediale Beziehung stärker in den Blick zu nehmen erlaubt. Ludwig Jäger hat solche »Prozessierung von intermedialer Differenz« als eine »Logik der Transkription« beschrieben.23 Darunter versteht er ein »Verfahren wechselseitiger intermedialer Um-, Ein- und Über-Schreibungen«.24 Die Transkription begründet demnach eine Form der Kopräsenz verschiedener Medien, die aufeinander Bezug nehmen und miteinander in Beziehung treten. Die Übersetzung könne dabei ein mögliches Verfahren sein. Jäger führt außerdem die Kommentierung, die Erläuterung und die Explikation auf.25 Das Ziel der Transkription sei die (Wieder-)Herstellung von Lesbarkeit.26 Anders als die Übersetzung im Sinne Benjamins, die dieser als unübersetzbar deklariert,27 sei die Transkription wiederum transkribierbar.28   Die Herstellung von Lesbarkeit durch ein intermediales Transkriptionsverfahren profitiert auch von den »mit unterschiedlichen Einzelmedien verbundenen Adressenoptionen«.29 Es vollzieht dabei auch »Prozesse der Umadressierung«,30 die somit in einem anderen medialen Kontext auch andere Aspekte hervorheben können. Es geht also um »Verfahren der Rahmung, der Re-Adressierung«.31 Mit diesem Konzept der intermedialen Transkriptionsverfahren lässt sich nun der Transformationsprozess, der dem Film Der Totmacher zugrunde liegt, wesentlich genauer fassen. Zunächst haben wir es mit zwei verschiedenen medialen Formen zu tun, zum einen mit den psychiatrischen Gesprächsprotokollen, zum anderen mit einem Film. Der Letztere kann als Transkription der Ersteren verstanden werden. Die Protokolle werden so aus dem Bezugsrahmen der psychiatrischen Begutachtung und der polizeilichen Ermittlung in ein anderes Register, 23  Jäger, Ludwig: »Die Verfahren der Medien. Transkribieren, Adressieren, Lokalisieren«, in: Fohrmann, Jürgen; Schüttpelz, Erhard (Hg.): Die Kommunikation der Medien, Tübingen 2004, S. 69–79, S. 71. 24  Ebd. 25  Vgl. ebd., S. 72. 26  Vgl. ebd., S. 73. 27  Vgl. Benjamin, »Die Aufgabe des Übersetzers«, S. 51. 28 Vgl. Jäger, »Die Verfahren der Medien«, S. 73. 29  Ebd., S. 76. 30  Ebd., S. 77. 31 Ebd., S. 78.

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den Film, überführt. Gleichzeitig löst die filmische Transkription die Protokolle aus ihrem aktuellen Zusammenhang, der Sammlung des Hauptstaatsarchivs Hannover, wo sie heute verwahrt werden. Dabei bleibt, wie bereits angedeutet, in Der Totmacher das Transkribierte präsent, auch wenn es umgeschrieben und überschrieben wird. Das Aktenkonvolut wird destilliert und damit reduziert. Und es wird in eine andere Form transkribiert, die einer fünfaktigen dramatischen Erzählung. Genau durch diese Verschiebungen aber, die die Transkription vornimmt, sollen die Dokumente lesbar werden.   Nun ist das Protokoll als Textsorte bereits selbst Gegenstand und Folge einer Transformation von mündlicher Rede in Schrift, die Überführung eines Ereignisses in eine schriftliche Form, die dieses Ereignis überdauert. Michael Niehaus und Hans-Walter Schmidt-Hannisa beschreiben daher die Rolle des Protokollanten als die eines »Transformators, der Mündlichkeit in Schriftlichkeit überführt«.32 Der Protokollant selbst aber verschwinde als Person im Prozess dieser Übertragung in den Text. Unter dieser Perspektive ist die stumme Figur des protokollierenden Stenographen in Der Totmacher von besonderem Interesse, denn in den Gesprächsprotokollen taucht er nicht als Handelnder auf. Diese vermerken ausschließlich die Fragen Schulzes und die Antworten Haarmanns sowie vereinzelt auch dessen Reaktionen. Präsent ist der Protokollant im Text lediglich durch den Schreibakt als Vermittelndes, und konkret sichtbar wird er erst wieder in der Transkription des Protokolls in die Form des Drehbuchs und von dort aus in filmische Handlungen. Grundlage dafür ist die von Cornelia Vismann betonte »präsentische Struktur der protokollierenden Schriftform«.33 Aufgrund dieser präsentischen Struktur bietet sich die Form des Protokolls für die filmische Transkription geradezu an. Der Totmacher kann so den »stummen Diener der Wissenschaft und der Justiz«34 körperlich wieder präsent machen, indem er ihn als handelnde Figur aus seiner indirekten Existenz als »schreibende Instanz«35 zur Sichtbarkeit erhebt. Interessanterweise entsteht die Figur des Stenographen im Film aus einer rein filmischen Bewegung heraus. Er konstituiert sich ausgehend vom Blick Haarmanns ins Off.Von dieser frühen Szene des Films an, die im folgenden Abschnitt noch genauer untersucht werden soll, entwickelt sich ein für den Film zentrales Wechselspiel der Blicke:

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Niehaus, Michael; Schmidt-Hannisa, Hans-Walter: »Textsorte Protokoll. Ein Aufriss«, in: dies. (Hg.): Das Protokoll. Kulturelle Funktionen einer Textsorte, Frankfurt a.M./New York 2005, S. 7–23, S. 16. 33  Vismann, Cornelia: Akten. Medientechnik und Recht, Frankfurt a.M. 2000, S. 86. 34  Jansen, Peter W.: »Ein Meister aus Deutschland. ›Der Totmacher‹ von Romuald Karmakar«, in: filmbulletin 6 (1995), S. 19–21, S. 20. 35  Niehaus; Schmidt-Hannisa, »Textsorte Protokoll«, S. 16.

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Wiederbelebung eines Massenmörders

»Das Blickverhältnis, das sich zwischen den beiden [Haarmann und dem Stenographen] entwickelt […], gehört in der unheimlichen Mischung aus Angst und Faszination, Furcht und Mitleid, Brutalität und Charme zu den bleibenden Eindrücken des Films.«36

Der Protokollant als Transformator, der das Geschehen aufzeichnet und für die Nachwelt festhält, wird auf diese Weise als mediale Figur in den Film integriert, die den mehrfachen Transkriptionsprozess, vom Ereignis zum Protokoll, vom Protokoll über das Drehbuch zum Film und vom Film zur Wahrnehmung der Zuschauer, offenlegt. Er wird so zur Figuration der Transkription, denn die Handlung entsteht aus seinem Blick, als demjenigen des Zeugen. Seine Beobachtungen, beispielsweise der körperlichen Reaktionen der Beteiligten, sind es, die die Wiederbelebung der Situation als filmisches Schauspiel erst möglich machen. So wird er schließlich zum ersten Zuschauer und damit auch zur Stellvertreterfigur des Kinopublikums, die im Wechselspiel der Blicke »am deutlichsten die Beziehung des Zuschauers zum Film und seiner Hauptfigur abbildet«.37

(Re-)Animationen und bewegte Körper Diese Überlegungen führen direkt zu einem weiteren Verfahren der Vergegenwärtigung, das für Der Totmacher gerade in der Spannung zum historischen Haarmann-Fall von zentraler Bedeutung ist. Wie an der Figur des Stenographen bereits angedeutet, findet vom Protokoll zum Film eine Art Rückübertragung von Schriftlichkeit zu Mündlichkeit, von der Aufzeichnung zur körperlichen Präsenz statt, die aber wie beschrieben eine Transkription des Überlieferten und keine Rekonstruktion des vergangenen Ereignisses darstellt. Unzweifelhaft findet sich dabei in Der Totmacher ein vielfacher Rekurs auf Fragen von Leben und Tod. Schon der Titel verweist auf den Vorgang des ›Totmachens‹ von Lebendigem. Er bezieht sich einerseits auf die vielfache Verwendung des Verbs ›totmachen‹ in den Gesprächsprotokollen, zum anderen verweist er auf Peter Lorres Nachkriegsfilm Der Verlorene (1951), den Karmakar in einem Interview zu der DVDFassung von Lorres Film als Quelle für den Filmtitel anführt.38 Der Verlorene steht wiederum in einem engen filmhistorischen Bezug zu Fritz Langs Film M. Eine Stadt sucht einen Mörder, in dem Lorre einen Triebmörder nach dem Vorbild von Haarmann darstellt. 36  Jansen, »Ein Meister aus Deutschland«, S. 20. 37 Ebd. 38 Vgl. die Dokumentation Displaced Person. Die Entstehung von Peter Lorres Film ›Der Verlorene‹ (2007) von Robert Fischer, in: Der Verlorene (DVD, Arthaus, 2007).

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Die verstörenden Berichte über die Tötungsarten, die der Schauspieler George als Haarmann an seinem Körper demonstriert, verstärken die Präsenz des Todes als Akt des Zerstückelns und Zum-verschwinden-Bringens des menschlichen Körpers. Die Hinrichtung Haarmanns wiederum ist den gesamten Film über der Flucht- und zu erwartende Endpunkt der Gespräche. »Mir ist oft so«, berichtet Haarmann seinem Gutachter im Film, »als ob ich schon einmal gelebt hätte, und dann haben sie mir den Kopf abgehackt«.39 Am Ende des Films hören wir ihn nur noch keuchen, während die Leinwand schwarz wird, ein widersprüchliches, rein akustisches Bild, das die Vorstellung der pneumatischen Beseelung wie auch das Aushauchen des letzten Lebensatems gleichzeitig evoziert.   Dem stehen filmische Verfahren der Verlebendigung gegenüber. Der hingerichtete Haarmann sowie sein Gegenüber, der 1938 verstorbene Ernst Schulze, stehen durch die filmische Fiktion vor unseren Augen von den Toten auf. Auf engstem Raum – die Ästhetik von Der Totmacher wurde vielfach mit dem Kammerspiel und oft auch mit einer Laboratoriumssituation verglichen – wohnen wir dem Spiel bewegter Körper bei. Evoziert, besser animiert werden sie mit Hilfe der Kamera. Diese bringt sie gemeinsam mit dem Spiel der Schauspieler erst hervor.   Verdichtet erscheint dieses Verfahren der Animation in dem Originalkinotrailer von Der Totmacher aus dem Jahr 1995. Zunächst ist lediglich Schlagermusik zu Schwarzbild zu hören, bevor plötzlich, nahezu leblos und halb in Schatten gehüllt, der Schauspieler George als Haarmann zu sehen ist. Sein Blick ist direkt in die Kamera gerichtet. Daraus entsteht eine ambivalente Rezeptionssituation. Die Distanz des Zuschauens wird durch die direkte Adressierung aufgehoben. Erzeugt wird, im Zusammenspiel mit dem unvermittelten Erscheinen, ein Gefühl von Unheimlichkeit. George blickt uns in der Rolle Haarmanns als Geist, als Untoter an. Und gleichzeitig ist er in seiner Unbeweglichkeit und Statik bloßes Bild. So wie dieses aus dem Dunkel des Kinosaals auftauchte, verschwindet es wieder, und es folgt der Schriftzug ›Der Totmacher kommt‹. In diesem Trailer verdichtet sich das Animationsprinzip von Der Totmacher und verschränkt sich gleichzeitig auf das Engste mit dem des Kinos. Aufblende und Abblende künden vom Erscheinen und Verschwinden des ›Totmachers‹. Für den Körper des Hingerichteten steht ein Schauspieler, George, ein. Seine Inszenierung erinnert an eine Kriminalphotographie, letztes Überbleibsel des Verurteilten. Von der Animation des Körpers durch Bewegung kündet der Satz ›Der Totmacher kommt‹ 39

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Der Totmacher (DVD, Warner, 2001), 0:24:11.

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in einem doppelten Sinne. Angekündigt wird ein Film gleichen Titels, in dem jener Totmacher, der Massenmörder, von dem der umgedichtete OperettenVers berichtet, ›wiederkommt‹.   Ihre Entsprechung und Erfüllung findet diese vom Kinotrailer angekündigte Animation dann im Auftakt des Films Der Totmacher. Auch am Anfang des Films sehen wir nur die in Schwarz getauchte Leinwand und hören, das einzige Mal im gesamten Film, Musik. Noch bevor das erste Bild zu sehen ist, werden alle Strophen von Ludwig Uhlands militärischem Trauerlied Der gute Kamerad gespielt, das Alfred Döblin als Erkennungsmelodie der politischen Reaktion auch seinen Protagonisten Franz Bieberkopf in dem Roman Berlin Alexanderplatz singen lässt.40 Das Lied endet mit der Zeile: »Kann dir die Hand nicht geben / Bleib du im ewgen Leben / Mein guter Kamerad!«,41 womit das Thema Tod und ewiges Leben bereits gesetzt ist, bevor die Handlung begonnen hat. Das Lied fungiert aber in Der Totmacher gleichzeitig als rituelle Formel der Re-Animation. Denn im nächsten Moment blendet das Bild auf, und wahrnehmbar wird ein im Halbdunkel auszumachender Körper.42 Die schemenhafte Gestalt gerät langsam in Bewegung und beugt sich in den Lichtkegel einer Deckenlampe. Die halbnahe Einstellung wird durch diese Bewegung auf die Kamera hin zu einer Nahaufnahme. Der Lichtkegel fällt auf das Gesicht des Massenmörders Haarmann, der nun von der Leinwand blickt: »Die Kamerabewegung und die Körperbewegung erzeugen im Zusammenspiel mit dem Licht den Effekt einer [erneuten, T. E.] Aufblende.«43 Vom bilderlosen Lied Der gute Kamerad über das geisterhafte Auftauchen des schemenhaften Körpers bis hin zu dessen ›Auftritt‹ im gleißenden Licht der Lampe vollzieht sich deutlich die Bewegung einer filmischen Re-Animation.   Ausgehend vom Verständnis von ›Animation‹ als »magischem Akt der Beseelung toter Materie durch die Investition von Lebensenergie«44 hat Carsten Morsch den medial evozierten Vorgang der Verlebendigung als Wahrnehmungsprozess in einem doppelten Sinne beschrieben. Das Wahrgenommene werde 40  Vgl. Döblin, Alfred: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Bieberkopf, Freiburg i.Br. 1961, S. 95f. 41  Vgl. z.B. http://de.wikipedia.org/wiki/Der_gute_Kamerad, 28.02.2012. Bei Döblin ist der Text sprachlich abgewandelt zu lesen: »Will mir die Hand noch reichen, die weil ich eben lad. Kann dir die Hand nicht geheben, bleib du im ewgen Leheben mein guter Kameherad, mein – guter Kameherad.« Vgl. Döblin, Berlin Alexanderplatz, S. 96. 42  Vgl. Ebbrecht, Tobias: Bilder hinter den Worten. Über Romuald Karmakar, Berlin 2010, S. 13. 43 Kreimeier, Klaus: »Im Geflecht der Blicke. Die Kamera in Romuald Karmakars Film Der Totmacher«, in: ders.: Prekäre Moderne. Essays zur Kino- und Filmgeschichte, Marburg 2008, S. 223–228, S. 223. 44  Morsch, Carsten: »Verlebendigung und Animation«, in: Lechtermann, Christina; Wagner, Kirsten; Wenzel, Horst (Hg.): Möglichkeitsräume. Zur Performativität von sensorischer Wahrnehmung, Berlin 2007, S. 43–49, S. 43.

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im Wahrnehmungsakt verlebendigt und der Wahrnehmende werde gleichzeitig durch das Wahrgenommene in Bewegung versetzt.45   Morsch kennzeichnet den Vorgang der Animation unter anderem als »Übertrittsphänomen«, das sich vor allem an den Rändern und »Grenzen einer Ausgangs- und Endsituation« vollzieht.46 Ähnliches lässt sich in der Eröffnungssequenz von Der Totmacher beobachten. Hier ist es die Kamera im Wechselspiel mit den Blicken, die durch die sukzessive Öffnung des Bildraums die handelnden Figuren verlebendigt. Erst einige Zeit nach dem Auftritt Haarmanns kommt eine weitere Figur, der psychiatrische Gutachter Schulze, ins Bild. Ausgangspunkt ist der Blick Haarmanns, der aus dem Bild hinausweist. Die Kamera fährt zurück und schneidet den Kopf des Schauspielers Jürgen Hentsch als Schulze im Bildrand an: »[E]r blickt auf George, George auf ihn – und diese Blickachse ist die Grundachse, die Grundeinstellung des Films.«47 Erst danach kommt es zum Umschnitt auf das Gesicht des Psychiaters, und erst in einem weiteren Schritt, nachdem die Kamera die Gesichter in Großaufnahmen erfasst hat, setzt eine klassische Schuss-Gegenschuss-Montage ein: »Der Dialog ist im Gang, wenn der Film beginnt – aber die beiden dramatis personae sind erst vollständig konturiert, nachdem die räumliche Situation und die Blickrichtungen definiert sind.«48 Und erst nach weiteren Minuten fährt die Kamera so weit zurück, dass sie, nach seiner Ansprache durch Haarmann, auch den Stenographen ins Bild setzt. Man kann also den Vorgang der Animation als Wahrnehmungsprozess ausgehend von Blicken beschreiben, der von einer durch die Kamera evozierten Bewegung ausgeht.   Morsch weist darauf hin, dass Verfahren der Verlebendigung und Animation immer auch Reden markieren, die »Medien über sich selbst führen«.49 Darin verweisen sie auf die Bedeutung der Technik für die Animation. Die filmischen Bewegungen am Anfang von Der Totmacher können als eine solche Referenz gedeutet werden. In einer der folgenden Szenen wird dies noch durch eine Filmim-Film-Situation verstärkt. In einer der Übergangsepisoden zwischen den Gesprächen sehen wir Haarmann erneut in einen Lichtkegel treten. Er steht frontal vor einer Wand. Er wird aufgefordert, sich zu bewegen, und läuft mehrfach seitlich aus dem Bildkader, um ihn dann erneut zu betreten. Er blickt zur Kamera, hält sich die Hand vor die Augen, um das gleißende Licht abzuhalten. 45 46  47  48 49 

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Vgl. ebd. Ebd., S. 46. Kreimeier, »Im Geflecht der Blicke«, S. 223. Ebd. Morsch, »Verlebendigung und Animation«, S. 43.

Wiederbelebung eines Massenmörders

Während er sich bewegt, sind wir als Zuschauer an eine statische Blickposition gefesselt. Hier wird ein Körper für die Kamera in Bewegung gesetzt, die sich selbst nicht bewegt. Wir spüren bereits ihre Präsenz, noch bevor uns die diegetische Kamera gezeigt und die Szene damit als Film-im-Film-Situation verständlich wird. Doch bereits der sich bewegende Körper hatte auf diese Anwesenheit der Kamera verwiesen (und zwar nicht nur auf die diegetische, sondern auch auf die Kamera des Films Der Totmacher): »George hat die Kamera gespielt, indem er sich selbst quasi in die Kamera verwandelt hat.«50 Und gleichzeitig erweckt erst die Kamera Haarmann im Ausdruck des Schauspielerkörpers zum Leben.   Am Schauspielerkörper spiegelt sich aber nicht nur die mediale Konstruktion durch das Wechselspiel von filmischer Animation und Selbstreflexion. Hier werden auch (zeitgenössische) Wissensdiskurse und Körperkonzepte sichtbar. Morsch betont, dass Prozesse der Verlebendigung auch »über die jeweiligen Vorstellungen vom Körper/Leib und seinem Zusammenspiel mit Seele,Willen, Affekt«51 berichten. »Erzählungen von Animation und Verlebendigung stellen damit zugleich die Frage, wer eigentlich Herr im Haus ist, und sie stellen sie in Form eines beobachtbaren Spektakels.«52 Schon der dem Ausgangsmaterial eingeschriebene psychiatrische Diskurs verweist auf dieses Verhältnis zwischen Körper, Willen und Affekt: »Der Fall Haarmann traf auf einen zeitgenössischen psychiatrischen Diskurs forensischer Begutachtung, der Fragen nach der Zurechungsfähigkeit eines Menschen stellte und mit Kategorien wie ›Degeneration‹, ›Minderwertigkeit‹ und ›Psychopathie‹ beantwortete, ein Diskurs, in dem das Wissen vom Verbrecher auch und gerade außerhalb der Gerichtsstuben, in der psychiatrischen und kriminologischen Wissenschaft konstituiert wurde.«53

In Georges expressivem Schauspiel erscheint eine Körperlichkeit, die durch ein permanentes Changieren zwischen kindlich-regressiven und rationalen Zügen die protokollierten Worte mit einer ambivalenten Hintergründigkeit versieht. In den Blick gerät damit auch das Verhältnis zwischen dem beobachtenden Psychiater und dem beobachteten Triebtäter. In der Art, wie die psychiatrischen Protokolle inszeniert werden, die selbst bereits Ausdruck einer spezifischen Beobachtungssituation sind, wird dieses klar geordnete Verhältnis zunehmend 50 51  52  53

Kreimeier, »Im Geflecht der Blicke«, S. 225. Morsch, »Verlebendigung und Animation«, S. 46. Ebd. Kailer, Thomas: »Werwölfe, Triebtäter, minderwertige Psychopathen. Bedingungen von Wissenspopularisierung. Der Fall Haarmann«, in: Kretschmann, Carsten (Hg.): Wissenspopularisierung. Konzepte der Wissensverbreitung imWandel, Berlin 2003, S. 323–359, S. 325.

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durchkreuzt. Der Schauspielerkörper wird zum Mittel der Anverwandlung und Verstellung. Zunehmend beginnt Haarmann, den Gutachter Schulze in seinem Habitus zu imitieren. Diese Anverwandlung kann gegenüber dem Protokoll durch das Schauspiel und schließlich gar die direkte Spiegelung der Körper sichtbar gemacht werden. In der Anordnung der Mise en scène und der Montage werden Arzt und Mörder immer häufiger als spiegelbildliche Doppelgänger inszeniert. Damit verstärkt sich aber auch die Ambivalenz in der Wahrnehmung, denn die Differenz zwischen Gutachter und Massenmörder beginnt zu verschwimmen.

›Bilder hinter den Worten‹ In Beziehung und Bewegung gebracht werden die Körper durch die Kamera, die selbst in Bewegung gerät. Sie kreist durch das enge Behandlungszimmer und erweitert es so zum Wahrnehmungsraum. Klaus Kreimeier vergleicht die Kamera mit einem »Trabanten des Innenraums«, der um Haarmann und Schulze kreist: »Der Zwang, dem die Bewegung des Kreisens unterworfen ist, reflektiert den psychischen Druck, der auf dem Mörder, aber auch auf dem Sachverständigen lastet – eine Emotion, die sich um so intensiver dem Zuschauer mitteilt, je länger die Fahrt dauert.«54

Diese Intensität der Wahrnehmung bei gleichzeitiger Aussparung der grausamen Bilder von den Morden, um die es in den Gesprächen geht, ist es, die den Film in besonderer Weise verstörend macht. Der Filmkritiker Roland Rust beschreibt den Vorgang einer »intensiven filmischen Verstörung« und hält gleichzeitig fest: »Konsequent bleiben alle sensationslüsternen Aspekte des Sujets ausgeblendet: keine Rückblenden, keine musikdramaturgischen Effekte, kein Blutbad und auch kein erklärender Kommentar.«55   Dies bringt uns zu jener zweiten Ebene der Animationstechniken, die Morsch beschreibt. Animation ist ein »Wahrnehmungsereignis«,56 das gleichzeitig auf den Wahrnehmenden zurückwirkt, indem es diesen animiert und in Bewegung setzt. Dieser Vorgang der Verdichtung von Wahrnehmungsprozessen, die mit Bezug auf den wahrnehmenden Zuschauer Bilder in dessen Vorstellung auslösen können, knüpft an die filmischen Animationen auf der Leinwand an und wird 54 Kreimeier, »Im Geflecht der Blicke«, S. 226. 55 Rust, Roland: »Der Totmacher«, in: film-dienst 24 (1995), S. 28–29, S. 28. 56  Morsch, »Verlebendigung und Animation«, S. 47.

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Wiederbelebung eines Massenmörders

im Folgenden als Re-Animation beschrieben. In Der Totmacher spielt auch dafür der Schauspielerkörper eine zentrale Rolle. In der Mitte des Films, wenn das Gespräch auf die Morde Haarmanns kommt, beginnt George als Haarmann, die Vorgänge der Tat an seinem eigenen Körper vorzuführen. Mit Gesten schneidet er seinen Bauch auf, schlägt mit den Händen auf den Tisch, als wolle er Knochen zertrümmern, und hackt mit der flachen Hand, die für sein ›lüdges Beil‹ einsteht, gegen seinen Schädelknochen. Der Mörder verlebendigt die Taten – und damit auch seine Opfer – am eigenen Leib, der zur Projektionsfläche für die abwesende Tat wird. Die Bilder der Morde entstehen dann lediglich im Kopf der Zuschauer. Diese verlebendigen Mörder und Opfer als Vorstellungsbild: »Denn auch verkörperte Bilder werden lebendig erst, indem sie wieder eingekörpert werden, d.h. ihren Ort in der imaginatio finden.«57 Gerade diese ›Einkörperung‹ in der Wahrnehmung der Zuschauer lässt die mörderischen Taten auch ohne ihre visuelle Rekonstruktion so intensiv, so lebendig, erscheinen. Karmakar folgt hier einer »Ästhetik des Auslassens, die den Schrecken erst richtig zulässt«.58 Dazu trägt bei, dass sich die filmische Erzählung einer eindeutigen Kommentierung entzieht. Die Kamera wiederholt gewissermaßen den Vorgang des Protokollierens.59 Karmakar erklärt dieses Verfahren: »Im Kopf des Zuschauers entstehen eigene Bilder, die ihm nahe sind, weil er sie ja selber ausmalen muß.«60 Später bezeichnete er dies als »Prinzip, dass man Bilder hinter den Worten benützt«.61 Das auf der Transkription und der Wahrnehmung des Zuschauers aufbauende Verfahren der Re-Animation in der von Morsch beschriebenen doppelten Perspektive als »Verlebendigung des Wahrgenommenen durch den Wahrnehmenden und als Verlebendigung – mindestens als seelische Erregung – des Wahrnehmenden durch das Wahrgenommene«62 erweitert so den von den Gesprächsprotokollen aufgezogenen Vorstellungsraum. Den in den Protokollen festgehaltenen Dialogen und in Parenthese gesetzten Reaktionen kann auf diese Weise etwas hinzugefügt werden. Schauspieler und Kamera werden zum Bestandteil einer filmischen Versuchsanordnung.   Diese Re-Animation beschränkt sich keineswegs nur auf handelnde Figuren. In einer von Kreimeier eindringlich beschriebenen Szene wird eine Aktenta57  58  59  60 

Böhme, Hartmut zit.n. ebd., S. 48. Ebbrecht, Bilder hinter den Worten, S. 55. Vgl. Kreimeier, »Im Geflecht der Blicke«, S. 223. Lemke, Udo: »›Ein Schauspieler, der wirklich Blut gibt‹. Interview mit Regisseur Romuald Karmakar zu ›Der Totmacher‹«, in: Sächsische Zeitung, 23.11.1995. 61  Beyer, Nike: »›Zweifel gehören zum Kino‹. Interview von Nike Beyer mit Romuald Karmakar«, in: tazmag, 27./28.7.2002, S. I. 62 Morsch, »Verlebendigung und Animation«, S. 43.

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sche zum »momentum movens der inneren Handlung und des Sehens«.63 »Ist nicht viel, so ein Mensch. Eine Aktentasche unterm Arm«,64 erklärt der Massenmörder seinen Zuhörern. Er deutet aus dem Bildraum. Im Umschnitt sehen wir die Großaufnahme einer Aktentasche unter dem Tisch des Stenographen: »[D]aneben sieht man die Füße des Stenografen, die sich wie in einer Reflexreaktion leicht bewegen. […] Die Kamera und die Montage machen hier sichtbar, wie Menschen etwas sehen. Das Gesicht des Stenografen sehen wir nicht. Aber wir sehen, wie sich seine Füße reflexartig bewegen, weil sie sich plötzlich im Sichtfeld befinden – und weil die Aktentasche, in die man die Reste eines Menschen stopfen könnte, ihm gehört.«65

An dieser Stelle des Films erscheint das Verfahren der filmischen Verlebendigung in komprimierter Form. Der tote Gegenstand, die Aktentasche, wird durch die filmische Aufmerksamkeitslenkung und das Wechselspiel mit den Füßen des Stenographen nicht nur selbst zu einem ›animierten‹ Objekt. Er wird auch zu einem animierenden Ding, das sowohl diegetische (psychologische und imaginative) Beziehungen zwischen den Figuren und zwischen dem Ding/Objekt und den handelnden Personen stiftet als auch Vorstellungsbilder in den Köpfen der Zuschauer evoziert, die wiederum affektive Reaktionen auslösen.   In Der Totmacher entstehen Re-Animationen durch bildliche Anordnungen unterschiedlicher Darstellungsformen (wie Schauspiel, filmische Objekte, Kamerabewegungen, hörbare Rede), die im affektiven und imaginativen Wahrnehmungsprozess des Zuschauers ihr dynamisches, produktives Zusammenspiel entfalten. So wie die protokollierten Worte wieder gesprochen werden und die Körper in Bewegung geraten, kann der Film nicht nur – im analytischen Blick der Kamera – die Beziehung der handelnden Figuren zueinander, insbesondere die zwischen Gutachter und Massenmörder und ihre irritierende Annäherung, sichtbar machen. Der Filmraum erschafft einen Möglichkeitsraum für Vorstellungen, die ›hinter‹ die protokollierten Worte und ›hinter‹ die sichtbaren Aspekte der Bilder reichen.

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Kreimeier, »Im Geflecht der Blicke«, S. 227. Der Totmacher (DVD, Warner, 2001), 1:03:55. Ebd.

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Die Tänzerinnen von Herculaneum. Zur Archäologie der Arabeske des Romantischen Balletts

D

er Tanz vergangener Epochen findet sich – im Gegensatz zu ihren Schriftstücken, Bildwerken, Töpferwaren, Gebäuden, Skulpturen und anderen ›festen‹ Kunstgegenständen – nicht einfach im Boden wieder. Archäologische Aussagen über Tanz basieren daher stets auf Übertragungen in andere Medien.1 Der flüchtige Gegenstand Tanz ist dabei notwendig Formalisierungsprozessen unterworfen und passt sich Darstellungskonventionen an – ob in notationeller Aufzeichnung, theoretischer Beschreibung oder als künstlerisches Motiv. Diese Übertragungen haben wiederum Rückwirkungen auf die Ästhetik des Tanzes. Aufgrund ihrer formalen Eigenständigkeit und medialen Ungebundenheit als Ornamentform eignet sich die Arabeske besonders für die Beobachtung dieser Prozesse und ist daher Gegenstand der folgenden Überlegungen.   Dieser Aufsatz widmet sich einer Konstellation von Archäologie und Tanz im 18. und 19. Jahrhundert. Er erzählt die Geschichte einer Antikenbegeisterung, Verlebendigung und Re-Animation toter Formen, die sich wie ein Leitmotiv durch die Geschichte des europäischen Bühnentanzes zieht. Auch das Romantische Ballett ist von dieser Begeisterung affiziert. Diese Behauptung stellt ein gängiges Muster der Tanzgeschichtsschreibung infrage. Dort wird streng unterschieden zwischen klassizistischen Epochen, die ihr Natürlichkeitsparadigma im Rückgriff auf die Antike entwerfen, und ihren Gegenpolen, die sich in arabesker Ornamentalität erschöpfen. Zwischen dem Klassizismus des ballet du cour 1 Vgl. z.B. Garfinkel,Yosef: Dancing at the Dawn of Agriculture, Austin 2003.

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und ballet en action im 17. und 18. Jahrhundert2 und der ›Tänzerin im Museum‹ zu Beginn des 20. Jahrhunderts3 steht das Romantische Ballett, das als Epoche ohne Bezug auf die Antike beschrieben wird. Verfolgt man jedoch die Tänzerinnen von Herculaneum, die als Wandgemälde bei den Ausgrabungen in Pompeji und Herculaneum Mitte des 18. Jahrhunderts wieder ans Licht kamen und bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts auf der Szene der Ästhetik präsent bleiben, ergibt sich ein anderes Bild. Vermittelt über die Tänzerinnen von Herculaneum entwirft sich nämlich auch das Romantische Ballett in seiner zentralen Figur der Arabeske nach einem Bild der Antike.   Die Arabeske könnte man als Leitfossil4 dieser archäologischen Studie, die das Verhältnis von Ballett und Ornament im frühen 19. Jahrhundert untersucht, bezeichnen. Anhand der Arabeske verfolge ich im Folgenden ein Muster, das sich durch die Künste um 1800 zieht und an dessen Beispiel sich die Grundlegung moderner Ästhetik als freies Spiel (selbstreflexiver) Formen artikuliert hat. In Bildender Kunst, Literatur, Tanz und Musik nahm die Ornamentform Arabeske jeweils eine zentrale Stellung ein. Der Bezug auf die Archäologie ist ein doppelter. Einerseits handelt es sich um die konkrete historische Ausgrabungspraxis, die an der kunsthistorischen Wiederbelebung der Arabeske beteiligt war. Andererseits beschreibt Archäologie auch eine historiographische Praxis ›nach Foucault‹, in der die mediale Verfasstheit der Überlieferung und Konstitution von Geschichte mitbedacht wird.5 Anhand zweier sich kreuzender Beispielserien – den Tänzerinnen von Herculaneum und der Ornamentform Arabeske – werden nacheinander verschiedene Re-Animationsprozesse betrachtet, innerhalb 2

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Vgl. Schroedter, Stephanie: »Zur Rezeption des antiken Tanzes in der Tanzästhetik ab dem 17. Jahrhundert«, in: Dahms, Sibylle (Hg.): MGG Prisma Tanz, Kassel 2001, S. 49–50 sowie zu einer anderen Geschichte der Belebung im Rückgriff auf die Antike Brandstetter, Gabriele: »Der Tanz der Statue. Zur Repräsentation der Bewegung im Theater des 18. Jahrhunderts«, in: Mayer, Mathias; Neumann, Gerhard (Hg.): Pygmalion. Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur, Freiburg 1997, S. 393–422. Vgl. Brandstetter, Gabriele: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt a.M. 1995, S. 49–117. Leitfossilien lenken die Untersuchung in Geologie und Altertumswissenschaften. An ihnen lässt sich das gemeinsame Alter von Gesteinsschichten bestimmen. Georges Didi-Huberman vergleicht in seiner Theorie einer Kunstgeschichte nach Aby Warburg dessen Begriff der Pathosformel mit Leitfossilien. Beide implizieren eine »zeitliche Zählebigkeit der Formen«. Didi-Huberman, Georges: Das Nachleben der Bilder. Kunstgeschichte und Phantomzeit nach AbyWarburg, Frankfurt a.M. 2010, S. 370. Michel Foucault hat in der Archäologie des Wissens (1969) eine Meta-Theorie seiner historiographischen Methode entworfen, die er in den 1960er und 1970er Jahren in Einzelstudien zu Medizin, Sexualität, Wahnsinn und zum Gefängnis entwickelt hat. Die von Foucault angestoßene Vervielfältigung der Serien, Brüche und Erzählungen in der Historiographie und eine Veränderung der Haltung zum Dokument haben in den Kultur- und Medienwissenschaften zu einer Reihe von methodischen Erneuerungen geführt, die in Teilen auch über Foucault hinausgehen. Vgl. Ebeling, Knut; Günzel, Stephan (Hg.): Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten, Berlin 2009.

Die Tänzerinnen von Herculaneum

derer ästhetische Figuren, Ornamente und Muster in Bild- und Textdokumenten erscheinen, übertragen und verschoben werden. Der Tanz, als transitorische Kunstform, bildet dabei die Leerstelle, um die sich diese Bilder und Texte gruppieren.

Archäologie I: Die Tänzerinnen von Herculaneum Die archäologische Entdeckung der antiken Städte Pompeji, Herculaneum und Stabiae im frühen 18. Jahrhundert, die bei einem Ausbruch des Vesuvs im Jahre 79 n.Chr. verschüttet worden waren, löst bei den Zeitgenossen zahlreiche Wiederbelebungsfantasien aus. Die Funde eröffnen einen neuen Blick auf die Antike, die plötzlich ›lebendig‹ erscheint. Dieser Eindruck von Lebendigkeit basiert aber auf einem morbiden Grund: dem plötzlichen Tod der antiken Einwohner, die vom Vesuvausbruch ›mitten im Leben‹ überrascht und konserviert wurden. Ein Beispiel dieses neuen Antikenbilds ist Friedrich Schillers Gedicht Pompeji und Herkulanum aus dem Musenalmanach für das Jahr 1797, das hier als Beispiel einer archäologisch inspirierten Wiederbelebungsfantasie herangezogen werden soll. »Griechen! Römer! O kommet und seht, das alte Pompeji Findet sich wieder, aufs neu bauet sich Herkules’ Stadt. Giebel an Giebel richtet sich auf, der Portikus öffnet Seine Hallen, o eilt, ihn zu beleben, herbei!«6

Nach und nach re-animiert Schiller in seiner poetischen Imagination die Stadt. Das Theater von Herculaneum füllt sich mit Zuschauern, und der Blick des Autors wandert durch die Straßen und die Innenräume der Häuser. Dort wiederholt sich in der Betrachtung der Wandgemälde der Belebungsvorgang und die Bilder setzen sich in Bewegung: »Heitre Farben beleben die Wand, mit blumichter Kette Fasset der muntre Feston reizende Bildungen ein. Mit beladenem Korb schlüpft hier ein Amor vorüber, Emsige Genien dort keltern den purpurnen Wein, Hochauf springt die Bacchantin im Tanz, dort ruhet sie schlummernd, Und der lauschende Faun hat sich nicht satt noch gesehn. Flüchtig tummelt sie hier den raschen Zentauren, auf einem Knie nur schwebend, und treibt frisch mit Thyrsus ihn an.«7 6

Schiller, Friedrich: Sämtliche Werke in zehn Bänden. Berliner Ausgabe, 1. Bd., hg.v. Hans-Günther Thalheim u.a., Berlin/Weimar 1980, S. 410. 7  Ebd., S. 411.

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Schiller entwarf sein Gedicht in Bezug auf die veröffentlichten Berichte der archäologischen Entdeckungen.8 Unter anderem bezieht er sich in dieser Bildbeschreibung auf die Tänzerinnen von Herculaneum, einen im 18. und 19. Jahrhundert äußerst populären Bildzyklus, der als Musterbeispiel antiker Malerei galt9 und das Verhältnis von Stillstand und Bewegung selbst thematisiert.   Die Tänzerinnen von Herculaneum wurden 1749, gut vierzig Jahre nach den ersten Funden, in einem Landhaus in der Nähe von Torre dell’Annunziata gefunden. Die Wände der sogenannten Villa di Cicerone waren mit einer Vielzahl von Figuren geschmückt: Kentauren, Satyrn und mit jener Gruppe von Figuren, die verschiedentlich als Bacchanten, Mänaden, Jahreszeiten-Allegorien und eben auch als Tänzerinnen identifiziert wurden. Es handelt sich um insgesamt elf Vignetten, die heute zu zwei Tafeln zusammengefasst im Museo Archeologico Nazionale in Neapel gezeigt werden. Die Danzatrici e Menadi bestehen aus vier Einzelfiguren, verzeichnet unter Katalognummer 126 (Inv. 9295). Katalognummer 127 (Inv. 9297) zeigt auf sieben Vignetten insgesamt acht Figuren, die der Katalog als »Menadi danzanti« bezeichnet.10 Die mittleren beiden Figuren der letzten Gruppe halten sich in einer Art Reigen an den Händen. Alle Figuren sind weiblich und tragen weite, fließende Gewänder. Einige von ihnen halten Musikinstrumente (Tamburin, Crotales) oder Attribute des Bacchus und der Venus (Thyrsos, Korb, Amphore). Die Figuren sind farbig auf schwarzem Grund gemalt.11   Im Motiv der Tänzerinnen von Herculaneum fand die Antikenbegeisterung des 18. und 19. Jahrhunderts einen idealen Gegenstand, um ihre Wiederbelebungsfantasien zu artikulieren. Die Gewandfalten der Tänzerinnen auf den Gemälden sind ›versteinerte Bewegungen‹, ein choreographisches Fossil, aus dem auf ein vorhergehendes, nun verschüttetes Leben geschlossen werden kann – sie ähneln damit strukturell den archäologischen Stätten von Pompeji, Herculaneum und Stabiae. Im Folgenden wird anhand einiger Fundstellen der Tänzerinnen von Herculaneum das Wechselspiel zwischen Archäologie und Tanz beleuchtet. Denn Kunstgeschichte, Archäologie und Ballett dieser Zeit teilen eine Faszination mit vergangener Bewegung und ihrer medialen Aufzeichnung und Übertragung.

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Zu den Quellen von Schillers Gedicht Pompeji und Herkulanum gehören neben Johann Joachim Winckelmanns Herkulanischen Berichten (1762/1764) außerdem Johann Jacob Volkmanns Historisch-kritische Nachrichten von Italien (1770/1771). Vgl. den Kommentar in Schiller, Sämtliche Werke, 1. Bd., S. 410f. 9  Vgl. Werner, Peter: Pompeji und die Wanddekoration der Goethezeit, München 1970, S. 26. 10  Ferrari, Oreste (Hg.): Le Collezioni del Museo Nazionale di Napoli, Rom 1986, S. 140f. 11  Vgl. Richardson, Lawrence Jr.: A Catalogue of Identifiable Figure Painters of Ancient Pompeii, Herculaneum and Stabiae, Baltimore 2000, S. 83–86.

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Die Tänzerinnen von Herculaneum

Kunstgeschichte: Grazie als Schönheit der Bewegung Schiller war nie in Italien und hat die Tänzerinnen nie im Original gesehen. Sein Bild der Antike entstammt der Lektüre. Zwei Publikationsgenres dominieren im ausgehenden 18.  Jahrhundert das Studium der Antike: kunsthistorische Schriften und Reisebeschreibungen von Amateuren. Eine der frühesten und einflussreichsten Beschreibungen der Tänzerinnen von Herculaneum überhaupt findet sich in Johann Joachim Winckelmanns Sendschreiben von den herkulanischen Entdeckungen von 1762. Dort berichtet er von seinem Besuch im ›Herculanischen Museum‹ und beschreibt die dort ausgestellten Gemälde: »Die allerschönsten sind die Figuren der Tänzerinnen und der Centauren, von etwa einer Spanne lang, auf einem schwarzen Grunde, welche von einem großen Meister Zeugniß geben: denn sie sind flüchtig wie ein Gedanke, und schön wie von der Hand der Gratien ausgeführet.«12

Winckelmann verbindet in seiner Beschreibung die Bewegtheit des Motivs mit einer Bewegtheit der Ausführung, ›flüchtig wie ein Gedanke‹ und ›wie von der Hand der Gratien‹ hat der Künstler sie gemalt. Winckelmanns Hinweis auf die Grazien verweist dabei auf das ästhetische Feld der Anmut und Grazie.13 Menschliche Bewegung und ihre künstlerische Darstellung waren das bevorzugte Feld, auf dem dieser ästhetische Diskurs ausgetragen wurde. Grazie wurde dabei hauptsächlich als Akzidenz betrachtet, als Beiwerk, das Bewegung oder Bewegtheit indiziert. Anhand dieser Linie entsteht in der Folge eine ›Diagrammatik der Anmut‹: Aus der Tradition der ›figura serpentinata‹, die William Hogarth in seiner Analysis of Beauty (1753) aktualisiert hat, entwickelt sich eine Theorie der Schönheitslinie als Speichermedium von Bewegung, anhand derer auch Schiller in den Kallias-Briefen seinen Begriff der Freiheit erarbeitet.14 Sowohl Hogarth als auch Schiller greifen dabei in ihrer Bestimmung der Grazie auf visuelle Darstellungen zurück und arbeiten mit Diagrammen, Skizzen und umfangreichen Bildtafeln. Diese Theorie der Grazie entwickelt sich im Wechselspiel von schriftlicher und graphischer Argumentation. 12

Winckelmann, Johann Joachim: Sendschreiben von den Herculanischen Entdeckungen (1762), in: ders., Schriften und Nachlaß, 2. Bd. 1. Teil, hg.v. Stephanie-Gerrit Bruer, Max Kunze, Mainz 1997, S. 86. Ähnliches Lob findet sich auch in beiden Fassungen von Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums. 13 Vgl. Knab, Janina: Ästhetik der Anmut. Studien zur »Schönheit der Bewegung« im 18.  Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1996. 14  Vgl. Mainberger, Sabine: »Einfach (und) verwickelt. Zu Schillers ›Linienästhetik‹. Mit einem Exkurs zum Tanz in Hogarths ›Analysis of Beauty‹«, in: Deutsche Vierteljahresschrift 79/2 (2005), S. 196–252; sowie Brandstetter, Gabriele: »Die Bilderschrift der Empfindungen. Jean-Georges Noverres ›Lettres sur la Danse, et sur les Ballets‹ und Friedrich Schillers Abhandlung ›Über Anmut und Würde‹«, in: Aurnhammer, Achim u.a. (Hg.): Schiller und die höfische Welt, Tübingen 1990, S. 77–93.

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Die Grazie der Tänzerinnen von Herculaneum wurde ebenfalls erst in ihren graphischen Reproduktionen evident, denn ihre Bewegung zeigt sich in den Kleiderfalten. Darüber hinaus festigte die visuelle Verbreitung ihren mustergültigen Status, und die Tänzerinnen von Herculaneum dienten vielerorts als Vorbild für neue Wanddekorationen. Die Funde von Herculaneum, Stabiae und Pompeji blieben jedoch lange ohne Abbildung. Aus kultur- und machtpolitischen Gründen hatte das neapolitanische Königshaus anfangs jegliche visuelle Reproduktion der Fundstücke unterbunden. So mussten z.B. die Franzosen Charles-Nicolas Cochin und Jérôme Charles Bellicard, denen der Ruhm zusteht, als Erste ab 1748 bildliche Darstellungen der archäologischen Funde aus Herculaneum und Pompeji veröffentlicht zu haben, heimlich die Objekte aus ihrem Gedächtnis nachzeichnen und die Zeichnungen aus der Stadt schmuggeln. 1757 wurde die königliche Bildpolitik revidiert, und man begann mit der offiziellen Veröffentlichung von Abbildungen in der Reihe Delle antichità di Ercolano der Real accademia ercolanese.15 Danach stieg die Anzahl der Publikationen graphischer Darstellungen der Fundstücke aus Pompeji, Herculaneum und Stabiae exponentiell an. Ein äußerst beliebtes Genre bildeten dabei illustrierte Reisebeschreibungen in luxuriösen Foliobänden. Eines der aufwendigsten Projekte war die Voyage pittoresque ou Description des royaumes de Naples et de Sicile. Die vier Bände dieses epochalen Werks wurden zwischen 1781 und 1786 von Jean-Claude Richard de Saint-Non in fünf Teilen in Paris herausgegeben und boten die erste »ausführliche Dokumentation der Grabungen in Pompeji«.16 Der zweite Band der Voyage pittoresque, der sich ausschließlich den archäologischen Stätten Herculaneum und Pompeji widmet, beginnt mit einer Beschreibung der antiken Gemälde aus Herculaneum. Unter ihnen befinden sich die Tänzerinnen von Herculaneum. Auch hier betont der begleitende Text die Leichtigkeit der Darstellung, ordnet die Figuren aber eher dem Fantastischen und Traumhaften zu: »Leur caractère fantastique pourroit faire penser que les Anciens les avoient représentées sur un fond absolument obscur, afin de rappeller l’idée de certaines illusions qui nous offrent dans le sommeil des êtres que l’imagination & différentes impressions reçues pendant le jour, produisent au sein du repos. […] On pourroit ajouter que si ces charmantes Figures sont en effet produites par les songes, ou faites pour les imiter, leur habillement devoit bien en offrir la légèreté.«17 15

Vgl. auch Gordon, Alden R.: »Subverting the Secret of Herculaneum. Archaeological Espionage in the Kingdom of Naples«, in: Gardner Coates, Victoria C.; Seydl, Jon L. (Hg.): Antiquity Recovered.The Legacy of Pompeii and Herculaneum, Los Angeles 2007, S. 37–57. 16  Steiner, Ulrike: Die Anfänge der Archäologie in Folio und Oktav. Fremdsprachige Antikenpublikationen und Reiseberichte in deutschen Ausgaben, Stendal/Ruhpolding 2005, S. 237. 17  Saint-Non, Jean-Claude Richard de: Voyage pittoresque ou description des royaumes de Naples et de Sicile,

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Abb. 1. Die »Danseuses d’Herculanum« in Saint-Nons Voyage pittoresque von 1782.

Der nachgeschobene Hinweis auf die Gewänder der Figuren verdeutlicht, wo in der Abbildung der Effekt der Leichtigkeit zu suchen ist: im Faltenwurf der Kleider.18 In den Abbildungen der Tänzerinnen in Saint-Nons Voyage pittoresque treten die Linien des Faltenwurfs deutlich hervor (Abb. 1). Die klaren Linien sind aber der Reproduktionstechnik und dem Einfluss des Graphikers geschuldet.Vergleicht man sie mit einer photomechanischen Reproduktion der archäologischen Funde (Abb. 2), wird deutlich, wie stark Zeichner und Stecher dieses

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1. Bd. 2. Teil, Paris 1782, S. 22f. Deutsche Übersetzung nach Keerl, Johann Heinrich: Ueber die Ruinen Herkulanums und Pompeji. Nebst einer kurzen Beschreibung von den Schauspielen der alten Römer und Griechen, Gotha 1791, S. 31f.: »Ihr etwas fantastisches Ansehen erregt den Gedanken, als hätten die Alten sie deswegen auf schwarzen Grund abgebildet, um die Idee gewisser Täuschungen zu erwecken, die uns im Schlaf und im Schoose der Ruhe jene Wesen als würklich vorstellen, mit welchen sich unsre Einbildungskraft vorzuglich bey Tage beschäftigte. […] Es ließe sich noch hinzufügen, daß diese liebenswürdigen Gestalten würklich nur im Träume oder als Nachahmungen von Traumbildern sich denken lassen, auch scheinen ihre Gewänder so leicht als Träume zu seyn.« Hier ließe sich an Warburgs Botticelli-Studie anschließen, in der er die ›Darstellung äusserlich bewegten Beiwerks‹ nach antikem Vorbild untersucht. Warburg, Aby: »Sandro Botticellis ›Geburt der Venus‹ und ›Frühling‹. Eine Untersuchung über die Vorstellungen von der Antike in der italienischen Frührenaissance«, in: ders.: Werke in einem Band, hg.v. Martin Treml, Sigrid Weigel, Perdita Ladwig, Frankfurt a.M. 2010, S. 39–123.

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Abb. 2. Photomechanische Reproduktion des Wandgemäldes aus der Villa di Cicerone (1906).

Blattes eingegriffen haben.19 In der Linienführung wurden die Abbildungen dem Zeitgeschmack angepasst, der schwarze Grund, auf den der Kommentar verweist, durch Wolken ersetzt20 und die einzelnen Figuren als Paar neu zusammengesetzt.21 Die graphische Darstellung der Tänzerinnen von Herculaneum löst sich von der Beschreibung im Text ab und beginnt, ein Eigenleben zu führen. Zwischen wörtlicher Beschreibung und visueller Abbildung hat sich ein Riss aufgetan. 19  Die Abbildung stammt aus Paul Herrmanns Denkmäler der Malerei des Altertums, das ab 1906 photographische Reproduktionen ›für Lehr- und Lernzwecke in zumeist mustergültiger Weise‹ zugänglich machte. Die Photos wurden ›unter Anwendung der besten technischen Verfahren‹ hergestellt und im Lichtdruckverfahren gedruckt. Schreiber, Theodor: »Denkmäler der Malerei des Altertums, herausgegeben von Paul Herrmann«, in: Kunstchronik. Neue Folge XVIII/23 (1906/1907), Sp. 381–384. 20  Der Kommentar weist darauf hin: »[N]ous avons hasardé de substituer au fond noir un fond de nuages, & nous avons pensé par-là donner quelque vraisemblance de plus à ces Figures qui semblent d’une nature propre à se soutenir dans les airs.« Saint-Non, Voyage pittoresque, S. 7. Diese Passage fehlt in der deutschen Übersetzung bei Keerl, da die Abbildungen dort nicht wiedergegeben werden. 21  Das Blatt in Saint-Nons Voyage pittoresque gibt zwei Paare von Tänzerinnen wieder. Das obere Paar ist dem mittleren Abschnitt von Inv. 9297 entnommen, das untere Paar aus zwei Einzelfiguren (der dritten von links und der von ganz rechts) von Inv. 9297 neu zusammengesetzt.

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Abb. 3. Rekonstruktion der Komposition durch Paul Herrmann.

Archäologie II: Arabesken Dieser Riss zwischen Text und Bild lässt sich noch auf einer anderen Ebene weiterverfolgen, und zwar in der Darstellung der Ornamentform Arabeske in Saint-Nons Voyage pittoresque. Im 18. und 19. Jahrhundert zeichnet sich eine generelle Tendenz ab, die antiken Wandgemälde in einzelne Kompositionselemente aufzuteilen und sie getrennt voneinander abzubilden – sowohl in der archäologischen und musealen als auch in der publizistischen Praxis. In Fußnoten und Kommentaren wurde zwar stets auf den ursprünglichen visuellen Zusammenhang der Wandgemälde hingewiesen, die visuelle Organisation jedoch trennt die Wände nun in ihre Einzelteile auf. Erst im frühen 20. Jahrhundert wurde der ›ursprüngliche Zusammenhang‹ visuell rekonstruiert (Abb. 3). Johann Wolfgang Goethes Aufsatz »Von Arabesken« zeigt paradigmatisch diese Trennung, da Goethe sich dort einerseits über die archäologische Praxis beschwert, die Figuren aus dem Zusammenhang der Wand auszuschneiden und im Museum zu konservieren, während »die Wände mit ihren Farben und Zierarten […] meistenteils freier Luft ausgesetzt und […] nach und nach zu Grunde gehen«.22 Andererseits perpetuiert er im gleichen Aufsatz die Trennung in der ästhetischen Geringschätzung des Ornaments gegenüber dem ›eigentlichen Werk‹. Streng unterscheidet er zwischen ›würdigem Kunstwerk‹ und Zierra22

Goethe, Johann Wolfgang: »Von Arabesken«, in: ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, 3. Bd. 2. Teil, München 1990, S. 191–195, S. 192.

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ten, deren Funktion zwar »Fröhlichkeit, Leicht­sinn, Lust zum Schmuck«23 sind, die aber ganz eindeutig der ›bessern Kunst‹ subordiniert bleiben.24   Auch die Voyage pittoresque verfolgt diese Trennung von Ornament und Figur und behandelt den Rahmen getrennt vom Bildmotiv: Arabeske und Tänzerinnen werden in separaten Kapiteln verhandelt. Aber darum geht es hier nicht. Der Riss verläuft in der Voyage pittoresque innerhalb der Arabeske, und zwar zwischen der Darstellung im Text und ihrem Einsatz in der Buchgestaltung.   Der Arabeske werden in der Voyage pittoresque als einzigem Genre zwei Unterkapitel gewidmet, da sich die ›Herculaneischen Meister‹ dort besonders hervorgetan hätten. Das Beispiel, mit dem Saint-Non die Arabeske erläutert, ist die Darstellung eines Papageien, der einen Wagen mit einer Heuschrecke zieht. Saint-Non liest dieses Bild allegorisch als Parodie Neros im Sinne einer hieroglyphischen Tradition der Arabeske als Rätselbild.25   Abseits von Beispielen wie diesem wird auf der visuellen Ebene der Voyage pittoresque jedoch ein anderes Verständnis der Arabeske entwickelt, das nichts mehr mit Allegorie oder Rätselbild zu tun hat. Alle Bände der Voyage pittoresque sind reichhaltig mit Bordüren und Vignetten ausgestattet, von denen einige im ausführlichen und kommentierten Verzeichnis der Verzierungen auch ausdrücklich als Arabesken bezeichnet werden. So wird dort z.B. erläutert, dass die Illustration, die am Kopf des Kapitels über die Villa dei Papiri steht, sich in der Komposition auf den »style, & de la légèreté des Arabesques d’Herculanum«26 beziehe. Mit diesem visuellen Verständnis der Arabeske stimmt nun Saint-Nons Definition viel besser überein als mit dem Beispiel, das sie eigentlich kommentiert. Denn auch wenn Saint-Non Arabesken als Allegorien (die deutsche Übersetzung von Keerl schreibt ›Sinnbilder‹) klassifiziert, heißt es: »Ce genre de Peinture destiné à l’ornement & à la décoration, permet des assemblages d’objets extraordinaire; & l’on est toujours tenté de penser qu’ils n’ont point été réunis sans projet & sans quelque intention secrète. Les Arabesques ne sont cependant, en effet, que des rêves; & le bon goût exige seulement qu’ils soient agréables, & qu’ils ne représentent pas des songes de malades.«27 23  Ebd., S. 193. 24  Vgl. aus der umfangreichen Literatur zu diesem Thema z.B. Schneider, Sabine M.: »Zwischen Klassizismus und Autonomieästhetik der Moderne. Die Ornamentdebatte um 1800 und die Autonomisierung des Ornaments«, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 63/3 (2000), S. 339–357. 25 Vgl. Polheim, Karl Konrad: Die Arabeske. Ansichten und Ideen aus Friedrich Schlegels Poetik, München 1966, S. 32–35. 26 Saint-Non, Voyage pittoresque, S. xv. 27  Ebd., S. 15. »Diese Art von Malerey, zur Zierde und Ausschmückung bestimmt, läßt sehr schicklich eine Zusammensetzung außerordentlicher Gegenstände zu, und man verfällt dann immer leicht auf den Gedanken, diese Dinge müssen nicht ohne Plan, nicht ohne irgend eine geheime Absicht zusammen

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Wie auch schon die Tänzerinnen zeichnen sich die Arabesken durch ihren Zusammenhang mit Traum und Einbildungskraft aus. Dem visuellen Verständnis der Voyage pittoresque nach sind Arabesken ›unwahrscheinliche‹ Zusammenstellungen von Bildelementen: eine Kompositionsweise und ein Muster, das durch Leichtigkeit definiert ist, durch Bewegtheit und Grazie.

Tanzästhetik: Blasis’ Code of Terpsichore Im Romantischen Ballett erscheint um 1800 ebenfalls eine Figur mit dem Namen Arabeske.28 Bedeutet ›arabesque‹ zuerst jedoch ein Gruppen-Arrangement von Tänzern – »interlaced in a thousand different manners, one with another, by means of garlands, crowns, hoops entwined with flowers, and sometimes ancient pastoral instruments, which they hold in their hands«29 –, steigt sie in den folgenden Jahren als Pose zur zentralen Figur des Romantischen Balletts auf.30 In Giselle ou Les Wilis (1841), einem zentralen Werk dieses Genres, ist die Arabeske ›Leitmotiv‹31 der Titelfigur und ›Personifikation‹32 der geisterhaften Willis. Im Romantischen Ballett findet so zusammen, was vorher in den archäologischen und kunsthistorischen Publikationen auseinandergeführt wurde: die Tänzerin und das Ornament. Und der Ort, an dem diese beiden Stränge zusammenfinden, ist – erneut – das antike Herculaneum.   Die theoretisch-ästhetischen Schriften des italienischen Choreographen Carlo Blasis gelten als wegweisend für die Formulierung einer Tanzästhetik des Balletts im frühen 19. Jahrhundert. Blasis selbst rühmt sich, der Erste gewesen zu sein, der »precise meaning to this expression«33 gab, also als Erster die Arabeske

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gestellt worden seyn. Arabesken sind übrigens dennoch nur Träume, und alles, was man von ihnen fordert, ist, daß es angenehme und nicht Träumereyen einer kranken Einbildungskraft seyn.« Keerl, Ueber die Ruinen, S. 21. Die früheste Erwähnung im Zusammenhang mit Tanz findet sich im Vorwort des Librettos von Jean Daubervals Télémaque zur Wiederaufführung in Bordeaux 1797, in einer Reihe mit ›eleganten Gruppen‹ und ›wollüstigen Posen‹. Vgl. Guest, Ivor: The Ballet of the Enlightenment. The Establishment of the Ballet d’Action in France 1770–1793, London 1996, S. 404. Blasis, Carlo: The Code of Terpsichore. Theory of Theatrical Dancing (1828), in: Pappacena, Flavia: Carlo Blasis’ Treatise on Dance 1820–1830, Lucca 2005, S. 179–247, S. 203. Diese Bedeutung wird noch bis in Tanzlehrbücher um 1900 kolportiert, ist aber heute völlig aus dem Sprachgebrauch verschwunden. Das Kleine Wörterbuch des Tanzes definiert sie als »eine der Grundhaltungen im akademischen Tanz: Standbein gestreckt, Spielbein nach hinten gestreckt. Die Position der Arme und des Rumpfes sind variabel, entsprechend verschieden sind die Bezeichnungen der einzelnen Arabesques.« Koegler, Horst; Kieser, Klaus: Kleines Wörterbuch des Tanzes, Stuttgart 2006, S. 13. Lifar, Serge: Giselle. Apothéose du ballet romantique, Paris 1942, S. 46. Ebd., S. 48. Blasis, The Code of Terpsichore, S. 203. Diese Stelle findet sich bereits 1820 in Blasis’ Traité élémentaire. Théorique et pratique de l’art de la danse. Blasis hat seine Theorie stufenweise entwickelt und veröffentlicht.

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Abb. 4. Abbildung einer Bacchantinnen-Gruppe von Carlo Blasis aus Code of Terpsichore von 1828.

im Tanz theoretisch beschrieben zu haben. In seinen Traktaten rekurriert Blasis vielfach auf Werke der Bildenden Kunst, und zwar hauptsächlich auf Skulpturen. Es sind die klassizistischen Idealfiguren des Antinoos und Apollo von Belvedere, die auch Blasis als Maß der Anmut dienen. Die Tanzfigur Arabeske konstruiert er ebenfalls im Rückgriff auf Werke der Bildenden Kunst. Blasis leitet die Arabeske begrifflich vom architektonischen Ornament ab, gibt als Vorbild für die Pose aber Giambolognas Merkur-Statue an. Das ist insofern frappierend, als hier eine erstarrte Bewegungsfigur zum Modell einer Tanzfigur wird. Der Versuch, Bewegtheit in einem statischen Medium wie der Skulptur darzustellen, wird in das bewegte Medium Tanz zurückübertragen.34   Blasis’ ›Theoretisierung‹ der Arabeske besteht hauptsächlich im Nacherzählen der tanzhistorischen Genese dieser Figur. Das frühere Verständnis von Arabesken als Gruppe oder ›attitudes‹ vergleicht er mit der Anordnung von Bacchanten auf antiken Basreliefs. Diese hätten mit ihrer »aerial lightness, their variety, their liveliness, and the numberless contrasts they successively present […] rendered the word arabesque natural and proper to the art of dancing«.35 Aus diesem (älteren) Arabeskenverständnis entwickelt Blasis nun sein eigenes Verständnis Zu den verschiedenen Versionen vgl. grundlegend Pappacena, Carlo Blasis’Treatise on Dance 1820–1830, S. 239–306. 34  Giambolognas Merkur-Figuren stellen insofern den idealen Ausgangspunkt dieser Übertragung dar, als sie eine parallele Bewegung in die entgegengesetzte Richtung vollziehen: »With works like these, paradoxically, depicted flight offered the ultimate means of achieving sculptural stasis.« Cole, Michael W.: Ambitious Form. Giambologna, Ammanati, and Danti in Florence, Princeton 2010, S. 148. 35 Blasis, The Code of Terpsichore, S. 203.

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der Arabeske als Pose, indem er ein einziges Motiv isoliert. Er rekurriert dabei auf eine Bacchanten-Gruppe, die er in seiner Zeit an der Mailänder Scala choreographiert habe (Abb. 4): »In the Bacchanalian group above-mentioned, I introduced, with some success, various attitudes, arabesques, and groups, the ideas of which I had conceived on seeing the paintings, bronzes, and marbles excavated from the ruins of Herculaneum, and by these additional images, rendered its appearance more picturesque, characteristic, and animated.«36

Blasis bindet hier in der Theorie die Genese der Tanzfigur Arabeske an die Wandgemälde von Herculaneum an.37 Die stillgestellten Bewegungen der archäologischen Tänzerinnen von Herculaneum führen dabei zu einer Belebung (›rendered its appearance more animated‹) des Tanzes.Worin genau der Effekt dieser Belebung bestand, bleibt bei Blasis unklar. In den Darstellungen von Blasis’ Traktaten wird er jedenfalls nicht deutlich, denn seine Gruppen von Bacchantinnen sind weitaus ›enthemmter‹ als die antiken Tänzerinnen:38 Besonders die Armhaltung ist bei Blasis viel ausladender als auf den antiken Wandgemälden (hier zeigt sich der Einfluss von Giambolognas Merkur). Es ist vielmehr die Leichtigkeit, Lebendigkeit und Mannigfaltigkeit des Ornamentstils Arabeske, die auf eine Pose im Tanz übertragen wird und zu einer Isolierung der Arabeske als Körperfigur führt.39   Blasis’ Theorie der Arabeske lässt zwei getrennte Stränge der Arabeske zusammenlaufen: ein theoretisches und ein figuratives Verständnis, die sich immer wieder überschneiden und deren (verschütteter) Fluchtpunkt Herculaneum ist. Blasis springt in seinem Traktat zwischen visueller und sprachlicher Argumentation. Einerseits bildet er Zeichnungen der kunsthistorischen Vorbilder als Modell für Posen ab, andererseits stellt er aber auch mit seiner ›New Method 36  Ebd. 37 Blasis’ theoretische Herleitung der Figur aus kunsthistorischen Vorbildern muss um die theatertechnische Entstehung in Artistik, Seiltanz und Voltagierkunst der populären Theater des Pariser Boulevards ergänzt werden. Vgl. zum Bild des Romantischen Balletts z.B. Cornell, Joseph: Clowns, Elephants and Ballerinas, zugl. Dance Index V/6 (1946). 38  Die Arabeske heißt bei Blasis auch ›figure that moves against the wind‹, und er betont mehrfach das ›abandon‹ (Hemmungslosigkeit, Hingabe oder Selbstvergessenheit), mit dem sich der Tänzer in diese Pose werfen soll. Das ›abandon‹ markiert gleichzeitig den Ausnahmestatus der Arabeske als Figur, die das klassische Ideal des Lotrechten verlässt. Vgl. Blasis, The Code of Terpsichore, S. 185. 39  Diese Isolierung ist gleichzeitig auch ein Prozess der Abstraktion. Ein weiteres Modell der Arabeske ist die Fluchtpose der Daphne. In der Übertragung in den Tanz löst sich die Pose von dieser Zuschreibung, wird zuerst mehrdeutig und schließlich Figur der Emphase und reinen Intensität. Vgl. Pappacena, Flavia: »Dance Terminology and Iconography in Early Nineteenth Century«, in: Oberzaucher-Schüller, Gunhild (Hg.): Souvenirs de Taglioni. Bühnentanz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, 2. Bd., München 2007, S. 95–112, S. 112.

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for Instruction‹ ein pädagogisches Programm vor, das auf dem Nachzeichnen von Strichfiguren und der Projektion dieses »imaginären Körpergerüsts auf jede seiner [des Tänzers, E. W.] Haltungen und Bewegungen«40 beruht. Die Arabeske ist für diese Argumentation deshalb so geeignet, weil sie als Ornamentmuster zwischen den Künsten vermitteln kann und als geschwungene Form mit Bewegung assoziiert wird.

Archäologie III: Die Tänze aus Herculanum Im 19. Jahrhundert erscheinen die Tänzerinnen von Herculaneum immer wieder als Revenantes auf der Bühne. Die berühmtesten Tänzerinnen dieser Zeit wurden mit den Figuren der antiken Wandmalereien verglichen. In seiner epochalen Gegenüberstellung zwischen Marie Taglioni und Fanny Elssler, die Théophile Gautier anlässlich einer unspektakulären Inszenierung von La Tempête 1837 in La Presse veröffentlicht, vergleicht er Fanny Elssler mit »une de ces belles figures d’Herculanum ou de Pompeï qui se détachent blanches sur un fond noir et accompagnent leurs pas avec les crotales sonores«.41 Aber nicht nur in der Imagination der romantischen Dichter-Kritiker traten die Tänzerinnen von Herculaneum auf, auch auf der Theaterbühne wurden sie wieder zum Leben erweckt.   Spektakuläre Re-Inszenierungen von Vulkanausbrüchen waren en vogue in populären Theatern des 19. Jahrhunderts.42 Der Ausbruch des Vesuvs 79 n.Chr. bildete dabei eine der beliebtesten Vorlagen für eine Reihe von Musiktheaterwerken, die wie Edward Bulwer-Lyttons Erfolgsroman The Last Days of Pompeii (1834) die Dekadenz des römischen Reichs mit dem jungen Christentum kontrastierten. Félicien Davids Oper Herculanum von 1859, dessen Inszenierung von Hector Berlioz als eine der großartigsten in der Geschichte der Pariser Opéra beschrieben wurde, zählt zu den spektakulärsten Unternehmen.43 Der katastro40

Brandstetter, Gabriele: »The Code of Terpsichore. Carlo Blasis’ Tanztheorie zwischen Arabeske und Mechanik«, in: Brandstetter, Gabriele; Neumann, Gerhard (Hg.): Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800, Würzburg 2004, S. 49–72, S. 55. Vgl. auch Huschka, Sabine: »Wissen vom Tanzen. Carlo Blasis’ Instruktionen zur Anmut«, in: Oberzaucher-Schüller, Gunhild (Hg.): Souvenirs de Taglioni. Bühnentanz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, 2. Bd., München 2007, S. 113–136. 41 G.G. [Théophile Gautier] in: La Presse, 11.09.1837, http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k427144d, 28.02.2012. 42 Zum ›Feuerzauber‹ im Genre der Grand Operá und zur Faszination des 19. Jahrhunderts für apokalyptische Visionen vgl. Gerhard, Anselm: Die Verstädterung der Oper. Paris und das Musiktheater des 19. Jahrhunderts, Stuttgart/Weimar 1992, S. 262–268. 43  Zu Davids Oper vgl. Schleuning, Peter: »Herculaneum in der Musik. Die Oper von Félicien David«, in: Mühlenbrock, Josef; Richter, Dieter (Hg.): Verschüttet vom Vesuv. Die letzten Stunden von Herculaneum, Mainz 2005, S. 213–217 und Gerhard, Anselm: »David. Herculanum (1859)«, in: Dahlhaus, Carl u.a. (Hg.): Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, 1. Bd., München/Zürich 1986, S. 683–685.

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phale Vulkan­ausbruch erscheint in Davids Herculanum als Rache des christlichen Gottes für die Zerstörung Jerusalems und die römische Christenverfolgung. Als Beweis der sündhaften heidnischen Aus­gelassenheit der Römer gibt es im dritten Akt eine große Balletteinlage (choreographiert von Joseph Mazilier): ein ›Bacchanal‹ während eines Festes. Auch diesem Tanz kann man sich archäologisch nähern. Die Choreographie des ›Bacchanals‹ lässt sich anhand von überlieferten Spuren der Bewegungen dieser Tänzerinnen in Herculanum untersuchen. Hierbei handelt es sich aber nicht um Hohlformen oder Abdrücke, sondern der Tanz ist immer nur in Übertragung überliefert.   Tanzhistorisch klafft zwischen dem späten 18. bis weit ins 19. Jahrhundert eine Lücke in der notationellen Übertragung, da sich zwischen der Beauchamp/ Feuillet-Notation und der Laban-Notation kein einheitliches System zur Aufzeichnung durchgesetzt hat.44 Das 19. Jahrhundert ist dieser Herausforderung »eklektisch und idiosynkratisch«45 begegnet, und nur zu einem Bruchteil der Choreographien finden sich Aufzeichnungen. Das ›Bacchanal‹ aus Davids Herculanum bildet eine der wenigen Ausnahmen, denn es ist in handschriftlicher Notation von Henri Justamant in den Archiven der Pariser Opéra überliefert.46 Dort finden sich, in den Tänzen von Herculanum, ebenfalls Arabesken.   Während die zeichnerische Darstellung der archäologischen Funde im Faltenwurf der Tänzerinnen und einer geschwungenen (Körper-)Linie Bewegtheit evoziert, gibt Justamants Notation in einem Hybrid verschiedener Text-, Diagramm- und Bildformen eine Anleitung zur Bewegung.47 Wie die Zeichnungen, die bei den Ausgrabungen von Herculaneum und Pompeji ans Licht kamen, so ist auch dieses Objekt aus dem Archiv zuerst einmal nur eine Momentaufnahme, aus der sich in Zusammenschau mit anderen Dokumenten zwar eine Art Grammatik des Tanzes ableiten lässt (also der syntaktische Einsatz der Pose), jedoch keine genaue Anleitung, wie diese Pose tatsächlich zu tanzen ist. In der vergleichenden Betrachtung verschiedener Schichtungen historischer Dokumente lässt sich dennoch das zeitgenössische choreographische Wissen der Arabeske

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Vgl. überblicksartig Hutchinson Guest, Ann: »Dance Notation«, in: Perspecta 26 (1990), S. 203–214. Jeschke, Claudia; Vettermann, Gabi; Haitzinger, Nicole: Interaktion und Rhythmus. Zur Modellierung von Fremdheit im Tanztheater des 19. Jahrhunderts, München 2010, S. 488. 46  Zu Justamant vgl. Vettermann, Gabi: »In Search of Dance Creators’ Biographies. The Life and Work of Henri Justamant«, in: Jeschke, Claudia; dies.; Haitzinger, Nicole: Les Choses espagnoles. Research into the Hispomania of 19th Century Dance, München 2009, S. 124–136. 47 Eine detaillierte Untersuchung der Notationsweise von Justamant steht noch aus. Vgl. Jeschke, Claudia: »Inszenierung und Verschriftung. Zu Aspekten der Choreographie und Choreo-Graphie im 19. Jahrhundert«, in: Keim, Katharina; Boenisch, Peter M.; Braunmüller, Robert (Hg.): Theater ohne Grenzen. Festschrift für Hans-Peter Bayerdörfer zum 65. Geburtstag, München 2003, S. 256–265.

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aus ihren unterschiedlichen medialen Überlieferungen rekonstruieren – eine Rekonstruktion, die aber auch immer Leerstellen und Lücken mit sich trägt.   Archäologie funktioniert so als Metapher für die Arbeit des (Tanz-)Historikers, prägt aber auch – wie oben gesehen – die Ästhetik des Romantischen Balletts. Denn im Kern dieser Ästhetik steht ein archäologisch gefärbtes Verständnis des Ornaments, das mit dem Verweis auf nichtpräsente Bewegung arbeitet und dennoch Bewegtheit und Leichtigkeit suggeriert.   Mit den Tänzerinnen von Herculaneum taucht so ein Bewegungsphänomen – gerade weil es sich der historischen Aufzeichnung entzieht – immer wieder an der Stelle der Überlieferung auf: Einerseits bannt es die Bewegung im Bild, andererseits markiert es sie als vergangene. Sie stehen allegorisch für die Vergänglichkeit jeglichen Tanzes ein, sichern aber gleichzeitig einen Bezug zur Antike (bzw. stellen diesen erst her) und dienen als Vermittler ästhetischer Konzepte (wie Grazie) zwischen den Künsten. Eine ähnliche Vermittlerrolle nimmt die Arabeske ein: Sie ist Überliefertes und Überlieferndes zugleich. Ihr historisches Erscheinen auf der Ballettbühne korreliert mit einer Lücke in der Geschichte der Tanznotation, sodass die Unterbrechung der (diachronen) tanzhistorischen Übertragung für einen Moment durch eine (synchrone) Übertragung zwischen den Künsten ersetzt wird. Der ›Gehalt‹ der Arabeske, der in den Tanz übertragen wird, ist paradoxerweise die Idee von Bewegung und Lebendigkeit, die sich dort – im Medium der Bewegung schlechthin – als Pose verwirklicht.48   In der eingefrorenen Pose wiederholt sich dabei das unheimliche Moment des still gestellten Lebens, wie es in den archäologischen Fundstätten vorgefunden wurde. Es ist eine mehrfache, gestaffelte Konservierung: das bewegte Leben ins statische Bild übertragen, im Lavagestein über die Zeit aufbewahrt, auf der Bühne zum Leben erweckt und erneut ins Bild übertragen. Das Aufeinandertreffen von Arabeske und den Tänzerinnen von Herculaneum wird so zu einer Szene der Verhandlung von ästhetischen Konzepten und Figuren, die mit Bewegung und ihrer Konservierung im Übertrag verbunden sind. Dieser Prozess ist ein medialer, in einer Argumentation, die zwischen Text, Bild und der Bühne wechselt. Die Ornamentform Arabeske strukturiert dabei den Transfer als Mustervorlage.

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Ich danke den Herausgeberinnen für ihre äußerst hilfreichen Kommentare zu dieser Stelle.

Carolin Bohn

Die Struktur der Re-Animation in Lessings Laokoon »Gleichwohl ist der Sinn hier nichts, das Gemälde alles ...«1

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ie liest sich Lessings Laokoon. Oder über die Grenzen der Malerei und der Poesie (1766), wenn der kanonische Essay im Kontext der Re-Animation taxiert wird? Der Lebens-Rettung wohnt das Moment einer Richtungsänderung inne: Was zwangsläufig auf den Tod zusteuert, erfährt eine Wende, die (zurück) ins Leben führt; gerettet wird, was beinahe/schon tot war. Die Unterbrechung von ›Re‹ und ›Animation‹ durch das › - ‹ aber unterstellt eine unüberbrückbare Differenz: Auf dem Weg der Re-Animation »zurück nach vorn«2 bleibt etwas auf der Strecke, trotz des gewaltigen Kraftaufwands, der das schon nicht mehr auf Messers Schneide Balancierende, sondern bereits etwas ins Jenseits Gekippte wieder ins Leben zieht. Das gerettete Leben zieht seinen Tod wie seine Re-Animation im Schlepptau mit. So gibt der Begriff ›Re-Animation‹ hier den Anstoß, den Laokoon einer Re-Lektüre zu unterziehen, die nicht nur einen kanonischen Text wieder holt und liest, sondern sich auf Strukturen eines Zurück-nach-Vorn – hier im Sinne von Strukturen der Re-Animation – im Text konzentriert. Im selben Zug agiert die folgende Betrachtung insofern re-animierend, als sie vor die Poetik der Animation, d.h. Lessings bekannte medienspezifische Formalästhetik, zurückgehen will und danach fragt, was die lebendige Poesie ermöglicht und bedingt. 1  2 

Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon. Oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, in: ders.: Laokoon. Briefe, antiquarischen Inhalts, hg.v. Wilfried Barner, Frankfurt a.M. 2007, S. 11–321, S. 133. Die treffende Formulierung entnehme ich dankend Nils Plaths Charakterisierung der Avantgarde. Vgl. Plath, Nils: »›Und jetzt zurück nach vorn‹. Zu Theorie und Selbstverständnis der historischen Avantgarde im 20.  Jahrhundert«, in: Asholt, Wolfgang; Fähnders, Walter (Hg.): Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde. Avantgardekritik. Avantgardeforschung, Amsterdam 2000, S. 653–670.

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Lessings Laokoon hebt die konkrete zeichengebundene Kompositionstechnik der Künste hervor, die sie jeweils in Zeit oder Raum streckt. David E. Wellbery hat, von Foucaults Repräsentationsbegriff ausgehend,3 in den 80er Jahren dieses Verhältnis der Künste auf der Grundlage eines semiotischen Analyseschemas durchleuchtet und schließlich mit der Betonung auf der Differenz den Laokoon als ein Zeugnis der klassischen Repräsentationslogik eingeschätzt. Er wiederholt auch später die Position der Differenzierung und spielt sie in einer Hierarchie der Künste aus, indem er auf den materiellen Restwiderstand der Malerei zu sprechen kommt, der die freie (poetische) Einbildungskraft einenge. Lessings »Antipathie gegen die Malerei« entspringe zusätzlich »der für seine eigene Theorie fatalen Einsicht, daß an der Malerei als maternal-materieller Kunst sich etwas ankündigt, das der Begriff der Repräsentation nicht einzufangen vermag«.4 Während tatsächlich der von Wellbery rekonstruierte Repräsentationsbegriff Lessings in Anbetracht der Malerei an ein Ende kommt, lässt sich ein anderer genau hier erst entfalten. Meines Erachtens sieht Lessing die an Materialität gebundene Malerei nicht nur als unterlegene oder die Freiheit der Fantasie bedrohende Konkurrenz, sondern richtet seine Reflexion über die Wirkung der Dichtung an ihr aus: Die Malerei ist das (unerreichbare) Andere, und das Ideal der Dichtung und Dichtungswirkung liegt in der Bezugnahme auf dieses Andere. Meine Annahme ist also, dass in Lessings Laokoon unterhalb des differenziell funktionierenden Raums der Repräsentation, in dem die »Ähnlichkeit aus dem Gebiet der Erkenntnis«5 herausfällt, dennoch eine der Renaissance verhaftet gebliebene Ähnlichkeit rauscht, wie sie – ebenfalls – Foucault »am äußeren Saum des Wissens«6 sich abzeichnen sieht. Denn Lessing unterläuft permanent die so berühmt formulierte und überwiegend rezipierte Setzung der Differenz,7 insofern er weniger einfach Grenzen zieht, sondern an den Grenzen zwischen Malerei und Dichtkunst detailliert ihr kompliziertes Verhältnis zueinander auslotet. Schließlich sieht Lessing die Künste durch ihr gemeinsames Telos (in Ähnlichkeit) verbunden, insofern die Malerei wie die Dichtung darauf ziele, eine Illusion zu erschaffen.8 Aus dieser Ähnlichkeit, dem »Rudiment einer 3  4  5  6  7  8 

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Vgl.Wellbery, David E.: Lessing’s Laocoon. Semiotics and Aesthetics in the Age of Reason, Cambridge u.a. 1984, S. 1–8, insb. S. 2ff. Wellbery, David E.: »Gesetz der Schönheit. Lessings Ästhetik der Repräsentation«, in: Hart Nibbrig, Christiaan L. (Hg.): Was heißt ›Darstellen‹?, Frankfurt a.M. 1994, S. 175–204, S. 198. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge, in: ders.: Die Hauptwerke, hg.v. Axel Honneth und Martin Saar, Frankfurt a.M. 2008, S. 7–469, S. 107. Ebd. Vgl. dazu Schneider, Matthew: »Problematic Differences. Conflictive Mimesis in Lessing’s Laokoon«, in: Poetics Today 20/2 (1999), S. 273–289. Die Gemeinsamkeit der Künste spricht Wellbery in seiner Laokoon-Analyse auch an, in Bezug auf die

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Beziehung, die die Erkenntnis in ihrer vollen Breite bedecken muß, die aber unendlich lange unterhalb ihrer bleibt wie eine stumme und nicht zu beseitigende Notwendigkeit«,9 kann erst die jeweilige Kunst ihre Wirkkraft/Illusionskraft, d.h. eine ›lebendige Darstellung‹,10 generieren. Diese Darstellungstheorie als eine der Komposition des Textes implizite hervorzukehren und sie als Theorie der Re-Animation zu charakterisieren, ist Anliegen der folgenden buchstäblichen und durchaus affirmativen Laokoon-Lektüre. Dabei wird ein einzelnes Textdetail als Momentaufnahme einer Struktur der Ambiguität in Betracht gezogen, die in den Spalten zwischen Wort und Bild, zwischen den Wörtern selbst und in widersprüchlichen Fußnoten aufscheint.

Animation und Lebendigkeit Der Titel des Essays Laokoon. Oder über die Grenzen der Malerei und Poesie ordnet, indem er sich mit der Laokoon-Gruppe bekanntlich auf eine Statue, ein im Raum stehendes, dreidimensionales Gebilde bezieht, ohne Weiteres die Bildhauerei der Malerei zu. In der Vorrede zum Essay wird diese scheinbare Willkürlichkeit nicht gerechtfertigt, sondern vielmehr bestärkt: »Noch erinnere ich, daß ich unter dem Namen der Malerei, die bildenden Künste überhaupt begreife«.11 Der Grund dafür liegt in der grundsätzlichen Stoßrichtung der Abhandlung, die einen Konflikt von Raum und Zeit inszeniert, wie sich schon ankündigt: »so wie ich nicht dafür stehe, daß ich nicht unter dem Namen der Poesie, auch auf die übrigen Künste, deren Nachahmung fortschreitend ist, einige Rücksicht nehmen dürfte«.12 Lessing legt seiner Betrachtung der Künste eine abstrakte Zuordnung zugrunde: Er unterscheidet solche, die – Zeit imitierend – in ihrer Nachahmung fortschreitend sind, von denen, die sich zeitlos im Raum

Grundfrage nach der mimesis. Er schlägt dann aber in seinem semiotischen Interesse den Weg der Rekonstruktion des differenzierenden formalästhetischen Ansatzes ein. Zur mimesis und Einheit der Künste im Laokoon vgl. Wellbery, Lessing’s Laocoon, S. 99–109, insb. S. 105, und wenn er auf das »natural sign« zu sprechen kommt, ebd., S. 191–203. 9  Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 107. 10  Zur lebendigen Darstellung und Verlebendigung im 18. Jahrhundert vgl. Mülder-Bach, Inka: Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der ›Darstellung‹ im 18. Jahrhundert, München 1998. Zur historischen Rekonstruktion des Begriffs der ›lebendigen Darstellung‹ bei Klopstock: Menninghaus, Winfried: »›Darstellung‹. Friedrich Gottlieb Klopstocks Eröffnung eines neuen Paradigmas«, in: Hart Nibbrig, Christiaan L. (Hg.): Was heißt ›Darstellen‹?, Frankfurt a.M. 1994, S. 175–204. Menninghaus hebt dabei die bemerkenswerte Überkreuzung von enargeia und energeia hervor und liest Klopstocks Darstellungstheorie als Eröffnung eines neuen Paradigmas. 11  Lessing, Laokoon, S. 16. 12  Ebd. (Hervorhebungen C. B.).

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entfalten.13 Prägnant bündelt er schließlich diesen Punkt in der berühmten und viel zitierten, differenzierenden Schlusskette im Kapitel XVI des Laokoon und klärt darin seine Poetik: »Wenn es wahr ist, daß die Malerei zu ihren Nachahmungen ganz andere Mittel, oder Zeichen gebrauchet, als die Poesie; jene nemlich Figuren und Farben in dem Raume, diese aber artikulierte Töne in der Zeit; wenn unstreitig die Zeichen ein bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten haben müssen: So können neben einander geordnete Zeichen, auch nur Gegenstände, die neben einander, oder deren Teile neben einander existieren, auf einander folgende Zeichen aber, auch nur Gegenstände ausdrücken, die auf einander, oder deren Teile aufeinander folgen.«14

Die formalistische Differenzierung der Künste, markanterweise anhand der Zeichen vollzogen, befestigt die jeweilige Kunst entweder an Farben oder Tönen und schlägt sie in Raum oder Zeit. Der Grund für die Unterscheidung ist, dass beiden ein je spezifischesWesen der Nachahmung eigne: Vom jeweiligen Zeichen wird verlangt, ein ›bequemes Verhältnis‹ zu dem Bezeichneten zu haben,15 sodass jeweils die (Form-)Adäquatheit über den Gegenstand der Darstellung (bzw. andersherum über die medienspezifische Darstellungsweise des jeweiligen Gegenstands) entscheidet. So finde die adäquate Darstellung von Körpern/ Gegenständen im Stillstand sich in der momenthaft gebundenen Malerei. Hingegen sind »Handlungen«, d.h. für Lessing »Gegenstände, die auf einander, oder deren Teile auf einander folgen«, »der eigentliche Gegenstand der Poesie«.16 Die Poetik der Handlung, die Lessing hier entwirft, stellt sich als eine Poetik der sukzessiven Bewegung heraus: Nicht die dramaturgisch fassbare Struktur der Ananke, des notwendig ineinander verzahnten Plots ist gemeint, sondern vielmehr eine mikrologische Struktur der notwendigen Verkettung, die eine fortschreitende Dynamik produziert. Diese Poetik realisiere der Dichter, indem er im Gedicht die Dinge nicht lange ausmale, sondern »Für Ein Ding« nur »Einen Zug«17 setze und dann diese Züge in der Handlung aneinander knüpfe. Die zügige Verkettung dieser Merkzeichen – eine gleichsam metonymische Kette18 13  Wellbery stellt heraus, dass es Lessing eigentlich weniger um die Trennung von Raum und Zeit gehe, sondern vielmehr um Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Was Malerei und Bildhauerei vereine, sei ihre Sichtbarkeit. Vgl. Wellbery, »Gesetz der Schönheit«. 14  Lessing, Laokoon, S. 116. 15  Vgl. dazu Stierle, Karlheinz: »Das bequeme Verhältnis. Lessings Laokoon und die Entdeckung des ästhetischen Mediums«, in: Gebauer, Gunter (Hg.): Das Laokoon-Projekt. Pläne einer semiotischen Ästhetik, Stuttgart 1984, S. 23–58, insb. S. 39–51. 16  Lessing, Laokoon, S. 116. 17  Ebd., S. 118. 18  Nur einen Zug eines Dings zu nennen, um es als Ganzes zu bezeichnen, entspricht der Metonymie. »Ich finde, Homer malet nichts als fortschreitende Handlungen, und alle Körper, alle einzelne Dinge malet

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– rufe die Täuschung der Dichtung hervor, trete als solche vor die Augen des Zuhörers und Lesers. In diesem Verfahren will der Poet, wie Lessing ein Kapitel später erklärt, die »Ideen, die er in uns erwecket, so lebhaft machen, daß wir in der Geschwindigkeit die wahren sinnlichen Eindrücke ihrer Gegenstände zu empfinden glauben«.19 Das Ziel der zügigen Verkettung also ist, die Dinge in der Erzählung, aber auch Ideen oder abstrakte Begriffe lebhaft werden zu lassen: Diese Poetik animiert die beschriebenen Dinge, indem sie einzig ein Detail aus ihrem Ganzen in einen Ablauf einhakt. Ist in der Dichtung – dank der entsprechenden Poetik, die sich nur in Zeitfolge und Handlung, nicht aber in der Beschreibung von Körpern realisiert – schließlich die Lebhaftigkeit erreicht, so mache sie in ihrem Effekt, der Illusion, die Dinge sinnlich und sichtbar. Weil dieser Effekt quasi so eklatant sichtbar mache wie sonst nur die Malerei,20 nennt Lessing in den Kapiteln XIV und XVII die erfolgreich täuschende Poesie »poetisches Gemälde«.21 Nachdem Lessing also in Kapitel XVI die Verfahrensweise der Dichtung definiert und damit die Künste in ihrer Zeichen- und Mediengebundenheit differenziell bestimmt und etabliert hat, zieht er sie in ihrer Wirkung – indem er Dichtung in ihrem gelungenen Effekt mit Malerei vergleicht – wieder zusammen und stellt einen Bezug der Analogie zwischen ihnen her.   Damit diese Analogie aber nicht etwa literalisiert wird, bringt Lessing, kurz nachdem er das ›poetische Gemälde‹ als Ergebnis der erfolgreichen dichterischen Illusion beschrieben hat, die gegenteilige Bedeutung ins Spiel: Das ›poetische Gemälde‹ als Gedichtform und quasi falsch geratene Gattung.22 So nennt

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er nur durch ihren Anteil an diesen Handlungen, gemeiniglich nur mit Einem Zuge.« Lessing, Laokoon, S. 117. Der einfache Zug eines Dings ist allerdings gedoppelt: »Ein Schiff ist ihm bald das schwarze Schiff, bald das hohle Schiff, bald das schnelle Schiff, höchstens das wohlberuderte schwarze Schiff.« Ebd., S. 118. Lessing setzt nicht nur einen Zug des Dings an sich – Segel für Schiff –, sondern das Ding wird zusätzlich mit einer spezifischen Eigenschaft ausgezeichnet. So hebt Lessing innerhalb der metonymischen und reduzierenden Logik das supplement als das illudierende, belebende Werkzeug hervor und verschiebt leicht den Begriff von Metonymie in eine widersprüchliche Bewegung: Er subtrahiert das Detail aus dem Ganzen, dem er einen zusätzlichen Zug addiert. Lessing, Laokoon, S. 124. Vgl. Wellbery, Lessing’s Laocoon, S. 105, S. 191. Vgl. Lessing, Laokoon, S. 124: Der Dichter »will die Ideen, die er in uns erwecket, so lebhaft machen, daß wir in der Geschwindigkeit die wahren sinnlichen Eindrücke ihrer Gegenstände zu empfinden glauben […]. Hierauf lief oben die Erklärung des poetischen Gemäldes hinaus.« Wie Friedrich Balke feststellt, wird das Wort ›Gattung‹ im Laokoon nur selten gebraucht, während es doch genau darum gehe: um innerhalb eines Entstehungsprozesses etablierte poetische und kulturelle Formen. Vgl. Balke, Friedrich: »Gattungspolitik. Über das Verhältnis von medienästhetischer Normativität und anthropologischer Differenz in Lessings Laokoon«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 126 (2007), S. 481–507, insb. S. 484. Nach Balke, der den Laokoon in hegelianischem Licht liest, reflektiert Lessing anhand der Skulptur die permanente Gefährdung eines höheren kulturellen Niveaus (ablesbar am stehenden Menschen), in eine vorhergehende niedrigere Lebensform (gezeigt an der horizontalen Ausrichtung der Schlangen) zurückgerissen zu werden. Damit stünden nicht nur der Konflikt von Natur

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Lessing als Gegenbeispiel zu einer gelungenen dynamischen Dichtkunst Albrecht von Hallers Gedicht Die Alpen (1729), in dem Letztgenannter das beschreibe, was ein tatsächliches Gemälde hätte besser zeigen können: nicht nur eine in die Bergblumenwelt versetzte moralisch aufgeladene Allegorie auf Staat, Regierungs- und Gesetzeswesen, sondern v.a. die – bei Haller interpretierte – Schönheit der Natur.23 Hallers Gedicht fällt bei Lessing durch, denn in Bezug auf die lebhafte Wirkung der Dichtung komme es nicht, wie in Hallers Alpen realisiert, »auf die Erhöhung über das vegetative Leben, auf die Entwickelung der innern Vollkommenheiten, welchen die äußere Schönheit nur zur Schale dienet«,24 an – dies sei der ›ganz falsche Gesichtspunkt‹.25 Der richtige hingegen beziehe sich auf diese äußere »Schönheit selbst« und den erwirkten »Grad der Lebhaftigkeit«:26 Für beide Künste ist es die an eine Äußerlichkeit gebundene Lebendigkeit an sich, die selbst im und als Vollzug der Darstellung zur Ansicht gelangen soll, und nicht die philosophische (anthropomorphe) Erhöhung oder kultivierende Interpretation des Lebens. Die Unterscheidung, die Lessing in den unterschiedlichen Dichtungsarten trifft, kann als »poetischer Begriff der Dichtung«27 im Gegensatz zu ihrer »ästhetische[n] Bestimmung«28 gefasst werden: Hallers Alpen sind demnach »poetisch« zu verstehen, d.h. »auf eine Einsicht und eine Handlung zurückzuführen, die (fast) schon philosophisch sind«.29 Im Begriff des Ästhetischen hingegen wird, mit Hegel, »die Kunst durch ihr

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und Kultur, Mensch und Gott, Mensch und Tier, sondern auch der Kampf zwischen Kulturen unterschiedlicher Entwicklungsniveaus zur Debatte. Zum Zusammendenken von poetischer Gattung und evolutionärem Lebensbegriff vgl. auch: Agamben, Giorgio: The End of the Poem. Studies in Poetics, Stanford 1999, darin insb. §5 und §6, S. 76–101. Im italienischen Original bezeichnender betitelt: Categorie italiane. Studie di Poetica, Venedig 1996. »Dort ragt das hohe Haupt vom edeln Enziane / Weit übern niedern Chor der Pöbelkräuter hin, / Ein ganzes Blumenvolk dient unter seiner Fahne, / Sein blauer Bruder selbst bückt sich, und ehret ihn.« Die Strophe kulminiert in »[…] Gerechtestes Gesetz! daß Kraft sich Zier vermähle, / In einem schönen Leib wohnt eine schönre Seele«. Albrecht von Haller: Die Alpen, zit.n. Lessing, Laokoon, S. 125. Lessing, Laokoon, S. 126 (Hervorhebungen C. B.). Vgl. ebd. Lessing kritisiert hier weniger Albrecht von Haller als vielmehr Johann Jakob Breitinger, der in seiner Critischen Dichtkunst Hallers Alpen als ein gelungenes ›Gemälde‹ (»Poetische Schilderei«) betrachtet, das die Malerei im Vergleich dazu nur »matt und düster« hätte realisieren können. Breitinger zit.n. ebd. Dies sieht Lessing genau andersherum: durch die Mittel der Poesie beschriebene und allegorischmoralisch aufgeladene Natur-Schönheit ermüde. Lessing, Laokoon, S. 126.Von mir unterschlagen wird hier das dritte Kriterium der ›Ähnlichkeit‹. Sie gilt es mit Hilfe des Verständnisses der ›äußeren Schönheit‹ und der ›Lebhaftigkeit‹ zu klären. Menke, Christoph: »Noch nicht. Die philosophische Bedeutung der Ästhetik«, in: Balke, Friedrich; Maye, Harun; Scholz, Leander (Hg.): Ästhetische Regime um 1800, München 2009, S. 39–49, S. 42. Die Unterscheidung von ästhetischem und poetischem Begriff der Kunst übernehme ich mit Christoph Menke von Jacques Rancière, vgl. Rancière, Jacques: Le partage du sensible. Esthétique et politique, Paris 2000, S. 28ff. Menke, »Noch nicht«, S. 42. Ebd.

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Verhältnis des ›Noch nicht‹ zur Philosophie bestimmt«30 werden. Es ist eher dies ›Ästhetische‹, das Lessing interessiert, doch versucht er, es von der Seite der Dichtung her, in der Manier des Kritikers und »Kunstrichters«31 aus der Dichtung ›selbst‹ heraus zu fassen. Die Ironie seines Verfahrens kristallisiert sich im Nachhinein mit Hegels Hilfe heraus, wenn dieses »wahre eigentliche Selbst«,32 d.h. das Wissen von sich selbst, genau das ist, was die Kunst (im Vergleich zur Philosophie) ›noch nicht‹ enthält. Das ›Selbst‹ der Dichtung, der Grund ihrer Wirkung ist ein Äußeres, das Lessing durch das nahest gelegene Äußere und Andere – die Malerei – zu bestimmen versucht. Nur allmählich im Zuge seiner Argumentation ist diese bis ins Innerste reichende Äußerlichkeit als permanenter Entzug nachzuvollziehen.   Ein Stück weit soll das hier versucht werden: Die poetologisch-formalistische Norm Lessings läuft auf eine ästhetische hinaus, in der es nicht allein um die mediale Differenzierung geht, sondern um die jeweilige differenzielle Abstimmung der Künste auf ein Kriterium: Lebendigkeit. Ob dieses Kriterium erfüllt wird, zeigt sich erst im Effekt: Er wird in der Dichtkunst durch die Analogiesetzung von Malerei und Dichtung gekennzeichnet. Von hier aus, dem in Analogie gefassten Wirkungseffekt, soll im Folgenden für die Dichtung das Kriterium Leben/Lebendigkeit – als vormediale Bedingung ein gemeinsames (verinnerlichtes) Äußeres beider Künste – als Struktur annähernd bestimmt werden.

Das poetische Gemälde Kurz bevor Lessing im Kapitel XVI seine viel zitierte Poetik preisgibt, die in der medialen und formalistischen Trennung der Künste gipfelt, wird an einer buchstäblich zentralen Stelle des Laokoon das poetische Gemälde einer Art ›Aufklärung‹ unterzogen: In einer dreifachen Bewegung schießt Lessing das ›poetische Gemälde‹ zunächst ab, während er es zugleich rettet und durch eine angehängte Fußnote historisch auflädt. Am Ende des Kapitels XIV setzt Lessing an, den Begriff im Sinne des ›Darstellens‹33 in einem langen und verschlungenen Satz zu klären: »Man läßt sich bloß von der Zweideutigkeit des Wortes verführen, wenn man die Sache anders nimmt. Ein poetisches Gemälde ist nicht notwendig das, was in ein 30  31  32  33 

Ebd. Lessing, Laokoon, Vorrede, S. 13. Menke, »Noch nicht«, S. 42. Zu der Frage, wie die Poetik der ›Darstellung‹ Klopstocks sich zu Lessings Poetik verhält, vgl. MülderBach, Im Zeichen Pygmalions, S. 25–48, insb. S. 46ff.

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materielles Gemälde zu verwandeln ist; sondern jeder Zug, jede Verbindung mehrerer Züge, durch die uns der Dichter seinen Gegenstand sinnlich macht, daß wir uns dieses Gegenstands deutlicher bewußt werden, als seiner Worte, heißt malerisch, heißt ein Gemälde, weil es uns dem Grade der Illusion näher bringt, dessen das materielle Gemälde besonders fähig ist, der sich von dem materiellen Gemälde am ersten und leichtesten abstrahieren lassen.«34

Das »poetische Gemälde«, das »uns dem Grade der Illusion näher bringt, dessen das materielle Gemälde besonders fähig ist«,35 bezeichnet hier, was kurz vor dem eigentlichen Illusions-Effekt der Dichtung kommt bzw. auf dem Weg dorthin ist: Kurz nach der zügigen Verknüpfung ist das poetische Gemälde ein schillernder Zwischenzustand, ein Zwischeneffekt, der die erfolgreiche Illusion ermöglicht. In die auf den ersten Blick teleologisch organisiert scheinende Logik von Lessings Poetik, die auf die Verkettung der Merkzeichen zielgerichtet den Effekt der Täuschung folgen lässt, senkt sich das poetische Gemälde als ein hybrides Moment ein: Das Ergebnis mag noch immer Illusion sein, doch nicht, indem die Poesie einfach direkt von sich aus auf den Rezipienten wirkt. Sie führt durch ihre Poetik zu einem Zwischeneffekt, der genau diesen teleologischen Verlauf unterbricht und die Struktur der Notwendigkeit kippen lässt. Einem kommunikativen Vehikel gleich tritt das poetische Gemälde neben die intentionale Struktur und führt eine der wirkungsästhetischen Richtungsbewegung entgegengesetzte Bewegung aus: Hier wirkt nicht Poesie auf ›uns‹, sondern ›wir‹ kommen der Illusion näher, indem das poetische Gemälde uns bringt. Paradoxerweise kann erst in der Verzögerung bis Aufhebung der Teleologie ein Effekt bewirkt werden, genauer, in der Verzögerung findet der Effekt selbst statt, der in sich gleichzeitig die Potenzialität des Effekts bewahrt, indem er ein Zwischeneffekt bleibt.36   Den amorphen Zwischenzustand des poetischen Gemäldes wegen seiner Bezeichnung allzu wörtlich als Gemälde oder im Sinne einer poetischen Gattung zu lesen, die sich wortwörtlich an der Malerei ausrichtet, kritisiert Lessing in den Zeilen zuvor: »Ein poetisches Gemälde ist nicht notwendig das, was in ein 34  35  36 

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Lessing, Laokoon, S. 113. Ebd. (Hervorhebungen C. B.). Dies ist mit dem Moment zu vergleichen, der Ivor Armstrong Richards in seiner Metapherntheorie interessiert: Von der Rhetorik herkommend arbeitet Richards die auf der Seite der intentionalen Zielgerichtetheit der überzeugenden Rede, persuasio, sich zeigende Kommunikationskapazität der Metapher heraus. Wirkungsästhetik und rhetorische Machart werden als ununterscheidbar beschrieben, bzw. die Unterscheidung wird im interaktiven Verhältnis zwischen semantischem Vehikel und emotivem Tenor aufgehoben. Das Moment einer Bedeutungsgenerierung tritt neben die Wirkkraft bzw. persuasio, und in der Interaktion beider wird eine Wirkung erst möglich. Vgl. Richards, Ivor A.: »Die Metapher«, in: Haverkamp, Anselm (Hg.): Theorie der Metapher, Darmstadt 1983, S. 31–52 sowie dazu im selben Band: Haverkamp, Anselm: »Einleitung in die Theorie der Metapher«, S. 1–27, insb. S. 7–12.

Re-Animation in Lessings Laokoon

materielles Gemälde zu verwandeln ist.«37 Das falsche Verständnis des poetischen Gemäldes beruht also auf einer falsch, nämlich literal gelesenen Ähnlichkeit zwischen dem poetischen Gemälde und dem materiellen: Auf dem Grad der »Zweideutigkeit des Worts«38 balancierend, schießt Lessing die ›falsche‹ Bedeutung des Begriffs ab – während die richtige Bedeutung nur vage bleibt und sich in erster Linie durch ein Moment der Gegenbewegung zur Notwendigkeit auszeichnet. Wie sich später expliziert findet, wenn Albrecht von Hallers Die Alpen in Kapitel XVII das nachträglich gelieferte Beispiel für die theoretische Vorbestimmung in Kapitel XIV ist, geht der Grund für die Fehlerhaftigkeit der Bedeutung mit dem ignorierten Kriterium der Lebendigkeit einher. Was Lessing in seiner Argumentation zurückweist – und sozusagen auf die andere Seite des Lebens ins Jenseits fallen lässt –, ist selbst schon tot: ein unbelebtes Gedicht ohne jegliche Dynamik. Aber nicht nur die später in Kapitel XVII elaborierte Kritik an Hallers Interpretation dessen, was einfach da ist – »die Schönheit an sich«39 –, und seine belehrende Erhöhung des Lebens sind Lessings Angriffspunkte. Als Gattungsbezeichnung ist das poetische Gemälde durch die Literalisierung der Analogie zwischen Wort und Bild eine erstarrte, tote Metapher.40 Rhetorisch gefasst ist also die ›Lebendigkeit‹, um die es Lessing geht, eine am Leben gehaltene Analogie: eine lebendige Metapher, die sich der Be-/Deutung per se in ihrer Vagheit und Gegenläufigkeit entzieht.

Re-Animation und Aufklärung Lessings Kritik an der ut pictura poesis-Regel kann einerseits auf die Missverständnisse seiner Zeitgenossen bezogen sein, deren ›falsches‹ Verständnis einer aus dem Barock tradierten Wort-Bild-Relation er korrigiert.41 Andererseits scheint seine Kritik auch gegen eine rinascimentale Ähnlichkeitslogik gerichtet

37  Lessing, Laokoon, S. 113. 38  Ebd. 39  Ebd., S. 126. 40  Vgl. zu toter und lebendiger Metapher Ricœur, Paul: La métaphore vive, Paris 1975 sowie die entgegengesetzte Position: Derrida, Jacques: »La mythologie blanche. La métaphore dans le texte philosophique«, in: ders.: Marges de la philosophie, Paris 1972, S. 247–324; ders.: »Le retrait de la métaphore« (1978), in: ders.: Psyché. Invention de l’autre, Paris 1987, S. 63–93 (dt.: »Der Entzug der Metapher«, in: Haverkamp, Anselm (Hg.): Die paradoxe Metapher, Frankfurt a.M. 1998, S. 197–234). 41  Lessing kritisiert nicht einfach nur barocke Bildlichkeit, sondern relativiert ihre Rolle in Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Positionen, vgl. dazu Windfuhr, Manfred: Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker. Stilhaltungen in der deutschen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1966, insb. S. 339– 467; vgl. auch: Böckmann, Paul: »Das Formprinzip des Witzes in der Frühzeit der deutschen Aufklärung«, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstiftes (1932/33), S. 52-130, insb. S. 104–122.

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zu sein,42 insofern diese die Möglichkeit der Literalisierung birgt, die aus der Ähnlichkeit zweier Dinge eine tatsächliche Gemeinsamkeit macht43 und Wort und Ding nicht arbiträr zueinander gesetzt, sondern essenziell miteinander verbunden sieht.44 Da Lessings Kritikpunkt die Literalität ist, die den Unterschied zwischen Wort und Ding ignoriert und so die Bezugnahme und das übertragende Moment an sich erstarren und die Metapher (translatio) sterben lässt, könnte in seiner Kritik eine rationale Aufklärung des rinascimentalen Denkens liegen, dessen ›magisches‹ Zeichenverständnis er als irreleitende Erkenntnistäuschung offenlegt. Im Zuge der Argumentation Lessings bleibt im Interesse des ›Ästhetischen‹ die tötende Literalität des »poetischen Begriffs der Dichtung«45 mit Hallers Poesie auf der Strecke, ebenso wie scheinbar ein Moment literalisierender, rinascimentaler Ähnlichkeitslogik und der ihr entsprechende Wirklichkeitsund Erkenntnisbegriff.   Aber Lessing fährt mit seiner Erläuterung zum ›poetischen Gemälde‹ fort, ohne sich konkret gegen die Renaissance und deren Ähnlichkeitslogik zu richten. Dem verschlungenen Satz, der die Zweideutigkeit des Begriffs aufzeigt und zu ordnen vorgibt, dabei die eine Bedeutung verabschiedet, die andere etabliert, folgt eine markante Fußnote, die buchstäblich in den Zwischenraum von Kapitel XIV und XV grätscht, also exakt in die Mitte des 29 Kapitel umfassenden Laokoon gesetzt ist: »Was wir poetische Gemälde nennen, nannten die Alten Phantasieen, wie man sich aus dem Longin erinnern wird. Und was wir die Illusion, das Täuschende dieser Gemälde heißen, hieß bei ihnen die Enargie. Daher hatte einer, wie Plutarchus meldet, (Erot. T. II. Edit. Henr. Steph. p. 1351.) gesagt: die poetischen Phantasien wären, wegen ihrer Enargie, Träume der Wachenden; Αι ποιητικαι φαντασιαι δια την εναργειαν εγρηγοροτων ενυπνια εισιν. Ich wünschte sehr, die neuern Lehrbücher der Dichtkunst hätten sich dieser Benennung bedienen, und des Worts Gemälde gänzlich enthalten wollen. Sie würden uns eine Menge halbwahrer Regeln erspart haben, derer vornehmster Grund die Übereinstimmung eines willkürlichen Namens ist. Poetische Phantasien würde kein Mensch so leicht den

42  Vgl. Alt, Peter-André: Begriffsbilder. Studien zur literarischen Allegorie zwischen Opitz und Schiller, Tübingen 1995, insb. S. 3–33 und S. 392–467. 43  Wie sich beispielsweise in der Naturphilosophie Agrippas von Nettesheim nachlesen lässt: Agrippa, Cornelius: De occulta philosophia. Libri tres (1519), hg.v. Vittoria Perrone Compagni, Leiden 1992; vgl. dazu Eggs, Ekkehard: »Metapher«, in: Ueding, Gert u.a. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, 5. Bd., Tübingen 2001, Sp. 1099–1180, Sp. 1122ff.; vgl. außerdem Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 49–81, insb. S. 50–59. 44  Vgl. Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 69–81. 45  Menke, »Noch nicht«, S. 42.

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Schranken eines materiellen Gemäldes unterworfen haben; aber sobald man die Phantasien poetische Gemälde nannte, so war der Grund zu Verführung gelegt.«46

Das klingt nach einer einfachen historischen Begriffsklärung: Dem Irrtum, Malerei mit Dichtung zu verwechseln und sie als identisch zu begreifen, wäre vorgebeugt, würde man die alten Bezeichnungen berücksichtigen, die das Wort Malerei vollständig heraushalten. Durch verschiedene Quellen hindurch deckt Lessing eine Rezeptionslinie auf, die den Begriff des ›poetischen Gemäldes‹ historisch untermauert bzw. auflädt. Er beschreibt jetzt die ›Illusion‹, die sich im Fließtext gerade noch als End-Effekt fand, dem wir nähergebracht werden, als das ›Täuschende‹ des ›poetischen Gemäldes‹. So ist die Illusion nicht, was chronologisch dem Zwischeneffekt nachfolgt und ihm anhängt, sondern ein Teil-Moment in ihm. Von der historischen Aufladung abgesehen, wird das poetische Gemälde nun nicht mehr nur als Zwischeneffekt inszeniert, sondern als Bezeichnung47 und als Synonym der ›poetischen Phantasie‹ (nach Longin) und der ›Träume der Wachenden‹ (nach Plutarch) charakterisiert, während die hier jetzt als implizit ausgewiesene Illusion mit ›Täuschung‹ und im Namen der ›Alten‹ mit ›Enargie‹ bezeichnet wird. Mit der Nennung der enargeia bringt Lessing einen grundlegenden rhetorischen (d.h. technischen) Aspekt ins Spiel.48 Bemerkenswerterweise aber beruft sich Lessing dabei gerade auf Plutarch, und nicht auf die in diesem Fall einschlägige Rhetorik von Aristoteles49 oder Quintilian.50 Umso mehr fällt der Blick auf den Zusammenhang in Plutarchs Dialog über die Liebe, aus dem das Zitat entnommen wurde. Hier zeigt sich, dass die Anschaulichkeit (enargeia) der ›Träume der Wachenden‹, von der bei Lessing die Rede ist, selbst wieder in einem mehrgliedrigen graduellen Vergleich bestimmt wird: Noch verstärkter seien solche Tagtraum-Vorstellungen bei den Verliebten, heißt es dort. Deren Auge male nicht wie gewöhnlich auf feuchtem Grund, sondern wie bei enkaustischen Gemälden mit feurigem Stift.51 Nach dem graduell 46  Lessing, Laokoon, S. 113f. (Hervorhebungen C. B.). 47  Vgl. ebd.: »was wir […] nennen, nannten die Alten« und »was wir […] heißen, hieß bei ihnen«. 48  Vgl. zur enargeia, der Figur des Vor-Augen-stellens: Campe, Rüdiger: »Vor Augen stellen. Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung«, in: Neumann, Gerhard (Hg.): Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft, Stuttgart/Weimar 1997, S. 208–225. 49  Vgl. Aristoteles: Rhetorik, in: ders.: Werke in deutscher Übersetzung, 4. Bd. 1. Teil, hg.v. Hellmut Flashar, übers.v. Christof Rapp, Berlin 2002, Buch III, 1403b–1420b, insb. 1411b–1413b, S. 129–165. 50  Vgl. Quintilianus, Marcus Fabius: Institutio oratoria. Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, hg.v. Helmut Rahn, Darmstadt 1988, Buch VIII, Kapitel III, S. 61–70. 51  Nach der deutschen Übersetzung paraphrasiert: Plutarch: Dialog über die Liebe. Amatorius, hg.v. Herwig Görgemanns u.a., Tübingen 2006, S. 83: »Dichterische Vorstellungsbilder sind, wie jemand wegen ihrer Anschaulichkeit gesagt hat, ›Träume von Wachenden‹. Das trifft noch mehr auf die Vorstellung der Verliebten zu: sie sprechen wie mit einem Anwesenden […]. Das Auge malt sonst Vorstellungsbilder

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unterschiedenen Vergleich zwischen poetischer Vorstellung und derjenigen des Liebenden folgt die graduelle Abstimmung zwischen Fresko-Technik und dem Wachsdruck der Enkaustik. Die Täuschung (enargeia) der Dichtung wird in einen metaphorischen Zusammenhang gebracht, der gerade die ausgeklammerte Malerei wieder ins Feld führt. So schöpft die Zweideutigkeit des Begriffs ›poetisches Gemälde‹ aus einem älteren Kontext: Das im Laufe der Rezeption als Zweideutigkeit zutage tretende Missverständnis nimmt seinen Ausgang in der Verkürzung des Vergleichsmoments zwischen Malerei und Dichtung. Statt der in Graden beschriebenen und umständlichen Bezugnahme zwischen den Künsten ist in den »neuern Lehrbücher[n] der Dichtkunst«52 dieser graduelle Übergang ignoriert, die Künste sind im Ausdruck ›poetisches Gemälde‹ in wortwörtliche Nachbarschaft gerückt und so in eine schnelle Substitution zu schlagen. Die Fußnote zeigt, dass das ›poetische Gemälde‹ nicht nur die auf die Dichtung bezogene poetische Fantasie ist; sie birgt den Verweis darauf, dass das Vergleichsmoment zwischen Malerei und Dichtung in einer graduellen Übergängigkeit in Bezug auf die Wirkpotenzialität der Dichtung genuin ist: Die Metapher der Malerei für die Dichtung ist die allegorische Konkretisierung für das auf einer metaphorischen Struktur (translatio) beruhende Wirkpotenzial der Dichtung. Dieser Anfang oder Grund ist durch verkürzende Übersetzungsprozesse – und Lessing lässt eben einen solchen über den freigelegten Grund laufen: »was wir poetische Gemälde nennen, nannten die Alten Phantasieen«53 – verstellt.   In seiner begriffshistorischen Aufklärung reiht Lessing ähnliche Begriffe nebeneinander und lässt die Synonyme in eine einzige Bedeutung münden: »poetische Gemälde«, »poetische Phantasie«, »Träume der Wachenden« (und deren implizite Effekt-Momente »Illusion«, »Täuschung« und »Enargie«)54 bezeichnen alle die Wirkungspotenzialität der Dichtung. Markanterweise haben die verschiedenen Wörter laut Lessing nicht nur Ähnlichkeit in Bezug auf ihre Bedeutung, sondern ihre Bedeutung sei gleich – »poetische Gemälde […] nannten die Alten Phantasieen«.55 In der Nennung der Synonyme und der Behauptung ihrer identischen Bedeutung über verschiedene Zeiträume und Kontexte hin-

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gewissermaßen auf feuchtem Grund; sie verblassen schnell und lassen nur den abstrakten Gedanken übrig. Die Bilder von geliebten Menschen werden dagegen vom Auge wie bei enkaustischen Gemälden mit feurigem Stift gezeichnet, und sie hinterlassen im Gedächtnis Gestalten, die sich bewegen, leben und sprechen und dauernd anwesend bleiben.« Lessing, Laokoon, S. 114. Ebd. Alle Zitate ebd. Ebd.

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weg56 wiederholt und tradiert die Aufklärung des Begriffs auf rein sprachlicher Ebene eine ›magische‹, literalisierende Operation. Die syntaktisch erzeugte Verkettung verschiedener Wörter mit ähnlicher Bedeutung aktualisiert eine gemeinsame Bedeutung, genauer: Ein gemeinsamer Aspekt ihrer Bedeutung verschiebt sich in Ausblendung der historischen und kontextuellen Differenzialität in eine gemeinsame allgemeine Bedeutung und legt sich als diese fest. Was in der Logik der Renaissance die faktische Übertragungsmöglichkeit zwischen Dingen und Worten betraf, betrifft nun die Wörter in Bezug auf ihre Bedeutung. Der literale Bezug zwischen Welt und Wort rückt bei Lessing in die Sprache. Es wird nicht nur die Arbitrarität des sprachlichen Zeichens und die Möglichkeit der Synonyme gezeigt: Lessing scheint die Operation, die zur Arbitrarität des Zeichens führen wird, durch die Textstruktur und im Flusse der Argumentation nachzuvollziehen. So gesehen reflektiert Lessing – in der Verschiebung vom direkten Wirklichkeitsbezug der Sprache hin zur Bedeutungsproduktion der (selbst-) referenziellen Sprache – den Wechsel vom metonymischen Muster des Wirklichkeitsverständnisses in ein metaphorisches Paradigma. Diese Reflexion findet aber statt, indem er selbst in Form einer verkürzten Verkettung, gleichsam metonymisch und der eigenen Poetik entsprechend (›ein Zug für ein Ding‹, das hier zu ›einem zitierten Wort für eine Theorie‹ wird), über die metaphorische Struktur der Bezugnahme und Anziehungskraft des Ähnlichen klirrt: und mit den Mitteln der Metonymie den Durchbruch zum metaphorischen Paradigma realisiert, während das genuine metaphorische Grundprinzip verdeckt bleibt. Die Begriffsaufklärung legt die Struktur frei, die die Be-/Deutung ermöglicht – sie gleichzeitig (da sie in ihrer Festschreibung per se die Missdeutung der Analogie und Lebendigkeit sein wird) ab/schafft –, und zeigt sich selbst als in dieser Struktur agierend und darin befangen.

Gegenläufigkeit Lessing zielt auf ein aufgeklärtes Bewusstsein, das im Gegensatz zum »magischkosmogonischen Denken«57 wisse, dass die Metaphern und Übertragungen nur 56  Plutarchs Erotikos wird im 1. Jahrhundert n.Chr. verfasst, Longinus’ De Sublime erscheint wahrscheinlich im selben Jahrhundert. Lessing muss als Plutarch-Ausgabe von Henricus Stephanus diejenige mit dem ersten Druckbild von 1572 der bis heute nur fragmentarisch rekonstruierten Schrift vorgelegen haben. Von dem Erotikos/Amatorius sind heute nur noch zwei Handschriften überliefert, die aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts und von 1430 stammen. Vgl. Görgemanns, Herwig: »Einführung«, in: Plutarch: Dialog über die Liebe. Amatorius, hg.v. Herwig Görgemanns u.a., Tübingen 2006, S. 3–38, S. 35ff. Beide antiken Autoren werden in der Renaissance wiederentdeckt und gedruckt und im 18. Jahrhundert rezipiert. 57  Eggs, »Metapher«, Sp. 1123.

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»Formen der an Sprache gebundenen begrifflichen Repräsentierung sind«,58 weil es die Arbitrarität des Zeichens und damit die Differenz zwischen Wort und Ding anerkennt. Gleichzeitig zieht er in Form seiner aufklärenden Schreibpraxis das ›Unwissen‹ der Renaissance ein. Was zu Nicht-Wissen bzw. »halbwahre[n] Regeln«59 degradiert zu sein scheint, ist das Vehikel der Aufklärung: Lessing übersetzt das Konzept des magischen Wirklichkeitsbezugs in die Sprache der Repräsentation. Seine Aufklärung überführt also nicht einfach ein falsches Wirklichkeitsverständnis, sondern besteht in der Kenntlichmachung einer dialektischen Struktur der Aufklärung, nach der sich nämliche ›Magie‹ im Zuge ihrer kritischen Klärung wieder rückseitig einschreibt. Über den Umweg seines mehrschichtigen Argumentationsverfahrens setzt Lessing so Sprache und Wirklichkeit in eine implikative Relation zueinander und etabliert den Wirklichkeitswert der (repräsentativen) Sprache. Die Kritik an der Literalität wird zur Kritik der Literalität: Den literalen Bezug des Worts zur Wirklichkeit und damit in seiner Wirkung auf die Wirklichkeit entwickelt Lessing weiter zu einer differenziellen Beziehung zwischen Wort und Wirklichkeit, indem die Wirksamkeit als Bedeutung bzw. Bedeutungsfestschreibung in die und als Performativität der Sprache im aufklärenden Redefluss wieder eingeholt wird. Vom genommenen Umweg der Renaissance-Kritik aus gesehen, charakterisiert die Fußnote zum poetischen Gemälde dessen Wirkkraft nicht nur als ›Zwischeneffekt‹, sondern detaillierter als aus dem bedeutungsgenerierenden Potenzial der Sprache schöpfend. So gesehen steht in Lessings aufklärendem Verfahren weniger eine historische Begriffsklärung oder eine historische Verortung,60 sondern viel58  Ebd. 59  Lessing, Laokoon, S. 114. 60  Vgl. zum Geschichtsbild und Zeitbegriff Lessings: Jacobs, Carol: »The Critical Performance of Lessing’s Laokoon«, in: MLN  102/3 (1987), S.  483–521, der Aufsatz ist unter einem anderen (sprechenden) Titel noch einmal veröffentlicht: »Fictional Histories. Lessings Laocoön«, in: dies.: Telling Time. LéviStrauss, Ford, Lessing, Benjamin, de Man, Wordsworth, Rilke, Baltimore/London 1993, S. 95–127. Das Geschichtsbild Lessings lässt sich durch den so zentral inszenierten Konflikt des Entstehungsdatums der Laokoon-Skulptur schnell als chronologisch ausgerichtet verdächtigen, aber genau in Bezug auf die Auseinandersetzung mit Johann Joachim Winckelmann (und dessen Geschichte der Kunst des Alterthums von 1764) spielt Lessing mit einer zentralen chronologischen Fiktion und beginnt das Kapitel XXVI mit: »Des Herrn Winckelmanns Geschichte der Kunst des Altertums, ist erschienen. Ich wage keinen Schritt weiter, ohne dieses Werk gelesen zu haben«, denn erst »wo so ein Mann die Fackel der Geschichte vorträgt, kann die Speculation kühnlich nachtreten«, behauptet Lessing ironisch nach knapp 150 Seiten getaner Spekulationsarbeit. Lessing, Laokoon, S. 183. Die Frage nach Chronologie und Geschichte weitet sich aus zur Frage nach Original und Kopie, Nachahmung, Wiederholung und Erfindung, die quer zu einer einfachen Chronologie stehen. Die Ironie ist nicht nur rhetorischer Tropus, sie wird zur Figur: vgl. Haverkamp, Anselm: »Allegorie«, in: Barck, Karlheinz (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, 1. Bd., Stuttgart/Weimar 2000, S. 49-104, S. 58f.; ders.: »Latenz und Repräsentation. Die Figur im Verborgenen«, in: ders.: Figura cryptica.Theorie der literarischen Latenz, Frank-

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mehr deren Versprachlichung auf dem Spiel: Die Verfassung von Geschichte als Diskurs produziert sich im Zusammenspiel von metonymischer Struktur und metaphorischer Grundlage. Das Potenzial der Sprache macht Lessing im Fließtext kaum explizit, doch markiert er die Quelle dieser generativen ›Kraft‹61 in der »Zweideutigkeit des Wortes«.62 In der Ankündigung als ›zweideutig‹ findet nämlich das poetische Gemälde, dessen Bedeutung soeben vom materiellen abgesetzt und gleichzeitig als ›poetische Phantasie‹ und dichtungsspezifische Wirkung festgeschrieben wurde, die zusätzliche Markierung eines flexiblen und generativen Moments. Es umfasst die beiden Interpretationen – das literale misreading und die vage Wirkungsbeschreibung – und verführt zum Missverständnis, wenn es nicht im Rahmen der ästhetischen Wirkung begriffen wird. Zusätzlich aber begründet (und bezeichnet) die »Zweideutigkeit des Worts« die Verführung der ›poetischen Phantasie‹ selbst, die »uns dem Grade der Illusion näher bringt«,63 in Richtung Illusion (ver-)führt. Der zweideutige literaturkritische Begriff64 des ›poetischen Gemäldes‹ bestimmt und zeigt das poetische Wort als ambigues. Die ›Zweideutigkeit‹ ist also gedoppelt: Der kritische Begriff lässt die Qualität des poetischen Worts nachvollziehen.65 Er ahmt die Wirkungsstruktur der Poesie nach, anstatt sie zu interpretieren oder sie allzu klar zu definieren. Die Kraft schließlich, die in der Ambiguität des poetischen Worts dessen Polysemie bereithält, bereitet Lessing offensichtlich in der so provozierten potenziellen Vieldeutigkeit, gerade aber in der potenziellen Fehldeutbarkeit ein gewisses Vergnügen: Denn er würde »lächeln«, wie er schreibt, wenn er Homers Beschreibung des Machtsymbols – das Zepter Agamemnons – von »den alten Auslegern […] als die vollkommenste Allegorie von dem Ursprunge, dem Fortgange, der Befestigung und endlichen Beerbfolgung der königlichen Gewalt unter den Menschen«66 gedeutet läse. Er »würde lächeln, […] würde aber dem ohngeachtet in [s]einer Achtung für den Dichter bestärket werden, dem man

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furt a.M. 2002, S. 7–19, insb. S. 14f. sowie ders.: »Figura cryptica. Die Dekonstruktion der Rhetorik«, in: ebd., S. 23–43, insb. S. 28ff. Zur Genealogie des Begriffs ›Kraft‹ in der Ästhetik vgl. Menke, Christoph: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt a.M. 2008. Menke verortet die Kraft gerade nicht in rhetorischen bzw. sprachlichen Strukturen, sondern versucht, sie von philosophisch-ästhetischer Seite zu rekonstruieren, vermutet deshalb in der rhetorischen Figur den Effekt der Kraft und nicht andersherum. Vgl. ebd., S. 14, Fußnote 83. Im Laufe seiner eigenen Argumentation relativiert er meines Erachtens aber diese Wirkungsfolge, indem er die wechselseitigen Wirkungsstrukturen hervorhebt. Vgl. ebd., S. 52f. Lessing, Laokoon, S. 113. Ebd. Gemeint ist der literaturkritische Begriff im Sinne der Meta-Sprache über Poesie. In diesem Sinne des kritischen Vollzugs ist der Kritikbegriff bei Lessing weiter zu überdenken; vgl. dazu Jacobs, »The Critical Performance«. Lessing, Laokoon, S. 120.

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so vieles leihen kann«.67 Die kritische Sprache Lessings, wie er sie im Laokoon vollzieht, bekommt einen ähnlichen Status wie die poetische Homers. Fast scheint es, als ob Lessing » at this point [seeks] to describe the source of its own authority and production, the muse of its own commentary«,68 wie Carol Jacobs zusammenfasst.69   Lessings vielschichtiges Argumentationsverfahren bei der Aufklärung des poetischen Gemäldes – das sich allmählich als bloßer Funktionsträger enthüllt und als solcher stumm und undeutbar durch die Sprache geistert – spannt den Bedeutungshorizont des »Kunstrichters«70 auf, indem es schon auch darin agiert.71 Insofern eröffnet Lessing ein Paradigma, und seine animierende Poetik zeigt sich im Laokoon als Literaturkritik, die nach dem Ästhetischen fragt. Dieses Ästhetische wird nicht als Aussage verdeutlicht, sondern als eine generische Struktur gezeichnet, die immer wieder eine Illusion und Be-/Deutung produziert und animiert, diese ebenso festzuschreiben erlaubt, wie sie sie gleichzeitig verschiebt und entzieht. Insofern ist sie selbst als ›Struktur der Re-Animation‹ zu bezeichnen. Um wiederum diese ›Struktur der Re-Animation‹ ansichtig zu machen, ist Lessings Vorgehen re-animierend: Er selbst tötet und rettet gleichermaßen, verschiebt sprachliche und poetische Konzepte, ohne die Vorgängerversion oder die ›falsche‹ Lesart vollständig auszuklammern. Er hält das historisch überholte und so zurückgewiesene Sprachkonzept im Hintergrund verborgen, verschiebt es in den Untergrund der Fußnote, während er die Eindeutigkeit eines Begriffs im Vordergrund fingiert.

67  Ebd., S. 121. 68  Jacobs, »The Critical Performance«, S. 521. 69  Allerdings kommentiert Jacobs hier nicht Lessings Laokoon, sondern sich selbst und ihre eigene literaturkritische Arbeit, das Lesen des Laokoon. 70  Lessing, Laokoon, S. 13. 71  Vgl. Wellbery, »Gesetz der Schönheit«, S. 175–180. Wellbery beschreibt Lessing mit Martin Heidegger als im Paradigma des Bildes agierend. Das Paradigma sei genau das, das nicht zu fassen ist, während alle Diskursivität und der Bedeutungs- und Fragehorizont sich nach ihm ausrichteten und das Wissen sich in ihm verorte.

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Abbildungsverzeichnis Ulrike Hanstein / Anika Höppner / Jana Mangold: Abb. 1: Oscar Muñoz, Aliento, 1996–2002, Grease photoserigraph on steel disks, Diameter: 20.2 cm each, Daros Latinamerica Collection, Zürich, © the artist, Photo: © Thierry Bal, mit freundlicher Genehmigung von Iniva ­– Institute of International Arts, London. Isabel Kranz: Abb. 1: Werbeplakat des Verlags Gonet für Les Fleurs animées, © Bibliothèque Nationale de France. Abb. 2: Grandville: »Tulipe«, aus: Grandville, Jean-Ignace-Isidore de; Karr, Alphonse; Délord, Taxile; Raban, Louis-François: Les Fleurs animées, 2 Bde., Paris 1847, o.S. Abb. 3: Grandville: Frontispiz, aus: Grandville, Jean-Ignace-Isidore de; Karr, Alphonse; Délord, Taxile; Raban, Louis-François: Les Fleurs animées, 2 Bde., Paris 1847. Abb. 4: Moderne Treibhauspflanzen, in: Fliegende Blätter 1 (1845), S. 46, © Universitätsbibliothek Heidelberg. Stephan Gregory: Abb. 1: Ausschnitt einer Textseite, aus: Gleim, Johann Karl: Das Geschrey zur Mitternacht, o.O. 1715, S. 1, © Württembergische Landesbibliothek. Friederike Thielmann: Abb. 1: Marijs Boulogne: Excavations.The Anatomy Lesson, © Giannina Urmeneta Ottiker. Abb. 2: Marijs Boulogne: Excavations.The Anatomy Lesson, © Giannina Urmeneta Ottiker. Abb. 3: Titelbild, aus: Vesalius, Andreas: De humani corporis fabrica libri septem, Basel 1555, © Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena. Abb. 4: Autorenporträt, aus: Vesalius, Andreas: De humani corporis fabrica libri septem, Basel 1555, o.S., © Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena. Abb. 5: Septima Musculorum Tabula, aus: Vesalius, Andreas: De humani corporis fabrica libri septem, Basel 1555, S. 230,© Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena.

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Anne Fleckstein: Abb. 1: Photo: © Anne Fleckstein. Abb. 2: Photo: © Anne Fleckstein. Abb. 3: Photo: © Anne Fleckstein. Alf Lüdtke: Abb. 1: Der Ohrmuschelabstand und Die Grundformen der Ohrmuscheln, aus: Prietz, Gerhard; Baranowski, Kurt: Bezeichne, beschreibe richtig Personen, Berlin 1970, S. 73, Abb. 10.2. Abb. 2: »Grundanforderungen für Mitarbeiter der Passkontrolle«, © Peter Bochmann Archive, Collection of The Wende Museum and Archive of the Cold War, 2010. Abb. 3: »Grundlagen der Personenidentifizierung im grenzüberschreitenden Verkehr«, © Peter Bochmann Archive, Collection of The Wende Museum and Archive of the Cold War, 2010. Abb. 4: »Das identifizierende Objekt, das Lichtbild, ist beim Identitätsvergleich die entscheidende Vergleichsgrundlage«, © Peter Bochmann Archive, Collection of The Wende Museum and Archive of the Cold War, 2010. Abb. 5: »Geometrische Identifikation«, aus: Gross, Hans; Höpler, Erwein: Handbuch für Untersuchungsrichter als System der Kriminalistik, 1. Teil, München/Berlin/Leipzig 1922, S. 358. Abb. 6: Formen der Ohrmuschel, aus: Schneickert, Hans: Signalementslehre. Lehrbuch der Personenbeschreibung und -feststellung für den Polizeiunterricht, den Erkennungs- und Fahndungsdienst, München/Berlin/Leipzig 1937, Tafel III. Abb. 7: »Die Ohrmuschel«, © Peter Bochmann Archive, Collection of The Wende Museum and Archive of the Cold War, 2010. Abb. 8: »Anlage: Augenstellung/langgezogene Augenlider, bedeckte Augenlider, schwarze Haare, Merkmale des Gesichts, Ohr, etc.«, © Peter Bochmann Archive, Collection of The Wende Museum and Archive of the Cold War, 2010. Kalani Michell: Abb. 1: Haegue Yang: Quasi MB – in the middle of its story, Detailansicht, 18 Tafeln, originales Schriftstück, Photographie, Text, gerahmt 37×52 cm, 2006/07, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin und Sammlung Dohmen, Aachen, Photo: © Roman März. Abb. 2: Amy Amelia Jones: La Pluie (Projet pour un texte), Standbild, Video, schwarz-weiß, 3 Min., 2006, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin, University College Falmouth und Dartington College of Arts. 380

Abb. 3: Masahide Otani: Bureau Belge, Standbild, DVD, 3:28 Min., Farbe, PAL, 2008, mit freundlicher Genehmigung der Galerie Cortex Athletico, Bordeaux. Abb. 4: Olivier Foulon: Ohne Titel (Painting Beside Itself), Detailansicht, Installation aus Vitrinen, Leuchttisch und Wand, 2010, aus: Staatsgalerie moderner Kunst; Haus der Kunst (Hg.): Blinky Palermo 1964–1976, München 1980, S. 63. Abb. 5 und 6: Amy Amelia Jones: La Pluie (Projet pour un texte), Standbilder, Video, schwarz-weiß, 3 Min., 2006, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin, University College Falmouth und Dartington College of Arts. Abb. 7: Masahide Otani: Bureau Belge, Standbild, DVD, 3:28 Min., Farbe, PAL, 2008, mit freundlicher Genehmigung der Galerie Cortex Athletico, Bordeaux. Abb. 8: Olivier Foulon: Ohne Titel (Painting Beside Itself), Detailansicht des Diastreifens, Installation aus Vitrinen, Leuchttisch und Wand, 2010, mit freundlicher Genehmigung des Kunstvereins für die Rheinlande und Westfalen. Abb. 9: Olivier Foulon: Ohne Titel (Painting Beside Itself), Detailansicht des Leuchttisches, Installation aus Vitrinen, Leuchttisch und Wand, 2010, mit freundlicher Genehmigung des Kunstvereins für die Rheinlande und Westfalen. Abb. 10: Gilissen, Maria: »Blinky Palermo, Oda and Franz Dahlem on the location of La Pluie«, Photo aus: Borja-Villel, Manuel J.; Compton, Michael; Gilissen, Maria (Hg.): Marcel Broodthaers. Cinéma, Barcelona 1997, S. 88. Abb. 11: Gilissen, Maria. »The location of La Pluie«, Photo aus: Borja-Villel u.a. (Hg.): Marcel Broodthaers. Cinéma, Barcelona 1997, S. 88. Abb. 12: Marcel Broodthaers: La Pluie (Projet pour un texte), Standbilder aus: Borja-Villel u.a. (Hg.): Marcel Broodthaers. Cinéma, Barcelona 1997, S. 89. Abb. 13: Marcel Broodthaers: La Pluie (Projet pour un texte), Standbilder aus: Borja-Villel u.a. (Hg.): Marcel Broodthaers. Cinéma, Barcelona 1997, S. 90. Abb. 14: Haegue Yang: Quasi MB – in the middle of its story, Installationsansicht (Ausstellung: 29.09.2009–28.04.2010), Marcel Broodthaers’ La Pluie (Projet pour un texte) (1969), als Loop projiziert, 18 Tafeln, originales Schriftstück, Photographie, Text, gerahmt 37×52 cm, 2006/2007, mit freundlicher Genehmigung des Walker Art Center, Minneapolis. Abb. 15 und 16: Haegue Yang: Quasi MB – in the middle of its story, Detailansichten, 18 Tafeln, originales Schriftstück, Photographie, Text, gerahmt 37×52 cm, 2006/2007, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin und Sammlung Dohmen, Aachen, Photo: © Roman März. Abb. 17: Haegue Yang: Quasi MB – in the middle of its story, Installationsansicht (Ausstellung: 29.09.2009–28.04.2010), 18 Tafeln, originales Schriftstück, Photographie, Text, gerahmt 37×52 cm, 2006/2007, mit freundlicher Genehmigung des Walker Art Center, Minneapolis. 381

Caspar Clemens Mierau: Abb. 1: Photo: © Computerspielemuseum, Jörg Metzner. Abb. 2: Photo: © Computerspielemuseum, Jörg Metzner. Abb. 3: Quelltext mit Registern aus: http://www.bitsavers.org/pdf/ ibm/360/1401_emulator/ 360D-11.1.019_1401simCorr_Sep69.pdf, S. 2, 22.02.2012. Eike Wittrock: Abb. 1: »Peinture Antique découverte à Herculanum et conservée dans le Museeum de Portici«, aus: Saint-Non, Jean-Claude-Richard de: Voyage pittoresque ou Description des royaumes de Naples et de Sicile, 1. Bd. 2. Teil, Paris 1782, Tafel 55, S. 22a, © Universitätsbibliothek Heidelberg. Abb. 2: »Tänzerinnen, Neapel, aus Pompeji, sog. ›Villa des Cicero‹«, aus: Herrmann, Paul: Denkmäler der Kunst des Altertums, München 1904–1931, Serie I, Tafel 90. Abb. 3: »Wand aus der ›Villa des Cicero‹. Pompeji, Wiederherstellung durch P. Herrmann«, aus: Curtius, Ludwig: Die Wandmalerei Pompejis. Eine Einführung in ihr Verständnis, Leipzig 1929, S. 407. Abb. 4: Carlo Blasis: »Principal group of a Bacchanalia, composed by the author«, aus: Blasis, Carlo: The Code of Terpsichore (1828), London 1976, Tafel XIVa, Nr. 5.

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Dank Die Idee zu diesem Band und ein Großteil der Beiträge gehen zurück auf die Tagung Re-Animationen, die im Februar 2011 am Graduiertenkolleg »Mediale Historiographien« der Universitäten Erfurt, Jena und Weimar stattfand. Im Namen des Graduiertenkollegs danken wir allen Referent_innen und allen Tagungsbesucher_innen für die anregenden Diskussionsbeiträge, allen an der Organisation und Konzeption Beteiligten sowie allen Autor_innen. Für die Mittel zur Vorbereitung und Durchführung der Tagung sowie der Publikation danken wir der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Ermöglicht wurde unsere Zusammenarbeit durch Stipendien der Graduiertenschule »Religion in Modernisierungsprozessen« der Universität Erfurt und der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Für die umsichtige, geduldige und engagierte Zusammenarbeit bei der Vorbereitung der Veröffentlichung danken wir sehr herzlich Barbara Filser (Übersetzung der englischsprachigen Beiträge), Christina Hünsche (Korrektorat) und Stefan Petermann (Gestaltung und Satz). Dem Böhlau-Verlag danken wir für das Interesse am Projekt und die Aufnahme in das Verlagsprogramm. Insbesondere möchten wir Julia Beenken und Harald Liehr für die aufmerksame Begleitung der Veröffentlichung unseren Dank aussprechen. Für das freundliche Einverständnis zur Verwendung von Photographien der Arbeit Aliento sowie die Bereitstellung der Abbildungen für den Buchumschlag und die Einleitung danken wir sehr herzlich Oscar Muñoz, Thierry Bal, Miriam Mahler (Daros Latinamerica Collection, Zürich) und Helen Idle (iniva – Institute of International Visual Arts, London). Weimar, im Frühjahr 2012 Ulrike Hanstein, Anika Höppner, Jana Mangold

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Bernhard Pelzl

Die vermittelte Welt Elemente für eine Medientheorie

Es gehört zu jedermanns Erfahrung, dass Ereignisse von verschiedenen Menschen unterschiedlich wahrgenommen und widersprüchlich wiedergegeben werden – und auch, welche Folgen sich in Beziehungen daraus ergeben: etwa Vorwürfe, dass jemand manipuliere, weil er mit einer bestimmten Darstellung ein bestimmtes Interesse verfolge. Das Buch beschäftigt sich mit den Erklärungen, wie es zu unterschiedlichen Wahrnehmungen und Wiedergaben kommt, und wie man damit umgehen kann. 2011. 326 S. Gb. 135 x 210 mm. ISBN 978-3-205-78666-5

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