Rationalisierung durch Kollektivierung: Die Überwindung des Gefangenendilemmas als Code moderner Staatlichkeit [1 ed.] 9783428534753, 9783428134755

Warum wirkt Staat? Um diese Frage zu beantworten, ist das der Ökonomie entlehnte Paradigma des Gefangenendilemmas leiten

141 73 3MB

German Pages 580 Year 2011

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Rationalisierung durch Kollektivierung: Die Überwindung des Gefangenendilemmas als Code moderner Staatlichkeit [1 ed.]
 9783428534753, 9783428134755

Citation preview

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 167

Rationalisierung durch Kollektivierung Die Überwindung des Gefangenendilemmas als Code moderner Staatlichkeit Von Daniel Hildebrand

Duncker & Humblot · Berlin

DANIEL HILDEBRAND

Rationalisierung durch Kollektivierung

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 167

Rationalisierung durch Kollektivierung Die Überwindung des Gefangenendilemmas als Code moderner Staatlichkeit

Von Daniel Hildebrand

Duncker & Humblot · Berlin

Die Fakultät für Staats- und Sozialwissenschaften der Universität der Bundeswehr München hat diese Arbeit im Jahre 2009 als Habilitationsschrift angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2011 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 978-3-428-13475-5 (Print) ISBN 978-3-428-53475-3 (E-Book) ISBN 978-3-428-83475-4 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Manfred Funke (1939–2010)

„Die Epoche der Staatlichkeit geht jetzt zu Ende. Darüber ist kein Wort mehr zu verlieren.“ Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Vorwort S.10, Berlin 1963 [EA 1932]

Vorwort Solcher Art Einführungen wie diese sind mittlerweile fast traditionell Ort kulturkritischer Lamenti und wissenschaftspolitischer Suadae. Wenn diesem fragwürdigen Brauch hier nicht gefolgt wird, so entspringt dies nicht allein der Eitelkeit des Autors, Originalität um jeden Preis zu erstreben. Nein, vielmehr ist es um die tatsächliche Freiheit der Wissenschaft und der sie bis auf die Gegenwart bergenden Institutionen, zuvörderst Humboldts Universität, katastrophal bestellt: Das wissen wir alle. Umso erstaunlicher und ermutigender ist es indes, dass jenes todgeweihte Humboldtsche Ideal offensichtlich nicht zu töten ist. Die Fakultät für Staats- und Sozialwissenschaften der Universität der Bundeswehr in München prämierte meine Möglichkeit, einmal ein Buch inhaltlich und formal so zu schreiben, wie ich es wirklich von Herzen schreiben wollte, mit der Auszeichnung, sich damit habilitieren zu dürfen. Dafür bin ich dankbar. Das im Dezember 2008 eingereichte Manuskript wurde im Februar 2009 zum Habilitationsverfahren zugelassen. Am 3. März 2010 wurde erfolgreich das Habilitationskolloquium abgehalten. Ich danke namentlich den Herren Professoren Masala, Weiß und Oberreuter, die die Gutachten erstellt haben, sowie der Dekanin Frau Professor Münch herzlich. Nicht versäumen möchte ich, auch für die wohlwollende Anteilnahme der an meiner Arbeitsstätte, dem Mainzer Institut für Europäische Geschichte, beheimateten Kollegen zu danken. Bedenke ich zudem die zahlreichen weiteren Personen, die hier nicht zu nennen meine unvermeidliche Unterlassungssünde ausmacht, dann zeigt sich auf einmal, dass sich ein weiteres Ideal des Forscherlebens als Vogel Phönix erweist: Die Gelehrtenrepublik lebt! Schließlich freut es mich, dass der Verlag Duncker & Humblot unter der Ägide von Herrn Dr. Florian Simon stehend das Manuskript, das hier in leicht veränderter Form abgedruckt wird, in Verlag zu nehmen bereit war. Vor allem hat mich jedoch über all die Jahre, die das Unternehmen dieses Buches in Anspruch nahm, wie aber auch schon zuvor ein Mann begleitet, der mich auch in dunkelsten Stunden aufgerichtet hat. Da er, was zu vieler Menschen Trauer gereichte, kürzlich in für unsere Verhältnisse eher jungen Jahren verstorben ist, sei ihm dieses Buch gewidmet: Manfred Funke. Mainz, im Dezember 2010

Daniel Hildebrand

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Fragestellung, Forschungsstand und Methode: Die conditio humana zwischen Eigeninitiative und Gefangenendilemma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Hypothesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Methode als Definiens des Erkenntnisgegenstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Methode als Gliederungsprinzip und Organisation des Erkenntnisvorgangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Methode als Auswahl der Erkenntnismittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verflochtenheit der methodischen Kategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Anzeige und Bewältigung eines definitorischen Desiderates: Staatstätigkeit und öffentliche Güter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19 19 31 35 35 36 40 46 49

Prolog: Vormoderne Staatlichkeit als Modus rationaler Daseinsbewältigung . . 54 I. Vom Stamm zur Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 1. Das Paradigma Athen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 2. Demokratie als Steuerungsmodus: Regieren oder Kontrollieren? . . . . . . 69 II. Antike Staatlichkeit und Demokratie nach der athenischen Pentekontaëtie 80 1. Rom: Auch ein Beginn der Weltgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 a) „Principes mortalis rem publicam aeternam esse“: Von der res publica zum principatus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 b) „Princeps legibus solutus“: Vom principatus zum dominates . . . . . . 90 2. Rom und die Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 III. Die Parabel von den zwei Schwertern: Geistliche und weltliche Herrschaft als konkurrierende Rationalisierungskräfte des Mittelalters? . . . . . . 96 IV. „Quod omnes tangit, ab omnibus approbari debet“: Konziliarismus und Republikanismus als spätmittelalterliche Partizipationsformen politischer Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

Erster Teil Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

103

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung: Allkompetenz und Allmacht des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 I. Staat als Mittel obrigkeitlicher Repression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 1. Der Territorialstaat: Territorialität als Konstituens des modernen Staates 139

12

Inhaltsverzeichnis

2.

3.

4.

5.

6.

a) Die Einheit des territorialen Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zentralisation als neuzeitliches Krisensymptom . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Territorialisierung und Regierbarkeit: Ein Modus zur Überwindung des Gefangenendilemmas? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Policey- zum Polizeistaat: Paradigma eines Begriffswandels? . . . a) Polizeistaat als liberalstaatliches Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Polizeistaat als Schutzstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der moderne Staat als Überwachungs- und Informationsstaat . . . . . . . . a) Regulierung als Überwachungsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Staat als informationeller Vorgang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Überwachung und Disziplinierung als Rationalisierung . . . . . . . . . . Fürstenstaat versus Ständestaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Entstehungsgründe: Absolutistischer Kontinent und englischer Sonderweg? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Entstehen von Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Fürstenstaat als Gesetzesstaat? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Der Fürstenstaat: Singularität oder Archetyp? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aspekte des Finanzstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Steuerstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Abgrenzungsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Gegenwärtige Staatsausdehnung durch heutige Formen von Steuerstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Steuerstaatlichkeit als historisches Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . dd) Ratio des modernen Steuerstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Rechtfertigung von Steuerstaatlichkeit: Theoretische Normen und historische Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Schuldenstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Unzutreffende Grundannahmen libertärer und ordoliberaler Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Relativierende historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Eigenmacht des Politischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Gebührenstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Mögliche Rationalisierungsvorteile von Gebühren gegenüber Steuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Gebühren und Kollektivgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Grenzen des Finanzstaates: „Omnia venalia esse“? . . . . . . . . . . . Der Militärstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Verhältnis von Krieg und Staatlichkeit als historische Phänomene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Binnenorganisierende Wirkung von Krieg und Landesverteidigung c) Wehrpflicht als gesellschaftlicher Veröffentlichungskatalysator . . . .

141 144 147 149 150 151 153 153 155 157 158 161 163 165 170 171 176 177 179 181 183 184 188 189 194 195 196 198 200 200 201 201 204 207

Inhaltsverzeichnis d) Der postnationale Militärstaat: Vom politischen Staatenkrieg zur staatlichen Polizeiaktion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Der Machtstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Eigenart und Definition, Funktionsweise und Logik von Staatsraison . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Dilemma der Sicherheitskräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Staatsraison und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Der Bismarckstaat – Idealtyp des modernen Machtstaates oder deutscher Sonderweg? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Staat als Mittel sozialer Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Nationalstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Verhältnis von Nation und Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Anthropologisch geleitete Erklärungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Nation als spiel- und entscheidungstheoretisches Problem . . . . bb) Emotionale Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Altruismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das Verhältnis von Staat und Nation im engeren Sinne . . . . . . . . . . . 2. Der Versorgungsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorsorgestaat (Präventionsstaat) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Gesellschaftsverändernde Auswirkungen vorsorgender Staatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Veröffentlichung von Gesellschaft durch vorsorgende Staatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Das deutsche Konzept der Daseinsvorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Verantwortung als Prinzip des Vorsorgestaates . . . . . . . . . . . . . . ee) Handlungsprohibitive Nebenwirkungen des Verantwortungsund Vorsorgeprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sozialstaat oder Wohlfahrtsstaat? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Das Problem der Armenfürsorge in der anonymen Massengesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Pareto-Prinzip und Gefangenendilemma . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Pareto-Prinzip und Sozialstaatsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Fürsorge – Menschliche Intuition oder Recht des Menschen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Ökonomisch manifeste Menschenbilder . . . . . . . . . . . . . bb) Sozialstaatlichkeit als Freiheitsgarant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Soziale Sicherheit als Kollektivgut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Sozialstaat und Rechtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Koordinierende Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Demokratiefördernde Wirkung von Sozialstaat? . . . . . . . . . . . . . c) Nachsorgender Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

208 210 214 216 216 218 220 224 225 227 228 229 230 231 237 238 239 241 242 244 246 247 249 250 252 253 254 255 256 257 258 259 263

14

Inhaltsverzeichnis

B. Die Zähmung potentieller Allmacht des Staates: Selbstbindung und Selbstbegrenzung des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Selbstbindung: Staat als Garant und Antagonist individueller Autonomie . . 1. Der Verfassungsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verfassungsstaat als Konsequenz des Vertragsdenkens . . . . . . . . . . . b) Die Bedeutung der Verfassung für eine pluralistische Gesellschaft . . 2. Der Rechtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtsstaat als bürgerliches Emanzipationsinstitut . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Dilemma des Rechtsstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rechtsstaat und Subsidiarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kulturstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die territoriale Organisation: Einheitsstaat oder Bundesstaat . . . . . . . . . II. Selbstbegrenzung: Staat als Organisator gesellschaftlicher Rationalisierung 1. Der Verteilerstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Umverteilung als Wert an sich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vorzüge staatlicher gegenüber marktlicher Umverteilung . . . . . . . . . c) Das Legitimationsproblem von Egalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Der arbiträre Verteilerstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Probleme der Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Unterscheidungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Schutzstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inkurs: Der Industrie-, Risiko- und Umweltstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Regulierungsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Gewährleistungsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

264 267 273 274 277 279 281 282 286 288 289 290 298 299 300 300 303 304 305 307 307 316 317

C. Pathologien des modernen Staates: Elitismus und Totalitarismus . . . . . . . . . . . . I. Demokratischer Elitismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Parteienstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gesellschaftliche Verstaatlichung durch Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gesamtnutzenoptimierung durch Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vom Ämter- zum Beamtenstaat: Eine schleichende Pathologie . . . . . . . a) Selbstverständnis des modernen Beamten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gefahren der Verselbstständigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Gegenwärtige Staatsskepsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Historische Ausprägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Partikulare Nutzengewinne aus Gesamtnutzenoptimierung . . . . . . . . 3. Der Justizstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Das Dilemma des Rechtsstaates und der Vergleich mit England II. Die totalitäre Versuchung moderner Staatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Arbeiter- und Bauernstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Führerstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

322 323 329 330 331 332 333 335 336 338 340 341 341 343 344 345

Inhaltsverzeichnis

15

a) Daseinsvorsorge als nationalsozialistisches Konzept? . . . . . . . . . . . . b) Spezifika nationalsozialistischen Totalitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Unvereinbarkeit von Führerprinzip und Staatlichkeitsprinzip . . . . . . d) Ökonomischer Terror statt Terror der Ökonomie? . . . . . . . . . . . . . . . . III. Gibt es einen Klassenstaat? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausgangslage der Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. „Das Zeitalter der Massen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtstaat als Formprinzip eines bürgerlichen Klassenstaates . . . . . . . . 4. Sozialer Rechtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Marxistische Unschärfe, bürgerliche Klassenherrschaft und moderne Gesellschaft zu unterscheiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Nachbürgerliche Gesellschaftshierarchisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

346 347 348 349 350 352 352 354 355 355 356 358

Zweiter Teil Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion A. Modifikation von Zwangsgewalt: Mehrheitsprinzip und Demokratie als legitimierende Rationalisierungskatalysatoren des modernen Staates . . . . . . . . . I. Hinweise auf Rationalisierung katalysierende Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zwangsgewalt bleibt Kennzeichen staatlicher Kollektivgütergewährleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Mehrheitsprinzip als Rationalisierungskatalysator? . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die pia fraus der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Funktionsweise der Katalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Grundprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Direkt ökonometrische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Argumente gegen die rationalisierungskatalytische Wirkung von Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Demokratie als eigener Wert? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Identische oder eigenständige Größe: Das Gemeinwohl in der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Staat und Staatlichkeit: Von allgemeiner Rationalisierungsfunktion zu spezifischem Rationalisierungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Gründe für Mehrheitsherrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Mehrheitsherrschaft und Demokratie I: Ein Herrschaftsprinzip und seine Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vertragsdenken als frühmoderne Rationalisierung bürgerlicher Gesellschaft: Die atlantischen Vertragsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Idee und Genesis moderner Volkssouveränität als Institut bürgerlicher Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Demokratie als gesellschaftliche Totalität und gesellschaftsformende Kraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

359

362 363 363 365 366 367 367 372 377 380 380 383 383 385 390 397 403

16

Inhaltsverzeichnis a) Identitäre Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Polyarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Demokratie als Partizipationsmodus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Das polare Gleichgewicht moderner Gesellschaft: Freiheit durch Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gleichheit als Voraussetzung für Mehrheitsherrschaft . . . . . . . . . . . . b) Schwinden oder Zunehmen sachverständiger Herrschaftsbegründung gegenüber demokratisch legitimierter Entscheidung? . . . . . . . 6. Das Problem der Minderheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Konkurrenz zweier Rationalisierungsfunktionen: Das Spannungsfeld von demokratischer Herrschaft und individueller Freiheit . . . . . b) Die existenzielle Systeminkonsequenz: Erforderlichwerden von Verfassungsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Formen von Mehrheitsherrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Mehrheitsherrschaft und Demokratie II: Konkurrenzdemokratie oder Konkordanzdemokratie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wahlen als technisches Institut zur Umsetzung von Demokratie: Mehrheits- oder Verhältniswahlsystem? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Bedeutung von Wahlen für Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Unmittelbare Rationalisierungswirkungen von Wahlen . . . . . . . b) Politik als technischer Prozess, kollektiv bindende Entscheidungen zu treffen: Konkurrenz- oder Konsensdemokratie? . . . . . . . . . . . . . . . aa) Politik und Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Das Ende der Politik als ewig wiederkehrender Gemeinplatz . . cc) Politik und Staatsausdehnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Politische Kultur als sozialtechnische Programmiertheit? . . . . . . . . . 2. Formale Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Verhältnis von Demokratie und Staat: Allgemeiner Teil . . . . . . aa) Entstehungsgeschichtlich bedingte Hierarchie: Vom Staat zu Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Inhaltliche Hierarchie: Zur Demokratie durch Staat . . . . . . . . . . b) Das Verhältnis von Demokratie und Öffentlichkeit: Öffentlichkeit als Funktionsprinzip von Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Gesellschaftliche Gesamtdemokratisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Veröffentlichung und Verstaatlichung: Kolonisation privater und intimer Lebenswelten durch das Politische . . . . . . . . . . . . . . (1) Staatliche Reaktion auf staatlich mitverursachte Probleme: Pathologie eines Kreislaufs der Staatsausdehnung . . . . . . . . (2) Die Kollektivierung individuellen Daseins: Freiheitsgewinn oder Freiheitskonversion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Psychische Wirkungen und soziale Folgen: Eigenverantwortung als notwendige Illusion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

404 407 407 421 427 429 435 443 444 447 447 448 451 452 456 456 458 459 460 464 465 467 469 471 475 481 482 484 486

Inhaltsverzeichnis

17

(4) Qualitativer Wandel von Gütern nichtfamilial erbrachter Bedürfnisbefriedigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486 (5) Durch Subsidiarität begünstigte Staatsausdehnung und Veröffentlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 cc) Schwindende Arbitrarität von Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 B. Publikation von Zwangsgewalt: Öffentlichkeit als allgemeiner Rationalisierungskatalysator des modernen Staates und als spezifisches Enzym demokratischer Willensbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Öffentliche Meinung als Indikator zwingender Gesetzmäßigkeiten: Das physiokratische Ideal der opinion publique . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Öffentliche Meinung als evolutionärer Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ablösung von Staat durch öffentliche Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Manipulatorisches Risiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gegenwärtiger Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Öffentliche Meinung und freie Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Wissenschaft als Konfliktarena und Wissenschaftsförmigkeit als Begründungsmodus politischer Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Paradigmenwechsel der Verwissenschaftlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wissenschaftliche Pluralität und relative Zweckfreiheit als Effizienzkatalysatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Informationsasymmetrie als Demokratieproblem und Politikinstrument . . 1. Suboptimalität durch Informationsasymmetrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Informationssymmetrie durch veröffentlichte Meinung . . . . . . . . . . . . . . 3. Öffentlichkeit und Geheimhaltung im demokratischen Rechtsstaat der Informationsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epilog: Postmoderne Gewährleistungsinstitutionen öffentlicher Kollektivgüter I. Öffentliche Institute in einer postnationalen Konstellation? . . . . . . . . . . . . . 1. Internationale Institutionen und Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Transnationale Dimensionen öffentlichen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Supranationale Institutionen und Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Öffentliche Güter in einer nachstaatlichen Gesellschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ideal und Konzept der „civil society“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Civil society als Operationalisierung von Subsidiarität . . . . . . . . . . . b) Civil society als historisches Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Nichtregierungsorganisationen („NGOs“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Religion als Gewährleistungsinstitut öffentlicher Kollektivgüter in der postkolonialen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

491 493 495 495 498 499 500 500 501 502 503 504 504 506 507 508 511 512 512 514 514 515 516 517 518

Schluss: Neun Thesen vom Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572

Einleitung I. Fragestellung, Forschungsstand und Methode: Die conditio humana zwischen Eigeninitiative und Gefangenendilemma „Wenn wir zuviel planen, wenn wir dem Staat zuviel Gewalt übertragen, dann geht die Freiheit verloren, und dies ist dann auch das Ende des Planens selbst“:1 Dieses als „Paradoxon staatlichen Planens“ bekannt gewordene Diktum Raimund Poppers beschreibt das Dilemma des Politischen in unserer Zeit. Staat wird nicht zuletzt auf die überschießende Planungseuphorie hin, wie sie die meisten westlichen Gesellschaften bis in die 1970er Jahre hinein ergriff, seitdem als gleichermaßen Freiheit einschränkender wie ineffizienter Modus menschlicher Koexistenz erachtet. Darüber wird nicht selten verkannt, dass der Staat auch im 21. Jahrhundert seine via triumphalis auf dem Ziel zu einer „verstaatlichten Welt“ weiterhin voranschreitet, auch wenn diese bisweilen eher wie eine „via dolorosa“ anmutet.2 Die Kritik an staatlicher Steuerung ist jedoch beinahe so alt wie der moderne Staat selbst. Schon Wilhelm von Humboldt stellte fest, dass individuelle Freiheit korrelativ zum Wachstum staatlicher Bürokratie abnehme.3 Obwohl in vielen westlichen Staaten die Staatsquote seit Jahren stagniert oder gar rückläufig ist, verbreitet sich weiterhin bei Betroffenen und Beobachtern, bei Generalisten und Spezialisten, bei Fachleuten und Laien der Eindruck, die Sphäre des Staatlichen dehne sich in dem Maße weiter aus4, als die Dysfunktionalität von Staatlichkeit zunehme. Dies findet nicht zuletzt darin seine Ursache, dass die Staatsquote, die ehedem von ungenauer Aussagekraft ist, sich als immer ungeeigneter erweist, das Maß der Staatsausdehnung zu begreifen: Staatsausdehnung vollzieht sich zuneh-

1

Popper 1992II, 152. „Verstaatlichung der Welt“: So lautet beispielsweise der Titel eines von Reinhard herausgegebenen Sammelbandes anlässlich eines Kolloquiums des Historischen Kollegs, München, Reinhard 1999. 3 Humboldt 2002, 30; 40; 47 f.; cf. Isensee 1968, 52 und Cassirer 1961, 329 f. Ein Beispiel aus der jüngsten Literatur: Florian Becker 2005, 1 ff. und passim. Bereits Aristoteles beschreibt mit der Gefahr einer nivellierenden Polis, Politeia 1261 und 1263b, den Mechanismus einer Eigeninitiative erstickenden Übersteuerung als Möglichkeit. 4 Maus 1994, 221 f. spricht gar von einer anhaltenden „Durchstaatlichung der Gesellschaft“; Ruge 2004, 31; Roth 2003, 27; 79. 2

20

Einleitung

mend diskreter.5 Der Staat verdichtet und wandelt seine Tätigkeit gleichermaßen in überkommenen Funktionen, wie er neue Funktionen übernimmt.6 Ausweitung von Staatstätigkeit wird mittlerweile als ein Konstituens von Modernisierung angesehen.7 Das „Steuerungsversagen“ der Gegenwart liege in der „abnehmenden Leistungsfähigkeit des traditionellen staatlichen Interventionsinstrumentariums“ begründet, „Probleme einer funktional differenzierten Gesellschaft“ zu lösen.8 Abgesänge auf den Staat verblühen zum locus communis, werden zum kulturkritischen Philosophem inflationiert: Selbst ein heute ungeachtet seiner Umstrittenheit mehr denn je zitierter Denker wie Carl Schmitt ist mit seiner im Jahre 1963 geäußerten Behauptung, „die Epoche der Staatlichkeit“ gehe „jetzt zu Ende“,9 eine Generation später in der Staatstheorie zum Topischen erstarrt10. Rüdiger Voigt zeigt, dass „Staatsfeindschaft“ bereits tief im Zwanzigsten Jahrhundert verwurzelt ist.11 Gleichsam eine Summe der Argumente gegenwärtiger Skepsis, die sich gegen die Möglichkeit staatlicher Steuerung sozialer Abläufe wendet, führt Josef Isensee an. „Internationalisierung der herkömmlichen Staatsaufgaben und Verflechtungen der Einzelstaaten, Sog zu supranationaler Integration, Bildung von Staatenblöcken und Großräumen; staatlich nicht steuerbare Migrations- und Flüchtlingsbewegungen; Ablösung von Staatsmacht durch Wirtschafts- und Medienmacht, durch technische Prozesse; Entstehung staatsfreier, unsteuerbarer Kommunikationsräume (Internet); Überwältigung des Staates durch Partikulargewalten, Anarchisierung der Gesellschaft und Affekt gegen Institutionen. Krankheiten zum Tode: Gemeinwohlinsuffizienz, Überfettung des Leviathan und Knochenerweichung.“ Aber auch ein mit dem Staat sympathisierender Skeptiker wie Isensee stellt dazu schließlich lakonisch fest: „Bisher hat die Wirklichkeit des Staates standgehalten.“ 12

Wie ist dieses vermeintliche Paradoxon von weitgehender Einhelligkeit in der Skepsis gegenüber dem Staat und einer dennoch weiter voranschreitenden Ausdehnung dieses Phänomens zu erklären? 5 Kirchhof 2004b, 17; ders. 2004a, 14 ff. Zunehmende Diskretionierung von Staatsausdehnung diagnostiziert als Grundtendenz, die moderne Staatlichkeit gar schlechthin kennzeichne, etwa auch ein ganz andersartiger Denker wie Foucault 2005b, 143. 6 Habermas 1965, 162. 7 Statt vieler: Mommsen 1982 passim; Kailitz 2004, 302. 8 Volker Neumann 1992, 431. 9 Wie Schmitt im Vorwort zur 1963 erschienenen Neuauflage seines Begriffs des Politischen, Schmitt 1963, 10 schreibt. Eine erschöpfende Auswahl rezenter steuerungsskeptischer Literatur findet sich bei Hoffmann-Riem 2001, Anm. 2, 3 und 12. 10 Volker Neumann 1992, 436. Als zunehmend überholt sieht auch Voßkuhle 2000, 495 die verbreitete Topik der Staatsskepsis an, der dieser anhand von Leitbegriffen nachgeht. 11 Rüdiger Voigt 2007, 17. 12 Isensee 1999, 66.

Einleitung

21

Als Antwort auf diese grundlegende Frage, die im Letzten auf Eigenart und Grenze spät- bzw. postmoderner Gesellschaften zielt, soll versucht werden, zwei zueinander paradoxe Modelle als Codes zu verwenden, um auf diese Codes hin moderne politische (Ideen-)Geschichte und politische Theorie im Allgemeinen wie Staatstheorie und Staatslehre im Besonderen zu befragen. Beide Modelle bilden selbst ein jedes in sich wiederum scheinbar die Struktur eines Paradoxons aus. Das eine ist vornehmlich unter dem Namen des Gefangenendilemmas bekannt geworden, seit es erstmals durch Albert W. Tucker im Jahre 1950 formuliert worden war:13 „Zwei Verdächtige – Bonnie und Clyde – werden festgenommen und in getrennten Zellen untergebracht. Die Polizei [. . .] verfügt nicht über die erforderlichen Beweise“, sie der Delikte, derer sie verdächtigt werden, zu überführen. Der Ermittler „erklärt den beiden Verdächtigen, dass sie zwei Möglichkeiten haben: Gestehen oder nicht gestehen. Wenn keiner der beiden gesteht, werden sie für irgendeinen kleinen Gesetzesverstoß mit einer relativ geringen Strafe belegt. Gestehen beide, dann werden beide streng bestraft, wobei der Ermittler ihnen zusichert, nicht die Höchststrafe zu beantragen. Gesteht einer, während der andere die Tat leugnet, so kann derjenige, der gestanden hat, mit einer Strafminderung rechnen, während dem anderen die Höchststrafe droht. Aus der Geschichte ergibt sich folgende“ auch als „Auszahlungsmatrix“ bezeichnete Konstellation: Für Bonnie „ist es [. . .] wünschenswert zu gestehen, falls Clyde nicht gesteht, weil das zu einer Haftstrafe von lediglich drei Monaten führt. Dieses Ergebnis ist besser, als wenn beide nicht gestehen, weil sie [sc.: Bonnie] hierfür ein Jahr hinter Gitter müsste. Unabhängig davon, was Clyde tut, ist es für Bonnie besser zu gestehen. Gesteht Clyde nicht, führt das zu einer Haftstrafe von drei Monaten (besser als ein Jahr), gesteht er, führt es zu einer Haftstrafe von acht Jahren (besser als zehn Jahre). Zu gestehen ist deshalb eine dominante Strategie.“ 14

Das punctum saliens ist darin zu finden, dass individuell rationales Verhalten zu kollektiv betrachtet nicht optimalen Ergebnissen führen kann. Diese suboptimalen Verhaltensweisen neigen sogar dazu, sich zu stabilisieren, indem sie so genannte „Nash-Gleichgewichte“ bilden.15 Rein ökonomisches Verhalten ist oft13 Poundstone 1993, 117. Das Gefangenendilemma wurde um 1950 von Melvin Dresher und Merril Flood erfunden und bald darauf von Tucker formalisiert, Axelrod 2000, 22. Staats(be-)gründung als Dilemma zu begreifen reüssiert zunehmend im Bereich den Staat erforschender Wissenschaft: Rüdiger Voigt 2007, 166 ff. 14 Hier nach Voigt 2002, 48. 15 Das Nash-Gleichgewicht beschreibt dabei genau genommen einen speziellen Fall des Gefangenendilemmas: Jede Strategie, die unbeteiligte Spieler, nachdem sie von reagierenden Entscheidungen (den Entscheidungen) des anderen Spielers (der anderen Spieler) erfahren haben, wieder wählen würden, wenn sie die Möglichkeit hätten, (Postmortem-Entscheidung), begründet ein Nash-Gleichgewicht unter den beiden folgenden Voraussetzungen: Es reicht nicht aus, dass sich beide Spieler und nicht nur einer bei kooperativer Strategie besser stehen als ohne, sondern mindestens einer darf zudem keine für sich bessere subjektive Alternative haben, damit der suboptimale Gesamtzustand tatsächlich stabil ist. Suboptimal als Eigenschaftswort entwickelt sich dabei zu-

22

Einleitung

mals unfähig, das hervorzubringen, was bislang in unserem Kulturkreis zumeist allein der Staat bereitzustellen vermag: Kollektivgüter. Aufgrund der definitorischen Offenheit des Begriffs der Kollektivgüter wird teilweise auch vorgeschlagen, die Eigenschaft von Kollektivgütern als öffentliche nicht von der „joint consumability“ abhängig zu machen, sondern allein davon, ob das Nutzenniveau anderer Akteure durch ihre Nutzung jeweils beeinträchtigt wird. Es müssen also nutzungssensible, andere wahrnehmende Personen in demjenigen Zusammenhang anwesend sein, der das Kollektivgut beschreibt.16 Öffentlichkeit wird in diesem Sinne auch zunehmend als relatives Kontinuum und nicht als absolute Kategorie begriffen.17 Da die Interessen der Spieler „nicht strikt“ entgegengesetzt sind, ist es grundsätzlich nicht ausgeschlossen, dass sich optimales Verhalten auch selbsttätig, also ohne Zutun eines übergeordneten und idealiter unabhängigen Dritten einstellt. Dieser Frage, die sich nach dem individuell wie kollektiv gleichermaßen optimalen Individualverhalten stellt, hat Robert Axelrod weite Teile seines Lebenswerkes gewidmet.18 So alt die Erkenntnis ist, dass Kooperation den Gesamtnutzen erhöht, so alt ist die Aporie, das beschriebene Problem zuverlässig zu überwinden:19 Konfuzius nehmend zu einem Wort der Umgangssprache. Entscheidend gegenüber einem immer weiter, also gegen unendlich steigerbarem Optimum, zu dem konfrontiert dieses Wort vielfach nur „schlecht“ oder eben „nicht optimal“ bedeutet, ist bei fachsprachlichem Gebrauch, dass eine bestimmte kollektiv und, darüber vermittelt, individuell nützlichere Alternative bekannt ist. 16 Bonus 1980, passim v. a. 65. 17 Blümel/Pethig/von dem Hagen 1986, 2 bis 53 f. 18 Axelrod 2000, vii. 19 Außerdem bleibt unklar, inwieweit über das Problem, Individual- und Kollektivnutzen zu synchronisieren, hinaus erkannt wird, dass mit und durch diese Synchronisierung nicht nur der beste Gesamtnutzen erzielt, sondern auch ein besserer Individualnutzen gegenüber der egoistischen Wahl erlangt wird. Eine Unterscheidung zwischen der Optimierung des Gesamtnutzens und der Optimierung des Individualnutzens aller ist etwa bei Cicero noch nicht zu erkennen. Wenn er in de re publica 1, 49 behauptet, „facillimam autem in ea re publica esse posse concordiam, in qua idem conducat omnibus, ex utilitatis varietatibus, cum aliis aliud expediat, nasci discordias“ zeigt dies, dass er zwar das Problem von Individual- und Kollektivnutzen erkannt hat; aber dies wird nur im Hinblick auf die concordia zweckrational reflektiert. Die Frage nach dem Individualnutzen aller wird erst gar nicht gestellt. Der Nutzen deckt sich eben (günstigenfalls) nur mit dem Individualnutzen. Dessen Optimierung ist aber nicht Teil der Absicht. Widerstreitendem Interesse wird die Fähigkeit zur concordia abgesprochen, Partikularinteressen bleiben mit dem Kollektivinteresse unvereinbar, wenn sie widerstreiten. Gesamtnutzengewinne müssen, modern gesprochen, zumindest Pareto-optimal sein. Dass Individualnutzen sich teilweise auch hierdurch mehrt, bleibt unausgesprochen. Dies lässt sich solchermaßen verstehen, das Individualinteresse dürfe lediglich nicht geschmälert werden, um den Gesamtnutzen zu optimieren Dass sich das Individualinteresse somit auch selbst optimieren kann, bleibt ununterschieden. Darin antizipiert das römische Denken, wenn auch nichtreflexiv, das spätere französische Staatsdenken.

Einleitung

23

und Platon, Aristoteles und Hillel empfahlen bereits, sich so zu verhalten, wie es später auch im Evangelium nach Matthäus formuliert20 und sodann zur regula aurea abgewandelt wurde, die über zwei Jahrtausende christliches Gemeingut blieb: „Was Du nicht willst, dass man Dir tu’, das füg’ auch keinem anderen zu.“ Doch diese Devise ist immer noch auf jene Überschaubarkeit beschränkt, die auf den Gesichtskreis des redlichen Einzelnen begrenzt ist. Ihre Wirkung reicht zwar unter Umständen schon weiter als die Einsicht des Einzelnen. Aber was die Erkenntnisfähigkeit des Einzelnen übersteigt, kann zumindest nicht mehr bewusst und reflektiert Maxime seines Handelns sein, selbst dann, wenn dahinter eine Maxime erkannt wird. Diesen Abstraktionsschritt nimmt Kant, indem er in seiner „Kritik der praktischen Vernunft“ in Gestalt mehrerer kategorischer Imperative die Orientierung am Gesamtnutzen als Postulat formuliert. Damit bewegt er sich noch in weiterer Hinsicht fort und zwar insofern, als er mit dem Gesetzesabgleich einen generell-abstrakten Normbefehl zum Maßstab erhebt, wie er sich unter den Bedingungen von Staatlichkeit herausbilden kann: „Handle so, dass die Maxime Deines Handelns jederzeit Gesetz sein könnte.“ Spätestens damit ist aber die Politisierung des Individuellen und Privaten begründet. Noch immer ist die Erkenntnisfähigkeit des Individuums Horizont der Kooperation, getreu dem von Kant formulierten Glauben der Aufklärung an den „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Indes dauert es erst noch 162 Jahre und kommt es zu Volkskriegen, die sodann zu Weltkriegen ausarten, ehe das Problem im Angesicht der Möglichkeit, alles Leben auf der Erde auslöschen zu können, auch formal und tatsächlich kategorisiert in Gestalt des Gefangenendilemmas dargestellt wird. Nun wird das zugrunde liegende Problem tatsächlich erst als ein echtes Dilemma für das Individuum begriffen. Damit wird erstmals offenkundig, dass egoistisches Verhalten für die Akteure durchaus rational sein kann und somit ein echtes Dilemma vorliegt. Dass des Rätsels Lösung in der zunehmenden Kollektivierung dessen liegt, was bislang individuell und abgetrennt ist, setzt sich im Bewusstsein erst allmählich und parallel zur Entwicklung des Staates durch, bleibt aber über lange Zeit hinweg nicht-selbstreferentiell. Das Wissen als solches ist aber bereits in historischen Ideen und Tatsachen unreflektiert, unbewusst und nicht-selbstreferentiell enthalten.21 Das Problem lässt sich am besten begreifen, indem seine allmähliche Entdeckung wissenschaftshistorisch nachvollzogen wird, wie Olson verfährt. Individualität als Wert ist im römischen mos maiorum, ähnlich anderen vormodernen Ordnungen kein leitender Wert, auch wenn sie als Denkgröße bereits präsent ist. Das Gefangenendilemma stellt demgegenüber die gleichsam radikalindividualistische Begründung des kollektiven Interesses dar: Kooperation wird zu einer liberalen ratio. Nicht nur alle anderen, sondern auch der Egoist gewinnt noch! 20 Das Original lautet: „Was Ihr wollt, dass Euch die Leute tun, das tut auch Ihr ihnen“, Matthäus 7, 12. 21 Cf. auch Poundstone 1993, 61, der fehlende Selbstreferentialität sogar als konstitutiv für die Spieltheorie erachtet: „Conscious choice is not essential to game theory.“

24

Einleitung Die „Theorie von den Kollektivgütern [. . .] besagt, daß die Grundleistungen des Staates [. . .] nur unter Anwendung von Zwang beschafft werden können. [. . .] Die Idee, daß der Staat einen allgemeinen Vorteil bereitstellt oder für das allgemeine Wohl arbeitet, ist schon mehr als hundert Jahre alt. [. . .] Die Diskussion über dieses Problem hatte spätestens zu Beginn des 19. Jahrhunderts eingesetzt. Heinrich von Storch scheint in seinem Werk [. . .] eine vage Vorstellung von dem Unterschied zwischen einem Kollektivgut und einem individuellen Vorteil gehabt zu haben, denn er vertrat die Auffassung, daß eine private Unternehmung nicht das Leben und das Eigentum schützen könnte. [. . .] J. B. Say übernahm dann diese Auffassung und arbeitete sie weiter aus. Später fragte Friedrich von Wieser, warum die Versorgung mit den Gütern und Diensten, die durch den Staat bereitgestellt würden, so gleichmäßig sei, während doch eine bemerkenswerte Ungleichheit in der Verteilung der Güter des privaten Sektors herrschte. Wieser bemerkte in diesem Punkte auch eine Ähnlichkeit zwischen dem Staat und privaten Verbänden. Aber er zeigte auch, daß er das Problem nicht ganz verstand, denn er sagte, der Staat schafft nicht selber Erträge.“ 22

Sind also die Phänomene eines allgemeinen Nutzens und dessen Notwendigkeit bewusst, so bleibt unklar, in welcher Beziehung sich die zum Gemeinwohl bestehenden Institutionen, namentlich der Staat als vorgefundener kultureller Zusammenhang, zur genuin ökonomischen Kategorie des Interesses verhalten. „Emil Sax unterschied öffentliche Unternehmungen von staatlichen Tätigkeiten, die dem Wohl aller Staatsbürger zugute kommen. Nebenbei erwähnte er auch, daß eine Ähnlichkeit zwischen dem Staat und privaten Verbänden bestünde. Aber es ist offenkundig, daß die Theorie von den Kollektivgütern noch nicht ganz verstanden wurde, denn Sax schrieb die Unterstützung des Staates und anderer Verbände fälscherlicherweise einem ,durch die Notwendigkeit des Zusammenwirkens zur Erreichung des gemeinsamen Zieles geweckten Altruismus, gerichtet auf diese gegenseitige Unterstützung, mit Ausschluss des Egoismus, soweit der Zweck es erfordert‘ zu. Wenn das zuträfe, brauchte der Staat die Steuern nicht mit Zwang zu erheben. [. . .] Ugo Mazzola kam der richtigen Analyse der Kollektivdienste des Staates näher. Er betonte [. . .] die ,Unteilbarkeit‘ dessen, was er ,öffentliche Güter‘ nannte, und erkannte, daß die Grundleistungen des Staates jedermann zugute kommen. Sein Irrtum bestand in der Behauptung, es gebe eine ,Komplementarität‘ zwischen öffentlichen und privaten Gütern, der Art, daß die konsumierte Menge der Kollektivgüter von der konsumierten Menge der privaten Güter abhinge.“ 23

Die Fähigkeit des Staates, die Situation des Gefangenendilemmas überwinden zu können, gründet der Neuen Institutionenökonomik (NIÖ) zufolge in der staatlichen „Kompetenz, alle Bürger zu besteuern.“ 24 Tatsächlich erklärt sich die Existenz des Staates, ja von Staatlichkeit überhaupt, durch eine koordinierende Beherrschungsfunktion. Stellt die NIÖ damit die grundlegenden Annahmen der die Wirtschaftswissenschaften bislang dominierenden neo-klassischen Theorie in

22 23 24

Olson 1998, 97 f. Olson 1998, 98. Voigt 2002, 119.

Einleitung

25

Frage, so ist jedoch noch weitergehender Zweifel geboten: Offensichtlich kann der Grund des Staates nicht allein in seiner Fähigkeit zur Besteuerung der ihm subordinierten Personen liegen. Die Marktkapitalisierung einer zunehmenden Zahl von Unternehmen übersteigt den Haushaltsumfang nicht weniger hoch entwickelter Staaten der westlichen Moderne. Daher muss die Thesis der NIÖ insofern ergänzt werden, als der Staat über eine überlegene Gewaltposition verfügt, die im Gewaltmonopol des neuzeitlichen Staates ihren wirkmächtigsten und eindrucksvollsten Ausdruck findet. Bereits in seiner Entstehungsphase wird diese signifikante Eigenschaft des Staates durch Niccolò Machiavelli in drastischer Eindringlichkeit und scharfer Kürze beschrieben, wenn er in seinen discorsi sopra la prima deca dell’ Tito Livio trotz zahlreich sich anbietender Söldner auf die Erfahrung hinweist, dass „Gold nicht“ genügt, „um gute Soldaten zu schaffen, aber gute Soldaten [. . .] gar wohl“ genügen, „um Gold herbeizuschaffen“.25 Der Staat kann seine den Gesamtnutzen optimierende und seine Bürger aus dem (radikal-)individualistischen Gefangenendilemma befreiende Wirkung anscheinend nicht allein aufgrund seiner Fähigkeit zu besteuern entfalten. Vielmehr treten andere Steuerungs- und Regulierungsvoraussetzungen hinzu. Ist der ökonomische Erklärungsansatz jedoch erst einmal inhaltlich in Zweifel gezogen, stellt sich auch formal die Frage, ob Staat und Demokratie als politische Phänomene überhaupt wirtschaftlicher Betrachtungsweise zugänglich sind.26 Der Wert der Ökonomie ist dann darauf begrenzt, mit Denkfiguren das politische Feld zu modellieren.27 Die Ökonomie greift Probleme auf, die allgemeine Probleme darstellen, wie Austausch, Kooperation und „reneging“ 28. Ursprünglich von Anthony Downs als Form gewählt, „ to modell mass elections“,29 wandelt sich diese Ökonomieförmigkeit als heuristisches Modell schleichend in eine Ökonomisierung der politischen Theorie. Diese einer ökonomieförmigen Erklärung von Politik eigene Gefahr, in eine reine Ökonomisierung abzugleiten, führt gleichermaßen dazu, wie sie schon zugleich daraus resultiert, dass

25 Zit. nach Machiavelli 1977, 194. Genau umgekehrt beurteilt das Verhältnis von „Machtmitteln“ und „Machtpolitik“ Reinhard 2002, 305. Dieser Widerspruch bestätigt indes nur eins: eine klare Reduktion der einen von der anderen Größe ist unzutreffend, worauf in der Sache sodann auch Reinhards Analyse hinausläuft. 26 Schefczyk 2003, 85. Zur Klärung des wohl existenziell unmittelbarsten wirtschaftlichen Problems, nämlich das Problem der Hungersnöte, das zwar mit dem hiesigen Problem nicht identisch, aber wohl sinnverwandt ist, wird inzwischen die entscheidende Bedeutung der „dynamics of purchasing power“ zunehmend anerkannt, Sen 2002, 88. 27 Eine auf die Ökonomie und Politikphilosophie zugeschnittene Definition des Modellbegriffes sowie eine Problematisierung der Bezüglichkeit ökonomischer Theorie auf das Politische bietet Schefczyk 2003, 221 f. Die Universalität des „ökonomischen Ansatzes“ wird auch eingehend bereits von Gary Becker 1993, 7 und 15 erörtert. 28 Weingast 1989, 701. 29 Aranson 1998, 745.

26

Einleitung

allgemeines Machtstreben nicht mit ökonomischem Gewinnstreben zu identifizieren ist.30 Die Frage, in der auch die neuere, institutionenökonomisch informierte Politikanalyse wie alle ökonomisch ausgerichtete Theorie befangen bleibt, wie sich „political entrepreneurs“ finden lassen, „who will peirce the veil of ignorance and construct alternative rules that make the interests of principals and agents coincide“ 31 stellt sich nur, wer von der tatsächlichen Ökonomisierbarkeit von Politik ausgeht. Solche Unternehmerindividuen werden sich als politisches Personal nicht finden lassen. Denn rein ökonomisches Interesse lässt sich außerhalb der Politik regelmäßig leichter befriedigen. Der Politik liegt eine „Diätetik der Macht“ zugrunde: Hiermit lässt sich Politik in Ansätzen ökonomieförmig modellieren. Vollständig ökonomisieren lässt sie sich nicht. Den homo politicus motiviert auch unter den Bedingungen rechtstaatlicher Demokratie primär eher Freude am Herrschen als materielles Gewinnstreben. Mag er sich auch als Agent des Volkes legitimieren, das sein Prinzipal ist, so wird er sich in seinem Selbstverständnis nicht auch als ein solcher definieren. Nicht zuletzt aus diesem Grund erklärt sich, dass „political entrepreneur’s incentives appear more often to be at best indifferent to allocative efficiency and at worst frankly hostile to it.“ 32 Schließlich lässt sich auch dem Gemeinwohl zu dienen als Motiv politischen Engagements nicht ausschließen, so wie Dienen und Herrschen doch untrennbar zur Lust an der ars gubernandi verschmolzen sein können. Das Bewegungsgesetz, was die Ökonomie mit anderen Erkenntnisfeldern teilt und das sich zunehmend universalisiert, ist dasjenige des Wettbewerbes als Mechanismus lebender Systeme. Insofern ist eine evolutionstheoretisch informierte Methode integrales Moment aller Lebens- und Kultur-, aller Geistes- und Sozialwissenschaften.33 Dies wird gleichsam durch die Gegenprobe bestätigt: Gary Becker ist nur einer der prominenten Vertreter der Wirtschaftswissenschaften, der deren implikativen Gehalt für Außerökonomisches, wie es vor allem Geschichts- und Politikwissenschaften untersuchen, als unverzichtbar herausstellt.34 Daraus resultiert auch das Anliegen dieser Untersuchung, der englischen Staatstheorie herausragend Aufmerksamkeit zu widmen, die von jeher organisch-biologische Bilder für Verständnis und Begreifen von Staat favorisiert. Sie hat der Darwinschen Evolutionstheorie vorauseilend, obschon zeitgenössisch gegenüber deren ideologischem Gefahrenpotential erstaunlich sensibel, die biologische Staats30 Aranson 1998, 750, der zumindest von „distinctly different roles entrepreneurs take in markets and politics“ spricht. 31 Aranson 1998, 751. 32 Aranson 1998, 750. 33 Blackmore 1999; Herrmann-Pillath 2002, 205; Assmann 2005, 183 ff. 34 Gary Becker 1993, 15.

Einleitung

27

theorie als die Theorie eines lebenden Systems entwickelt.35 Die Denkfigur des „survival of the fittest“ wurde sogar von Herbert Spencer aufgebracht und von Charles Darwin übernommen.36 Aber auch das Gewaltmonopol dürfte wahrscheinlich nicht allein auf organisierten Erzwingungsstäben beruhen. Die Mitarbeiterzahl privater Sicherheitsdienste hat je nach Definition in den meisten westlichen Staaten diejenige der Polizeibeamten längst übertroffen.37 In England als Heimstatt der Demokratie pflegen Polizeibeamte bekanntlich sogar regelmäßig unbewaffnet zu patrouillieren.38 Offensichtlich resultiert seine koordinierende Funktion, Kollektivgüter gewährleisten zu können, nicht allein in der wirtschaftlichen Besteuerungs- und gewaltgestützten Erzwingungsfähigkeit des Staates. Vielmehr müssen andere gleichermaßen diskrete und informelle, historische wie anthropologische, kultivierte wie naturwüchsige Eigenschaften des Staates oder auch der von ihm bald beherrschten, bald moderierten Gesellschaft hinzukommen. Gesellschaft wird dabei im hiesigen Zusammenhang zunächst als „Inbegriff aller nichtstaatlichen Gruppenstrukturen begriffen.“ 39 Dabei soll zunächst offen bleiben, ob Staat als Teil der Gesellschaft oder beide Begriffe als gleichgewichtige und sogar getrennte Sphären begriffen werden, auch wenn den Staat als Mittel zu verstehen impliziert, den Staat nur als Teil der Gesellschaft zu verstehen.40 Dieses Gesellschaftsverständnis ist mit demjenigen, das der hiesigen Gliederung zugrunde gelegt wird, jedoch nur dann verträglich, wenn Gesellschaft gleichsam als Gesamtheit der Species Mensch bzw. Gesellschaft als vorstaatlich definierbare, gleichsam gegebene Population menschlicher Individuen begriffen wird. Daher gilt es im Folgenden, die Geschichte der westlichen Moderne, namentlich diejenige ihrer politischen Ideen, und die Entwicklung der modernen politischen Theorie daraufhin zu befragen, inwieweit der Staat eine Erlösungsfunktion der Gesellschaft in Bezug auf deren Gefangenendilemma darstellt. Soll eine umfassende Antwort gefunden werden, die den Staat als ein menschliches Kulturgut 35

Cf. McKechnie 1896, 413; MacDonald 1905, 110. Sen 2002, 489; cf. zur natur(-wissenschaftlichen) Ausrichtung angelsächsischer Staatstheorien: Meadowcroft 1995, 88. 37 Stober 1997, 889 ff.; Nitz 2000; Rüdiger Voigt 2007, 303. 38 Als neuere deutschsprachige Arbeit ist Heckenberger 1997 zu nennen. Wie die meisten Bereiche englischen Staatshandelns ist auch diese Praxis aus Brauch und Gewohnheit legitimiert. 39 Angermann 1976, 113: Die von Angermann im Folgenden ausdrücklich ausgeschlossenen Phänomene werden auch hier mit einer vorläufigen Ausnahme ausgeschlossen: Diese Ausnahme bildet das Feld des Politischen. Denn um dieses als letztlich immer staatsbezogen zu überführen, muss es zunehmend in Bereichen außerhalb des eigentlichen Staates gesucht werden, Willke 1992, 8; cf. Epilog II. 2. 40 Als ferventer Vertreter und politischer Anwalt eines solchen gleichgewichtigen, ja dem Staat übergeordneten Gesellschaftsbegriffes im Sinne römisch-rechtlicher societas hat sich mit den Methoden moderner Sozialwissenschaft argumentierend Heller 1983, 125 hervorgetan. 36

28

Einleitung

begreift, darf daher aber gerade nicht ausschließlich die ökonomische Dogmengeschichte befragt werden.41 Neben dieser in seiner Koordinierungs- und Öffentlichkeitsfunktion ruhenden Entwicklung ist gleichwohl nicht zu übersehen, dass die Steuerungsskepsis gegenüber dem Staat abstrakt zu begreifen ist. Auch diese Wirkung lässt sich in einem Paradoxon formulieren, dessen abstrakte Aussage freilich von der gegen (überbordende) Staatlichkeit gewandten Kritik soweit ersichtlich noch nicht entdeckt worden ist, sondern das bislang auf seine Bildseite beschränkt geblieben ist: Es handelt sich um das nach dem auf Verkehrsforschung spezialisierten Mathematiker Dietrich Braess benannte Paradoxon.42 „In manchen Fällen bewirkt eine Aktion genau das Gegenteil dessen, was damit beabsichtigt ist:43 Eine zusätzliche Entlastungsstraße macht die Verkehrsstaus schlimmer. Um zu zeigen, wie so etwas passieren kann, habe ich mir das folgende Spiel ausgedacht (es ist eine vereinfachte Version des Verkehrsproblems). Es handelt sich um ein Zweipersonenspiel. Vorgelegt wird vom Spielleiter die Zeichnung eines Rechtecks. Jeder Spieler hat die Aufgabe, entlang der Kanten dieses Rechtecks einen Weg zu suchen, der ihn von der linken oberen Ecke zur rechten unteren Ecke führt, und zwar zu möglichst geringen Kosten. Die Wegekosten betragen 2 Einheiten für jede der horizontalen und 5 Einheiten für jede der vertikalen Kanten. Wird eine der Kanten von beiden Spielern gewählt, haben sie – wegen gegenseitiger Behinderung – den doppelten Preis zu zahlen. Einer der Spieler wählt seinen Weg „oben herum“ und zahlt die Wegekosten 7 (= 2 + 5). Der andere geht „unten herum“ und zahlt ebenfalls 7 (= 5 + 2) Einheiten.

2

5

5

2 Der Spielleiter eröffnet nun den Spielern die Möglichkeit, ihre Kosten zu senken, indem er eine zusätzliche und kostenlose Verbindung von rechts oben nach links unten einführt. Diese Möglichkeit nutzt einer der Spieler auch tatsächlich aus. Er zahlt nun nur noch 6 (= 2 + 0 + 2  2) Einheiten. Da eine der Verbindungen von beiden be41

Cf. 15 f. Weltweites elektronisches Netz: http://www2.fh-fulda.de/~grams/dnkfln.htm#_ Das_Braess’sche_Paradoxon. Erschöpfende Literaturhinweise bietet: http://homepage. ruhr-uni-bochum.de/Dietrich.Braess/Index.html#paradox (beide vom 27. Dezember 2005). Auch in seiner konkreten Manifestation als Problem der Verkehrswegeplanung ist das Braess-Paradoxon noch immer aktuell, Süddeutsche Zeitung 24. Januar 2006, 9. 43 Spektrum der Wissenschaft 1992, Heft 11, 23–26 [Anm. Bestandteil des Zitates]. 42

Einleitung

29

nutzt wird, muss der andere Spieler jetzt mehr zahlen, nämlich 9 (= 5 + 2  2) Einheiten. Das lässt ihm keine Ruhe, und er macht es wie sein Gegenspieler.

2

5

0

5

2 Beide wählen schließlich den z-förmigen Weg und zahlen jeweils 8 (= 2  2 + 2  0 + 2  2) Einheiten. Obwohl beide jetzt schlechter fahren als zu Beginn, als es die Entlastungsverbindung noch nicht gab, kann jeder der Spieler nur noch zu seinem eigenen Nachteil vom z-förmigen Weg abweichen. In der Spieltheorie nennt man so etwas ein Nash-Gleichgewicht. Übrigens: Es bringt auch nichts, wenn sich beide absprechen und den vorteilhafteren Weg abwechselnd benutzen. Der Mittelwert liegt dann immer noch höher als bei den getrennten Wegen. Aus dieser misslichen Situation kommen beide nur heraus, wenn sie beschließen, den Entlastungspfad zu ignorieren und zu ihren ursprünglichen Wegen zurückkehren. Darin liegt das Paradoxon.“

Im Kern handelt es sich hierbei um das Problem der nicht-intendierten Handlungsfolgen, die sich freilich von Nebenwirkungen aus soweit entwickeln können, dass sie den Hauptzweck ad absurdum führen: Kontraproduktivität, Kontraintuität, Kontrafinalität und Kontraintentionalität beschreiben Formen von Paradoxie und irrationalen Ergebnissen rational motivierten Handelns,44 wie sie zumeist aus spezifischen Gründen durch staatliche Steuerung verursacht werden. Der Begriff der Steuerung ist dabei selbstverständlich nicht immer so wörtlich zu nehmen wie im angeführten Beispiel der Verkehrswegeplanung. Das Braess’sche Paradoxon ist nicht nur in sich nicht aufzulösen. Vielmehr steht es auch zur Erklärung und Begründung des Staates als institutionalisierter Überwindung des Gefangenendilemmas im Widerspruch, obwohl es selbst eine spezielle Form des Gefangenendilemmas darstellt. Ohne auf das Braess’sche Paradoxon zurückzugreifen, dessen Ergebnis dem Menschen der neoklassisch fundierten Welt des Spätkapitalismus beinahe selbstverständlich geworden zu sein scheint, beschreibt dieses vermeintliche Paradoxon von Eigeninitiative und Steuerung als Dilemma der condition humaine Douglas C. North: „Wir können zwar nicht ohne Staat auskommen, aber ebenso wenig können wir mit ihm auskommen.“ 45 Diese Zerrissenheit moderner menschlicher Gesellschaft zwischen 44 Die Zusammenstellung dieser Begriffe ist zum Teil Halfar 1987, 17 entnommen: Sie erhebt nicht den Anspruch, abschließend zu sein. 45 North 1998, 70.

30

Einleitung

den Polen von Ordnung und Freiheit sowie von Rigidität und Anomie46 ist als Symptom gegenseitiger Verwiesenheit nur durch eine asymptotische und daher gegen unendlich laufende Funktion der Feinabstimmung von Staat und Gesellschaft und durch eine Feindosierung von Staatlichkeit im lösenden Medium des Gesellschaftlichen zu überwinden. Das Bezugsfeld von Staat und Gesellschaft beschreibt daher seit Aristoteles die Geschichte der mesüthò, der Mitte.47 Tiefenscharfe Betrachtung erweist indes manches Phänomen vermeintlicher Verstaatlichung tatsächlich als ein Öffentlichwerden immer neuer Bereiche, das den Staat freilich regelmäßig involviert. Eigentlich ist diese Entwicklung sogar eher über eine via negativa zu begreifen, nämlich als Schwinden von Privatheit und Intimität. Daher steht die beschriebene, koordinierende und rationalisierende Funktion des modernen Staates in kaum entwirrbarer Wechselwirkung mit der Öffentlichkeit gleichermaßen als gesellschaftlichem Prinzip wie sozialem Ort.48 In der rezenten Forschung haben von geschichtswissenschaftlicher Seite vornehmlich Wolfgang Reinhard49, Quentin Skinner50 und James Meadowcroft51 die gegenwärtige Diskussion über die „Verstaatlichung der Welt“ 52 geprägt. Darüber hinaus nehmen die Lebenswerke der Nobelpreisträger Douglas C. North,53 John Nash und Ronald Coase sowie des Ökonomen Eiric G. Furubotn54 als Väter der Neuen Institutionenökonomik einen prominenten Platz ein. Mancur Olson wiederum ist „Die Logik des Kollektiven Handelns“ zu verdanken.55 Die neuere Demokratietheorie ist unter dem spezifischen Gesichtspunkt als einer modernen Rationalisierungsfunktion vornehmlich von Musgrave56 und Anthony Downs auf ökonomischer Seite, von Seymour Martin Lipset, Manfred G. Schmidt und Arno Waschkuhn auf politikwissenschaftlicher Seite betrachtet worden. Einen von vornherein interdisziplinären Weg hat Rüdiger Voigt eingeschlagen, indem er Disziplingrenzen transzendierend der Renaissance einer eigenen „Staatswissenschaft“ folgt, die sich wörtlich versteht.57 Diese Namen zu nennen bedeutet sich vielfacher Unterlassung schuldig zu machen. Insbesondere in der Frühzeit der 46

Cf. die grafische Darstellung bei Czada 1992, 76. Aristoteles, Ethica Nicomachia, 1106 b 27. 48 Waschkuhn 1998, 339 spricht in diesem Zusammenhang von einer „Interpenetration (wechselseitige Durchdringung) der Subsysteme als Integrationsprinzip der modernen Kommunikationsgesellschaft.“ 49 Reinhard 2002. 50 Skinner 1978. 51 Meadowcroft 1995. 52 Reinhard 2002. 53 North 1986, 232. 54 Furubotn 2003, v. a. 511–540. 55 Olson 1998. 56 Musgrave/Musgrave/Kullmer 1994. 57 Rüdiger Voigt 2007, 20 und 56. 47

Einleitung

31

Politikwissenschaft haben Juristen wie z. B. Hans Kelsen mit seiner Schrift „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ und Gerhard Leibholz mit seinem magistralen Werk „Strukturprobleme der Demokratie“ bis heute grundlegende Einsichten vermittelt. Das Problem von staatlicher Steuerungsskepsis und veröffentlichter Gesellschaft ist daher nur eklektisch zu bewältigen, wie es auch dem pluralen Methodenverständnis der folgenden Untersuchung zu eigen ist. Da die hiesige Fragestellung im Fadenkreuz der Gesellschaft und Staat erforschenden Disziplinen liegt, beschreibt ihr Thema das zentrale Anliegen moderner Politikwissenschaft: Die wechselseitige Abhängigkeit und Aufgabenteilung von Staat und Gesellschaft.58 Interdisziplinarität hat in der Frage nach Ort und Funktion des Staates eines ihrer gleichsam klassischen Aufgabenfelder. Der institutionenökonomische Ansatz ist aber nicht zuletzt deswegen vielversprechend, weil er auch von wirtschaftswissenschaftlicher Seite wenig interdisziplinär behandelt wird.59 Auch Rechtspositivisten wie Paul Laband und Hans Kelsen deduzieren in strenger Logik, das Staatsrecht habe nicht nach den Zwecken des Staates zu fragen, da dies ein metarechtliches Problem sei.60 Besonders deutlich wird dies auch bei Josef Isensees Unterfangen, das letztlich darauf abzielt, über das Subsidiaritätsprinzip den modernen Staat zu erklären, was sich für die vorliegende Untersuchung als bedeutend erweist.61 Einerseits kann sich in praxi keine Staatsrechtslehre der Frage nach den Staatszwecken entziehen, was freilich auch durch die Metamorphose des Erkenntnisgegenstandes selbst begründet wird.62 Andererseits wird wohl deutlich, dass diese Frage, vermutlich weil sie den Bereich des Selbstverständlichen und Selbstreflektierten zum Objekt macht, kein eigenes wissenschaftliches Ressort hat.

II. Hypothesis Befund ist also Staatsausdehnung trotz anhaltender Staatsskepsis. Dieses Paradoxon der ausgehenden Moderne lässt sich mit folgender Hypothesis auflösen. (1) Die Fähigkeit des Staates, Situationen des Gefangenendilemmas zu überwinden und somit individuelle Bedürfnisse besser zu befriedigen, ist die entscheidende Begünstigung seiner Ausdehnung. • Dies wird jedoch nicht allein durch seine Fähigkeit zu besteuern ermöglicht. Vielmehr vermag er entweder Bedürfnisse überhaupt erst durch Kol-

58 59 60 61 62

von Krockow 1976, 436. Frey 1993, 358. Laband 1912, 63; Kelsen 1963; Kelsen 1993, 39; 44. Isensee 1968. Isensee 1968, 166.

32

Einleitung

lektivgüter zu befriedigen oder zumindest deren Bereitstellung zu optimieren. Dies geschieht in einem Vorgang der Veröffentlichung von Gesellschaft. Der Begriff der Veröffentlichung ist sowohl wörtlich in einem weiteren, als auch in einem engeren heute vorherrschenden Sinne zu verstehen. (2) Dieser Vorgang wirft jedoch neue kollektiv relevante Probleme auf, die häufig ebenfalls wiederum nur durch Staatlichkeit und Öffentlichkeit bewältigt werden können.63 • Damit nimmt sich der Staat in bestimmtem Maße aus der sozialen Selektion heraus und entzieht sich dem Anpassungsdruck kultureller Evolution. Dies führt zusammen mit dem durch die Veröffentlichung bedingten Schwinden individueller Autarkie zu Staatsskepsis Der Staat entwickelt sich dabei zunehmend zu einer avantgardistischen Agentur der Gesellschaft, die ständig neuen Kollektivgüterbedarf solange und soweit selbst oder durch Koordination gesellschaftlicher, zumeist marktgeleiteter Akteure befriedigt, bis dieser Bedarf idealiter durch staatsunabhängige gesellschaftliche Selbststeuerung gedeckt werden kann. Daraus resultiert, dass der Staat nicht nur ein historisch tradiertes und tendenziell kleiner werdendes Aufgabenfeld zu bestellen hat, sondern vielmehr als „steuernder Staat“, „die spezifischen Eigenarten des jeweiligen Interventionsfeldes [. . .] als notwendige Wirkungsbedingungen der eigenen Intervention reflektiert.“ 64 Die leitende Frage der Untersuchung wird gleichsam effektiv gestellt: Warum wirkt Staat? Streng genommen wird nicht phänomenologisch gefragt, warum es Staat gibt, auch wenn die beiden Fragen in praxi nicht von einander zu trennen sind. Die Frage ist ebenfalls weder modal danach gestellt, wie Staat im Einzelnen handelt, noch resultativ danach, wozu Staat führt. Dass diese Fragen als Instrumente zur Beantwortung der leitenden Frage, warum Staat wirkt, auch eingehend behandelt werden müssen, ist evident. Systemtheoretisch informierte Wissenschaft greift daher auf das überkommene Prinzip organischer Rekonstruktion politischer Rationalisierungsfunktionen zurück.65 Als grundsätzliches Distinktiv moderner Verhaltensmuster gegenüber vormodernen Verhaltenmustern ist aber der Rationalisierungsbegriff selbst seit langem Gegenstand eines Diskurses, der bereits eine Geschichte der Rationalität bildet: Der primitive Zugang deutet Rationalisierung als Maximierung. Gary Becker definiert Rationalität demnach als „konsistente Maximierung einer wohlgeordneten Funktion, etwa einer Nutzen- oder Gewinnfunktion.“ 66 Tatsächlich ist 63 64 65 66

Cf. Willke 1992, 22 f. Kaufmann 1994, 31. Waschkuhn 1998, 357. Gary Becker 1993, 167.

Einleitung

33

die intendierte Wirkung von Rationalität jedoch oftmals optimierend, was sich freilich zumeist wiederum als Maximierung bestimmter relationaler Werte auflösen lässt. Maximierung als Merkmal von Rationalität lässt freilich außer Acht, ob das zu maximierende Ziel als solches rational ist. Amartya Sen hält es daher für unzureichend, wenn Rationalität allein darin erkannt wird, ein „objective intellegently and systematically“ zu verfolgen.67 Innere Kontingenz oder Konsistenz der Argumentation ist als Definiens von Rationalität keinesfalls ausreichend,68 aufgrund der motivationalen Abhängigkeit ist Konsistenz noch nicht einmal immer notwendig.69 Innere Konsistenz ist jedoch just das einzige Definitionsmerkmal, was mathematisch orientierten oder zumindest informierten Rationalitätstheorien noch gemein zu sein scheint.70 Ein weiteres, der Heterogenität und Heteromorphität von Rationalität angemesseneres Verständnis bezieht demgegenüber Werte und Prioritäten ein, die außerhalb der unmittelbar als rational bezeichneten Relation von Zweck und Mittel liegen: Rationalität ist auch Phänomen und Produkt eines Kulturkreises. Rationalität kann gleichermaßen in „social custom“ oder Pflichtenethik bestehen.71 Solch kulturell und traditional gegründete Rationalität lässt sich zwar nicht als Prämisse generell voraussetzen, muss wohl aber als Möglichkeit, Rationalität auszumachen und zu erklären, stets in Betracht gezogen werden. Mit der Hypothesis dieser Untersuchung72 ist einerseits die Frage nach der Eigenart von Staat und Politischem gestellt.73 Andererseits wird die Erörterung dieses kaum überschaubaren Allgemeinen unter dem spezifischen Betrachtungswinkel des Gefangenendilemmas eingegrenzt: Auch das Allgemeine ist ein spezialisierter Teil von Wissenschaft. Institutionenökonomische Gründe und Ursachen von Staatlichkeit auszumachen bildet eine Querschnittsaufgabe politischer Theorie wie (Ideen-)Geschichte, deren Bedeutung vermutlich eher zu- als abnehmen wird. Inwieweit dieses Spezielle sodann im vorliegenden Falle des Gefangenendilemmas als staats-, demokratie- und öffentlichkeitserzeugendes Moment wiederum Allgemeingültiges beschreibt, ist letztlich nicht mehr eine Frage seiner formalen Definition, sondern bereits dessen inhaltliche Erörterung.74

67

Sen 2002, 39 und 40. Sen 2002, 20. 69 Sen 2002, 21. 70 Siegenthaler 2005. 71 Sen 2002, 40. 72 Die Fähigkeit des Staates, Situationen des Gefangenendilemmas zu überwinden und somit individuelle Bedürfnisse besser zu befriedigen, begünstigt seine Verbreitung. Dies wird jedoch nicht allein durch seine Fähigkeit zu besteuern ermöglicht. Vielmehr vermag er entweder Bedürfnisse überhaupt erst durch Kollektivgüter zu befriedigen oder zumindest deren Bereitstellung zu optimieren. 73 Axelrod 2000, 171 f. 74 Axelrod 2000, 198 [Nachwort von Raub und Voss]. 68

34

Einleitung

Vielförmigkeit und Leere stellen bekanntlich nichts Unvereinbares dar: Der kaum überschaubaren Fülle staatsskeptischer wie staatsbegründender Forschung entspricht eine Knappheit tatsächlich einschlägiger Arbeiten, die den Prozess der Verschmelzung von Staat und Gesellschaft, von Privatem und Öffentlichem erklären. Als eine der über den Kreis deutschsprachiger Literatur hinaus wohl wirkmächtigsten Untersuchungen zu diesem Thema dürfte nach wie vor Jürgen Habermas’ „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ erachtet werden.75 In einer hochspezialisierten Disziplin wie der Geschichtswissenschaft von der frühen Neuzeit gilt „das Habermassche Modell“ als „nahezu vollständig destruiert“.76 Namentlich die These von einem fortschreitenden Verfall der bürgerlichen Öffentlichkeit ist problematisch. Die Widerlegung im Detail kann indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieses Werk als Erklärung für die Moderne, wie sie in der Gegenwart vorzufinden ist, hingegen nach wie vor grundlegend ist. Hier fehlt weithin eine vergleichbare theoretische Synthese. Vermutlich deshalb ist das Werk als Konstrukt, an dem sich die Detailforschung gleichsam abarbeiten kann, sogar in der Geschichtswissenschaft von der frühen Neuzeit weiterhin als „epochemachend und einflussreich“ anerkannt.77 Habermas hat mit seinem epochalen Werk freilich auch bereits den methodischen Weg für spätere Untersuchungen dieses Themas gewiesen: „Zunächst verbietet es dessen Komplexität, daß sie sich den ressortspezifischen Verfahrensweisen eines einzigen Faches verschreibt“, erläutert er die Methode seiner Studie. Auch für das Bezugsfeld von Staat und Gesellschaft, wie es im Bereich der Öffentlichkeit eine spezifische Ausprägungsform erhält, ist weiterführend, was Habermas hinsichtlich der Öffentlichkeit feststellt: „Die Kategorie der Öffentlichkeit muß vielmehr in jenem breiten Feld aufgesucht werden, von dem einst die traditionelle ,Politik‘ ihren Blick bestimmen ließ; innerhalb der Grenzen einer jeden einzelnen der sozialwissenschaftlichen Disziplinen, für sich genommen, löst sich der Gegenstand auf.“ 78 Detailforschung ist ohne Zweifel von äußerster Bedeutung. Doch sie kann die Gesamtschau nicht ersetzen.79 Diese ist mehr als nur oberflächliche Komposition und Kompilation von Detailforschung und etwas anderes als eine Synthese der Einzelforschungen. Sie ist auch etwas anderes als die souveräne Summe eines gelehrten Spezialisten. Sie ist die Untersuchung ei75 Erstmals Neuwied 1962, Neuausgabe Frankfurt am Main 1990. Hier verwendet: 2. Auflage der Originalausgabe von 1965. 76 Blänkner 2005, 86. 77 Blänkner 2005, 86; Daniel 2002, 9–17. 78 Habermas 1965, 7. Cf. zum Postulat der Interdisziplinarität in demokratie- und allgemein politiktheoretischer Hinsicht: Waschkuhn 1998, 292, 3; in (global-)historischer Hinsicht: Grandner/Komlosy 2004, 7. Eine heuristisch motivierte Wiederbelebung des Politikbegriffes regt auch Mergel 2005, 362 an. 79 Freilich wird das Fehlen hinreichender „systematischer Zusammenschau“ auch in der neueren geschichtswissenschaftlichen Forschung kritisiert, Reinhard 2005, 205: Dies unterstreicht den desideratären Charakter.

Einleitung

35

ner extrem eng bemessenen Frage zu einem der weitesten Felder menschlicher Koexistenz unter den Bedingungen der Moderne. Es geht um ein exakt bemessenes Problem, das eines der allgemeinsten Phänomene stellt.

III. Methode Diese Grundbedingungen, die der Untersuchungsgegenstand mit sich bringt, erfordern, Methode in ihren verschiedenen kategorialen Dimensionen zu berücksichtigen, um das Vorgehen dieser Untersuchung zu bestimmen. 1. Methode als Definiens des Erkenntnisgegenstandes Der Beschreibung und Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes dient die Neue Institutionenökonomik.80 Obwohl ihrer Herkunft nach Ökonomik versteht sie sich in den USA inzwischen als integraler Bestandteil der Politikwissenschaft.81 Dies wird in der Einsicht reflektiert, dass die Phänomene von Staatlichkeit und Öffentlichkeit nicht ausschließlich nach den Maßstäben der Theorie des rational choice, also des methodologischen Egoismus zu messen sind. Daher geht die Institutionenökonomik nicht von der unsichtbaren Hand des Adam Smith aus. Vielmehr berücksichtigt sie institutionelle Voraussetzungen, denen die Akteure unterliegen. Diese Institutionen sind jedoch zumeist historisch gewachsen. Der moderne Staat als Kulturgut ist daher niemals ohne Kulturwissenschaft im ursprünglichen Wortsinne zu begreifen. Grundsätzlich folgt diese Studie dem Institutionenbegriff der strengeren institutionenökonomischen Definition. Diesen Sprachgebrauch freilich in einem derart traditionsgesättigten Zusammenhang wie demjenigen des Staates allzu starr anzuwenden kann selbst bei einer im Zweifel eher funktionellen als historischen Analyse allzu leicht in die Irre führen. Begriffsverwirrung besteht zwischen dem angelsächsischen und damit dem der Neuen Institutionenökonomik (NIÖ) zugrunde liegenden Sprachgebrauch einerseits und der kontinentaleuropäischen Sprachregelung. Gemäß der Neuen Institutionenökonomik (NIÖ) handelt es sich bei Institutionen im Gegensatz zu Organisationen „um Gruppen von Einzelpersonen, die ein gemeinsamer Zweck, die Erreichung eines Ziels verbindet“.82 Institutionen sind im streng institutionenökonomischen Sinne dagegen „vorgegebene Spielregeln“.83 Der kontinentaleuropäische Sprachgebrauch ist à la longue weniger konsequent, begrenzt aber den Institutionenbegriff stärker auf traditional begründete soziale Phänomene, zu denen der Begriff der Organisation sodann zumeist in einem zeitlichen Sinne ge80 81 82 83

Zur wissenschaftshistorischen Einordnung, u. a. Waschkuhn 1998, 336. Aranson 1998, 744; Voigt 2007, 29 ff. North 1998, 5. North 1998, 5.

36

Einleitung

gensätzlich ist, der aber auch inhaltlich Eigenschaften der Moderne, namentlich der Rationalisierung stärker abbilden will.84 Der Bereich kollektiver und öffentlicher Güter ist begrifflich auch von den Wirtschaftswissenschaften bislang nur ansatzweise und uneinheitlich, rudimentär und widersprüchlich begrifflich durchdrungen und erfasst worden.85 Ein vergleichsweise klares und zuverlässiges Abgrenzungskriterium des Begriffs der Kollektivgüter, wie er im hiesigen Zusammenhang erheblich ist, ermöglicht die Definition, die Blümel, Pethig und von dem Hagen anbieten, nämlich dasjenige der „jointness“.86 Diese „Jointness“ gründet maßgeblich darin, dass die betreffenden Güter auch für einen arbiträren Dritten nicht neutral im Sinne übergeordneter Gerechtigkeit teilbar sind. 2. Methode als Gliederungsprinzip und Organisation des Erkenntnisvorgangs Der Untersuchungsgegenstand ist letztlich nicht die Vergangenheit, sondern die Gegenwart, die als Ergebnis kultureller Evolution erklärt zu werden versucht wird.87 Die Evolutionstheorie hat in der jüngeren Vergangenheit darüber die Gleichgewichtstheorie verabschiedet.88 Eine Synthese dieser beiden bislang konkurrierenden Erklärungen sozialer Institutionen und gesellschaftlicher Rationalisierungsprozesse könnte das Modell eines Fließgleichgewichts darstellen. Evolution als Erklärungsdimension gilt bereits traditionell als dem Erkenntnisgegenstand angemessen,89 insbesondere um das Entstehen und die Dauer von 84 Beispielhaft wird dies etwa bei Habermas 1965, 170 deutlich, der Großunternehmen als Organisationen definiert, die „eine Reihe von Funktionen“ übernehmen. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie „ursprünglich von nicht nur im juristischen, sondern auch im soziologischen Sinne öffentlichen Institutionen erfüllt wurden.“ 85 Blümel/Pethig/von dem Hagen 1986, 244. Cf. den vielseitigen und offenen Gebrauch des Begriffs „public goods“ durch Olson, der kritisch zusammengestellt ist bei Blümel/Pethig/von dem Hagen 1986, 252. 86 Blümel/Pethig/von dem Hagen 1986, 245. 87 Cf. Tomasello 2005, 227. 88 North 1986, 231; Assmann 2005, 185 ff. 89 Jellinek 1913, 230 und 265. Aber auch ein zu Jellinek so gegensätzlicher Denker wie Marx entwickelt im Hinblick auf die Gesellschaft, über die vermittelt sich bekanntlich für ihn auch der Staat erschließt, diese Methode: „Die bürgerliche Gesellschaft“, ist Marx zufolge, „die entwickelste und mannigfaltigste historische Organisation der Produktion. Die Kategorien, die ihre Verhältnisse ausdrücken, das Verständnis ihrer Gliederung und die Produktionsverhältnisse aller der untergegangenen Gesellschaftsformen, mit deren Trümmern und Elementen sie sich aufgebaut, von denen teils noch unüberwundene Reste sich in ihr fortschleppen, bloße Andeutungen sich zu ausgebildeten Bedeutungen entwickelt haben etc. In der Anatomie des Menschen ist ein Schlüssel zur Anatomie des Affen.“ Marx 1974, 25 f. Auch die Kontroverse um Olsons politische Ökonomie zeigt, dass zumindest die Evolutionstheorie als erkenntnistheoretische Grundannahme doch inzwischen weitestgehendes Gemeingut darstellt, Waschkuhn 1992, 29 und 42.

Einleitung

37

Institutionen zu verstehen.90 Hinzu kommt, dass die Evolution von Reaktionen, die auf die Situation des Gefangenendilemmas erfolgen, mittlerweile vergleichsweise weitgehend erforscht ist:91 Die Empirie selbst, wie sie die klassische Geschichtsforschung ermöglicht, ist durch Versuche sozialwissenschaftlich ergänzt worden. Da sowohl Staat als auch Gesellschaft „lebende Systeme“ 92 darstellen, sind sie zwangsläufig auch den Gesetzmäßigkeiten der Evolutionstheorie unterworfen.93 Prinzipielles tertium comparationis ist, wie bereits festgestellt,94 das Konzept des Wettbewerbes.95 Wettbewerb als universelles Konzept ist im hiesigen Zusammenhang als Erklärungsmodell zu verstehen, um die Entwicklung von Staat zu begreifen. Dass dieses Modell selbst sich als bewusstes und selbstreferentielles Leitbild derjenigen Organisationsformen erweist, die sich zunehmend im Wettbewerb des Lebens durchsetzen, kommt freilich nicht von ungefähr. Der Evolution als Modell ist Blochs Einsicht der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen selbstverständlich: Klassen und Ordnungen verschiedener Zeitalter existieren parallel und erschließen sich nur durch Kombination chronologischen wie systematischen Zugangs. Auch der gegenwärtige Staat ist immer auch noch ein Territorialstaat. Der Sozialstaat der Gegenwart kann auf weit zurückreichende Vorformen zurückgeführt werden. Ebenso ist es unbestritten, dass der Rechtsstaat nicht ein auf das 19. Jahrhundert beschränktes Phänomen darstellt, sondern Maßstab einer wachsenden Zahl moderner Staaten bleibt. Aber selbst der Polizeistaat bleibt im Genom des gegenwärtigen Staates, auch des Rechtsstaates, enthalten. Und der Gewährleistungsstaat entstand nicht erst am Ausgang des 20. Jahrhunderts. Gleichwohl gibt es „Blütezeiten“ bestimmter historischer Phänotypen. Dem versucht die vorliegende Untersuchung Rechnung zu tragen, indem bei der Analyse des modernen Staates mittelbar eine historische Querkategorisierung einge90

Sen 2002, 485. Grundlegend ist noch immer die Pionierleistung von Axelrod „Die Evolution der Kooperation“; zur Evolution von Strategien, um auf das Gefangenendilemma zu reagieren, v. a. 44; Herrmann-Pillath bietet eine kurze Bewertung des „Gefangenendilemma[s] aus evolutorischer Sicht“, um es zu erklären: Herrmann-Pillath 2002, 107 ff. 92 „Lebende Systeme zeichnen sich dadurch aus, [. . .] durch Zufuhr von freier Energie bzw. niedrig entropischer Materie Zustände höherer Ordnung zu stabilisieren. [. . .] Lebende Systeme“ sind „stabile Zustände fern vom Gleichgewicht. Neben dieser Eigenschaft zeichnen sie sich aber durch fortlaufenden Wandel aus.“, Herrmann-Pillath 2002, 203; ferner 214. Die Frage, ob und inwieweit gesetzte Ordnungen eine ähnliche Eigendynamik entfalten wie „natürliche“ Ordnungen, ist jüngst ordnungstheoretisch erörtert worden von Anter 2004, 23. 93 Als Beispiele aus der neueren Literatur zur Umsetzung der Evolutionstheorie als kulturwissenschaftlichem Konzept seien angeführt: Blackmore 1999; Herrmann-Pillath 2002, 216 und passim; Becker/Mehr/Reuter/Stegmüller 2003; dazu: Hildebrand 2005, 394 f. 94 Cf. 8. 95 Herrmann-Pillath 2002, 205. 91

38

Einleitung

zogen wird. Als Erklärung der Gegenwart versteht sich die Arbeit damit auch als geschichtswissenschaftliche Untersuchung im archetypischen Sinne von Historiographie, wie sie Thukydides beschreibt. „Wer aber das Gewesene klar erkennen will und damit auch das Künftige, das wieder einmal, nach der menschlichen Natur, gleich oder ähnlich sein wird, der mag sie so für nützlich halten, und das soll mir genug sein: Zum dauernden Besitz, nicht als Prunkstück fürs einmalige Hören ist sie verfasst.“ 96

Unter dem Eindruck der mittlerweile auch die Kulturwissenschaften erreichenden Evolutionstheorie präzisiert diese Erkenntnis, die Gegenwart als Konzentrat des Vergangenen zu begreifen, Aleida Assmann, indem sie die Gegenwart als „Nutznießer einer langen Vorgeschichte“ erklärt, „in der das entscheidende und noch immer relevante Wissen erworben wurde, mit dem wir heute selbstverständlich“, aber eben bisweilen auch unkritisch „umgehen“.97 Es ist indes ein Gebot der Ehrlichkeit, wenn an dieser Stelle darauf hinzuweisen ist, dass sich die vorliegende Untersuchung nicht als eine geschichtswissenschaftliche in dem Sinne versteht, wie er gemäß weitgehender Konvention im deutschsprachigen Bereich heute allgemein verbreitet ist. Vielmehr sollen „sachlich zusammenhängende Phänomene einer zeitlich übergreifenden Betrachtung“ unterzogen und gegebenenfalls auch epochenvergleichend betrachtet werden.98 Den Möglichkeiten und der Überlegenheit, welche die Geschichtswissenschaft gegenüber anderen Disziplinen betrachtet aus ihrer relativ ausgeprägten methodischen, heuristischen und teleologischen Offenheit bezieht, entspricht die vitale Konfliktkultur, die sich darüber entfaltet, ob eine Forschungsleistung recht eigentlich der Geschichtswissenschaft zuzurechnen sei: Die vorliegende Studie hat sich bewusst zum Ziel gesetzt, ein Sachproblem eben dem Erkenntnisgegenstand so angemessen wie möglich zu bewältigen, und nicht in den Mittelpunkt des Bemühens gestellt, so eindeutig wie möglich einer Disziplin zurechenbar zu sein. Gerade die politische Theorie verdeutlicht, wie historische Ideen in der Nachwelt fortleben.99 Die Neue Institutionenöknomik führt zu einer Renaissance des Begreifens von Rationalisierungszusammenhängen, wie sie namentlich der Staat verkörpert, als historischen Phänomenen, wie sie auch nach dem Ende des Historismus in den sozialwissenschaftlich ausgerichteten Staatswissenschaften niemals ganz verschwunden waren.100 Gerade im Falle der Zeitgeschichtsschreibung lässt sich behaupten, dass deren systematische Bearbeitung zumindest in Deutschland von der Politikwissenschaft ausging, die dabei zum Teil bewusst an jenes inte96

Thukydides 1, 22. Assmann 2005, 184. 98 Wyduckel 2003, XI; Rüdiger Voigt 2007, 20. 99 Besonders deutlich ist dies in den letzten Jahrzehnten im Falle von Althusius’ Politik geworden: Mac Rae, 1974; Heller 1983, 28 ff. und Amato 2003, 577–581. 100 Draht 1966, 272. 97

Einleitung

39

grale Wissenschaftsverständnis anknüpfte, wie es sich in der „Politik“ des Historikers Dahlmann entfaltete.101 Gerade weil Pfadabhängigkeit als definierendes Merkmal von singulären Prozessen deren konstitutive Eigenschaft ist und gerade weil sie also nicht selbst Ursache von Eigenschaften ist,102 erweist sich die historiografische Methode als unverzichtbar, Prozesse wie Entstehen, Bestehen und Ausdehnung von Staat zu erfassen. Konsequent betrachtet ist selbst eine Staatstheorie darauf angewiesen, „daß die historische, individualisierende Methode erst das Anschauungsmaterial liefern muss, bevor durch die Generalisierung eine Theorie gewonnen werden kann.“ 103 Die Erforderlichkeit, methodisch zweigleisig vorzugehen, ist bereits Bluntschli klar gewesen: Die historische Methode müsse so weit gefasst sein, „dass sie nicht bloß [. . .] die vorhandenen Tatsachen [. . .] knechtisch verehrt.“ 104 Bluntschlis Zeitgenosse Dahlmann erinnert wiederum daran, dass zumal der Staat einen Untersuchungsgegenstand ausmacht, den zu verstehen gleichermaßen der historischen Perspektive bedarf, wie die Geschichte nicht ohne den Staat zu begreifen ist. „Da die Menschheit kein anderes Daseyn hat als dieses, welches im steten Entwickelungskampfe, räumlich und zeitlich begriffen, in unserer Geschichte vorliegt, so entbehrt eine Darstellung des Staates, welche sich der historischen Grundlage entäußert, aller ernsten Belehrung und gehört den Phantasiespielen an.“ Dahlmann gemäß „drängt alle Behandlung von Staatssachen im Leben und in der Lehre zur Historie hin, und durch sie auf eine Gegenwart.“ 105

Wahrheit definiert sich in der modernen Wissenschaft durch Wahrscheinlichkeit: Es gilt daher, die Widersprüchlichkeit ebenso antagonistischen wie synergetischen Verhaltens der verschiedenen Spezies politischer Institute als Konstituenten von Wirklichkeit anzuerkennen. Um erneut eine Anleihe bei der Evolutionsbiologie aufzunehmen: Die Tatsache, dass die Evolution den Menschen hervorgebracht hat, hindert bislang den Quastenflosser nicht, seit Millionen Jahren mehr oder weniger unverändert fortzuexistieren. Dies führt weg von voraussetzungslosen Gesetzmäßigkeiten zu verlaufsabhängigen Wahrscheinlichkeiten. Damit wird der Bereich der Inhaltsbestimmung verlassen und der Bereich der Methode als formalem Durchführungsmodus betreten.

101

Bleek 2005, 91. Herrmann-Pillath 2002, 232. 103 Horneffer 1933, 16. 104 Bluntschli 1886, 4. Die philosophische Methode ziele hingegen darauf ab, dass sie „nicht bloß abstrakt spekuliert, sondern konkret denkt und eben darum Realität und Idee verbindet“, ibid., 8. 105 Dahlmann 1997, Nr. 12. 102

40

Einleitung

Die Institutionenökonomik wird freilich als Definiens die gesamte Untersuchung steuern. Sie ermöglicht, die Ausgangsfrage in den einzelnen Untersuchungsschritten jeweils zu stellen, um die Erkenntnis selbst mit der jeweils gebotenen und möglichen Schärfe zu trennen. 3. Methode als Auswahl der Erkenntnismittel Nachdem die Methode der vorliegenden Untersuchung als Definiens sowie als Erkenntnis- und Gliederungsprinzip erklärt worden ist, gilt es nunmehr, das Material zu definieren, das herangezogen werden soll, um die Ausgangsfrage zu erörtern, ob und inwieweit die aufgestellte Hypothesis zutrifft. Diese Studie ist als Auseinandersetzung mit derjenigen Theorie angelegt, die sich zu den klassischen Feldern des Politischen, vor allem mit der verknüpften Wirkweise von Staat, Demokratie und Öffentlichkeit entwickelt hat. Definierend ist hier die Leitfrage, warum Staat wirkt, die den Fokus auf Staatstheorie und nicht auf Staatsphilosophie oder Staatsrechtslehre legt. Die Fragestellung bezieht sich auf sozialwissenschaftlich informierte oder zumindest sozialwissenschaftlich kompatibilisierbare Texte und nicht auf typische Texte klassischer Jurisprudenz. Es liegt in der Eigenart dieser Erkenntnisgegenstände begründet, dass auch andere Quellen als solche der politischen Theorie und Ideengeschichte theoretische Bezugspunkte bieten. Vornehmlich ist hierbei auf Texte zu rekurrieren, die in herrschaftsausübender Absicht verfasst worden sind. Es soll nicht verleugnet werden, dass es eine hohe Kunst darstellt, auch aus Überresten oder nicht politisch, geschweige denn herrschaftsausübend motiviertem Quellenmaterial Entwicklungen zu induzieren bzw. das Einzelne deduktiv entsprechend zu kategorisieren. Aber dies ist naturgemäß nur unter Voraussetzungen möglich, die in jeder Hinsicht äußerst eng umgrenzt sind. Solcher Methode absolut und bedingungslos auch im hiesigen Zusammenhang verhaftet zu bleiben, schlösse die Analyse grundlegenden Wandels der longue durée aus. Bereits der Jurist Schmidt und ihm folgend Kern haben den Fehler, „auch hervorragende Theoretiker als Spiegelbild ihrer Staaten oder mindestens beherrschender zeitgenössischer Anschauungen über Wesen und Aufgaben des Staates hinzunehmen“ 106 für einige herausragende Staatsdenker systematisch aufgezeigt. Aus diesem Grunde werden politische Denker auch zeitenthoben als Belege, ja oftmals als prµtoi ežretaß für die Theorie des gegenwärtigen Staates verwandt. Dass die Aussagekraft für die eigene Epoche häufig deutlich eingeschränkt und bisweilen gerade im Umkehrschluss zu gewinnen ist, ist dabei vorauszusetzen. In dem Maße, in dem sich vor allem in der Geschichtswissenschaft der Staat zunehmend als „kulturelles Konstrukt“ darstellt,107 geht dieser ohnehin in einer ihrer Normativität befreiten Ideen-,

106

Schmidt 1901, 826.

Einleitung

41

Theorie- und Geltungsgeschichte auf, sofern er nicht als historische Wirkkraft sogleich gänzlich verabschiedet wird. Staat ist mehr als andere historische und gesellschaftliche Phänomene ein informationeller Vorgang menschlicher Koexistenz. Deutlich ist freilich anzuerkennen, dass die Bedeutung politischer Theoretiker als deskriptive Quellen seit jeher zumindest hoch umstritten ist, um sie als Teil der zu deskribierenden Wirklichkeit, zu begreifen.108 Wenn heute das maßgeblich der Medizin entlehnte Ausschlussverfahren bevorzugte Methode moderner Wissenschaft ist, so gilt dies zumindest für die methodologische Voraussetzung der vorliegenden Untersuchung: Einerseits soll vermieden werden, Abstraktion und Begriffe ersatzlos paralysierend in isolierter Betrachtung von Einzeltatsachen aufgehen zu lassen.109 Andererseits erweisen sich nicht eben selten Arbeiten aus der Geschichtswissenschaft, indem zumeist die unkritische Übernahme moderner Begriffe im Wortsinne kritisiert, also unterschieden wird, insofern als die abstraktesten und reflektiertesten Konzentrate.110 Wo sich die Geschichtswissenschaft tatsächlich um den historischen Einmaligkeiten angemessene Begriffe bemüht, entsteht hochgradig theoriefähiges Material. Die leitende Kautel dieser Untersuchung besteht also darin, nicht mikroskopisch umgrenzt, wohl gelegentlich mikroskopisch eingehend und nicht einer einzigen disziplinären Perspektive, wohl aber disziplinierter Konsequenz verpflichtet zu sein. Sich der Unangemessenheit moderner Begriffe bewusst zu werden lässt den Beruf der Wissenschaft noch komplizierter werden und verlangt mehr statt weniger Abstraktion. Deutlich wird dies im hiesigen Zusammenhang daran, dass der Begriff des Staates, nachdem er auf das Mittelalter bezogen seine Zulässigkeit nahezu vollständig verloren hat, nun auch für die frühe Neuzeit zunehmend in Zweifel gezogen wird. An seine Stelle treten Begriffe wie derjenige der „Herrschaftsinstitutionalisierung“, wobei selbst ein solcher Begriff nicht die Lücke schließt, die ein Verzicht auf den Staatsbegriff reißt.111 Ist dieser Weg aber einmal eingeschlagen, müssen auch für die davon abhängigen oder zusammenhängenden Begriffe adäquate Ordnungsbegriffe entwickelt werden.

107 Freist 2005, 27. Systeme werden heute allgemein als Konstrukte aufgefasst und eine Trennung zwischen Erkenntnis des Gegebenen und Erkenntnis als Konstruktion ist damit obsolet; cf. zu diesem vornehmlich auf Luhmann zurückgehenden Gedanken in einer für den Zusammenhang des Staates formulierten Form: Gröschner 2001, 497 f. 108 Deutlich wird dies gleich zu Beginn des Untersuchungshauptteils am Beispiel Thomas von Aquins werden. 109 Dafür wäre überdies auch das Format des Themas ungeeignet. 110 Ein Musterbeispiel, das auch dem hiesigen Untersuchungsgegenstand verbunden ist, stellt Brunners magistrales Werk Land und Herrschaft, Grundlagen der territorialen Verfassungsgeschichte Südostdeutschlands im Mittelalter, Brunner 1939 dar. 111 Angemessener wäre es etwa, von regelgeleiteter und zunehmend kodifizierter Normierung unterliegender Steuerungsinstitutionalisierung zu sprechen.

42

Einleitung

Die Summen und Synthesen, Schlüsse und Fragen zu berücksichtigen, die nicht selten aus der Dialektik detaillierter Erforschung einzelner, historisch eng umgrenzter Phänomene erwachsen sind, ist letztlich Sinn und Zweck der oben formulierten Vermeidungsklausel. Als weiterführend soll die Synthese und nicht die Polarisierung von Abstraktion und Konkretion, von Theorie und Praxis verfolgt werden. Als leitendem Idealhorizont versucht sich die Untersuchung an dem Ziel zu orientieren, durch Berücksichtigung der Formenvielfalt staatsbezogener Wissenschaft sich möglichst fein zu justieren, so dass Begriffe von einem notwendigen Maß an Anschauung erfüllt sind, ohne sich in begrifflich unkonzentrierte Anschauung aufzulösen. In der Zeitgeschichte wird die Entwicklung der Sozialwissenschaften als „erklärungsmächtiger Faktor für die Umgestaltung des politischen Systems und für neue Formen politischen Denkens und Handelns in den sechziger Jahren“ erachtet.112 Dies gründet in der Selbstreflexivität der Moderne, der die Verwissenschaftlichung des Lebens folgt.113 Daraus resultieren sodann prinzipiell infinite Rückkopplungseffekte zwischen Theorie und Praxis. Tatsächlich sind diese Effekte freilich begrenzt, wie sich nicht zuletzt in der vor einem Generationenalter aufgetretenen Fortschrittsskepsis verdeutlicht, die auch neue Staatsskepsis hervorgebracht hat.114 Dieser Umstand erfordert freilich noch stärker die Berücksichtigung dieser Verschränkung theoretischer und angewandter Sphären, deren Ausmaß nur am konkreten Einzelfall vorgenommen werden kann. Politische Staatsführung wie Staatspolitik sind längst weltweit wissenschaftlich informiert und weithin programmiert. Wissenschaftsförmige Selbstreflexion wird mit voranschreitender Modernisierung zum Modus von Politik, wie das Beispiel zahlreicher Regierungen zeigt, die den „aktivierenden Staat“ und die „Zivilgesellschaft“ zu Leitlinien der Politik erheben.115 Ist die moderne Staatsverwaltung verwissenschaftlicht, so folgt sie damit einem konstitutiven Merkmal des modernen Staates: Der Rationalität. Bedeutendste Theoretiker, wie etwa Niklas Luhmann, waren nicht erst in zeithistorischen Epochen Verwaltungsbeamte. Bereits Niccolò Machiavelli leitete bekanntlich die Kanzlei des Rates der Zehn in Florenz, bevor er seine Werke schrieb.116 Und wenn beispielsweise Hobbes’ 112

Metzler 2002, 70. Auch hierfür bieten die 1960er Jahre das als Prototyp einschlägige historische Datum, wie Metzler 2002, 87 anschaulich beschreibt. 114 Metzler 2002, 76. Zur neuen Fortschrittsskepsis cf. Hildebrand 2003, 327 ff. Als frühes Dokument vorsichtiger Andeutung von Skepsis zur Planbarkeit von Staat und Politik kann etwa auch schon Böckenförde 1972, 430 gelten. 115 Rede von Bundeskanzler Schröder bei der Eröffnung der CeBIT 2000 (www. bundeskanzler.de), zit. nach Korte/Fröhlich 2004, 372. 113

Einleitung

43

Theorie des Leviathan nicht ohne seine Zeit zu verstehen ist, so bedeutet dies gerade, ihn in seiner ganzen Gegenwartsverhaftetheit als ersten neuzeitlichen Staatstheoretiker zu begreifen, der sich mit größter Konsequenz naturwissenschaftlicher Methode bediente.117 Der Schock des Bürgerkrieges ließ ihn überzeitliche Gesetzmäßigkeit für seine Arbeit zum Maßstab erheben. Die Eigenart der Moderne als historischem Phänomen liegt gerade in ihrem ahistorischen Modus:118 Ihre Denker sind ohne ihre Zeit genau so wenig zu verstehen wie nur aus ihrer Zeit. „Niemand entkommt seiner Zeit.“ 119 Dieses Wort Joachim Fests lässt sich im Hinblick auf die moderne politische Theorie ergänzen: Deshalb verfügen die modernen Denker über eine relativ hohe Anschlussfähigkeit an den Diskurs der Gegenwart. Theoretisch ausgerichtete Verfasser aus sich heraus zu verstehen bedeutet just zu versuchen, ihren Anspruch auf relative Zeitenthobenheit zu berücksichtigen, und dass sie daran gescheitert seien, nicht a priori zur Regelannahme zu machen. Diese Einsicht droht durch außerwissenschaftlichen Druck verschüttet zu werden: Steigender, letztlich außerwissenschaftlicher Rechtfertigungsdruck begünstigt eine Tendenz, den wissenschaftlichen Fortschrittsprozess der funktionalen Differenzierung zunehmend von gesetzten wissenschaftsorganisatorischen und -soziologischen Kriterien abhängig zu machen bzw. die Entwicklungsrichtung von Differenzierung zu determinieren. Die Geistes- und Sozialwissenschaften erleben zumindest in Kontinentaleuropa gegenwärtig einen nicht unbeachtlichen Zentralisierungsschub. Oftmals droht sich infolgedessen eine einzige Ordnungskategorie wissenschaftlichen Fortschritts als methodischer Monopolist zu etablieren. Es gilt, der Gefahr gewärtig zu sein, dass gerade die gegenwartsorientierte Perspektive dessen, was ein bestimmtes Zeitalter oder historisches Phänomen ausmache, zum Prokrustesbett potentiell überprogrammierter Forschung werden kann, in das die theorie- und abstraktionsorientierten Eigenheiten untersuchter Autoren und Texte eingezwängt werden. Dies wiederum bedeutet nicht, dass jede grundlegende Tendenz historischer Forschung sogleich zu verdächtigen sei, sie wolle Autoren und Texte gewaltsam entstellen: Auch die gegenwärtige Wissenschaft selbst hat ein Recht darauf, in ihrem Anliegen ernst genommen zu werden, sie befördere den Erkenntnisfortschritt. Diese Arbeit zieht die Konsequenzen aus der allgemeinen Überwindung des nachkantianischen Methodendualismus, der den Kosmos der Erkenntnis in Wissenschaften des Seins und solche des Sollens trennte. Insofern unterscheidet sich 116 Zum spezifischen Bezugsfeld politischer Praxis und empiriegeleiteter Theorie bei Machiavelli cf. Buchheim 1986, 207; Waschkuhn 1998, 52 ff. und Voigt 2007, 221. 117 Reinhard 2002, 115 weist eingehend daraufhin, dass Hobbes’ Werke, gerade weil sie vom neuesten Stand der Wissenschaft informiert sind, als Theorie des Absolutismus zur Analyse der politischen „Realgeschichte“ unerlässlich sind. 118 Leisner 1968; Hildebrand 2008. 119 Fest, FAZ 31. Juli 1982.

44

Einleitung

die Untersuchung von reiner Argumentationslogik, wie sie zumindest dem klassischen Verständnis rechtlicher Erkenntnis eben als einer iuris prudentia und nicht als einer Rechtswissenschaft zugrunde liegt.120 Die eigentliche Forderung des Tages besteht darin, der Relativität des Methodischen Rechnung zu tragen: Normsysteme beschreiben in der Moderne mehr denn je einen Teil der Wirklichkeit und Sprache wird eigenständiges Entdeckungsinstrument. Die entscheidende Kategorie zum Verständnis der Moderne ist diejenige der Geltungsgeschichte.121 Demgegenüber gebietet die informationelle embarras de richesse der Moderne eine unvermeidlich auch normativ wirkende Selektivität der reinen Deskription. Entscheidendes Auswahlkriterium, das Material dieser Analyse zusammenzustellen, ist daher der Grad seines Abstraktionsgehaltes und seiner Konsequenzialisierbarkeit. Dies schließt Material ein, das Summe oder Konzentrat, Erfahrung oder Erschließung fast unendlich vieler Einzelfälle sein kann und im klassischen Selbstverständnis moderner Sozialwissenschaft geeignet ist, nicht-selbstreferentielles Wissen zu explizieren.122 Das andere Auswahlkriterium liegt im Grad seiner Deskriptivität. Ist das Material derart normativ aufgeladen, dass es in offensichtlichem Widerspruch zu den Verhältnissen steht, die es zu regeln beansprucht, können derartige Texte nicht unmittelbar als Quellen der politischen Theorie behandelt werden, sondern bestenfalls ihre Entstehungsgründe, vor allem aber ihre mangelnde oder gar fehlende Geltungskraft Gegenstand der Erörterung sein; mehr noch: Das Spannungsfeld zwischen Norm und Wirkung, als Ort von Wirkmacht der Ohnmacht des Utopischen dürfte sich als weitaus erkenntnisträchtigerer Raum für Einsichten in das Grundsätzliche erweisen als seine rein phänomenologische Zurkenntnisnahme. Denn zur Analyse einer Entscheidungssituation sind über die tatsächlichen Translationen hinaus Wahrnehmung und Kommunikation der Beteiligten ausschlaggebend.123 Je deskriptiver die Beobachtung ist, desto ununterscheidbarer ist sie von dem, was Wirklichkeit ist. Denn es erhebt sich desto drängender die Frage, ob das vermeintlich oder tatsächlich Normative nicht Teil der Wirklichkeit ist.124 Beispielsweise findet sich im Zusammenhang mit der 120 Cf. zu diesem klassischen Verständnis die methodischen und methodologischen Ausführungen bei Isensee 1968, 22. Locus classicus für sozial- bzw. ganzheitliche Rechtswissenschaft ist Heller. Aber auch der als Gegenbild bisweilen bemühte Jellinek war zutiefst vom deskriptiven Charakter und dem empirischen Auftrag seiner „Allgemeinen Staatslehre“ überzeugt, Jellinek 1913, 249; cf. auch Isensee 1968, 67. 121 Melville/Vorländer 2002. 122 Zu dem in der wissenschaftlichen Praxis nicht immer leicht und eindeutig zu bestimmenden Unterschied von selbstreferentiellem und nicht-selbstreferentiellem Wissen cf. Herrmann-Pillath 2002, 38; 96 und 471 f. Ohne diese Terminologie zu verwenden, wird dieser Unterschied im Hinblick auf den Staat auch von Meadowcroft 1995, 60 erörtert. 123 Hermman-Pillath 2002, 110. 124 Rorty 1988, 87 und Schefczyk 2003, 200 erachten politische Institutionen normativ zu betrachten als eventuell unmöglich oder „zumindest ungeeignet“. Manche Theorie im normativen Gewand sei eigentlich präsumtiv, Schefczyk 2003, 208.

Einleitung

45

Frage nach Sozial- oder Wohlfahrtsstaatlichkeit als Prinzip staatlicher Sozialverantwortung eine weit verbreitete Spezies „genau zwischen normativer Theorie und sozialwissenschaftlicher Deskription.“ 125 Das, was klassisch mit dem Begriff der Ideengeschichte belegt wird, kann nicht von den Tatsachen politischer und sozialer Zustände und Veränderungen getrennt gedacht werden: Es ist als Diskurs Teil der Wirklichkeit.126 Auch Ideen sind Tatsachen: In Anbetracht der maßgeblich von Habermas entwickelten Diskurstheorie ist Diskurs Wirklichkeit schlechthin.127 Eine der Dichotomie von Normativität und Deskriptivität nahe, aber rein linguistisch ausgerichtete Unterscheidung wie diejenige zwischen konstativer und perfomativer Äußerung, gebricht forschungspraktisch ebenso an ihrem Idealtypischen:128 Bereits Austin hat dies sprachanalytisch gezeigt.129 Integrationswissenschaften weisen regelmäßig das Problem solch kognitiver Sphärenkontamination auf und versuchen, dieses mit je eigenen Begriffen ordnend zu bewältigen. Aufgabe dieser Arbeit ist demgegenüber relative Sphärenordnung, nicht freilich absolute Sphärentrennung. Besonders deutlich wird dies im Falle der katholischen Soziallehre, sei sie als integraler Bestandteil der Theologie oder auch als deren emanzipierte Filiation verstanden.130 Als Methode, sozusagen als Weg wissenschaftlicher Erkenntnis ist die Funktion der politischen Ideengeschichte auch als wissenschaftsorganisatorisches Phänomen in Gestalt des politikwissenschaftlichen Teilfaches der Politischen Theorie und Ideengeschichte sanktioniert, in deren Fortgang die Ideengeschichte sogar zunehmend als Theoriegeschichte begriffen und Politische Theorie als „Überbegriff“ erachtet wird.131 Während sich eine konsequente Trennung zwischen als 125

Schefczyk 2003, 247. Reinhard 2002, 101. 127 Dass die Ordnungskategorie der Ideengeschichte sich allmählich wieder erholt, zeigen etwa auch anerkannte neuere soziologische Forschungen, wie die Dissertation Kränkes, der sein Vorgehen als „Ideengeschichte in soziologischer Absicht“ charakterisiert, Kränke 2007, 16: Die Beschränkung auf reine Diskursanalyse erweist sich als zu eng, um materiale Problembewältigung eines so umfassenden Phänomens wie der modernen okzidentalen Staatlichkeit zu leisten. Die mittlerweile weit verbreitete Art, wie Diskursanalyse praktisch angewandt wird, opponiert die Kategorie des Diskurses bisweilen künstlich zu derjenigen der Idee. 128 Kränke 2007, 88. 129 Austin 1968, 145 und 150. 130 Rendtorff 1962, 423 f., der sowohl auf die ekklesiologischen Konglomerate hinweist, aus denen die katholische Soziallehre gewonnen (worden) ist, als auch auf die Notwendigkeit einer „geschichtlichen Reflexion ihrer selbst“, 430. 131 Waschkuhn 1998, 292. Auf das Problem von politischen Ideen, die als Material für politische Theorie dienen, geht bereits Robert A. Dahl in seiner Studie „A preface to democratic theory“ am Beispiel Madisons ein, der aber letztlich damit lediglich rechtfertigen will, auch diesen Weg einzuschlagen und damit die heutige Überordnung von politischer Theorie zu antizipieren, Dahl 2005, 5. 126

46

Einleitung

fiktiv implizierten Ideen und realitätsgestützter Theorie als offensichtlich undurchführbar erwiesen zu haben scheint, ist jedoch zumindest die Umsetzbarkeit des gegenteiligen, nämlich integralen Vorgehens über Jahrhunderte erwiesen worden. 4. Verflochtenheit der methodischen Kategorien Dass die einzelnen Kategorien des Methodischen sich manchmal bis an den Rand des Verschmelzens überschneiden, ist evident und die Verflochtenheit der Methoden im Falle staats- und demokratietheoretischer Analyse allgemein anerkannt. Denn von methodischen Cokausalitäten gewisser Erkenntnisse ist auszugehen.132 Schließlich tritt ein weiteres, durchaus willkürliches, für den Inhalt konstitutives Element hinzu: Nicht nur der Untersuchungsgegenstand Staat soll derjenige der Gegenwart sein. Auch das Untersuchungsmittel soll vornehmlich die politische Theorie der Gegenwart sein: Dass dies nicht ohne Rückgriffe auf ältere Theorie möglich ist, veranschaulicht das Wort Bernard von Chartres: „Wir sind Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen.“ Gerade weil wir weiter blicken können als Locke und Montesquieu, als Mommsen und Brunner, als Weber und von Hayek können wir sie nicht in einem antiquarischen Modus musealisieren, ohne unsere eigene Fundamente zu zerstören. Die politische Ideengeschichte muss einerseits in die Geschichte eingebunden werden, so dass sie nicht zu Dogmengeschichte erstarrt.133 Andererseits muss ihr zeitloses Potential erfasst und sie als Teil allgemeiner politischer Theorie nutzbar gemacht werden: Das setzt die Berücksichtigung historischer Kontexte gerade voraus. Die politischen Ideen sollen im hiesigen Zusammenhang so betrachtet werden, dass sie uns berühren. Die Literaturerfassung wird freilich zur Gegenwart hin gezielt dichter. Dieses Kriterium ist gleichermaßen unbefriedigend wie unumgänglich, denn Vollständigkeit ist in dem Ausmaße zur Utopie geworden, in dem das Neue Ausschließlichkeit beansprucht.134 Wenn es gelingt, im Rahmen dieser Untersuchung auch zu demonstrieren, dass in der Perspektive der Gegenwart, die freilich durch ihre singuläre Breite gekennzeichnet ist, das Vergangene enthalten und nicht aufgelöst ist, so wäre dieses Ziel über die Maßen erreicht. Mit dem Gefangenendilemma liegt eine Denkfigur vor, auf die sich alle Friktionen und Konfliktquellen menschlicher Koexistenz, die hier relevant sind, redu-

132

Waschkuhn 1998, 410. Münkler 1987, 18. 134 Die Illusion, Material vollständig zu erfassen, wenn ideenhistorisch gearbeitet wird, sieht etwa Kränke 2007, 23 sich auf die neuere französische Ideengeschichte berufend nicht nur als praktisches Organisations-, sondern auch als vorgängiges methodisches Problem an. 133

Einleitung

47

zieren lassen.135 Es ist daher das entscheidende Paradigma aller Wissenschaften, die sich mit menschlichem Zusammenleben befassen. Als Code individueller und kollektiver Rationalität, von Eigen- und Gesamtnutzen, sowie von Partikularinteresse und Allgemeininteresse, bietet es einen universellen Erklärungsschlüssel. Es ist zugleich von unmittelbarer Eingängigkeit und dennoch bietet es immer neue Konstellationen, die Konflikte auf passende Formen sozialer Dilemmata zurückführen können.136 Es eröffnet in seiner nachgerade banalen Erscheinungsweise zugleich Einsichten, die der Menschheit bis in das 20. Jahrhundert hinein nicht in solch bewusster Klarheit und Reflektierbarkeit vor Augen standen, wie sie durch das Gefangenendilemma und die aus ihm abgeleitete Spieltheorie ermöglicht worden sind: „It is one of the great ideas of twentieth century, simple enough for anyone to grasp and of fundamental importance,“ fasst William Poundstone die Bedeutung dieses Paradigmas zusammen.137 Ist der Gegensatz zwischen individuellen und kollektiven Interessen bekannt, so bleibt bewusste, also selbstreferentielle (Re-)flektion seiner Überwindung auf Appelle an Moral und guten Willen beschränkt. Diese werden wie auch der Staat bis in das 20. Jahrhundert hinein nicht weiter hinterfragt: Weil sich auf solche Institutionen nicht verzichten ließ, wurden sie dogmatisiert: „Der Staat während meiner Schulzeit war eben da. Er war eine Tatsache“, erinnert sich noch der im Jahre 1908 geborene Staatsrechtslehrer Werner von Simson. Bis in die klassische Moderne hinein handelt die Menschheit vielfach gemäß der Moral des Gefangenendilemmas, aber sie ist sich dessen bald kaum, bald überhaupt nicht bewusst. Die Politik- und Sozialwissenschaften haben im Anschluss an Weber einen spezifischen Typus des „modernen okzidentalen Staates“ herausgearbeitet und konzeptuell verfeinert.138 Auch in einem Phänomen wie dem common principle of law wird deutlich, dass sich auch rechtliche Regelungen übernational transzendieren lassen, weil in ihnen vielfach dasjenige reflektiert wird, was sich mit Schelsky als Grundsatzkonflikte westlicher Gesellschaften begreifen lässt.139 Mittlerweile lässt sich das

135 „The prisoner’s dilemma is a paradox we all have to live with“, Poundstone 1993, 123. Mit der Einschätzung, „in den Sozialwissenschaften gibt es kein wichtigeres Problem als die Erklärung der Kooperation“, fasst Mancur Olson den Diskurs über Spieltheorie im Allgemeinen und Gefangenendilemma im Besonderen zusammen, zit. nach Axelrod 2000. 136 „The prisoner’s dilemma is a universal concept. Theorists now realize that prisoner’s dilemmas occur in biology, psychology, sociology, economics, and law. The prisoner’s dilemma is apt to turn up anywhere a conflict of interests exists – and the conflict need not be between sentient beings,“ Poundstone 1993, 9. 137 Poundstone 1993, 9. Cf. auch Axelrod 200, 25. 138 Münch 1982a, 214–217; Waschkuhn 1998, 398; Voigt 2007, 53 und 279. 139 Schelsky 1973, 9; 19 und passim. Ein weiteres unabhängiges Zeugnis dieser Beobachtung stellt Foucaults Theorie dar, Foucault 2005 (b), 144.

48

Einleitung

common principle of law durchaus schon als institutionalisiert erachten und ist sogar Argument in nationalstaatlicher Verfassungsrechtsprechung.140 Doch während eine Disziplin wie die „Allgemeine Staatslehre“ nur generellabstrakt und deduktiv argumentieren kann,141 soll in der hiesigen Untersuchung auch der induktive Weg, Erkenntnis aus dem konkreten Einzelfall zu abstrahieren, aber gegebenenfalls auch nur als individuelles Phänomen zu beschreiben, möglich sein. Vergleichende Geschichtswissenschaft, die zumeist nur in Ansätzen besteht, führt zu ähnlichen Ergebnissen. Verwestlichung stellt spätestens mit dem Beginn der US-amerikanischen Weltherrschaft im 20. Jahrhundert sogar einen planmäßigen Prozess dar.142 Diese Gleichförmigkeit ist jedoch nicht nur bei Institutionen und statischen Phänomenen festzustellen, sondern auch bei Entwicklungen und dann, wenn an sich bereits rein deskriptiv zu konstatierende Tatsachen verglichen werden, wie etwa die Zunahme von öffentlich Bediensteten.143 „Aus der Not eines beschränkten wissenschaftlichen Horizontes“ werde bisweilen „die Tugend patriotischer Borniertheit“ gewonnen, „die Gemeinsamkeiten nicht wahrhaben will, weil sie liebgewordenen Vorstellungen von nationalen Sonderwegen widersprechen.“ So kritisiert Wolfgang Reinhard, dass komparatistische Methoden vernachlässigt worden seien, die sich eben dadurch auszeichnen, über ein Raster vermittelt, auch ein tertium comparationis abzuschöpfen.144 Eine Skepsis, die wie die Staatsskepsis beinahe so alt ist wie ihr Gegenstand, steht im Verdacht, für diesen konstitutiv zu sein. Dies gilt im besonderen Maße für die Skepsis, die hinsichtlich des Staates formuliert wird. Und in der Tat lässt sich zumindest von jenem kritischen Rationalismus, dem das eingangs bemühte Zitat Poppers verpflichtet ist, behaupten, dass er optimiert, was er kritisiert: Auch er geht vom Axiom des Fortschritts aus und nicht von antimoderner Fundamentalkritik.145 Dennoch drängt sich die Frage in jeder Generation von neuem hervor: Gibt es eine Lösung des Popperschen Paradoxons? Dem verbreiteten Optimismus, solches Optimum existiere, entspricht die Skepsis hinsichtlich dessen Bestimmbarkeit, wie sie Claus Offe formuliert: „Die einzig richtige Antwort auf die Frage nach dem optimalen Maß der Staatstätigkeit ist: Wir wissen es nicht. Genauer gesagt: Wir können die Antwort nicht in Form eines zwingenden ökonomischen oder philosophischen Arguments geben. Wir können diese nur durch einen Pro140 141 142 143 144 145

Tiedtke 2005, 38. Isensee 1999, 64, Anm. 104. Doering-Manteuffel 1999, 15. Hoppe 2003, 138. Reinhard 2002, 47. Popper 1987, IX.

Einleitung

49

zess und als Ergebnis eines gut informierten öffentlichen Diskurses innerhalb der Zivilgesellschaft finden.“ 146 Diese Aufforderung möge als Einladung zu einem Gang durch jenen Diskurs dienen, um seinem künftigen Fortgang informierend zu dienen.

IV. Anzeige und Bewältigung eines definitorischen Desiderates: Staatstätigkeit und öffentliche Güter Die zugrunde gelegte Hypothesis147 geht davon aus, es gebe bestimmte Kollektivgüter, die bereitzustellen, nur der Staat gewähren kann. Damit wird ein begriffliches und sachliches Konglomerat an Begriffen für Staatsverhalten angebohrt, das in den modernen demokratischen Rechtsstaaten kaum innerlich geordnet ist, obwohl diese Unklarheit längst erkannt worden ist.148 Diese begriffliche Unklarheit der Konnotation wird dabei durch diejenige sozialer und kultureller Denotation verschärft,149 obgleich bereits die Vernunftrechtslehre im 18. Jahrhundert, durch ihre Staatszwecklehre vermittelt, postulatorisch definierte, dass der Staat eine „Institution der Allgemeinheit“ sein solle.150 Da die hiesige Untersuchung eine sprachliche ist, treffen ihre entscheidenden Begriffe auf einen eingehenden Diskurs, der im Recht um ihre Definition geführt wird. Da Definition allgemein Voraussetzung von Untersuchung ist, muss in diesem Zusammenhang maßgeblich die rechtliche Diskussion berücksichtigt werden. Der in der Gegenwart wohl öffentlichkeitswirksamste und bekannteste Begriff ist derjenige des Staatszieles. „Staatsziele sind die Belange des Gemeinwohls (öffentliche Interessen), die der Staat sich zu Eigen macht und in deren Dienst er sich planmäßig stellt.“ Ein Staatsziel ist „Leitbild zur Gestaltung der gesellschaftlichen Ordnung. [. . .] Inhaltlich konkreter und thematisch enger als das Gemeinwohl“ ist es aber „abstrakter als eine Staatsaufgabe, die sich auf bestimmte Tätigkeitsbereiche bezieht.“ Ein „Staatsziel aktualisiert sich in verschiedenen Aufgabenfeldern des Staates. [. . .] Es gibt kein Programm zur Lösung“ bestimmter Probleme, „sondern nur den Appell zu deren Lösung, die in der

146

Offe 2000, 116. Die Fähigkeit des Staates, Situationen des Gefangenendilemmas zu überwinden und somit individuelle Bedürfnisse besser zu befriedigen, begünstigt seine Verbreitung. Dies wird jedoch nicht allein durch seine Fähigkeit zu besteuern ermöglicht. Vielmehr vermag er entweder Bedürfnisse überhaupt erst durch Kollektivgüter zu befriedigen oder zumindest deren Bereitstellung zu optimieren. 148 Reimer 2001; Isensee 1968, 164 macht sogar einen Bedeutungsverlust der Staatszwecklehre in der Allgemeinen Staatslehre der Zeit nach Jellinek aus: Cf. Larenz 1995, 255 ff.; Esser 1990, 7; 50; 69 und 92; Canaris 1983, 95 und 161; Hollerbach 1960, 249 und 267. 149 Noch Locke sah die Aufgaben des Staates auf Schutz von Leben, Eigentum und Freiheit der Bürger beschränkt, John Locke 1998, § 87, S. 253. 150 Böckenförde 1976b, 401. 147

50

Einleitung Kompetenzordnung der Demokratie dem Gesetzgeber obliegt; zugleich enthält es ein ideales Prinzip, an dem die gesetzgeberische Gestaltung sich auszurichten hat. Das Staatsziel als solches ist nicht festgelegt auf die Mittel seiner Verwirklichung, auf den Einsatz bestimmter staatlicher Kompetenzen und Befugnisse.“ 151

So definiert Josef Isensee den Begriff des Staatsziels. Damit steht er in der Tradition Georg Jellineks, ohne dass diese Definition verbindlich wäre. Vielmehr stellt sie einen der wenigen Versuche dar, einen diffusen Begriff zu konkretisieren und eine lange Begriffsgeschichte zu summieren. Die Frage nach dem optimalen Gesamtnutzen, der möglich ist, wenn das Gefangenendilemma erfolgreich überwunden wird, ist regelmäßig die Frage nach dem Gemeinwohl. „Today’s practitioners of game theory are attempting to forge a kind of ethical progress. Is there any way to promote the common good in a prisoner’s dilemma? The attempt to answer this question is one of the great intellectual adventures of our time.“ 152

Von Staatszielen sind Staatszwecke, wenn auch nur unvollständig, zu unterscheiden. Dies gründet nicht zuletzt darin, dass der Begriff deskriptiver, pragmatischer und realitätsorientierter ist als derjenige der Staatsziele und den instrumentellen Charakter des Staates, wie er zumal liberalstaatlicher Konzeption entspricht, hervorhebt. Bereits Jellinek definiert die Staatszwecke über ihre inhaltlich-konkrete Undefinierbarkeit. Vielmehr ist Staat Reaktion auf geschichtskonstituierende Evolution.153 Der Begriff der Staatsaufgaben wird mit dem Begriff des Staatszieles promiscue verwendet, was sich zumindest in Deutschland bis in die Terminologie amtlicher Dokumente hinein fortsetzt, die dem Problem des tÝloò des Staates gewidmet sind:154 „Im Sprachgebrauch werden Staatsziele und Staatsaufgaben zumeist nicht deutlich unterschieden, so werden sie zum Teil synonym verwendet im Bericht der Sachverständigenkommission ,Staatszielbestimmungen Gesetzgebungsfrage‘“ 155.

Der Unterschied zum Staatsziel lässt sich darin finden, dass Staatsaufgaben positiv umgrenzt156 auf bestimmte Handlungs- oder Verhaltensformen des Staates gerichtet sind, während Staatsziele resultativ sind und damit außerhalb des Staates liegen. Staatsziele streben gesellschaftliche Zustände an wie etwa innere 151 Isensee 1988, § 57, 115 [wird auch im Folgenden stets nach Paragraph und Randnummer zitiert]. 152 Poundstone 1993, 9. 153 Jellinek 1913, 230; 262; Isensee 1968, 67. 154 Cf. in der rezenten Literatur: Uhle 2005, 367. 155 Isensee 1988, § 57, 137. 156 Isensee 1988, § 57, 137.

Einleitung

51

oder soziale Sicherheit. Die aus positiver Umgrenzung notwendig folgende inhaltliche Konkretisierung ist im Sinne einer einheitlichen Staatsaufgabenlehre aber bislang in Deutschland nicht erfolgt.157 Dass im regelmäßig um Präzision bemühten juristischen Diskurs und speziell in der Jurisdiktion diese Begriffe bislang trotz gewisser Abgrenzungsmöglichkeiten unkonturiert geblieben sind, zeigt, dass dieser Problemzusammenhang, namentlich das Bezugsfeld, das sich zwischen dem Staat und seinen Zielen erstreckt, offensichtlich ein methoden- und disziplinenindifferenter Untersuchungsgegenstand ist. Interdisziplinarität wird vom allgemeinen Gebot zeitgemäßer Wissenschaft im hiesigen Zusammenhang zur unvermeidlichen Notwendigkeit: Die üblichen definitorischen Distinktive einzelner Wissenschaften heben sich teilweise bei einem derart integralen Untersuchungsgegenstand wie demjenigen des Staates auf.158 Der unvermeidliche Wandel wissenschaftlicher Fächer zu universitären Disziplinen droht indes, „die Einheit und Ganzheit der Lebenserscheinungen“ aus dem Auge zu verlieren:159 Staat als Erkenntnisgegenstand bringt dies in Gefahr, lässt er doch als eines der wirkmächtigsten Kulturphänomene allzu separierte und zernierte Zugangswege nicht zu. Die gleiche Situation ist im Verhältnis der Begriffe von den öffentlichen zu den staatlichen Aufgaben anzutreffen: Neben strikter Trennung und Identifikation ist hier in der deutschen Staatsrechtslehre auch eine Verwendung des Begriffs der öffentlichen Aufgaben als nichtjuristischer Terminus gebräuchlich, in der deutschen Verfassungsrechtsprechung werden auch diese Begriffe uneinheitlich verwendet.160 Andere Rechtsordnungen moderner westlicher Staaten sind insgesamt nicht eindeutiger. Im hiesigen Zusammenhang ist Isensees Konzeption der Staatsaufgabe als eines „Unterfalls“ der öffentlichen Aufgaben insofern am tragfähigsten, als sie sich mit der Unterscheidung von solchen staatserfordernden und nichtstaatserfordernden Kollektivgütern weitgehend deckt, an denen aber gleichermaßen öffentliches bzw. kollektives Interesse besteht. Diese wiederum lassen sich im Anschluss an Georg Jellinek als „ausschließliche und konkurrierende Staatsaufgaben“ unterscheiden. Freilich ist bereits jede nähere Definition dieser beiden Begriffe insofern politisch, als sie die Zuordnung gewisser Aufgaben und damit den Umfang staatlicher Kompetenzen weithin vorwegnimmt.161 Auffallend und instruktiv, sowohl um den Untersuchungsgegenstand zu umreißen, als auch die Methode zu bestimmen, ist, dass der durchaus als juristischer Terminus zumindest in der deutschen Staatsrechtslehre einschlägige Begriff der 157

Ruge 2004, 143. Gary Becker 1993, 3. 159 Taeubner 1956, 763, zit. nach Voigt 2007, 56. 160 Isensee 1988, § 57, 137 mit Nachweisen und Belegstellen zu den einzelnen Begriffsverständnissen. 161 Jellinek 1913, 5 und 255. 158

52

Einleitung

Staatsaufgaben offensichtlich weder zu dem nichtjuristischen Begriff des Staatszieles als auch zu dem in seiner Judiziabilität und „Juristizität“ umstrittenen Begriff der öffentlichen Aufgabe nicht konsequent abgegrenzt wird. Werden im hiesigen Zusammenhang ohnehin nicht Staatsaufgaben als solche, sondern ihr Bezugsfeld zu Zielen und Zwecken des Staates sowie dem kollektiven als öffentlichem Interesse betrachtet, wie es im heutigen Westen den Inhalt von Politik ausmacht, so verhindert die Uneinheitlichkeit des rechtlichen Gebrauchs der deutschen Sprache, die nun einmal den rechtlichen Sprachgebrauch erst wirklich zu Recht werden lässt, die Erörterung vermeintlich juristischer Fragen völlig zu vermeiden. Da der Erkenntnisgegenstand nicht ausschließlich auf den Anwendungs- und Verbreitungsbereich der deutschen Sprache begrenzt ist, sondern diesen vielmehr exemplarisch fokussiert, dürfen diese juristischen Definitionsdiskurse einerseits nicht verabsolutiert und ihre Kategorien mit denjenigen der hiesigen Untersuchung nicht a priori identifiziert werden. Andererseits kann eine in deutscher Sprache verfasste Studie, wie eingangs dargelegt, nicht ohne Begriffe auskommen, die durch eine traditionsreiche Staatsrechtslehre erörtert, vor allem aber benutzt werden. Die Unterscheidung der Begriffe dient in diesem Sinne weitestmöglicher Klärung dessen, wovon gehandelt wird. Hierbei dient staatsrechtliche Begriffserörterung als Mittel zum Zweck im vornehmsten Sinne. Schließlich existieren, in der Struktur des Bonner Grundgesetzes inzwischen sogar als eigener Normtyp entdeckt, Staatsprinzipien.162 Anders als bei Regeln hängt ihre Geltung nach vorherrschender Auffassung nicht von ihrer unbedingten Anwendung ab. Vielmehr können sie mit anderen Prinzipien konkurrierend hinter solchen zurücktreten. Prinzipien sind für die Analyse optimaler Kollektivgüterbereitstellung deswegen so interessant, weil sie auf Optimierung von (Staats-)verhalten abzielen.163 Damit ist das Prinzip eher präskriptiv als normativ, eher praxeologisch als deontologisch, mithin relativ und flexibel, nicht absolut und starr wie eine Regel, der einen Eigenwert zu beanspruchen inhärent ist.164 Für die vorliegende Frage sind alle vier Formen von Staatsverhalten erheblich, also Staatsziele, Staatszwecke, Staatsaufgaben und Staatsprinzipien, zumal die Geschichte des modernen Staates nicht zuletzt auch eine Geschichte kategorialer Durchdringung und Verknotung, aber bisweilen eben auch kategorialer Verwirrung und Unklarheit darstellt. Um den Staat als soziale und politische Tatsache konzeptionell zu erfassen, sind nichtrechtliche Termini insofern weiterführend, als sie dort, wo es unnötig ist, weitere Auseinandersetzung mit den Rechtsbegriffen vermeiden, und dort, wo nur über eine Wahrnehmung dieser Unterschiede vermittelt Äußerungen möglich sind, das Normative gemäß den methodischen Prämissen dieser Arbeit als Teil der Wirklichkeit erkennen.165 Da der westliche 162 163 164

Dazu Reimer 2001. Alexy 1986, 75 ff. Habermas 1994, 255.

Einleitung

53

Staat der Moderne als historisch gewachsene Rationalisierungsfunktion erklärt werden soll, ist für die einzelnen Zusammenhänge von Interesse, was jeweils die spezifische Staatsfunktion ausmacht. Der Begriff der Staatsfunktion ist indes auch von Teilen namentlich der deutschen Staats(rechts)lehre definiert worden, wobei auch in diesem Falle nicht immer ganz klar wird, ob staatsrechtliche Gegenstände oder staatsanalytische Größen bezeichnet werden. Jedenfalls wird der Begriff der Staatsfunktion im hiesigen Zusammenhang darauf beschränkt, in einem technisch-operativen Sinne zu begreifen, wie der Staat seine Aufgaben umsetzt. Vornehmlich die (horizontale) Gewaltenteilung wird hierunter rubriziert. Demgegenüber liegt dieser Untersuchung ein weiter abgesteckter Definitionsrahmen zugrunde, der dem soziologischen Funktionsbegriff folgt, wie ihn Durkheim begründet hat.166 Er umfasst auch Verhalten und Rolle, Selbstverständnis und Außenwahrnehmung, nicht nur Absicht, sondern auch Wirkung des Staates. Dem Begriff der Staatsfunktion liegt das Konzept funktioneller Analyse als „Technik der Entdeckung schon gelöster Probleme“ zugrunde. Erkenntnisziel ist die gesellschaftliche Wirklichkeit, die „hinter den Zwecken, Gründen und Rechtfertigungen“ liegt.167 Dass dies eine eingehende Beschreibung und Auseinandersetzung dieser „Zwecke, Gründe und Rechtfertigungen“ erfordert, ist evident.

165 Ein anschauliches Beispiel dafür, wie schwierig und kontrovers sich staatliche Eigenschaften zu kennzeichnen gestalten kann, vermochte noch im Jahre 1968 Isensee just am Beispiel der Sozialstaatlichkeit, wie sie im Bonner Grundgesetz fixiert ist, darzustellen, indem er elf verschiedene Definitionsgruppen aus der damaligen bundesdeutschen Staatsrechtslehre kondensierte, Isensee 1968, 191 f. 166 Durkheim 1999, 178. 167 Luhmann 1983, 6.

Prolog: Vormoderne Staatlichkeit als Modus rationaler Daseinsbewältigung Eine kontinuierliche Entwicklung abendländischer Staatlichkeit von der Antike bis in die Gegenwart hinein lässt sich nicht erweisen. Vielmehr wird noch zu erörtern sein, wie mühsam und allmählich der moderne Staat an der Wende von Mittelalter und Neuzeit zu keimen beginnt. Bezüglich des Staates als einem neuzeitlichen Phänomen ist diese Verschiedenheit von Christian Meier nicht zuletzt damit erklärt worden, dass „mächtige Gegeninstanzen gegen den Staat, zunächst Kirchen, dann Gesellschaft“ erhalten blieben.1 Vormoderne Staatlichkeit zeichnet sich weithin durch fehlende Professionalisierung staatlicher Amtsträgerschaft aus: Der antike Staat war anders als der moderne Staat kein Beamtenstaat, sondern teils ein Bürgerstaat, teils ein ständischer Staat, beruhte gleichwohl auch auf Ämtern.2 Erst im römischen Principatus, vor allem aber im Dominatus wandelte sich dies,3 aber die Ehrenamtlichkeit blieb Prinzip, professionelle Amtswalter rechtlich Sachwalter. Ist die Existenz vormoderner Staatlichkeit nahezu unumstritten, so bleibt kontrovers, was namentlich antike Staatlichkeit begründet: Teilweise wird diese ideenhistorisch aus der Neuzeit erklärt. Die Tatsache, dass Jean Bodin seine Souveränitätslehre des frühmodernen Staats aus Ciceros und Aristoteles’ politischer Philosophie heraus entwickelt habe,4 wird ebenso angeführt wie strukturelle Momente der als staatlich erachteten Assoziationsformen in der Antike selbst. Vor allem Stratifizierung und Zentralisierung von Herrschaft gelten hier als prominente Definientia. Anders als der moderne Staat beanspruchten vormoderne Staaten regelmäßig nicht ausdrücklich Allkompetenz. Sie waren weder wie der moderne Staat gezielt subsidiär, noch beanspruchten sie ausdrücklich und prinzipiell „General- und Blankovollmacht“ für alle Lebensbereiche. Dies bedeutet jedoch nicht, dass nicht auch vormoderne Formen von Politik existierten, die sich, gänzlich ohne ihre Legitimität zu erörtern und sich zu rechtfertigen, einfach in beliebige Bereiche einschalteten, wie namentlich antike Beispiele zeigen. Entscheidender Unterschied ist vielmehr, dass einer faktischen potentiellen, aber wie auch heute niemals ak1 2 3 4

Meier 1980, 18. Cf. in der rezenten Forschung: Demandt 2004, 83. Für viele sei aus der rezenten Literatur Demandt 2004, 88 angeführt. Demandt 2004, 57.

Prolog

55

tualisierbaren Allmacht keine bewusste oder sogar lediglich keine ausformulierte Theorie zugrunde lag, die ein modernes Konzept wie dasjenige der Kompetenz hätte entstehen lassen können. Das Zusammenfallen von Macht und Legitimität, was sodann in der Kategorie der Zuständigkeit auch zusammengedacht wird, hat sich aber auch im Staat der Neuzeit erst allmählich entwickelt. Sehr wohl waren Herrschaftsbereiche einseitig ausweitbar, aber diese Herrschaftsbereiche waren eben keine „Zuständigkeiten“ oder „Kompetenzen“, sondern Selbstverständlichkeiten der Macht. Vormoderne Staatlichkeiten lassen sich eher als „Herrschaften“ bezeichnen, die unkoordiniert neben anderen Herrschaften standen. Ist noch nicht einmal die Konkurrenz öffentlicher Gewalten spezifisch, so noch viel weniger deren Koordination als zumindest normatives Miteinander, wenn schon nicht als unkoordiniertes Nebeneinander. Dies liegt darin begründet, dass derartige vormoderne Herrschaften, die sich eigentlich gar nicht recht als Staaten bezeichnen lassen, der Gesellschaft nicht konfrontiert waren: Weder als beherrschender und übergeordneter, noch als untergeordneter und instrumentalisierter Institutionenzusammenhang. Daher führt Staat allgemein, sofern es sich nicht um die spezifische Ausprägung des modernen Staats westlicher Provenienz handelt, regelmäßig nicht zu solcher Lückenlosigkeit und Ausschließlichkeit von Herrschaft, wie sie in Gestalt des sozialen und räumlichen Territorialitätsmonopols des modernen Staates hoch komplizierte, insbesondere Raum deckend netzförmige Kollektivgüterbereitstellung erfordert. Auch entwickelte sich in vormoderner Staatlichkeit nicht die für die Moderne kennzeichnende und sich vergrößernde Übergangszone heraus, in der Staat und Gesellschaft überlappen. Vielmehr waren die einzelnen Herrschaften hierarchisch nicht immer eindeutig geordnete Teile der Gesellschaft. Ein grundlegender Unterschied zwischen dem allkompetenten Staat der Moderne und vormodernen Formen von Staatlichkeit liegt in dem geringeren bzw. abwesenden Ordnungsgrad menschlicher Assoziation unter vormodernen Bedingungen: Herrschaft war derart selbstverständlich, dass sie sich nicht definieren musste. Dies wiederum gründet in der weithin fehlenden Selbstreflexivität der Vormoderne. Wenn die Frage nach derjenigen rationalisierenden Funktion von Staatlichkeit, die allein bestimmte Kollektivgüter schaffen kann, aber eben oftmals auch erst erforderlich werden lässt, im Folgenden auch an das Altertum gestellt wird, so hat dies eine demonstrierende Funktion. Es gilt zu erörtern, inwiefern menschliche Koexistenz auch in vormodernen Zeiten im westlichen Kulturraum Staatlichkeit herausbildete. Dass diese Perspektive nicht nur eurozentrisch, sondern zudem lückenhaft und selektiv ist, folgt dem notwendigen Zwang wissenschaftlicher Konzentration. Zu fragen, warum der hoch entwickelte Staat des Staufers Friedrich II. oder des Kalifates von Cordobà nicht behandelt werden, kann nur darin seine Antwort finden, dass exemplarische Demonstration Vollständigkeit

56

Prolog

per definitionem ausschließt. Dass dies aber die Umschreibung eines Mangels darstellt, ist offensichtlich. Fraglich bleibt, ob sich der Horizont eines anthropologischen Programms auftut, Dasein vermittels immer komplizierterer und funktionsteiliger Institutionen zu bewältigen.5 Jene Wechselhaftigkeit, die für die gestaltenden Einheiten in Altertum, Mittelalter und Neuzeit kennzeichnend ist, warnen indes, dem Glauben an fortschreitende Rationalisierung allgemein und an unendlich expandierende Staatlichkeit im Besonderen zu verfallen. Wenn die Geschichte der menschlichen Art als kulturelle Evolution nicht ohnehin zu offen ist, um zu vermuten, sie sei durch die Vernunft eines „Hegelschen Weltgeistes“ determiniert, so ist sie hierzu jedenfalls im Mindesten zu verlaufsabhängig.6 Ein gemäßigt neowighistisches Geschichtsverständnis wird daher heute als angemessener denn naive Progressionsteleogie, aber auch als schlichtes Zyklendenken erachtet und ist auch für den hiesigen Untersuchungszusammenhang weiterführender. Staatlichkeit bildet und entwickelt sich einerseits nicht rein zufällig. Ihre Kontingenz wird aber andererseits schon durch das „grand design“ europäischer Geschichte deutlich. Somit heißt es, einmal mehr ein Paradoxon wahrzunehmen. An den Verlaufsmustern antiker Gesellschaft und ihrer politischen Kultur, die von den Altertumswissenschaften akribisch ermittelt worden sind, gilt es, exemplarisch abzulesen, wie das historisch Einmalige das Regelhafte erst gebiert und schließlich bedingt. Da sich Rationalisierung auch stets als Typisierung von Verhalten vollzieht, ist Staatlichkeit institutionenökonomisch insofern erklärbar, als bereits habitualisierte Handlungen zu typisieren Institutionen hervorbringt.7 Wenn es im 19. Jahrhundert gemäß Heinrich von Treitschke hieß, Männer machten Geschichte, so wissen wir längst, dass letztlich eine jede Gegenwart sowohl als Geschichte wie auch als Evolution ihren Akteuren nicht verfügbar ist, weil sie zugleich durch ihre Vergangenheit determiniert und durch ihre Zukunft dennoch offen ist. Moderne wird freilich maßgeblich durch Rationalisierung gekennzeichnet und mithin durch Anwesenheit von Staatlichkeit definiert. Insofern ist strukturell fraglich, ob es überhaupt vormoderne Staatlichkeit geben kann oder ob Moderne als Epochenbegriff nicht überhaupt verfehlt ist: „Modernität [. . .] korrespondiert nicht einlinig mit der Chronologie, sondern wird in jeweils wiederholten Anläufen erreicht.“ 8 5

ESCA 2004, 610. Die Dichotomie von Zufall und Determination in der Geschichte mit der Synthese der Verlaufsabhängigkeit zu überwinden stellt gleichsam eine Entdeckung des Nobelpreisträgers Douglas North dar, North 1998, passim, v. a. 109–124 (hier besonders: 112). 7 Berger/Luckmann 1989, 58; Waschkuhn 1998, 334. 8 Demandt 2004, 82. 6

Prolog

57

I. Vom Stamm zur Stadt Verwandtschaft ist das ursprünglichste Muster sozialer Organisation. Die Übergänge zu dem, was Stamm genannt wird, sind fließend. Als Konsens hat sich herausgebildet, den Stamm als politische Einheit zu bezeichnen, die weit reichender ist als ein „clan“ 9 und enger als Nation oder Volk.10 Anders als der Staat ist der Stamm noch im weitesten Sinne ein verwandtschaftlicher Zusammenhang seiner Angehörigen und wird somit als individuelle Bezugsgröße auch nicht von verwandtschaftlichen Identitäten seiner Angehörigen überlagert, wie dies bei Versuchen von Staatsgründungen zwangsläufig geschieht.11 Die Entstehungsbedingung so genannter pristiner Staaten zeichnet sich dadurch aus, dass es keine der staatsbildenden Gesellschaft übergeordneten Modelle und Einheiten gibt. Vielmehr muss sich Staatlichkeit endogen aus der Gesellschaft selbst heraus entwickeln. Der einzige exogene Anstoß ist der Druck, den benachbarte Gemeinwesen ausüben.12 Ist derartige Spontanentstehung für den modernen Staat der Neuzeit weithin anerkannt, so wird angenommen, dass auch vormoderne Staatlichkeit solchermaßen aufgekommen ist. Daneben kennen auch vormoderne Epochen freilich „sekundäre Staatsbildung“.13 Wenn Anthropologie nicht gerade jenes Feld beschriebe, das die Schwierigkeiten einer Trennung von Natur und Kultur immer wieder vor Augen führt, so ließe sich der Stamm als eine relativ natürliche Assoziation vom Staat als Kulturprodukt unterscheiden. Gleichwohl ist auch primäre Staatsbildung nicht geplant, sondern folgt einer „immanenten Gesetzmäßigkeit gesellschaftlicher Ordnungen der Verständigung und Einung von Menschen untereinander.“ 14 In einer nicht historisch konkreten, sondern abstrakt verlaufsgliedernden Kategorisierung wird Stamm auch als Stadium menschlicher Evolution zwischen den „band societies“ 15 der paleo- und mesolithischen Jäger- und Sammlerepoche 9 Definiens des „clans“ ist die Verwandtschaft aller seiner Mitglieder, deren Abstammung jedoch nicht mehr festzustellen ist, ESCA 2004, 598. Klane stellen „unilineare Dezendenzgruppen“ dar, „die sich real oder ideologisch von einem gemeinsamen Urahn herleiten, diese Abstammung aber nicht konkret genealogisch nachweisen können.“, El Masry 2004, 325. 10 ESCA 2004, 626. 11 Zum Phänomen der Überlagerung: Isensee 1988, § 57, 68; Fukuyama 2004, 98; zu diesem Aspekt speziell: Hildebrand 2005, 695. 12 Fried 1967, 111. 13 Service 1977, 44. 14 In dieser Weise resümiert Gerhart Niemeyer in Heller 1983, 5 die Theorie der Staatsbildung, wie sie Heller herausgearbeitet hat. 15 „The basic unit of hunter-gatherer social organisation. Typically bands number from twenty or thirty (often erroneously called the patrilocal or patrilineal band)“, ESCA 2004, 596.

58

Prolog

und den späteren Häuptlingsgesellschaften angesiedelt.16 Der Staat selbst wird schließlich durch die so genannte „neolithische Revolution“, also den Beginn von Ackerbau und Sesshaftigkeit gleichermaßen möglich wie erforderlich. Als Definitionsbestand solcher Einheiten wird bisweilen auch das Vorhandensein eines den Mitgliedern gemeinsamen Stammesbewusstseins erachtet,17 das auch konstitutiv für die Unterscheidung zwischen Fehde und Krieg ist.18 Bisweilen wird auch postuliert, dass sich im Gegensatz zum (modernen) Staat „Stammlichkeit“ zudem durch eine gemeinsame Sprache der Mitglieder konstituiere. Freilich sind etwa im Falle des späteren Deutschland Dialekt- und Stammesgrenzen zumeist nicht identisch.19. Offensichtlich ist also entweder die Bindewirkung des (modernen) Staates stärker als diejenige des Stammes, so dass er dieser kohäsiven Eigenschaft nicht bedarf oder der (moderne) Staat stellt tatsächlich eine weniger bindende soziale Einheit als der Stamm dar. Die Antwort muss indes nicht ausschließend sein. Die neuere Anthropologie und Ethnologie beschränken den Begriff des Staates daher auf das politische Feld menschlicher Sozialität.20 Unter dem überkommenen Begriff des Stammes werden derart unterschiedliche Formen staatsfreien menschlichen Zusammenlebens erfasst, dass sich die Frage nach dem tertium comparationis dieses Begriffes immer lauter stellt. Kritisiert wird außerdem die eurozentrische, an den Maßstäben des europäischen Nationalstaates der Neuzeit orientierte Wahrnehmung, die diesen Begriff konstituiert.21 Somit drängt sich die Frage auf, ob nicht auch so genannte Stammesgesellschaften Teil übergeordneter sozialer und politischer Einheiten sind, die sich zum Formenkreis von Staatlichkeit zählen lassen. Die Frage, ob die Herausbildung von Staatlichkeit eine anthropologische Konstante beschreibt, ist freilich nicht nur bezüglich vermeintlich staatsfreier Gesellschaften erheblich. Vielmehr veränderte die Existenz einer solchen Konstante die Erklärung des modernen Staates dahingehend, dass er weniger als natürlich angelegtes, denn als kulturell erworbenes Phänomen zu begreifen wäre. Hiervon ist, wenn auch nur heuristisch, die Frage nach dem anthropologischen Charakter von Staatlichkeit als Verlaufsgrenze im Rahmen der Evolution des homo sapiens zu trennen.22 In den Sozialwissenschaften, namentlich bei George Homans, wollten Teile die anthropologische Zwangsläufigkeit menschlicher Assoziation auf die „Stufe des Stammes“ begrenzt wissen. Auch Karl Marx zufolge stellte der „Stammeskom16

ESCA 2004, 596 u. 626. Eine der ältesten aus der Beobachterperspektive verfassten Quellen hierfür ist Tac. Germania 2. 18 El Nasry 2004, 301; Dux 1978, 123; ESCA 2004, 605. 19 ESCA 2004, 18. 20 Jonathan Spencer 2004, 559; ESCA 2004, 626. 21 Viveiros de Castro 2004, 521. 22 Homans 1950, 454 ff. 17

Prolog

59

munismus“ die einzige Phase dar, in der das Individuum frei von Egoismen sei:23 Die fehlende Notwendigkeit von Staatlichkeit im Stammeskommunismus wie im Kommunismus als vollendeter Geschichte liegt also darin begründet, dass der Staat als institutionalisierter Mechanismus nicht mehr erforderlich ist, um Individuen zu einem Verhalten zu veranlassen, das den Gesamtnutzen optimiert. Marxens totaler Altruismus führt damit zum gleichen Ergebnis wie der neoklassische totale Individualismus anarchokapitalistischer Observanz, der ebenfalls Staat als Störung optimale Gesamtergebnisse erzeugender Selbstorganisation menschlicher Gesellschaft ansieht.24 So nimmt es kaum wunder, wenn in der Spezies eine Anlage, freie Assoziationen zu bilden, die gehemmt werde, solange der Staat bestehe, bereits von einem führenden Begründer des Anarchismus wie Bakunin vermutet wird.25 Da Verwandtschaftsaltruismus, entgegen früher vertretener Forschungsmeinung, zumeist nicht weit genug reicht, um noch auf der Ebene von Clans oder Stämmen Kooperation zu erklären, sind möglicherweise auch kompliziertere Formen von Betrug als Assoziationsursache in Betracht zu ziehen. Dies ließ sich experimentell bei Primaten sowie beim Brutverhalten von Vögeln nachweisen.26 Daneben dürften aber auch Stämme einfach von „stabilen Reziprozitäten überlebensfähiger Kooperationsstrategien“ zu sozialen Einheiten verbunden werden. Diese Reziprozitäten unterliegen jedoch in einer Umwelt konkurrierender Verhaltensstrategien wahrscheinlich starken Verbreitungsschwankungen.27 Offensichtlich sind in der Konstellation des iterierten Gefangenendilemmas Stabilität und Dauerhaftigkeit der arbiträren Macht entscheidender als die Konzentration von deren Gewalt, wie sie bis zum Gewaltmonopol des heutigen Staates geführt hat. Denn bereits das Häuptlingstum, das durch einen, verglichen mit Staatlichkeit, noch geringen Grad an Gewaltkonzentration gekennzeichnet ist, verfügt über „eine permanente politische Struktur.“ 28 Wo jedoch genau jener Entwicklungs23

Nach Olson 1996, 103. Der Unterschied zwischen Marx und Markt besteht maßgeblich darin, dass Marx von einer funktionalistischen Geschichtstheorie ausgeht, während die Methode der neoklassischen, aber auch der Neuen Institutionenökonomik der methodische Individualismus ist, Heijdra et al. 1988, 314. 25 „Die politische Einheit des Staates“ ist „eine Fiktion“, denn „er sät künstlich Zwietracht, wo ohne die Einmischung des Staates unbedingt eine lebendige Einigkeit erwachsen müßte“, urteilt Bakunin und prophezeit eine säkulare Heilserlösung: „Wenn die Staaten verschwunden sind, wird eine lebendige, fruchtbare, wohltätige Einigkeit der Gebiete wie auch der Nationen [. . .] durch freien Zusammenschluß von unten nach oben sich in all ihrer Herrlichkeit entfalten, die nicht göttlich, sondern menschlich ist.“ zit. nach Olson 1968, 128. 26 Axelrod 2000, 82 mit Nachweisen. 27 Axelrod 2000, 82 f. 28 Sahlins 2004, 123. 24

60

Prolog

schritt zu verorten ist, der den Übergang von einer „privaten“ als einer individuell getragenen und unterhaltenen Bereitstellung des „öffentlichen“, also kollektiven und allen nützlichen Gutes Recht gegenüber einer kollektiven Bereitstellung beschreibt, wo sich also die Dichotomie von „öffentlich“ und „privat“ überhaupt einstellt, bleibt auch bei den Staatskritikern offen, die hierin selbstverständlich die „Erbsünde“ kollektiven Handelns sehen. Diesen Schritt im Verlust einer „freiwillig anerkannten natürlichen Elite“ zu vermuten ist aber durchaus plausibel.29 Maßgeblich deswegen ist es freilich zunehmend als Zwischenstadium definiert worden, das auf dem Weg durchschritten wird vom Stamm zum Staat, und sich nicht dauerhaft als eigenständige gesellschaftliche Formation halten kann, sondern gleichsam ein ontogenetisches Phänomen des Staates ist.30 Somit wird Häuptlingstum definiert als „Oberhaupt mehrerer Dorf- bzw. Lokalverbände (lokales Häuptlingstum), als ,paramount-chief‘ (Oberhäuptling), schließlich das politische Oberhaupt mehrerer kleiner Häuptlingstümer (Flächenhäuptlingstum).“ 31 Fehlende oder zumindest stark defektive Staatlichkeit offenbart sich auch in den Eigentumsverhältnissen. Das „Stammesgemeinschaftseigentum“ lässt sich weder einer der römisch-rechtlichen Formen des Kollektiveigentums noch einer derjenigen des Privateigentums eindeutig zuordnen. Somit sind das Land und zumindest in vormodernen agrarisch geprägten Gesellschaften auch die meisten Wirtschaftsprodukte weder, wie etwa in der Theorie des Absolutismus, Privateigentum eines Häuptlings oder eines „big man“, noch handelt es sich bei diesen jedoch um eine völlig verselbständigte Person, wie im Falle des modernen Staates. Vielmehr hat der Häuptling nur eine „oberste Verfügungsgewalt“ in seiner Eigenschaft als „Repräsentant der Ahnen“.32 Daher ist er privat oftmals ein armer Mann.33 Hieran wird offensichtlich, dass vormodernen Gesellschaften der Unterschied und die darin begründete Konkurrenz von Individual- und Gesamtnutzen, von Partikularinteresse und Gemeinwohl34 nicht (vollkommen) bewusst, 29

Hoppe 2003, 163 f, cf. Marvin Harris 1978, 104 ff. Dazu speziell die Studien von Service 1977 und Fried 1967; cf. auch: El Masry 2004, 315. 31 El Masry 2004, 317. 32 Thiel 1980, 63; El Masry 2004, 336 f. 33 El Masry 2004, 338 f.; Hildebrand 2005, 180. 34 Der Begriff des Gemeinwohls ist seiner Eigenart nach relativ inhaltsoffen und wenig scharf. Als Gemeinwohl wird in dieser Untersuchung die Optimierung von Individual- und Gesamtnutzen definiert, wie er der Überwindung des Gefangenendilemmas zugrunde liegt bzw. es wird bei abstrakteren, d. h. regelmäßig nicht messbaren Gütern von einer solchen Optimierungsmöglichkeit ausgegangen. Daneben ist vor allem historisch das Gemeinwohl in erster Linie als Begründung und Legitimation politischen bzw. staatlichen Handelns relevant. Die daraus erwachsende Gemeinwohlförmigkeit des Handelns ist die entscheidende Voraussetzung, um zu Bewusstsein und Normativierung der Überwindung suboptimaler Zustände zu gelangen. Insofern ist Schumpeters berühmt gewordene Leugnung eines Gemeinwohlbegriffes, Schumpeter 1993, 399–401 nicht in jedem Falle zutreffend. 30

Prolog

61

seine Existenz aber gleichwohl vorhanden ist und bewältigt werden muss. Häuptlinge oder „big men“ fungieren in diesen Gesellschaften zu Lasten ihrer eigenen materiellen Interessen als Vermittlungsinstitute, um das Gefangenendilemma hinnehmbar zu bewältigen. Gleichwohl besteht eine der entscheidenden Funktionen des Häuptlingstums darin, Handlungen und Interessen der Stammesmitglieder zu koordinieren, was sich nicht zuletzt in der Angst des Stammes zeigt, wenn ein Häuptling verreist.35 Gilt dies für Stammesassoziationen, wie sie auch heute noch anzutreffen sind, allgemein, so resultierte die historische Staatsgründung als Reichsgründung im Falle Ägyptens vielmehr aus einer Schwäche solch autoritätsgebundener Gewalt: Charismatische Herrschaft musste institutionalisiert werden, um Bestand zu haben.36 Solche Herrschaftsinstitutionalisierung vollzieht sich maßgeblich durch Symbolwerte, die nicht Tauschwert, sondern Prestigewert begründen.37 Staatlichkeit wurde bereits im alten Ägypten über die Gewährleistung von „Gerechtigkeit“ bzw. von Rechtsfrieden definiert, was allgemein als vornehmste und unmittelbarste Funktion in der arbiträren Eigenschaft von Staatlichkeit radiziert.38 Für tribalistisch verfasste Gemeinwesen ist darüber hinaus das Fehlen von Verfahren prominentes Erscheinungsmerkmal. Auch staatlich verfasste Assoziationen versuchen, Probleme über Rituale übernatürlichen Lösungsinstanzen zu überantworten: Aber in der vorstaatlichen Gesellschaft ist das Ritual geradezu ausschließlicher Entscheidungsmodus. Damit fehlt ihnen aber die Möglichkeit zu bindender Entscheidung, mithin zu Politik im engeren Sinne.39 Denn Rituale sind stets mehr Schlichten als Richten und eher Ausdruck von persönlicher Autorität als von rationaler Legitimität. Nach gegenwärtigem Forschungsstand sind die ältesten Formen staatlich verfasster Herrschaft in Mesopotamien ausfindig zu machen und etwa auf die Zeit um 8000 vor Christus zu datieren. Die damit implizierte Theorie der „hydraulischen“ Staatsentstehung, also des Staates als Reaktion auf die organisatorischen Herauforderungen einer Bewässerungswirtschaft ist nach wie vor umstritten. Allmähliche Hierarchisierung von Verwandtschaftsverhältnissen wird ebenfalls für möglich gehalten.40 Die entscheidende Frage dürfte jedoch darin zu suchen sein, ob das eine das andere ausschließt. Möglicherweise sind von vornherein unabhängig von einander verschieden begründete Formen von Staatlichkeit entstanden. Übergeordnetes Drittes wäre dann die menschliche Anlage, sich zu immer 35

Firth 1975, 233. El Masry 2004, 450 und zur Staatsentstehung infolge der neolithischen Revolution allgemein: 494. 37 Fried 1967, 109. 38 Jan Assmann 1990; Ungern-Sternberg 1998, 95. 39 Luhmann 1983, 40. 40 El Masry 2004, 22. 36

62

Prolog

größeren Organisationseinheiten zusammenzuschließen, um über rationelle Kollektivgüterbereitstellung menschliche Bedürfnisse zunehmend effizienter zu befriedigen. Auch die Stadtstaaten des Mittelmeerraumes sind aus Einheiten hervorgegangen, die unter dem freilich allmählich veraltenden und sich in angemessenere Differentialisierungen auflösenden Stammesbegriff zusammengefasst werden können: Die Phylai im antiken Griechenland, namentlich in Attika und die tribus in Rom und Latium sind klassische Beispiele. Das Lateinische kennt zwei Begriffe für diejenigen Sozialkörper, die im Deutschen unter dem Namen Stamm erfasst werden, nämlich gens und natio.41 Auffallend ist, dass die Staatlichkeit des klassischen Altertums eben gemeinsam mit dem Phänomen der Verstädterung auftrat. Zwar wurde in den frühesten Institutionalisierungen das Vorhandensein einer ländlichen Umgebung mitberücksichtigt, aber anscheinend ist die griechische und römische Staatlichkeit nicht recht ohne einen zentralen Ort zu definieren, was mit der zentralisierten Eigenschaft von Staatlichkeit korrespondiert. Zudem begünstigt Verstädterung die Entstehung (proto-)öffentlicher Sphären. Früheste bekannte Formen administrativer Zentralisierung bürokratischer Form sind im östlichen Mittelmeerraum freilich nicht Städte, sondern die so genannten älteren Palastkulturen.42 Während Staatlichkeit auf der einen Seite aus der Weiterentwicklung von verwandtschaftlichen Assoziationsformen hervorging, weisen auf der anderen Seite bereits vorstaatliche Assoziationsformen Entwicklungen auf, neben den ver41 Erhellend ist, welche Lexika das Lemma „Stamm“ nicht aufweisen. Nahe liegend ist dies im Falle des Staatslexikons der Görres-Gesellschaft zu erklären: Staat ist zu Stamm ausschließend, Staaten, in denen Stämme noch (oder wieder) als soziale Einheit bestehen, sind eben keine Staaten. Denn der moderne Staat umfasst zumindest nach überkommener Vorstellung Gewaltmonopol, Allkompetenz und kollektive Verbindlichkeit. Problematischer ist freilich schon der Fall des geschichtswissenschaftlichen Lexikons „Geschichtliche Grundbegriffe“: Offensichtlich wird lediglich dasjenige als Geschichte angesehen, was unter den Bedingungen von Staatlichkeit steht. Als vollends gegenwartsbeschränkt und eurozentrisch erweist sich das „Sozialwissenschaftliche Handwörterbuch“. Das „Lexikon der Politik“ weist ebenfalls in keinem seiner Bände ein Lemma „Stamm“ auf. E silentio bedeutet dies, dass Politik, wenn auch wahrscheinlich unbewusst, als staatsorientierts Feld erachtet wird. Kennzeichnend ist, dass das „Wörterbuch der Geschichte“, das 1984 als letztes größeres Geschichtslexikon der untergegangenen DDR erschien, nicht nur „Stamm“, sondern sogar „Stammstaatlichkeit“ als Lemma aufweist: Stamm wird hier als „blutsverwandtschaftlich bedingte gesellschaftliche Organisationsform“ definiert, die in der Fünf-Stadienlehre von Marx der „Urgesellschaft“ zugeordnet wird: „nach Entstehung der Gens bis zum Untergang der Urgesellschaft existierend“ heißt es in diesem Werk. Der Stammesverband beschreibt demgegenüber eine „gesellschaftliche Organisationsform in der Auflösung der Urgemeinschaftsordnung (Urgesellschaft) zum Zusammenschluß einer Reihe von Stämmen.“ Der Stammesverband kann auch lediglich eine vorübergehende Zweckgemeinschaft darstellen: „Viele dieser Verbände existierten nur zeitweilig und zerfielen nach Erreichung bestimmter Ziele (Abwehr gemeinsamer Gegner, Eroberung neuer Weide- oder Siedlungsgebiete)“, Wörterbuch der Geschichte, Berlin 1984; zum Begriff „tribus“ cf. Infra. 42 Von Ungern-Sternberg 1998, 88; Heubeck 1966; Demandt 2004, 84.

Prolog

63

wandtschaftlichen auch klientelistische Assoziationsmodi herauszubilden.43 Auffallend ist, dass mit Jean Bodin und Johannes Althusius zwei politische Theoretiker, die heute stärker als wirklichkeitsnah erachtetet werden denn spätere politische Denker, bereits von verwandtschaftlichen Elementen als Konstituentien des ursprünglichen Staates ausgingen:44 Dies könnte nicht zuletzt auch darin gründen, dass innerhalb einer zweifelsfrei bereits biologisch gegebenen Assoziation kollektiver und individueller Nutzen leichter zu koordinieren sind. Staatsformen wurden bereits in der antiken politischen Theorie mit geografischer Beschaffenheit des staatlichen Territoriums korreliert. Tatsächlich liegen Theorien des Aristoteles empirische Gegebenheiten zugrunde, wie nicht zuletzt durch Methoden moderner Archäologie, namentlich Urbanistik und Surveys bestätigt wird: Ein Raum mit lediglich einer Erhebung eigne sich für eine Monarchie, einer mit mehreren für Adelsherrschaft, eine Ebene für die Demokratie.45 Entstehung von Staatlichkeit ist an mindestens eine Voraussetzung gebunden: An Schriftlichkeit.46 Diese Kausalität ist untrennbar mit der rationalisierenden Funktion des Staates verbunden, Kollektivgüter bereitstellen zu können. Schrift ermöglicht Kodi(fizi)erung und mithin erhöhte Verbindlichkeit und habitualisierte oder bereits institutionalisierte Interaktionsformen auf Dauer zu stellen. Dabei ist der Abstraktionsvorgang, den die archaische griechische Staatsbildung reflektiert, als ein höchst kontinuierlicher zu veranschlagen: Es ist davon auszugehen, dass als Code nicht allein der Inhalt, sondern das Ensemble mit dem beschriebenen Material als Körper angesehen wurde.47 Die für Staatlichkeit charakteristische Abstraktion und Rationalisierung gilt es, sich als sehr allmähliche und fließende Entwicklung vorzustellen. 1. Das Paradigma Athen Auch in der klassischen Zeit „korrespondierten“ in Athen wie in den meisten griechischen Poleis „die zentrale Rolle des Bürgerrechts und der Mangel an eigenständiger ,Staatlichkeit‘ [. . .] einander.“ 48 Es ist hochumstritten, einen Sprung in der Entwicklung von der Isonomia zur Demokratia anzunehmen und diesen mit dem plötzlichen Bedarf an Ruderern infolge der von Themistokles verfolgten „Flottenbaupolitik“ zu begründen, mit der dieser auf die persische Bedrohung 43

Eingehend bereits von Friedrich Engels 1981, 139 dargestellt. Daher sieht Heller 1983, 30 Bodins und Pufendorfs Erkenntnisse als empirisch weitaus gehaltvoller an denn etwa Rousseau und Locke, die er nebst Pufendorf als Beispiele für die Überschätzung von Planmäßigkeit anführt, wie sie die Aufklärung der Staatbildung zuschrieb. 45 Aristoteles Politeia 1330 B. 46 Hölkeskamp 2000, 73 ff. 47 Hölkeskamp 1995, 49 ff. 48 Meier 1980, 42. 44

64

Prolog

reagierte.49 Sicher und im Zusammenhang dieses Untersuchungsteils relevant ist jedoch die sprunghafte Zunahme öffentlicher Organisation bestimmter gesellschaftlicher Ressourcen. Diese Ressourcen waren durch einen doppelten Effekt gekennzeichnet: Zunächst vermochte durch sie auch unter erschwerten Bedingungen das Kollektivgut äußerer Sicherheit gewährt zu werden. War aber diese äußere Sicherheit erst einmal in Gestalt eines hegemonialen Herrschaftsgefüges wie des Attisch-Delischen Seebundes institutionalisiert, wurde es durch diese Ressourcen letztlich möglich, auch wirtschaftlichen Gewinn aus imperialer Politik zu ziehen. Das Leben wurde politischer infolge militärischer Notwendigkeiten: „Hier folgte das Politische dem Militärischen.“ 50 Die Staatlichkeit erzeugenden Folgewirkungen, die entstehen, wenn das Kollektivgut der äußeren Sicherheit mit immer größer werdendem Aufwand bei zunehmendem Herrschaftsgebiet bereitzustellen ist, werden noch deutlicher hervortreten, wenn es gilt, das Imperium Romanum zu betrachten. Diejenige spezifische rationalisierende Wirkung von Staatlichkeit, die die Konstellation zumindest des einmaligen Gefangenendilemmas überwinden kann, liegt in der – sei es relativen, sei es absoluten – Vollständigkeit des Informiertseins begründet: Im Falle der athenischen Demokratie wurde diese Wirkung durch das Prinzip der Öffentlichkeit angestrebt. Die Eigendynamik eines Funktionsäquivalentes dessen, was unter anderem die moderne öffentliche Meinung ausmacht, bewirkte, gleichsam selbsttätig auch ein weiteres Konstituens von Staatlichkeit: Den Zwang. Faktisch sind also bereits in der Antike die Wirkungen gegenseitigen Wissens und kollektiven Zwangs untrennbar. Der hohe Absolutheitsgrad des demokratischen Herrschaftsprinzips im antiken Athen brachte freilich auch Wissenseinschränkungen mit sich, wie sie sich vornehmlich im Militärischen bemerkbar zu machen pflegen, wo demokratische Legitimation und militärischer Erfolg in einen Zielkonflikt geraten. Zwang zur Geheimhaltung und Kompliziertheit der Gesamtlage lassen jenen Bereich zu informieren, der in der Moderne eine Teilfunktion der Öffentlichkeit beschreibt, nahezu undenkbar werden: Werden diese Informationen in jenem Bereich ausgewertet und beraten, ent49 Zentrale, aber ungenaue Quellen sind: Herodot 7, 144; Thukydides 1, 14.93, 3–8; Aristoteles AP 22, 7, Plutarch Themistocles 4. Die These, die Demokratie sei gleichsam plötzlich erforderlich geworden, um den notwendigen Mannschaftsbedarf für die Flotte zu decken, wird heute weitgehend verworfen. Nachdem die ältere Diskussion von Labarbe 1957 in seiner Monographie kritisch zusammengefasst worden ist, haben vor allem Podlecki 1975; Frost 1968 und Chambers 1984 diese These relativiert. Friedrich Engels sah durch einen allerdings als permanent postulierten Kriegszustand die Möglichkeit, dass sich aus den gentilizischen Assoziationsformen „militärische Demokratien“ gebildet haben könnten, ohne eine solche Entwicklung wiederum als regelmäßig zu erachten, Engels 1981, 159. Diese Aussage dürfte in der Regelhaftigkeit, die sie nun einmal impliziert, nicht zuletzt auch durch die fortschreitende Relativierung ihres athenischen Musterbeispiels geschwächt sein. 50 Meier 1980, 67. Von Ungern-Sternberg 1998, 103 hält die Frage der Abfolge hingegen für müßig und postuliert eine Wechselwirkung.

Prolog

65

stehen derartige taktische und strategische Beschränkungen, dass der Effizienzgewinn aus (basis-)demokratischer Dezision und Legitimation durch den Dispositionsverlust der verantwortlichen Steuerungsträger aufgehoben oder sogar übertroffen wird.51 Die Frage, ob und unter welchen Bedingungen demokratische Staatlichkeit diese rationalisierende Wirkung von Staatlichkeit allgemein verstärkt oder schwächt, wird in einem gesonderten Teil der Abhandlung nachzugehen sein. Die athenische Basisdemokratie erwies sich indes als ein oftmals allzu kurzfrequenter und übersensibeler Steuerungsmodus, um über militärische Taktik hinaus auch politisch weiterführende Strategien zu entwickeln.52 Durch ein Institut wie den strakismüò, das Scherbengericht, wurde darüber hinaus keinerlei tatsächliche Autonomie der politisch-militärischen Entscheidungsträger Risiken einzugehen ermöglicht. Der originär defensive Charakter des demokratischen Gedankens wird im Institut des strakismüò konsequent weiterentwickelt. Er ist bislang ein auf die Antike beschränktes Verfahren demokratischer Institutionen geblieben, da er bereits den Verdachtsfall einer Handlung sanktioniert, die erst zu beweisen ist, wenn sie sich nicht mehr sanktionieren lässt.53 Es handelt sich um eine Art (verfassungs-)politischer Gefahrenabwehr, die über die Rekonstruktion der historischen Tatsachen hinaus gleichsam sachlogisch die Eigenart des strakismüò erklärt. Petzold hat versucht54, diese Entwicklung in mehrere Stufen einzuteilen:55 Nachdem die Tyrannis beseitigt worden war, sei „die Gleichheit der Chancen“ Inhalt der Isonomia geworden56. Endgültig umgesetzt worden sei dieser neue Inhalt von Isonomia jedoch erst durch die Einführung des strakismüò.57 Bereits für das Jahr 489 wurde der Sieger der Schlacht bei Marathon Miltiades wegen einer misslungenen Expedition nach Paros verurteilt.58 In der Krise des Peloponnesischen Krieges kam es sogar zu politischen Prozessen. Zu diesem 51 Erhöhte soldatische Kampf-, allgemeingesellschaftliche Kriegsmoral (Athen musste dem Feind zeitweise überlassen werden!) und möglicherweise eingeschränkt auch politischer Ideenwettbewerb stellen freilich gerade im Falle Athens, als es die Perserkriege bestehen musste, besonders im Kontrast zu den unterjochten Völkerscharen der persischen Großkönige einen nicht zu unterschätzenden Faktor dar. 52 Die Unterscheidung von Taktik und Strategie folgt hier der in der Tradition von Clausewitz’ stehenden Terminologie, wie sie Luttwack 2003, 159–161 verwendet und erläutert; cf. auch Münkler 1992, 58. 53 Meier 1993, 266. 54 Petzold 1990, 145 ff. 55 Petzold 1990, 160. 56 Petzold 1990, 160. 57 Petzold 1990, 172. 58 Herodot 6, 136 und Cornelius Nepos 7, 5; dazu: Bleicken 1994, 297 und 350 f.

66

Prolog

Zwecke bildete sich der Vorwurf der Volkstäuschung als förmliches Delikt heraus. Erst für die Endphase des Peloponnesischen Krieges ist ein Fall belegt, bei dessen Beurteilung dieses eigentlich als Korrektiv der unmittelbaren Demokratie vorgesehene Institut auch tatsächlich Folgen von unzureichender Informiertheit und entfesselter Emotionalität korrigierte. Die erfolgreichen Ankläger derjenigen athenischen Feldherren, die im Jahre 406 eine siegreiche Seeschlacht bei den Arginusen geführt hatten, wurden ebenfalls wegen Täuschung verurteilt, da sie die damalige öffentliche Meinung missbraucht hätten, um die Feldherren zum Tode verurteilen und hinrichten zu lassen.59 Diesen hatten die Ankläger vorgeworfen, Schiffbrüchige nicht gerettet zu haben.

Das Institut des strakismüò habe sich Jochen Bleicken zufolge von seinem Auftreten im beginnenden 5. Jahrhundert an als „Korrelativ“ mangelnder Diskussionsmöglichkeit und „inhaltlicher Abklärung in Massenversammlungen“ entwickelt. Tatsächlich wirkte das Delikt aber zunächst als Katalysator ochlokratischer Tendenzen. Diese Tendenzen hat Bleicken freilich in einer scharfen Auseinandersetzung damit, wie Jacob Burckhardt die athenische Demokratie interpretierte, als „extrem liberale Anschauung“, die „ihr Verdikt über die athenische Demokratie gefällt“ habe, bezeichnet.60 Obwohl von vornherein als Korrektiv begründet, nahm das Institut eine solche korrigierende Funktion erst im Laufe seiner Entwicklungsgeschichte an. Missbrauchbar blieb es überdies weiterhin und mithin unvollkommen, denn es konnte nicht die fehlende Immunität leitender ˜rxünteò ersetzen. Der beschriebene Wandel, der gegen Ende des 4. Jahrhunderts einsetzte, mag auf einen zunehmenden Grad an Deliberativität demokratischer Entscheidungsfindung hindeuten.61 Fehlendes Vertrauen bzw. Mandat kann also staatliche Mandate überhaupt erst in ein Gefangenendilemma führen, wie das athenische Beispiel zeigt. Offensichtlich führte gut zwei Generationen, nachdem sich unter Themistokles die demokratische Verfasstheit Athens eingestellt hatte, die nicht zuletzt aus dem Waffengang mit Sparta resultierende Krise des Athener Gemeinwesens, der „\Aqhnaßwn polite¦a“, dazu, demokratische Willensbildung optional auf Delegation zu beschränken. Mit dem so genannten Nomothesieverfahren wurden im Jahre 404/3 neue repräsentative Formen der Normgewinnung geschaffen: Nunmehr konnten Gremien von 501 oder 1001 Bürgern eingesetzt werden, die in einem dem Gerichtsverfahren nachgebildeten Prozess verbindlich entschieden, ob ein bestehendes Gesetz beibehalten oder geändert werde.62 Ob und inwieweit hiermit ein unverfügbarer Eigenbereich professionalisierter Politik entstand, ist schwierig einzuschätzen, aber wohl als zunächst eher unwahrschein59 Thuk. 8, 101; Xenophon Hellenika 1,6. 19 ff.; Cic off. 1, 24; Strabon 13, 1, 68. 2, 2; Plutarch Pericl. 37; ders. Lysander 7. 60 Bleicken 1994, 582. 61 Vorländer 2003, 30 erachtet die athenische Demokratie auch als deliberativ, nuanciert diese Einschätzung jedoch zeitlich nicht weiter. 62 Bleicken 1984, 187 ff.

Prolog

67

lich zu erachten. Athen blieb ein Gemeinwesen, das auch an antiken Verhältnissen gemessen gegenüber professionellen Amtsträgern, also Beamten, skeptisch blieb.63 Jenes ambivalente Verhältnis von Bürger und Stadt, das die Polis und ihre Politen auf den „griechischen Sonderweg“ führte, war ursprünglich durchaus als eine Funktion individueller, wenn auch ausschließlich bürgerlicher Freiheit konzipiert: Die männlichen Mitglieder des Gemeinwesens „waren [. . .] zwar die Stadt, aber das war nicht die Regel. Die Männer waren also zwar die Stadt, aber das hieß damals nur, daß die Stadt nicht mehr sein wollte. Eher weniger, da sie eben mehr sie selbst als die Stadt sein wollten.“ 64 Die Entwicklung zumindest der athenischen Polis von einer minimalen Selbstverwaltung freier Männer hin zu einer allumfassenden sich über die Ägäis erstreckenden imperialistischen Regierung zeigt einmal mehr auf eindrucksvolle Weise, dass jede staatliche Assoziationsform eine individuelle und mithin historische Größe beschreibt. Die Verfasstheit Athens garantierte relativ zuverlässig, dass die politischen Ämter, also die Ämter der Polis, nicht zu Bereicherungsinstituten aristokratischer Cliquen, stÜseiò genannt, degenerierten und somit Basis einer künftigen Tyrannis wurden.65 Bereits zu Beginn ihrer Geschichte, soweit sie uns Heutigen bekannt ist, war die Idee der Demokratie oder zumindest die Sache Athens anscheinend ihren Trägern und Inhabern auch für ihre auswärtige Souveränität Legitimation genug.66 Der Melierdialog ist eines der seltenen Zeugnisse in der Weltgeschichte, in dem Macht ipso facto als Legitimation auswärtiger Gewalt von Staatlichkeit angeführt wird.67 Bereits Herodot ist nachzuweisen, dass er die Geschichte Athens so komponiert, dass die außenpolitischen Erfolge Athens als Folge seiner Verfassung erscheinen. Aus dem Bestreben heraus, die allmähliche Entwicklung Athens hin zu einer Demokratie für seine Darstellung in einem Ereignis zu bündeln,68 sah er mit der kleisthenischen Isonomia zugleich die Demokratia eingeführt,69 wie er selbst an anderer Stelle 63 Meier 1993, 441; diese Zurückhaltung gegenüber einem sich potentiell verselbständigenden Beamtenapparat wird sich in der Neuzeit auch für das British Empire als kennzeichnend erweisen. 64 Meier, 1993, 61. 65 Meier 1993, 478. Zum speziellen Phänomen der stÜsiò allgemein: Gehrke 1985. 66 Bleicken 1994, 369. 67 Wie außergewöhnlich dies ist, erhellt daraus, dass ideologische Legitimation in der Anthropologie als zwangsläufiges Konstituens von Staatlichkeit angesehen wird: „No state known has ever been devoid of an ideology that consecrated ,use of violence.‘“, behauptet der bedeutende Anthropologe Morton Fried, Fried 1967, 238. Mit Athen trat nunmehr eine Macht auf den Plan, die sich allein auf das Gesetz der Macht berief. 68 Petzold 1990, 147. 69 Bleicken 1979, 172; Nakategawa 1988, 265 vermutet, dass die bei Herodot in der Otanesrede dargestellten demokratischen Institutionen in dichter Folge in der Mitte des 5. Jahrhunderts geschaffen wurden.

68

Prolog bekanntlich schreibt.70 Was Herodot überführt, ist sein Hinweis auf Rechenschaftslegung und Beamtenlosung, die nach der opinio communis auf jeden Fall erst nach den Perserkriegen anzusetzen sind: Die als Verfassungsmerkmal von Herodot benannte Rechenschaftspflicht für Beamte wurde nämlich wahrscheinlich erst mit dem Sturz des Areopags, also vermutlich unter Ephialtes, eingeführt.71 Eine weitere von Herodot beschriebene Eigentümlichkeit, die Losung von Ämtern setzt erst in der Zeit nach 487/6 ein.72

Wenn aber diese Synchronität der Ereignisse zu widerlegen wäre, zöge sie umgekehrt Herodots These in Zweifel. Zumindest der außenpolitische Erfolg der Perserkriege, auf dem ja auch die imperiale Überlegenheit gegenüber den Meliern zu Zeiten des Peloponnesischen Krieges beruht, wäre eine eigenmächtige Größe. Diese auf Demokratien beschränkte Legitimation, die sich dadurch auszeichnet, eigentlich gar nicht eine solche darzustellen, lässt sich nahe liegend mit dem enormen Gefühl moralischer Überlegenheit demokratisch verfasster Gemeinwesen oder zumindest deren demokratisch legitimierter auswärtiger Amtsträger erklären, die offensichtlich auch dann fortwirkt, wenn beherrschte Auswärtige weder an der eigenen Demokratie partizipieren, noch in ihrer Binnenorganisation demokratisch reformiert werden sollen oder wollen. Möglicherweise neigen Demokratien im Auswärtigen eher zu Hybris – ein Begriff, den Robert Dahl ausdrücklich den USA zuschreibt73. Zumindest in der griechischen Antike erwies sich Demokratie somit nicht als weiterführend, um das Gefangenendilemma zu bewältigen, das im Verhältnis zwischen staatlich verfassten Herrschaftsorganisationen besteht: Von „Weltinnenpolitik“ war die griechische Poliswelt des fünften vorchristlichen Jahrhunderts weit entfernt. Das deutsche Konzept der Trennung von Staat und Gesellschaft, wie es noch bis weit in das 20. Jahrhundert hinein zumindest als heuristisches Prinzip gedacht wurde, war auch den Griechen wie anderen vormodernen Gemeinwesen fremd: Die Polis war nicht eine der Gesellschaft entgegengesetzte und diese leitende Ordnungsfunktion, sondern sie konstituierte das Politische, und zwar im wörtlichen Sinn des griechischen Etymons unseres Wortes. Sie beschrieb und inbegriff alle Aspekte gesellschaftlicher Kommunikation und Assoziation.74 Damit war sie eine totale Formation, aber diese Totalität war originär und naturwüchsig, mithin nicht im modernen Sinne direkt totalitär. Die Politen waren die Polis und die Polis die Politen.75 70

Hdt. 6, 43, 3. Sealy 1967, 52 f.; Martin 1974, 32; Bleicken 1979, 157; Ostwald 1986, 47 ff.; Nakategawa 1988, 265. 72 Ehrenberg 1950, 528; Bringmann 1976, 269. 73 Dahl 2005, 124; zu diesem grundsätzlichen Problem cf.: Zweiter Teil A. I. 5., wo das Problem, die herrschende politische Ordnung als Allheilmittel zu propagieren, am Beispiel der konstitutionell-monarchischen Restaurationspolitik des Wiener Kongresses erörtert wird. Cf. Zweiter Teil A. III. 3. 74 Raaflaub 1988, 190. 71

Prolog

69

2. Demokratie als Steuerungsmodus: Regieren oder Kontrollieren? Pluralismus und Demokratie werden bis heute maßgeblich durch das Mehrheitsprinzip operationalisiert, ohne jedoch mit diesem identisch zu sein. Dies wird bereits anhand der ältesten überlieferten Demokratie des Westens deutlich, der athenischen Demokratie. Angesichts der dürren Quellenlage über die einschlägigen Verfassungsbegriffe der Isonomie und der Demokratie zu versuchen, Theorie und Praxis, Idee und Realisierung von Volksherrschaft im antiken Athen zu erklären ist in der Forschung eine langfristige Tendenz zu beobachten, namentlich die Athenische Demokratie implizit oder gar explizit begriffsgeschichtlich zu erschließen. Daneben sind in der rezenten Forschung verstärkt auch die Ergebnisse der bereits erwähnten surveys, insbesondere eine Art politischer Geographie zu beobachten, die sich mit der Begriffsgeschichte zu ergänzen vermögen.76 Somit lässt sich zum einen untersuchen, ob es bereits vormoderne Funktionsäquivalente zu Volksherrschaft und Volkssouveränität gibt. Zum anderen stellt sich die Frage, inwieweit diese Steuerungsformen Kollektivgüter bereit zu stellen effizienter und effektiver gestaltete bzw. inwieweit umgekehrt das Bewusstwerden kollektiver Relevanz kollektive Herrschaft begünstigte. Dabei fallen vor allem Unterschiede darin auf, wie stark zwischen Demokratie als Volksherrschaft und Mehrheitsprinzip als Regierungsprinzip unterschieden wurde. Offensichtlich war die Verselbständigung des Mehrheitsprinzips nicht so weit fortgeschritten, wie dies in der politischen Praxis der modernen Demokratie selbstverständlich geworden ist. Auch wenn sich in der Volksversammlung Meinungsführer, Demagogen genannt, herausbildeten, so stellte sich die athenische Demokratie gleichwohl als eine „Partizipation aller Bürger am diskutant aufzuhellenden politischen Entscheidungsprozess“ dar.77 Je mehr Entscheidungen und je enger umrissene Aufgaben der direkten Entscheidung des Volkes vorgelegt werden, desto mehr Zeit nimmt dies in Anspruch, und zwar sowohl für die Dauer der Entscheidungsprozesse als solche, als auch für den partizipierenden Bürger selbst. Wie stark im modernen Territorialstaat der Gedanke der Repräsentation verinnerlicht ist, wird e contrario deutlich, wenn die moderne Demokratie des Territorialstaates einem Versuch von Alfred Heuß gegenübergestellt wird, den Alltag im antiken Athen zu rekonstruieren. 75 Meier/Veyne 1990, 15. Darin unterscheidet sich die Polis von der modernen Nation. Diese geht zwar auch davon aus, das Individuum gehe in ihr auf. Aber gerade deswegen wird die Nation doch als etwas vom Individuum Geschiedenes gedacht. Die moderne Nation ist selbst dort, wo sie ihrer staatlichen Einheit harrt, gleichwohl auf den Staat gerichtet, zumindest ist ihre Entwicklung nicht ohne den modernen Staat vorstellbar. Diese Trennung gibt es in dieser Form im antiken Athen aber nicht. 76 Grundlegend sind hier vor allem die im Rahmen des Kopenhagener Polis-Center entstandenen Arbeiten, v. a. Hansen 1995. 77 Euchner 1969, 45.

70

Prolog „Wenn man in der Stadt Athen oder im Piraeus spazieren ging, dann war es schwierig, unter den vielen einfachen Bürgern jemanden ausfindig zu machen, der nicht gerade einem öffentlichen Geschäft nachging oder dessen Gesichtskreis nicht mit solchen Dingen ausgefüllt gewesen wäre, auch wenn er im Moment nicht damit befaßt war. Daß er sich auf dem Weg zur Volksversammlung befand oder eine öffentliche Ansprache hörte, war beinahe noch das Wenigste. Aber schon die Wahrnehmung des Richtergeschäfts hielt jährlich eine Schar von 6000 Leuten in Gang.“ 78

Hauptquelle für Legitimation und Theorie der so genannten klassischen Demokratie Athens, wie sie im 5. vorchristlichen Jahrhundert ihren Zenit erlebte, ist ein bei Herodot überlieferter Verfassungsdiskurs. „Die Herrschaft des Volkes aber hat vor allem schon durch ihren Namen – Gleichberechtigung aller – den Vorzug.“: Diese Aussage erklärt, was die Athenische Demokratie maßgeblich legitimierte, nämlich eine Ordnung politischer und rechtlicher Gleichheit.79 Die altgriechische Demokratie ist nicht zuletzt deswegen auch als Demokratie historische Singularität. Die athenische Demokratie selbst ist freilich nur Paradigma einer in der griechischen Welt der Polis, aber auch der Bundestaaten verbreiteten Herrschaftsordnung,80 wobei vielfach auch gemäßigtere Formen anzutreffen waren.81 In den Bundesstaaten sind auch gesamtstaatliche Delegiertenversammlungen der demokratisch gewählten Dorfregierung zu finden.82 Aufklärung und atlantische Revolutionen rezipieren auffallender Weise fast ausschließlich die römische Republik.83 Freilich ist die athenische Demokratie als erstes in Funktionsweise hinreichend überliefertes Paradigma eines nach dem Mehrheitsprinzip konstituierten und gesteuerten Gemeinwesens Modellfall der Weltgeschichte. Im Übrigen sind teilweise in ihrer Zeit selbst, teilweise aber auch durch eine traditionsreiche und intensive Erforschung durch die Altertumswissenschaften fast alle entscheidenden Grundfragen der Demokratietheorie anhand des athenischen Modells behandelt worden: „Die athenische Demokratie und ihre prinzipiellen wie zeitbezogenen Reflexionen stellen [. . .] Grundlagen jeder traditionsbewussten Politikwissenschaft dar.“ 84

Da die athenische Polis einen vergleichsweise hohen Grad an Kollektivität besaß, ja heute bisweilen als Form von Staatlichkeit gewertet wird, in jedem Falle 78

Zit. nach Waschkuhn 1998, 145. Der Verfassungsdiskurs im Athen der Pentekontaëtie, als die athenischer Demokratie nach traditioneller Einschätzung in ihrer Blüte stand, ist von Herodot als eine nach Persien verlegte Verfassungsdebatte überliefert. Diese Meinung, es handele sich um eine nach Persien versetzte Montage der Argumente, die im Athen der Pentekontaëtie in Umlauf waren, dürfte heute kaum noch angefochten werden. Einzelne Stimmen, die Herodots Beteuerung, die Reden seien tatsächlich gehalten worden, Glauben schenken und folglich die Isonomia für eine persische Idee halten wollten, sind mehrmals widerlegt worden, wohl am überzeugendsten zuletzt von Bleicken 1979, 152. 80 Demandt 2004, 83. 81 Demandt 2004, 81. 82 Demandt 2004, 86. 83 Bleicken 1994, 423. 84 Waschkuhn 1998, 138. 79

Prolog

71

aber ein politisches Feld aufwies, das der Phase des Stammes entwachsen und geradezu Inbegriff städtischer Daseinsform war, verlohnt es, sie im Hinblick darauf zu betrachten, ob Anhaltspunkte zu finden sind, dass die zweifelsohne anzutreffenden Rationalisierungen, insbesondere die Bereitstellung von Kollektivgütern durch die demokratische Verfassungsform katalysiert wurden. Hinzu kommt, dass einige der demokratischen Konstituentien auch in anderen Gemeinwesen des klassischen Griechenland anscheinend anzutreffen sind. Auch wenn heute nicht mehr von einer griechischen Normalpolis auszugehen ist, so wird das Beispiel der athenischen Demokratie immer noch als gleichsam idealtypisch erachtet.85 Die Entstehung der athenischen Mehrheitsherrschaft konzentriert sich zunächst nicht im Begriff der Demokratia, sondern vielmehr der Isonomia. Zumindest bedient sich Herodot an den entscheidenden Stellen dieses Terminus. In einer fiktiven Debatte nach dem Sturz der Mager in Persien im Jahre 522 erörtern die Männer, die sich gegen die Mager erhoben hatten,86 wer künftig die Herrschaft im Reich ausüben solle. Einem Manne namens Otanes weist Herodot bei dieser Debatte die Rolle zu, die Isonomia zu rechtfertigen. Die Isonomia wird somit maßgeblich e contrario definiert: „Alles, was der Alleinherrscher tut, das tut sie nicht.“ 87 Statt der spezifischen Form der Tyrannis wird in der herodoteischen Verfassungsdebatte der allgemeinere Begriff der Monarchia demjenigen der Isonomia gegenübergestellt. Diese könne keine „wohlbestellte Ordnung“, kein xr‰ma kathrtemÝnon (Hdt. 3, 80, 3) sein. Ihr sei es erlaubt, ohne Rechenschaft, aneuqànw (Hdt. 3, 80, 3), zu tun, was ihr beliebe. Selbst den Besten stelle sie außerhalb allen gewohnten Denkens.88 Den Menschen der Antike war also bereits deutlich bewusst, dass der Wert demokratisch legitimierter Steuerung in ihrer Kontrollfunktion lag, wenn auch unmittelbarer durch das demokratische Verfahren gesteuert wurde. Für die fehlende Kontrolle des Alleinherrschers wird eine äußerst aufschlussreiche Ursache benannt: Die dem Alleinherrscher zur Verfügung stehenden „außergewöhnlichen Güter“, die pareünta ˜gaqJ:89 Es besteht also ein Bewusstsein davon, dass zumindest nichtdemokratisch legitimierte Staatsgewalt eine allen Partikularinteressen überwiegende Macht haben muss. Übersättigung, Hochmut und Missgunst reißen ihn zu üblen Taten hin. (Hdt. 3, 80, 4). Dieser Neid findet seinen Ausdruck vor allem darin, so erläutert Otanes weiter, den Besten zu missgönnen, dass sie überhaupt lebten: Gegner

85

Johannes Engels 2005. Hdt. 3, 80, 1. 87 Hdt. 3, 80, 6. 88 Hdt. 3, 80, 3. 89 Der Begriff der Güter, der ˜gaqJ, soll die Außergewöhnlichkeit der Mittel beschreiben, die dem Alleinherrscher zur Verfügung stehen, Little-Scott-Jones 4 (˜gaqün II, 2). Durch die Wahl dieses Begriffes wird der Gedanke fortgeführt, der Alleinherrscher stehe außerhalb allen gewöhnlichen Denkens. Darüber hinaus wird aber angedeutet, dass der Herrscher über etwas verfüge, was sich im weitesten Sinne mit dem modernen Begriff administrativer Infrastruktur bezeichnen ließe. Inwieweit sich hierunter, selbstverständlich gänzlich nicht-selbstreferenziell und unbewusst beschrieben, auch Kollektivgüter befinden mögen, bleibe dahingestellt. 86

72

Prolog des Alleinherrschers ist also die Aristokratie. Hierin deutet sich bereits die Polarität von Isonomia und Tyrannis an.90 Als das schlimmste aller Übel der Alleinherrschaft bezeichnet Otanes aber, dass der Alleinherrscher die ererbten Gesetze durcheinanderbringe (Hdt. 3, 80, 5).

Auch in der Isonomie ist also, so kann e contrario geschlossen werden, der Nomos die entscheidende Grundlage, die das Zusammenleben in der Polis gestaltet. Frauen füge der Alleinherrscher Gewalt zu und töte Personen ohne Urteil. (Hdt. 3, 80,5). Vor allem dieses Merkmal der Alleinherrschaft, die sich durch ein Fehlen funktionierender Rechtsfindung und -anwendung und einer Missachtung der Dike charakterisiert, ähnelt den Merkmalen der Dysnomia, wie sie vor allem bei Solon und Herodot zu Tage treten. Die Isonomia hingegen zeichnet sich, wie Herodot den Otanes darlegen lässt, zum einen durch ihren Namen aus, der zugleich Programm ist: „Die Herrschaft des Volkes aber hat vor allem schon durch ihren Namen – Gleichberechtigung aller – den Vorzug.“ (Hdt. 3, 80, 5) Zum anderen bewährt sie sich aber eben durch Unterlassung der Handlungen, die für den Alleinherrscher als charakteristisch dargestellt wurden. Die Isonomia ist jene „wohlbestellte Ordnung“, xr‰ma kathrtemÝnon, in der die spätere „Rechenschaftslegung“, die ežqành, bei allem Handeln den Herrschenden vor Augen steht. Dass Macht in der Isonomia nicht ohne Verantwortung ausgeübt werden kann, wird gleichfalls ausdrücklich wiederholt: „Zum anderen macht sie nichts von dem, was der Alleinherrscher macht.“ (Hdt. 3, 80, 6). Dass die Dike die Isonomia konstituiert, wird auch durch das besagte Institut der „Rechenschaftslegung“, der ežqành ermöglicht: Denn Recht bindet und begrenzt Macht. Die Besten bleiben in der Isonomia bei guter Gesinnung. Diese Integrität der Führungsgruppen gründet vor allem in jener Bindung der Macht an das Recht, wie sie in der Rechenschaftspflicht ihren Ausdruck findet.91 Verfassung bedeutet in der Isonomia also in hohem Maße Institutionalisierung von Herrschaft in Form von Verfahren und Ämtern.92 Dass die Amts- und Verantwortungsträger Bescheidenheit und Wohlwollen auszeichnen, wird zumindest suggeriert, wenn die Untugenden des Alleinherrschers, Hochmut und Zorn, als Gegenbegriffe (Hdt. 3, 80, 4) zugrunde gelegt werden. Die Behauptung, bei einem Alleinherrscher erführen die Schlechtesten Förderung, erweckt den Anschein, in der Isonomia gelangten die Besten bevorzugt in Ämter. Dem widerspricht freilich ausdrücklich Otanes’ Hinweis, in der Isonomia würden die Ämter gelost. (Hdt. 3, 80, 6). Das Ideal der Gleichheit, das in der Ämterlosung seinen radikalsten Ausdruck findet, steht also noch über demjenigen einer Herrschaft der Besten.93 90

Bringmann 1976, 271. Die Rechenschaftspflicht für Beamte wurde wahrscheinlich erst mit dem Sturz des Areopags, also vermutlich unter Ephialtes, eingeführt, Sealy 1967, 52 f.; Martin 1974, 32; Bleicken 1979, 157; Ostwald 1986, 47 ff.; Nakategawa 1988, 265. 92 Meier 1977, 16. 93 Losung von Ämtern setzt erst in der Zeit nach 487/6 ein, Ehrenberg 1950, 528; Bringmann 1976, 269. 91

Prolog

73

„In der Mehrheit ist das Ganze.“ (Hdt. 3, 80, 6): So lautet die vielfach interpretierte Quintessenz der Isonomia, mit der Herodot die Rede des Otanes summarisch abschließt. Zum einen ist in dieser Aussage das Argument enthalten, das Mehrheitsprinzip liege der zuvor von Otanes beschriebenen Verfassung zugrunde und legitimiere diese.94 Zum anderen wird jedoch deutlich, dass die Isonomia von einer Identität der Herrschenden und Beherrschten ausgeht:95 Wenn Mehrheit und Gesamtheit in eins gesetzt werden, so wird ein eigener Wille der unterlegenen Minderheit gar nicht wahrgenommen; sie erhält noch nicht einmal den Status der Beherrschten. Der Wille der Minderheit wird mit dem der Mehrheit stillschweigend für identisch erklärt, indem er als in ihm „enthalten“, gedacht wird (Hdt. 3, 80, 6): „Alle Bürger übten alle Staatsgeschäfte zugleich aus.“ 96 Ein Interessenwiderspruch wurde nicht wahrgenommen. Die Ähnlichkeit mit Rousseaus Staatstheorie ist nicht zu übersehen. Sie ist aber weder mit dem späteren angelsächsischen noch mit dem Rousseauistischen Verständnis einer volonté générale identisch, auch wenn sie dem Konzept der volonté générale sehr nahe kommt: Die volonté générale ist nämlich auch von der Mehrheit unabhängig. Dies weicht von der athenischen vermeintlichen „volonté générale“ ab.97 Eben hier setzte auch die spätere Kritik an der von Herodot beschriebenen Verfassungsform an: Die Kritik an der fehlenden Verantwortlichkeit, die in der Verfassungsdebatte der Alleinherrschaft zur Last gelegt wird, kann auch gegen die Herrschaft des Volkes vorgetragen werden, unterliegt es doch keiner Rechenschaftspflicht.98 Offensichtlich stellte das Problem der Minderheit kein Hemmnis für Effizienz der Willensbildung dar, was die Polis als Kollektiv anbetraf. Auch der tatsächliche Vollzug litt anscheinend nicht an Lähmung durch eine unbefriedete Minderheit. In der herodoteischen Verfassungsdebatte ist die von Herodot als Isonomia benannte Verfassungsform der zur Monarchia benannten Alleinherrschaft antonyme Begriff. Herodot selbst hat mit der Isonomia bereits die Demokratia kategorial erfassen und kennzeichnen wollen, bezeichnet er doch die von Otanes als Isonomia beschriebene Ordnung an einer anderen Stelle seines Werkes ausdrücklich als Demokratia (Hdt. 6, 43, 3). Die Isonomia ist das politisch Charakteristische an der Verfassungsform der Demokratia. Auch den Dareios lässt Herodot das Herr94

Meier 1977, 16 f. Bleicken 1994, 302 f. 96 Bleicken 1995, 340. 97 Eine bereits aufgrund ihrer Biografie eigenwillige Persönlichkeit wie Schumpeter, geht soweit, dass in Athen anzutreffende Konzept theoretisch zu übernehmen, cf. Zweiter Teil A. III. 1. 98 Aristoph. Mel. 587; Thuk. 3, 43, 3. 95

74

Prolog

schaftskonzept des Otanes als Herrschaft des „Volkes“ als politischer Einheit, des dÞmoò bezeichnen.99 Otanes selbst bezeichnet die Isonomia als Herrschaft der „Masse“, des plÞqoò.100 Diese Identität der Begriffe101 bestätigt Herodot, indem er behauptet, Kleisthenes, der als erster attischer Archon nach Ausrufung der Isonomia durch Harmodios und Aristogeiton belegt und als Vertreter der Isonomia anzusehen ist, habe die Demokratia eingeführt. (Hdt. 6, 131, 1) Freilich zeigt diese Identität zweier Begriffe, deren einer Volksherrschaft und deren anderer Gleichheitsherrschaft bedeuten, dass im athenischen Denken von vornherein die Bürgerschaft in ihrer Gesamtheit begriffen als Herrschaftsträger konzipiert und somit nur das kollektive Interesse beachtet wird. Individualinteresse ist im Politischen ein nihil, mit dem gar nicht kalkuliert wird. Von einer voll funktionstüchtigen Demokratie in Athen wird aber erst in den Hiketiden des Aischylos berichtet, freilich auch nur anspielend auf die Verhältnisse in Athen102 (Aischylos Hiketiden Vers 699), das Volk herrsche, so charakterisiert der Dichter die Herrschaftsverhältnisse in der Polis. Dies bestätigt die sich von selbst aufdrängende Überlegung, dass die Demokratia als eine zuvor unbekannte Verfassungsform allmählich herangewachsen sein muss.103 Isonomia beschreibt dabei eine Entwicklungsstufe auf dem Weg zur Demokratia, führt jedoch nicht zwangsläufig zu dieser Verfassungsform.104 Schon gar nicht kann davon ausgegangen werden, dass die Begriffe Isonomia und Demokratia von vorneherein synonym waren: Thukydides spricht vielmehr noch im späten fünften Jahrhundert von einer „Oligarchie gemäß dem Rechte“ (Thuk. 3, 62, 3). Durchgängig verfolgt Herodot die These, die demokratische Verfassung Athens habe seinen außenpolitischen Erfolg begründet.105 Träfe diese These jedoch wiederum zu, so würde sie sowohl den Rekurs auf reine Machtpolitik erklären, wie ihn später Thukydides im Melierdialog verdichtet als auch vormoderner Hinweis auf eine mit demokratischer Verfassung einhergehende Neigung zu einem auf Missionsbewusstsein ruhenden Imperialismus sein. Der Gegenwart ist ein ähnliches Phänomen unter dem Rubrum der modernen und der Antike fremden Idee von der Universalität der Menschenrechte nicht unvertraut.106

99

Hdt. 3, 82, 1; 3, 82, 5. Über etwaige wertende Nuancen beider Begriffe besteht Uneinigkeit, Meier 1968, 27 f.; Sealey 1973, 274. 101 Ehrenberg 1950, 526. 102 Ehrenberg 1950, 516 ff.; Borecky 1971, 9. 103 Ehrenberg 1950, 515. 104 Meier 1980, 55 spricht in diesem Zusammenhang von einer „weitgehenden ,evolutiven Offenheit‘“. 105 Hdt. 5, 66, 1. 106 Cf. 279. 100

Prolog

75

Die terminologische Unbestimmtheit und Offenheit Herodots bei der Wahl von Verfassungsbegriffen fällt auf.107 Dies hat nicht nur für den Isonomiebegriff zur Folge, dass er möglicherweise überladen wird, sondern legt ebenso die Vermutung nahe, dass umgekehrt Demokratie bei Herodot nicht immer die spätere athenische Demokratie des perikleischen Zeitalters beschreiben muss, sondern ebenso wie Isonomia auch einfach den Gegensatz zu Alleinherrschaft beschreiben kann:108 Wenn Herodot die Begriffe Isonomia und Demokratia promiscue gebraucht,109 darf aus diesem speziell herodoteischen Gebrauch der Begriffe jedoch nicht geschlossen werden, die Begriffe wären allgemein synonym und die durch diese bezeichneten Sachen tatsächlich identisch.110 In mindestens zwei Fällen wird auch eine außerathenische Verfassung von Herodot entsprechend gekennzeichnet.

Nach der Ermordung des Polykrates durch den persischen Satrapen Oroites beruft sein Nachfolger Maiandrios auf Samos eine Volksversammlung aller Städte ein (Hdt. 3, 142, 2). Unter ausdrücklicher Betonung seiner Freiwilligkeit lege er, so sagt er vor der Volksversammlung, die Herrschaft in die Hände aller Bürger (Hdt. 3, 142, 5) und rufe die Isonomia aus (Hdt. 3, 142, 3). Der Isonomia liegt auch in diesem Falle bereits die Idee der Volksherrschaft zugrunde denn die Bürger haben gleichen Anteil an der politischen Gewalt.111 Damit wird „Freiheit“, ™leuqerßa, als Eigenart auch der Isonomia benannt. Bezeichnet die Freiheit der Eunomia jedoch den Personenstand des einzelnen als eines selbstständigen Trägers von Rechten und Pflichten, der sich vom Schuldknecht unterscheidet, so begründet die Freiheit der Isonomia die Herrschaft des Volkes als Einheit von Herrschenden und Beherrschten: „Freiheit verwirklichte sich also in der Herrschaft des Volkes.“ 112 Herrschaft des Volkes konnte sich von der Herrschaft einzelner nur dann unterscheiden, wenn die politische Freiheit, das heißt die politischen Partizipationsrechte aller gleich waren. Dies entsprach dem Gerechtigkeitsideal der Isonomia, dem aber wiederum die Identität von Regierenden und Regierten zugrunde lag. Ein Widerspruch zwischen einer elitären Oligarchie oder auch einer elitären Demokratie einerseits und Monarchie oder Monokratie andererseits ist im Politischen seiner Eigenart nach angelegt. Das „Volk“ als politische Einheit, der dÞmoò, oder auch die im pejorativen Sinne verstandene „Masse“, der éxloò, erlangt darüber ein arbiträres Potential, auch wenn dieses gegenüber den Herrschenden nur legitimitätsstiftend und nicht selbst unmittelbar herrschaftsbegrün107

Ehrenberg 1940, 295, 297; Ehrenberg 1950, 527. Schaefer 1948, 503; Ehrenberg 1950, 527; Meier 1969, 554 f.; Meier 1977, 15; Bleicken 1994, 57 ff. 109 Ehrenberg 1950, 530. 110 Wolf 1956, 131. 111 Ehrenberg 1965, 61: „Die Idee der Demokratie verlangt, daß alle Bürger nicht nur Träger der Herrschaft sind, sondern tatsächlich herrschen, d.h. gleichen Anteil an der Herrschaft haben.“ 112 Meier 1977, 22. 108

76

Prolog

dend wirkt. Robert Michels Beobachtung eines vermeintlich „ehernen Gesetzes“ der Oligarchisierung von Demokratie lässt sich also auch umkehren: Da Eliten längerfristig unter einander in Konflikt geraten, ist jedem politischem System, das sich nicht auf dynastische, transzendente oder traditionale Legitimation stützen kann, eine Neigung zu Demokratie zumindest als Legitimationsmodus zu eigen. Freiheit als Gleichberechtigung beim Bürgerstatus ist nicht zuletzt insofern entscheidendes Merkmal der Isonomia, als politische und rechtliche Gleichberechtigung der Bürger die einzige Form der Gleichheit darstellte, die tatsächlich existierte: Isonomia bedeutete nicht wie im Falle der solonischen Eunomia, die mit einer Entschuldung, einer seisÜxqeia, einherging, wirtschaftliche Gleichberechtigung und Neuverteilung von Grund und Boden.113 Als Beweggrund für seinen Herrschaftsverzicht führt Maiandrios an, dass ihm an Polykrates missfallen habe, wie er sich über Gleiche zum Herrn aufgeworfen habe (Hdt. 3, 142, 3). Als Movens, den Kreis der Herrschaftsträger auszuweiten, erweisen sich hier wie in anderen Epochen Elitenkonflikte. Die historische Realität auf Samos lässt sich nur ungenau rekonstruieren. Offensichtlich muss der Tyrann Polykrates beim Volk sehr beliebt gewesen sein.114 Polykrates’ Herrschaft basierte gar auf der Sympathie des Demos. Ohne sich auf das samische Beispiel zu beschränken, sieht Demandt durch die ihrer Eigenart nach fast zwingend antiaristokratische Ausrichtung des Tyrannen der regelmäßig selbst ein Adeliger, aus dem Kreise der Gleichen hervortrat, eine Tendenz der Tyrannis, der Demokratie „unbewusst vorarbeitend“ ihre Herrschaft maßgeblich auf die Volksversammlung zu stützen.115 Von Herodot sind erneut zwei Ereignisse, und zwar wieder ein verfassungs- und ein aussenpolitisches miteinander verwoben worden, nämlich das Ende der Tyrannis des Polykrates mit dem Ende der persischen Suprematie.

Auch der milesische Tyrann Aristagoras legt, wie Herodot im fünften Buch berichtet, seine Herrschaft über Milet nieder und ruft die Isonomia aus, damit er die Bürger Milets für seinen Plan gewinnt, die persische Oberherrschaft zu beseitigen (Hdt. 5, 37, 1). Freilich geschieht dies anders als im Falle des Maiandrios nur „um des Scheins willen“, wie Herodot schreibt (Hdt. 5, 37, 2). Tatsächlich setzt Aristagoras bald darauf, nachdem er in ganz Ionien die Isonomia eingeführt

113 Vlastos 1953, 354 ff.; Ste. Croix 1981, 285; Hansen 1995, 82; Bleicken 1994, 304 ff.; von politikwissenschaftlicher Seite: Waschkuhn 1998, 149, der die Isonomia als Ausweitung ursprünglich adeliger Privilegien und nicht genuiner Rechte oder Naturrechte neuzeitlicher Art ansieht; Ameling 1998, 281 ff. folgert aus diesem Unterschied ökonomischer und politischer Gleichberechtigung, die politische Partizipation der Landbevölkerung sei faktisch geringer gewesen als diejenige der Stadtbewohner, da die Landbevölkerung durch den materiellen Überlebenskampf gebunden gewesen sei, cf. infra. 114 Shipley 1987, 90. 115 Demandt 2004, 85.

Prolog

77

hat, einen als „Befehlshaber“, strategüò, bezeichneten Stellvertreter ein (Hdt. 5, 38, 2). Wahrscheinlich war die Isonomia jedoch von vornherein als ein legitimierender Begriff für die verachtete Tyrannenherrschaft gedacht, um dem eigenen Machtstreben eine begriffliche Fassade und ein ideelles Ziel zu geben, das allgemeine Akzeptanz, vor allem beim Volk, genoss. Dass die Befehlshaber geduldet hätten, Isonomia als Herrschaftsform zu praktizieren, ist kaum anzunehmen, lag ihre einzige Funktion gerade darin, die Macht des Aristagoras zu sichern. Kleisthenes dürfte sich nach dem Jahre 507/6 mit der Devise der Isonomia gegen seinen Widersacher Isagoras durchgesetzt haben, ohne damit freilich eine gezielt antiaristokratische Absicht zu verfolgen, gehörte er doch selbst einem angesehenen Adelsgeschlecht an. Die Demokratie, so ist in der Forschung vor allem von Meier116 und Bleicken117 deutlich gemacht worden, muss nach Begriff und Sache Kleisthenes noch unbekannt gewesen sein. Es ist jedoch daraus nicht sicher zu folgern, ob der Begriff der Demokratia und die Volksherrschaft als Sache erst nach den Perserkriegen durch einen mehr oder weniger plötzlichen Gründungsakt entstanden sind.118 Da der Begriff Demokratia erst nach 460 belegt ist119 und die in der herodoteischen Verfassungsdebatte120 dargestellten Merkmale der Isonomia die voll entwickelte Demokratie der Zeit nach 460 beschreiben, muss es zu dieser Frage bei einer Enthaltung bleiben. Meier relativiert seine Einschätzung daher und vermutet, Kleisthenes habe durch seine Phylenreform eine „grassrootsdemocracy“ geschaffen, ohne sich dieser Bedeutung und Tragweite bewusst gewesen zu sein.121 Solche nicht-selbstreferentielle, beinahe spontane Entscheidung hinderte nicht, dass sich die Athener später ihrer Gefährdetheit bewusst wurden: Bereits im alten Athen war bewusst, dass Demokratie aufrechtzuerhalten aktive Vorbeugung erforderte und sich auch diese Herrschaftsform nicht selbsttätig erhielt.122 116

Meier 1980, 94. Bleicken 1995, 350. 118 Meier 1980, 338; Bleicken 1995, 338. 119 Aisch. Hiket., 699. 120 Hdt. 3, 80. 121 Meier 1980, 132. 122 Bleicken 1994, 265 ff. und 350 ff. Wahrscheinlich haben auch noch in der Zeit zwischen Kleisthenes und Herodot die Begriffe Isonomia und Eunomia lange Zeit parallel und nur unscharf voneinander getrennt existiert. Dies liegt nicht zuletzt auch darin begründet, dass Eunomia und Isonomia im Gegensatz zu Demokratia keine Begriffe für Verfassungsformen waren, sondern zumindest in Athen vielmehr Ideen bezeichneten, die Maßstäbe zur Bewertung von Verfassungen beschrieben, Schaefer 1948 passim; Ehrenberg 1950, 535; Meier 1968, 16; Nakategawa 1988, 259; anderer Meinung: Borecky 1971, 6. Bei allen Eigentümlichkeiten der antiken Verhältnisse ließen sich die Begriffe vergleichend als politologische und nicht Rechtsbegriffe verstehen, auch wenn diese Unterscheidung eines solchen Vergleiches bereits auf der Gegenwartsseite kaum exakt zu ziehen ist. Die Kategorie der Verfassung bildete sich im Denken 117

78

Prolog

Während die ältere Eunomia hierbei auf das Ideal der Dike als Verwirklichung des Gerechtigkeitsideals beschränkt war, beschrieb die Isonomia die normierte Gleichheit.123 Inwieweit sie auch Gleichheit vor dem Gesetz gewährleistete, ist zumindest für das sechste und frühe fünfte Jahrhundert zweifelhaft.124 Isonomia umfasste überdies keine wirtschaftliche Gleichheit, wie bereits in anderem Zusammenhang festgestellt worden ist.125 Den Rechten entsprachen jedoch auch Pflichten: Das Recht war in der Isonomia für alle bindend.126 Rechtsförmigkeit und Demokratie fallen also zusammen und werden nicht – wie etwa noch lange im neuzeitlichen Deutschland – als konträre Größen angesehen. Meier sieht den Unterschied zwischen Wert- und Verfassungsbegriffen durch die Suffixe -nomia und -kratia bezeichnet an.127 Diese etymologisierende Deutung leugnet jedoch auch die allmähliche Entwicklung vom Isonomiebegriff als Wertmaßstab hin zum herodoteischen Begriff für die demokratische Verfassung. Ursprünglich wird freilich der Eunomiebegriff tatsächlich als Vorbild für die Bildung des Isonomiebegriffes gedient haben.128 Meiers optimistische Voraussetzung gegeben, würde daraus folgern, dass die Begriffsgeschichte zugleich die Geschichte der bezeichneten Verhältnisse wiedergibt.129 Dies würde wiederum bedeuten, dass die Demokratia demnach sehr wahrscheinlich nicht durch einen einmaligen bewussten Gründungsakt entstanden wäre. Denn der Begriff ist eben erst zu der Zeit belegt, als diese Verfassungsform bereits voll ausgeprägt war. Diese Voraussetzung stützt Meier darauf, dass Begriffe bei den Griechen anders als in der Neuzeit das bereits Bestehende bezeichnet hätten, Sprache also nicht als heuristisches Mittel diente. Darüber hinaus hat er versucht darzulegen, dass die Entwicklung von den Begriffen der Eunomia und der Isonomia hin zu demjenigen der Demokratia eine Politisierung der Begriffe darstellt.130 Der Begriff der Demokratia sei anders als derjenige der Eunomia im 7. und 6. Jahrhundert Ergebnis einer Politisierung der Begriffswelt. Freilich sieht Meier auch in der Herausbildung des Begriffes und überhaupt erst allmählich heraus. Am Beginn des politischen Denkens standen vielmehr Werturteile, die Zustand und Entwicklung der Polis betrachteten, ohne zu berücksichtigen, auf welche Herrschaftsform diese zurückgingen. Wie wenig normativ oder gar rechtlich das Verfassungsverständnis noch am Ende der politischen Selbständigkeit Athens war, zeigt Isokrates Beschreibung der späteren Athener Polis. 123 Vlastos 1953, 348; 350; cf. supra. 124 Wolf 1956, 84; 144. 125 Vlastos 1953, 355. 126 Manville 1990, 198. 127 Meier 1969, 535; 539; 566 ff. 128 Frei 1981, 216 f. 129 Meier 1969, 537; Bleicken 1979, 148. 130 Meier 1977, 32 ff.

Prolog

79

des Gedankens der Isonomia bereits eine beginnende Politisierung.131 Ebenso gehen Larsen132 und Bleicken133 davon aus, dass Athen im 5. Jahrhundert spätestens durch eine hohe „Intensität des politischen Lebens“ gekennzeichnet wurde. Zwar führte die Entwicklung weg vom Recht, das dem Streit enthoben als Dike vergöttlicht wurde, hin zum Politischen, das durch Streit und Wettbewerb konstituiert wird. Eine solche Politisierung der Begriffswelt wäre indes ein früheres Zeugnis von Veröffentlichung bis dato vorstaatlicher als im Wortsinne vor-politischer Sphären. Mit dem Aufkommen des Isonomie- und des Demokratiebegriffes freilich eine Politisierung der Begriffswelt zu verbinden impliziert, dass die Begriffswelt zuvor völlig unpolitisch gewesen sein soll. Die These von der Intensivierung des politischen Lebens ist zudem für die Frühzeit der athenischen und ohnehin der griechischen Polis allgemein nur schwer aus den Quellen zu gewinnen.134 Aber die Neuheit bereits des solonischen Denkens gründete gerade in der Einsicht, dass das Schicksal der Polis in den Händen ihrer Bewohner liegt, also von politischer Gestaltung abhängt. Möglicherweise haben sich erste Ansätze zu einer Politisierung dessen, was zuvor nichtöffentlich war, schon in der solonischen Ära vollzogen. Manville vermutet seiner Vorstellung von einem sich verdichtenden Bürgerstatus folgend: „Affairs once private became increasingly public.“ 135 Die Politisierung verhinderte jedoch nicht, dass sich bereits in der perikleischen Demokratie spätestens während der Zeit des peloponnesischen Krieges die Einsicht einstellte, dass in der Demokratie faktisch die Entwicklung des Mehrheitsprinzips zu einem Kontroll- und Entlastungsmodus der Regierenden als immanent angelegt ist. Thukydides zufolge soll Perikles dies in einer berühmt gewordenen Sentenz zusammengefasst haben: „Wenn auch nur wenige von uns imstande sind, eine Politik zu entwerfen oder durchzusetzen, so sind wir doch alle imstande, eine Politik zu beurteilen.“ Dieses pragmatische Demokratieverständnis zeugte wahrscheinlich einem ähnlichen Effizienz- und Stabilitätsvorsprung, wie er heute die angelsächsischen gegenüber den kontinentaleuropäischen Demokratien kennzeichnet. Der Gedanke einer solch eher passiven und durch Überwachung wirkenden Herrschaft als Herrschaft des Volkes hat wiederum bereits früher auch zum schon dargestellten Institut des strakismüò, des Scherbengerichtes, geführt. Diese Einsicht ist umso auffallender, als das direktdemokratische Ideal wohl kaum jemals in der Weltgeschichte konsequenter und über längere Zeit praktiziert worden ist als im antiken Athen. 131

Meier 1980, 88. Larsen 1948, 1. 133 Bleicken 1995, 342. 134 Namentlich an diesem Beispiel machte Schuller 1981, 772 seine allgemeine Kritik an Meiers Thesen fest, Meier nenne keine konkreten Tatsachen und Belege. 135 Manville 1990, 155. 132

80

Prolog

Kennzeichnend ist für die Isonomia die Achtung der Gesetze, die mit dem Grundsatz begründet wird, dass keine Strafe ohne Urteil erfolgen darf. In dieser den Kern der Ordnung beschreibenden Eigenschaft ist die Isonomia mit der Eunomia konzeptionell identisch. Anders als in der Eunomia sind jedoch alle Bürger durch das Gesetz gleich und möglicherweise auch vor dem Gesetz. Im Gebot der Rechtmäßigkeit unterscheiden sie sich gemeinsam von der Tyrannis als Gewaltherrschaft.136 Beschreibt die Eunomia ein gleichsam holistisches Modell, so stellt die Isonomia einen Herrschafts- und Partizipationsmodus dar. Dass Volksherrschaft vor ihrer Fremd-, vor allem aber vor ihrer Selbstabschaffung geschützt werden muss, war bereits eine institutionell verfestigte Einsicht: In der athenischen Demokratie bildeten sich dafür sogar eigene Deliktbestände heraus, die freilich von Straf- und Privatrecht nicht zu trennen waren, weil die Gesetze eine Einheit bildeten.137 Verfassungsschutz konnte auch nach dem Selbstverständnis der athenischen Demokratie nicht einem Beamten überlassen werden. Vielmehr wurde sie als ein an prozeduralen Strukturen orientiertes Klagerecht angesehen, das zum Institut der Verfassungsbeschwerde, wie es heute etwa im deutschen Verfassungsrecht vorgesehen ist, ein „Gegenstück“ bildete.138

II. Antike Staatlichkeit und Demokratie nach der athenischen Pentekontaëtie In der politischen Theorie Platons wird Staat zwar durch die anthropologische Schwäche des Einzelnen erklärt, die Arbeitsteilung aber als Folge von Staatsgründung gesehen, die erst durch Staat möglich wird. Bereits Platon und mit ihm ganze Epochen des Altertums gehen also davon aus, dass funktionale Differenzierung erst durch Staatlichkeit ermöglicht wird. Da funktionale Differenzierung, namentlich Arbeitsteilung, städtische Zentralisierung voraussetzt, ergibt sich nicht nur aus der antiken Empirie, sondern auch aus ihrer eigenen Theorie, dass der Keim antiker Staatlichkeit die Stadt ist. Die andere bedeutende Staatstheorie der Antike, die aristotelische Politik, geht ebenfalls von anthropologischen Anlagen im Menschen aus, die zu Assoziationsformen wie dem Staat führen: Diese Theorie, die gleichsam spekulative Soziobiologie avant la lettre vorwegnimmt, war bis in das 19. Jahrhundert für den Historismus geltendes Paradigma, Staat als überhistorische Form vom historischen

136 „The two ideals are thus different but not necessarily incompatible; both were directly opposed to tyranny.“, Sinclair 1951, 33. 137 Bleicken 1984, 386. 138 Bleicken 1984, 390, der in einer Anmerkung darauf hinweist, dass den einzelnen Bürger „gleichsam zum Partner des Parlaments“ aufsteigen zu lassen, demokratietheoretisch betrachtet als „recht teuer erkauft“ zu erachten sei.

Prolog

81

Inhalt zu unterscheiden und damit die Grenzen der eigenen Methode zu bestimmen.139 Zwang galt Aristoteles im Politischen aber als zu vermeidendes Instrument.140 Auf Aristoteles geht daher eine weitere Unterscheidung zurück, die für die Theorie der Demokratie und ihre neuzeitliche Praxis grundlegend ist: Es ist die Unterscheidung von Tausch- und Verteilungsgerechtigkeit. Das Problem des „social choice“ ist darüber hinaus auch im indischen Kulturkreis bereits vor der europäischen Moderne erörtert worden.141 Als fortschreitende Verstaatlichung dürfen auch die Maßnahmen Alexanders des Großen gelten, der im eroberten Perserreich Städte gründete und Schätze ausmünzte. Denn somit setzte er Zentralisations-, Standardisierungs- und Differenzierungsprozesse in Gang.142 Dies zeigt zugleich, wie oberflächlich noch ein Gemeinwesen wie das Reich der persischen Großkönige administrativ durchdrungen war. 1. Rom: Auch ein Beginn der Weltgeschichte Städtischer Provenienz hingegen ist neben der klassischen griechischen auch die italische Staatlichkeit, aus der letztlich Rom hervorging. Neben den Griechen waren es die Etrusker, die ab 700 v. Chr. zehn Stadtstaaten begründeten.143 Wenn Christian Meier Athen als „einen Beginn der Weltgeschichte“ bezeichnet, dürfte es gerechtfertigt sein, Rom als einen weiteren Beginn der Weltgeschichte zu bezeichnen, obwohl die griechische Kultur auch im Römischen Reich stilbildend blieb: Die Jahrhunderte überwährende Dauer seiner Flächenherrschaft ist verglichen mit jedweder Form von Staatlichkeit eine eigene Größe, die eine der griechischen Polis weithin inkommensurable Größe ausmacht. a) „Principes mortalis rem publicam aeternam esse“: Von der res publica zum principatus Eines der auffälligsten Symptome von Rationalisierung stellt jenes Phänomen dar, das sich in der res publica in Gestalt der „Plebs frumentaria“ konkretisierte: Die Moderne hat es in ihrer fragwürdigen Zweideutigkeit bekanntlich sprichwörtlich werden lassen, Menschen „wegzurationalisieren“. Doch „surplus“-Gruppen stellen kein auf die Moderne begrenztes Phänomen dar. Zunächst kaum intendiert, sondern eher hingenommen, ergaben sich durch zunehmende Staatlichkeit, 139 140 141 142 143

Riedel 1963, 49, 1. Wachkuhn 1998, 188. Sen 2002, 67. Demandt 2004, 86. Demandt 2004, 87.

82

Prolog

die sich vornehmlich darin niederschlug, dass die Bevölkerungsmehrheit wehrpflichtiger Kleinbauern dem Konkurrenzdruck staatlich gehegter Latifundienbesitzern nicht mehr gewachsen war, Rationalisierungseffekte einer Ernährungswirtschaft, die bei allen Engpässen und Notlagen im Grundsatz doch bei sinkendem Arbeitsaufwand die Getreideversorgung zuverlässiger werden ließ. Die Arbeitsteiligkeit, die ermöglichte, dass das Reich wuchs, beschleunigte auch diesen Prozess: Zunächst wurde die Sicilia, sodann die Aegyptus des Reiches „Kornkammer“. Die Aegyptus war aber privates Eigentum des princeps, weder provincia populi noch auch nur provinicia Caesaris.144 Diese Rationalisierungsprozesse selbst sind freilich ohne Staatlichkeit, die entscheidende Kollektivgüter als Rahmenbedingungen sichert, in diesen Ausmaßen gar nicht vorstellbar. Vielmehr ist Ernährungssicherheit klassisches Anliegen jeder staatlichen oder sonstigen Gewalt, die für sich Souveränität beansprucht. Gleichwohl sind solche Bevölkerungsgruppen, wie sie die römische plebs frumentaria darstellt und wie sie in Ansätzen bereits durch das Institut der diobelßa bzw. des ™kklesiastikün, das als Tagegeld für jeden an der Volksversammlung teilnehmenden Bürger ursprünglich ersonnen war, auch in Athen hervorgerufen worden sein mag, wiederum auch nicht restlos als ein innergesellschaftliches Pendant zu jenen Völkern zu erachten, die heute als surplus-Bevölkerung bezeichnet werden – sofern die These von surplus-Gruppen denn überhaupt zutrifft.145 War aber in Athen die Sozialfürsorge konstitutiv für die Autonomie der demokratischen Herrschaftsform, so war sie in Rom politische Lebensversicherung für die Heteronomie autokratischer Kräfte.146 Die Plebs blieb indes ein politischer Machtfaktor, dessen Sache Caesar nutzte, seine dictatura perpetua zu errichten und zu legitimieren. Sein Großneffe Octavi(an)us, bekannt als Augustus, setzte sich von dieser Tradition nicht grundsätzlich ab, war nur hinreichend klug, sich nicht mit dem Odium der dictatura perpetua zu kontaminieren, sondern seine Herrschaft über die tribunicia potestas abzustützen, ohne das Amt des tribunus plebis selbst zu okkupieren.147 In dieser Verwiesenheit kaiserlicher Herrschaft auf volksgestützte Legitimation zeigt sich das darin bestehende Problem, dass regelmäßig allein Staatlichkeit die Probleme, 144 Im Briefwechsel Ciceros wird Aegyptus von Philo als „Das größte der Landgüter des princeps“ bezeichnet (Cic. Philo adv. Flaccum 2, 19) und Tacitus zufolge dem Privatbesitz des Kaisers vorbehalten („domi vetinere“, Tac. hist. 1, 11). 145 Höffe 2002. 146 Insofern ist es unzutreffend, Sozialfürsorge als Wert an sich auf die christlichen Epochen zu beschränken, wie von verschiedensten Seiten, etwa bei Uhle 2005, 197, behauptet wird. Solche Fürsorge war in Athen Ausdruck des Bürgerseins und der Selbstständigkeit. Freiheit ein zwar kollektiver, aber doch immerhin ein nicht weiter hinterfragbarer Wert. 147 „Id summi fastigii vocabulum Augustus repperit, ne regis aut dictatoris nomen adsumeret ac tamen appellatione aliqua cetera imperia praemineret“, weiß Tac. ann. 3, 56, 2 auch über die Legitimationsstrategie Tiberius’ zu berichten.

Prolog

83

die sie durch ihre Rationalisierungsfunktion geschaffen hat, auch wieder bewältigen kann. Mehr noch: Staatlichkeit gegen Interessen, die aus den durch Rationalisierungsprozesse entstandenen Problemlagen hervorgegangen sind, hat keinen Bestand. Staatlichkeit muss ihrer Anlage nach nicht nur den Partikularinteressen überlegen, sondern auch enthoben sein. Dies nahmen die Begründer der monarchischen Herrschaft anscheinend wahr. Ist staatliche verfasste Herrschaft einmal entstanden, vermag sie sich ohne ihrer selbst nicht mehr zu legitimieren, weil die Daseinsprobleme zunehmend in die Form staatlicher Systemprobleme übergegangen sind. Zugleich zeigt sich freilich, dass die Motivation für diese frühesten Rudimente von Sozialstaatlichkeit nicht sozialfürsorgerisch, sondern machtpolitisch intendiert war. Es wird noch zu fragen sein, ob dies beim Entstehen des modernen Sozialstaates grundsätzlich anders war. Auch Augustus mochte sich dieses Politikkonzeptes nicht entziehen, als er in seinem Testament dem Volk als soziale Masse, Plebs, und als ständisches Institut, populus, 43,5 Millionen Sesterzien vermachte: „legata nisi quod populo et plebi quadringenties tricies quinquies [. . .] nummos dedit“.148 Offensichtlich ist also bereits anhand der Antike zu beobachten, dass mit voranschreitender Dauer und zunehmender Macht, wie sie in dieser Form ein Minimum an Staatlichkeit voraussetzt, zumindest was das Verhalten der Herrschenden anbetrifft, das „prisoners dilemma“ schwindet: Es ist für den princeps erstrebenswert, dem relativen Kollektivgut der Ernährungssicherheit zu dienen. Altruistisches Verhalten bewirkt kulturübergreifend eine Steigerung des Ansehens149 und im Falle herrscherlichen Altruismus somit einen Legitimationsgewinn. Spieltheoretisch ist es jedoch von allergrößter Bedeutung, solche kooperativen Verhaltensweisen zu Beginn eines Spiels zu zeigen:150 Insofern handelte Augustus mit politisch sicherem Instinkt, wenn er das Zuckerbrot mit der Peitsche zumindest gleichzeitig schwang. Sein Gemeinwesen ist jedoch nicht ohne die vorhergehende Republik zu verstehen. Als Cicero die res publica als eine amissa bezeichnete, sei sie noch vitale Größe des Politischen gewesen, als Octavian die „res publica restituta“ verkündete, sei sie eine „amissa“ gewesen, so lautet eine grundlegende Erkenntnis Christian Meiers.151 Dass die res publica zwar Rahmen, aber nur bedingt Form und schon gar nicht Inhalt kaiserzeitlicher Politik blieb, ist heute ebenso unumstritten wie die Einsicht, dass dem principatus eine Monarchie zugrunde lag und nicht eine Dyarchie von Kaiser und Senat, wie Theodor Mommsen noch postulierte, der die be148 149 150 151

Tac. Ann. 1, 8, 2. Axelrod 2000, 121. Axelrod 2000, 121. Meier 1966.

84

Prolog

griffliche Dichotomie von Principatus und Dominatus ersann152. Vielmehr wird der principatus heute als „scarcely veiled autocracy“ 153 beschrieben. Im zu erörternden Untersuchungszusammenhang ist die scheinbar formale Frage, ob und inwieweit die res publica fortbestand, jedoch in einer Hinsicht auch von inhaltlichem Interesse: Offensichtlich war der principatus von Beginn an eine Herrschaftsform, die sich nicht durch ohnehin erst allmählich stärkende dynastische Ansprüche legitimierte, sondern durch die Kontinuität der res publica, von der auch niemals öffentlich abgerückt wurde. Nicht durch ein Menschenleben oder eine Dynastie befristet zu sein, sollte sich jedoch in den kommenden Jahrhunderten als eine Rationalisierungsvoraussetzung erweisen, die in diesen Ausmaßen bis dato für die Antike beispiellos war. Aber auch für die Neuzeit stellt sich die Dauerhaftigkeit und Kontinuität staatlich verfasster Herrschaft, wie sie der principatus aufweist, als Rätsel dar: „Die Dauer des Imperiums ist das eigentliche Geheimnis der römischen Geschichte,“ 154 lautet das Urteil einer bedeutenden Synthese der kaiserzeitlichen Geschichte. Erst auf dieser Rationalisierungsvoraussetzung wurde jene Kollektivgüter dauerhaft zu gewährleisten möglich, die in ihrer Gesamtheit die Zivilisation des Westens begründeten: „principes mortalis, rem publicam aeternam esse“, referiert Tacitus das Legitimationsprinzip aus einer Rede, die aus dem Jahre 20 n. Chr. datiert.155 Kaiserkult und Staatsgötter beschränkten sich ebenfalls nicht auf Herrschaftslegitimation, sondern waren Rationalisierungskatalysatoren. Auch einzelne principes selbst sahen in ihrer Herrschaft den Teil eines Vorganges, der ihr eigenes Dasein im Diesseits transzendierte. Streben nach divinatio und memoria, letztere bereits ein der republikanischen nobilitas eigenes Bewegungsgesetz, mischen sich hier untrennbar mit Sachinteresse und Verantwortungsbewusstsein, wie sie maßgeblich in den Amtseigenschaften des pater patriae und pontifex maximus sowie in der tribunicia po152 Dass dies zumal für einen Mann derart stupender Gelehrsamkeit wie Mommsen bereits ein Konstrukt beschrieb, ist oftmals betont worden. Dass Mommsen dennoch zu diesem fragwürdigen heuristischen Hilfsmittel griff, lässt sich wohl nur mit dem eigenen Erleben Mommsens erklären: Die Aussage der Dyarchietheorie weist nämlich eine frappierende Ähnlichkeit mit dem tatsächlichen Verhältnis von Krone und Parlament in Preußen nach 1850 bzw. im neugegründeten Reich nach 1871 auf, Bouveret 2003, 172, 293. Neuere Untersuchungen des „deutschen Konstitutionalismus“, ohne dass sie auf Mommsen Bezug nähmen, stimmen mit Aussagen Mommsens soweit überein, dass letztlich nur die historischen Begriffe ausgetauscht sind, cf. Schönberger 1997; Fehrenbach 1969. 153 Starr 1974, 547. 154 Dahlheim 1988, 241. 155 Tac. Ann. 3, 6, 3. Vor allem die rezente althistorische Forschung hat den vormaligen Konsul P. Cornelius Tacitus als überaus glaubwürdige Quelle erwiesen. Erhellt aus seinen Ämtern, dass ihm die acta senatus zugänglich gewesen sein müssen, Woodman/ Martin 1996, so zeigen teils wörtliche Übereinstimmungen der annales mit neu gefundenen Inschriften (e. g. sc. de Pisone patre und tabula Siarensis), dass der nobilis Tacitus diese Quelle auch tatsächlich benutzt haben muss, Eck/Caballos/Fernandez 1996, 296 und passim.

Prolog

85

testas verkörpert werden. Es ist bezeichnend, dass diese transindividuelle Herrschaftsfunktion im hellenistisch geprägten Ostteil des Imperiums stärker über das Institut des kàrioò, des Gottkaisers, legitimiert und prozeduralisiert wurde als in seinem Westteil. Im Westen war durch Rom Staatlichkeit zumeist überhaupt erst begründet worden.156 Rationalisierung und ihre davon nicht vollständig zu unterscheidende Voraussetzung der res publica aeterna bedurften hier in weitaus geringerem Maße legitimierender Mediatisierung. Zwar war das Kaisertum auch hier eine personale Herrschaftsform, dies aber à la longue in graduell abgeschwächter Form. Deutet sich hier bereits jene kühle Staatsraison an, die für europäische Staatlichkeit typisch werden sollte? Die Frage wird sich seriös kaum beantworten lassen. Zu unscharf lässt sich unterscheiden, inwieweit das Imperium Romanum ideengeschichtliche Rezeption und authentische Originalität darstellt, als dass sich abschließende Aussagen treffen ließen.157 Gerade weil die Augusteische Herrschaftsorganisation hinsichtlich ihrer Staatlichkeit unklar und umstritten ist, verdeutlicht sie, dass jede Macht, auch nichtstaatliche bis zu einem gewissen Grad arbiträr ist – sonst ist sie keine Macht.158 Macht definiert sich maßgeblich durch die Möglichkeit der Entscheidung. Entscheiden operationalisiert Macht als Herrschaft. Da die Weltgeschichte nur vergleichsweise wenige Paradigmata einer formalrechtlich im Kern privaten Herrschaftsorganisation von solchem Umfange und Ausmaß bietet, dass sie dem Staat gleichkommt, ist der Augusteische principatus ein kostbarer Erkenntnisgegenstand, personal zentrierte Gewährleistung und Optimierung von Massenkollektivgütern zu betrachten. Augustus bietet dabei eines der ältesten Beispiele in der westlichen Geschichte für den Umstand, dass stabilisierte Herrschaft sich nicht dauerhaft allein auf ihre Zwangsgewalt stützen kann, sondern stets eines Regelwerks bedarf, mit dem sie sich selbst bis zu einem gewissen Maß bindet.159 Rationalisierung von Herrschaft konkretisierte sich im fortgeschrittenen Principatus nicht zuletzt durch Provinzialisierung: In der Regel wurde diese Regulierung auch in einer lex provinciae kodifiziert.160 Dies ermöglichte kontinuierliche Besteuerung und Rechtsprechung, womit die entscheidenden Voraussetzungen geschaffen und vervollständigt wurden, weitere Kollektivgüter bereitzustellen, wie sie typischerweise dem Bereich materieller Alltagskultur zugeordnet werden. 156 Dies gilt letztlich auch für regional variierende Formen bedingt autonomer Verwaltung wie den civitates, die von Rom erst geschaffen wurden. Grundlegend zur Bildung der civitas ist die am Beispiel der Ubier gewonnene Studie von Heinrichs, Civitas ubiorum, Studien zur Geschichte der Ubier und ihres Gebietes, Stuttgart 2002. 157 Kehrseite dieser Einsicht ist, als wie zweifelhaft sich jene Trennung von Ideen und vermeintlicher „Wirklichkeit“ erweist, mit der rezente Methodenpostulate bisweilen ein steriles Vakuum hermetisch abgeriegelter Wirklichkeitskonzepte schaffen. 158 Sen 2002, 269: „However [. . .] it can be shown that some arbitrariness of power would still survive.“ 159 Heller 1983, 101. 160 Maier 1995, 707.

86

Prolog

Die Staatlichkeit des principatus geht also bereits mit einer Vereinheitlichungsneigung einher, wie sie für den modernen Staat später konstitutiv werden sollte.161 Provinzialisierung und Urbanisierung ermöglichten namentlich im Westteil des Reiches kollektive Daseinsbedingungen, die vorher nicht existiert hatten: „To the provincials this claim was more than an unideological cliché. Efficient and, on the whole, correct administration, taxation freed from the extortions of publicani (private tax farmers), security of traffic protection of property, freedom of economic activity,“ so fasst Franz Georg Maier dieses Beispiel zivilisatorischer „Megaorganisation“ zusammen.162 Die Kollektivgüter staatlicher Provenienz können zwar nicht ohne Steuern hervorgebracht werden. Um jedoch Kollektivgüter langfristig zu gewährleisten, sind neben Regelungs- und Steuer- auch Kontor- und Haushaltsfunktionen erforderlich, die auch unter den Bedingungen nicht ausschließlich zentralistisch organisierter Staatlichkeit gleichwohl Zentralisationsleistungen erfordern. „The machinery of government based on a judicious combination of centralism and elements of decentralization. The emperor’s interest was to monopolize.“ Der Organisationsmodus des imperium Romanum wird ferner „as decentralization of power coupled with the principle of minimal intervention“ gekennzeichnet.163

Es zeugt insofern nicht nur von kontinuitätssichernder und effektiver, sondern auch steuerungsstarker und effizienter Staatspolitik, wenn Augustus ein libellum anlegte, das Tiberius nach seinem Tod vor dem Senat verlesen ließ. Der Gegenstand dieses „libellum“ wird bereits hier mit dem Terminus „opes publicae“ umschrieben. Dieser bis dato nicht eindeutig belegte Begriff lässt sich vielseitig übersetzen. Er kann funktionell auch beinhalten, was mit dem modernen Begriff der öffentlichen (Kollektiv-)Güter definiert wird: „Opes publicae continebantur, quantum civium sociorumque in armis, quod classes regna provinciae, tributa aut vectigalia et necessitates et largitiones.“ Wie rationale und personale Herrschaftsformen verflochten sind, wie anonymisierende Abstraktion durch individuelles und konkretes Handeln umgesetzt wird, wie möglicherweise auch Geheimhaltung Prinzip rationaler Politik und Staatsführung sein kann, veranschaulicht der Zusatz: „Quae cuncta sua manu perscripserat Augustus.“ 164 Angesichts der Verschmelzung privatrechtlicher Formen und genuin staatlicher Aufgaben ist bereits für die Antike fraglich, was für die Moderne spätestens seit dem Aufgang von Interventionsstaat und Demokratie Geltung verloren hat: Ul161

Maier 1995, 705 spricht von „some uniformity“. Maier 1995, 710 und mit anschaulicher Sprachgewalt stellt Paul-Marie Duval fest: „Fast zehn Generationen konnten an den Fortschritt glauben.“, Gallien. Leben und Kultur in römischer Zeit, Stuttgart 1979, 7. Cf. auch Adcock 1959, 103. 163 Maier 1995, 706. 164 Tac. Ann. 1,11,4. 162

Prolog

87

pians Satz „publicum ius est, quod ad statum rei Romanae spectat, privatum quod ad singulorum utilitatem“ 165 erklärt sich als Beleg, unter den Bedingungen einer weitgehenden Verschmelzung von „status rei Romanae“ und „singulorum utilitas“ Orientierung zu geben. Deutlich wird die spezifische Wirkung politischer Gewalt, Individual- und Gesamtinteresse zu vereinen, indem sich das Individualinteresse in das Allgemeininteresse einkleidet. Dass dieser Prozess – verfügt das Individualinteresse erst einmal über die Institute des Allgemeininteresses – das Individualinteresse in einem Beherrscht- und Gehegtsein durch das Allgemeininteresse enden lässt, es somit aufsaugt und zunehmend auf einen inhaltslosen Erhalt frei disponibler Macht beschränkt, beschreibt offensichtlich eine anthropologische Konstante. Aber auch das Steuerwesen des principatus bietet ein weiteres Beispiel für das Ausmaß, in dem alle politischen Akteure, princeps wie senatus gebunden waren: Zweckungebundenheit von Steuern, wie sie den modernen Steuerstaat kennzeichnen, war dem principatus als Prinzip nicht zu eigen. Vielmehr gab es eine Reihe zweckgebundener Steuern und Abgaben, bei denen es sich freilich nicht um Gebühren handelte. Ob der aus der Republik überkommene Unterschied von tributa und vectigalia darauf hindeutet, dass ursprünglich durch das „Zuteilen“ von Steuern hierbei bewusst der Gedanke der Umverteilung mitschwang, ist nicht mehr auszumachen.166 Auf jeden Fall klingt für lateinisch denkende Hörer dies im Wort tributum stets mit. Es ist jedenfalls nicht auszuschließen, dass über die reine finanztechnische Organisation hinaus auch ein Umverteilungsmoment bewusst enthalten war. Verhaltenslenkung scheint hingegen regelmäßig nicht oder nur höchst nachrangig Zweck von Besteuerung gewesen zu sein. Diese globale und gesellschaftsumfassende Möglichkeit, unmittelbar und dennoch passiv Individualinteressen mit dem Kollektivinteresse zu synchronisieren, scheint dem principatus fern gelegen zu haben. Die Zweckgebundenheit der Steuern begrenzt einerseits den Grad an Abstraktion staatlicher Güterverteilung und schränkt den Spielraum der Politik ein. Andererseits steigert dies das Vertrauen in Dauerhaftigkeit und Zuverlässigkeit steuerfinanzierter Institutionen. Die Zweckgebundenheit wird besonders manifest hinsichtlich der Herstellung des Kollektivgutes äußerer Sicherheit, die aber in einem Herrschaftsgefüge wie dem Imperium Romanum mittelbar immer auch innerer Sicherheit dient. Außerdem war die Finanzierung auf das konjunkturresistenteste Steueraufkommen gestützt, über das eine ohnehin nur rentenkapitalistisch verfasste Gesellschaft relativ zuverlässig verfügen kann: Die Erbschaft. Die legiones, die dem Imperium des princeps unterstanden, wurden durch eine 165

Digesten 1, 1, 1 Ulpian institutiones 1; § 2. OLD 1973, tributum zufolge wird der Begriff entweder direkt von tribus abgeleitet oder aber über das Verb tribuere, (zu) teilen. 166

88

Prolog

Erbschaftsteuer in Höhe von 5%, die vicesima hereditat(i)um, unterhalten. Offensichtlich schien den principes, die wie jeder Herrschaftsträger auch unter einem bestimmten Legitimationsdruck standen, eine derart heterogene Divergenz von Steuerquellen und Steuerverwendung hinreichend Akzeptanz zu genießen, um das Kollektivgut der Sicherheit zu finanzieren, das zugleich auch immer Herrschaftsabsicherung des princeps bedeutete. Rechtlich konnte die Besoldung der legiones jedoch nur aus dem aerarium rei publicae erfolgen, das dem senatus unterstand.167 Durchgeführt wurde der tatsächliche Auszahlungsvorgang durch procuratores als privaten Funktionsträgern des princeps. Solche Gelder im eigenen Namen zu verwenden war ein todeswürdiges Delikt.168 In der Regel lagen legiones zudem auch nur in provinciae Caesaris. Die Gelder liefen bis mindestens zur Zeit Neros über das dem Senat unterstehende aerarium in den entsprechenden fiscus, auch danach waren aber senatus consulta erforderlich, um Ausgaben zu legitimieren.169 Die faktische Bindung der Truppen an den princeps wurde sanktioniert, indem bereits Augustus anderen Angehörigen seiner gens verboten hatte, in das organisatorisch vom allgemeinen aerarium Saturni getrennte aerarium militare einzuzahlen. Die Bündelung von technischer Einnahmefunktion und Ausgabefunktion zumindest bezüglich des für das Militär bestimmten Teils durch die procuratores lässt vermuten, dass tatsächlich, ob auch formell verbucht, sei dahingestellt, über die Erlöse der vicesima hereditat(i)um hinaus noch genuin provinziale Steuern und Abgaben dem Militär zugute kamen. Hieran wird freilich ein Problem der Haushaltung deutlich, dass auch in den heutigen Staaten des westlichen Kulturkreises durch die Diskussion um Gebührenstaat und Äquivalenzprinzip zu Tage tritt: Das Problem der Trennung von Einnahmen und Ausgaben. Offensichtlich ist, dass zumindest im Bereich des Militärs einerseits Verschränkung öffentlicher Hoheit mit kaiserlicher Macht stattfand, aber andererseits die Formen, also die formale Hoheit des senatus genau eingehalten wurden. Der princeps beschränkte sich darauf zu verhindern, dass andere Privatpersonen sich des öffentlichen Finanzsystems bemächtigten. Er selbst inszenierte sich als Wahrer der Unabhängigkeit des Senates und konnte somit das arbiträre Legitimationsmoment weitgehend auf seine Politik ziehen. Die Neuzeit kennt auch solches Aushöhlen staatlicher Ordnung zur legitimierenden Fassade autokratischen Handelns vornehmlich durch totalitäre Regime. Solche Sorgfalt wie zumindest die frühen römischen principes ließ aber keines der modernen Regime der formalen Korrektheit zuteil werden.

Freilich scheint bereits im antiken principatus zumindest bewaffnete Gewalt lediglich von relativer Bedeutung gewesen zu sein, um Herrschaft aufrechtzuerhalten:170 Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass ein Phänomen, das für die 167 168 169 170

Mommsen 1887, 1128. Eck/Caballos/Fernandes 1996, 173. Mommsen 1887, 1144. Millar 1992, 190; Alpers 1995. Maier 1995, 710.

Prolog

89

Entstehung des modernen Staates zunehmend beobachtet wird, nämlich der konventionale Charakter staatlicher Herrschaft auch nicht auf die frühmoderne Staatsentstehung beschränkt ist. Aber weit über die classes dirigantes hinaus scheint es der römischen Herrschaft gelungen zu sein, Roms Interesse mit dem der nichtrömischen Bevölkerung zu synchronisieren. Römischer Pragmatismus verhinderte weithin, Herrscher und Beherrschte in jene spezifische Form des Gefangenendilemmas hineinlaufen zu lassen, das den Schwächeren in Lethargie geführt und den Gesamtnutzen beider gemindert hätte.171 Empirische oder intuitive Weisheit ließ die Administration insgesamt verstehen, dass dem Nutzen der Herrschenden langfristig nur der Nutzen der Beherrschten dienen kann. Somit ist das römische Reich auch als „government by consent“ 172 bezeichnet worden. Konventionale Herrschaftsstabilisierung könnte in jener Interessensymbiose zu finden sein, die das Reich in der neueren Forschung auch als „partnership between the emperors and the local upper classes“ hat erscheinen lassen.173 Äußerst stabilisierend scheint jedoch die kulturelle Assimilation gewirkt zu haben, die sich vor allem im Westen maßgeblich als Akzeleration darstellte. Romanitas wirkte akzeptanz- und effizienzsteigernd auf die römische Herrschaft zurück. Die Ausbildung der Staatlichkeit des Reiches während des principatus ist mehr denn je als kultureller Prozess zu begreifen.174 Offensichtlich war es auch unter den Bedingungen antiker Sklavenwirtschaft, deren Bedeutung freilich im Verlaufe des principatus abnahm, nicht möglich, außergewöhnlichen Arbeitskräftebedarf anders zu befriedigen, als auf das Militär zurückzugreifen. Dies betraf nicht nur das bis heute nicht ohne Rückgriff auf militärische und paramilitärische Kräfte zu bewältigende Problem plötzlich und unvorhersehbar auftretenden außergewöhnlichen Bedarfs an Arbeitskräften, wie er namentlich den Katastrophenfall kennzeichnet.175 Unter den spezifischen Bedingungen des Imperium Romanum wurden militärischen Einheiten vielmehr auch reguläre oder zumindest vorhersehbare und planbare Aufgaben von außergewöhnlicher Arbeitskräfteintensität übertragen. Vermutlich dürfte es sich auch 171 Maier 1995, 712; ferner erläutert Maier 1995, 705: „The Roman Empire was not a systematically planned structure, but a pragmatic, even opportunist adaptation of existing traditions to new challenges. The Republic grown out of a city state, had proved to be unable to develop the institutions needed to govern a heterogeneous territorial empire.“ 172 Wacher 1987, 89. 173 Starr 1974, 536. 174 Maier 1995, 711. 175 Eine wirklich befriedigende und abschließende Definition des Begriffs Katastrophe gibt es selbst innerhalb des bundesdeutschen Rechts, geschweige denn im internationalen Bereich nicht. Bezeichnend für den hiesigen Untersuchungszusammenhang ist, dass (legal-)definitorische Voraussetzung die Zuständigkeit des Katastrophenschutzes ist: Die Katastrophe kann als eigenständige Kategorie demnach gar nicht gedacht werden, sondern nur in Zusammenhang mit bestimmten Modi staatlicher Aufgabenwahrnehmung.

90

Prolog

bei den Funktionen, die Militär in außergewöhnlichen Notlagen wahrnahm, um durchaus intendierte Nebenwirkungen handeln. Die Belege hierfür beschränken sich soweit ersichtlich freilich auf Gegenstände, die auch oder sogar vornehmlich eine militärische Funktion aufwiesen.176 Neben dem unmittelbaren Kollektivgut der Sicherheit gingen aus der Produktion dieses Gutes weitere Kollektivgüter hervor. Allein die Herrschaft über den Ausnahmezustand, die Carl Schmitt bekanntlich als ,quaestio an‘ des Politischen definiert,177 vermag also in vormodernen und weithin auch in modernen Gesellschaften diejenigen Mengen an hierarchisierter und kasernierter, schließlich infolgedessen zweckrationalisierbarer Arbeitskraft hervorzubringen, die auch erforderlich ist, um andere kollektive Güter hervorzubringen. Wo solch zweckrational und massengestützt organisierte Herrschaftsmittel, die Staatlichkeit erst definieren, fehlen, war und ist es teilweise noch gegenwärtig unmöglich, solche Güter hervorzubringen. Damit ist freilich ein staatsverursachtes Problem beschrieben, das bis heute nicht befriedigend bewältigt werden kann: Die unbeabsichtigte oder zumindest nur nebensächlich bezweckte, aber auch die zweckentfremdete Steuerungswirkung staatlich verursachter Personenmassierung.178 Die staatstheoretische Deutungsgeschichte des imperium Romanum ist über das Fach der Alten Geschichte hinaus kontrovers geblieben. Insbesondere über eine im Zusammenhange dieser Untersuchung entscheidende Frage, die nach der instrumentellen oder finalen Beschaffenheit des Staates, konnte der Diskurs im Viktorianischen England nicht zu einem Ausgleich gelangen: Während T. H. Green im principatus ein Institut sah, das die Bürgerrechte verteidigte und in dem weiterhin aktive Bürger und nicht willfährige Untertanen am Politischen Anteil nahmen, mochte Leonard Hobhouse im Kaiserreich noch nicht einmal einen Staat, sondern nur einen autoritären Modus sozialer Organisation erkennen.179 b) „Princeps legibus solutus“: Vom principatus zum dominates Dominatus bezeichnet in seiner ursprünglichen Bedeutung das rechtliche Verhältnis zwischen einem Herrn und seinem Sklaven.180 Als Bezeichnung der mon176 F. Vollmer, Inscriptiones Baivariae Romanae (München 1915), 145 Nr. 472. – CIL 3, 5987. – G. Walser. Die römischen Straßen und Meilensteine in Raetien. Limesmuseum Aalen, Stuttgart 1983, 29. 177 Schmitt 1963, 39. 178 Truppenreduzierung und -verlegung nach dem Ende des „Kalten Krieges“ verursachen in Deutschland bekanntlich diejenigen Strukturprobleme, die im ländlichen Raum für die Einwohner alltagsbestimmend sind. Zum Problem nicht intendierter Handlungsfolgen in abstracto Halfar 1987. 179 Meadowcroft 1995, 144. 180 ThLL V: I, 1886 [dominatus, I A 3].

Prolog

91

archischen Herrschaftsform des Imperium Romanum stellt er einen heute höchst umstrittenen Terminus dar, den die Forschung ausgehend von Theodor Mommsen gebildet hat, um die gewandelte Herrschaftsform des Kaisers in der Spätantike zu kennzeichnen. Mommsen hatte mit dem Begriff des dominatus den Zeitraum von der Machtübernahme Diokletians an bezeichnet.181 Den princeps als „legibus solutus“ zu qualifizieren geht hingegen bereits auf Ulpian zurück und stellt eine summarische Herrschaftsbeschreibung dar, die sich während des principatus als weithin gültiges Rechtsprinzip erwiesen hatte.182 Es ist ursprünglich nicht Blankett kaiserlicher Willkür, sondern öffentlicher Neutralität des princeps als arbiträrem Mandatar des Gesamtnutzens im Spiel der Partikularinteressen. Erkenntnisprozessen ist nicht selten eigentümlich, dass Kategorien in dem Maße, in dem sie ihren Erkenntniszweck erfüllen, nicht nur ihre Berechtigung, sondern eben auch ihren Zweck verlieren. Hinzu tritt die Tatsache, dass eine jede Generation die Geschichte neu zu schreiben neigt. Somit wird erklärbar, dass den Begriff des dominatus zeitweise derjenige des Zwangsstaates verdrängte. Anders als derjenige des dominatus beschreibt er hingegen bereits sprachlich ein Konstrukt der modernen Forschung und geht auf den Wirtschaftshistoriker Herrmann Aubin zurück, der ihn 1921 prägte, und ist von der althistorischen Forschung inzwischen weitgehend überholt worden. Bleibt er eine aufschlussreiche Quelle für das Denken des Jahrhunderts der Totalitarismen, so erschließt sich durch ihn, über die Wissenschaftsgeschichte vermittelt, freilich auch der spätantike dominatus, der freilich niemals mit dem Begriff Zwangsstaat vollständig synonymisiert worden ist. In den durchaus unscharf gewählten Begriff des Zwangsstaates floss teils bewusst, aber weitestgehend unbewusst183 die Erkenntnis ein, dass unter den Jahrhunderte währenden Bedingungen der pax Romana, die sich, wie im vorangegangenen Kapitel bereits erörtert, nicht zuletzt in ihrer nach außen schützenden und im Inneren pazifizierenden Funktion durch Merkmale von Staatlichkeit definierte, die für eine solche zunehmend staatlichkeitsgeprägte Zivilisation typischen Probleme auftraten, die das kaiserliche Machtzentrum nur durch zusätzliche Regulierung und Steuerung bewältigen zu können glaubte. Was traditionelle Forschung als spätantike „Dekadenz“ und politische „Wirren“ beschreibt, gründet nicht zuletzt jedoch in der zivilisatorischem Fortschritt eigenen Kollektivierung organisierter und institutioneller Befriedigung existentieller Bedürfnisse, die staatliche Steuerungs- und Pazifizierungskapazität zu überfordern neigen. 181

Rilinger 1985. Ulpian Dig. T 31, 1; aufgrund der frühneuzeitlichen Rezeption als legitimierendem Grundsatz absolutistischer Herrschaft, wird der Satz nicht selten irrtümlich für eine neuzeitliche Erfindung durch Bodin gehalten. 183 Rilinger 1985. 182

92

Prolog

Dabei hatte sich spätestens mit der Herrschaft Diokletians ein Zustand eingestellt, der moderner Betrachtung allzu leicht als Anlage eines „totalen Staates“ erscheinen kann.184 Tatsächlich blieb Totalitarismus jedoch ein der Antike fremdes Phänomen, weil die spezifischen Bedingungen der Moderne fehlten, namentlich diejenigen einer nicht organisch entstandenen Ordnung, sondern einer der Gesellschaft künstlich implantierten Ideologie, vor allem jedoch die technischen und organisatorischen Merkmale des Überwachungsstaates.185 Noch nicht einmal jener Grundsatz absoluter Herrschaft, der eingangs zitiert worden ist, beschreibt die politische Wirklichkeit im Reich hinreichend: Der Kaiser war tatsächlich kein „princeps legibus solutus“ – wenn die jeweils herrschende Persönlichkeit denn überhaupt ein solcher sein wollte.186 Diese beschriebenen Entwicklungsneigungen spätantiker Staatlichkeit zeigen sich exemplarisch im edictum pretii, das Diokletian im Jahre 301 erließ:187 Für mehr als 1.000 Waren wurde jeweils ein Preis festgelegt, um der Inflation zu steuern, die sich von einer schleichenden längst in eine galoppierende gewandelt hatte. Hierin wird freilich nicht nur der Versuch umfassender Steuerung eines Phänomens deutlich, das auf dem Humus der Jahrhunderte alten imperialen Herrschaft gediehen war, sondern eben auch die Erfolglosigkeit solcher Lenkungsversuche, die für den spätantiken Staat im Besonderen, aber letztlich für Staat im Allgemeinen kennzeichnend ist. Ein wohldosiertes Maß in ihren Grenzen nicht allzu scharf konturierter Staatlichkeit lässt sich nicht vermeiden, soll der Herrschaft auch eine rationalisierende Funktion innewohnen. Die weitestgehende Abwesenheit einer ideologischen Programmierung von Herrschaft, an deren Stelle ein vergleichsweise gewachsener Kaiserkult fungierte, verweist auf ein weiteres Merkmal des vermeintlichen „Zwangsstaates“: Die bereits im principatus anzusiedelnde Feudalisierung der Gesellschaft des „imperium sine fine“.188 Daraus wird auch verständlich, warum der just erwähnte Urheber des Terminus vom Zwangsstaat, Herrmann Aubin, als Mediävist mit diesem Terminus den Übergang von der Antike in das europäische Mittelalter beschreiben wollte. Es ist allzu bezeichnend, dass der dominatus in der deutschsprachigen Forschung ab den 1930er Jahren durch den Begriff des Zwangsstaates zunehmend 184

Schmitt 1932 und ders. 1988. Cf. Carl J. Friedrich (unter Mitarbeit von Zbiginiew K. Brzezinski), Totalitäre Diktatur, Stuttgart 1957. Zu den Gründen, warum sich in vormodernen Zeiten totalitäre Herrschafts- und Gesellschaftsordnungen nicht herausbildeten cf. Reinhard 2002, 117. 186 Zumindest bei Kaisern des principatus wie etwa Marc Aurel, der als civilis princeps idealisiert wurde, bezweifelt die opinio communis, dass sie eine solche absolute Herrschaft überhaupt erstrebt hätten, Rosen 1995, 154–160. 187 Text: Diokletians Preisedikt, ed. Siegfried Lauffer, Berlin 1971. 188 Verg. Aeneis 1, 279. 185

Prolog

93

verdrängt wurde, in der angelsächsischen Forschung aber das auf Gibbon zurückgehende Paradigma des „fall and decline of the Roman Empire“ erkenntnisleitend blieb:189 Jede Gesellschaft nutzt neben dem sachlichen Interesse am Gegenstand die Einsicht in die Vergangenheit, um ihre eigenen Probleme zu bewältigen. War für die deutsche Forschung der Staat schicksalsbestimmende Größe, so für die Briten das Empire. Die Angelsachsen erwiesen sich freilich auch insofern als gelehriger Scholar des Römervolkes, als sie erkannten, dass die Stabilität einer Herrschaft mit der Effizienz ihrer Ordnung korreliert. So verfehlt es wäre, das Imperium des principatus als zentralistisch zu kontrastieren, so deutlich gilt es wahrzunehmen, dass Diokletian Prozesse der Dezentralisierung, die schon lange im Imperium Romanum190 angelegt waren, auch formal definierte: In Gestalt der Tetrarchie wurde der römische Grundsatz, Herrschaftsbereiche durch Aufteilung administrierbar zu machen, aktualisiert.191 Freilich ist davon auszugehen, dass nicht unmittelbar und ausschließlich eine Einsicht in die stärkere Rationalisierung von Staatlichkeit diesen Prozess katalysierte, sondern vielmehr das Anerkenntnis der Schwäche des Kaisers in Rom diesen Schritt nahe legte. Darin zeigt sich freilich wiederum eine in nicht unerheblichem Maße selbsttätige, den Mächtigen oder zumindest den Herrschenden nur höchst unvollständig verfügbare, eben autopoietische Herrschaftsorganisation. Dass die Grenze zwischen principatus und dominatus fließend ist, zeigen diejenigen Entwicklungen, die als Ausweis des dominatus oder eben gar eines vermeintlichen „Zwangsstaates“ identifiziert worden sind. Die Städte wurden stärker beaufsichtigt als im principatus, Stände- und Berufszwang griffen um sich, die Gesellschaft wurde zunehmend weiter stratifiziert, grundsätzlich „selbstständige“ Berufe, die mit öffentlichen Aufgaben beauftragt waren, fortschreitend normiert. Auch die munera der Bürger erwiesen sich langfristig als gleichsam „monetarisierte“ und entsprechend abstrahierte Leistung. Hierbei ist die weite Bedeutung aufschlussreich: munus beschreibt ursprünglich eine Aufgabe, also eine Dienstleistung, wie auch später eine (geldliche) Abgabe. Zunächst als eine Art Restitution für die entsprechende Dienstleistung gedacht, entwickelte sie sich vielfach zu einer regulär in Geld erbrachten Leistung.192 Nicht nur die Allmählichkeit und Kontinuität ihres Wandels lässt die Herausbildung spätantiker Staatlichkeit als evolutionären Vorgang begreifen, der bereits im principatus als Möglichkeit angelegt war. Vielmehr ist ganz allgemein zu beobachten, dass bestimmte Güter zu gewährleisten in äußerlich vergleichsweise geschützten Zivilisationen zu im189

Gibbon, The rise and fall of Roman Empire, London 1837. Als „Imperium Romanum“ wurde römische Herrschaft in der Spätantike weiterhin bezeichnet. 191 Die Reichsleitung oblag seit dem Jahre 293 den beiden Augusti in Nicomedia und Mailand, denen jeweils ein Caesar in York und Trier beigefügt waren. 192 Cf. OLD 1146, munus. 190

94

Prolog

mer größer bemessenen Handlungseinheiten führt: Die Autonomie der Städte war zumindest in der abendländischen Geschichte nur selten nicht prekär, der Hang zur Überanstrengung scheint Städten beinahe naturwüchsig zu Eigen zu sein. Aber auch die zunehmende Regulierung von grundsätzlich selbstständigen Berufen manifestiert sich zwar bei den Steuern eintreibenden conductores überdeutlich,193 stellt aber ein weder auf die Spätantike noch auf die Antike überhaupt beschränktes Phänomen dar.194 Nachdem die Stadt sich als menschliche Koexistenzform gegenüber gentilen und tribalen Formen zunehmend als dominant erwiesen hatte, ohne andere Formen freilich vollständig ablösen zu können, wie etwa die Institution der civitates während der Kaiserzeit zeigt, liegt es zumindest nahe, dass Siedlungseinheiten im Verlauf des allgemeinen Fortschritts staatlichkeitsgerecht umgestaltet und angepasst wurden. Dies wird nicht zuletzt durch die Tatsache bestätigt, dass diese Prozesse bis weit in die Kaiserzeit, ja im Grunde bis zum wie auch immer zu terminierenden Ende der römischen Herrschaft in den einzelnen Reichsteilen höchst unterschiedlich weit vorangeschritten waren und sich immer noch als vornehmlich vom Zivilisations- und Politisierungsgrad der vorrömischen Verhältnisse bestimmt erwiesen. Der spezifische Erfolg kaiserzeitlicher Staatlichkeit liegt freilich in eben jener Inkonsequenz begründet, wie sie die Gegner der Theorie vom „Zwangsstaat“ auf den Plan gerufen hat. Namentlich das Institut der curatores rei publicae195 stellte ein Mittel freilich nicht regulärer, sondern exzeptioneller kaiserlicher Intervention dar. Diese entriss nicht einfach den Städten Macht, sondern stellte jene arbiträre Größe dar, die allein auf Dauer Kollektivgüter und Gemeinwohl gewährleisten kann, während die städtische Macht als Spielball von Faktionen vielfach paralysiert war. Die Vorstellung von Städten als willfährigen Agenturen eines zentralistisch organisierten totalen Überwachungsstaates wäre freilich abwegig. Vielmehr nahmen die kaiserliche Aufsichtsfähigkeit im Besonderen und die Durchdringungsmacht öffentlicher Apparate im Allgemeinen zu.196 Dies festzustellen schließt jedoch einen Zuwachs städtischer Macht ein. Alle diese Rationalisierungsfunktionen dürfen freilich nicht über den letztlich personalen Charakter 193

De Laet 1947. Cf. Reinhard 2002, 326 für die Frühe Neuzeit. 195 Auch isoliert ist der Begriff der „res publica“ bzw. der „res Romana“ noch im letzten Drittel des 4. Jahrhunderts belegt, Amm. XVII, 13, 31 („res Publica“) und XVI, 12, 17 („res Romana“). 196 Formalrechtlich betrachtet war der kaiserliche Erzwingungsstab ehedem privater Natur, auch wenn die „procuratores Augusti“ und die „legati Augusti“ als Funktionsträger des Kaisers nicht nur den Amtsträgern der „res publica“ an Macht überlegen waren, sondern auch in Definition und interner Gradierung ihrer Funktionen rasch, in Organisation und Regelung ihrer Kompetenzen aber erst allmählich die Gestalt ebenso rationalisierter wie rationalisierender Staatlichkeit über- und annahmen. Cf. zu legati die klassischen Studien von Liebenam 1888, Crook 1955. Zu den procuratores Augusti das bekannte Standardwerk von Pflaum 1950. 194

Prolog

95

vormoderner Herrschaft hinwegtäuschen – so die Moderne unpersonale Herrschaft hervorgebracht hat. Denn tatsächlich wurde durch Formalisierung und Juridifizierung vielmehr versucht, das Informale zu fassen und auf Dauer zu stellen. Somit wurde beispielsweise die „praesentia principis“ zu einer Ehrenformel, die die körperliche Anwesenheit des Kaisers wahrscheinlich gar nicht mehr erforderte.197 Insgesamt erweist sich das „Later Roman Empire“ weder als dominatus noch als „Zwangsstaat“, sondern vielmehr als Interventionsgewalt einer sich beschleunigt funktional differenzierenden, von wechselseitigen Abhängigkeiten gekennzeichneten und folglich stark steuerungsbedürftigen Gesellschaft. Im spätantiken Herrschaftsgefüge, das die römische Staatlichkeit des 5. Jahrhunderts schließlich als „status publicus“ bezeichnete,198 wurde es möglich, die Vorteile des Vorrationalen durch Formen der Rationalisierung in ihrer Wirksamkeit zu steigern. 2. Rom und die Demokratie Dem Urteil des Polybios zufolge stelle die res publica Romana eine Mischverfassung dar, in der die Volksversammlung das demokratische Element verkörpere.199 Just die „partes populares“ wurden indessen diejenige Faktion, die zunächst unter der Ägide Caesars, sodann unter derjenigen seines Neffen Octavius jene res publica zum Namen einer Monarchie werden ließ. Insofern ist es nur konsequent gegenüber ihrer staatsrechtlichen Herrschaftsentstehung, wenn die principes ihre Legitimation auch aus der tribunicia potestas ableiteten und bis zur Zeit Nervas gesetzesförmige Herrschaftsakte gelegentlich als plebis scitum und nicht immer als senatus consultum legitimieren ließen. Plebi-scitum bezeichnet eine Volksabstimmung, an der das Volk als rechtlicher und sozialer Stand, die plebs, beteiligt ist. Im Gegensatz dazu umfasst die weniger bedeutsame contio tatsächlich das gesamte Volk als Bürgerschaft, also auch die Patri197

Z. B. CIL XIII 8502 (= ILS 8937); Velleius Paterculus 2, 92, 2. Jellinek 1913, 130 zufolge ist der Begriff „Romanus status“ bereits im Jahre 360 mit der Semantik von Staat anzutreffen. Ursprünglich beschreibt status im Römischen Recht die verschiedenen Stufen der Rechtsfähigkeit, Sohm 1903, 165; Sohm bezieht sich damit auf die fünf Belegstellen in den Digesten (Iavolenus priscus, 12. 1. 36; Pomponius 11. 7. 36; Papinianus 13. 1. 17 und 45. 1. 124; Ulpianus 24. 1. 32); Das OLD von 1996, 1816 nennt aber zehn weitere Bedeutungsgruppen, von denen mindestens zwei dem modernen Begriff „Staat“ näher kommen. Diese sind zudem beide bereits in der Latinitas aurea belegt: „6 The circumstances affecting a person or thing at a given time state, condition. b (w[ith] ref[erence] to the state, political situation, etc.).“ und „8 The arrangement, constitution, order (of a state or the other institution).“ Der Begriff „status“ bestand also bereits als Bezeichnung von Staatlichkeit, bevor er in den Digesten allgemein rechtlich normiert wurde. 199 Die Parallelen zu Blackstones auf das Jahr 1765 datierenden Klassifizierung des politischen Systems, das im England des 18. Jahrhunderts anzutreffen war, sind offensichtlich, Blackstone 1979, 51. 198

96

Prolog zier. Der heute übliche Begriff des Plebiszites hat also eine gleichsam „klassenkämpferische“ Herkunft. Anders als ein magistratus ist die plebs in ihrem Entscheidungsbereich souverän und nicht wie der magistratus auf die Formel verpflicht, „ne quid detrimenti res publica capiat.“ 200 Das plebisicitum ist also streng genommen Partikularinteresse.

Da jedoch das demokratische Element zeit seines Bestehens niemals seinen konfliktären, auf die Zeit der Standeskämpfe zurückgehenden Charakter ablegte, sei hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt, dass auch die römische Geschichte die Herrschaft des gesamten Volkes konzeptualisierte. In welchem Maße Volksherrschaft als Möglichkeit bewusst war, zeigt vor allem besagtes Institut der contio. Die relative Unbekanntheit des Begriffs kennzeichnet unterdessen die relativ geringe Relevanz der Sache. Zwar existierte in der östlichen Reichshälfte die Demokratie als kommunale Herrschaftsform vielfach fort. Der athenischen Demokratie folgte aber für mehr als anderthalb Jahrtausende kein wirklich neues Paradigma, das für die Frage, wie sie dem zweiten Buch der Untersuchung zugrunde liegt, instruktiv sein könnte.

III. Die Parabel von den zwei Schwertern: Geistliche und weltliche Herrschaft als konkurrierende Rationalisierungskräfte des Mittelalters? Nicht alles, was Kollektivgüter bereitstellt oder zu erlangen ermöglicht, firmiert unter den Begriffen von Staatlichkeit. Es bliebe zu fragen, ob derartige Institutionen nicht nolens volens Staatlichkeit ausmachen. Dem europäischen Früh- und Hochmittelalter ist Staatlichkeit jedenfalls weder im Sinne der klassischen Antike noch im Sinne der Moderne bekannt.201 Diese lakonische Feststellung treffen zu können ist freilich das Privileg von uns Spätgeborenen: Der mit aller Empathie, zumal im Zeichen der nationalstaatlichen Einigung des Jahres 1871 und der nationalen Katastrophe Deutschlands des Jahres 1945 ausgetragene Kampf um diese Frage ist kaum literarisch zu überblicken.202

Ein äußerst schwierig einzuordnendes Grenzphänomen bleibt indes die Herrschaft des Stauferkaisers Friedrich II., auf die hier jedoch nicht näher einzugehen 200

Cic. Cat. 2; II, 4, S. 1, [dort „caperet“]. Für viele: Struve, Die Entwicklung der organologischen Staatsauffassung im Mittelalter, 1978 bietet die einschlägige Analyse dieses dem Mittelalter eigenen organologischen Staatsverständnisses; cf. auch Roth 2003, 534; Schulze 2004, 22. 202 Eine wissenschaftshistorische Analyse der Funktionalisierung und Instrumentalisierung des Mittelalters während der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bietet Oexle 2005, 235. Eine trotz ihrer Zeitverhaftetheit gleichwohl sehr instruktive Zusammenfassung aus der unmittelbaren Nachkriegszeit findet sich bei Kern 1949, 32; 35 bis 39; 46 bis 49. Hier wird auch eine wissenschaftshistorisch bemerkenswerte Auseinandersetzung mit den Theorien von Belows 1925 ausgetragen. 201

Prolog

97

ist.203Als staatlich im modernen Sinne weist seine Herrschaft nicht zuletzt die ausschließlich säkulare Herrschaftsbegründung aus.204 Es wäre jedoch verfehlt, aus der Abwesenheit von Staatlichkeit auf die gänzliche Abwesenheit solcher Kollektivgüter zu schließen, die durch dasjenige ermöglicht wurden, was Gerhard Oestreich für den frühmodernen Staat als Sozialdisziplinierung bezeichnete. Die wohl am weitgehendsten rationalisierte Institution des Früh- und Hochmittelalters ist das Kloster.205 Dies ist Teil einer Entwicklung, in deren Verlauf die Kirche Funktion und Wissen antiker Staatlichkeit übernahm. Am deutlichsten schlug sich dies nieder, wenn es darum ging, das wertvollste Gut des Mittelalters zu gewährleisten: Das Seelenheil. Eine der vornehmsten Institutionen, vermittels derer dieses Gut erstrebt wurde, war das ewige Gebet. Spätestens in karolingischer Zeit führte die Sorge um das Seelenheil zur Entstehung der laus perennis.206 Christliche Caritas und kirchliche Machterhaltung ließen Klöster darüber hinaus zu den größten Einrichtungen der Gesundheitsfürsorge werden. Die Sprache ist in diesem Falle einmal mehr eine verräterische Magd: Hospitäler, in den nichtlaizistischen Staaten des Westens bis heute oftmals in kirchlicher Trägerschaft, stellen unmittelbar in ihrem Betrieb wie mittelbar in ihrer Finanzierung bis in die Gegenwart hinein oder zumindest wieder in der Gegenwart eine der wahrscheinlich aufwendigsten sozialdisziplinatorischen Kollektivgüterleistungen einer Gesellschaft dar. Dies betrifft nicht nur den Personal-, sondern auch den Koordinationsaufwand. Offensichtlich konnte die hierfür erforderliche Sozialdisziplinierung nicht ohne Religion motiviert werden. Aber auch Wissenschaft war im Früh- und Hochmittelalter bekanntlich weithin auf Klöster beschränkt.207 Anscheinend trafen diese kollektiven Leistungen jedoch regelmäßig an vergleichsweise starre Grenzen: Auch wenn die Erforschung von Wissenschaft und Wissenskultur, von Fortschrittsglaube und Fortschrittsverweigerung in der Mediävistik erst am Anfang steht, so lässt sich zumindest für das Früh- und Hochmittelalter, wie es nördlich der Alpen verlief, feststellen, dass weder theoretischer Fortschritt im Sinne moderner Wissenschaft noch praktische Optimierung, wie sie Rationalisierung gebiert, in signifikantem Umfange zu beobachten wären. Vor allem fehlten jene Kollektivgüter, die mit den Begriffen von Infrastruktur und Netzen erfasst werden: Es waren hierfür schlicht die Rahmenbedingungen nicht vorhanden, nament-

203 Denn unzweifelhaft wird nur deren süditalisches und sizilisches Gebiet als Staat bezeichnet werden können: Sofern die Ursprünge dieser Staatlichkeit überhaupt zu rekonstruieren sind, entstand sie freilich ganz überwiegend aus dem angrenzenden arabischen Kulturraum heraus. Grundlegend: Stürner 1996. Ein nicht unerheblicher Unterschied zum modernen Staat bestand darin, dass Friedrichs Staat nicht über Steuern seine reguläre Finanzierung fand, Schulze 2004, 29. Für das staufische imperium nördlich der Alpen cf. Erster Teil A. I. 5. a). 204 „Romano principi sola electio eius omnem tribuit potestatem“, MGH Const. 4, Nr. 1248, S. 1248; cf. Kantorowicz 1990, 329. 205 A. Häußling, Mönchskonvent uind Eucharistiefeier. Eine Studie über die Messe in der abendländischen Klosterliturgie des frühen Mittelalters und zur Geschichte der Meßhäufigkeit, Münster 1973, zit. nach Angenendt 1995, 401 ff. 206 Die laus perennis wurde zuerst im Kloster Agaunum im Jahre 517 praktiziert und dehnte sich zumindest in Gallien vergleichsweise rasch aus, Angenendt 1995, 402. 207 Auch hier ist der Hof Friedrichs II. wieder als exzeptionelles Phänomen anzusehen.

98

Prolog lich allgemeiner innergesellschaftlicher Gewaltverzicht, die es erlaubt hätten, solche Anlagen zu errichten und aufrechtzuerhalten. Offensichtlich gelangte die Gesellschaft erst, als der moderne Staat auftrat, über jene Grenze an funktionaler Differenzierung und sozialer Vernetzung hinaus, innerhalb derer sie im Früh- und Hochmittelalter gefangen war. Bis weit in die Neuzeit hinein wird rationale Organisation in ihrer anstaltsförmigen Sozialdisziplinierung mit klösterlicher Disziplin identifiziert und werden deren Formen übernommen.208 Somit war die Kirche auch die erste Institution, die gegen Ende des Hochmittelalters dazu überging, ihre Ordnungssysteme als Recht zu rationalisieren.209 Wolfgang Reinhard geht gar so weit, die These aufzustellen, die Kirche sei „der erste Staat des Abendlandes“ gewesen.210 Das Feld der Kirche war der einzige soziale Raum, wo sich Ansätze einer Ökonomie im Aristotelischen Sinne politischer Ökonomie entwickeln konnten, wie sie die Moderne später wieder aktualisieren wird.211 Dies gründete nicht zuletzt in der Selbstreflexivität, die der weltlichen Gesellschaft des Mittelalters weitestgehend fehlte.212 Die Kirche hingegen verfügte sowohl über ideologische Innovation, wie sie die Theologie hervorbrachte, als auch über wissenschaftliche Tradition, wie sie das Wissensmonopol über die antiken Schriften gewährte. Treffpunkt beider Eigentümlichkeiten war die Transzendenz als Rationalität stiftender Bezugsgegenstand. Weltliche Herrschaft manifestierte sich bekanntlich in Gestalt des Lehens. Grundlage dieses personalen Verhältnisses von Herrschenden und Beherrschten war ein als commendatio bezeichneter synallagmatischer Subordinationsakt.213 Die penetrierende Wirkung und ideelle Wirkmacht dieses sozialen und in der Folge auch politischen Organisationsmodus von Gesellschaft und Herrschaft führte schließlich dazu, dass in Westeuropa ein „freies“ Gebiet nicht mehr vorstellbar war. Der (Rechts-)Satz „Nulle terre sans seigneur“, der seit dem hohen Mittelalter in Frankreich galt, veranschaulicht diesen hohen Grad rechtlicher Durchdringung des Territoriums. Auch dies war ein Rationalisierungsvorgang, ja als Verrechtlichung Rationalisierung schlechthin, auch wenn dem Lehnsrecht ein gänzlich anderer, nicht generell-abstrakter und allgemeiner, sondern individueller und traditional-genetischer Rationalitätsbegriff zugrunde liegt. Damit war freilich die Entwicklung des Lehens als eines Personenverbandes zur Gebietskörperschaft eingeleitet, wie sie der moderne Territorialstaat verkörpert, der eines der ersten und prominentesten Merkmale moderner Staatlichkeit beschreibt.214 In der älteren Mediävistik ist die mittelalterliche Lehensherrschaft auch als „Personenverbandsstaat“ bezeichnet worden: Unzweifelhaft stellt Personen-

208 Foucault 2005a, 192. Cf. zur stilbildenden Wirkung kirchlicher Organisation für das Design des modernen Staates: Schulze 2004, 27 und 32. 209 Weber 1923, 291; Kern 1949, 59. 210 Reinhard 2002, 210. 211 Bergier 1998, 135. 212 Bergier 1998, 135. 213 Die im weiteren Verlauf des Mittelalters auch mit Begriffen der entstehenden Nationalsprachen bezeichnet wurde, so etwa im Althochdeutschen als Munt. 214 Dohrn van Rossum 2004, 91; Jesse 2004, 331.

Prolog

99

verbandlichkeit zwar auch ein Merkmal moderner Staatlichkeit dar.215 Personenverbandlichkeit allein konstituiert aber noch nicht Staatlichkeit. Die Abwesenheit von Staatlichkeit brachte im Mittelalter eine solche Vielfalt von Assoziationsformen und politisch relevanten Sozialkörpern hervor, dass es dem 19. Jahrhundert als historische Rechtfertigung bald organisch föderaler Staatskonzeptionen, bald protosubsidiärer Modelle diente.216 Als wissenschaftliche Interpretation der mittelalterlichen Verhältnisse sind diese expliziten und impliziten Identifikationen mit dem modernen Staat überholt. Das Mittelalter bildet die klassische Gegenprobe zur staatlich verfassten Gesellschaft und für die Varianz menschlicher Assoziation, die sich einstellen oder möglicherweise auch nur hervortreten, wenn Staatlichkeit abwesend ist. Auch die sich herausbildende Lehenspyramide vermochte sich nicht ohne Religion zu legitimieren: An ihre Spitze setzte die politische Theorie Gott. Da sich abendländische Monarchie teilweise bis zu ihrem Ende im 20. Jahrhundert als Herrschaft „deo gratia“ legitimierte, waren deren Funktionen von König bzw. Kaiser auf der einen Seite und oberstem Lehnsherrn auf der anderen Seite durch dieses Dogma verträglich. Auch wenn es nicht an Versuchen mangelte, die Kirche als eine Reichskirche in die weltliche Herrschaft einzubinden, was in der älteren Mediävistik sogar als institutionelles und prozeduralisierendes System qualifiziert wurde,217 war der politischen Verfasstheit ein immanenter Konflikt zwischen weltlicher und geistlicher Macht zu Eigen. Dieser Konflikt aktualisierte sich im Investiturstreit. Er darf als ein Höhepunkt institutionellen und personellen Auseinanderfallens von Macht und Legitimität gelten: Ein physischer Machtmittel nahezu vollständig entbehrender Papst, Gregor VII., wusste den Kaiser, Heinrich IV., durch kirchlichen Bann soweit zu delegitimieren, dass dieser nur durch die deutlichste Referenzgeste, die die politische Ordnung kannte, seine Herrschaft erhalten zu können glaubte, nämlich den sprichwörtlich gewordenen Bußgang um die Burg zu Canossa, wohin der Papst vor dem Kaiser auszuweichen versucht hatte.218 Der Papst hatte die Fürsten des Imperium sacrum durch seinen Bann dazu bewegen können, dem Kaiser die Gefolgschaft zu versagen. Da aus den spärlichen Quellen kaum zu rekonstruieren ist, inwieweit dieser Konflikt auch die Gesellschaft spaltete, lässt sich auch nicht ermessen, inwieweit jene Disziplinierungsmacht gefährdet oder aufgehoben war, die für die ohnehin vergleichsweise kaum vorhandene Fähigkeit zu kollektivem Handeln erforderlich war. Vermutlich war Hintergrund innerhalb des Reiches der Konflikt um die Eingliederung der zunehmend umfangreicher werdenden adeligen Neulanderwerbungen in die kaiserliche Herrschaft.219 Damit verselbständigte sich erstmals politische, nämlich 215

Jellinek 1913. Isensee 1968, 31 f. bezieht sich in seiner Studie über das Subsidiaritätsprinzip entsprechend auf die Mediävisten Ficker und von Gierke. 217 Das „ottonisch-salische Reichskirchensystem“ bestand niemals explizit, sondern als Beschreibung einer angenommenen Institutionalisierung bzw. einer nicht-selbstreferentiellen Organisierung der Kirche im Reich durch die moderne Forschung. Die Annahme als solche ist jedoch heute überwunden, Schiefer 1989. 218 Legitimatorischer Hintergrund war die so genannte Zwei-Schwerter-Theorie, derzufolge das geistliche über dem weltlichen Schwert stehe, cf. Maravall 1965, 308 und 313. 219 Mayer 1939, 474 f. 216

100

Prolog

„hoheitliche“ von wirtschaftlicher, also „privater“ (Sach-)Herrschaft, was sich im Institut der regalia konkretisiert, vermittels derer auch der adelige Allodialbesitz kaiserlicher Herrschaft penetrierbar wurde. Das bedeutete in praxi vornehmlich, dass auch diese Gebiete dem Heerbann und der kaiserlichen Gerichtsbarkeit oblagen. Das einzige reichsweit erstrebte und vom Kaiser als Herrschaftsmonopol beanspruchte Kollektivgut war also der, ähnlich wie noch zu Beginn des modernen Staates, nur negativ durch Abwesenheit von Konflikten definierte äußere und innere Frieden.220 Die Individuen sind auch als Träger eines kollektiven Nutzens keine Größen bewussten Handelns: Zu dieser Zeit fehlt weitgehend eine bewusste Unterscheidungsfähigkeit von Individuum und Kollektiv. Der Investiturstreit wurde auch mit medialen Mitteln in Form von „libelli de lite“ ausgetragen, die auf Rudimente von öffentlicher Meinung hinweisen.221 Ein weiteres Merkmal, das die politische Ordnung des Früh- und Hochmittelalters als vorstaatlich und kollektivem Handeln widrig kennzeichnet, war die Mehrfachverlehnung. Zwar ist auch dieses Problem im Individuum konfligierender Gruppeninteressen durch den modernen Staat nicht restlos überwunden worden, kennt auch der moderne Staat das Problem widersprechender Befehle seiner Glieder.222 Aber durch die Allkompetenz steht jedoch im Zweifel ein regelnder Gehorsamsadressat zu Verfügung. Zumindest die physische Gewalt ist bekanntlich durch den Staat normativ und weitestgehend auch faktisch monopolisiert worden. Die früh- und hochmittelalterlichen Verhältnisse erweisen e contrario, warum die Staatsgewalt wenn auch nicht unbedingt, deren Monopolisiertheit konstitutives Prinzip des modernen Staates ist. Der weit über den Beginn der Neuzeit hinausreichende Zivilisationsrückfall, der mit dem Verschwinden des Imperium Romanum eingesetzt hatte, verdeutlicht freilich, in welchem Maße innergesellschaftliche Gewaltmonopolisierung erforderlich ist, um sämtliche Kollektivgüter zu gewährleisten, die Voraussetzung sind, dass sich eben ein solcher zivilisatorischer Fortschritt entfalten kann. Vornehmlich sind hierbei Sicherheit als physischer Schutz und Berechenbarkeit künftiger Entwicklungen zu nennen.

IV. „Quod omnes tangit, ab omnibus approbari debet“: Konziliarismus und Republikanismus als spätmittelalterliche Partizipationsformen politischer Gewalt Dieser durch Marsilius von Padua maßgeblich verbreitete Satz, der auf Iustitian zurückgeht,223 beschreibt einmal mehr nicht allein ein normatives Postulat, 220

Klassisch dazu: Heinrich Brunner 1864, 1; Kern 1949, 67. Libelli de lite imperatorum et pontificum I–III, MGH Hannover 1891–1897; Struve 1992, 217 ff.; ders. 1993, 189 ff. Speziell zur Quellenkritik ist noch immer Mirbt 1894 entscheidend. 222 Cf. Erster Teil A. I. 1. a). 223 Cod. Iust. 5, 59 regelt kollektive Vormundschaft nach dem Grundsatz: „Quod omnes similiter tangit, ab omnibus approbetur“ Ausgerechnet einer der schlauesten Machtpolitiker des Spätmittelalters, Papst Bonifaz VIII., verlieh dieser Aussage erstmals den 221

Prolog

101

die für politische, also Kollektivgüter betreffende und mithin kollektiv bindende Entscheidung formuliert wird, um mit dem Betroffenheitsprinzip einen ebenso entscheidenden wie problematischen Teil demokratischer Legitimität zu fordern. Vielmehr reflektiert dieses protodemokratische Prinzip eine sich zum „Herbst des Mittelalters“ (Huizinga) hin wandelnde politische Welt. Partizipation (potentiell) Beherrschter an Entscheidungsprozessen tritt vornehmlich dort auf, wo politische Entscheidungsformen verfasst und als verfasste möglichst stark prozeduralisiert sind: Kirche und Stadt bilden – selten mit dem Willen tradierter Herrschaftsträger und Machthaber konform – den Nährboden neuer Partizipationsformen. Auffallend ist, dass wie bereits im Falle der athenischen Demokratie, so auch bei Marsilius das Gesetz legitime Form von Herrschaft ist und das Handeln der Regierenden nicht nur als demokratisch legitimiert, sondern auch als rechtlich gebundenes postuliert wird. In den Norditalienischen Kommunen bildete sich in Gestalt des Podestà eine verselbstständigte öffentliche Gewalt heraus, vermittels derer Rechtsprechung von der dem Rat verbleibenden Gesetzgebung getrennt wurde.224 Diese Vorformen moderner Staatlichkeit gingen also bereits mit Vorformen moderner Gewaltenteilung einher. Ziel des Signore als oberstem Machthaber, der regelmäßig aus einem als signora bezeichneten Leitungsgremium hervorging, war die faktische Gleichheit aller Normunterworfenen in seinem „stato“ genannten Herrschaftsbereich.225 Mit Gleichheit, die sich im Spätmittelalter noch durchsetzt, indem die Macht des Adels und der Zünfte gebrochen wird, zeigt sich jedoch nicht nur ein Vorgang der Rationalisierung, wie er für den modernen Staat konstitutives Merkmal ist, sondern wird zudem auch der Weg zu den konzeptionellen Voraussetzungen von Demokratie geschaffen. Weiter als derartige demokratische Konzepte, lässt sich der Gedanke der Volkssouveränität zurückverfolgen: Wenn er überhaupt als Separatum gedacht werden kann, dann kann er eben grundsätzlich nur, bevor das Konzept der Demokratie entwickelt wird, eigentsändig existieren: Bereits Manegold von Lautenbach postuliert der Sache nach, was sich mit dem Begriff der Volksouveränität bezeichnen lässt.226 Der Herrschaftsanspruch des Volkes wird hier einerseits als pactum benannt, das aufkündbar sei, andererseits handelt es sich nach vorwiegender Auffassung gleichwohl nicht um einen Herrschaftsvertrag im neuzeit-

Charakter eines allgemeinen Rechtsprinzips. Erschöpfende Bibliografie zur Geschichte dieses Satzes bei Hofmann 1995, Anm. 125. 224 Grundlegend ist diese Entwicklung von Jacob Burckhardt 1913, 33 ff. dargestellt worden. cf. Kern 1949, 24; Dahm 1941, 73, 76. 225 Kern 1949, 24; Salzer 1900, 246 ff.; Rodolico 1898, doc 37. 226 MGH, libelli de lite, t. 1 1890, 316 und passim. Heller, Staatslehre, 1983, 26 sieht hierin eine echte Manifestation des Volkssouveränitätskonzeptes.

102

Prolog

lichen Sinne.227 Dies hindert indes nicht daran, dem Aufklärer Kant die Innovativität seiner Auffassung, es ergebe sich aus der Volkssouveränität ein Arbeitsvertrag zwischen Volk und König, streitig zu machen.228 Denn der Arbeitsvertrag als Konkretisierung der Volkssouveränität ist also weder an Säkularisierung noch an Individualisierung gebunden, wie das Beispiel Mangolds zeigt. Da Vertragspartner das Volk als ganzes und nicht seine einzelnen Individuen sind, ist diese aus dem Mittelalter stammende theoretisch Grundlegung für kollektive Rationalität sogar unmittelbarer als diejenige der neuzeitlichen Aufklärung. Fehlt das Individuum als eigenständige Größe im Kalkül, muss in diesem Kalkül auch nicht das Gefangenendilemma berücksichtigt werden. Die Konzile von Konstanz (1414–1418)229 und Basel (1431–1449)230 dehnen den Kreis der Entscheidungsträger nicht nur deutlich aus, sondern zeigen auch die inkonsistente Qualität basis- und protodemokratischer Entscheidungskörper, denen stets eine anarchoide, bisweilen gar anarchische Tendenz eignet. Dies wiederum lässt Herrschaft als je einzigartigen und einmaligen Entscheidungsvorgang auf der einen Seite und auf Dauer gestellte Regierung auf der anderen Seite ebenso auseinander treten wie Regelsetzung und Regelvollzug. Das eine kann wechselhaft, das andere muss aber beständig sein. Ein Hiat, von dem à la longue die vollziehenden Kräfte profitieren. Die von Juan de Segovia auf Grundlage des Baseler Konzils entwickelte Korporationstheorie, derzufolge die Gewalt einzelner Herrscher nicht der von ihnen beherrschten Menge überlegen sei, konnte sich gegenüber dem aufkommenden Konzept absoluter Souveränität monarchischer Herrschaftsträger nicht durchsetzen. Was Denker wie Antonio Roselli, Juan de Torquamada und als kaiserlicher Kanzler der spätere Papst Enea Silvio Piccolomini bereits vorwegnahmen, musste im 16. Jahrhundert nur noch angepasst von Hobbes und Bodin säkularisiert werden, um ihrem deskriptiven Modus zu entsprechen.231 In der frühen Neuzeit bleibt die Stadt als Gegenmacht zum monarchischen Staat Hort bürgerlicher Partizipation und Selbstverwaltung.232 Die basisdemokratischen Momente solcher Herrschaft geraten also historisch in die Defensive gegenüber dem vereinheitlichenden Staat, der Gesellschaft auf den Dual von Herrscher und Untertan reduziert.

227 Dazu: Horst Fuhrmann, „Volkssouveränität“ und „Herrschaftsvertrag“ bei Manegold von Lautenbach, in: FS Krause, Köln 1975, 21–42. 228 Maus 1994, 51. 229 Grundlegend: Brandmüller 1991. 230 Grundlegend hierzu: Helmrath 1987; Müller 1990. 231 Juan Torquemada, Summa de ecclesia, 1449; Antonio Roselli, Monarchie sive de potestate imperatoris et papae, 1442; Enea Silvio Piccolomini, De ortu et auctoritate imperii Romani, 1446. 232 Ruggiu 2005, 93.

Erster Teil

Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne Ist die mittelalterliche Feudalgesellschaft noch eine nichtstaatliche Gesellschaft, so geht bereits das politische Denken dieser Zeit, gleichwohl Aristoteles rezipierend, von einer Neigung des Menschen zur Assoziation aus. Thomas von Aquin sieht diese anthropologisch begründete Disposition des Menschen bezeichnenderweise bereits mit seiner Vernunftbegabung verbunden, wenn er den Menschen als animal rationale et sociale bezeichnet. Menschliche Assoziation und Kultur wird als Manifestation von Fähigkeit zu rationaler Lebensbewältigung angesehen. Auf diese Weise wird die Mangelhaftigkeit menschlicher Physis ausgeglichen.1 Die staatsbegründende Annahme, dass Partikular- und Allgemeininteresse weder unvereinbar noch antinomisch, sondern lediglich konfliktär seien, ist bereits der thomistischen Lehre geläufig.2 Ist es die Wirklichkeit, die für Thomas’ Thesen konstitutiv ist und der also mithin beansprucht, Empiriker zu sein,3 so ergibt sich daraus eine grundsätzliche Frage: Inwieweit ist es im Mittelalter 1 Thomas von Aquin, De regimine principum, 5 f. Struve 1978 bietet die einschlägige Analyse dieses dem Mittelalter eigenen organologischen Staatsverständnisses; cf. auch Roth 2003, 534. 2 Thomas von Aquin, De regno I, 1. Zur aquinatischen Staatslehre, wie sie sich im Politikkommentar und in „De regno“ („De regimine principum“) darbietet: Martin Grabman, Studien über den Einfluß der aristotelischen Philosophie auf die mittelalterlichen Theorien über das Verhältnis von Kirche und Staat, 1934; Robert Linhardt, Die Sozialprinzipien des Hl. Thomas von Aquin, 1932; Antoine Pierre Verpaalen, Der Begriff des Gemeinwohls bei Thomas von Aquin, 1954: Ulrich Matz, Thomas von Aquin, in: Hans Maier/Heinz Rausch/Horst Denzer (Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens. Bd. 1. 1968, 119 ff. und 135 ff. Zur Lehre von der societas perfecta: Joseph Listh, Kirche und Staat in der neueren katholischen Kirchenrechtswissenschaft, 1978, 107 ff. 3 Thomas von Aquin wird hingegen bei Schmidt 1903, 28 und Kern 1949, 28 als Musterbeispiel für die Diskrepanz von politischen Denkern und politischer Geschichte angeführt. Das gerade bei Thomas von Aquin leicht zu übersehende zeitenthobene Substrat hat dagegen Isensee 1968, 24 betont – und dies ohne erkennbaren Rekurs auf Schmidt und Kern, was die Grundsätzlichkeit des Problems verdeutlicht. Tatsache ist freilich, dass just das hier unter Berufung auf den Aquinaten beschriebene Phänomen fehlenden Individualbewusstseins für Thomas’ noch signifikant ist. Davon abgesehen, dass diese Aussage als solche sachlich unvollständig ist, bietet mit Kern gerade ein vehementer Verfechter der Trennung von politischer Theorie und politischer Praxis, wie sie in ihrer Zeit anzutreffen ist, ein Beispiel dafür, Phänomene, die aus der Untersuchung von Denkern gewonnen werden können, selbst zu bestätigen, aber auf einer unklareren und diffuseren Quellengrundlage.

104

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

noch die Ermangelung des Bewusstseins von der Paradoxie, dass die menschliche Natur als eine gesellschaftsabhängige gleichwohl gerade nach Autonomie strebt, die Staatsbildung verhindert? Ist Staat ein Instrument oder zumindest ein Epiphänomen des Individualismus? Als Bestimmung der Vernunft die Überwindung dessen zu erkennen, was zugleich zu ihrer Überwindung erforderlich ist, die Heteronomie des Individuums, bleibt die von der Idee des Reichs Gottes beherrschte mittelalterliche politische Theorie unzugänglich. Einsicht und Absicht, Abhängigkeit gegenüber der Natur durch Abhängigkeit von der Kultur zu ersetzen, um relative Individualfreiheit erlangen zu können, qualifizieren neuzeitliches Denken. Letzte Konsequenz dieses Prozesses ist die Selbstentfremdung des Menschen, die Institutionen zu sekundären Instinkten und Reizen der Kultur als einer zweiten Natur.4 Diese Freiheit des Individuums bringt sodann mit ihrer voranschreitenden Verwirklichung den Zwang zur Freiheit mit sich:5 Ihre tätige und schaffende Nutzung, die im Schumpeterschen Paradoxon vom Kapitalismus als schöpferischer Zerstörung ihren Höhepunkt erfährt, beschreibt den zentralen Unterschied gegenüber dem Mittelalter.6 Das Gefangenendilemma ermöglicht heute, besonders scharf zu erkennen, dass tatsächlich jener zusätzliche Nutzen, den staatlich gesteuerte Kooperation schafft, in einem sehr unmittelbaren Sinne zum Zwang werden kann, als es etwa Philosopheme glauben machen: Staat als Rationalisierung zwingt das Individuum in Freiheitsräume, die es nicht alternativ füllen kann. Der Selbstgenügsamkeit einer Subsistenzwirtschaft, die sich bestenfalls zu einem Rentenkapitalismus entwickeln kann, steht eine reinvestive, durch permanente Innovation expandierende Wirtschafts- und Gesellschaftsform gegenüber, die maßgeblich durch staatliche Hegung ermöglicht wird. Rationalisierung durch Assoziation als Mittel individueller Emanzipation zu begreifen vermag freilich fehlende Staatlichkeit nicht allein zu erklären. Vielmehr stellt sich der entstehende Staat dem zeitgenössischen Bewusstsein, wie es im Übergang von Mittelalter zu Neuzeit vorherrscht, als ein Wert an sich dar. Die anthropologische Polarität von Geselligkeit und Einsamkeit wird weiterhin zumeist noch als Gegensatz von Vernunft und Trieb, von Geist und Leib, schließlich von Gut und Böse begriffen. Dass der Staat gleichwohl wie jedes Institut menschlicher Kultur eine Funktion erfüllt, lässt politisches Sein und Bewusstsein in dieser Zeit auseinander fallen und beschreibt das spezifische Problem, die Herausbildung dieses Phänomens zu rekonstruieren. Fast stellt sich dieses Phänomen als Phantom dar, scheint doch, was im einen Fall den Staat ausmacht und begründet, schon im anderen Fall zu fehlen: Ist das Kennzeichnende bald sein Gewaltmonopol, er-

4 Gehlen 1964, 42. Isensee bezeichnet unter Berufung auf Gehlen den Staat gar als Instinktprothese, Isensee 1999, 32. 5 Isensee 1968, 141. 6 Schumpeter 1993, 409.

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

105

scheint bald eben dieses gerade als Ausweis schwach ausgeprägter staatlicher Verfasstheit einer Gesellschaft.7 Das Rationalisierungspotential des Staates wird durch seine spezifische Zwangsgewalt operationalisiert, die auch erklärt, wie sich manche seiner Rationalisierungsleistungen aktualisieren. Sigmund Freud sieht den Nutzen von Zwangsgewalt darin bestehen, dass sie „durch einmalige Einrichtung entscheidet, wann wo und wie etwas getan werden soll, so daß man in jedem gleichen Falle Zögern und Schwanken erspart.“ 8 Den relativen Charakter staatlichen Zwanges, der nicht allein dadurch erklärt werden kann, dass er mit Gewalt sanktioniert sei, wird in der rezenten Forschung zunehmend betont.9 Vielmehr liegt in seiner konventionalen Autorität als kulturellem Zusammenhang einer Gesellschaft seine Wirksamkeit begründet. Dies ist nicht zuletzt in ihrer kollektiven Wirkung begründet, die darauf ausgerichtet ist, den Gesamtnutzen zu optimieren und nicht den individuellen Nutzen schnellstmöglich und unmittelbar zu erfüllen. Soll der Staat als Normen- und Institutionensystem die gleiche, nämlich gesamtnutzenoptimierende Wirkung erfüllen, lässt er sich daher nur als ein Produkt von Kultur verstehen. Dann lässt sich auch erklären, warum „non-instrumental action can be instrumentally useful.“ 10 Als Kulturgut findet der Staat, wenn auch resultativ und normativ und nicht ausdrücklich ingressiv und deskriptiv betrachtet, auch in der Staatsrechtslehre zunehmendes Interesse.11 Wenn aber nicht Gewalt, sondern Macht konventionale Größe des Politischen ist, wie Hannah Arendt annimmt, dann wäre gar nicht das Gewaltmonopol, sondern die blanke Staatsmacht staatsbegründend und damit die Nichtanwendung von Gewalt von vornherein auch für den Staat als regulärer Verhaltensmodus ausgewiesen.12 Indes ist doppelter Zweifel angezeigt: Zum einen zeigt die historische Empirie, dass es gerade die neuzeitlichen Staatsentstehungen sind, die Staatsmacht noch etliche Generationen lang zu exzessiver Gewalt7 Nolte 2004, 48 f. weist daraufhin, dass nicht jeder Zwang gewaltförmig sein müsse. Ob das Gewaltmonopol tatsächlich als solches mediatisiert und diskretioniert wird, beschreibt eine aktuelle Frage der Forschung. In gefestigten Staaten dürfte es gegenüber anderen Gewaltinhabern relativiert oder vielmehr durch die „Durchdringung des Gewaltmonopols mit anderen Komponenten des [sc.: staatlichen] Handlungsraumes, d. h. mit der ökonomischen, kulturellen und gemeinschaftlichen Komponente vermittelt werden“. Mit Münch 1982 127 f. und Waschkuhn 1998, 401 sehen auch zwei Politikwissenschaftler gerade in dieser phänotypisch ähnlichen Erscheinungsweise des staatlichen Gewaltmonopols als „Extremfall“ die Krone staatlicher Entwicklung. 8 Freud 1997, 59. 9 Cf. 8 Nach dem Stand der rezenten geschichtswissenschaftlichen Forschung deutet fast alles daraufhin, dass sich das Gewaltmonopol mehr und mehr als eine Kultur privater Gewaltlosigkeit entpuppt, Freist 2005, passim, v. a. 12 f. und 15 ff. 10 Wie Jon Elster 1988, 358 Thomas Schelling folgend erklärt. 11 Arndt Uhle, Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität, 2005. 12 Hannah Arendt, Macht und Gewalt, 2005, 45.

106

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

anwendung veranlasst, ehe sich im 18. Jahrhundert ein Zustand relativen inneren Friedens und Toleranz einstellt. Zum anderen ist grundsätzlich zweifelhaft, ob Macht nicht auch hochgradig instrumentelle Eigenschaften aufweist, was in ihrem sich leicht verflüchtigenden Vorkommen gründet. Macht muss gerade angewandt werden, um sich zu erhalten. Ist es weder die Gewalt noch die Macht, die entscheidend sind, um den Gesamtnutzen zu steigern, so ist es die Kategorie der Herrschaft: Der moderne Staat entsteht zunächst als konventionales Herrschaftsmonopol. Dieser historische Befund ergänzt sich mit systemtheoretischen Modellen, denen zufolge die Handlungsfähigkeit des Staates von gegenseitiger Durchdringung der „Subsysteme“ abhängt. Somit wird die Gesellschaft vom Staat, aber eben auch das staatliche Gewaltmonopol von anderen nichtstaatlichen Kräften durchdrungen.13 Der Dekonstruktion von Staat als reiner Ordnung kommt hingegen die wachsende kategoriale Eigenständigkeit entgegen, zu der sich Ordnung gegenüber Herrschaft in der politikwissenschaftlichen wie auch der wirtschaftswissenschaftlichen Ordnungstheorie emanzipiert.14 Indes dürfte einer noch weiter gehenden Verallgemeinerung dieser These entgegenstehen, dass nach heutiger Kenntnis nach wie vor die allmähliche Überwindung privater Gewalt zunächst durch Institute wie die treuga Dei, schließlich durch das Allkompetenz begründende Gewaltmonopol erfolgt, so dass eine Machtkonzentration entsteht, ohne die sich der moderne Staat nicht konstituieren kann.15 Ein unvollständiges Gewaltmonopol anzunehmen, bedeutet aber, dass die klassische Unterteilung von mittelalterlichem Überzeugungsrecht und neuzeitlichem Rechtsbewahrerstaat in dieser Polarität nicht zutrifft:16 Vielmehr ist die Notwendigkeit bzw. die Unvollständigkeit des Staates so stark im allgemeinen Bewusstsein verankert, dass es überhaupt nur noch rudimentärer Gewalt bedarf, um die Notwendigkeit einer arbiträren Macht einzusehen. Hier liegt wahrscheinlich eines der ergiebigsten Felder künftiger kulturwissenschaftlicher Erforschung des Staates. Der neuzeitliche Staat erschlösse sich somit eher als Vervollkommnung mittelalterlicher Überzeugungsordnung. „Staat, definiert als eine Agentur, welche ein territoriales Zwangsmonopol der Letztentscheidungsfindung (Jurisdiktion) und der Besteuerung besitzt“, setzt sich erst derart allmählich durch,

13 Hauptprotagonist dieses Modells ist Münch 1982, 128, nachdem bereits Olson und Katzenstein durch ihr Gesamtwerk den Staat zunehmend als Konstrukt zur Orientierung und Strukturierung des politischen Diskurses dekonstruiert hatten. 14 Maßgeblich von Walter Eucken 1990, 179 und von Hayek 1991, 192 und 1986, 58 begründet, wird sie in der rezenten Literatur auch auf unmittelbar politische Theorien angewandt, Anter 2004, 63. 15 Kern 1949, 41; von Below 1925, 53; Sohm 1871, viii. Stolleis 2004, 35 weist diese Entwicklung auch kunsthistorisch in Gestalt der alles überstrahlenden Sonne nach. 16 Reinhard 2002, 282.

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

107

dass die meisten absolutistischen Monarchien einen solcherart definierten Staat niemals erleben.17 Dies ist bei allen Rückschlüssen zu berücksichtigen, die aus der Frühen Neuzeit auf die Moderne gezogen werden. Vor allem verbietet diese Erkenntnis, einfach moderne Verhältnisse, wie eben den gewaltabsorbierenden Staat, auf den frühmodernen Staat zu übertragen.18 Monopolisierung von Gewalt beim Staat ist schließlich auch schlicht als Vorgang der Zivilisierung von Umgangsformen anzusehen, für die der Hof des Monarchen eher als Vorbild denn als Gewalthaber wirksam ist.19 Zivilisierung von Umgangsformen, wie sie „Höflichkeit“ bzw. „courtesy“ darstellen, beginnen seit dem Ende des Mittelalters zunächst als „Ritterlichkeit“, die Gesellschaften sukzessive zu durchdringen:20 Die Sollensordnung der Konventionen konkretisiert sich gar zu der Sollensordnung der Mode. Aber auch dort, wo es unmittelbar um die Akzeptanz von Gewaltmonopolisierung durch den Staat geht, scheint eher Einsicht als Zwang ursächlich zu sein. In England ist dieser Prozess der Verrechtlichung und Versachlichung vermutlich bereits im 17. Jahrhundert abgeschlossen.21 Ohne in allzu vordergründigen whigistischen Geschichtsoptimismus zu verfallen, ist offensichtlich doch makroskopisch eine Art Vektor der Vernunft zu beobachten. Zumindest ergibt die Genese des modernen Staates keinen Beleg für Geschichtspessimismus und immer noch beliebtes Décadencedenken. Vermutlich schuf die Erfahrung der Glaubenskriege im allgemeinen Bewusstsein eine Vorstellung, die Vernunft gleichsam mit einer poena naturalis sanktioniert wahrzunehmen. Dieser Erkenntnispfad teilt seine Zielrichtung mit der Entwicklung zahlreicher anderer Wissenschaften: So hat auch in der Politik- und Sozialwissenschaft gegenüber den 1970er Jahren die Einsicht Platz gegriffen, Institutionen und mithin auch Institutionenzusammenhänge wie den Staat nicht darauf beschränken zu können, dass sie lediglich Manifestation struktureller Gewalt seien.22 Traditionelle Definitionen des Spezifischen am Staat, wie sie etwa Max Weber bietet, werfen zwar bereits die Frage auf, warum „das der Gegenwart Spezifische ist, daß man allen anderen Verbänden oder Einzelpersonen das Recht zur physischen Gewaltsamkeit nur soweit zuschreibt, als der Staat sie von ihrer Seite zuläßt,“ und warum er „als alleinige Quelle des ,Rechts‘ auf Gewaltsamkeit“ gilt. Offen bleibt aber weithin, warum die Entstehung von spezifisch staatlicher Gewaltregulation an der Wende von Spätmittelalter zu früher Neuzeit einsetzte.23 Durch 17 18 19 20 21 22 23

Diese Definition stammt von Hoppe 2003, 37. Was aber immer noch geschieht, cf. Hoppe 2003, 36. Freist 2005, 37. Klassisch hierfür: Huizinga 1975, 85. Freist 2005, 24. Waschkuhn 1998, 336. Max Weber 1985, 5, 11 und 43.

108

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

das Aufkommen des Staates werden gesellschaftliche Zusammenhänge regierbar, es entsteht dasjenige, was Foucault im Konzept der „Gouvernementalität“ zu fassen sucht.24 Liegt bald in zentralisierender Herrschaft als rationaler Innovation neu entstehender Nationalstaatlichkeit ein spezifisches Distinktiv, das den modernen Staat von anderen Rationalisierungsinstituten abhebt, begründet, so ist bald gerade zentrifugale Verselbständigung als institutionelle Transformation überkommener Feudalität Kriterium gesellschaftlicher Verstaatlichung.25 Somit drängt sich das bequeme Angebot auf, den Begriff des Staates einfach als Realisation anthropologischer Anlagen zu einer nicht weiter zu definierenden Bezeichnung für eine bestimmte Zivilisationsstufe menschlicher Kultur zu erklären. Eine solche definitionsverweigernde Definition wäre aber nicht nur zu unspezifisch, sondern mithin auch zu unhistorisch, um die Zählebigkeit dieser Kategorie menschlicher Koexistenz zu erklären. Mehr noch: Verbietet sich nicht jede Erklärung des Staates als Teleologie der condition humaine, so sind doch ahistorische Geschichtsbilder von einem sich entfaltenden Plan, der die weitere Geschichte gleichsam selbst impliziere, längst als besondere Einmaligkeit ihrer Epochen entlarvt.26 Die Entstehung des modernen Staates ist kein Zufall, aber sie ist zugleich auch eine Geschichte. Und in der Geschichte wirkt auch immer Kontingenz. So wie die Eigenart der Moderne ihre Offenheit ist,27 so lässt sich auch nur in leicht verflüchtigendem Aggregatzustand die Essenz des modernen Staates konzentrieren: Der Staat wird zunehmend Institut und Instrument gesellschaftlichen Wandels und funktionaler Differenzierung.28 In seiner Selbstverständlichkeit wie in seiner Polymorphie ist der moderne Staat vielen Staat schlechthin.29 Seine relative Autonomie auf der einen Seite und die gesellschaftliche Differenzierung auf der anderen Seite erschweren, dass Kontaktsysteme entstehen. Aus dem Miteinander, oder doch zumindest dem Nebeneinander droht ein Gegeneinander zu werden. In dieser Gefahr zu stehen unterscheidet den modernen Staat auch von vormoderner Staatlichkeit:30 Der moderner Staat beansprucht einerseits allein durch seine ganze Art der Tätigkeit universelle Geltungsmacht.31 Und die Gesellschaft erwartet andererseits, dass, wenn nicht sie selbst, so zumindest ihre Individuen Zweck dieser Aktivität sind.32 War vormodernes Nebeneinander von Herrschaftsgewalten eingefahrene und eingeübte Tradition, ja in ihrer Unhinterfragtheit 24

Foucault 2006, 163. Heller 1983, 142 f. 26 Koselleck 1973, 6; Habermas 1965, 130 für die Aufklärung; Metzler 2002, 75 für die 1960er Jahre. 27 Möller 1986, 307. 28 Waschkuhn 1992, 37. 29 Isensee 1999, 28. 30 Cf. Prolog III. 31 Buchheim 1988, passim, v. a. 4. 25

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

109

gleichsam historisch gewachsene Mechanik, so droht Kontaktlosigkeit institutioneller Systeme in der modernen Gesellschaft den Ablauf von Staat und Gesellschaft als einem Integral zu stören. In dieser Entwicklung funktionaler Differenzierung erfüllt der Staat als Rationalisierungsinstitut Waschkuhn zufolge im Kern eine Orientierungs-, Organisations- und Vermittlungsfunktion.33 Friedman unterteilt das Feld staatlicher Aktivität noch differenzierter, bemisst es aber insgesamt ähnlich, wenn er den modernen Staat „firstly, as protector; secondly as dispenser of social services; thirdly as industrial manager; fourthly as economic controller; fifthly as arbitrator“ beschreibt:34 Deutlich wird bereits hier, dass der Vorgang der modernen Staatsentstehung durch „Zentralisierung und Hierarchisierung, Simplifizierung und Kodifizierung“, die spätestens mit dem Einsetzen der Aufklärung bewusst dem Ziel dienen sollten, „vernünftige Ordnung, Übersichtlichkeit, Effizienz und Berechenbarkeit“ von Steuerungsvorgängen zu gewährleisten.35 Stattdessen wird der Begriff der Staatsaufgabe inhaltlich zumeist deskriptiv durch vergleichende Betrachtung der modernen Staaten westlicher Provenienz definiert: Gefahrenabwehr nach außen, innerer Frieden und Gesellschaftsgestaltung bieten drei dem Typus des modernen Staates gemeinsame Aufgaben an. Eine weitere, genuin staatliche Rationalisierungsfunktion stellt diejenige der Vereinheitlichung und Standardisierung dar. Damit weist der Staat eine Schnittmenge zum Politischen als Raum auf, in dem Vereinheitlichtsein eine der eben genuin politischen Eigenschaften ihrer Gegenstände ist:36 Politik wird „in Beziehung auf den Staat bestimmt. Das Politische ist immer auch am Staat, aber nie nur am Staat orientiert.“ 37 Ist Politik für die Wissenschaften, die sich ihrer annehmen, noch bis weit in Moderne hinein mit Staat identisch, so lässt sich freilich ein Traditionsstrang herauspräparieren, der die Synonymität der Begriffe aristotelisch von der Politik und nicht vom Staat her ableitet: Staat ist alles, was politisch ist.38 Aber Politik ist eben nicht identisch mit dem, was in der Moderne Staat wird. Somit wohnt dieser Tradition ein normatives Potential inne, das sich zunehmend aktualisiert. Gleichwohl verweist dieser Politikbegriff auf ein Entwicklungsprinzip, das auch in moderner Staatlichkeit angelegt ist: Die zuneh32 Das Ideal der bürgerlichen Gesellschaft anerkennt Gesellschaft ohnehin nur als Mittel individueller Wohlfahrt der größten Zahl. Cf. Zweiter Teil A. III. 2. 33 Waschkuhn 1992, 41. 34 Friedman 1951, 298. 35 Das Zitat stammt von Demel 1993, 2; Draht 1966, 275. 36 Isensee 1968, 169 bietet en passant mit seiner Definition des Staatsvorbehaltes eine Definition, die der späteren Politikdefinition Luhmanns von Politik als Fähigkeiten „zu kollektiv bindenden Entscheidungen“ sehr ähnelt, wenn er von „notwendig einheitlicher verbindlicher Entscheidung“ spricht. 37 Luhmann 1984, 103. 38 Bleek 2005, 89.

110

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

mende Kollektivierung bis dahin individueller Lebensverhältnisse und in der Folge deren „Veröffentlichung“: Politisch ist, was Kollektivgüter betrifft.39 Folge dieser rationalisierenden Funktion moderner Staatlichkeit ist „die Fähigkeit, spontan politische Ziele zu setzen und zu verwirklichen, als auch die, sich dem Wechsel der Lagen anzupassen und elastisch auf Veränderungen zu reagieren.“ 40 Damit wird der Staat selbst aber vom integralen, wenngleich spezifischen Teil der Modernisierung zu einem Katalysator allgemeiner Modernisierungsprozesse. Als institutioneller Zusammenhang ist der Staat zugleich prozessuales und strukturelles Sozialphänomen.41 Er ist jedoch nicht nur als rational prozessierendes System institutionelles Ergebnis von Rationalisierung als historischem Prozess, sondern selbst infolge seiner Ausdehnung Teil dieses historischen Prozesses. Staat als Ort von Rationalität weist also einen doppelten Bezug auf: Staat rationalisiert und Staat ist Rationalisierung. Wie, vermittelt durch Staat, Modernisierung Modernisierung ernährt, verdeutlicht besonders eindrücklich das Steuersystem. Dessen Anlage scheint zumindest die Modernisierungsgeschwindigkeit auffallend zu beeinflussen, und zwar gerade durch vornehmlich indirekte Besteuerung und regressive Verteilungswirkung.42 Dass Regressivität modernisierend wirke, beschreibt ein vermeintliches Paradoxon, dessen Tatsächlichkeit freilich hoch umstritten ist.43 Dass die Vereinheitlichungsfunktion mit zunehmender funktionaler Differenzierung und Ausdehnung des Staates schwinde, bildet mittlerweile eines der zentralen Argumente zeitgenössischer Steuerungsskepsis.44 Diese erachtet zumindest „monistische Leitungssysteme“ als bereits im 18. Jahrhundert dem bereits gegebenen gesellschaftlichen Differenzierungsgrad nicht mehr optimal angepasste Steuerungsform. Gleichwohl erreicht diese Steuerungsform erst im 19. Jahrhun39 Diese Definition ist einerseits im aristotelischen Konzept der Politik als der „Lehre vom symbiotischen Leben“ enthalten und konzentriert sich in der neuzeitlichen, Aristoteles rezipierenden, Theorie des Politischen, etwa bei Althusius, auf ein Zusammenschließen, das durch Artefakte der Kultur intensiviert wird. Die gesellschaftsverändernde und -planerische Dimension tritt angesichts zunehmender Kollektivierung der Daseinsbedingungen immer weiter hervor: Ist das Politische dasjenige, was Kollektivgüter betrifft, so ist Politik als Nomen agens dazu „die Kunst die Menschen zusammenzuschließen, damit sie untereinander ein gesellschaftliches Leben begründen, pflegen und erhalten. Deshalb wird sie Lehre vom symbiotischen Leben genannt.“, wie schon Althusius erläutert, Politik Kap. I, § 1, S. 24, Berlin 2003. Andererseits setzt dies, wie Luhmann mit seiner Politikdefinition postuliert, die Fähigkeit zu kollektiv bindenden Entscheidungen voraus. Cf. Zweiter Teil A. IV. 1. b). 40 Isensee 1968, 295, der sich dabei zentral auf die Krügersche Staatslehre beruft, die diese extrem evolvierende Eigenschaft des Staates als besonderes proprium moderner Staatlichkeit überhaupt in den Mittelpunkt rückt, cf. Krüger 1964 passim v. a. 25 f.; 160; 775. 41 Waschkuhn 1998, 339. 42 Schremmer 1974 und 1985; Lee 1975, 153–178. 43 Einen erschöpfenden Überblick bietet Spoerer 2004, 24. 44 Für viele: V. Neumann 1992, 433.

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

111

dert als Staats- und Politikform ihre größte Entfaltung, obwohl genau in diese Epoche die exponentielle Zunahme einschlägiger Daten sozialer und ökonomischer Entwicklung fällt.45 Eine solch weitgehende Anpassungsverspätung namentlich politischer und staatlicher Steuerungsformen lässt sich freilich in Zweifel ziehen, grundsätzlich ist jedoch seit dem späteren 18. Jahrhundert in Kontinentaleuropa eine Phasenverschiebung der Korrelation von gesellschaftlichem und staatlichem Differenzierungsgrad, Dezentralisierung und polyzentrischer Neukumulation gesellschaftlicher Macht gegenüber öffentlicher Polyarchisierung nicht zu verleugnen.46 Die vereinheitlichende und damit einende Kompatibilisierungs- und Steuerungswirkung des modernen Staates ist aber nicht durch die funktionale Differenzierung selbst, sondern erst durch die daraus resultierende und bis zum Rivalisierenden reichende Konkurrenz einzelner Staatsteile zu erklären. Ob dies jedoch eine zwingende Entwicklung darstellt, ist keineswegs sicher. Historisch betrachtet verlief diese Entwicklung weder kontinuierlich noch frühzeitig. Vielmehr ist zumindest in Städten noch im 18. Jahrhundert eine hohe Fragmentierung sowohl der gesamten öffentlichen Gewalt, wie der städtischen im Besonderen zu beobachten. Gleiche Aufgaben und Funktionen werden je nach gewachsener Zugehörigkeit der verwalteten Institutionen sowohl von städtischen wie nichtstädtischen Amtsträgern ausgeführt. Demgegenüber versehen städtische Beamte aber oftmals sehr unterschiedliche Verwaltungsaufgaben in einer Person, ohne dass dies zwangsläufig eine Personalunion im förmlichen Sinne gewesen wäre.47 Vielmehr hängen solche Aufgabenzuschnitte von Autorität und Glaubwürdigkeit des jeweiligen Inhabers ab. Das personale Element verhindert also im Gewand rationeller Aufgabenerledigung das Leerlaufen gleichförmiger Apparate. Das Auftreten des Staates stellt sich vor dem Hintergrund fortlebender traditioneller städtischer Selbstverwaltung oftmals im Gesamtbild als Zunahme des Unrationellen sowie von Unübersichtlichkeit dar. Die individuelle Person, der ihr angestammtes Umfeld vertraut, ermöglicht, dass sich dieses Umfeld allmählich und schleichend zu veröffentlichen beginnt. Schließlich wird zunehmend erkannt, dass eine Dichotomie von Ordnung und Chaos bereits als Erkenntniskategorie zu kurz greift: Helmut Willke sieht als Horizont des Möglichen „regulierte Anarchie“ an.48 Weiterhin wird als diese Einzelfunktionen übergreifend deutlich, dass das Feld moderner Staatsaktivität eine Funktion gegenüber den handelnden Individuen spielt, die ihrer normativen Zielrichtung nach als der Gesellschaft und ihren agie45 46 47 48

Jonas 1963, 294. Dahl 2005, 136. Ruggiu 2005, 92. Willke 2003, 11 und 70.

112

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

renden Individuen helfend sein soll, seiner Anlage nach aber immer weiter in bislang von ihm unberührte Lebensbereiche eindringt und dieses Eindringen in hohem Maße mit seinem Telos zwingend einhergeht. Viele Lebensbereiche können überhaupt erst erschlossen und etliche Selbstverwirklichungsideale für eine steigende Zahl von Individuen aktualisiert werden, indem der Staat mit seinen den jeweils betroffenen Individuen überlegenen Ressourcen an Gewalt und Wissen einen mit seiner voranschreitenden Entwicklung zunehmend sublimeren und mediatisierteren Zwang auszuüben vermag. Ihre wohl eindrucksvollste Paradoxie findet diese Entwicklung von Emanzipation durch Repression in den totalitären Regimen des Kommunismus.49 Schon eine der ersten ideengeschichtlichen Voraussetzungen der Theorie des Totalitarismus, Rousseaus Lehre von der Identität der Herrschenden mit den Beherrschten, die, über Hegel vermittelt, in die Lehren Marxens und Engels eindringt, nimmt ihren Ausgang in der Erkenntnis der entfremdenden Wirkung voranschreitender funktionaler Differenzierung, auch wenn Rousseau diesen Vorgang der Moderne noch nicht terminologisch und sachlich derart eindeutig begreift.50 Gleichwohl könnte sich staatliche Steuerung nicht seit Jahrhunderten ausbreiten, ohne dass sie von ihren Objekten statt als ausschließlich sich selbst erhaltende und reproduzierende Zwangsgewalt verstärkt vielmehr als koordinierende Ordnungsmacht wahrgenommen und ihre Kritik und Skepsis gleichsam selbst institutionalisiert würde, wie dies vornehmlich durch die Sphäre des Öffentlichen im Allgemeinen und die öffentliche Meinung im Besonderen geschieht. Vielmehr erweist sich der moderne Staat bei aller Repressivität, die einzelne seiner Phänotypen aufweisen mögen, letztlich als Konsensualisierungsprozess bürgerlicher Gesellschaft.51 Die Konzentration arbiträrer Macht beim Staat ist Douglas North zufolge soweit fortgeschritten, dass inzwischen eine jede moderne Handelstransaktion ohne jenes „third party enforcement“ nicht mehr vorzustellen ist,52 und den Staat als „the source of coercion“ einschalten muss.53 Der älteren Begriffsgeschichte zufolge lässt sich zumindest für den Bereich des Alten Reiches gerade in dieser Konzentration die herrscherliche und ständische Gewalt vereinigen.54 Es ist demnach also mehr das momentum der Überlegenheit als der Neutralität, was konstitutiv für das Konzept des (früh-)modernen Staates ist. 49 Der Führerstaat des Nationalsozialismus bleibt hingegen ein zweifelsohne ambivalentes Phänomen, das zwischen moderner Ausgangslage und antimodernem Habitus changiert, dazu eingehend: Bavaj 2002. 50 Waschkuhn 1998, 220; es handelt sich hierbei um ein Phänomen, das sich auf der Grenze von selbstreferentiellem und nichtselbstreferentiellem Wissen bewegt, cf. 5. 51 Waschkuhn 1998, 213 und 303. 52 North 1986, 233. 53 North 1986, 231. 54 Weinacht 1968, 23.

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

113

Denn das Gefangenendilemma wird vielfach gar nicht durch bewusste Defektion hervorgerufen, sondern durch fehlende Koordination: Nicht Defektion sondern Disordination führen oftmals zu suboptimalen Gesamtergebnissen.55 Die koordinierende Wirkung des Staates ist mit zunehmender Unübersichtlichkeit, wie sie aus der wachsender Kollektivierung eigenen Weiträumigkeit gesellschaftlicher Zusammenhänge resultiert, eher informationell als repressiv; dass diese Eigenschaften im jeweils konkreten Staatsverhalten zumeist untrennbar verbunden sind, ist selbstverständlich. Es scheint ein solcher Rationalisierungsprozess, wie ihn das Wachsen des westlichen Staates der Moderne ausmacht, über seine historische Einzigartigkeit hinaus in der kulturgenerierenden Natur des Menschen zu liegen. Diese Anthropologie des modernen Staates liegt im hobbesianischen Dilemma begründet. Den Menschen gleichsam als ein Tier zu beschreiben, ist dabei axiomatisch. Hobbes entwirft den Gegenpol zur Utopia des Thomas Morus und dem Humanismus des Erasmus von Rotterdam.56 Doch anders als diese weiß er sich nicht Idealen, sondern Realien verpflichtet. Dass dieser sich seines animalischen Charakters bewusst werde und diesen eben durch diese Erkenntnisleistung bis zu einem gewissen Grad überwinden könne,57 ist der Fortschrittsglaube dieser Anthropologie des Staates als einer „Konfliktanthropologie“.58 Daher ist die Selbstrestriktion des erfolgreichen modernen Staates durchaus ein konservatives Korrelat zu seiner Ausdehnung. Es ist demgegenüber in der Geschichtsplanung der Fortschrittsideologien Ausdruck letzter Konsequenz, wenn schließlich der Staat selbst dem Rationalisierungsprozess zum Opfer fällt: Nicht nur Karl Marx, sondern auch bei den Freimaurern und vor allem den Illuminaten wird der Staat am Ende des Plans überflüssig.59 Auch Physiokraten wie Turgot sehen den Staat lediglich als Mittel einer „überstaatlichen, natürlichen und moralischen Gesetzlichkeit“ an. Solch „profane Säkularisierung“ vormals religiöser Aussagen bis hin zu einem religionsartigen Fortschrittsglauben erlebt die gesamte Moderne hindurch immer wieder Konjunkturen, am deutlichsten zuletzt in den 1960er Jahren.60 Diese Art einer sich als unpolitisch verstehenden politischen Religion ist in sachverständiger Beratung, aber auch in unmittelbaren Herrschaftsrechten institutionell vermachtet. 55 Bereits eine auf die theoretischen und wissenschaftshistorischen Grundlagen konzentrierte Studie wie diejenige von Poundstone 1993, 7 verzeichnet hinsichtlich des Gefangenendilemmas: „The conflict need not be between sentient beings.“ 56 Reinhard 2002, 106. 57 Das ist auch einer der zentralen Thesen von Schneiders zu Hobbes erschienener Studie, Schneider 2003; dazu Rez. Hildebrand 2004, 280. 58 Waschkuhn 1998, 207. 59 Zu den freimaurerischen Konzeption: Koselleck 1973, 72 Freimaurer; zu den Illuminaten, mit gewissen Einschränkungen hinsichtlich der Freimaurer 111 ff., v. a. 113. 60 Metzler 2002, 75.

114

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

Planung als zentrale Verhaltensform moderner Staatlichkeit ist nolens volens zugleich angewandte „Geschichtsphilosophie“.61 Da Staat jedoch voraussetzt, die Möglichkeit von Fortschritt anzunehmen und zu erstreben, also nicht zyklischen Geschichtsmodellen verhaftet zu bleiben, ist Fortschrittsskepsis stets nicht nur Staatsskepsis, sondern auch selbsterfüllendes Staatsschwinden. Staat neigt seiner Eigenart nach unweigerlich dazu, Fortschritt festschreiben zu wollen: Wird dies im Bereich der Wirtschaftspolitik noch toleriert, wenngleich bezweifelt, so stößt, erlangten Fortschritt festzuschreiben, im Bereich der Sozialstaatlichkeit auf mittlerweile fast einhellige Ablehnung im öffentlichen Diskurs. Kennzeichnend ist vor allem die ausgeprägte Sozialstaatsskepsis von ansonsten staatsgeneigter Seite.62 Es verkörpert die Macht der sozialen Idee, die wahrscheinlich weithin eine Macht der Angst ist, wenn eines der prominentesten Mittel, den Sozialstaat zurückzudrängen, darin besteht, grundsätzliche Zweifel an Staat als Lösung gesellschaftlicher Probleme und an der Vereinbarkeit von Staat und menschlicher Natur zu erheben. Die argumentative Anfälligkeit von Staat liegt dabei wohl bereits darin, dass er überfordert wird, indem er als rational prozessierende Kraft an dem der Rationalität eigenen Anspruch, Probleme nicht nur zu bewältigen, sondern auch zu lösen, gemessen wird: Bereits Carl Jakob Burckhard hat in diesem Sinne den neuzeitlichen Staat als Ausfluss der Mathematik erachtet.63 Wird der Staat jedoch mit seinen vormodernen Vorgängern verglichen, schneidet er als institutionelles System sozialer Sicherheit besser ab als etwa das mittelalterliche Armenwesen. Für den Erfolg staatlicher Rationalisierungsleistungen gilt, was Hegel für Erfolg als solchen feststellt: Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg. Doch darin liegt auch die Grenze seiner Selbstverstrickung begründet: Der Rationalisierungserfolg moderner Staatlichkeit setzt ihre Allkompetenz gleichermaßen voraus, wie er verlockt, diese Allkompetenz als „vernünftigste“ Lösung zu favorisieren und zumindest keine potentiell staatsfreien Räume gesellschaftlicher Autonomie zu tolerieren, nicht einmal Kirchen. In der Allkompetenz ist aber per definitionem unbegrenzte Staatsausdehnung enthalten. Kann auf das Dogma der Allkompetenz nun einmal nicht verzichtet werden, so bleibt als wirksamste Möglichkeit daher nur eine möglichst konsequente Begrenzung des Staates auf seine Eigenart als instrumentelles Institutionensystem der Gesellschaft, die aber selbst Prinzipal ihrer Entwicklung bleibt und den Staat auf die Rolle ihres Agenten verweist.64 Nicht zuletzt die Relativität dessen, was sich konkret als gut und was als schlecht empfinden lässt, ist selbstverständlich nicht frei von Subjektivität und 61 Auf diesen mittlerweile historisierten Zusammenhang verweist namentlich Metzler 2002, 75. Cf. Böckenförde 1972, 434. 62 Isensee 1988 § 57, 153. 63 Carl Jakob Burckhardt 1966, 227. 64 Isensee 1988, § 57, 1 und 75.

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

115

Beliebigkeit. Staatsausdehnung und Veröffentlichung anzunehmen stellt bisweilen ein diffuses Gefühl dar und beschreibt allgemeine Stimmungen, als dass es sofort sachlich konkretisierbar und rational begründbar sei: Dies gründet vermutlich in derartigen Zwängen, deren konkrete Schädlichkeit sich vielfach erst, nachdem diese Zwänge eingetreten sind, im Idealfalle niemals konkretisiert und manifestiert. Was bleibt, ist eine emotional und unbewusst oftmals stärker als bewusst und rational wahrgenommene Abhängigkeit. Die der Moderne eigentümliche Individualisierung wandelt politisches Handeln in einer Weise, die sodann wieder Voraussetzung für Repression und Konformität werden kann, dies wirkt dann gegen die ursprüngliche Freiheit des Individuums und begründet Gewähren und Vorenthalten einer sekundären Freiheit des Individuums, die durch den Staat erst ermöglicht wird. In diesem Sinne wird der totalitäre Staat als „totaler Staat“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als einziges Mittel gegen dasjenige angesehen, was der liberale Staat ermöglicht hat: „Mit der intensiven Individualisierung des Lebens [. . .] wird der isolierte Selbstbehauptungstrieb der jeweils kleinsten politischen Organismen zum wichtigsten Antrieb politischen Handelns.“ 65 Mittelalterliche Personalität und Integralität des Einzelnen differenzieren sich zu Individualität und Entfremdung.66 Jeder zusätzliche Möglichkeitsraum, der dem Individuum erschlossen wird, lässt es Unfreiheit verspüren. Je mehr Konstellationen, wie sie das Gefangenendilemma bezeichnet, überwunden werden, desto deutlicher kann das Individuum erkennen, dass sein Interesse zum Gesamtnutzen und den Interessen anderer gegensätzlich werden kann. Es entsteht dann im weniger ungünstigen Falle die spezifische Ausprägung des Gefangenendilemmas als eines „chicken game“, also einer Konstellation, in der einer der Beteiligten nachgeben muss, weil sonst alle Teilnehmer überhaupt keinen Nutzen mehr genießen. Im ungünstigen Falle stellt sich jedoch die Konstellation eines „Volunteers dilemma“ ein: Wenn sich nicht einer opfert, haben alle keinen Nutzen. Diesem Dilemma versucht die so genannte „Freikaufmentalität“ postheroischer Gesellschaften durch vorherige Anwerbung von Spezialisten für risikogeneigte Aufgaben zu entkommen, also im Militärischen von Söldnern,67 aber etwa auch von Berufsfeuerwehren und anderen professionalisierten Formen der Gefahrenabwehr.

65

Eberhart Schmitt 1986, 166. Verfehlt, weil einseitig ist daher auch die Entstehung des modernen Staates ausschließlich als Vorgang zunehmenden individuellen Bewusstseins zu erklären, wozu die Metamorphose des Begriffs status im Spätmittelalter einlädt, wie etwa bei Kern 1949, 22. Vielmehr ist es ein Auseinandertreten einer bewusstseinsmäßigen Alleinheit der Welt in Individuum und Kollektiv. Das eine ist zwar im anderen enthalten, eine Beschränkung der Sicht auf eines jedoch Halbwahrheit und damit im Sinne Goethes größte Unwahrheit. 67 Münkler 2003, 140 ff. erklärt diese Freikaufmentalität für den Bereich des Militärischen. Auf diesen Bereich ist sie indes ebenso wenig zu beschränken, wie die Profes66

116

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

Gerade weil Politik in der neuzeitlichen Welt „zum technischen Utensil der Machtbehauptung“ schrumpft68 und zunehmend ein isoliertes oder doch zumindest eigenmächtiges Feld beschreibt, das regelmäßig aber nicht ausschließlich das Feld des Staates ist, wird die Gesellschaft der Politik als Objekt verfügbar und fügbar. Mit der Neuzeit zerfällt die naturwüchsige Einheit der Gesellschaft unter der Firnis des christlichen Glaubens als eines eben nicht mehr im Wortsinne „katholischen“. Schwindet naturwüchsige Integralität, so nimmt kulturell gezüchtete Rationalität zu. Nicht von ungefähr sucht Hegel, als der moderne Staat längst zu einer neuen freilich immanenten Totalität geworden ist, im Staat diese Alleinheit wiederzugewinnen und ihn auf diese Weise zur historischen Symbiose moderner und vormoderne Kräfte zu führen.69 Staatlichkeit im Allgemeinen und der moderne Staat im Besonderen bedienen sich der Handlungsform des Verfahrens.70 Ist das Ziel dieser Handlungsform, Wahrheit nach Maßgabe vorgegebener Normen zu ermitteln, so führt es sich eigentlich selbst ad absurdum: Denn Wahrheit ist selbstevident, besteht und setzt sich ohne Zutun durch.71 Das Verfahren als Verstehen leugnet aber durch seine Existenz gerade die Selbstverständlichkeit des Erkenntniszieles und damit seine Identifizierung als Wahrheit. Verschärft wird dieses Paradoxon noch durch die für die Moderne kennzeichnende zunehmende Flexibilisierung von Recht, die der voranschreitenden funktionalen Differenzierung Rechnung trägt.72 Somit ist die Wahrheit des Verfahrens beständigem Wandel ausgesetzt, was aber dazu angetan ist, sie als solche zu diskreditieren. Vielmehr stellt das Verfahren tatsächlich den neuzeitlichen Abschied vom Glauben an die eine absolute Wahrheit dar: Der moderne Staat ist neutral und als überlegene Macht arbiträr: „Auctoritas, non veritas“.73 Eben in dieser Absage der Neuzeit an ihre Wahrheit ist der Staat diejenige Instanz, die die Wahrheit findet: Das Verfahren sucht nicht in erster Linie die Wahrheit, sondern als Koordination der Partikularinteressen ist es die Wahrheit. Wahrheit ist Koordination. Da das Verfahren im Besonderen wie moderne Staatlichkeit im Allgemeinen von der Abstraktion personaler Unabhängigkeit sionalisierung des Kriegswesens ausschließlich mit dieser Mentalität zu erklären ist, was Münkler ebenfalls erläutert. 68 Eberhart Schmitt 1986, 166. 69 Hegel 1955, §§ 256 ff. und § 270. 70 Das einschlägige Standardwerk ist nach wie vor Luhmann 1983. Das Verfahren wird als nicht selten dem Staat konfrontierter Teil der Genese des modernen Staates untersucht in dem Sammelband von Stollberg-Rilinger, Vormoderne politische Verfahren, Berlin 2001. 71 Luhmann 1983, 22. Dieses Vertrauen in die Selbsttätigkeit von Fortschritt ist tatsächlich auch proprium des Fortschrittsglaubens, wie ihn Physiokraten, carbonari und Liberale teilen, während Luhmann diesen Anspruch, mit dem sich der moderne Staat potentiell überfordert, selbstverständlich implizit ironisiert. 72 Luhmann 1983, 144 f. 73 Wie Schmitt 1938, 67 auf Hobbes zurückgreifend erläutert.

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

117

lebt, erweist es sich oftmals für alle Beteiligten, regelmäßig jedoch für den Träger Verfahrensherrschaft als Vorgang der Repression von Gefühlen, als Polarisation von Rationalität gegenüber Manifestation von Individualität.74 Weitgehende Abwesenheit von Affekten ist Maßstab seines Erfolges. Wenn sich das Verfahren als staatliche Handlungsform gleichwohl seit dem Beginn der Neuzeit immer weiter verbreitet, so dürfte dies seiner Fähigkeit zuzurechnen sein, bindende Entscheidungen zu schaffen, was nur der Staat in dieser Wirksamkeit und nur durch das Verfahren zu leisten vermag: Er schafft damit Berechenbarkeit, die wiederum für sämtliche den Fortschritt konstituierenden Leistungen Voraussetzung ist. Das Verfahren als operationale Umsetzung und konkrete Nutzung der arbiträren Potenz des Staates kann eben nur in der Form gestaltet werden, die es sich zugleich seiner Glaubwürdigkeit begeben zu lassen scheint. Jene Technisierung, die Herrschaft durch Prozeduralisierung erfährt, korreliert mit dem arbiträren Anspruch des Staates und seinem Abschied von der Wahrheitssuche.75 Es ist jedoch gerade das Regelhafte, was dem Staat seine Herrschaft über den Ausnahmezustand ermöglicht, die wiederum für ihn legitimierend und konstituierend wird.76 Indem er die Gesellschaft reguliert, wird diese dem Staat adaptiert und somit veröffentlicht. Monetarisierung, Bürokratisierung und Verrechtlichung sind dabei wiederum die ihm eigenen Instrumente. Deutlich wird, dass diese Entwicklungen ihrerseits die äußere Form der Moderne prägen, die sich in dieser maßgeblich staatsgestützten Form inhaltlich als Prozess funktionaler Differenzierung zumeist im Sinne sozialer und politischer, ideeller und materieller Pluralisierung vollziehen kann.77 Des modernen Staates letzte Konsequenz resultiert darin, unterschiedliche Rationalitäten aufeinander abzustimmen, sei es in überwachtem und formell durch Recht oder informell durch politische Kultur geregeltem Wettbewerb, sei es durch gleichermaßen geregelte Integration.78 Als letzter Ausweg aus der Überlastung des Staates, die gerade darin gründet, dass er weithin die einzig glaubwürdige Möglichkeit rationaler „Einwirkung auf die Gesellschaft“ darstellt,79 wird daher empfohlen, den Staat gleichsam zu klonen: „Parastaatliche Verfahren der Kompromissbildung und der globalen Steuerung“ solle der Staat einrichten und durchsetzen, lautet ein Postulat zeitgenössischer Politikwissenschaft.80 Staatliche Praxis, verschiedene Teilrationalitäten durch Ko74 Luhmann 1983, 39. Als Merkmal des Staates allgemein wird dies auch von Isensee 1999, 45 behandelt. 75 Schmitt, Leviathan 1938, 53. 76 Münkler 1987, 51. 77 Ob und inwieweit hierbei die totalitären Herrschaftsformen der klassischen Moderne eine Ausnahme von dieser Pluralisierung und mithin eine eigene Variante funktionaler Differenzierung bilden, wird noch zu erörtern sein. 78 Waschkuhn 1998, 303. 79 V. Neumann 1992, 437. 80 Offe 1987, 317.

118

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

ordinieren zu akzeptieren, hat dieses Postulat durch die Logik der Sachzwänge stillschweigend bereits vielfach eingelöst.81 Das Eingeständnis von Teilrationalitäten als Tatsache erfordert geradezu die Einsicht in deren Koordinierungsbedürftigkeit.82 Als Resultante rationaler Problembewältigung erweist sich Staat dabei in jedem Falle – zumindest als Form kollektiven Handelns und sei es in Gestalt diverser „Parastaaten“, letztlich aber auch als notwendige zentrale Koordinationsagentur gesellschaftlicher „Parastaaten“ in Gestalt des einen originalen Staates. Allein schon, um über ein Aufsichts- und Koordinationsorgan zu verfügen, das selbst nicht in Aufgabenabweichung verstrickt ist, entwickeln nahezu alle modernen Staaten Institute, die zumindest parlamentarische Eigenschaften aufweisen, die selbst nicht in Aufgabenabwicklung verstrickt sind.83 Während sich auf dem Kontinent das Parlament langsamer als die Justiz zu einer eigenständigen Gewalt entwickelt,84 kann es in England vielmehr eine eigene Form absoluter Herrschaft ausbilden.85 In England wird Gewaltenteilung als Gewaltenverzahnung organisiert – eine Ordnungsform, die auf dem Kontinent erst sekundär einsetzt.86 Die Integrationsfunktion des modernen Staates vollzieht sich zumeist institutionell thesauriert bzw. absorbiert durch Austausch und Interpenetration der einzelnen „Strukturkomponenten“ als gegenseitiges Auskommen einzelner Institutionen.87 Dies ist gleichsam der pragmatische Kern, auf den die klassische Lehre von der Einheit des Staates reduziert wird. Diese für westliche Staatlichkeit in der Moderne kennzeichnende Eigentümlichkeit wird eingehend durch das so genannte AGIL-Schema erklärt.88 Diese Ausdifferenzierung in verschiedene Teile hängt mit einer weiteren Entwicklung des modernen Staates zusammen: Der Staat ist besonders durch seine Verselbständigung gegenüber dem Monarchen gekennzeichnet, der zum Staats-

81

Luhmann 1983, 80. Das Problem wird allgemein bei Anter 2004, 84 und unter spezifischem Zugriff auf die Funktion von Bundesstaaten bei Sanden 2005, 483 und 670 erörtert. 83 Bereits impliziert wird dieser Gedanke u. a. bei Schmalz-Bruns 1995, 181 und Waschkuhn 1998, 303. 84 Noch im Deutschen Kaiserreich sehen Konservative wie Gerber und Laband das Parlament als dem Monarchen untergeordnet an, wenngleich sie ihm den Status eines Staatsorgans gleichwohl zuerkennen und damit jene Verfassungsform anerkennen, die fortan als „Deutscher Konstitutionalismus“ reüssiert, bis sie 1918 mit der Niederlage des Ersten Weltkrieges untergeht, Bouveret 2003, 337 u. 341; Günther 2004, 29 ff. 85 Aus der bibliographia copiosa seien angeführt: Hart 1994, 100 bis 110; Bogdanor 1997, 11. Klassisch ist Dicey 1915/1982. 86 Herzog 1971, 135. 87 Waschkuhn 1998, 397 f. 88 A = politischer Austausch, G = Bürokratie (government), I = Rechtssystem, L = Verfassungssystem, cf. Münch 1982, 214. 82

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

119

oberhaupt wird und auch funktionell in republikanisch verfassten modernen Staaten erhalten bleibt.89 Dieser Gedanke eigener Persönlichkeit des Staates, die jedoch noch immer mit ihren Einwohnern „ein organisches Ganzes bildet“ und von diesen anhängig ist, beschreibt auch den ursprünglichen Konnotat des Wortes status bzw. stato in seiner neuzeitlichen Verwendung, wie er sich als gegen die universalen und intermediären Gewalten gerichteten Kampfbegriff der italienischen Stadtrepubliken im 13. Jahrhundert herauszubilden beginnt.90 Sodann wird er als „persona intellectualis et publica“ von Bartolus de Sassoferrato91 und seinem Schüler Baldus de Ubaldis im 14. Jahrhundert gleichsam kanonisiert und wieder ein wenig weiter abstrahiert:92 „Imperator in persona mori potest: sed ipsa dignitas, seu imperium, immortalis est [. . .] et ideo quae procedunt a persona, et non a sede, personalia sunt, si a successiva voluntate dependent [. . .] Quaedam vero procedunt a sede: et ista sunt perennia et aeterna.“ Ebenso wurde festgestellt: „fiscus enim moritur.“ 93

Die allmähliche begriffliche Emanzipation des Wortes stato von seinem Etymon status spiegelt die Abstraktion der Sache wider: Der moderne Staat schließlich ist dann geradezu Abstraktion als solche. Auch die politische Ikongrafie entpersonalisiert sich ab dem ausgehenden 17. Jahrhundert und macht nicht mehr den jeweiligen Herrscher, sondern das politische System als Ganzes zu ihrem Gegenstand.94 Der Monarch wird als politische Person begriffen und die Institution der Monarchie gleichermaßen funktionalisierend wie entzaubernd allmählich in den „staatlichen Organisationsablauf“ 95 ein89 Für das Deutsche Kaiserreich: Bouveret 2003, 341, 2; diese auch in der Neuzeit sich erst allmählich entwickelnde Trennung von Staat und Staatsoberhaupt ist eines der qualifizierenden Distinkte des modernen Staates als historischem Typus, verglichen mit vor- und frühgeschichtlichen Staaten, wie etwa der ägyptischen Pharaonenherrschaft, der ein eigener Begriff für den Staat unbekannt war, Endesfelder 1991, 8; Baines 1995, 105. Im Deutschen ist der Begriff des Staates im umfassenden Sinne von res publica erst im Jahre 1677 als niederländisches Lehnwort belegt, Kluge/Mitzka 1989, 693; einen Überblick der bis zum Erscheinungsjahr 1968 zur Frage, wann der Staatsbegriffs im Deutschen einschlägig verwandt wird, veröffentlichten Forschung gibt Weinacht 1968, 19 ff. 90 Smend 1955, 367 f.; Kantorowicz 1990, 277. 91 Ulrich Meier 1994, 148 ff.; zur römisch-rechtlichen Herkunft des Begriffes: Weinacht 1968, 20. Politische Gewalt ist bei Bartolus allerdings ganz auf das beschränkt, was sich heute als Gegenteil von Politik versteht, nämlich Jurisdiktion, Luhmann 1981, 28. 92 Dohrn van Rossum 2004, 119. 93 Baldus Consilia 3, 159, Nr. 3, fol. 45 verso; Consilia 1, 271, Nr. 3 fol. 81 verso. 94 Funktion im Allgemeinen und Programm der frühneuzeitlichen Herrscherikonografie im Besonderen sind in der jüngeren Forschung eingehend untersucht worden: Sabatier 2005, 255; Schumann 2003; Goloubeva 2000; Stollberg-Rilinger 1997, 146; H. Weber 1996 und Fogel 1989. 95 So z. B. Bouveret 2003, 296 über die Stellung des Deutschen Kaisers.

120

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

gebunden. Der Monarch wird, seitdem jenes Phänomen auftritt, das traditionell als „aufgeklärter Absolutismus“ bezeichnet zu werden pflegt, versachlicht96. Dem rationalen Gesamtentwurf der Politik und der Organisation des Staates dient „die rein zweckrationale Rechtfertigung des Herrscheramts [. . .] als unterscheidendes Element“.97 Der Wandel staatlichen Verhaltens im Allgemeinen und Regierungsverhaltens im Besonderen von herrschaftlichem zu manageriellem Charakter auf der einen Seite, mit Effizienzsteigerung und Feinsteuerung auf der anderen Seite. Wo staatliche Bürokratie freilich schon gleichsam originär managerielle Formen angenommen hat, was in jeder Bürokratie per definitionem angelegt ist, stoßen entsprechende Modernisierungsprozesse auf entsprechenden Widerstand. Im Falle der von preußischer Tradition geprägten deutschen Verwaltung wird dies für jenes Politikverständnis eben als eines staatlichen kennzeichnend und tritt vor allem in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts schließlich besonders deutlich zu Tage.98 Gewaltenteilung bzw. gewaltenteiliges Staatshandeln beschreibt ein weiteres prominentes Merkmal des modernen Staates.99 Gewaltenteilung ist dabei nicht ausschließlich als Legitimitätsfortschritt anzusehen, sondern auch als sachliche Rationalisierung: Fortschreiten funktionaler Differenzierung erfordert strukturelle Differenzierung. Die Kleingruppenforschung hat gezeigt, dass expressive und instrumentelle Anforderungen, die an die einzelnen Mitglieder gestellt werden, von diesen nicht durch die gleichen Leistungen befriedigt werden können. Somit bildet sich bei zunehmender Komplizierung eine Doppelführung heraus.100 Gewaltenteilige Organisation menschlicher Assoziation stellt ein über den Staat hinausweisendes Phänomen dar. Solch selbsttätige Spontandifferenzierung ist die Konsequenz, die sich aus einer der entscheidenden Hypothesen traditioneller Demokratietheorie ergibt: Fehlen externer Kontrolle von Individuen oder einer Gruppe führe dazu, dass diese andere tyrannisiere. Fehlende Gewaltenteilung führe zur Auslöschung externer Kontrolle. Machtkonzentration in einer Hand impliziere daher die Tyrannis.101 Diese syllogistisch gewonnene Thesis 96 Vielfach wird das auf Roscher zurückgehende und ins 19. Jahrhundert datierende Modell des aufgeklärten Absolutismus heute verworfen, e. g. von Birtsch 1987, 101. Dies dürfte aber nur insoweit zutreffen, als tatsächlich sämtliche Formen des Fürstenstaates von starker Staatsausdehnung gekennzeichnet sind, nicht hingegen, was den Grad an Rationalisierung in Gestalt relativer innerer Verhaltenskonsistenz des Staates und den Grad an Zweckrationalität in Legitimation und Praxis monarchischer Herrschaft anbetrifft. 97 Sellin 1976, 103. Hier setzt aber die Kritik am gesamten Begriff des „aufgeklärten Absolutismus“ an, wie sie etwa Birtsch 1987, 11 übt. 98 Metzler 2002, 78. 99 Dass es sich hierbei weder um ein Spezifikum von Rechtsstaat noch von Demokratie, sondern um eine Konsequenz „aus der Natur des Prozesses staatlicher Willensbildung“ handelt, erklärt Kelsen 1963, 34. 100 Luhmann 1983, 228. 101 Dahl 2005, 6.

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

121

erweckt den Anschein, menschlicher Gruppendynamik sei eine Entwicklungsneigung zu Demokratie eigentümlich. Gewaltenteilung ist zwar Voraussetzung von Demokratie, aber nicht mit Demokratie identisch. Offensichtlich ist die anthropologische Ausgangssituation allgemein eher durch konkurrierende als monopolisierende Führung gekennzeichnet. Wenn Rationalisierung von Steuerung zu Herrschaftsteilung neigt, bleibt die Frage, warum in der (westlichen) Weltgeschichte so selten gewaltenteiliges Herrschen anzutreffen ist. Die Antwort, die sich auf rezente historische Forschung stützen kann, liegt darin, dass erhebliche Teile abend- und wohl auch morgenländischer Geschichte von uns Heutigen einfach falsch verstanden werden, eben weil wir jegliche Gewaltenteiligkeit im mechanistischen Sinne von Montesquieus Konzept der Gewaltenteilung verstehen und oftmals mit Demokratie gleichsetzen. Herrschaftspartizipation ist jedoch kein auf Demokratie beschränktes Mittel, um Herrschaft zu rationalisieren. Machtdistribuierende Ausgleichs- und Kontrollstrukturen wie Gewaltenteilung und Föderalismus führen zu innerstaatlichen Konkurrenzen verschiedener Rationalitäten. Die Ursache für diese Konkurrenz von Teilrationalitäten stellt sich zunächst symptomatisch als Konkurrenz historisch gewachsener Strukturen dar. Schon nahezu klassisch ist in den kontinentaleuropäischen Staaten der zum Teil auch institutionell manifeste Antagonismus von juristischem und sozialwissenschaftlichem, namentlich ökonomischem, Sachverstand. Insbesondere bei der „internen Formulierung von Deutungsmustern für Verwaltungshandeln“ tritt dieser bisweilen schleichende, bisweilen offene Konflikt seit den 1960er Jahren immer wieder zu Tage.102 Einzelne Institutionen oder auch ganze Teilsysteme werden trotz gemeinwohlförmiger oder sogar tatsächlich gemeinwohlorientierter Entscheidungsziele von jeweils gegensätzlichen Interessen besetzt oder entwickeln als ursprünglich interessefreie Institutionen eine entsprechende Eigendynamik. Funktionell geben diese unterschiedlichen Institutionen jedoch nur jene Unklarheit wieder, die darüber herrscht, was den Gesamtnutzen bzw. das Gemeinwohl eigentlich ausmacht. Gemeinwohl ist gleichsam Finalität aller Staatlichkeit und jeder Form wie jedem Zweck von Staat übergeordnet.103 Staatlich verfasste Herrschaftsorganisation ist durch das Mandat des Gemein-

102 Eindrucksvolles Dokument für das zeitweilige Ausmaß solcher Konflikte ist der viel zitierte Aufsatz von Gerhard Brinkmann 1973, der zugleich ein weiteres Beispiel für das methodische Phänomen der – nolens volens: kontaminierenden – Rückkopplung von wissenschaftlicher Deskription des Realen und postulierter Norm des Idealen darstellt. Cf. auch: Schmid/Treiber 1975, 101 ff. und Seemann 1975. Die Selbstreflektivität der Moderne lässt bereits in normative Vorgaben und handwerkliche Technik zugleich Beobachtung und Abstraktion desselben einfließen, was diese wiederum auch als Beobachtungsobjekt verändert. Dies manifestiert sich seit den 1960er Jahren etwa in der neu aufkommenden Disziplin der Verwaltungssoziologie. 103 Isensee 1988, § 57, 3.

122

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

wesens legitimiert. Das Gemeinwesen aber ist Ort und Gegenstand des Gemeinwohls.104 Verbreitet ist eine additive Definition: „Das Gemeinwohl läßt sich als eine (ordinale) Funktion darstellen, in welche die Nutzenzustände der Mitglieder eines Kollektivs als Argumente eingehen.“ 105 Diese Definition lässt sich mit dem Begriff des sowohl kollektiv wie individuell gesteigerten Gesamtnutzens, wie er dem Gefangenendilemma zugrunde liegt, kompatibilisieren.

Gemeinwohl als Grund des Staates genießt dabei eine interkulturelle Akzeptanz, wie die weite Semantik des englischen Wortes „commonwealth“ verdeutlicht, das traditionell synonym auch für Staat verwendet wird.106 Dieser englische, seit dem Mittelalter überkommene Begriff für Gemeinwohl, den common wealth, erfüllt einerseits heute auch, ja nahezu deckungsgleich den Bedeutungsgehalt dessen, was im Deutschen der im 18. Jahrhundert aufkommende Begriff des Öffentlichen beschreibt. Gleichwohl entspricht er in seiner ursprünglichen Bedeutung eher dem, was im Mittelhochdeutschen die Allmende bezeichnete.107 Allmende und der ursprüngliche Begriff des common wealth lassen sich eher als das Gemeine bezeichnen, das zwar als solches der Allgemeinheit offen ist, aber eben nicht öffentlich in dem engeren Sinne, der dem Begriff des Öffentlichen ursprünglich eignet. Gemeinwohl beschreibt also nicht ein gleiches oder gar identisches Konzept wie Öffentlichkeit: Es stellt vielmehr eine vorstaatliche Größe dar. Dazu steht der Staat in einem instrumentellen und subsidiären Verhältnis. Umso auffälliger ist, dass „Selbstbehauptung und Selbsterhaltung des Staates“ zumindest in Deutschland selbst als Staatsziel oder doch zumindest als Staatsaufgabe erachtet werden: Dies ist gleichsam das Selbsteingeständnis seines prekären Dauerzustandes.108 Auch hier ist der Vergleich mit dem englischen Begriff des commonwealth instruktiv: Da die politische und soziale Tradition insularer Abgeschiedenheit seit dem hohen Mittelalter109 bis heute ununterbrochen ist, hört der Brite in diesem Wort das andauernde Vormoderne mit. Zwar ist commonwealth mit „state“ weithin synonym, aber es bedeutet eben doch mehr.

Das Gemeinwohl erfährt dabei allein im deutschen Kulturkreis verschiedene begriffliche Konnotationen: Der vita bona des Mittelalters folgt die „Glückseligkeit“ des 18. Jahrhunderts. Gefallene Begriffe, wie sie lange vor dem Dritten 104

Isensee 1988, § 57, 7. Schefczyk 2003, 79. 106 The century dictionary 1890: „state“; Meadowcroft 1995, 29. 107 Dieser Vergleich findet sich auch bei Habermas 1965, 15, der diesen Bedeutungskreis dann aber unglücklicherweise von der Allmende als „Öffentlich zugänglichem“ gleichsetzt und von „öffentlichem Wohl“ spricht. 108 Uhle 2005, 376. 109 Als Fixdatum gilt allgemein das Jahr 1066, als der Normanne Wilhelm der Eroberer in der Schlacht bei Hastings eine politische Suprematie durchsetzen konnte. 105

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

123

Reich Friedrich Meinecke verwendet, kennzeichnen die heutige Krise der Sache: Die „physische, sittliche und geistige Gesundheit der Volksgemeinschaft“ sei das Gemeinwohl.110 Aber auch (Wirtschafts-)Wissenschaft kann nicht den einen und allgemeinen verbindlichen Begriff dessen formulieren, was Gesamtnutzen oder kollektives Interesse definiert: Bereits Adam Smith nennt Werte, die unterschiedliche Definitionen von Gesamtnutzen implizieren: „self-love“, „prudence“, „sympathie“, „generosity“ und als womöglich interpretationsoffensten Wert „public spirit“.111 Maximierung ist nicht zwingend mit Optimierung gleichzusetzen; zwar ist noch immer nicht vollkommen unumstritten, inwieweit Optimierung immer Maximierung beinhaltet112 oder ob Maximierung nur einen speziellen Fall von Optimierung darstellt.113 Aber die begriffliche Vorsicht mahnt eher, nicht stets Maximierung zu vermuten, wo Optimierung in Rede steht. Zumal im hiesigen von der Frage danach geleiteten Zusammenhang, wie sich Suboptimalität von Kollektivgütergewährleistung vermeiden lässt, ist es regelmäßig erforderlich, sich auf den weiteren Begriff der Optimierung zurückzuziehen. Dies gründet nicht nur darin, dass vergleichende Wertung durch unvollständige Informationen, tentative incompleteness, eingeschränkt oder unmöglich ist. Vielmehr können die einzelnen Modi der Kollektivgütergewährleistung als solche unvergleichbar sein, assertive incompleteness.114 Auf der operationalen Ebene stellt sich incompleteness zumeist als Problem der Evaluierbarkeit.115 Eine zunehmende Zahl von Indexierungsversuchen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vornehmlich von der skandinavischen Wissenschaft ausgegangen sind und deren Ermittlung und Weiterentwicklung schließlich selbst Gegenstand politischen, staatlichen und internationalen Handelns geworden sind, hat das Definitionsproblem bislang nicht lösen können.116 Sicher ist freilich, dass Optimierung andere Entscheidungsmaßstäbe als Maximierung beinhaltet. Mag aus dem planmäßigen Konzert zwischen parlamentarischer Opposition und parlamentspflichtiger Regierung heraus noch eine system110

Meinecke 1957, 6 f. Smith 1776//1976 und Smith 1790/1975. 112 Sen 2002, 188 u. passim. 113 Sen 2002, 182. In der Demokratietheorie wird demgegenüber bisweilen das so genannte „satisficing“-Modell favorisiert, Scharpf 1975, 18, das auch Optimierung als Ergebnis verabschiedet, aber auf Brauchbarkeit abstellt, um unter den Bedingungen von Demokratie überhaupt zu – eben brauchbaren – Entscheidungen zu kommen. Da den Gegenstand dieser Untersuchung jedoch Rationalisierung mit dem Ziel der Optimierung von Kollektivgütern darstellt, sind diese Entscheidungstheorien im hiesigen Zusammenhang nicht erheblich. 114 Sen 2002, 182. 115 Sen 2002, 384. 116 Sen 2002, 84 f. 111

124

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

konforme kompetitive Ermittlung des Gesamtnutzens angenommen werden, so wird die Unterscheidung von Entscheidungs- bzw. Verhaltensweisen zwischen regierungsstützenden Fraktionen und Regierung im modernen Parteienstaat schwierig und häufig sogar unmöglich. In dem Maße, in dem die Evolutionstheorie als Erklärung lebender System universalisiert wird und mithin die Methode wissenschaftlicher Beobachtung prägt, wird sie als inhaltliche These zunehmend umstrittener: Jüngst wird gestritten, ob es zu einer sinnvollen Aussage führe, Fortschritt als Ergebnis bzw. als Inhalt von Anpassungsoptimierung zu begreifen, „to assess progress in terms of increases in the fitness of the selected species“.117 Ist das Problem fehlender Rationalisierbarkeit von Entscheidungszielen nicht zu lösen, so bleibt Rationalität darauf beschränkt, Form von Entscheidungs- und Umsetzungsprozessen zu sein. Reine Rationalität ist fast ausschließlich jeweils eine bestimmte Zweckrationalität. 118 Rationalität wird aber gegenwärtig, bald implizit, bald explizit, als „binary representation“ definiert.119

Sache und Definition haben sich wechselwirkend herausgebildet: Der moderne Staat formalisiert und schematisiert die von ihm eingenommenen Lebens- und Gesellschaftsbereiche. Damit ermöglicht er weitere Erkenntnis, die selbst wiederum in seinen Dienst gestellt wird. Bereits frühmoderne Staatsverwaltung ist in Gestalt der Kameralistik verwissenschaftlicht. Rationalität als reines Formprinzip bleibt also blind.120 Rationalität kann immer nur „systemrelativ“ sein:121 Rationalität entsteht überhaupt erst durch Systembildung. Definiert sich Rationalität über „binary representation“, so können gleichwohl inkonsistente Entscheidungen und Handlungsmodi durchaus vernünftig sein. Entscheidungen sind von ihrem Zusammenhang, namentlich vom Umfang verfügbarer Informationen abhängig. Diese „menue-dependency“ mag einer Einladung zum Kaffee nachzukommen (b) der Alternative, einen Korb zu geben (a), vorzugswürdig sein lassen. Bietet der zum Kaffee Einladende als dritte Möglichkeit jedoch Kokain an (c), so wird für die meisten Menschen die Entscheidung anders ausfallen.122 Dagegen könnte freilich eingewandt werden, zumindest die im zweitgenannten Falle abgelehnte Alternative (b) sei in den beiden Fällen nicht dieselbe. Das würde allerdings bedeuten, dass es eine eigenständige Entscheidung gar nicht gibt, da sich eine Entscheidung dann ausschließlich über ihren Zusammenhang definierte, der aber dem Entscheidenden niemals vollständig überschaubar sein kann: Somit wäre der freie Willen des

117

Sen 2002, 489. Gary Becker 1993, 6. 119 Sen 2002, 226. 120 Für viele: Sen 2002, 47 f.; 169 und passim. Das Standardwerk zur Kameralistik ist immer noch: Maier 1986. 121 Kaufmann 2005, 106. 122 Das Beispiel wurde übernommen von Sen 2002, 169. 118

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

125

Individuums nicht erst durch die moderne Kognitionswissenschaft, sondern bereits durch eine in seinen Objekten liegende Eigenart selbst begründet. Das spezifische Rationalitätsproblem des Gefangenendilemmas besteht eigentlich in der Heterogenität von Rationalität, nämlich einer individualistischen und einer kooperativen, die, wie dargestellt, nicht mit der sowohl individuell als auch kollektiv bestmöglichen zu identifizieren ist, denn diese beiden sind im Gefangenendilemma identisch. Wenn mit den (neo-)klassischen antimarginalistischen Wirtschaftswissenschaften nur die optimale Gesamtlösung als allein rational bezeichnet wird, tritt das Problem wieder durch das Symptom fehlender Nachweisbarkeit der Rationalität des Marktes auf.123 Es ist vielmehr die fehlende zentrale Steuerung oder zumindest der fehlende Informationsaustausch der Beteiligten als die fehlende Zwangsgewalt (bei ausschlussfähigen Gütern wäre diese nicht erforderlich), die eine solche „Rationalität“ des Marktes hemmt. Daher erfolgt die Rationalisierung irrationaler (reagierender) Marktteilnehmer über die Opportunitätskosten, also gar nicht auf der eigentlichen Ebene der tatsächlich zu leistenden, der pagatorischen Kosten.124 Der Staat begründet sich also gerade durch das, was ihm als Defizit gegenüber dem Markt vorgeworfen wird: Durch die Steigerung der Opportunitätskosten. Tatsächlich sieht auch Gary Becker die Wirkung der Opportunitätskosten in einem Zwang, der auf die „irrationalen“ Marktteilnehmer ausgeübt wird.125 Freilich wohnt dem „reinen“ also dem als opportunitätskostenfrei definierten Markt tatsächlich auch eine endogene, spontane Rationalisierungswirkung inne.126 Abstrakteste und letzte Form von Modernisierung ist Mathematisierung, weil Modernisierung immer auch Rationalisierung darstellt.127 Mathematisierung ist daher, über die modernen empirischen Sozialwissenschaften gestützt, seit den 1960er Jahren zunehmend Gegenstand und Argument der Politik, Maßgabe und Richtgröße des staatlichen Handelns. Wenn Rationalität weder als Entscheidungsziel noch als Entscheidungsmodus abschließend zu definieren möglich ist, so fragt sich, worin das Spezifikum des modernen Staates zu sehen ist. Dieses dürfte im Rationalitätspostulat als solchem zu suchen sein: Moderne staatliche Herrschaft legitimiert und motiviert sich nicht mehr mit Gründen, die auf transzendenten Projektionen beruhen. Ideale tatsächlich zu vollenden kann daher weder Maßstab noch Ziel staatlichen Handelns 123

Gary Becker 1993, 169. Gary Becker 1993, 185. 125 Gary Becker 1993, 185. 126 Gary Becker 1993, 185: „Eine Gruppe irrational handelnder Einheiten würde allerdings gleichmäßiger und rationaler reagieren als es eine einzelne Einheit tun würde, und eine übertriebene Konzentration auf der Individualebene führt leicht zu einer Überschätzung des Maßes an Irrationalität auf der Marktebene.“ 127 Metzler 2002, 69 und 71; Anter 2004, 43. 124

126

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

sein. Staat ist vielmehr eine pragmatische Strategie alltäglicher Problembewältigung, die sich fast regelmäßig als Problemfraktionierung und Problemkonversion erweist. Es nimmt insofern auch nicht wunder, dass sich die beiden Totalitarismen des 20. Jahrhunderts über ein staatsloses Gesellschaftsideal definierten. Vergleichsweise früh, nämlich im 19. Jahrhundert setzt daher mit dem Aufkommen von welfare als einer spezifisch ökonomischen Kategorie in den staatlich verfassten Gesellschaften der öffentliche Diskurs über Art und Ermittlung, Definition und Exklusion dessen ein, was denn die Wohlfahrt der Bürger bzw. der Untertanen sei. Ein nicht unerheblicher Teil staatlicher Aktivität, vornehmlich der Bereich der Legislative, besteht darin, den Gesamtnutzen überhaupt zu bestimmen. Dessen Definition wird mit zunehmendem Entwicklungsstand schwieriger. Gegenwärtig lässt er sich fast nur noch im globalen Zusammenhang als Befriedigung basaler Bedürfnisse beschreiben.128 Dieses Rationalitätspostulat konkretisiert sich darin, dass alle Entscheidungen und alles Verhalten der Herrschaftsträger gemeinwohlförmig legitimiert werden müssen: Obwohl auch der absolutistische Fürstenstaat weiterhin den Monarchen als einen solchen „deo gratia“ legitimiert, ist gleichwohl jener monarchische état centralisateur zugleich auch die erste Herrschaftsinstitution, die dem Papst im Jahre 1303 die oboedientia aufkündigt und sich damit als moderner Staat konstituiert.129 Im Gegensatz zur antiken Staatlichkeit ist der moderne Staat säkular.130 Denn das Christentum stellt den Staat unter Vorbehalt. Somit ist Staatlichkeit jenseits des Christentums nur dort möglich, wo Konfession, Religion und Kirche weichen.131 Geistliche und weltliche Herrschaft, Kirche und Staat, Religion und Freisinn sind geschieden, wenn auch nicht unverbunden. Zumal im Frankreich des Ancien Régime wird in einem ganz konkret wirtschaftlichen Sinne „säkularisiert“.132 Diese Entwicklung ist nicht ohne den modernen Staat als Nationalstaat zu begreifen: Die Nation wird zum Begriff des Gesamtnutzens staatlich verfasster Gesellschaft, ihr Interesse anzurufen wird zur unantastbaren Argumentationsadresse. Der Nationalstaat wird schließlich Mittelpunkt neuzeitlicher Zivilreligion. Dort, wo die beiden prominenten Formen frühmoderner Staatlichkeit, der Machtstaat

128 Sen 2002, 14 und 84; diese werden zumeist über die „Bedürfnispyramide“ von Abram Maslow definiert. Seit Bodin und die politiques die menschliche Bedürfnishierarchie definierten, liegt freilich bereits eine solche spezifisch auf Politik und Staat zugeschnittene Definition vor, cf. Kriele 2003, 44. 129 Als Anspruch ist die Devise des „rex est imperator in regno suo“ sogar bereits im 13. Jahrhundert verbreitet, Calasso 1951; Onory 1951; Kantorowicz 1990, 115. 130 Heller 1983, 143. Differenzierter beurteilt dies Christian Meier: Zwar sieht er auch den Gegensatz zur Kirche als konstitutiv für den modernen Staat an. Was ihn aber darüber hinaus von Formen antiker Staatlichkeit unterscheide, sei gerade das Fortbestehen solcher Institutionen. Demnach wäre Religion als blinde Tatsache also auch für die Entwicklung des modernen Staates entscheidend. 131 Isensee 1999, 32 und 35. 132 Angermann 1976, 115.

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

127

und der Nationalstaat, am frühesten als Produkte der Säkularisierung bewusst werden, in Frankreich, vermögen sich diese beiden Staatskonzepte auch am radikalsten zum Postulat einer Autonomie des Staates gegenüber anderen Sollnsordnungen zusammenzuschließen.133 Da die Säkularisierung und mithin die Begrenzung auf die Immanenz Grenze seiner Wirksamkeit ist, wird der moderne Staat, auch wenn er als zweckindifferentes Rationalisierungsmittel politischer Herrschaft angelegt ist, durch totalitäre Indienstnahme an den Rand seiner Grenzen gebracht: Somit sind totalitäre Regime auch regelmäßig von einem personell bestimmten Gruppen zuzuordnenden konfliktfördernden Hiat der Ideologen einer auf Dauer gestellten Revolution und den Pragmatikern eines staatserhaltenden Strukturkonservatismus belastet.134 Doch Säkularität beschreibt nicht nur Grenze, sondern auch Voraussetzung des modernen Staates in seiner spezifischen Funktion als Gewährleister von Gemeinwohl und kollektivem Interesse. Denn erst die ™poxÞ bezüglich Übernatürlichem und nicht immanent Erklärbarem ermöglicht, ausschließlich rational zu prozessieren, ohne dies freilich zu garantieren. Das verlangt freilich nicht, dass der Staat über die Möglichkeit solcher Phänomene schweigen oder sie leugnen müsse. Es ist fast zum Gemeinplatz geworden, den Staat als Vorgang der Säkularisierung anzusehen. Da Rationalität im herkömmlichen Sinn für übernatürliche Erklärungen vermeintlich keinen Platz lässt, leisten die Glaubenskriege, die Europa im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert erschüttern, nur ein Übriges, um Religion als ordnungsstiftende Gewalt zu diskreditieren. Bei Hobbes wird folglich auch religiöser Glaube zu Meinung, Privatheit mithin wiederum um einen fortan öffentlichen, aber nicht staatlichen Bereich ergänzt.135 Der moderne Staat erweist sich als institutionalisierter Glaube an die Vernunft: Die französische Revolution verehrt sie gar als Gottheit. Was Ziel solcherart rationalisierter Daseinsbewältigung, also Staatziel ist, stellt fast ausschließlich eine Frage der Politik dar. Relative Unumstrittenheit können gegenwärtig am ehesten noch die im Schweizer Verfassungsentwurf von 1977 angeführten Ziele beanspruchen, die jedoch, um die Problematik des Staatszielbegriffs wissend, diese ausdrücklich nicht als abschließend und Kompetenzen begründend verstanden wissen will:136 Jede weitere Konkretisierung, etwa der 133

Meinecke 1922, 160. Cf. Erster Teil C. II. 2. c). 135 Habermas 1965, 104. 136 „1. Der Staat sorgt für das friedliche Zusammenleben der Menschen in einer gerechten Ordnung. 2. Er schützt die Rechte und Freiheiten der Menschen und schafft die erforderlichen Grundlagen für ihre Verwirklichung. 3. Er fördert die Mitwirkung der Bürger an den politischen Entscheidungen. 4. Er strebt eine ausgeglichene Sozial-, Eigentums- und Wirtschaftsordnung an, die der Wohlfahrt des Volkes und der Entfaltung und Sicherheit der Menschen dient. 134

128

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

Frage, welcher Personenkreis „das Volk“ konstituiert, wie sich diese Staatsziele bezüglich supra- und internationaler öffentlicher Gewalten und politischer Zusammenhänge verhalten, ist Thema der Politik. Als effizientes und effektives Organisations- und Herrschaftsmittel korrespondiert er in dieser finalen Indifferenz mit der pluralistischen Gesellschaftsverfasstheit. Aber noch nicht einmal das staatliche Gewaltmonopol als angewandte Möglichkeit zu Zwangsgewalt ist letztlich für seine instrumentelle Wirkung spezifisch, sondern vielmehr liegt in seiner konventionalen Autorität als kultureller Zusammenhang einer Gesellschaft diese Wirksamkeit begründet. Die Fortschrittsglauben voraussetzende Rationalisierung stellt sich jedoch seit der Verbreitung und voranschreitenden Generalisierung der Evolutionstheorie nicht nur Religion in Frage, sondern auch sich selbst: Den simultanen Kreationismus zu leugnen, wie ihn das Buch Genesis beschreibt, stellt nicht nur Gott in Frage. Denn die mit dieser Leugnung vorausgesetzte Spontanentstehung des Lebens garantiert Fortschritt selbsttätig. „Then the need for intentional effort on the part of insiders – human beings – may be to that extent reduced“, folgert Sen. „Furthermore, it could be argued that by trying to bring about progress deliberately, through changing the world in which we live, we would endanger the spontaneous working of evolutionary progress.“ Sen fragt zugespitzt: „Why encourage unfit genes?“ 137 Reflexivität, also Selbstbetrachtung, Introspektion und Selbstreferentialität führen als Merkmal der Moderne von Species und Individuum, von Gesellschaft und Person, von Staat und Bürger zunehmend zu Eigenwahrnehmung und Selbstverständnis genuin moderner Lebenszusammenhänge als rational, was zumal unter den Bedingungen demokratisch verfasster politischer Systeme zu entsprechender normativer Aufladung der Begriffe von Rationalität und Moderne führt.138 Das bedeutet, dass dasjenige, was eigentlich dem Normativen absagen soll, selbst Norm wird, dass dasjenige, was Denken in der Kategorie eines göttlichen Heilsplans beenden wollte, nun selbst zu einer deutlich stärkeren Planhaftigkeit, ja Verplanung von Leben führt: Modernisierungsprozesse fressen ihre eignen Kinder. Säkularisierung verrät sich letztlich als historisch einmalige Voraussetzung des spezifischen Typus von Staat, wie ihn der moderne Staat westlicher Prägung 5. 6. 7. 8.

Er schützt die Umwelt und schafft eine zweckmäßige Raumordnung. Er schützt die allgemeine Gesundheit. Er fördert Bildung und Wissenschaft, Kunst und Kultur. Er wahrt die Unabhängigkeit des Landes und setzt sich ein für friedliche und gerechte internationale Ordnung“ Art. 2 des Entwurfs der Expertenkommission für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung. 137 Sen 2002, 497. 138 Metzler 2002, 87.

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

129

kennzeichnet: Vormoderne Assoziationsformen menschlicher Gesellschaft, namentlich Häuptlingstum und Staatlichkeit führen als ein mit Rationalisierung von Produktionsmethoden konkomitantes Phänomen vielmehr zu einer „Reorganisation der Weltbilder“,139 um das durch Fortschritt verursachte neue Unwissen zu erklären, ebenso wie die für Rationalisierung erforderliche Sozialdisziplinierung zu legitimieren.140

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung: Allkompetenz und Allmacht des Staates Die Angst vor der Allmacht des Staates ist so alt wie dieser selbst: In einem Staat, der sich für allzuständig erkläre, verlören die Bewohner über kurz oder lang ihr Gefühl dafür, für sich und andere selbst verantwortlich zu sein.141 Diese Aussage der vormaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher beschreibt ein längst auch in Kontinentaleuropa weitläufig verbreitetes Staatsverständnis.142 Dass diese Allmacht möglich geworden ist, ist freilich auf die voranschreitende funktionale Differenzierung zurückzuführen: Die Moderne gewährt jedoch lediglich die Möglichkeiten, um Allmacht zu begründen,143 Die genuine Art des modernen Staates, das Gefangenendilemma zu überwinden, erfordert zwar langfristig doch Gewaltmonopolisierung. Ob solche Gewaltmonopolisierung allein hingegen tatsächlich ausreicht, um derartige Disziplinierung zu bewirken, ist fragwürdig. Die Moderne ermöglicht durch ihre spezifischen Eigenarten erst, dieses alte Dilemma der Menschheit zu überwinden. Der moderne Staat ist dabei in solchem Maß für die Moderne selbst konstitutiv und steht zu ihren übrigen Konstituentien in derartig enger Wechselwirkung und Verbindung, dass genauere Aussagen über ein einseitiges Kausalverhältnis von modernem Staat und Moderne als Epochenbegriff nicht zulässig sind. Gerade, weil Staat als Funktion zur Überwindung des Gefangenendilemmas Allmacht voraussetzt und Allkompetenz erfordert, ist nicht auszuschließen, dass frühere gesellschaftliche Institutionen zur Überwindung dieses Dilemmas ausgestorben sind. Solche sozialen Norm- und Institutionenmechanismen können auch spontan sehr viel leichter entstehen, als unter den heutigen Bedingungen staatlich verfasster und gehegter Gesellschaften gemeinhin angenommen wird.144 Der historiografisch wie sozialwissenschaftlich fassbare Rückgang von anderen Institutionen, die auf innergesellschaftlichem zwischenmenschlichen Vertrauen basieren und gegen Ende des 139 140 141 142 143 144

El Masry 2004, 328; cf. auch Bargatzky 1997, 156. Eliade 1954, 383. Thatcher 1993, 641. Geppert 2003, 71 und passim. In der Weise, wie sie Institutionenbildung allgemein begünstigt, North 1986, 231. Opp 1988, 384.

130

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

europäischen Mittelalters wie auch in vorstaatlichen Stammesgesellschaften relativ weit fortgeschritten waren, würde dann unabhängig davon, ob diese Institutionen unmittelbar vom Staat oder durch die von ihm geprägten Lebensbedingungen verdrängt wurden, wie sie namentlich Massenhaftigkeit und Anonymisierung zunehmender Lebensbereiche darstellen, erklären, warum diejenige Strategie, der im sozialwissenschaftlichen Experiment die höchste „fitness“ unter den Strategien zur Überwindung des Gefangenendilemmas nachgewiesen werden konnte, nämlich tit for tat sich nicht an Stelle des Staates durchgesetzt hat.145 Diese Kräfte der Selbstorganisation zu erhalten, wiederzubeleben oder zu wecken, ist zentrale Ursache des bereits im 18. Jahrhundert einsetzenden Entwicklungspfades, der auf eine Selbstbegrenzung des Staates gerichtet ist. Die vormoderne oder zumindest die vorstaatliche Geschichte ist vergleichsweise reich an gegenüber ihren Mitgliedern gewaltfreien Institutionen, die das Gefangenendilemma überwanden. Prominentes Beispiel ist die Hanse. Gerade der Rechtsstaat lässt der individuellen Freiheit Eigenbereiche, in denen Konstellationen des Gefangenendilemmas fast nur von den Individualinteressen selbstständig überwunden werden können. Ein prominentes Fallbeispiel der Gegenwart stellen Organspenden dar. Auch wenn eine Beziehung zwischen Bandbreite und Verständnis des Staates auf der einen Seite nicht mit der freiwilligen Bereitschaft zu Organspende zu beweisen ist, so fällt auf, dass diese in Großbritannien signifikant höher ist als in Deutschland. In beiden Fällen ist freilich nur eine Minderheit bereit, freiwillig ihre Organe in dem Falle zu spenden, dass ihr Hirntod ärztlich festgestellt wird. Eine höhere Fähigkeit zur Selbstorganisation zeigt sich hingegen dabei, einen drohenden Verkehrsstau zu vermeiden. Es ist hier wohl die ungleich höhere Wahrscheinlichkeit eines eigenen Verlustes und die hohe Zeitpräferenz des Problems, die zu freiwilliger Kooperation drängen.146 Dass sich im speziellen Fall stauvermeidenden Verkehrverhaltens aus dem Erfolg der Kooperation das Problem von neuem ergibt, ist für den Faktor der Kooperationsbereitschaft unerheblich, wenngleich auch für den hiesigen Untersuchungszusammenhang insofern instruktiv, als es zeigt, dass kollektive zentral koordinierte Problemlösung häufig durch neue Probleme vergleichbarer Art erkauft wird. Es zeigt jedoch darüber hinaus, dass sich das Defektionsproblem bei mehr als zwei Spielern in verschärfter Form stellen kann: Neben denjenigen, die sich als unbeeindruckt, oder aber auch nur als besonders anpassungsfähig und reaktionsfreudig erweisen, indem sie ihre Fahrtroute nicht ändern, gibt es auch eine Gruppe von Fahrern, die ihre Route dahingehend ändert, in einen staubedrohten Bereich gezielt hineinzufahren, von der Hoffnung getragen, es wichen dem Bereich so viele andere Spieler aus, dass sie trotz des Mehraufwandes, der in dem Umweg besteht, per saldo gewinnen. Letztere sind im eigentlichen Sinne Trittbrettfahrer. Gleichwohl führt die geschilderte Konstellation dazu, dass sich beide Verhaltensweisen als gesamtnutzenoptimierendes und mithin kooperatives Verhalten erklären las145

Axelrod 2000, 43. Weltweites elektronisches Datennetz: http://traf36.uni-duisburg.de/ (vom 31. 12. 2005). Dort findet sich auch eine erschöpfende Bibliografie. 146

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

131

sen. Tatsächlich erreichen bei n-fachem Spiel diejenigen, die unbeeindruckt ihre geplante Route fortsetzen, den besten Mittelwert. Paradoxerweise tritt diese Wirkung aber nur ein, wenn auch diese auf verlässliche Informationen zurückgreifen können, ihre Entscheidung also nicht nur zufällig, sondern spezifisch gewillkürt ist.

Anders als in der klinischen Sterilität von computergestützten Turnieren, wie sie für Axelrods Versuche kennzeichnend ist, hängt im menschlichen Leben die Fähigkeit, das Gefangenendilemma zu überwinden, von kulturellem Umfeld ab:147 Die Beispiele hierfür sind Legion und reichen von Kästen zum Zeitungsverkauf, die sich unbeaufsichtigt und ohne Münzeinwurf öffnen lassen,148 hin zum dargestellten Organspendeverhalten. Wenn die Allmacht des Staates im hiesigen Zusammenhange, freilich sogleich auf eine potentielle eingeschränkt, als Problem begriffen wird, so folgt dies einer aus der Warte des Rechtsstaates eingenommenen, gleichsam reagierenden Sicht auf den Staat, die seine Existenz bereits voraussetzt. Die Allmacht des Staates ist gleichsam der dunkle Bruder der von Jellinek als Staat definierendes Merkmal menschlicher Assoziationen beschriebenen „Allkompetenz des Staates“. Diese Eigenschaft als Problem zu begreifen, ist jedoch weder selbstverständlich noch mit ihr originär verbunden. Hobbes fordert die Allmacht des Staates, um den Naturzustand zu überwinden. Als Dogma der Allkompetenz und als Faktum potentieller Allmacht wird dieses Phänomen einerseits durch normative Vorgaben, wie sie den Verfassungsstaat kennzeichnen, andererseits durch Beschränkungen von Machbarkeit begrenzt, was unter den Bedingungen von Spät- und Postmoderne regelmäßig Gebote der Ökonomie sind.149 Die Allmacht ermöglicht dem Staat, auf „wechselnde Herausforderungen“ zu reagieren und ihnen die Gesellschaft und sich selbst anzupassen:150 Kurztaktigkeit und Innovationsbeschleunigung als durchgängige Merkmale der Moderne machen diese Allmacht erforderlicher denn je, will der Staat die partikularen Kräfte zur Kooperation veranlassen. Damit ist jedoch bereits eine entscheidende Voraussetzung dafür angelegt, dass die Gesellschaft allmählich veröffentlicht. Der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit bietet das Bild einer Gesellschaft, in der zwar staatsartig verfasste Machtorganisationen als Parteien innerhalb eines 147 Was freilich schon früh ebenfalls durch Experimente nachgewiesen wurde, indem zwei Geschwister und zwei Arbeitskolleginnen (Sekretärinnen) in eine Situation des Gefangenendilemmas gebracht wurden, Poundstone 1993, 102. 148 Während Poundstone dieses Beispiel eines „honor system“ nur polar am Beispiel der USA und Neuseelands als jeweils undenkbar bzw. selbstverständlich analysiert, ist es für den hohen kulturellen Differenzierungsgrad aufschlussreich, dass in Deutschland weitgehend eine Zwischenlösung gewählt wird (Einmaliger Münzeinwurf des geforderten Betrages öffnet den gesamten Verkaufskasten). 149 Isensee 1988, § 57, 157 benennt als begrenzende Faktoren Virtualität, also die Potentialität der Allmacht, Säkularität, staatliche Organisierbarkeit und schließlich Subsidiarität als Faktor mit dem wohl höchsten Anteil an Normativität. 150 Isensee 1999, 38.

132

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

bestimmten Territoriums bestehen und sich innerhalb dessen sogar in ihren räumlichen Ansprüchen überschneiden. Aber, auch wenn die übergeordnete Herrschaftsorganisation ebenfalls staatsartig beschaffen ist: Diese Herrschaftsorganisation bleibt als Staat wirkungslos, weil sie keine Macht hat, die auch der Summe der Parteien überlegen wäre und ihr potentielle Allmacht garantierte.151 Die potentielle Allmacht des Staates entsteht durch die Überwindung dieses Dualismus von Fürst und Ständen, von dynastischer „Eigenmacht“ auf der einen und Grundherrschaft auf der anderen Seite, indem sich Fürst und Dynastie anderen Eigentums- und Abhängigkeitsverhältnissen gegenüber Gewaltmonopole zu beanspruchen beginnen,152 was jedoch mit zunehmender Verselbstständigung und Entkoppelung dieser, eben dadurch staatlichen Gewalt von ihren Trägern erkauft wird, wie bereits Bodin 1576 feststellt.153 Noch weiter geht sein Antipode Althusius: Hochgradig normativ stellt er fest, dass dynastische Kräfte, unter denen er seiner Föderalismustheorie entsprechend ohnehin die Stände und nicht die Monarchen versteht, als Vertreter des bürgerlichen Souveräns legitimiert sieht. Inwieweit sich der Fürstenstaat sodann tatsächlich auf ein Gewaltmonopol stützen kann oder eher auf das Vertrauen anderer Gewalten und der Bevölkerung, verdeutlicht ein Machtmensch wie Richelieu: Barclays Vertragstheorie bereits aufgreifend erhebt er zum Maßstab seiner Politik, dass der Monarch dem Volk seine Freiheit zurückzugeben oder für inneren Frieden zu sorgen habe, in jedem Falle aber das Wohl des Volkes seine einzige Herrschaftslegitimation sei.154 Die Kreise um Friedrich Wilhelm IV, den „Romantiker auf dem Thron“, namentlich Karl Ludwig von Haller, vermögen sich mit dieser Verselbständigung dynastischer zu staatlicher und selbst mit derjenigen grundherrlicher zu monarchischer Macht, also zu Allmacht, noch zweihundert Jahre später emotional nicht zu arrangieren:155 Johann Gustav Droysen beschreibt somit die Eigenart der preußischen Monarchie als „Doppelnatur“, die schwanke, ob sie „Staat“ oder „Macht“ sein solle.156 Einer der Göttinger Sieben, Johann Christoph Dahlmann, behauptet demgegenüber bereits schon, dass der Staat „nicht bloß etwas Gemeinsames unter den Menschen, nicht bloß etwas Unabhängiges“, sondern „zugleich etwas Zusammengewachsenes, eine leiblich und geistig geeinigte Persönlichkeit“ ist:157 Was die Regierung noch nicht recht (an) erkennt, die Eigenpersönlichkeit des Staates, wird von ihren Opponenten bereits als historisches Kulturgut apostro151

Heller 1983, 7; 145. Heller 1983, 145. 153 Bodin, Six livres sur la république 1, 8; cf. auch Carl Schmitt 1963, 10. 154 Dass Richelieu unmittelbare Passagen aus Barclays Werk „Argenis“ übernahm, weist Koselleck 1973, 14 u. 159 nach. Barclays Formel monarchischer Herrschaftslegitimation lautet: „Aut illos in libertatem restitue, aut domesticam praesta quietem, propter quam libertatem reliquerunt“, Joannis Barclaii Argenis, Editio V, Frankfurt 1626, 245. 155 Meinecke 1922, 229. 156 Droysen 1845, 274; Meinecke 1922, 364. 157 Dahlmann 1997, Nr. 6. 152

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

133

phiert. Mag diese Dialektik der Erkenntnis mehr in der zeitgenössischen ordnungspolitischen Diskussion gründen, so birgt sie Antworten, die weder die heutige ökonomische Theorie von der Besteuerungsfähigkeit noch die juristische Staatslehre vom Gewaltmonopol zu geben vermag: Staat als Herrschaftszusammenhang, der arbiträr die Individuen zum kollektiven Besten zu bewegen vermag, ist maßgeblich ein Kulturprodukt, das als solches wiederum historisches Phänomen ist. Die Einstellung Friedrich-Wilhelms IV. gründet nicht zuletzt darin, dass die dynastische Dimension aufgrund der weitläufigen Verwandtschaft des europäischen Adels im Gegensatz zum Staat, der künftighin nur noch Nationalstaat sein kann, eine supra- bzw. internationale Ebene mit transnationalen Chancen für die monarchische Politik offen hält.158 Auch Krieg steht somit immer unter dem konziliatorischen Vorbehalt monarchischer Weltbürgerlichkeit und nicht der völkertrennenden Totalität bürgerlichen Nationalismus.159 Es ist gerade das Gottesgnadentum, was das Konzept der Allkompetenz hegt und zähmt. Nicht nur die Nation ist in Deutschland eine „verspätete“. Auch der Weg zur Verinnerlichung der Idee des Staates ist lang. In einzelnen Territorialstaaten, namentlich in Bayern, erfolgt die Brechung des Ständestaates durch monarchische Gewaltmonopolisierung teilweise bewusst, um „eine weitere Steigerung staatlicher Leistungsfähigkeit“ zu ermöglichen, weshalb die Stände hier eher „eingestaatet“ als tatsächlich entmachtet werden.160 Nicht zuletzt unter den Bedingungen postmoderner Gesellschaften fragt sich indes, ob die Allmacht des Staates nicht geradezu davon lebt, dass ihr Potential niemals vollständig und gleichzeitig aktualisiert wird. Staat scheint mehr denn je eine soziale Funktionsweise darzustellen, die als Gegenwart des Uneigentlichen, gleichsam als Abwesenheit des Allgegenwärtigen wirkt. Dies zu bedenken, formuliert zugleich das Gesetz jeder wirkungsvollen Politik. Diese Allgegenwart allein ermöglicht zu hemmen, dass das, was als Gefangenendilemma überwunden wird, als Trittbrettfahrerproblem wieder auftritt: Individuelle Defektion. Nachdem 1688 durch die Glorious Revolution der Versuch der Stuarts endgültig beendet ist, eine absolutistische Monarchie zu errichten, führt es in England, wo das Prinzip der Allmacht des Souveräns durch Hobbes maßgeblich miterschaffen worden ist, dazu, die Allmacht als Allkompetenz auch innerhalb der öffentlichen Sphäre, die mit dem kontinentaleuropäischen Staat ohnehin nicht ohne Weiteres gleichzusetzen ist, institutionell weiter zu monopolisieren: Der englische Parlamentsabsolutismus entsteht, der in der Bill of rights vom Jahre

158 Schieder 1952, 166. Zu dynastischer Legitimation als Phänomen von Gedächtniskultur, cf. Walz 2005, 107. 159 Hoppe 2003, 105. 160 Weis 1988, 224 ff.; Rauh 1988; Demel, 1993, 1 f. und 285.

134

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

1689 als erstem herausragenden konstitutionellen Dokument nach der magna charta libertatum sogar weitgehend kodifiziert wird.161 Diese Entwicklung ließ den Begriff des Staates als Kategorie politischer Debatte zugunsten der Figur einer „crown in parliament“ zurückstehen.162 Wenn es denn eine Allmacht des Staates in England je gegeben hat, so ist sie grundsätzlich bis in die Gegenwart hinein eine Allmacht des Parlamentes.163 Diese ist auch nicht durch eine verfassungsgerichtliche Normenkontrolle eingeschränkt. Staat beschreibt ein institutionelles Systemkonzept, keine Bedingung oder einen originären Wert, womit nicht geleugnet werden soll, dass Staat sekundär als Garant von Werten selbst Wert sein kann. Staat ist somit „Manifestationsform“ und „Symbolnetz von Handlungsregelmäßigkeiten oder Handlungsgewohnheiten, die im öffentliche Gebrauch [. . .], soziohistorsich entstanden und auf relative Dauer angelegt sind“:164 Staat ist folglich auch ein Vorgang der Kommunikation und als solcher Information. Und schließlich ist Staat ungeachtet seines historisch überwiegend befehlsförmigen Prozessmodus auch institutionalisierter Diskurs. In auch von Politikwissenschaftlern ausdrücklich anerkannter Präzision hat diese Eigenschaften ungleich anschaulicher und prosaischer, als es Wissenschaft vermag, Thomas Mann in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen veranschaulicht. Den Staat beschreibt der Schriftsteller als versehen „mit einem militärischakademischen Titelgemisch, das seine Macht und Regelmäßigkeit auszudrücken geeignet war, als General Doktor von Staat.“ Als institutionelles Systemkonzept und institutionell programmierter Kontext beschreibt Staat zwar auch strukturell geronnene Gewalt, aber darauf lässt er sich im Besonderen genauso wenig wie Institutionen im Allgemeinen beschränken.165 Da Institutionen der Bedürfniserfüllung dienen und über ihren spezifischen, im weitesten Sinnen rationalisierten Prozessmodus hinaus Folgebedürfnisse erzeugen, die sodann Sekundärinstitutionen hervorrufen,166 erklärt sich über den institutionellen Charakter von Staat auch, warum Staatsausdehnung kaum zu hemmen ist. „First the state is associated with governance and political community. [. . .] Second, the state is an ,institutional‘ concept. It is not a condition or a property – like ,justice‘, ,liberty‘ or ,equality‘; nor does it identify a current or pattern of thought like ,Liberalism‘ [. . .]. Rather it denotes some type of established structure, or practice, or relation. [. . .] Third the state is usually linked with a defined territory and a settled 161 162 163 164 165 166

Loewenstein 1922, 62 ff.; Dicey 1915, 37 f. und 42–48. Meadowcroft 1995, 14. Schieren 2001, 67; Ruge 2004, 267 ff. Waschkuhn 1998, 332. Waschkuhn 1998, 336. Schelsky 1973b, 19.

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

135

population; the organization of government and the administration of law; the deployment of coercive power [. . .] Fourth, the concept gets much of its value for the varied and complex way in which it may relate ,society and governance‘“.167

Gründet die Funktion von Staat auch auf Zwang, so erfassen Begriff und Sache des Zwangs jedoch nicht mehr hinreichend, was heute als Voraussetzung und Bedingung erkannt wird, um Einzelpersonen in denjenigen Organisationszusammenhang einzuordnen, der Staat konstituiert. Zwar wird in den Staatsrechtslehren der meisten modernen Staaten Zwang noch immer als Kriterium der Unterscheidung ausschließlicher von konkurrierenden Staatsaufgaben verwendet,168 zumeist wird aber sogleich auch auf die Relativität dieser Unterscheidung hingewiesen: Vor allem die bereits erwähnte Gefahrenabwehr durch Private, aber etwa auch die Beteiligung staatlicher Regelschulen bzw. von Schulbehörden und Meldeämtern an der Umsetzung der Schulpflicht, die im Zweifel durch die Polizei allein nur physisch ebenso wie die Finanzverwaltungen vollstreckt, aber nicht selbstständig organisiert werden kann, demonstrieren einerseits, welche Ausmaße die Verschränkung von Staat und Gesellschaft aufweist, zeigen aber andererseits auch die Weitläufigkeit innerstaatlicher Zusammenhänge von Zwangshandlungen. Es ist eher der weitere Sinn von Sozialdisziplinierung als Zwang, die dieses Verhalten zu erklären vermag.169 In diesem Begriff ist zwar immer auch das Moment des Zwanges enthalten, aber darin erschöpft er sich nicht. Bezeichnenderweise war diese sozialdisziplinatorische Eigenart staatlicher Gewalt englischem Staatsdenken schon früh bewusst.170 In all dem entfaltet sich der instrumentelle Charakter den Staat für Gesellschaft und Politik, auch wenn seine Eigenmacht regelmäßig solche Ausmaße annimmt, dass sie namentlich die Politik zu ihrem Agenten werden lässt. In praxi auch nur wenig Definitionskraft besitzt die Definition von Zwang als „intentionale Erhöhung der Kosten von Handlungsoptionen anderer.“ 171 Mit zunehmender Freiheitlichkeit einer Gesellschaft wird einerseits diese Intention, solche Kosten zu erhöhen, immer rechtfertigungsbedürftiger und verliert an Legitimität. Andererseits sinkt jedoch nicht das Bedürfnis von Menschen, Zwang auszuüben, und die spezifische Leistungsmotivation, die daraus erwachsen kann, wenn dieses Bedürfnis befriedigt werden kann, lässt nicht proportional zur zunehmenden Freiheitlichkeit nach. Daher sind die Grenzen intentionaler und nichtintendierter Behinderung anderer faktisch fließend. Mehr noch: Es ist für die 167

Meadowcroft 1995, 8. Isensee 1988, § 57, 150. 169 Zum Begriff vgl. Oestreich 1969, 187 ff.; zu Oestreichs Begriffsbildung selbst: Winfried Schulze 1989, 265–302. 170 Bosanquet 1899, 140. 171 Schefzcyk 2003, 111. 168

136

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

Moderne geradezu kennzeichnend geworden, Macht zu begründen, indem sie bestritten wird.172

I. Staat als Mittel obrigkeitlicher Repression Der Begriff der Obrigkeit ist vor allem durch seine diametrale Stellung zum Begriff des „Publikums“ zu identifizieren. Obwohl dem adressierten Anspruch nach gegenüber allen Untertanen in einem Direktionsverhältnis, steht sie doch faktisch mit dem gebildeten Bürgertum in einem antagonistischen Verhältnis, das neben Klerus und Adel als einzige gesellschaftliche Kraft auch überhaupt nur in der Lage ist, die Bekanntmachungen der öffentlichen Gewalt zu registrieren.173 Das Profil der Obrigkeit schärft sich, indem ihr als öffentlicher Gewalt gegenüber eine bürgerliche Öffentlichkeit entsteht. Habermas zufolge setzt dies freilich voraus, dass die Untertanen im öffentlichen Interesse ihr eigenes erblicken,174 ihnen also, spieltheoretisch formuliert, der Wert der Kollektivgüter bewusst wird, so dass sie zur Kooperation fähig werden: Das ist mehr als bloßer Gehorsam gegenüber der Obrigkeit, die sich bislang als ausschließlicher Anwalt der öffentlichen Güter definiert und geriert hat – ob aus legitimatorischen oder sachlichen Gründen bleibe dahingestellt, zumal dieser Unterschied ohnehin kaum zu trennen ist.175 Folglich wäre der Obrigkeitsstaat wenn nicht als Defensivinstitut, so zumindest als Reaktans zu begreifen. Als ein solches stellt sich Obrigkeit auch vor dem Hintergrund der Territorialisierung dar. Zusammen mit der Ablösung räumlich begrenzter Subsistenzwirtschaft, wie sie vormodernen Rentenkapitalismus kennzeichnet, durch die sich bis zur Globalisierung ausdehnende Marktwirtschaft des modernen Investitionskapitalismus bewirkt, ja „nötigt“ die Territorialisierung zu obrigkeitlicher Verwaltung.176 Das Gemeinwohl ist in der frühmodernen, vor allem jedoch in der modernen Gesellschaft häufig derart abstrakt und entpartikularisiert, dass es sich vielfach nur im obrigkeitlichen Steuerungsmodus umsetzen lässt. Wenn sich kein Partikularinteresse wieder erkennen kann, stellt sich die Frage nach dem Zwang zum Glück. Insofern beschreibt der paternalistische Grundsatz absolutistischer Herrschaft, wonach die Untertanen nicht wissen können, was ihrem Wohl dient, mehr als nur eine antiquierte Herrschaftsmethode, sondern vielmehr ein Problem, das sich mit zunehmender Differenzierung und vielgradiger Abgeleitetheit staatlicher Aufgaben gegenüber gesellschaftlichen Interessen verschärft.

172 173 174 175 176

Brodocz 2005, 23 ff. Habermas 1965, 33. Habermas 1965, 34 und 157. Cf. das bereits zu Augustus Festgestellte. Habermas 1965, 157.

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

137

Da tatsächlich kein Staat allein auf Gewalt gegründet werden kann, sondern auch Autorität genießen muss,177 ist Staatlichkeit stets auf Inszenierung ihres Handelns und symbolische Repräsentanz ihrer Existenz angewiesen. Obrigkeit als autoritäre und heteronome Form staatlicher Herrschaft über das Volk begründet namentlich in Deutschland eine Tradition, deren Produkt die hochgradig staatsförmige Gesellschaft einer von Befehl und Gehorsam geprägten Kultur ist. Der Rückzug des Subjektiven und Individuellen ins Private charakterisiert jene Tradition, die ausgerechnet die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts zu nutzen verstehen. Zumindest herrschaftsökonomisch ist der Obrigkeitsstaat äußerst effizient. Ob und inwieweit er auch Kollektivgüter am ökonomischsten bereitstellt, ist nicht zuletzt situationsabhängig. Doch wenn er sich zur „route to serfdom“ (von Hayek) entwickelt, stellt er diese Fähigkeiten selbst in Frage. Jenes Vertrauen in den Staat hingegen, das sich in Gestalt einer „vertrauensvollen Öffnung in weltanschaulichen und politischen Fragen“ manifestiert, wird bereits im Entstehen unterbunden. Dies führt zu „mangelnder Ambiguitätstoleranz“ und lässt Konflikt als existentielles Institut politischer Kultur demokratischer und pluraler Gesellschaften den Bürgern fremd bleiben, die ebenso in deren wie in eigenem Selbstverständnis lediglich Herrschaftsobjekte von obrigkeitlicher Regierung sind.178 Ein noch in der Gegenwart verbliebenes Rudiment des Obrigkeitsstaates als vorrechtsstaatlicher Herrschaftsordnung stellt in einer auf das Prozedurale fixierten Formalität betrachtet der Streit darüber dar, ob auch der parlamentarische Rechtsstaat noch den so genannten „justizfreien Hoheitsakt“ zulasse. Unter den Bedingungen einer demokratisch gewählten und dem Parlament verantwortlichen Regierung erweist sich just dieses vorrechtsstaatliche und ehedem vordemokratische Institut als Hüter der Demokratie gegenüber Hütern der Verfassung, die (potentiell) demokratisch legitimierte Entscheidungen annullieren. Aber auch gegenüber der regulären Justiz und sogar gegenüber der „öffentlichen Meinung“ als (potentiellem) Manipulierungsinstitut erweist sich justizfreies Handeln von Regierung und Parlament als rocher de bronze der Demokratie. Beispielsweise wird der Regierung Kohl, ihrer parlamentarischen Mehrheit und dem damaligen Bundespräsidenten Verfassungsbruch, gar Staatsstreich vorgeworfen, als sie 1982 den Weg zu vorgezogenen Neuwahlen, also einer vorzeitigen Ermächtigung des Volkes freimacht. Der Wiederholungsfall im Jahre 2005 gestaltet sich aufgrund dieser Erfahrung von vornherein entsprechend justizförmig.179 Bereits die Begründung des Bundespräsidenten, den Bundestag aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen, zitiert in weiten Teilen das verfassungsrechtliche Judikat zur Auflösung, die im Jahre 1983 stattfand. Umgekehrt ist das Judikat von 2005 teilweise prosaisch verfasst. Es sind just zwei Verfassungsrichter, die in ihrer dissenting vote darauf abstellen, ein 177 178 179

de Jouvenel 1957, 31 ff. Waschkuhn 1998, 413. Reimer 2005, 680–683.

138

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

solches Vorgehen schwäche die Stellung des Parlamentes und bedrohe das freie Mandat der Abgeordneten.180 Indes ist der Vorbehalt des Bundespräsidenten, das Parlament aufzulösen und die verfassungsrechtliche Verklagbarkeit seiner Entscheidung wiederum an und für sich Ausweis einer Schwäche der Demokratie: Denn weder Parlament noch Regierung als demokratische gewählte Staatsgewalten können diesen Schritt vollziehen.181

In England hingegen beschreibt die Justizfreiheit von Hoheitsakten das herausragende Kennzeichen nicht nur der Demokratie, sondern vor allem des Parlaments. Gerade dessen absolute Herrschaft, die als Herrschaft des „parliament of the day“ noch nicht einmal an sich selbst gebunden ist, ermöglicht freilich de facto in weitaus höherem Maße als in gewaltenteiligen Rechtsstaaten parlamentsfreie Hoheitsakte, ohne dass diese jemals parlamentsunabhängig würden. Dies lässt zuweilen den Vorwurf einer „elective dictatorship“ aufkommen.182 Als modus operandi staatlichen Handelns vereint diese Herrschaftsform zweifelsohne die Vorteile demokratischer Legitimation mit denjenigen obrigkeitlicher, so gut dies bislang möglich ist. Insofern zeugt es von einem grundlegenden Missverständnis, wenn der Sache nach zweifelsohne höchst fragwürdige Inhalte, wie etwa das faktische Außerkraftsetzen der „habeas-corpus“-Akte für Terrorismusverdächtige, als illegitim kritisiert werden183 oder umgekehrt auf die englische Entrüstung über Urteile des Europäischen Gerichtshofes mit Unverständnis reagiert wird. In einer Demokratie ohne obrigkeitsstaatliche Vergangenheit, die wie in den USA gleichwohl als präsidiale verfasst ist, ist wiederum Regierungshandeln als solches gleichermaßen gesetzlich legitimiert und limitiert wie jedoch justizförmig. Ihrem Entstehen und ihrer Eigenart nach nicht rechtsstaatliches Regierungshandeln ist gleichsam als Ironie konstitutioneller Konsequenz durch Urteil des Supreme Court nunmehr in Teilen bestätigt worden.184 Dass sich die (macht-)politisch gleichen Phänomene der Eigenmacht, aus der heraus demokratisch gewählte Exekutive politisch handelt, in den einzelnen Staaten hier als obrigkeitsstaatliche Rudimente und dort als originär demokratische Funktionen erweisen, ist als Zeugnis historischer Individualität im Falle Deutschlands auch Zeichen von Parlamentarismus und Demokratie als sekundären, heteronom erworbenen Staatsformeigenschaften. Genauso wenig, wie das Fortleben obrigkeitlicher Staatstätigkeit zu leugnen ist, sondern diese vermutlich dem „kooperativen 180 BVerfG, 2 BvE vom 25.8.2005, Abs. 187 ff., weltweites elektronisches Datennetz: www.bverfg.de/entscheidungen/es20050825 2bve000405.html (vom 8. August 2006). 181 Cf. Maus 1994, 146. 182 Der Begriff geht auf den konservativen Politiker Lord Hailsham zurück, der ihn im Jahre 1976 geprägt hat, Geppert 2004, 100; Schieren 2001, 289, cf. den Exkurs, der sich im Ersten Teil Kapitel C. I. 3. anschließt. 183 Cf. etwa: Die Zeit vom 13. Mai 2004, S. 5 ff. 184 Supreme Court, Hamdi vs. Rumsfeld, weltweites elektronisches Datennetz: http:// a257.g.akamaitech.net/7/257/2422/28june20041215/www.supremecourtus.gov/opinions/ 03pdf/03-6696.pdf. (vom 16. November 2005).

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

139

Staat“ des 21. Jahrhunderts erst jene Autorität verleiht, die ihm ermöglicht, dem Bürger als Partner oder arbiträrer Dritter gegenüberzutreten,185 lässt sich für jene Epoche, die gemeinhin als Inbegriff obrigkeitlicher Repression durch den Staat erachtet wird, das Zeitalter des so genannten Absolutismus, ein entsprechender europäischer Normaltypus behaupten.186 Die Obrigkeit zeichnet sich in ihrem spezifischen Handeln gegenüber der bürgerlichen Öffentlichkeit durch ein überaus modernes Verhaltensmerkmal aus, die Gleichheit. Somit unterdrückt sie die öffentliche Meinung, indem sie deren Institut und Instrumente, also die politische Presse, als Gewerbe wie jedes andere bewertet. Damit ist die politische Presse und mit ihr die öffentliche Meinung dem gesamten Reigen autoritärer Herrschaftsmittel ausgeliefert.187 Namentlich als Polizeistaat vermag sich Obrigkeit nun behaupten. Somit wird auch in der ersten Quelle, die das Wort „stato“ in einem systematischen und wissenschaftlichen Sinne gebraucht, in Machiavellis im Jahre 1513 geschriebenen „il Principe“ stato als rationaler Herrschaftsapparat des Fürsten definiert.188 1. Der Territorialstaat: Territorialität als Konstituens des modernen Staates Mit dem Begriff des Staates wird zunächst die politische Organisation eines bestimmten Territoriums bezeichnet.189 Beruht die Entstehung des modernen Staates also nicht zuletzt darauf, dass sich Lehnsherren zu Landesherren entwickeln, so erweist sich dieser Prozess in den einzelnen Herrschaftsräumen freilich als äußerst vielgestaltig. Im einen Fall entsteht Staatlichkeit durch Zugeständnisse des obersten Monarchen, im anderen Fall bilden gerade Zentralisierung und Stratifikation des obersten Monarchen die entscheidenden Ursachen entstehender Staatlichkeit.190 Zentralisierung geht mit fortschreitender sozialer wie territorialer Ausdehnung von Staatlichkeit einher. Ob dieser Vorgang nun libertär als Enteignungsvorgang, marxistisch als Ausbeutungsprozess oder einfach als Moderni185

Sturm 2004, 394; Prätorius 2000, 70. Gallus/Jesse 2004, 9. 187 Habermas 1965, 201 f. 188 Machiavelli Il principe: „Tutti gli stati [. . .] sono on repubbliche o principati.“ 189 Weinacht 1968, 128 ff. Ritter 1991, 1. 190 Im mittelalterlichen Reich stellt das statutum in favorem principum Friedrichs II. aus dem Jahre 1232 die erste Kodifikation dieser Entwicklung dar, die als Grundlage der Landesherrschaft unbestritten ist. In England ließen sich die barons im Jahre 1215 ihre faktisch bereits weitgehend existierenden Rechte in Form eines Weistums vom König zertifizieren, das sprichwörtlich geworden ist: Der magna Charta libertatum. Das territoriale Moment dieses Vorganges wird auch im Beinamen des entsprechenden Monarchen deutlich: John lack land. In Frankreich hingegen ist das Entstehen von Staatlichkeit untrennbar mit dem allmählichen Aufstieg des Königshauses gegenüber den duces verbunden. 186

140

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

sierung erachtet wird:191 Ursache ist in jedem Fall die Rationalisierungssteigerung, die in der Monopolisierung von Gewalt liegt, wobei Monopolisierung nicht zwingend vollständig deckungsgleich mit Zentralisierung ist, so bleiben Formen wie Delegierung, Abtretung aber auch die Beauftragung von Partikulargewalten, die zwar die Arbitrarität des Staates stören, aber die entsprechende Partikulargewalt verstärken als Alternative. Diese Zentralisierung führt zur scheinbaren Paradoxie von Omnipräsenz und Omniabsenz des sich als absolut definierenden Herrschers: Einerseits darf es außer seinem Staat nirgendwo eine andere Gewalt geben. Andererseits ist gerade damit die bislang legitime Regulierung örtlicher Konflikte durch örtliche Gewalten zugunsten zentraler Steuerung in Frage gestellt. Das Dilemma wird nicht zuletzt durch symbolische Repräsentation zu bewältigen versucht: Die Gegenwart des Monarchen ist nicht mehr eine körperliche und mithin personale Tatsache, sondern eine symbolische und chiffrierte Denkfigur, deren Realpräsenz behauptet wird. Diese „Transsubstantiation“ des Herrschers nimmt bereits im Mittelalter ihren Ausgang mit einem Institut wie dem Gesslerhut. Dessen Missachtung führt zum – von Schiller bekanntlich literarisch veredelten – Gründungsmythos der Schweizer Eidgenossenschaft. Und wenn durch ein um 1700 von Hyacinthe Rigaud gefertigtes Porträt Ludwigs XIV. bei dessen Abwesenheit die höfische Ordnung aufrechterhalten werden soll, so ist die Übereinstimmung mit der bereits vorgestellten Institutionalisierung der „praesentia principis“ schlagend.192 Da ein traditionalistischer Bezugspunkt nicht zu erkennen ist, zeigt sich einmal mehr die zeitenthobene Strukturalität von Staatlichkeit: Zentralisierungsversuche von Gewalt führen zu nahezu gleichen Symptomen. In der Territorialisierung liegt auch die Intensität „staatlicher Betriebsamkeit“ als erstem Schub von Staatsausdehnung begründet.193 In den einen Fällen folgt der Staat der Nation, in anderen die Nation dem Staat.194 Der älteren Forschung, die eher ein „Folgen als ein selbsttätiges Drängen“ des Machtstaates gegenüber der Nation diagnostizierte, lässt sich mittlerweile eher die Vermutung einer gegenseitigen Wechselwirkung entgegenhalten.195 In jedem Falle wandelt sich aber der mittelalterliche, sippen- und stammesgebundene, überwiegend akephale Personenverband unter der Prägung durch den nunmehr territorial organisierten zentralisierenden Staat zur verfassten und abgegrenzten Nation. Territorialisierung als gouvernementale Penetration des Herrschaftsgebietes definiert sich im früh191 Libertäre Erklärung: Hoppe 2003, 80 und 111, der diesen Prozess der Zentralisierung daher auch tatsächlich umkehren will: ebd. 168. 192 Freist 2005, 18; zur praesentia principis cf. Prolog II. 1. b). 193 Kern 1949, 62. 194 Während die dütsche Zung, lingua Tedesaca, und zumindest begrifflich auch die natio Germanica bei Entstehen der Landesherrschaft als existente soziale Einheit anzutreffen sind, gilt für Frankreich schon früh die Devise: „C’est l’état, qui fait la nation.“ 195 Meinecke 1922, 8.

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

141

modernen europäischen Staat vornehmlich als Ablösung intermediärer, ständischer Gewalten durch die moderne Einheit des Staates,196 die in jener Zeit daher oftmals zum zentralistischen Einheitsstaat wird, fast immer zumindest diesen Anspruch erhebt.197 Als ein solcher ist er freilich historisch ein Reagenz fortschreitender funktionaler Differenzierung198 und mittlerweile weltweit als Konstituens moderner Staatlichkeit anerkannt.199 Selbstverständlich ist Luhmanns Theorie stratifikatorischer und funktional differenzierter Gesellschaft für eine mikrologische Detailuntersuchung einzelner Untersuchungsgegenstände, die in die frühe Neuzeit datieren, zu „grobschlächtig“, aber für die hiesige makrologische Betrachtung der Neuzeit, die nicht beansprucht, eine geschichtswissenschaftliche Detailstudie im konventionellen Sinne, sondern politologische Analyse und epochenübergreifende Geschichtswissenschaft darzustellen, insgesamt ein hinreichendes und anerkanntes heuristisches Instrument, den werdenden Territorialstaat zu begreifen.200 Freilich verdeutlicht diese Entwicklung zu schildern ein terminologisches Gebrechen: Die Entstehung des modernen Territorialstaates ist gerade durch die Tatsache gekennzeichnet, dass Herrschaft geografisch definierbar wird. Demgegenüber gehen lebenswissenschaftliche, also vornehmlich biologische, vereinzelt aber auch sozialwissenschaftliche Territorialitätskonzepte davon aus, dass neben geografischen in anderen teilweise nicht physikalischen Formen auch abstrakte Merkmalsräume Territorialität bilden. Der Terminus der ökologischen Nische erlebt in diesem Zusammenhang seit längerem Konjunktur. Was Territorialisierung bedeutet, lässt sich noch heute e contrario in England studieren, wo staatliche Gewalt weithin als personenverbandliche organisiert ist: Dort gibt es weder eine zentrale noch eine föderale Einheitspolizei, sondern verschiedenste „authorities“ nehmen polizeiliche Aufgaben wahr, die aber grundsätzlich im gesamten Königreich zu polizeilichem Handeln ermächtigt sind. a) Die Einheit des territorialen Staates Diese Einheit des Staates ist freilich durch eine Paradoxie seiner Entwicklung als Modernisierungsvorgang bedroht: Der maßgeblich auf seiner Einheit und ver196

Grandner/Komlosy 2004, 16; Reinhard 2002, 51. Zum Problem des Zentralismus als eines möglichen Kennzeichens aller modernen Staatlichkeit: Zweiter Teil. 198 Anter 2004, 86. Wie weit dieser Weg indes war und wie wenig programmiert und agierend, sondern eben improvisiert und reagierend, zeigt Reinhard 2002, 197. 199 Für die englische Staatstheorie ist Herbert Spencer zu nennen. 200 Blänkner 2005, 80 und Schimanck 2001, 274–278. Nicht zulezt ein zeitenthobener und irreduzibler Kernbestand von Staatlichkeit, der für den modernen Staat okzidentalen Typus als kennzeichnend erachtet wird, verhindert, sich ausschließlich historisch diesem Phänomen nähern zu können, Voigt 2007, 280. 197

142

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

einheitlichenden Wirkung beruhende Erfolg des Staates beschleunigt seine funktionale Differenzierung. Die Gefahr, dass „eine Menge kleiner Republiken“ entsteht, sieht bereits der Reichsfreiherr vom Stein und entwickelt daher das Konzept der staatlichen Aufsicht, um staatliche Rechte, vor allem das Polizeirecht201 zu sichern.202 Tatsächlich überdauert die „Einheit des Staates“ zumindest das gesamte 19. Jahrhundert und wird Grundlage auch des neuen deutschen Nationalstaates von 1871.203 In Verbindung mit seiner territorialen Dimension führt dies zu einer zentrifugalen Entwicklungstendenz der kommunalen Selbstverwaltung, die in Deutschland während der Weimarer Republik zum Ende der örtlichen Verwaltungseinheit führt.204 Das Problem der durch zunehmende funktionale Differenzierung gefährdeten Einheit des Staates, versucht der Staat, wie er sich unter den Bedingungen der klassischen und späten Moderne herausbildet, durch das Konzept der Verbundverwaltung zu bewältigen.205 Funktionale Differenzierung ist im Falle der Aufgaben des Staates anscheinend noch ausgeprägter als im Falle anderer gesellschaftlicher „Potenzen“: „Nach der Natur der“ im öffentlichen Recht „zu regelnden Bezüge fehlt hier der Materie die wesentliche Einheitlichkeit.“ 206 Die Tatsache, dass diese funktionale Differenzierung wiederum nicht eine historische Einmaligkeit der Moderne darstellt, sondern bereits von einem vormodernen Theoretiker wie Platon in seiner Politeia als evolutiver Prozess beschrieben wird, dem auch entsprechend selektive Momente zu eigen sind,207 legt nahe, funktionale Differenzierung als anthropologische Konstante zumindest dann anzunehmen, wenn diese staatlich verfasst sind. Dies setzt freilich indirekt voraus, Staatsbildung auch als eine solche Konstante anzusehen, was weitaus schwieriger zu belegen sein dürfte. Störungen der Einheit des Staates können sich für den Bürger nicht nur als staatlich koordiniertes Gesellschaftsglied, sondern auch unmittelbar als subordiniertem Befehlsempfänger ergeben, wenn unterschiedliche Behörden widersprüchliches Verhalten gegenüber derselben Person oder auf denselben Tatbe-

201

Schinkel 1964, 331. vom Stein 1960, 365 f.; von Unruh 1965, 446 f. Das Problem der Einheit des Staates ist in jener Zeit mit der Frage nach dem Staat schlechthin identisch, wie auch bei Adam Müller, Elemente der Staatskunst, von 1809, S. 37 deutlich wird. 203 Riedel 1963, 60. Das Phänomen schwindender Einheit des Staates ist auch für die spezifische Funktionsweise totalitärer Systeme erheblich. 204 von Unruh 1965, 453. 205 von Unruh 1965, 461. 206 Leisner 1968, 138. 207 Waschkuhn 1998, 162. 202

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

143

stand beziehen, so dass sie „auf miteinander unvereinbare Verhaltensschablonen drängen.“ 208 Die Wahrscheinlichkeit, dass unkoordiniertes auch zu uneinheitlichem Staatshandeln führt, wird durch die funktionale Differenzierung aber auch durch die mit der Evolution von Staatlichkeit einhergehende Vermehrung von Normebenen erhöht.209 Für die staatlich verfasste Gesellschaft erweist sich auch dies jedoch als Chancenoptimierung: Gesellschaftlich widerspiegeln nicht gleichgerichtete Entwicklungen sogar genau dann, wenn niederrangiges Verhalten als bewusste Darstellung individuellen Spielraums anzutreffen ist, besonders gute Angepasstheit der Institution auf den unterschiedlichen Ebenen der Wettbewerbs- und Selektionsvorgänge wider. Solches Verhalten erhöht die Varianz der evolvierenden staatlichen Phänomene.210 Hierin liegt auch die entscheidende Überlegenheit von staatlichen Mehrebenensystemen wie etwa Bundesstaatlichkeit oder ein die Beziehung von Gesellschaft und Staat abstimmendes System, wie es namentlich das Subsidiaritätsprinzip begründet. Damit wird jedoch bereits die Erforderlichkeit staatlicher Intervention in unberührte Lebensbereiche geschaffen. Namentlich sozialfürsorgerische Funktionen können fortan immer weniger durch nichtstaatliche, auf Überschaubarkeit und Personalität gründende Institute erfüllt werden: Das Bedürfnis des Sozialstaates wird somit bereits im frühmodernen Staat geboren.211 Der mittelalterliche Grundhold wird zum subiectus, zum Untertanen, der senior, der Lehnsherr, nicht selten zum Landesherrn.212 In dieser Entwicklung ist 208 Akzin 1964, 265. Das Wort „koordiniert“ ist an dieser Stelle in seiner genuin juristischen Bedeutung als Gegenteil zu „subordiniert“ zu verstehen, wie auch an denjenigen folgenden Stellen, wo es mit dem Begriff der Subordination konfrontiert wird. Dieses Koordinationsproblem wird unter den Bedingungen des fortgeschrittenen Wohlfahrtsstaates Grund für Indifferenz staatlicher und letztlich politischer Steuerung, Luhmann 1981, 21. 209 Akzin 1964, 270. 210 Herrmann-Pillath 2002, 221 f. 211 von Hayek 1960, 285; Schefczyk 2003, 99 f. 212 Anders Grandner/Komlosy 2004, 16: Sie sehen gerade das Verhältnis von Untertan und Obrigkeit als diejenige Rollenverteilung an, die durch Staat und Bürger abgelöst werde. Zutreffend ist, dass dieser Vorgang frühestens in das 18. Jahrhundert datiert. Die eigentliche Territorialisierung setzt jedoch à la longue schon in früheren Jahrhunderten ein. Das, was als für die Territorialisierung kennzeichnender Rollenwandel erachtet wird, kann tatsächlich erst auf dem mit der Territorialisierung einhergehenden Wandel vom Personenverband zum frühmodernen Territorialstaat aufbauen. Der „territoriale Machtstaat“ ist Voraussetzung und nicht Identität der Wandlung des Untertanen zum Bürger, Habermas 1965, 21. „Die in den National- und Territorialstaaten konzentrierte öffentliche Gewalt erhebt sich über einer privatisierten Gesellschaft“, Habermas 1965, 157. In Preußen beispielsweise vollzieht sich die Staatswerdung verstreuter Territorien bereits im 17. Jahrhundert, Nolte 2004, 54 ff. Untertan und Obrigkeit erweisen sich tatsächlich als ein Brückenphänomen zwischen Mittelalter und Moderne, das neben demjenigen von Bürger und Staat im Grunde bis ins 20. Jahrhundert hinein parallel existiert. Besonders deutlich wird dies am Beispiel des deutschen Konstitutionalismus werden, cf. zur rezenten Forschung Bouveret 2003.

144

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

jedoch ein potentieller Verlust von Autarkie und Selbstständigkeit aufgehoben. Sozialfürsorge wird von einer privaten und gesellschaftlichen Angelegenheit zu einer öffentlichen und staatlichen Aufgabe. b) Zentralisation als neuzeitliches Krisensymptom Als Zentralisationsprozess ist Staatsentstehung unter den Bedingungen der Neuzeit auch immer ein Krisensymptom. Als ein solches scheint Zentralisation analog dem medizinischen Begriff körperlicher Selbststeuerung eine „geradezu gesetzmäßige Entwicklung zum neuzeitlichen Staat“ darzustellen.213 An Stelle der personenverbandlichen Herrschaftsorganisationen, wie sie das Lehnswesen als diejenige Herrschaftsform ausmachte, die bis zum Ausgang des Mittelalters immerhin noch vorherrschte, treten nunmehr abstrakte, wenngleich auch zumeist noch nicht generelle, also noch nicht egalitäre Rechtsbeziehungen.214 Kennzeichnend sind für diese Relationen Technizität und Berechenbarkeitsintention ihres Verfasstseins, die sie im Nachhinein betrachtet überhaupt erst im eigentlichen Sinne zu Rechtsbeziehungen werden lassen: Einmal mehr zeigt sich, dass die staatliche Überwindung des Gefangenendilemmas eine nicht allein repressive Leistung darstellt, sondern den Individualinteressen auch finale Perspektiven seiner Verhaltenslenkung aufzeigen muss.215 Ein Zwischenstadium, das Zentralisation als historischen Vorgang wie als politischen Mechanismus veranschaulicht, bildet der Satz des Rechtsgelehrten Beaumanoirs ab: „Cascuns barons est souverains en sa baronie. Li rois est souverains par desor tous.“ 216

Zentralisation des Staates ist freilich ein doppeldeutiger Begriff: Sie bezeichnet zum einen den einmaligen historischen Vorgang: Also eigentlich die Zentralisation administrativer Steuerung. Zum anderen wohnt sie dem Staat aber, hat er sich durch diese Zentralisationsvorgänge einmal eingerichtet, als zeitloses Funktionsprinzip inne. Somit werden die Ergebnisse der historischen Zentralisation aufrechterhalten, indem diese regelmäßig in prozeduralen, aber auch informellen Funktionen geübt werden.

213

Blaschke 1970, 361. Nolte 2004, 48. 215 Der Terminus der Berechenbarkeitsintention geht zurück auf Krauss 1936, 20; cf. auch Kern 1949, 59. Zur Berechenbarkeitsintention ist zu erläutern, dass diese im Gegensatz zur methodisch erforderlichen Annahme aller Jurisprudenz, ja aller Dogmatik stets nur Intention sein kann. Je erfolgreicher Verrechtlichung als Modus staatlich gewährleisteter Rationalisierung ist, desto mehr schreitet sie voran und verkehrt sich damit ins Gegenteil. Merkmal spät- bzw. postmodernen Rechts ist gerade die widersprüchliche konfliktfördernde Wirkung von Recht. 216 Zit. nach Kern 1949, 47. 214

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

145

In diesem Sinne ist Staat als Allokationsprinzip vor allem gegenüber dem Markt auch dann durch seine Zentralisierung zu unterscheiden, die die Verteilung auch Wahlen und anderen demokratischen Willensäußerungen verfügbar macht, wenn er sich zunehmend Marktmechanismen wie demjenigen der Preisbildung217 über neue Prinzipien wie demjenigen der Äquivalenz von Einnahmen und Ausgaben annähert.218 Ein weiterer Unterschied zwischen marktgestützter und staatsgestützter Allokation, wie sie sich etwa im Äquivalenzprinzip manifestiert, besteht darin, dass es sich beim Markt um eine spontane und nicht um eine geplante Ordnung handelt.219 Der Staat ist freilich nicht die einzige Voraussetzung und Quelle des Gemeinwohls, die nicht (markt-)wirtschaftlich bereitgestellt wird. Aber vor allem um die kulturellen Quellen des Gemeinwohls zu fördern, die ihm nicht unmittelbar verfügbar sind, ist er unverzichtbar.220 Es sind maßgeblich diese kulturellen Quellen, die für den Staat jene zum locus communis gewordenen „Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann,“ bilden. In der Deutung fällt a posteriori auf, dass die beschriebene Entstehung neuzeitlicher Staatlichkeit des Westens ein vergleichsweise hohes Maß an Gleichzeitigkeit aufweist, obwohl es sich prima vista um endogene und emergente Entwicklungen zu handeln scheint, die einmal mehr mit Zunahme von Schriftlichkeit einhergehen. Bei aller Gleichzeitigkeit staatsgenerierender Faktoren und bei aller Unterschiedlichkeit der Ausprägung zeigt sich freilich, dass das territoriale Herrschaftsmerkmal das Kernstück moderner Staatlichkeit bildet. Verdichtung politischer Herrschaft zu moderner Staatlichkeit scheint also von institutionalisierter oder zumindest organisierter Durchdringung von Raum oder zumindest von entsprechender Durchdringungsfähigkeit auszugehen. Das Prinzip der Territorialität ist nicht ohne Anspruch und Durchsetzung eines Gewaltmonopols zu erklären, wenngleich der Vorgang der Territorialisierung darauf nicht beschränkt werden darf.221 Vielmehr ist die Monopolisierung von Gewalt ebenfalls als Krisensymptom zu deuten, stellt sie doch auch eine Form der Zentralisation dar, wie bereits festgestellt. Der moderne Staat verkörpert somit auch im Ergebnis als eine solche Zentralisationsfunktion ein institutionalisiertes Krisensymptom. In ihm entdeckt die westliche Zivilisation gleichsam, wie zweckmäßig eine als Normalität perpetuierte Pathologie ist. Flächendeckende Erfassung durch eine zentrale Gewalt und die standardisierte Verhaltensnormierung durch flächendeckende Rechtsgeltung ermöglichen überdies die Iterierung bestimmter sozialer Interaktionssituationen. Diese Iterierung führt aber spieltheoretisch betrachtet dazu, dass 217 218 219 220 221

Statt vieler sei auf die konzise Erklärung von Gary Becker 1993, 4 verwiesen. Schmehl 2004, 16. Opp 1988, 374. Uhle 2005, 451. Nolte 2004, 48.

146

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

Kooperation zu einer für die Akteure auch individualrationalen Verhaltensalternative wird.222 Die Relativierung des Gewaltmonopols als Konstituens des modernen Staates führt auch zu einer Relativierung seiner Territorialität. Definierte Weber den Staat noch als „diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes – dies: das ,Gebiet‘, gehört zum Merkmal – das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht“ und zählte Jellinek Staatsgebiet und Staatsgewalt neben Staatsvolk zu seinen Merkmalen, so stellt sich Staat im Inneren weniger als territorialer Eigentümer dar, denn als gesellschaftliche Konvention, deren Grenzen ubiquitär sind.223 Aber auch um die arbiträre Optimierungswirkung des Staates sicherzustellen und damit die Teilnahme der Individuen an den Gesamtkosten zu motivieren, bedarf es des Gewaltmonopols. Dies verdeutlicht der Vergleich mit vor- bzw. nichtstaatlichen Formen politischer Organisation wie dem Häuptlingstum, bei denen sich territoriale und soziale Loyalitätsbeziehungen überschneiden und in Konkurrenz geraten können.224 Dieser Umstand gebietet nochmals zu Vorsicht, die Theorie vom Gewaltmonopol als Konstituens des modernen Staates vorschnell zu verabschieden. Weniger ist die Entwicklung zu relativieren, dass tatsächlich Gewalt zunehmend beim Staat monopolisiert wird, als vielmehr, dass bislang unterschätzt worden ist, in welchem Ausmaße dies lange Zeit hinweg erst einmal freiwillig geschieht. Tatsächlich dürfte aber zumal die Vitalität des Erlebnisses konfessioneller Konflikte kaum zu hoch veranschlagt werden, um die kollektive Einsichtsfähigkeit angemessen zu gewichten. Möglicherweise beschreibt Territorialität als geografische Umgrenzung und administrative Durchdringung eine Dimension von Herrschaft, die erst eintritt, nachdem sich die herrschende Gewalt außenpolitisch durchgesetzt hat. Zumindest scheint sie eher eine Kategorie auswärtiger als innerer Staatlichkeit zu sein. Dafür spräche zumindest die gegenüber den europäischen Mutterländern um etwa 200 Jahre später eintretende Territorialisierung der Kolonialherrschaften. Besonders eindrucksvoll lässt sich dies an der Entwicklung Indiens ablesen, wo zunächst staatsdefinierende Funktionen, wie etwa die Steuererhebung durch ein

222

Axelrod 2000, 83. Gleichwohl gibt es auch innovative Versuche, die Jellineksche Definitionstrias flexibel zu reformulieren: „Ein Staat ist [. . .]: [1] eine territorial organisierte Verbindung von Menschen. Er drückt mithin gesellschaftliche Verhältnisse der Inklusion und der Exklusion aus, deren Scheidelinie durch das Staatsgebiet markiert ist; [2] eine über den gesellschaftlichen Verhältnissen stehende Herrschaftsgewalt, [3] eine der Realisierung von Gemeinschaftsinteressen dienende Herrschaftsgewalt.“, El Masry 2004, 117. 224 „Vielfältig sind [. . .] die Integrationsebenen, welche von Dorf-, über Lokal- bis hin zu Flächenverbänden reichen, wie er politischen Organisationsformen, welche von segmentären über Altersklassen- bis hin zu Lineage-Systemen reichen können,“ zu eigen ist, El Masry 2004, 317. 223

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

147

Unternehmen, die britische East India Company wahrgenommen wird. Die fehlende Territorialität der Herrschaft führt jedoch in Verbindung damit, dass die East India Company solche staatsdefinierenden Funktionen ausführt, zu Konflikten mit der in ähnlicher Weise agierenden französischen Compagnie des Indes, deren staatliche Herkunft durch das in Frankreich herrschende System von absolutem Staat und merkantiler Wirtschaftsform noch offensichtlicher ist. Entscheidend ist, dass nichtstaatlichen Institutionen mit Gewinnerzielungsabsicht, also eindeutig partikularen Interessen gleichwohl im Inneren Funktionen wahrnehmen können, die elementarer Teil von Staatlichkeit sind. Trotzdem bedarf es erst des Siebenjährigen Krieges, ehe die Briten sowohl bereit als auch in der Lage sind, eine flächendeckende gouvernementale Durchdringung Indiens in Gestalt moderner Territorialstaatlichkeit zu errichten.225 Wo kein derartiger Organisierungsdruck besteht, bildet sich auch in der Regel keine territoriale Durchdringung aus.226 Es ist zu vermuten, dass just Territorialität als soziales Verhaltensmuster nicht Voraussicht und Planung erfordert, sondern sich als durchaus spontaner (Selbst-)Organisationsprozess von Herrschaft vollzieht.227 Diese dürfte sich im Falle frühneuzeitlicher Herrschaftsorganisation als allmähliche Herrschaftskonzentration verwirklicht haben.228 c) Territorialisierung und Regierbarkeit: Ein Modus zur Überwindung des Gefangenendilemmas? Die Territorialisierung staatlicher Herrschaft ist eng mit dem Voranschreiten des Gesetzesstaates verbunden: Das Gesetz als generell-abstrakter Normbefehl erhebt seiner Eigenart nach räumlich uneingeschränkte Geltung innerhalb des Bereiches. Durch die gewaltenteilige Trennung zwischen Exekutive und Legislative wird die Abstraktion und Verselbständigung von Staat nochmals erhöht:229 „Bei der Schwäche der menschlichen Natur,“ so begründet Locke, dass Legislative und Exekutive zu teilen seien, „die stets bereit ist, nach der Macht zu greifen, würde es jedoch eine zu große Versuchung sein, wenn dieselben Personen, die die Macht haben, Gesetze zu geben, auch noch die Macht in die Hände bekä-

225 Grandner/Komlosy 2004, 10 f.; Rothermund 2004, 27; zur „indirect rule“ als ursprünglich in den europäischen Mutterländern entstandener administrativer Praxis: Reinhard 2002, 197. 226 Rothermund 2004, 25. 227 Axelrod 2000, 80 i.V. mit 82. 228 Dies lässt sich gleichermaßen aus abstrakter Staatslehre ermitteln, Ehmke 1976, 248, wie als Ergebnis neuerer Detailforschung zusammenfassen, Asch/Freist 2005 und Schorn-Schütte 2004, 136 und passim. 229 In der rationalen Autokratie bzw. Monarchie wird dies im Grunde noch deutlicher als in der Demokratie. Denn hier tritt der Dual von Monokratie und Kollegialität noch deutlicher zu Tage, Kelsen 1963, 34 und 77.

148

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

men, diese Gesetze zu vollstrecken.“ 230 Die Gesetze werden stärker planend und weniger präsentistisch, aktualistisch und konkretistisch. Mithin wird der Gesamtnutzen der Hitze des täglichen Gefechts der Individualinteressen entzogen, kollektive Gesamtzustände werden Gegenstand und Ziel der Gesetzgebung. Das Regierungshandeln wird stärker dienend, eben exekutiv. Beim einzelnen Regierungsakt müssen Gesetze idealiter angewandt und eingehalten werden, aus denen sich die Lösung idealerweise ableiten lässt. Daraus wird freilich eine allgemeine Machtbeschränkung der lange Zeit noch monarchischen Regierung erwachsen: „Der normierte Befehl im von gouvernementaler Struktur durchdrungenen Territorialstaat sichert vielmehr Geltungsumfang und -dauer“ Gesetzesbindung befestigt die Herrschaft des jeweiligen Souveräns, weshalb sie Kelsen auch empfiehlt, um Demokratie und die dahinter stehende Volkssouveränität zu sichern. Es muss nicht die Wirklichkeit in der Begrenztheit des Augenblicks erst in Gesetze gegossen werden. Letztlich vergrößert dies den Spielraum der Regierung aber eben als Agentur des Souveräns.231 Die Regierung muss nun, aber sie vermag sich eben auch erst vollends auf Staatsraison konzentrieren: Ihr Blick wird dadurch eingegrenzt, dass sie nicht mehr die unüberschaubaren Folgen eines Handelns bedenken müsste, das sie in Gesetzesform zu gießen hätte. Sie ist eine rein praktische und technische Problemlösungsagentur. Regieren wird technisch und entwickelt eine ihm spezifische Rationalität. Weniger abstrakte und generalisierende, folglich jedoch auch weniger rationale Herrschaftsmittel gestatten weniger einheitliche Durchdringung: Der Herrschaftsraum orientiert sich stärker am jeweiligen Herrschaftsgegenstand. Der Territorialstaat ist in seiner vereinheitlichenden und insofern auch kostensenkenden Wirkung, als er die Potentiale erschließt, Güter seriell bereitzustellen, fast eher Ursache als Katalysator der Realisierung von Kollektivgütern. Als Gesetzesstaat verpflichtet er im Bereich seines Territorium auch Dritte unabhängig von deren Zustimmung, worin sich der Zwangscharakter seiner Normen zeigt.232 Das Gesetz ist nach kontinentaleuropäischer Auffassung zugleich die Selbstbeschränkung, die die Träger des territorialen Zwangsmonopols bindet. Insofern erfährt die prinzipielle Staatskritik, wie sie der Libertarismus vertritt, eine Einschränkung. Aber der Ausschaltung von Wettbewerb sind selbstverständlich Grenzen gesetzt, denn kein Gemeinwesen kommt gänzlich ohne Bereiche des Wettbewerbs aus. Dass freilich das Zwangsmonopol, wie es sich in Gewalt- und Steuermonopol konkretisiert, so wie jedes Monopol eine immanente Neigung zu Wachstum entfaltet, ist offensichtlich: Macht neigt zu Selbstvermehrung.233 230

Locke Second treaty, 12. Kapitel, § 143, übersetzt Hans-Jörn Hoffmann, 291. Somit erklärt sich auch, dass im klassischen englischen Recht die Gerichte einerseits an litteral translation, wörtliche Auslegung gebunden sind, die Regierung hingegen bis hin zu besagter „electoral dictatorship“ freie Hand durch das Parlament erhält. 232 Akzin 1962, 266. 231

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

149

Die Identität von Gesetz und Selbstbeschränkung erweist sich in der Demokratie als Dilemma. Ist das demokratisch beschlossene Gesetz idealerweise bereits Ergebnis jener spezifischen Form von Wettbewerb, wie sie für Demokratie gerade eigentümlich ist? Mit welchem Recht lässt sich ein solcher Gesetzgeber selbst binden? Schon bevor sich eine moderne Demokratie im heutigen Sinne herausbildete, gilt daher in England die Ungebundenheit des Parliament of the day, mit der die Devise korrespondiert: „The Parliament can do no wrong.“ Verbreitung von Territorialisierung mit all ihren dargestellten Funktionen vermag neben äußerem Druck jedoch auch als solche die Umgebung gleichsam mit weiterer Territorialisierung zu infizieren. Insofern ist Territorialisierung als endogener oder emergenter Prozess wiederum zu relativieren: Entscheidend ist letztlich der Stabilisierungsdruck, der auf kooperativem Verhalten lastet, um Optimierung von Gesamtnutzen bei hinreichendem Individualnutzen aufrechtzuerhalten oder erst zu erlangen.234 Dies ist freilich bei regelmäßiger Konfrontation mit gleichen Akteuren, also mit Nachbarn ungleich wahrscheinlicher. Neben dem erhöhten iterationsbedingten Kooperationsdruck begünstigt bei territorialisierten Lebensformen auch die Möglichkeit der Nachahmung eines Nachbarn, dass diese territorialisierten Lebensformen sich verstetigen.235 Es ist daher zu vermuten, dass der Prozess der Territorialisierung politischer Herrschaft zukünftig weiter fortschreiten wird und zwar sowohl im geografischen Sinne als auch im Sinne der Herrschaftsmonopolisierung abstrakter Merkmalsräume. Beides beschreibt letztlich Staatsausdehnung und damit heute auch Demokratisierung und Gesellschaftsveröffentlichung. Am Ende dieser Untersuchung wird freilich nach Konkurrenten von Staat und Demokratie im öffentlichen Raum zu fragen sein. 2. Vom Policey- zum Polizeistaat: Paradigma eines Begriffswandels? Polizei als zentrale Gemeinwohlagentur ist mit dem Entstehen des modernen Staates von seinem Beginn an verknüpft. Der Begriff des Polizeistaates wandelt sich dabei von einer au fond positiv belegten Beschreibung zu einem pejorativen Werturteil. Polizei bzw. „Policey“ oder „pollecey“ bezeichnet bis in das 18. Jahrhundert hinein die gesamte staatliche Innenverwaltung und deren Lehre.236 Als solche ist sie funktionell eine Art politischer Ökonomie.237 Polizei ist somit als

233

Hoppe 2005, 68 und 71. Zum Gewaltmonopol speziell: 178. Mit einschlägigen Beispielen aus menschlicher Gesellschaft und territorialen Vögelpopulationen Axelrod 2000, 92 f. 235 Axelrod 2000, 142 f. i.V. m. 131, wo auch die sozialdisziplinierende Synergie von Vorschriften als Verhaltensnormierungen mit Territorialität erörtert wird. 236 Für viele: Angermann 1976, 114. 237 Habermas 1965, 30. 234

150

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

Konkretion obrigkeitlichen Handelns eine Reaktion auf die infolge von Territorialisierung und Marktwirtschaft sich allmählich schürzende Staatserforderlichkeit, um die sozialfürsorgerischen Bedürfnisse zu befriedigen, die die bürgerliche Gesellschaft unbefriedigt zurücklässt.238 Das Eigenschaftswort des Politischen bezieht sich gleichermaßen auf die Hauptwörter der Politik wie der Policey.239 „Gute Policey“ findet sich bisweilen als Begriff der allgemeinen staatlichen Wohlfahrtsfunktion. Der frühmoderne Policeystaat ist die noch mit den Idealen des späteren Liberalismus vereinbare Vorform des späteren Wohlfahrtstaates.240 Tatsächlich vermag bis heute der kooperative Staat die Schwächsten nicht derart vollständig und umfassend zu schützen wie der obrigkeitliche Polizeistaat.241 Sie bezeichnet die spezifische Art der Rationalisierung gesellschaftlicher Probleme, wie sie durch den paternalistischen Obrigkeitsstaat erfolgt.242 Es ist insofern nicht nur positiver Gestaltungswille absolutistischer Herrschaft, sondern auch schon – nicht selten hilflose – Reaktion absoluter Staatlichkeit, wenn das Privatrecht im frühmodernen Staat häufig weitgehend durch Polizeiverordnungen außer Geltung ist.243 Und in seiner ursprünglichen Konzeption ist das Polizeirecht ohnehin nur ordnend und abwehrend, nicht gestaltend und ausdehnend, herrschend, aber nicht regierend.244 Der Polizeistaat ist seiner Anlage nach daher ursprünglich das, was sich später als sein Komplement entwickelt: ein liberaler Staat avant la lettre! Im frühmodernen Polizeistaat manifestiert sich gleichsam die Widerwilligkeit, mit der der Staat die Gesellschaft allmählich zu durchdringen beginnt, obwohl er eben ein solches Durchsickern, Sintern und Amalgamisieren, kurzum formuliert eine Veröffentlichung der Gesellschaft genau verhindern will. a) Polizeistaat als liberalstaatliches Konzept Der Erfolg des liberalen Polizeistaates misst sich daran, ob der Saldo des Verhältnisses von zur Freiheitswahrung erforderlichen Eingriffen einerseits und realer Freiheit andererseits positiv ist. 238

Habermas 1965, 30; Rendtorff 1962, 415. Weinacht 1968, 27. 240 Luhmann 1981, 7. 241 Treutner 1998, 243. 242 Klassisch ist die Studie von Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, München 1980. Die rezente Forschung reflektiert: Härter 2000; Polizei im engeren und personalen Sinne thematisiert: Holenstein, 2002; cf. zu „guter Policey“ als rationaler Durchdringung von Gesellschaft und Territorium: Freist 2005, 10; Brakensiek 2005, 52. 243 Habermas 1965, 88, der freilich eher den zunehmend anachronistischen Herrschaftswillen des absoluten Fürsten als sozialfürsorgerische Reaktion für ursächlich erachtet. 244 Habermas 1965, 163. 239

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

151

„Die Sicherheit des Staates gründet sich,“ so stellt Friedrich Meinecke fest, indem er sich auf Fichte beruft, „[. . .] nicht nur auf sein eigenes Territorium, sondern ,überhaupt auf alles, wohin du deinen Einfluß erstrecken und womit du in der Folge dich vergrößern kannst.‘“ 245

Die Freiheit der Partikularinteressen beginnt nicht nur dort, wo die Freiheit der anderen Partikularinteresses beginnt, sondern auch dort, wo der Eigenbereich des Staates beginnt, der ihn zur arbiträren Ordnungskraft und damit zum modernen Staat als solchem werden lässt: Dem Mittel obrigkeitlicher Gewalt. Soll die Gewalt Staatsgewalt bleiben, muss sie Vorbehaltsrecht des Staates sein.246 Somit folgt es einer inneren Konsequenz, wenn der (Früh-)Liberalismus, wie er namentlich bei Kant theoretisch grundgelegt wird, im Funktionsbereich des Polizeistaates dem Staat Rechte belässt, Wohlfahrt zu gestalten:247 Offensichtlich sind die Optimierungsmöglichkeiten durch staatlichen Eingriff in diesem Bereich selbst für den Liberalen zu existentiell, als dass er auf sie verzichten mag. Robert von Mohl erneuert in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Idee des Polizeistaates nochmals.248 Auch gegenwärtig ist er, terminologisch korrekt verwendet, immer noch als zum Rechtsstaat korrespondierend zu begreifen und als zentrales Element von Staat anzusehen.249 b) Polizeistaat als Schutzstaat Dass sich die in der Polizei konkretisierende Staatlichkeit als Kern eines gleichermaßen alten wie ursprünglich weiteren Polizeibegriffes auch unserer Gegenwart darstellt, liegt vornehmlich darin begründet, dass Gefahrenabwehr Vollzug des staatlichen Sicherheitsauftrages und mithin des Staatszweckes kat' ™coxÞn ist.250 Öffentliche Sicherheit definiert als Freiheit von illegalem Handeln lässt sich in mathematischen Nutzenfunktionen formulieren. Schwierig wird solcherart Rechenbarkeit von Sicherheit bei unerlaubtem Handeln, das unmittelbar nur zivilrechtlich, vielleicht noch gebührenrechtlich, vornehmlich aber außerrechtlich, ja außerstaatlich sanktionierbar ist. Freilich ist vermutlich die Beeinflussbarkeit von Kriminalität größer, wenn sich die Wahrscheinlichkeit der Aufdeckung 245

Meinecke 1922, 104. Isensee, Rechtsschutz gegen Kirchenglocken, 312; ders., Verfassungsstaatliche Erwartungen an die Kirche, 113. 247 Kant 1797/1954, 6. 248 Mohl 1866; dazu: Isensee 1968, 62. 249 Ein Beispiel hierfür bietet Sturm 2004, 373, der freilich den Begriff des Polizeistaates doch in Anführungszeichen setzt. 250 Allein zu geschichtlichen Voraussetzungen und staatstheoretischen Prämissen von Sicherheit als Staatsziel besteht eine allein für den deutschen Bereich kaum noch zu überschauende embarras de richesse an Literatur: Kurt Eichenberger 1980, 73 ff.; Josef Isensee 1983, 17 ff.; Dietrich Murswiek 1985, 88 ff.; Gerhard Robbers 1987, 121 ff.; Christian Starck 1984, 867 ff. 246

152

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

erhöht, als wenn sich das Strafmaß erhöht.251 Dies spricht für die größere Wirksamkeit der Strafverfolgung gegenüber Strafrechtsprechung und Strafvollzug und mithin für die Exekutive gegenüber der Judikative. Das ist zugespitzt formuliert und in Kauf nehmend, die einzelnen nationalen Rechtssysteme zu vergröbern, letztlich ein Argument des Polizei- gegenüber dem Rechtsstaates. Dies deutet jedoch über den historischen Beleg vorrechtstaatlicher Staatlichkeit hinaus daraufhin, dass auch noch unter den Bedingungen eines integralen Rechtsstaates Polizei von existentiellerer Bedeutung für den Staat ist. Der Polizeistaat ist als stammesgeschichtlich älteres Organ auch existenzieller Funktionskern jeder Staatlichkeit. Mit wachsender Kollektivierung und Vernetzung der Aufgaben individueller Existenzbewältigung nimmt die kollektive Relevanz von Störungen bei dieser Art der Existenzbewältigung und insbesondere der Daseinsvorsorge zu: Damit dehnt sich das Feld aus, was öffentliches Interesse und öffentliche Sicherheit ausmacht. Nicht zuletzt die Zunahme von Gefährdungsmöglichkeiten kollektiv erheblicher Güter führt daher zu immer weiter sich ausdehnender Pönalisierung immer neuer Handlungsbereiche und Tatbestände. Damit nimmt aber der Bedarf an Gefahrenabwehr quantitativ und qualitativ zu. Somit ist der moderne Staat in zunehmendem Maße Polizeistaat. Der moderne Polizeistaat ist die Reaktion der zur „Risikogesellschaft“ (Beck) mutierten modernen Gesellschaft. Insofern wird nicht weniger als eine zentrale Provinz des modernen Staats, die dem Bürger nicht nur Sicherheit, sondern als staatlich finanzierte Aufgabenbewältigung auch Freiheit erschließt, entscheidend verändert, wenn Kosten öffentlicher Sicherheit über Gebühren oder Entgelte finanziert werden.252 Die Frage nach der Erforderlichkeit und des Umfanges ist potentiell manipulierbar. Vor allem eröffnet aber die Frage des Verursachers den Trägern der Staatgewalt neue Macht, zumindest droht diejenige der Bürger eingeschränkt zu werden.253 Der Staat begibt sich aber seiner Unparteilichkeit. 251

Gary Becker 1993, 85. Das grundsätzliche theoretische Problem wird bei Jean d’Heur 1994, 107 ff.; Stoll 2003, 17 und Schmehl 2004, 216 behandelt; für das deutsche Recht speziell erörtert bei Gramm 2000. 253 Das Recht, Gebühren zu erheben, ist hier durchaus als Mittel ganz verschiedener politischer Richtungen anzusehen. Unternehmerkritische Kräfte könnten Demonstrationseinsätze gegen bestimmte Vorhaben den Betreibern und nicht den Demonstranten in Rechnung stellen, wirtschaftsfreundliche und zugleich libertäre Kräfte umgekehrt den Demonstranten. Umstrittene Vorhaben durchzuführen und dagegen gewaltfrei zu demonstrieren, sind aber gleichermaßen Freiheiten, die der Staat zu gewähren hat. Ebenso ist nicht als zwingend anzusehen, warum Fußballvereine als zumeist finanziell überanstrengte mittelständische Unternehmen Unkosten zahlen sollen, die ihre Sympathisanten bei der Nutzung ihrer Produkte (Spiele) verursachen. Aber selbstverständlich darf in einer staatlich verfassten Gesellschaft ein ansonsten oftmals wenig privilegierter „Fan“ auch einmal lautstark seine Anteilnahme am Spielerglück „seiner“ Mannschaft artikulieren, ohne dass ihm die Unkosten in Rechnung gestellt werden, die daraus oder aus den vielfach nur zu befürchtenden potentiellen Sicherheitsrisiken entstehen, dazu 252

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

153

Die Verstaatlichung der Polizei ist Voraussetzung bürgerlicher Selbstverwaltung: Denn nur dort, wo das, was nicht Privatherrschaft und Willkür unterliegt, zur Selbstverwaltung ansteht, kann „Gemeingeist“ lebendiges Movens von Selbstverwaltung werden. Insofern ist die frühzeitige Konstitution des Obrigkeitsstaates in Preußen Voraussetzung ebenfalls frühzeitiger Autonomisierung der Kommunen, wie sie sich in der Steinschen Städteordnung niederschlägt.254 3. Der moderne Staat als Überwachungs- und Informationsstaat Der „allwissende Staat“ entsteht als korrespondierendes Ideal mit demjenigen der „Allkompetenz“, als der Fürstenstaat versucht, Macht zu zentralisieren und im Herrscher zu monopolisieren. Ideologie des ideologielosen Fürstenstaates und Praxis der realen Beharrungskräfte, namentlich ständischer Gewalt treten hierbei in dem Maße auseinander, als der absolute Herrscher mit Ikonografie und Allegorie für das allwissende „Auge des Gesetzes“ wirbt.255 Als Streben nach Informationsmonopolisierung definierte Informationshoheit des Staates erweist sich nicht zuletzt deswegen als entscheidend für die gesellschaftliche und politische Hoheit des Staates, da sich Evolution entscheidend auf der informationellen Ebene, eben als Genotyp, vollzieht und durch die materielle Manifestation, also im Phänotyp, lediglich mediatisiert wird:256 Wer über die jeweils entsprechenden Informationen verfügt, kann damit selbst-referentiell und folglich rationalisiert Evolution beeinflussen und sich die zur Wahrung von Überlegenheit entscheidenden Vorteile sichern. a) Regulierung als Überwachungsproblem Regeln bedürfen der Geltung, um Recht zu werden oder zu bleiben.257 Das staatliche Recht kann also insofern niemals gegen externe (normative) Institute als Recht existieren, weil im Grunde schon ein Konfligieren mit internen Institutionen seine Eigenschaft als Recht in Frage stellt,258 nicht eben selten sind es positivierte externe Institute sozialer Gewohnheit oder traditionalen Brauchs.259 Neben dem dazu erforderlichen Minimum an Akzeptanz verschafft und sichert der moderne Staat die Geltung des Rechts auch durch Überwachung. Ein nicht unerheblicher Teil gesellschaftlicher Normen überwacht seine Einhaltung von Florian Deusch, Polizeiliche Gefahrenabwehr bei Sportgroßveranstaltungen. Darstellung anhand des Fußballsports, Berlin 2005. 254 Demel 1993, 44. 255 Stolleis 2004, 48. 256 Für viele: Sen 2002, 485. 257 Alexy 1994, 17. 258 Voigt 2002, 41; Alexy 1994, 17. 259 Rendtorff 1962, 410.

154

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

selbst, zumeist durch jene Funktion sanktioniert, die als poena naturalis bezeichnet wird. Die Norm selbst begegnet in Gestalt dessen, was als common sense oder auch mit dem historisch nicht unbelasteten Begriff des „gesunden Menschenverstandes“ bezeichnet wird. Die Überwachung von Regeln kann freilich auch über eine „imperative Selbstbindung“ erfolgen. Ethische Maßstäbe zu einem integralen Bestandteil der Person werden zu lassen setzt freilich unter den Bedingungen einer modernen Gesellschaft voraus, über die öffentliche Meinung weitgehend verfügen zu können. Wenn jedoch weder Selbstüberwachungsfunktion noch „imperative Selbstbindung“ die Überwachung sicherstellen, so ist die Überwachung nur noch durch kollektives Handeln möglich.260 In einer Situation des iterierten Gefangenendilemmas scheint die Überwachung eine einfach zu lösende Aufgabe zu sein, die die Mitspieler schon aus eigenem Interesse selbst sicherstellen.261 Ist die Konstellation des Gefangenendilemmas indessen einmalig, so schlägt die eigentliche Stunde des Staates, denn für die Partikularinteressen „it is hard to justify cooperation as it is to accept mutual defection as the logical outcome.“ 262 Hierzu muss der Staat jedoch oftmals in Interaktion mit einzelnen Personen treten, was seine übergeordnete und arbiträre Rolle stets zu gefährden droht. Zwar müssen die Regeln so gewählt und überwacht werden, „daß es sich für die meisten auszahlt, die Regeln meistens zu befolgen.“ 263 Sind die Regeln jedoch erst einmal gegeben, befinden sich nicht nur einzelne Personen der Gesellschaft, sondern auch der Staat selbst, etwa durch eine Behörde vertreten, mit einzelnen Personen, etwa Unternehmen, in der Situation des iterierten Gefangenendilemmas. Es ist jedoch maßgeblich die für die Moderne kennzeichnende ständige Verbesserung technischer Möglichkeiten, die verschärfte Überwachung hierbei beständig als Mittel der Wahl erscheinen lässt. Im sozialwissenschaftlichen Modell ist jedoch erwiesen, dass eine Zunahme von Überwachung als Mittel der Repression dazu einlädt, Normen zu umgehen.264 Der Staat der Gegenwart befindet sich dabei in einem Trilemma dreier historisch wirkmächtiger Entwicklungen: Informationsfreiheit und Datenschutz treffen in Form emanzipativer Rechte, Akteneinsicht zu nehmen einerseits und informationell selbstbestimmt zu leben andererseits aufeinander. Mit beidem kollidiert wiederum die nicht zuletzt durch Terrorismus als zunehmender Form politischer Gewalt, wie sie nicht oder zumindest nur rudimentär staatliche Akteure gegen Staaten anwenden, erforderliche Renaissance des geheim haltenden Staates. Schon heute klagen Praktiker aus der Verwaltung, dass dieses Trilemma allein technisch kaum zu bewältigen sei. Dass

260 261 262 263 264

Voigt 2002, 108 und 117 ff. Poundstone 1993, 173. Poundstone 1993, 122, der kurz resümiert: „Therein lies a paradox.“ Axelrod 2000, 140. Scholz 1983; Axelrod 2000, 140 f.

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

155

sich im Bereich der Information sämtliche Grundtendenzen der Moderne schneiden, verdeutlicht, in welchem Maße Staat und Politik informationelle Vorgänge sind und als solche zunehmend selbst-referentiell werden. b) Staat als informationeller Vorgang Ist der Begriff des Überwachungsstaates aufgrund seiner Tradition pejorativ besetzt, so birgt er dennoch bereits als Verhaltensmuster eine Funktion des Staates, die gegenwärtig zunehmend auch einen Staatszweck beschreibt, den die wissenschaftlich informierte Politik allmählich auch als Staatsziel begreift und der künftig der entscheidende Grund weiter bestehender Staatlichkeit werden könnte: „Beobachtung, Kontrolle, Information und Ausgleich durch den Staat“ 265 infolge von Privatisierung bestimmter Bereiche können möglicherweise sogar zu einer relativen Zunahme staatlicher Präsenz in diesen Bereichen führen oder auch auf weitere Bereiche ausgedehnt werden. Hoheit definiert sich zunehmend über Informations- und Kontroll- statt über Handlungshoheit. Es liegt in der Eigenart von gemeinwohlrelevantem Wissen, dass dieses bald veröffentlicht, bald geheim gehalten werden muss. Ob dem Gesamtnutzen oder dem Gemeinwohl als Staatsraison dabei eher das klassische Mittel der Geheimhaltung oder das Gegenteil der gezielten Veröffentlichung dient, ist nicht zuletzt bereichs-, aber auch kulturabhängig:266 während bei vorsätzlichen und eben menschlich verursachten Gefahren Abwehr oftmals geheim bleiben muss, mag bei Gefahren höherer Gewalt (rasche) Aufklärung Not tun. Doch wie verhält es sich mit dem weiten Bereich des Interagierens beider Gefahrenarten? Hier vermag der Staat in der Gegenwart bereits schneller Information zu gewinnen als auszuwerten. Die Begriffsgeschichte des Wortes Statistik spiegelt die Eigenart staatlicher Steuerung als informationeller Prozess wider: Wird der Begriff im 18. Jahrhundert für politische Geografie und Staatenkunde verwandt, so wird der Begriff ab dem 18. Jahrhundert synonym mit quantifizierender Methode verwandt, weil sich die Sache hierauf weitgehend verengt hat. Mit der ersten systematischen Volkszählung der Moderne, die bereits 1749 in Schweden stattfindet, sowie den im 17. Jahrhundert aufkommenden Mortalitätstabellen nimmt zugleich diese Entwicklung ihren unmittelbaren Ausgang.267 Systematisch quantitative Erhebung von Territorium und Bevölkerung wird freilich bereits mit dem auf das Jahr 1427 datierenden Florentiner „catasto“ induziert, der zusammen mit dem 1495 eingeführten „Gemeinen Pfennig“ erste Schritte hin zu einer progressiven Besteuerung 265

Ruge 2004, 137. Während traditionell Geheimhaltung für deutsche Verwaltung kennzeichnend ist, Tantras 1998, 257 ff., wird in Schweden bereits mit der Druckfreiheitsverordnung des Jahres 1766 weltweit erstmals freier Zugang zu amtlichen Dokumenten für jeden gewährt, cf. die reichhaltigen Literaturangaben dazu bei Gröschner 2004, 347. 267 Reinhard 2002, 315; Foucault 2006, 104. 266

156

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

unternimmt.268 Ab dem 15. Jahrhundert setzt sodann mit dem Entstehen des modernen Staates auch dasjenige einer schnell sich verwissenschaftlichenden quantifizierenden Erhebung dessen ein, was der Staat umfasst. Der Staat selbst ist also von Beginn an, sowohl als Vorgang als auch als Institutionengefüge, das diese Vorgänge unterhält und weiterverarbeitet, ein informationelles Phänomen. Staat ist Kommunikation und mithin letztlich sich durch Diskurs vollziehende Herrschaft. Damit wird freilich die Grenze der für diese Untersuchung leitenden Frage nach den Gründen, warum Staat existiert und funktioniert, zu der damit zusammenhängenden Frage nach dem Modus, wie Staat existiert und funktioniert, erreicht. Das Konstrukt seiner Statistik und der Gegenstand seiner Steuerung ist die Bevölkerung. Da Bevölkerung das Kollektiv der Einwohner eines Gebietes bezeichnet und von den Individuen abstrahiert, ist der Begriff eo ipso politisch.269 Diese Politizität ist auch nach der Definition des Politischen, wie sie dieser Untersuchung zugrunde liegt, eindeutig gegeben. Da es gerade die Abstraktion vom Individuum ist, die überhaupt erst Bewegung in den Bevölkerungskörper bringt, ist die Bevölkerung unmittelbare Bezugsgröße der Kollektivgüter, das Individuum nur Träger und Agent, Transformations- und Transmissionsstelle dieser Größe. Überwachung wird als Teil des staatlichen Verantwortungsbereiches gegenwärtig wieder neu entdeckt.270 Vor allem elektronische Medien und postindustrielle Technik selbst dürften aber, nicht zuletzt von deren Betreibern ausgehend, einen erhöhten Bedarf an arbiträren Leistungen hervorrufen, die jedoch als solche Kollektivgüter bleiben. Gerade jene schiedliche Neutralität ist eine derjenigen Staatsleistungen, die Staat verstärkt wachsen lassen: Personell und finanziell, konzeptionell und kompetenziell. 271 Aber jenseits konfliktualer Situationen innerhalb bestehender Märkte können Informationsdefizite Ursache von Marktversagen werden und den Staat somit auch bei der Bereitstellung von grundsätzlich marktgängigen Produkten zur Voraussetzung machen. Voraussetzungen, Wissen zu entdecken und Informationen zu erzeugen, ebenso wie Konzentration, Austausch, Veröffentlichung und andere Formen von Informationspflege und Wissensverwaltung stellen über den Bereich staatlicher Aktivität und staatlicher Selbsterhaltung hinaus das entscheidende Gut nachindustrieller Gesellschaften dar.272 268

Reinhard 2002, 314. Darauf verweist auch jüngst Kaufmann 2005, 23. Kaufmann verbindet dies mit einem Seitenhieb gegen die aus dem nationalsozialistischen Trauma resultierende Tabuierung von Bevölkerungspolitik. 270 Ruge 2004, 168. 271 Jonas 1963, 286. 272 Zu diesem Problem allgemein: Sutter 1994, 409. 269

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

157

Beobachtung und Erhebung durch den Staat wird durch die Entwicklung der modernen Sozialwissenschaften entscheidend katalysiert, die sich im Rahmen allgemeiner Westernisierungsvorgänge nach dem Zweiten Weltkrieg stärker empirisch und quantifizierend orientieren. Zweckrational zugespitzt vermitteln sie Politik und Exekutive „Machbarkeitsszenarien“, die wiederum die Politik zum einen umformen und die Politik zum anderen schließlich neue Erwartungen an die Sozialwissenschaften stellen lassen.273 Damit hat sich ein in Ansätzen gleichsam zu einem politisch-wissenschaftlichen Regelkreis zusammen geschalteter Prozess der Verfügbarkeit menschlichen Sozialverhaltens eingestellt. c) Überwachung und Disziplinierung als Rationalisierung Bereits Erhebung und Vorhalten von Daten an sich werden von den Betroffenen regelmäßig als disziplinierend, ja sogar als repressiv wahrgenommen, wie die Akzeptanzschwierigkeiten von Volkszählungen in modernen Rechtsstaaten zeigen. Die Ambivalenz von Überwachung und Zentralisierung wird besonders deutlich anhand des Armenwesens, das als Teil von Randständigenpolitik verstärkt ab dem 17. Jahrhundert oftmals zu anstaltlicher Konzentration von Kriminellen, Bedürftigen und Kranken führt. Die strenge Reglementierung von Zwangsarbeit folgt damit gleichermaßen ökonomischen Interessen, wie sie sich im Manufakturwesen Rationalisierung zunutze machen wollen, die bisher nur von Klöstern und dem ebenfalls neu entstehenden „Disziplinarapparat“ der Kaserne bekannt ist.274 Damit folgen die wirtschaftlichen Interessen dem neuen Erziehungsideal von Zucht und Besserung.275 Entscheidendes Element dieser Anstalten sind die bis dahin nicht verbreitete Aufsicht und Überwachung: Damit werden weite Lebensbereiche im weitesten Sinne des Wortes öffentlich. Ist diese anstaltliche Phase sozialdisziplinierender Staatlichkeit zunehmend durch eine gleichsam sozialtherapeutische Kooperation abgelöst worden, wird jedoch auch künftig die überkommene Kernaufgabe des Überwachungsstaates umstritten bleiben, die bürgerliche „Sicherstellung gegen sich selbst“ 276 mit Freiheitseinschränkungen zu gewährleisten. Diese kann jedoch auch im Rechtsstaat nur durch Überwachung gewährleistet werden, mehr noch: Der Rechtsstaat erfordert dies in den ihn konstituierenden Zusammenhängen gerade besonders. Vermutlich erweist sich der Staat als Struktur und Formprinzip der Assoziation moderner Gesellschaften als ebenso indifferent wie die Technik selbst:277 Der

273

Metzler 2002, 65 f. Der Begriff ist Foucault 2005 (a), 224 entlehnt. Cf. zur Sache auch: Foucault 2005 (b), 156, 162 und passim. 275 Sachße/Tennstedt 1980, 112 ff. und 159 ff.; Ritter 1991, 36. 276 Humboldt 2002, 30. 277 Sturm 2004, 378 f. 274

158

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

entscheidende Faktor, der darüber entscheidet, ob der Staat der Informationsgesellschaft zum Überwachungsstaat wird, ist die Politik. 4. Fürstenstaat versus Ständestaat Der Fürstenstaat als organisatorische Konkretion absolutistischer Herrschaft wird gemeinhin als kontinentaleuropäisches Phänomen erachtet, dessen Archetypus der höfische Absolutismus des ludovizianischen Frankreichs bildet. Die Existenz eines absolutistischen Staates als Institutionalisierung uneingeschränkter monarchischer Herrschaft wird aber inzwischen als ein Konstrukt zeitgenössischer und späterer verfassungshistorischer Theorie erachtet. Die von Bodin in Abwandlung Ulpians’ Satz des „rex ab legibus solutus“ angenommene absolute Souveränität des Monarchen ist in dieser Reinform wahrscheinlich Fiktion.278 Als das Charakteristische am Absolutismus gilt heute nicht die vermeintliche Tatsache, sondern vielmehr der Anspruch des Monarchen, eine zentrale Gewalt von oben nach unten delegierter Souveränität zu verkörpern.279 Der Begriff des Fürstenstaates ist gleichwohl zeitgenössisch bereits belegt, namentlich als Titel eines Werkes Veit von Seckendorffs, das auf das Jahr 1656 datiert.280 Formen absoluter Herrschaft finden sich aber zeitgleich zum traditionell so genannten europäischen Absolutismus in außereuropäischen politischen Systemen: Der Niedergang des Osmanischen Reiches, der spätestens mit der misslungenen Belagerung von Wien im Jahre 1683 seinen terminus a quo findet, führt zu einem der europäischen Territorialisierung ähnlichen Prozess voranschreitender Machtzentralisierung und teils dieser Entwicklung folgend, teils mit ihr parallel einhergehend werden für den Absolutismus und den Merkantilismus typische Reformen durchgesetzt.281 Auch in Japan sind unter dem Shogunat des Yoshimune entsprechende Tendenzen zu beobachten.282 Möglicherweise laufen – zumindest im Osmanischen Reich – die mit den (para-)absolutistischen Reformen eingeleiteten Modernisierungsprozesse sogar schneller ab als in Europa: Ronald Quataert sieht als provinziale Reaktion auf die zentralstaatliche Repression die Aufstände außerhalb des kleinasiatischen Kernlandes „protonationale Züge“ annehmen.283 Der Ursprung des kontinentaleuropäischen Absolutismus liegt freilich demgegenüber in jener Krise begründet, die den modernen Staat überhaupt und zunächst mit dem Anspruch, absolute Herrschaft auszuüben, begründet. 278 279 280 281 282 283

Schorn-Schütte 2004, 137 und 156 ff. Kettering 1989, 157 ff. sowie das Einleitungskapitel von Rowland 2002, 1 ff. Dazu: Weinacht 1968, 18. Grandner/Komlosy 2004, 12. Grandner/Komlosy 2004, 13. Quataert 2000.

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

159

„Ohne den starken Staat gibt es keine Sicherheit; ohne ihn kann die bürgerliche Gesellschaft auf Dauer nicht bestehen. Von der Lösung dieses Problems hängt deshalb die Existenzfähigkeit der bürgerlichen Gesellschaft ab.“ 284

Sind Formen absolutistischer Staatlichkeit also auch außerhalb Europas zu finden, so endet die Existenz absolutistisch motivierter Herrschaft nicht mit der Französischen Revolution und dem Zusammenbruch des Alten Reiches. Vielmehr sind noch in der (Verfassungs-)Politik Bismarcks religiöse Herrschaftsbegründungen erheblich. Als letzter theoretischer Verfechter der Lehre vom Gottesgnadentum tritt Stahl auf,285 während bereits dreihundert Jahre zuvor zumindest normativ der absolute Herrscher als zwar von Gottes Gnaden legitimiert, aber dennoch dem Gemeinwohl verpflichtet postuliert wird.286 Dies bedeutet zumindest der Staatstheorie nach die Ausschaltung von Willkür.287 Praktisch bedeutet dies wenigstens, dass der Legitimationsdruck, unter dem der Herrscher steht, zunimmt. Staatsentstehung als Säkularisierungsvorgang gerät damit in einen Widerspruch zu seiner tatsächlichen Funktion gegenüber dem weiterhin vormodernen Legitimationsmodus. Der im Zusammenhang dieser Wandlung aufkommende Humanismus, dem sich die Antikenrezeption der Aufklärung anschließt, bietet die Möglichkeit, säkulares Programm und religiöse Legitimation zu versöhnen: Der Fürst und sein Hofstaat werden mit Jupiter und dem olympischen Götterhimmel allegorisiert.288 Anders als in der mittelalterlichen Lehnsherrschaft ist es die „salus publica“, die als programmatische Legitimation und formgebendes Ziel absolutistischen Herrschaftsanspruches firmiert.289 Auch dies wird emblematisiert: Der durch das „Auge des Fürsten“ verkörperte Staat wacht als dritte übergeordnete, eben arbiträre Macht über dem Wohlergehen von Land und Leuten.290 Damit setzt schleichend ein Prozess ein, der erst nach dem Zweiten Weltkrieg in Kontinentaleuropa seinen vorläufigen Endpunkt erreicht: Das Schwinden der Selbstverständlichkeit von Herrschaft im Allgemeinen und von Staat als Herrschaftszusammenhang im Besonderen. Vom absolutistischen Gottesgnadentum und der Leistungsfähigkeit des Staates für die allgemeine Wohlfahrt trennt diese Epoche aber noch das Prinzip des National-

284

von Krockow, Herrschaft und Freiheit, Stuttgart 1977, 45. Böckenförde 1981, 159; Hofmann 1986, 196 ff.; Bouveret 2003, 296. 286 Namentlich durch Justus Lipsius, „Politicorum seu civilis doctrinae libri sex“. Die immer noch einschlägige Studie hierzu stammt von Oestreich, 1956, 31–78. 287 Demel 1993, 59. 288 Stolleis 2004, 28. 289 Oestreich 1967, 72. Dies festzustellen heißt nicht leugnen, dass die „utilitas publica“ seit fränkischer Zeit auch Teil königlicher Legitimation war, Anton 1968; Affeld 1980, 95 ff.; Anton 1989, 1040–1044; Anton 1991, 1298–1305. Als solche stellt sie wiederum als „Versachlichung“ der Herrschaft gegenüber der Epoche der Stammesorganisation einen Rationalisierungsfortschritt dar, Dohrn van Rossum 2004, 95. 290 Stolleis 2004, 28. 285

160

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

staates, der zunächst den Monarchen als unhinterfragte Legitimität staatlicher Herrschaft ablöst.291 In Frankreich scheitert der absolutistische Fürstenstaat zuerst an seinem Widerspruch, als säkulare Rationalisierungsinstitution sich gleichwohl vormodern zu legitimieren. Er löst gerade als rational operierender Institutionenzusammenhang die Entwicklung aus, die hin zum Verfassungsstaat verläuft. Einmal abgesetzt, scheitert daher nach der Französischen Revolution die Restauration des Absolutismus als Verfassungsstaat „an der unüberwindlichen Schwierigkeit, innerhalb einer“ nun „universal“ gewordenen „Immanenzauffassung einer Familie von Gottes Gnaden die verfassunggebende Gewalt zuzusprechen“.292 Wie sehr das System des deutschen Konstitutionalismus dem jeweiligen Inhaber des Throns extrakonstitutionelle Residuen belässt, wird im Falle Deutschlands sogar noch unter der Regierung Wilhelms II. immer wieder deutlich, auffallend zuletzt 1913 in der so genannten „Zabern-Affäre“, als in der elsässischen Stadt Zabern eine Geringfügigkeit vom Militär zum Anlass genommen wird, in die Kompetenzen der Zivilverwaltung überzugreifen, woraufhin der Reichstag dem Reichskanzler Bethmann-Hollweg das Misstrauen ausspricht, ohne dass dieser etwa zurückträte.293 Es ist nicht zuletzt der konzeptionelle Rigorismus der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, der die spätabsolutistischen Anteile des deutschen Konstitutionalismus verrät,294 obwohl sich dieser als Verfassungsstaat längst zu einer neuen Staatsform emanzipiert hat:295 Vom Gottesgnadentum als entscheidendem Distinktiv absolutistischer gegenüber konstitutioneller Monarchie englischer Art ist unter Wilhelm II. nur noch obrigkeitstaatlicher Autoritarismus übrig geblieben.296 Noch weitaus zäher sind die Merkmale absolutistischen Regierungsverständnisses im französischen Etatismus ausgeprägt: Dies alles deutet auf einen zwar nicht ausschließenden, aber doch gegensätzlichen modernen Weltentwurf zum angelsächsischen Gesellschaftsverständnis hin. Ein Beispiel für die Persistenz 291

Draht 1966, 281 und 284. Heller 1983, 314. 293 Zu den Ereignissen der „Zabernaffäre“: Stenkewitz 1962 und Keupp 1991. Zur verfassungsrechtlichen und -historischen Erheblichkeit dieses Vorfalls: Bouveret 2003, 320. 294 Meinecke 1922, 242; Böckenförde 1976b, 404, der freilich 407 erklärt, es könne sich hierbei nur um „eine bestimmte Phase in der konkreten Ausgestaltung des Beziehungsverhältnisses von Staat und Gesellschaft“ handeln. Denn dieser Unterschied sei ja für die staatliche Garantie individueller Freiheit konstitutiv. 295 Meinecke 1922, 62. 296 Dass die potentiell antiparlamentarische Stärkung des Reichspräsidenten wiederum auf diese Tradition zurückzuführen ist, ist gleichermaßen anerkannt, wie es im hiesigen Zusammenhang als allerletztes absolutistisches Rudiment deutscher Obrigkeitsstaatlichkeit zumindest im Genotyp, aber unter Hindenburg auch im Phänotyp des demokratischen Verfassungsstaates von Weimar zu fassen ist. 292

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

161

absolutistischer Herrschaftsinstitutionalisierung hingegen bildet bis zu seinem Untergang im Jahre 1917 das zaristische Russland. a) Entstehungsgründe: Absolutistischer Kontinent und englischer Sonderweg? Die wirtschaftliche Ausgangslage des Absolutismus kennzeichnet sowohl in ziviler als auch in militärischer Hinsicht der enorme Kapitalbedarf frühmodernen Regierens. Wo dieser Bedarf durch ein Höchstmaß an Wohlstand gedeckt werden kann, wie etwa in England oder den Generalstaaten, also den heutigen Niederlanden, liegt es auch im Interesse der Ständeversammlungen, also der Parlamente, Kompromisse zu finden, um der Regierung, also regelmäßig dem Monarchen, hinreichende Budgets zu bewilligen. Andernorts führt die Militärfrage hingegen zur Ausschaltung der Parlamente.297 Hat der Monarch jedoch erst einmal eine moderne schlagkräftige Waffenmacht zur Verfügung, so kann er in der von dynastischen Interessen geleiteten Außenpolitik persönliche Machtpolitik verfolgen. Die beliebige Disponibilität von Staaten als „ressource naturelle“ ist die außenpolitische Seite des Phänomens Machtstaat.298 Ihre theoretische Begründung erhält sie durch Hobbes bereits, bevor sie sich voll entfaltet:299 Der Zweck des modernen Staates ist Ordnung.300 Nicht zuletzt hierdurch erklärt sich auch, dass nach dem Westfälischen Frieden von 1648 äußere Konflikte in Gestalt von Erbfolgekriegen geführt werden.301 Dass der Monarch sodann auch weite Bereiche der Innenpolitik, also gleichermaßen der „Policey“ und der Kameralistik sowie der Legislation absorbiert, erscheint dann beinahe als zwangsläufig, wenn Ordnung und Souveränität als Zweck und Eigentümlichkeit des modernen Staates erachtet werden. Die Immunität Englands gegenüber absolutistischen Herrschaftsformen ist freilich nicht nur aufgrund des fortgeschrittenen Wohlstandes und frühester Formen protoindustrieller Produktion zu erklären. Ebenso fällt umgekehrt für den französischen Absolutismus die Erklärung aus, Frankreich sei wirtschaftlich zu schwach gewesen, um die Herausforderungen der Zeit parlamentarisch zu bewältigen.302 Nicht zuletzt die bereits erwähnte magna charta libertatum von 1215 hat eine den Adel und ihr Parlament, das House of Lords, stärkende Entwicklung ausgelöst, die vermutlich spätestens mit der als „Bill of Rights“ bekannt gewor297 Heller 1983, 128; Oestreich 1967, 72; Herzog 1971, 244; Nolte 2004, 49; North 1998, 134 f. 298 Sorrel, 1897, 1, 39; Niebuhr, Histor. Zeitschrift 95, 448 zit. nach Meinecke 1922, 170. 299 Isensee, 1988, § 57. 300 Anter 2004, 58. 301 Kunisch 1979. 302 Nolte 2004, 52 hält hierzu umfassendes Zahlenmaterial bereit.

162

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

denen „Reform Bill“ irreversibel geworden sein dürfte, die als Ergebnis der im Jahre 1688 ausbrechenden Glorious Revolution 1689 verabschiedet wird.303 Die englischen Eliten waren offensichtlich stärker von dem individuellen Nutzen des „common wealth“ überzeugt als der kontinentaleuropäische Adel, der sich vom Monarchen am Hof zentriert und gebunden in der gegenseitigen Konkurrenz einer „Ökonomie der Ehre“ als politische Macht aufrieb.304 Dies mag auf eine größere Fähigkeit gesellschaftlicher Selbstorganisation hindeuten, für die sich bis in die Gegenwart hinein immer wieder Indizien finden. Der kontinentaleuropäische Zentralisierungsvorgang führt nicht von ungefähr zur Symbolisierung des fürstlichen Gesetzesstaates mit dem Auge des altägyptischen Osiris.305 Freilich besteht im Alten Reich noch lange eine Art Doppelstaat von Fürst und Ständen, von Hof und Landschaft, bei der die Stände auch Einfluss auf das fürstliche Ämterwesen nehmen,306 das sich auf der unteren Ebene lokaler Umsetzung fürstlicher Herrschaft bereits seit dem späten 13, Jahrhundert zu bilden begonnen hat.307 Als dieser Doppelstaat überwunden ist, geht auch schon diejenige Epoche ihrem Ende entgegen, die traditionell als Zeitalter des Absolutismus bezeichnet zu werden pflegt. Die soziale Macht der Stände lässt diejenige des Fürsten derart prekär bleiben, dass er auf ihr Problemlösungspotential nicht verzichten kann.308 Das proprium des Absolutismus ist vielmehr das Feld des Politischen als rationaler Verwaltung von Kollektivgütern.309 Akut wird der latente Konflikt von sozialer Herrschaft der Stände und politischer Regierung des Monarchen auf dem Feld der Ökonomie:310 Bislang vom Dualismus, den überkommenes Gewerbe einerseits und dezentrale Lehens- und Grundherrschaft andererseits geprägt haben, kommen demgegenüber serieller Manufakturbetrieb und merkantile Wirtschaftslenkung auf. Während jedoch der Monarch das Gemeinwohl zu verfolgen für sich beansprucht und daran auch gemessen wird, vertreten die Stände Partikularinteressen „oder höchstens deren Summe (Rousseau: volonté de tous) [. . .] und nicht das Gesamtinteresse des Volkes (Rousseau: volonté générale)“:311 Darin

303 Somit zeichnet sich womöglich auch eine Antwort auf die u. a. bei Nolte 2004, 51 gestellte Frage ab, warum die Niederlage Englands im Unabhängigkeitskrieg der Neuenglandstaaten nicht zu größeren innenpolitischen Friktionen führt: Das Land ist bereits damals durch weitgehende innere Freiheit gefestigt, auch außenpolitische Entscheidungen genießen ein hohes Maß an Akzeptanz. 304 Pec ˇ ar 2003 und 2005, 381 der nachweist, dass es sich bei der auf diese Weise verursachten Schwächung des Adels freilich um eine nicht-intendierte Nebenwirkung handelt. 305 Stolleis 2004, 34. 306 Oestreich 1967, 67; Gallus/Jesse 2004, 13. 307 Oestreich 1967, 63. 308 Koselleck 1973, 12; Pec ˇ ar 2003. 309 Koselleck 1973, 12. 310 Koselleck 1973, 25. 311 Reinhard 2002, 216.

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

163

unterscheiden sie sich aber gerade vom proprium des modernen Staates, was mit der Bildung des Begriffs vom „Ständestaat“ übersehen wird. Die Herauslösung einer dynastischen Herrschaft aus dem Zusammenhang der Gesellschaft und ihre von dieser getrennte Institutionalisierung als einer öffentlichen Gewalt stellt nicht nur das für den hiesigen Zusammenhang entscheidende Kennzeichen des so genannten Absolutismus dar, sondern dürfte auch einer derjenigen Entwicklungslinien folgen, die sich nach der allmählichen Auflösung des absolutistischen Staatsbegriffes durch die neuere Forschung als dieser Form von Staatsinstitutionalisierung eigentümlicher Kern darstellt.312 Der Druck zu relativer Entpersonalisierung des monarchischen Apparates wird vornehmlich durch ein Drängen nach wirtschaftlichem Fortschritt erzeugt: Montesquieu hält dem absolutistisch verfassten Frankreich seiner Zeit die Despotien Asiens als abschreckendes Beispiel vor Augen: „Unter allen despotischen Regierungen belastet sich keine schwerer als die, bei der der Fürst sich zum Eigentümer aller Grundstücke und zum Erben aller seiner Untertanen erklärt: das führt immer zur Einstellung des Ackerbaus; und wenn überdies der Fürst sich als Kaufmann betätigt, dann wird aller Gewerbefleiß zerstört.“ 313 Diese Erfahrung hält gegenwärtige Libertäre nicht davon ab, solche Fürstenherrschaft als demokratischer Regierung überlegen zu favorisieren.314 Warum jedoch auf die sich bereits in der Frühmoderne allmählich einschleichende soziale Frage hin auf dem Kontinent durch eine absolutistische Obrigkeit repressiv reagiert und in England durch eine bürgerliche Gesellschaft initiativ agiert wird, bleibt im letzten kontingent. Welche Gesellschaft die freiere ist, bleibt eine derjenigen historischen Fragen, die gar nicht anders als politisch und damit präsentistisch beantwortet werden können.315 b) Das Entstehen von Öffentlichkeit Die englische und die kontinentale Bewältigung der aufziehenden Moderne zeitigen auch weithin komplementäre Formen einer jeweils zunehmenden Öffentlichkeit. Während der Hof auf dem Kontinent wirkmächtigster Ausdruck des Staatlichen als arcanum imperii ist,316 entwickelt sich in England um die beiden

312 Dieser Ablösungsvorgang bzw. diese Abgelöstheit beschreibt genau das, was das Häuptlingstum vom Staat unterscheidet, El Masry 2004, 318; cf. zur Prozesshaftigkeit und Unabgeschlossenheit dieses wissenschaftlichen Vorgangs: Schorn-Schütte 2004, 123. 313 Montesquieu 1951, 180. 314 Hoppe 2003, 70 und passim. 315 Schefczyk 2003, 109. 316 Klassisch: Elias 2002; zu den arcana imperii speziell sind neben Stolleis 1980 und Francisci 1947 die Bonner Dissertation von Hegels 1918 zu nennen.

164

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

Häuser des Parlamentes verstärkt die public opinion mit der ihr eigenen Debattenkultur heraus. Demgegenüber bleibt in Kontinentaleuropa aber in Form des Hofes staatliche Öffentlichkeit als Arena herrschaftlicher Repräsentation erhalten,317 während sich in England in Form der Clubs gesellschaftliche Wirklichkeit als Forum bürgerlicher Autonomie einrichtet.318 Ist auf dem Kontinent alles Staatliche au fond geheim, so ist zugleich alles Gesellschaftliche au fond staatlich. Mit schwindender Privatheit tritt aber nun einmal nicht allein Staatlichkeit, sondern mit ihr auch der Anspruch auf, öffentlich zu sein. Als Rationalisierungsprozess wirkt auch die absolutistische Herrschaft im Wortsinne veröffentlichend. Die Kehrseite der geheimen Haupt- und Staatsaktionen ist das höfische Ritual als Vordringen einer vom Monarchen absorbierten Staatlichkeit, die ihn wiederum nicht nur seiner Privatheit, sondern sogar seiner Intimität beraubt. Das morgendliche lever in Versailles stellt sogar die königliche Notdurft als Staatssache zur Schau.319 Die Ursprünge des Staates liegen in symbolischer Repräsentanz und herrschaftlicher Inszenierung: Der frühmoderne Staat ist weithin ein „theatre state“.320 Besteht die Grundkonzeption des Absolutismus noch in einer weitestmöglichen Trennung von Herrscher und Untertanen, von Staat und Gesellschaft, in welcher der Monarch ganz legitim seinen eigenen Nutzen verfolgt und seine Untertanen auch allein aus diesem Motiv heraus pflegt,321 so lässt sich diese politische Konzeption mit voranschreitender wirtschaftlicher Entwicklung nicht mehr in der ursprünglichen Form relativer Reinheit aufrechterhalten. Die Verschlungenheit des Öffentlichen mit dem Privaten, des Staatlichen mit dem Gesellschaftlichen ist bereits im Absolutismus angelegt und beginnt sich überdeutlich auf wirtschaftlichem Gebiete zu entwickeln: Durch die herrschaftliche Steuerung gewerbefleißiger Zivilität gerät „das Verhältnis von Obrigkeit und Untertan [. . .] in die eigentümliche Ambivalenz von öffentlichem Reglement und privater Initiative.“ 322 Ist das kanonische Recht bereits gefallen und das öffentliche Recht noch im Entstehen, so wird das Römische Recht prominentes Herrschaftsmittel des vermeintlichen „rex legibus solutus“.323 Erst später mutiert das Römische Recht zum Privatrecht, dessen Kern sodann das bürgerliche Recht bilden soll. Aber auch als solches bleibt es vom Staat garantiertes und sanktioniertes, mithin öffentliches Recht. Regulierung bleibt fortan öffentlich und somit dem „öffentlichen Interesse“ als Optimierung des Gesamtnutzens prinzipiell ver-

317

Habermas 1965, 20. Habermas 1965, 45 und 89 f.; Schlenke 1963. 319 Habermas 1965, 20; Reinhard 2002, 93. In Spanien war sogar der Beischlaf des Königs als Staatsakt zeremoniell geregelt. 320 Kunisch 1999, 65; der Terminus geht zurück auf Geertz 1980. 321 Waschkuhn 1998, 147. 322 Habermas 1965, 35. 323 Foucault 2005 (b), 110; Schorn-Schütte 2004, 135; Kantorowicz 1990, 150; Habermas 1965, 88. 318

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

165

pflichtet. Mag das englische Modell einer sich selbst regulierenden Marktwirtschaft uns Heutigen verlockend erscheinen, so hindert es die Physiokraten des 18. Jahrhunderts nicht, die Vorteile der freien Marktwirtschaft mit der Errungenschaft des absolutistischen Fürstenstaates zu verbinden:324 Die Legitimität der vermeintlichen Tautologie gesetzter Gesetze leitet sich aus der Rechtsbindung allen herrschaftlichen Handelns ab: „rex est lex. Lex est rex.“, lautet die bereits aus dem 13. Jahrhundert belegte Maxime absolutistischer Herrschaftsraison, die später durch die Maxime „si veut le roi, si veut la loi.“ ergänzt wird.325 Und da das Rechtsprinzip herrschaftlichen Handelns eine Funktion des Öffentlichkeitsprinzips darstellt, erhoffen sich die Physiokraten in ihren zwar kühnen, aber konsequenten Träumen eine Herrschaft der öffentlichen Meinung, die gerade durch den aufgeklärten Monarchen vermittelt werden soll.326 Die öffentliche Meinung regiert im physiokratischen Idealbild des aufgeklärten Absolutismus nicht selbst und nicht als potestas directa. Da die öffentliche Diskussion jedoch die natürlichen Gesetze als größtmöglichen Grenznutzen je neu ermittelt, veranlasst, ja zwingt sie den aufgeklärten Herrscher, durch das Rechtsprinzip und die damit erforderliche Gesetzesförmigkeit seiner Herrschaftsakte dem solcherart gefundenen bonum commune zu folgen:327 Gesetzesförmigkeit und Öffentlichkeit stellen sich demnach also als eigentliche Überwinder des Gefangenendilemmas dar. Den vorerst wohl letzten Höhepunkt in der Ideengeschichte der öffentlichen Meinung, der jedoch zugleich in gewisser Hinsicht einen Endpunkt des Glaubens daran setzt, dass sich die Vernunft unweigerlich durchsetzen werde, beschreibt Kenneth Arrows „impossibility theorem“: Der Nutzen neuer Information kann nicht vor ihrem Erwerb bewertet werden, weil dies voraussetzt, dass ihr Inhalt bereits bekannt ist: Es handelt sich also um eine Spielart des bereits von Epimenides bezeugten Lügner-Paradoxons, das auch im Brief des Titus überliefert und mathematisch von Goedel hergeleitet worden ist. c) Der Fürstenstaat als Gesetzesstaat? 328 Der so genannte „absolutistische“ Staat bildet, so es ihn denn jemals gegeben hat,329 zugleich Gegensatz und Ursprung des Rechtsstaates:330 Der französische Staat der Bourbonen und Valois baut auf den herrschaftsbegründenden „lois fon324

Habermas 1965, 93. Kantorowicz 1990, 150; Schulze 2004, 69. 326 Habermas 1965, 93. 327 Habermas 1965, 109. 328 Grundlegend: Reinhard 2002, 141 und passim; Pöcker 2003, 617 f.; Schulze 2004, 28. 329 Sogar für den Fall des ludovizianischen Frankreich skeptisch: Schorn-Schütte 2004, 135. 330 Koselleck 1973, 17. 325

166

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

damentales“ des Spätmittelalters auf und amalgamisiert traditionale durch rationale Legitimität.331 Daher kennzeichnet absolutistische Herrschaft auch stets Rezeptionsgeneigheit gegenüber dem Römischen Recht.332 Der Fürstenstaat ist auch in seiner theoretischen Konzeption bei Hobbes bereits Gesetzesstaat.333 Diese „formale Technizität des absolutistischen Gesetzesbegriffes“ erbringt „eine Elastizität, die jede ordnungsgefährdende Differenz zwischen Gewissen und Tat“ vermeidet.334 Absolutistische Herrschaftsorganisation ist im wörtlichen Sinne derart souverän, dass sie dem Individuum Freiheit des Gewissens lassen kann. Wenn jedoch über das Legitimations- und Rationalisierungsmoment hinaus Gesetzesstaatlichkeit auch als nicht rein machttechnische Begrenzung fürstlicher Macht verstanden wird, sondern als Einschränkung fürstlicher Souveränität, so ist dies in Theorie und Praxis unhistorisch und geht an einer historischen Realität vorbei, wo eher die faktische Macht der Stände nachhallend als die leges imperii vorausgreifend die absolute Souveränität des Fürsten relativieren:335 Es wäre unzutreffend, von einer Begrenzung im Bereich des Rechts auf eine allgemeine Begrenzung aller Bereiche durch das Recht zu sprechen.336 Wenn auch kein unmittelbarer Kampf mehr gegen das Recht von Seiten der Herrschenden geführt wird, so mangelt es nicht an Versuchen, sich das Recht „wieder einzuverleiben“:337 Nicht das Recht, sondern der Herr soll herrschen. Dies zu sanktionieren ist auch Zweck gelegentlicher Gnadenakte.338 Aber selbst dort, wo das, was im weiteren Sinne das Recht beinhaltet, nämlich das „Gebot“ herrscht, sind „Obrigkeit und Gebot wechselseitig referenziell.“ 339 Die mit dem sich durchsetzenden Gesetzesstaat einhergehende Abstraktion durch Anonymisierung steigert indes die Sicherheit des Individuums in einer 331 Schorn-Schütte 2004, 135. Die unbefristete Überlebensgarantie des Staates geht aus derjenigen der Dynastie hervor, wie sie in den „lois fonadamentales“ verankert ist, Reinhard 20022002, 105. Cf. zum Unsterblichkeitsgedanken Reinhard 2002, 37 und 112. 332 Mit Blick auf die absolutistischen Absichten der Stuarts: Kern 1949, 57; allgemein: 59. 333 Koselleck 1973, 17. 334 Koselleck 1973, 30. 335 So lässt es sich aber im rechtswissenschaftlichen Bereich etwa bei Kirchhof 2004, 48 und Di Fabio 1998, 18 noch lesen. Dies mag in der Tradition der deutschen Staatsrechtslehre gründen, die sich namentlich von Carl Schmitts geschichtswissenschaftlich inzwischen ebenfalls widerlegter Ineinssetzung von Wirklichkeit und Anspruch des rex legibus solutus absetzen will, wie sie Schmitt 1928, 49 formuliert. 336 Diese Unterscheidung findet sich bereits bei Luhmann 1983, 142, der auch erklärt, tatsächliche Begrenzung erfahre die absolute Macht des Fürsten darin, dass die Gesellschaft zu einfach aufgebaut sei, um ihm positiv konstruktive Gesellschaftsgestaltung zu ermöglichen. 337 Schindler 1992, 64. 338 Freist 2005, 4. 339 Blickle 2003, 195.

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

167

Weise, die die Macht des Monarchen, verglichen mit den zuvor herrschenden Zuständen, eher steigert als mindert.340 Darüber hinaus ist nicht das Fortwirken lokaler tradierter Rechtsnormen zu unterschätzen, die die neue Normform des Gesetzes gelegentlich zu „Gesetze[n], die nicht durchgesetzt werden“, macht.341 Was sich faktisch als zunehmend einschränkend auswirkt, ist freilich die wachsende Macht der öffentlichen Meinung. Von einer Art demokratischer Herrschaft zu sprechen, die auch noch durch die naturrechtlichen Staatsvertragslehren formal sanktioniert sei, ist indes zu weitgehend.342 Im frühmodernen Gesetzesstaat wird der Monarch zugleich partikularisiert und kollektiviert: Der Staat gewinnt an Eigenpersönlichkeit und mithin zunehmend an arbiträrer Macht, wozu freilich auch die sich wandelnden gesellschaftlichen Verhältnisse343 ebenso wie die Entdeckung von Eigengesetzlichkeiten des Bevölkerungscorpus drängen.344 Eine natürliche Person wie der Monarch ist dafür zu sehr über sein Individualinteresse vermittelt dem Gefangenendilemma verhaftet. Er ist für sich betrachtet zunächst auch nur Teil. Gerade aber die Erbmonarchie und die zunächst transzendente, sodann zumindest transtemporale Herrschaftslegitimation ermöglichen, arbiträres Potential herauszubilden und schließlich zu aktualisieren: „Le roi est mort, vive le roi.“ In dem Maße, in dem er sich indes als Staatsmacht erhalten wissen will, kollektiviert ihn dies zunehmend. Genus proximum ist die relativ zunehmende Abstraktion von Regierungsmacht gegenüber Individualinteressen, die eine Rationalisierung kollektiv relevanten Verhaltens ergibt. Der Gesetzesstaat ist diejenige Merkmalsausprägung eines als Maschine begriffenen Staates,345 in dem allein die Form vernünftig, und alles, was sie auf340 Conrad 1958; Strakosch 199; ders., Staatsbildung, 1976, 74. Foucault 2005 sieht den Gesetzesstaat als Herrschaftstaktik, Foucault 2005 (b), 161; cf. auch ibid. 223. 341 So der Titel einer einschlägigen Studie von Schlumbohm. Cf. auch Grawert 1972, 13. 342 So aber Heller 1983, 200. Der Grundsatz, dass Macht der Legitimität bedarf, um zu bestehen, und staatliche Herrschaft sogar des Rechts, Heller 1983, 221, führt bei juristischen Betrachtungen auffallend schnell zur Unterschätzung absolutistischer Fürstenmacht. Dieser Standpunkt Hellers erklärt sich freilich auch aus seiner Zeit heraus, die vom reinen Machtsstaatgedanken eines Carl Schmitt geprägt ist, wo Recht nicht mehr ist, als die „Meßbarkeit aller staatlichen Machtäußerung“, Schmitt, Verfassungslehre, 131, cf. auch 48 f. 343 Zur Grundtendenz zunehmender Eigenpersönlichkeit des neuzeitlichen Staates cf. Foucault 2005 (b), 160; 166 und passim, sowie Reinhard 2002, 122, 138 und 199, der 37 Erbmonarchie als ursächlich für die Verselbstständigung staatlicher Eigenpersönlichkeit ausmacht. 344 Foucault 2006, 156 f. 345 Dieser Gedanke wird schließlich im Jahre 1793 ausdrücklich bei August Ludwig Schlözer formuliert, 1970, 3 f. und in dem einschlägigen Standardwerk von StollbergRilinger 1986 synoptisch und analytisch dargestellt. Zumindest die absolute Monarchie

168

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

rechterhält, namentlich der Untertanengehorsam, moralisch geboten ist:346 Die Frage von Gut und Böse wird unter der Hobbesianischen Zweckrationalität von Sicherheit und Schutz zur Frage von Frieden und Krieg.347 Es ist das allseitige, zumal aber das obrigkeitliche Gebundensein an Gesetze, was aus Leibeigenen und anderen voröffentlichen Abhängigkeitsverhältnissen den Untertanen werden lässt.348 Einerseits ist „rational gesetzte [. . .] Ordnung“ für koordiniertes Zusammenwirken einer „Leistungseinheit“ existentiell notwendig:349 Die gesetzesförmige Herrschaft als „rechtssatzmäßiges Verwaltungshandeln“ 350 ist maßgeblich das, was die frühmoderne Monarchenregierung zum Ursprung des kontinentaleuropäischen Staates macht. Demgegenüber zeigen allerdings die widersprüchlichen und willkürlichen staatlichen Herrschaftsformen, wie sie der Nationalstaat nach 1789 und der totalitäre Staat des 20. Jahrhunderts hervorbringen, dass es sich beim modernen Staat der Fürstenregierung um ein früh gereiftes Kind handelt, das mit dem Gesetzesstaat für Jahrhunderte nicht eingeholte Maßstäbe für Staatlichkeit setzt. Dass „ohne Scheidung von Recht und Unrecht [. . .] keine Rechtfertigung des Staates“ möglich sei,351 ist eine formal wahre, aber inhaltlich leere Aussage. Sie verdeutlicht lediglich, dass Staat anders als vormoderne Rationalisierungsfunktionen binär prozessiert. Aber schon eine materielle Konkretion dahingehend, das „richtige Recht“ lasse „sich weder dadurch bestimmen, daß man von einem als allein werthaft behaupteten Glied ausgeht, noch dadurch, daß man ein überindividuelles Ganzes zum allein wertvollen Ausgangspunkt nimmt,“ 352 stellt nicht nur eine mit der Wirklichkeit nicht vollständig kongruierende Norm dar, sondern läuft dem theoretischen Funktionsprinzip des Staates zumindest in abstracto entgegen. Da sich der Staat zur Überwindung des Gefangenendilemmas verselbständigen muss, ist er grundsätzlich die Agentur dieses „überindividuellen Ganzen“. Dass dies später durch Grundrechte, Demokratie und andere normative Institutionen relativiert wird, ist ebenso offensichtlich wie die Tatsache, dass ein Partikularinteressen vollständig enthobener Staat in der Weltgeschichte bislang nicht zu finden ist. Am Beispiel der Wirtschaftspolitik im Verhältnis zum modernen Staat als Verteilungsstaat wird dies noch zu behandeln sein.353 Staatsraison ist nicht nur im heutigen verengten Sinne „über“ den Individuen angesiedelt oder geht eben in Gestalt „ungesetzlicher“ Hoheitsakte zu Las-

wird auch von Justi als Maschine im Dienste der Staatszwecke angesehen, Reinhard 2002, 123. 346 Koselleck 1973, 25. 347 Koselleck 1973, 20. 348 Blickle 2003, 195. 349 Heller 1983, 103. 350 Pöcker 2003, 624; cf. auch 617. 351 Heller 1983, 247. 352 Heller 1983, 247 f. 353 Cf. Erster Teil B. II. 1. d).

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

169

ten von Individuen, sondern als Beschreibung der Eigenart von an und für sich verstandener Staatlichkeit wird sie auch als „kalte Staatsraison“ apostrophiert. Insofern bleibt der absolute Gesetzesstaat seiner Eigenart nach eine bürgerliche Idee und hat die Neigung, Staat schlechthin zu negieren.354 Verteilungsfähigkeit korreliert mit Arbitrarität: Der Monarch des absolutistischen Hausstaates hingegen konnte schon allein aufgrund seiner eigenen Interessen anderen Eigentümern unter den vereinheitlichenden und verrechtlichten Bedingungen des staatlichen Prinzips seiner Politik nicht allzu viel Vermögen wegsteuern.355 Oder er musste sich ihres Vermögens auf gänzlich andere Weise bemächtigen. Ohne dass eine Bezugnahme auf Heller erkennbar wäre, geht Luhmann daher auch vom umgekehrten Datum aus: Der „konventionelle Legitimitätsbegriff spekuliert“ nach den Maßstäben des von Luhmann zuvor implizit dargestellten Gefangenendilemmas „ein vom individuellen Standpunkt aus irrationales“ Verhalten. Dies führt ihn gerade dazu, eine Entwicklungsrichtung des modernen Rechts im Allgemeinen und des staatlichen Verfahrens im Besonderen von einer rein kollektiven Rationalität hin zu einer stärkeren Berücksichtigung, er spricht von „Notieren“, derjenigen Widersprüchlichkeit zu fordern, in die individuelle zu kollektiver Rationalität geraten kann.356 In dieser Aussage ist der extreme Kollektivitätsbezug des frühmodernen Rechtes und Staates evident. Einmal mehr haben sich die Atavismen gegenwärtiger Staatlichkeit auch im Bereich des Staates als rechtlich codiertem Herrschaftszusammenhang in England mit einer größeren Ursprünglichkeit bewahrt, wo sich der Absolutismus, vermutlich gerade weil er niemals monarchischer Art war, noch in der Gestalt des Parlamentsabsolutismus erhalten hat. Einer der entscheidenden Unterschiede zwischen Rechtsstaat und „rule of law“ zeigt sich darin, dass die „rule of law“ auf die Rechtssatzbezogenheit staatlichen Handelns begrenzt ist.357 Ein materieller Rechtsstaat wäre mit der absoluten Parlamentssouveränität nicht vereinbar.358 Vielmehr soll die Gesetzesform die Macht des Parlaments in ihrer Absolutheit sichern,359 so wie in Kontinentaleuropa für den absolutistischen Monarchen das Gesetz in einer weitgehend noch von Oralität und Brauch gekennzeichneten Gesellschaft dem monarchischen Willen gesteigerte Durchsetzungs- und Beharrungskraft verleihen soll.

354 355 356 357 358 359

Habermas 1965, 94. Hoppe 2003, 184. Luhmann 1983, 2. Amos 1936, 222. Jennings 1947, 41 ff. Jennings 1947, 56; Herzog 1971, 269.

170

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

Allein durch eine Diktatur ließen sich rationale Verteilungs- und Steuerungsmechanismen umsetzen.360 Diese Absage an die freiheitliche Gesellschaftsordnung des Westens wird bereits zeitgenössisch als Widerlegung des seit der Aufklärung entwickelten Prinzips unausweichlicher und im letzten selbsttätiger Vernunft angesehen.361 Arbiträre Erkenntnis allein führt also offensichtlich nicht zu rationaler Steuerung: Der Staat kann also weder allein aufgrund seines arbiträren Potentials existieren noch ohne dieses Potential. d) Der Fürstenstaat: Singularität oder Archetyp? Die Staatsentstehung in Europa als einen kontinuierlichen Prozess der Modernisierung anzusehen wird heute verworfen: Zu groß sind die Diskontinuitäten dieser Entwicklung, zu wenig zentralisiert die Herrschaftsausübung, ergo sind die innovativen Gewalten zu wenig modern, sondern oftmals eher traditionell.362 Gleichwohl ist „Ziel politischen Handelns“ Rationalisierung und Institutionalisierung von Herrschaft und die epochale Entwicklung des Politischen in der Frühen Neuzeit ist damit als Modernisierung ausgewiesen.363 An dieser Qualität als einer Rationalisierung ändert sich auch dann nichts, wenn ihre Träger sich zunehmend als vormoderne Kräfte erweisen:364 Moderne ist eine eher selten revolutionär, sondern eine zumeist evolutionär wirkende Entwicklungskraft. Bisweilen wird Modernisierung in Gestalt vormoderner Rationalisierung von einer zentralen Gewalt erzwungen. Im Alten Reich suspendiert beispielsweise der Reichshofrat ein Verfahren, um den Ernestinern zu ermöglichen, dass sie die Regelung ihrer Erbfolge in der Herrschaft Sachsen-Coburg nach den hergekommenen Hausregeln lösen können, gibt aber zu erkennen, dass er wieder eingreifen wird, wenn diese autonome Regulierung versagt.365 So wenig es dem Verstehen des frühmodernen Staates dient, ihn einfach nur am Maßstab des modernen Staates als defizitäre Spielart desselben zu beschreiben, so wenig ist doch zu übersehen, dass in ihm der moderne Staat zweifelsohne angelegt ist. Die Entwicklung des Staates in der westlichen Neuzeit ist nicht kontinuierlich und determiniert. Völlig 360

Arrow 1950; 1951; 1963. „Two centuries after the flowering of the ambitions of social rationality, in Enlightenment thinking and in the writings of the theorists of the French Revolution, the subject seemed to be inescapably doomed. Social appraisals, welfare economic calculations, and evaluative statistics would have to be, it seemed, inevitably arbitrary or unremediably despotic.“, Sen 2002, 69. 362 Freist 2005, 10. 363 Freist 2005, 14, die freilich die Frage aufwirft, ob aus heutiger Perspektive diese Entwicklungen noch als Fortschritt begriffen werden können; möglicherweise muss zwischen Moderne und Fortschritt wie auch zwischen Fortschrittsbewusstsein und Fortschritt stärker unterschieden werden. 364 Freist 2005, 12. 365 Westphal 2005, 240 f. 361

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

171

beliebig und kontingent ist sie jedoch auch nicht. Es lässt sich angesichts der ebenso differenzierten wie differenzierenden Forschung sagen, dass es zweierlei Zugänge zum Phänomen des frühmodernen Staates gibt: Einen genuin frühneuzeitlichen und einen von der Moderne her blickenden.366 5. Aspekte des Finanzstaates Mit der mittelalterlichen Gleichsetzung von Christus und Fiscus suchte sich der europäische Staat in seinen Anfängen religiös zu legitimieren.367 Bezeichnend ist, dass diese Legitimation über das Vermögen des Staates erfolgte, das, als ganz unmittelbare Persönlichkeit von Staat erachtet, mit diesem identifiziert wurde. Staat oder „stat“ bezeichnet bis in das 17. Jahrhundert hinein Budgetierung und öffentliche Finanzen.368 Der später dominierende Staat des Landesherrn ernährt sich als „camerale“ weitgehend von Einkünften aus wirtschaftlicher Tätigkeit, während die Landstände, das „Contributionale“ den Kern des Steuer- und Schuldenstaates bilden:369 Zumindest nichtmonarchische öffentliche Gewalt ist also von Beginn an maßgeblich auch schuldenfinanziert. Schubartig dehnt sich der Staat nicht zuletzt auch als materiell manifester Zusammenhang sodann durch die Säkularisation der Kirchengüter aus: Diese sich nicht zuletzt am staatlichen Anteil des Bruttosozialproduktes widerspiegelnde Ausdehnung von Staatlichkeit wird auch heute allgemein als Modernisierungsvoraussetzung anerkannt:370 Damit wird die These Amartya Sens bestätigt, Ausdehnung von Staatlichkeit könne nicht in jedem Entwicklungsstadium einer Gesellschaft gleich bewertet werden. Und als im 19. Jahrhundert der Parlamentarismus seine via triumphalis antritt, ist es das Budgetrecht, was sich als sein vornehmstes Reservat erweist und im frühen Bismarckstaat, bereits am Vorabend der Deutschen Einheit für den Deutschen Parlamentarismus zur via dolorosa wird. Aber auch nachdem das Deutsche 366 Exkursiv: Es ist gleichsam eine Ironie der Wissenschaftsgeschichte, dass ausgerechnet diejenige Schule der Geschichtswissenschaft, die historistische auf Leopold von Ranke zurückgehende, zur Vertreterin einer weitgehend von der Perspektive der Moderne aus den frühmodernen Staat erkennenden Richtung geworden ist und sich von Gerhard Oestreich den Vorwurf gefallen lassen musste, dieses Phänomen nicht aus sich selbst heraus zu verstehen. 367 Kantorowicz 1990, 196 ff. Dort findet sich auch eine Aufstellung sämtlicher Quellen, denen dieser Gedanke zu entnehmen ist. Sie reichen bis in das römische Recht zurück. Diese bereits im 13. Jahrhundert wieder belebte Analogie bewertet auch ein heutiger Gelehrter wie Reinhard 2002, 309 als „grotesk“, obwohl er der Besteuerungskompetenz den entscheidenden Anteil an der Souveränität zubilligt. 368 Oestreich 1967, 63 und 66. Zur Etymologie des Wortes in seiner heutigen Bedeutung: Kluge/Mitzka 1989, 693. 369 Ullmann 2005, 16. 370 Lill, R., o.T., A. in: von Reden-Dohna (Hrsg.), Deutschland und Italien im Zeitalter Napoleons Wiesbaden 1979, 101 zit. nach Demel 1993, 96 i. Verb. mit 143.

172

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

Reich gegründet ist, bleibt die parlamentarische Budgetmacht prekär: Was die Macht des Parlaments stärkt, ist die Tatsache, dass aufgrund immer weiter voranschreitender Ausdehnung der Staatsaufgaben der Staat zunehmend finanzierungsabhängig wird. Dies erschwert dem Parlament zugleich im integrativen „sozialen Kaisertum“ des deutschen Reiches, das Budget abzulehnen.371 Bereits das Wort fiscus selbst, der Korb, in dem das kaiserliche Vermögen im Gegensatz zum aerarium rei publicae aufbewahrt wurde, veranschaulicht, warum die Sache bis in die Gegenwart hinein auch privatrechtliche Eigenschaften gewahrt hat.372 Ursprünglich sollen diese privatrechtlichen Eigenschaften nicht zuletzt Untertanen des werdenden Finanzstaates ein „Surrogat für den verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz im Polizeistaat“ an die Hand geben.373 Der Finanzstaat ist durch die selbst hochabstrakten und weiterer Konkretisierung bedürfenden Prinzipien der Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit zugleich einer der entscheidenden Träger der Rationalisierungsfunktion, die vom neuzeitlichen Staat ausgeht.374 Auch wenn diese beiden Grundsätze als Prinzipien normativ rein instrumentelle Aufgaben haben, ist es faktisch dennoch die hierdurch begründete Effizienz staatlicher Aufgabenbewältigung, die den Staat wachsen lässt.375 Die in diesen Prinzipien staatlichen Wirtschaftens begründete Effizienz, die eher durch das Sparsamkeitsprinzip verursacht wird, und die Effektivität, die eher im Wirtschaftlichkeitsprinzip begründet liegt,376 führen regelmäßig auch zum Nebenzweck der Rendite. Inwieweit dieser Zweck normativ intendiert sein darf oder eben nur faktisch intendiert ist, stellt ein vornehmlich juristisches Problem dar, das freilich mit der Entscheidung für den Steuerstaat eindeutig beantwortet ist.377 Es liegt in der Eigenart von Politik, dass sie immer wieder versucht, für sich durch staatliche Ertragswirtschaft zusätzlichen über den Staat vermittel371

Ullmann 2005, 73. Isensee 1968, 164. 373 Isensee 1968, 204. 374 Isensee 1968, 299. „Der Sparsamkeitsgrundsatz besagt, der öffentliche Aufwand zur Errichtung eines bestimmten Zweckes solle so niedrig wie möglich sein. Der Wirtschaftlichkeitsgrundsatz fordert, es solle mit dem geringstmöglichen wirtschaftlichen Aufwand der größtmögliche Erfolg angestrebt werden,“ definiert Isensee 1968, 300 die beiden Maximen. 375 Der Hinweis auf den rein instrumentellen Charakter beider Prinzipien durch einen Juristen wie Isensee 1968, 300 erweist sich durch das, was als Uneigentliches dargestellt wird, als normative Folie vor einer an effizienten Alternativen zum modernen Staat eher armen Realität. 376 Effizienz und Effektivität zu unterscheiden kann als typisches Merkmal gegenwärtiger Staatstheorie erachtet werden. Auch eine im Allgemeinen kategorial fein differenzierende Studie wie diejenige Isensees aus dem Jahre 1968, 312, nimmt diese Unterscheidung noch nicht vor. 377 Isensee 1968, 302. 372

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

173

ten Handlungsspielraum zu schaffen. Der im Kern frühmoderne Finanzstaat steigert als spätmoderner Subsidiärstaat dabei seine Effizienz weiter, indem er das Beschaffungswesen immer konsequenter privatisiert und den Regeln des Wettbewerbes unterstellt.378 Eines der anschaulichsten Beispiele hierfür ist gegenwärtig die Reform der Wehrbeschaffung in Großbritannien379 und den meisten anderen westlichen Staaten. Effizienz eigenen Wirtschaftens, aber auch die bisweilen marktbeherrschende Stellung des spätmodernen Staates als Kunde erfordern zunehmend, dass sich der Staat peinlichst genau auf seine hoheitlichen Handlungs- und Verhaltensweisen dort beschränkt, wo er seine definierten Aufgaben zu erfüllen hat. Er muss sich ansonsten seiner arbiträren und übergeordneten Rolle begeben: Seinen Eigenbedarf zu decken macht den Staat selbst zum Akteur und lässt nicht zu, solches Handeln zu rechtfertigen, indem er sich auf seinen „Einsatzfall“ im Gefangenendilemma beruft.380 Es ist nicht hinreichend, den élan vital einer Gesellschaft allein nach der quantitativen Reduzierung der Staatsquote zu bestimmen. Vielmehr ist entscheidend, wie die in der Staatsquote enthaltenen Mittel alloziert werden. Wirtschaftspolitisch betrachtet kann eine höhere, aber streng wettbewerblich vergebene Staatsquote sogar wachstumsfördernder sein als eine absolut niedrigere Staatsquote, die aber nach nicht betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten vergeben wird. Aber auch staatspolitisch betrachtet sagt die Staatsquote streng genommen nichts unmittelbar darüber aus, ob der Staat selbst effizient funktioniert, sondern zunächst nur, wie viel des Wirtschaftens staatlich ist. Vermutlich ist ein Teil der neueren Staatsskepsis tatsächlich gar nicht auf das Versagen von Staat an sich zurückzuführen, sondern auf ineffizientes Zusammenwirken von Staat und Privatwirtschaft. Wenn es aber aufgrund ihrer wirtschaftlichen Macht privatwirtschaftlichen Unternehmen oder entsprechenden Verbänden gelingt, staatliche Auftragsvergaben effizienzmindernd zu beeinflussen, so zeugt dies gar von Marktversagen. Ist die dieser Untersuchung allgemein zugrunde liegende Frage, ob Markt oder Staat effizienter und effektiver arbeiten, global nicht zu beantworten, so lässt sich gleichwohl erkennen, dass der Staat keinesfalls seiner arbiträren Stellung verlustig gehen darf, soll er eine ernstzunehmende Alternative gegenüber dem Markt bilden. Als weiterer Rationalisierungskatalysator wird gegenwärtig das Äquivalenzprinzip angesehen, weil die Notwendigkeit einer Abgabe damit gegenüber dem 378 Isensee 1968, 303, der nicht nur diese Entwicklung durch Analyse der verfassungsrechtlichen Ausgangslage vorwegnimmt, sondern auch deren Gefahren aufzeigt, ibid. 303 f. 379 Cf. FAZ vom 18. Februar 2005, 17. Im deutschen Rechtskreis ist die Frage, inwieweit ausschließliche Sachbezogenheit staatlicher Beschaffung ausschlaggebend ist, hingegen als solche umstritten, wie zuletzt Nina Meyer 2002 untersucht. 380 Forsthoff 1963, 29 hat dieses Problem des „introvertierten Rechtsstaates“ bereits in Zeiten der noch klassischen Moderne am Beispiel der Bauwirtschaft erklärt.

174

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

Abgabenzahler überzeugender wird.381 Durch dieses Prinzip begründete Optimierungswirkungen der Kollektivgütergewährleistung sind als solche kaum durch andere gesellschaftliche Kräfte zu erbringen. Der einzige reale Konkurrent sind Religionsgemeinschaften, da Voraussetzung für ein solches Handlungsprinzip Eigenzweckfreiheit ist, nicht unbedingt Selbstzweckfreiheit. Nicht auszuschließen ist indes, dass outputorientierte Budgetgestaltung, vermittels derer das Haushaltsgesetz auch die Kosten einzelner staatlicher Leistungen nachzuvollziehen ermöglicht,382 den Finanzstaat gegenwärtig einen Pfad einschlagen lässt, an dessen Ende separierte Haushaltsgesetze stehen. Dies ist namentlich im Bereich der schon immer relativ aufwendigen Militärfinanzierung etwa aus dem Alten Rom in Gestalt der aerarium militare oder der KuK-Monarchie in Gestalt des Aeternates bekannt, auch wenn es in diesen historischen Fällen eher der Stabilität militärischer Schlagkraft als ökonomischer Staatsfinanzierung gedient haben dürfte. Aber es liegt in der Eigenart ökonomischer Optimierung, dass diese in irgendeiner Form auch in sachliche Optimierung umschlägt. Solch eine Entwicklung würde einerseits Staatsfinanzierung sichern und das in der Bundesrepublik Deutschland seit den 1960er Jahren mit dem Konzept der „mittelfristigen Finanzplanung“ verfolgte Ziel der Nachhaltigkeit staatlichen Haushaltens begünstigen, andererseits würde die Einheit des Staates weiteren Belastungsproben ausgesetzt.383 Strikte Trennung von Staatseinnahmen und -ausgaben liegt jedoch auch der volkswirtschaftlichen Forderung zugrunde, der Verwendung von Staatsausgaben einerseits von der Frage der Steuerinzidenz andererseits zu trennen, wie sie schon von einem unorthodoxen Sozialliberalen wie Wicksel postuliert wird.384 Damit wird jedoch ein entscheidender Zivilisationsfortschritt, der für den modernen Staat gleichermaßen signifikant wie konstitutiv ist, teilweise wieder aufgehoben, die zentrale Kassenführung, wie sie sich erst im 18. Jahrhundert durchgesetzt hat.385 Durch das Äquivalenzprinzip mag sich die uns heute noch widersprüchlich anmutende Konstellation einstellen, tatsächlich Gesamtnutzen zu optimieren und den Staat zugleich zu partikularisieren: Dies dürfte freilich das proprium nichtmarktlichen Wettbewerbs darstellen, durch den überhaupt erst eine wenn auch unvollkommene Preisbildung möglich wird. Es ist dann weniger die Neutralität als vielmehr die Erzwingungsfähigkeit des Staates, die das Gefangenendilemma überwindet, diese Aufhebung aber wiederum auf den Teil beschränkt, der übrig 381

Schmehl 2004, 58. Schmehl 2004, 237. 383 Zum historischen Hintergrund der „MifriFi“: Günther 2004, 301. 384 Wicksel 1969 ND, 7. 385 Ullmann 2005, 17 f. Zu rudimentären Formen und Vorläufern, die sich bereits an der vom Mittelalter zur Neuzeit gelegenen Schwelle ausmachen lassen: Moraw 1983, 136 f. 382

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

175

bleibt, wenn die Differenz der unterschiedlichen Individualnutzenniveaus abgezogen wird, so dass Demotivation eingedämmt wird. Das Äquivalenzprinzip würde die Einnahmen mit den Ausgaben, mithin Abgaben- mit Haushaltsrecht verbinden. Damit würde eine Verbindung zwischen Finanzierung von Steuerung mit Steuerung selbst einhergehen:386 Die zunehmende politische Aktualisierung des Äquivalenzprinzips ist Ausdruck von Steuerungsskepsis eines eben auch finanziell unabhängigen und nahezu allmächtigen Staates. Grundsätzlich anders ist das libertäre Staatskonzept eines auf wie auch immer zu definierende Hoheitsaufgaben reduzierten Staates. Konsequent weitergedacht ist demnach letztlich jegliche Steuerstaatlichkeit illegitim. „Staatsausgaben, wie wir sie heute nennen, [wurden] als die Ausgaben des Königs betrachtet, die er aufgrund seiner Position auf sich nahm. Mit seiner Position nahm er gleichzeitig ein Besitztum (im modernen Sinn des Wortes) an; d. h., er fand sich ausgestattet mit Eigentumsrechten, die ein ,für den Bedarf des Königs‘ angemessenes Einkommen sicherten. Es ist ungefähr so, als würde man von einer Regierung in unserer Zeit erwarten, ihre normalen Ausgaben aus dem Einkommen der in Staatsbesitz befindlichen Industrie zu bestreiten.“ 387

Da jedoch der Staat zumeist kein optimaler Wirtschafter ist, wie die libertäre Staatskritik selbst vernehmen lässt,388 ist der Staat gemäß dem modernen Subsidiaritätsdenken und des Äquivalenzprinzips gehalten, gewinnbringende Wirtschaftsunternehmen zu privatisieren, so dass er gezwungen ist, sich von Steuern zu unterhalten. Vermutlich ist daher ein Steuerstaat der an den Gewinnen einer konsequent privatisierten Wirtschaft über Steuern beteiligt ist, effizienter und volkswirtschaftlich günstiger als ein Rentenstaat.389 Demonetarisierung von Wirtschaftsgütern durch die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips auf den Sozialstaat führt indessen zu einer ersten relativ großflächigen Begrenzung und teilweise sogar Zurückdrängung des Finanzstaates.390 Zwar bleibt Geld Maßstab der Bewertung von Leistung, aber im Bereich des Sozialen verselbstständigt sich zunehmend dessen Einlösbarkeit in Arbeitskraft, was nicht zuletzt in den vergleichsweise geringen Rationalisierungspotentialen von „sozialer Arbeit“ liegt. Bei aller Professionalisierung und Formalisierung bleibt diese letztlich Menschenliebe. Diese ist aber nur höchst eingeschränkt käuflich. Aber auch die (potentiellen) Leistungsempfänger bedürfen zum einen Leistungen, die sich nicht mit Geld und Recht allein befriedigen lassen, zum anderen scheint mit 386

Schmehl 2004, 220. Jouvenel 1963, 178, zit. nach Hoppe 2003, 78. 388 Hoppe 2003, 78, Anm. 21. 389 Dem entkommt der Libertarismus nur, indem er sich konsequent zum Anarchokapitalismus entwickelt, der jegliche Notwendigkeit von Staat leugnet. Prominente Vertreter ziehen schließlich auch diese Konsequenz, Hoppe 2003 passim, v. a. 38. 390 Schmehl 2004, 210. 387

176

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

diesen beiden Steuerungsmedien Verhalten nicht immer so wirksam und genau lenkbar zu sein wie in klassischen Aufgabenfeldern des Staates.391 Namentlich Webers Konzeption des modernen Staates als geschlossenem bürokratischen Gehäuse, das nur über Politik und Wahlen vermittelt vom Bürger beeinflusst werden kann, wird zunehmend in Zweifel gezogen:392 Formale werde einerseits durch materiale Rationalität abgelöst. Andererseits erhalte der prozedurale Aspekt von Steuerung zunehmend Bedeutung.393 a) Der Steuerstaat Auch wenn die Steuer als eine Zwangsabgabe selbstverständlich eines der deutlichsten und eindeutigen Beispiele staatlicher Überwindung des Trittbrettfahrerproblems darstellt, wie es im Gefangenendilemma angelegt ist,394 ist sie zugleich eine der bedeutendsten Ursachen für Dilemmata eben dieses Typs. Wird im Reich zunächst monarchische Finanzverwaltung also beinahe ausschließlich als Staat bezeichnet, so ist dementsprechend die Besteuerungskompetenz ja schon zu Beginn der Untersuchung als zentrales Merkmal von Staat beschrieben worden.395 Der moderne Steuerstaat im spezifischen und strengen Sinne ist ein Staat, der sich ausschließlich über Steuern finanzieren darf.396 Daneben sind allein zweckgebundene Abgaben zulässig, die jedoch nur dem staatlichen Glied zukommen dürfen, dessen abgabenbegründende Ausgaben auszugleichen sind.397 Der Erwerbszweck ist im Steuerstaat daher außerhalb der eigentlichen Steuererhebung selbst, wenn überhaupt, dann nur als Nebenzweck zulässig.398 Freilich sieht sich der Steuerstaat nahezu regelmäßig davon in Frage gestellt, dass staatliche Wirtschaftsunternehmungen, die Verteilungs- und Steuerungsaufgaben mit erwerbsträchtiger Nebenwirkung wahrnehmen, zu politisch eingeplanten Erwerbsquellen degenerieren, was gegebenenfalls zum Haupt- oder gar zum Allein-

391 Treutner 1998, 22. Treutner geht in seiner Studie zum kooperativen Rechtsstaat beispielsweise von der Annahme aus, Akteure seien niemals restlos ausgeliefert, Treutner 1998, 16 und 21. Wie weit jener Rest an Handlungsspielräumen geht, wird im Einzelfall höchst unterschiedlich einzuschätzen sein. Zutreffend ist jedoch, dass je komplizierter staatliche Steuerungsziele werden, desto kooperativer staatliche Steuerungsmodi werden, was auch Treutner 1998, 48 ausdrücklich feststellt. 392 Treutner 1998, 19, der auch eine Übersicht bietet, wo und wie sich staatliches Handeln in den beiden letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts gewandelt habe, Treutner 1998, 18. 393 Treutner 1998, 56. 394 Poundstone 1993, 127. 395 Ehmke 1976, 246 mit beispielhaften Quellen. 396 Schulze 2004, 29. Steuer als Regelfinanzierung einzurichten unterscheidet ihn namentlich vom Staate Friedrichs II. von Hohenstaufen, cf. Prolog III. 397 Vogel 1988, § 87, 43. 398 Isensee 1988, § 57, 172.

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

177

zweck werden kann. Dies kann dann freilich nicht zuletzt darin gründen, dass der Staat auch als Unternehmer bisweilen erfolgreicher ist als sein Ruf: Dies vermag vielleicht zu widerlegen, dass der Steuerstaat für die Gesellschaft der schonendste Modus der Staatsfinanzierung ist, auch wenn er gewinnträchtige Güterbewirtschaftung regelmäßig überhaupt erst privatwirtschaftlichen Produzenten zugänglich macht.399 aa) Abgrenzungsprobleme Nicht zuletzt vor dem historischen Hintergrund, dass ein reiner Steuerstaat niemals bestanden hat, liegt es nahe, wenn das Steuerstaatsprinzip zunehmend relativ definiert wird.400 Im frühmodernen Staat sind die Grenzen zwischen wirtschaftlicher Erwerbstätigkeit und abschöpfender Steuereinnahme zudem fließend, teilweise noch vormoderne Einnahmeformen wie Kameralgefälle, Domanialgefälle, Akzisen und andere Einnahmen gestalten die Finanzierung des frühmodernen Anstaltsstaates unübersichtlich und zeigen, dass nicht zuletzt angesichts seiner Allkompetenz und Allgegenwart die Einnahmen eines institutionellen Systems wie des Staates überhaupt nicht vollkommen unumstritten und unzweifelhaft definiert werden können.401 Zumal in Deutschland wird der moderne Staat erst nach dem Ersten Weltkrieg Steuerstaat. Der Begriff kommt zunächst als finanzwissenschaftlicher Terminus angesichts des geringen Anteils auf, den reine Steuern an der Staatsfinanzierung bis weit in das 20. Jahrhundert hinein haben.402 Diese zeitgenössische Einschätzung ist freilich aus der geschichtswissenschaftlichen Gesamtschau nicht unumstritten: Je nach Zuordnung dürfte bereits gegen Ende des Ancien Regime mehr als die Hälfte der staatlichen Einnahmen steuerlicher Art gewesen sein.403 Dem folgt erst sehr viel später das rechtliche Konzept des Steuerstaates.404 399 Kirchhof 1988, § 221, 188. Diese These würde der bereits geäußerten widersprechen, wonach der Steuerstaat effizienter als der Rentenstaat sei: Die Frage wird nicht allgemeingültig zu beantworten sein. 400 Schmehl 2004, 68 und 70, der drei mögliche Interpretationen dieses Prinzips anführt: (1) „Nicht steuerliche Abgaben“ könnten „generell einer inhaltlich begründeten Rechtfertigung gegenüber einem prinzipiellen Vorrang von Steuern bedürfen.“ (2) Es könnte eine „quantitative Erfordernis einer Mindestquote von Steuereinnahmen im Verhältnis zu anderen Einnahmen bestehen.“ (3) Es könnte „eine ausschließliche Anwendung von Steuern für bestimmte Sachbereiche in Abhängigkeit von den Eigenschaften der zu finanzierenden Aufgabe verlangen“, Schmehl 2004, 70. 401 Ullmann 2005, 16 und 19. Der Begriff geht indes bereits auf das Jahr 1895 zurück, als Albert Schäffle diesen Terminus prägte, Jouvenel 1963, 178, zit. nach Hoppe 2003, 7 und 107. 402 Schumpeter, Die Krise des Steuerstaates; Isensee, Steuerstaat als Staatsform, in: Stöder/Thieme 1977, 409. 403 Ullmann 2005, 19. 404 Schmehl 2004, 86. Ullmann 2005.

178

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

In Deutschland wird der Staat bis zum Ersten Weltkrieg weitgehend durch oftmals monopolistische Unternehmen finanziert, namentlich durch Eisenbahnen.405 Diese Form der Staatsfinanzierung wird aber überhaupt erst durch die industrielle Revolution möglich und ist damit eine Spielart ausschließlich des modernen Staates.406 Sodann eignet sich der Staat aber technischen Fortschritt geradezu an. Nicht nur die Zinsgewinne öffentlicher Bankinstitute, sondern namentlich die lebhafte politische Debatte, die über den Verkauf solcher Institute geführt wird, zeigt, dass die Wirklichkeit freilich nicht ausschließlich vom Konzept des Steuerstaates geleitet wird. Vielmehr werden nichtsteuerliche Einnahmequellen des Staates gerne als „Tafelsilber“ bezeichnet, dessen Verkauf wiederum politisch auch nicht primär dadurch motiviert ist, den Staat als Steuerstaat und als subsidiären institutionellen Zusammenhang zu rekonstruieren, sondern schlicht der Finanznot der öffentlichen Hand gehorcht. Zunehmend wird jedoch auch die Zweckungebundenheit der Steuern in Frage gestellt. In den USA werden Einnahmen und Ausgaben insoweit angenähert, als die Einnahmegesetzgebung Teil der Haushaltsgesetzgebung und daher Teil des Budgetprozesses darstellt.407 Allgemein ist in der öffentlichen Meinung wie der staatlichen Praxis auch in Kontinentaleuropa eine Neigung zu beobachten, „Näheverhältnisse“ bestimmter Einnahmen zu bestimmten Ausgaben herzustellen und den Grundsatz der Zweckungebundenheit einzuschränken. Damit sollen im Sinne des Äquivalenzprinzips, „im Staatsfinanzierungssystem Strukturen einer auf das privat-öffentliche Leistungsverhältnis bezogenen Verantwortung zu erzeugen“,408 individuell nachvollziehbare Privatleistungen zur Staatsfinanzierung konkreten Staatsleistungen zugeordnet werden können:409 Partikularisierung des Staates und Forderungen, an staatlicher Steuerung zu partizipieren, werden sich kaum aufhalten lassen. Es ist die Demokratie, die als Steuerungsprinzip am stärksten durch das Äquivalenzprinzip eingeschränkt wird. Was darüber an Rationalisierungskatalyse staatlicher Zwangsgewalt verloren geht, muss die Effizienzsteigerung der Staatsfinanzierung durch das Äquivalenzprinzip erwirtschaften, soll das Gesamtniveau staatlicher Effizienz gewahrt bleiben. Die Überschaubarkeit vermindert staatlichen Zwang, indem es diesen auf die Abhängigkeit der staatlichen Monopolleistungen beschränkt, die der Staat wiederum allein erbringen darf, wenn eine kostengünstigere Bereitstellung nicht möglich ist. Faktisch führt dies zu einem im weitesten Sinne zensitären Steuerungsmodus.

405 406 407 408 409

Ullmann 2005, 38; Spoerer 2004, 72 f. und 125 ff. El Masry 2004, 22. Schmehl 2004, 221. Schmehl 2004. 262. Schmehl 2002, passim, v. a. 222 und 237.

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

179

bb) Gegenwärtige Staatsausdehnung durch heutige Formen von Steuerstaatlichkeit Steuerstaatlichkeit bedeutet jedoch nicht nur Einschränkung staatlichen Handlungsspielraums: Geld stellt aufgrund seines hohen Abstraktionsgrades ein Gut dar, das für den Staat eine „Blankettbefähigung zu finanzwirtschaftlichem Handeln“ ist: Damit kann er seine Rolle als arbiträrer Optimierer des Gesamtnutzens über reines Regeln und Beaufsichtigen hinaus wahrnehmen, in dem er selbst aktiv das Wirtschaftsleben unmittelbar materiell mitgestalten und sich an ihm sogar beteiligen kann.410 In dieser Möglichkeit liegt freilich auch die Gefahr nahezu selbstläufiger Staatsausdehnung begründet. Im liberalen Rechtsstaat als Schutzinstitution der Obrigkeitsunterworfenen obsolet geworden, mutiert die Privatrechtsautonomie des Fiskus zum Einfallstor des Politischen. Was den Staat zurücknehmen soll, wird für die Politik Anreiz, ihn auszudehnen. Dies ändert freilich nichts an der Gemeinwohlverpflichtung allen staatlichen Handelns, was auch Ziel und Zweck seines privatrechtlichen Handelns betrifft.411 Gegenstand des Gemeinwohls ist dabei die Gesamtheit der Individuen und nicht der Staat als Eigenpersönlichkeit, durch den gleichsam hegelianisch das Gemeinwohl verkörpert wird. Gerade dieser konkrete Gemeinwohlbegriff steigert die Wirksamkeit des Staates als legitimer Kraft, das Gefangenendilemma zu bewältigen: „Zwischen Einzel- und Gemeinwohl besteht also kein wesenhaft notwendiger Widerstreit.“ 412 Mit zunehmender Staatsausdehnung, exakter werdender wirtschaftswissenschaftlicher Analyse und allgemeiner Planung haben sich die nicht intendierten Nebenfolgen zunächst zu in Kauf genommenen Nebenfolgen, vor allem gegen Ende des 20. Jahrhunderts aber zu staatlich oftmals nach wie vor ungewollten, aber wissentlich stets vollbewussten Hauptproblemen entwickelt: Dort wo und in der Art, wie der Fiskus Mittelallokation und Bedarfsdeckung betreibt, lenkt er Wirtschaft und prägt Gesellschaft.413 Teilweise kann diese ungewollte Ausdehnung staatlicher Steuerung durch verschärfte und erweiterte öffentliche Ausschreibung auf den ursprünglichen staatlichen Bedarfszweck insoweit begrenzt werden, als allein Effizienz und Wirtschaftlichkeit für staatliches Entscheiden leitend sind. In anderen Fällen ist jedoch eine solche Hegung der lenkenden Effekte nicht ohne weiteres möglich: Relevant wird dies vor allem bei Personalabund -umbau im öffentlichen Dienst. Dieses Problem aktualisiert sich im Hinblick auf die Streitkräfte und die an den Staatsgrenzen stationierten Kräfte, nachdem 410

Kirchhof 1988, § 88, 7. Isensee 1968, 209. 412 Isensee 1968, 209 [Kursive im Original]. 413 Diese Störung freilich als Zweck gezielt anzustreben verdeckt nur die Aporie, nicht-intendierten Handlungsfolgen keine rationale Bewältigung gegenüberstellen zu können. 411

180

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

mit dem Ende von „Kaltem Krieg“ und Zunahme supra- und internationaler Vernetzung schlagartig die Grenzen in ihrer Bedeutung gemindert sind. Dem Grundgedanken des Steuerstaates läuft aber auch zuwider, durch die Abschreibung von Steuern den Steuerpflichtigen zu binden, Kapital in einem Umfang, der über dem eingesparten Kapital, also über der gesamten Steuersumme liegt, zu einem vorgegebenen Zweck in ein vom Staat bestimmtes Gut zu investieren. Insoweit stellen Vereinfachungen von Steuerrecht nicht nur eine Effizienzsteigerung des eigentlichen Einnahmevorgangs dar, sondern bauen auch Hemmnisse natürlichen Investitionsverhaltens in der Gesellschaft ab.414 Die Tendenz zu Planungsgesetzen und finalprogrammierten Normen lässt finanzielle Anreize aber zunehmend an Bedeutung gewinnen,415 deren rationellste Form zumeist die steuerliche Absetzbarkeit darstellt. Diese Staatsausdehnung definiert als zunehmende Staatstätigkeit und staatliche Durchdringung bislang staatlich unberührter Bereiche der Gesellschaft, muss jedoch anscheinend nicht zwingend dazu führen, die Bevölkerung immer höher zu belasten, zumal dieser bereits 1863 von Adolph Wagner als „Gesetz“ formulierte Zusammenhang aufgrund neuerer Forschungen bezweifelt werden muss.416 Der Zusammenhang von Steuer- und Staatsquote, die bis heute als entscheidender und offensichtlichster Ausweis von Staatsausdehnung erachtet wird, wird in Deutschland bereits seit der Gründung des Kaiserreiches erörtert,417 aber ist heute unklarer denn je: Die finanzhistorische Forschung hat hinsichtlich der langfristigen Entwicklung dieser beiden Werte höchst Widersprüchliches zutage gefördert. Andic und Veverka zufolge steigt im Deutschen Reich die Staatsquote von 7,5% im Jahre 1871 auf 16,2% im Jahre 1901 an, bleibt sodann aber bis 1914 relativ konstant und bewegt sich um einen Wert von 15% herum.418 Ein entsprechender Anstieg ist in England rund ein Jahrhundert zuvor festzustellen, das wiederum Frankreich nachfolgt.419 Hiermit scheint das Wagnersche Gesetz bestätigt zu werden, wie dies zuvor auch durch eine Untersuchung der britischen Entwicklung im 19. Jahrhundert geschehen ist.420 Demgegenüber sehen Recktenwald und Weitzel die Staatsquote in Deutschland vom Wiener Kongress bis zum

414 Beispiele für die manipulierende Wirkung auf das Investitionsverhalten Steuerpflichtiger bietet erschöpfend Kirchhof 1988, § 221, 193, der resümierend eine „Verfremdung freiheitlichen Entscheidens“ ausmacht und „Besteuerung nach wirtschaftlicher Belastbarkeit, statt nach formal-rechtlicher Geschicklichkeit“ fordert. 415 Diese Entwicklung prognostiziert bereits im Jahre 1971 Herzog 1971, 330. 416 Achilles 1991, 34 f.; Wagners „Gesetz“ wurde zunächst von ihm selbst als deskriptiver Satz formuliert bei Wagner 1863, 1 ff., als „Gesetz“ sodann bei Wagner 1879. 417 Ullmann 2005, 81. 418 Andic/Veverka 1964, 183. 419 Reinhard 2002, 324. 420 Peacock/Wiseman 1961.

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

181

Ersten Weltkrieg sinken, bis 1881 sogar vergleichsweise stark.421 Die Steuerquote von 1872 bis 1891 demgegenüber sieht Recktenwald hingegen von 6% auf 8% ansteigen und hernach bis 1913 auf diesem Niveau als stationär:422 Wagners „Gesetz“ galt also zur Zeit seiner Entdeckung nicht, sondern läuft der eigenen Epoche gerade zuwider. Somit kann auch nicht seine Gültigkeit für die Zeit vom Ersten Weltkrieg bis zum Beginn dieser zitierten, durchaus aus Gegenwartsinteresse genährten Forschungen historisch bestätigt werden.423 Die rezente Forschung sieht die Staatsquote in Deutschland für das 19. Jahrhundert um 6% herum schwanken.424 Eine wissenschaftliche Auswertung dieser Befunde steht aus.425 Festzuhalten bleibt zum einen, dass die Ausdehnung von Staatstätigkeit bzw. von Staatlichkeit also solcher offensichtlich nicht über die Staatsquote als stetig nachzuweisen ist und möglicherweise auch von längeren Phasen des Rückgangs geprägt wird. Ein Zusammenhang zwischen Staatsquote und Steuerquote ist zum anderen nicht festzustellen. cc) Steuerstaatlichkeit als historisches Phänomen Steuerstaatlichkeit ermöglicht aber nicht nur ökonomisches Aktivwerden des Staates als unabhängigem Dritten, sondern sie wahrt diese Neutralität auch: Steuern sichern staatliche Unabhängigkeit ebenso wie individuelle Gleichheit, indem sie als gesetzesförmig ausgestaltete Einnahmequelle, ohne Ansehen der Person erhoben werden: Sie sind generell und abstrakt. Eine rationalisierende Funktion wohnt ihnen aber auch insofern inne, als sie vom Ausgabeverhalten des Staates und mithin auch von der aktuellen Tagespolitik a priori unabhängig sind.426 Zwar weiß die Politik bekanntlich akuten Finanzbedarf relativ schnell durch Gesetzesänderungen oder auch durch Effizienzsteigerungen des Steuerapparates zu lindern, aber gerade dieses Erfordernis erweist sich, zumal mit vormoderner Herrschaftsfinanzierung verglichen, sowohl als rationeller wie auch, allgemeiner gefasst, als rationaler und, spezifischer betrachtet, als berechenbarer: Die Finanzierung des Staates unterliegt durch diese Gesetzesgebundenheit der Hoheit des Parlamentes. Der Staat selbst ist aber auch nicht mehr auf eigenen Erwerb und die damit einhergehenden Abhängigkeiten, namentlich auf die Vertragstreue anderer angewiesen, sondern kann sein Handeln davon unabhängig einrichten. Insofern erweist sich die vollständige und tatsächliche Privatisierung vormals staatlicher Unternehmen als ein Gewinn des Staates an Unabhängigkeit, der für die gesamte Gesellschaft einen Rationalisierungsgewinn mit sich bringt. 421 422 423 424 425 426

Spoerer 2004, 28. Recktenwald 1977, 733. Spoerer 2004, 28. Ambrosius 2001. Spoerer 2004, 29. Kirchhof 1988, § 88, 6.

182

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

Obwohl Steuern zu erheben seit Ludwig XI., namentlich in Form der taille und der gabelle,427 als vornehmste Kompetenz des Staates zu erachten ist, ja der Steuerstaat den Staat als solchen schlechthin konstituiert, kennt die Frühe Neuzeit auch das Phänomen des Steuern erhebenden Unternehmens, das Steuern nicht nur eintreibt, wie dies bereits aus der Antike bekannt ist, sondern selbst auch erhebt: Die bereits erwähnte britische East-India-Company unterhält auf diese Weise eine gleichsam parastaatliche Infrastruktur, die freilich vielfach die freigewordene Nische des vormaligen Großmogulreiches besetzt und somit auf eine Tradition der Staatlichkeit zurückgreifen kann. Über ihre ökonomische Funktion hinaus fungiert sie politisch als langfristiger Wegbereiter der staatlichen britischen Kolonialherrschaft. Diese präsentiert sich anders als im Mutterland in dieser gleichsam zwischen Innen- und Außenpolitik changierenden Sphäre ausdrücklich als „state“. Als Katalysator europäischer Steuerstaatlichkeit in der frühen Neuzeit wird freilich immer noch der außenpolitische Druck angesehen, der von einer sich immer schneller modernisierenden Waffentechnik verursacht wird.428 Archetyp des modernen Steuerstaates ist dabei Frankreich, wo neben der Einkommensteuer für Adelige, der taille, die auch unmittelbares Repressions- und Disziplinierungsinstrument des Königs war, auch bereits im ausgehenden Mittelalter mit der Salzsteuer, der gabelle, eine indirekte staatliche Steuer institutionalisiert wird. Freilich speist sich zu seinem Beginn selbst der moderne Staat noch vornehmlich aus Erwerbswirtschaft. Dies liegt vornehmlich darin begründet, dass die für den Absolutismus weithin kennzeichnende Identität von Staat und Monarchen sich nicht zuletzt in direktem dynastischen Grundbesitz weiter Teile des Herrschaftsgebietes konkretisiert. Die Metamorphose von der Lehns- und Grundherrschaft zum modernen Territorialstaat beansprucht ungefähr drei Jahrhunderte, bis sie abgeschlossen ist. Noch die Kameralistik des 18. Jahrhunderts geht davon aus, der Staat sei auf Domänen und Regalien „fundiret“.429 Als Domänen werden Einnahmen aus staatlichem Eigengut, also aus dem monarchischen Eigentum, bezeichnet, wohingegen Steuern staatliche Einnahmen aus Eigentum der Untertanen sind.430 Letztlich sind die Übergänge von der mittelalterlichen Lehnsund der Grundherrschaft zum modernen Staat derart fließend, dass es fraglich ist, ob vermeintlich erwerbswirtschaftliche Finanzierungsformen, namentlich Regalien, der modernen Steuer als Gegensatz konfrontiert werden können. Daher ist der Terminus des „Finanzstaates“ als überwölbendes Drittes, das für den frühmodernen Staat kennzeichnend sei, von der Forschung geprägt worden.431 427 428 429 430 431

Cf. infra. Rothermund 2004, 28; Schorn-Schütte 2004, 127. Justi 1766/1969, 347. Reinhard 2002, 310. Nach Reinhard 2002, 310.

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

183

Wenn das klassische Staatsrecht kontinentaleuropäischen Zuschnitts Regalien als Gegenteil von Allkompetenz ansieht, wie sie den modernen Staat kennzeichnet, so erweist sich dies als historisch unzureichend und überschießend systematisierend. Damit ist die Unterteilung aber auch kategorial unzutreffend. Denn offensichtlich finanzierten sich Staaten mit dem Anspruch und der weitgehenden Fähigkeit, allkompetent zu sein, durchaus mit dem überkommenen Mittel der Regalie. Die Allkompetenz, begrifflich zwischen Normativität und Faktizität changierend, wird daher mittlerweile auch als Dogma des Staatsrechtes bezeichnet.432 Als ideengeschichtliches Konzept ist sie freilich für die Entwicklung des modernen Staates im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung instruktiv und harrt eingehenderer Erforschung. dd) Ratio des modernen Steuerstaates Auch der gegenwärtige Steuerstaat ist noch in den Ausgangsbedingungen frühmoderner Marktwirtschaft insofern befangen, als er Steuerlast nicht Personen, sondern Ertragsquellen zuordnet: Damit ist der Steuerstaat in seinem Grundprinzip daraufhin angelegt, die längerfristigen Erträge von Vermögen zu besteuern und nicht Arbeitskraft als einen solchen längerfristigen Vermögensertrag anzusehen. Dass Erwerb aus Arbeit aber im fortgeschrittenen Rechts- und Sozialstaat auch zu längerfristigem Ertrag führt und Arbeitskraft etwa in Form verstetigter „Stellen“ eine Art von Vermögen darstellt, das namentlich in Planbarkeit resultiert, kann der seiner Entstehung nach vermögensorientierte Steuerstaat nicht mehr angemessen berücksichtigen.433 Die zentralisierende Eigenschaft von Staatlichkeit wirkt sich freilich auch im föderalen Staat besonders deutlich beim Steuerwesen aus. Im sozialen Bundesstaat sind es nämlich die Einheit und Einheitlichkeit des Staates, die erhebliche Ungleichheiten nicht zu tolerieren zulassen.434 In den USA hingegen ist der steuerstaatliche Föderalismus deutlich kompetiver, da dort der Gedanke der Nation ohnehin stärker einend und solidarisierend wirkt. Der Funktion des modernen Steuerstaates liegt „so etwas wie die List verfassungsstaatlicher Vernunft“ zugrunde.435 Der Steuerstaat ist ein Erwartungsstaat: Er kann seine Bürger nicht zwingen, Steueraufkommen zu erwirtschaften, sondern nur an deren wirtschaftlichem Erfolg teilhaben. Dieser Mechanismus verknüpft die Optimierung von Individual- mit Gesamtnutzen, indem er das Gemeinwohl zu einer vom Eigennutz abgeleiteten Funktion werden lässt. Unverständnis für die kategoriale Heterogenität von Eigennutz und Selbstlosigkeit, 432 433 434 435

Etwa bei Isensee 1988, § 57, 151. Kirchhof 1988, § 221, 200. Hanebeck 2004, 266. Isensee 1988, § 115, 247.

184

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

sowie gegenüber Partikularwohl und Gemeinwohl, kennzeichnet die Krise der Idee des Staates.436 Partikularinteresse kann sehr wohl auch selbstlos vertreten werden. Es bleibe dahingestellt, ob und inwieweit ein Rückzug des Steuerstaates, sei es zugunsten des Gebührenstaates, sei es zugunsten privater Räume entsolidarisierend und weniger ausgleichend wirkt.437 Verbunden ist mit der Frage nach dem Steuerstaat im herkömmlichen Sinne, aber auch in demjenigen Zustand, der bereits dem Äquivalenzprinzip folgt, ob die Optimierung entsprechender Kollektivgüterbereitstellung eben rein materiell zu bestimmen ist. Insofern bedeutet aber alle Staatlichkeit auf Steuerstaatlichkeit zu reduzieren dem Staat jegliche Qualifikation gegenüber der privatwirtschaftlichen und ohnehin allgemein gesellschaftlichen Problembewältigung abzusprechen. Steuerstaatlichkeit ist vielmehr selbst ein Durchgangsbereich zwischen Materiellem und Immateriellem. Anders als öffentliche Gebühren oder gar private Entgeltformen sind Steuern mehr als nur eine finanzielle Transaktion. Dies trifft freilich nicht im Hinblick auf die Lenkungswirkung zu: Hier haben Gebühren sogar unmittelbarer eine nichtwirtschaftlich programmierte Steuerungswirkung.438 Die Ausdehnung des Steuerstaates wird bisweilen auch mit der Vermutung erklärt, dass steigende Leistungsfähigkeit der Wirtschaft nicht nur absolute, sondern sogar relative Besteuerungssteigerung ermöglicht.439 Tatsächlich entpuppt sich Staatsausdehnung einmal mehr als eine gefährliche Gratwanderung, in deren Verlauf es auch zu Abstürzen kommen kann, was die kurzfristig zu beobachtende Unstetigkeit von Staatsausdehnung erhellen mag. In Deutschland, aber auch in England ist wie in vielen westlichen Staaten die Auffassung verbreitet, die obere Grenze dessen, wonach privates Einkommen noch als privates Vermögen respektiert wird, liege bei der Hälfte: „Der Untertan soll nicht sein halbes Einkommen mit dem Herrscher teilen“, wusste schon Friedrich II. ee) Rechtfertigung von Steuerstaatlichkeit: Theoretische Normen und historische Wirklichkeit Die Frage nach der Legitimität des Staates, Steuern zu erheben, folgt dem machtpolitischen Faktum der Staatsgewalt als zentralisiertem Gewaltmonopol 436 In düsteren, aber eindrucksvollen Farben wird dieses Problem klassisch von Dolf Sternberger dargestellt. Dabei stellt Sternberger eine Niedergangsthese auf, aus der er einzig die katholische Soziallehre ausnimmt (Das allgemeine Beste, 1961, in: ders., „Ich wünschte, ein Bürger zu sein“, Neun Versuche über den Staat, 1970, 170 f.). 437 Schmehl 2004, 3 f. 438 Schmehl 2004, 50 und 95. 439 Vogel 1988, § 27, 74.

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

185

mit eigenem Erzwingungsstab. Somit beschreibt es die Idee des Liberalismus als einer zunächst auf Staatlichkeit reagierenden und nicht ihr vorausgehenden Lehre, dass das Steuererhebungsrecht des Staates nicht zum Zwecke eingesetzt werden dürfe, „Einkommen und Vermögen zwischen Individuen umzuverteilen.“ 440 Der Staat darf seine Steuereinnahmen ausschließlich dazu verwenden, seinen eigenen Apparat zu unterhalten, der zur Durchsetzung einer liberalen Gesellschaftsordnung erforderlich ist. Steuern dürfen also nur Herrschaftsaufwand decken, nicht Mittel zur Umsetzung von Herrschaftsinhalten werden. Einen zwar zulässigen, aber für wirtschaftliches Wachstum problematischen Grenzbereich nimmt die Verhaltenslenkung durch Steuern ein. Daher lehnt der Libertarismus auch Verhaltenslenkung als Besteuerungsmotiv ab. Zölle wiederum sind nach libertärer Anschauung, wie sie Nozick vertritt, zulässig, da sie „nicht in die legitimen Eigentumstitel der Bürgerschaft“ eingreifen.441 Da ihr Zweck nicht darin besteht, Vermögen als solches wegzunehmen, um es umzuverteilen, sondern da es sich um einen indirekten staatlichen Eingriff handelt, ist das libertäre Staatsverständnis hier gegenüber der Legitimität staatlichen Handelns großzügiger, als es etwa das Pareto-Prinzip erlaubt.442 Aufklärend ist freilich die historische Entwicklung von umverteilendem Staat und liberalen Ideen: Das liberale Konzept des Steuerstaates, wie es heute Libertäre wie Nozick konsequent zugespitzt haben, geht entstehungszeitlich zwar nicht dem (Steuer-)Staat, wohl aber dem seiner Eigenart nach auch immer umverteilenden Interventionsstaat voran. Entstehungsörtlich wird es – nicht zuletzt von einem Theoretiker und Praktiker wie Tocqueville – in der Hochburg liberaler Zivilität, in der angelsächsischen Welt und hier wiederum vornehmlich in den USA angesiedelt:443 „Über ihnen allen erhebt sich eine ungeheure Vormundtschaftsgewalt, die allein sich damit befaßt, ihre Annehmlichkeiten zu sichern und über ihr Ergehen zu wachen. Sie ist absolut, ins Einzelne gehend, regelmäßig, vorausschauend und milde. Sie wäre der väterlichen Gewalt zu vergleichen, wenn wie bei dieser das Ziel die Erziehung zum erwachsenen Menschen wäre; aber sie sucht im Gegenteil den Menschen unabänderlich im Zustand der Kindheit zu halten. Sie sieht es gern, wenn die Bürger es sich gut gehen lassen, vorausgesetzt, daß sie an nichts anders denken. Sie arbeitet gern für ihr Wohlergehen, aber sie will allein dafür tätig sein und allein darüber befinden. Sie sorgt für ihre Sicherheit, sieht ihre Bedürfnisse voraus und sichert sie, fördert 440 Nozick 1974/1999, 6; Schefczyk 2003, 89, cf. Erster Teil B. II. 1.; hier vor allem die Kapitel f) und a). 441 Nozick 1974/1999, 57; Schefczyk 2003, 90. 442 Schefczyk 2003, 90. Tatsächlich wird die Landwirtschaft der südlichen Hemisphäre heute mehr durch Agrarsubventionen innerhalb der nördlichen Hemisphäre geschädigt als durch Zölle, Fukuyama 2004, 151. 443 Ritter 1991, 72. Demgegenüber betont Fukuyama 2004, 19 die antidirigistischen und antietatistischen Motive der US-amerikanischen Revolution, die sich auf Entstehung und Ausmaß des Wohlfahrtsstaates einschränkend ausgewirkt hätten.

186

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

ihre Vergnügungen, führt ihre wichtigsten Angelegenheiten, leitet ihre Arbeit, regelt ihre Nachfolge, verteilt ihre Erbschaften; könnte sie ihnen nicht völig die Last zu denken und die Mühe zu leben abnehmen.“ 444

Demgegenüber gehen die Verfechter des Sozialstaates als Reaktion auf das Laissez-faire-Prinzip der liberalen Gesellschaft des frühen Industriezeitalters davon aus, dass Steuern als Umverteilungsmittel insofern legitim seien und sogar Risikobereitschaft steigerten, da sie gleichsam eine Art Versicherungsfunktion haben: Der optimale Grad an Ungleichheit vor Steuern nehme mit dem Steuersatz zu: „Daher hat im Modell Umverteilung den doppelten Effekt, die Ungleichheit nach Steuern zu reduzieren, aber auch die Vorsteuer-Risikobereitschaft zu steigern.“ 445 Freilich wird in diesem Modell Umverteilung auch als Mittel zugelassen, Gleichheit herbeizuführen. Hier liegt jedoch der Unterschied zwischen Sozialstaat und Verteilungsstaat begründet. Einem solchen Sozialstaatsmodell folgt sowohl das Konzept der Kompensation, die durch staatliche Zwangsmaßnahmen Individuen entstandene Schäden ersetzen soll, aber auch das Prinzip der „horizontalen Gerechtigkeit“, die der Staat ganz unmittelbar nur als Agent der Gesellschaft durchführt: Lasten, die durch eine gesellschaftlich relevante Zusatzbelastung entstehen, sollen ausgeglichen werden. Das bedeutendste Beispiel ist die staatliche Bevölkerungspolitik. Die demografische Entwicklung der westlichen Gesellschaften lässt potentielle Arbeitskraft im engeren und „Humanvermögen“ im weiteren Sinne in Gestalt von Kindern als Kollektivgut zunehmend bewusst werden.446 Da dieses Kollektivgut nicht marktgängig ist, handelt es sich um ein staatserforderndes Kollektivgut. Die erforderliche Ausweitung staatlicher Aktivität lässt sich sogar quantifizieren: Sie berechnet sich nach der Differenz der „natürlichen“ Reproduktionsziffer von 2,1 Kindern pro Paar und der tatsächlichen Reproduktionsziffer. Egalisierende Wirkung senkt aber wiederum die Bereitschaft von Individuen, Kollektivgüter bereitzustellen: Denn der Gesamtgewinn des gesamten Kollektivs muss die Kosten, die anfallen, um den Gewinn zu erlangen, um ein Vielfaches übertreffen. Der Gewinn des Erwirtschafteten muss nämlich wiederum ein Vielfaches des Gewinnes sein, den jedes Individuum des Kollektivs für sich erlangt. Denn selbst bei Gleichheit bleibt noch die Frage ungeklärt, warum sich selbst ein Individuum bereitstellt, ein entsprechendes Kollektivgut wiederum bereitzustellen.447 Neben dem eigenen Bedürfnis nach einem solchen Kollektivgut kommen hier keine unmittelbaren weiteren wirtschaftlichen Gewinne in Betracht. Der Gewinn wird zunächst non-materiell sein. Erst wenn das Vielfache des Gesamtnut444

Zit. nach Landshut 1954, 248 f. Schefczyk 2003, 227, der damit die „Modellregierung“ nachzeichnet, wie sie Sinn 1994, 11 entwickelt. 446 Zum Begriff des „Humanvermögens“: Kaufmann 2005, 28 ff. 447 Olson 1998, 21 ff. 445

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

187

zens gegenüber den Kosten das Vielfache des Gewinns Einzelner übersteigt, besteht ein unmittelbarer wirtschaftlicher Anreiz, dass Gruppenmitglieder, also in der Praxis private Akteure in der Gesellschaft, die einen Teil von ihr bilden, Kollektivgüter bereitstellen. Ansonsten bleibt nur der Staat. Daraus folgt, dass je größer die Ungleichheit in einer Gruppe ist, desto geringer die Suboptimalität der Kollektivgüterversorgung wird, Ungleichheit wirkt also optimierend.448 Gleichheit als eigenständiges Staatsziel verringert damit Optimierungsmöglichkeiten für alle. Damit ist kein allgemeinverbindliches Werturteil über Gleichheit als politischem Ziel gegeben, wohl aber über die Möglichkeiten eines subsidiären Staates: Sie werden selbstverständlich durch Egalisierung eingeschränkt. Diese optimierende Wirkung von Ungleichheit gilt nicht für kollektiv erbrachte Kollektivgüter: Hier müssen individuelle Grenzkosten mit individuellem Anteil am kollektiven Gut mindestens gleich sein, weil sonst jedes teilnehmende Individuum seine Leistung nicht optimiert und ein suboptimaler Gesamtnutzen die Folge ist. Dieses Suboptimum ist nur zu vermeiden, wenn die Gesamtkosten als Summe Kosten aller Beteiligten entsprechend verteilt werden.449 Das ist der Gedanke der Genossenschaft, der in Deutschland lange noch auch ein Staatsideal beschreibt. Tatsächlich bedarf es in der Praxis wohl einer übergeordneten und überlegenen Kraft, um solche kollektiv erbrachten Kollektivgüter die Gruppenmitglieder auch wirklich optimal erbringen zu lassen. Die Versicherungsfunktion und der Agenturcharakter des Staates ändern freilich nichts daran, dass auch die Zwangsgewalt des Staates einen Teil seiner notwendigen und ihn erfordernden Leistungen darstellt: Die Solidargemeinschaft der Versicherten muss auch im subsidiären Sozialstaat durch die Staatsgewalt sanktioniert werden.450 Umstritten ist freilich, inwieweit Steuersysteme in der Vergangenheit tatsächlich umverteilt haben. Namentlich die erste in Deutschland im Jahre 1891 eingeführte Einkommensteuer ist hinsichtlich ihrer Verteilungswirkung hochumstritten.451 Noch 1896 ist Knut Wicksel davon überzeugt, dass sich „die ökonomische Überlegenheit der Besteuerung des Nettoertrages (Einkommensteuer) [. . .] in schlagender Weise“ ergibt, da sie Produzenten wie Konsumenten gleichermaßen vor Verlusten schütze, die insgesamt die Höhe der jeweils vom Produzenten zu entrichtenden Steuer gegebenenfalls sogar übertreffen könne.452 Ermöglicht erst die Steuer staatliche und im Absolutismus mithin auch erst in wirksamem Umfang dynastische Politik, so nimmt es wenig wunder, dass 448 Olson 1998, 27. In ihrer antiegalisierenden Wirkung mag auch eine Ursache dafür liegen, dass Demokratisierung wachstumsfördernd wirken kann. 449 Olson 1968, 29. 450 Isensee 1968, 28. 451 Spoerer 2004, 25. 452 Wicksel 1969 ND, 13.

188

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

sich die Offenlegung der Staatsfinanzen durch den Finanzminister Ludwigs XVI., Jacques Necker, zum Wendepunkt für die Machtentwicklung der öffentlichen Meinung entwickelt.453 Und das Recht der unbeschränkten Steuerverweigerung wird bald zur prominentesten Forderung des liberalen Parlamentarismus.454 Denn Steuerstaatlichkeit zeichnet sich bereits im Absolutismus insofern durch Zeitlichkeit aus, als sie den Zensiten im Turnus immer wieder neu besteuert: Die sich aus den Gesetzen ergebende Steuerpflicht mag unbefristet sein. Anders als bei vormodernen und nichtstaatlichen Zahlungsverhältnissen möglich, entsteht der Anspruch des Staates immer nur dann, wenn es zum steuerpflichtigen Tatbestand kommt. Somit kann durch Montesquieu die Besteuerungskompetenz überhaupt erst zu einem Gegenstand der Gewaltenteilung werden, verbliebe sie doch ansonsten als eine in toto festgelegte beim Monarchen.455 Und erst durch ihre Zeitlichkeit wird sie auch agitationsförmig und als Gegenstand der öffentlichen Meinung zugänglich. Auf der Ausgabenseite, die mittelbar auch die Steuern bedingt, stellt das bereits erwähnte Aeternat ein gewisses Rudiment des absolutistischen Staates vorstaatlicher Herrschaft dar. Komplementär dazu erachtet noch ein spät- bzw. neoabsolutistischen Monarchievorstellungen zuneigender Denker wie Laband, das jährliche Budgetgesetz sei als „Feststellung ihrer [der Staatsverwaltung] für gewisse Zeitabschnitte [. . .] nur Zweckmäßigkeits-Maßregel.“ 456 b) Der Schuldenstaat Die Quote des öffentlichen Einkommensanteils ist auf die zunehmende Eigenmacht des Öffentlichen zurückzuführen: In dem Maße, in dem der obrigkeitliche Einkommensanteil zunimmt, wird er öffentlich.457 Diese Aussage ist einerseits nahezu tautologisch, andererseits explikativ sachlogisch: Zunehmende Arbitrarität lässt den öffentlichen Sektor erfolgreicher werden, bald nimmt er sich neuer Bereiche an, bald werden sie ihm anvertraut, bald ist es sein gestiegenes Selbstbewusstsein, bald das Hoffen der Gesellschaft auf den arbiträren Dritten, der gleichsam Wunder wirken soll. Tatsächlich führt aber der Rückgang personaler Bindung an das öffentliche Vermögen zu größerer Sorglosigkeit im Umgang mit den öffentlichen Finanzen. Dies lässt wiederum den Finanzbedarf stärker steigen als die Wirtschaftsleistung der Gesellschaft und führt mithin zu Staatsausdehnung. Es ist aber wohl mehr die Zwischenstation der Sorglosigkeit mit dem öffentlichen Eigentum selbst als Sorglosigkeit bei der Besteuerung, die diese Folgen zeitigt. Gerade bei einer solch schnell wahrnehmbaren Belastungsart wie 453

Habermas 1965, 81; cf. Zweiter Teil B. I. 2. Treitschke 1870, 803. 455 Cf. das von Waschkuhn 1998, 214 gewonnene Konzentrat von achtzehn aus Montesquieus Theorie ableitbaren staatlichen Befugnissen. 456 Laband 1870, 42. 457 Cipolla 1980, 48 zit. nach Hoppe 75, Anm. 20; Hoppe 2003, 75. 454

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

189

der Steuer wirkt Demokratie eher kontrollierend. Zumal demokratische Politik refinanziert ihre Ausgaben in erheblichem Ausmaß über Schulden.458 Dies ist freilich nicht so offensichtlich mit einer zeitversetzten Steuererhebung gleichzusetzen. Ein auch von Libertären und anderen Staatsskeptikern favorisiertes und unmittelbar einleuchtendes Kriterium für diese Annahme ist der Zinssatz, der mit steigender Bonität des Schuldners sowie allgemeiner Verschiebung der Relation von Kapitalbedarf und Kapitaldeckung abnimmt. Der Zinssatz in der westlichen Welt befindet sich aber gegenwärtig zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf historischen Tiefstständen.459 Die Zusammenbruchsprognosen eines radikalkapitalistischen Zeitgeistes nehmen allmählich ähnliche Züge an wie seinerzeit diejenigen des Marxismus: Weder die sprunghafte Zunahme von Verschuldung infolge von Weltkriegen und Demokratisierung noch die Abschaffung der Golddeckung und die 1971 erfolgte Aufgabe fester Wechselkurse, wie sie im System von „Bretton Woods“ zu verewigen versucht worden war, haben den säkularen Trend zur Kreditvergabe schmälern können. Die viel beschworene Handlungsbeschränkung der Politik ist offensichtlich nicht eingetreten: Es werden heute Kriege von beispielslosem Kapitalaufwand geführt, die öffentliche Hand führt gigantische technische und Baugroßprojekte durch. Öffentlich Bedienstete können, wenn auch eingeschränkt, am allgemeinen Wohlstandswachstum teilhaben. aa) Unzutreffende Grundannahmen libertärer und ordoliberaler Theorie Alle Kritik an einem schuldenfinanzierten Staat konzentriert brillant im Fokus des Zinssatzes Herrmann Hoppe: „Der direkteste Indikator gesellschaftlicher Zeitpräferenz ist der Zinssatz. Der Zinssatz ist das Verhältnis der Bewertung gegenwärtiger Güter verglichen mit zukünftigen Gütern. Genauer, er zeigt die Prämie an, mit der gegenwärtiges Geld gegen zukünftiges Geld getauscht wird. Ein hoher Zinssatz bedeutet mehr ,Gegenwartsorientierung‘ und ein niedriger Zinssatz mehr ,Zukunftsorientierung‘. Unter normalen Bedingungen – d. h. unter der Annahme steigenden Lebensstandards und Realeinkommens – kann erwartet werden, daß der Zinssatz sinkt und sich allmählich der Null annähert, sie jedoch nie ganz erreicht. Denn mit steigendem Einkommen fällt der Grenznutzen gegenwärtigen Geldes relativ zu dem zukünftigen Geldes, und daher muss unter ceteris-paribus-Voraussetzungen einer gegebenen Zeitpräferenzkurve der effektive Zinssatz sinken. Infolgedessen werden Ersparnisse und Investitionen zunehmen, zukünftige Realeinkommen werden noch weiter steigen und so weiter. 458 Hoppe 2003, 75 geht hingegen direkt von einer unmittelbaren Neigung aus, die Gesellschaft auszupressen. Wenn denn überhaupt von einer spezifischen Verschuldungsneigung demokratisch legitimierter Politik auszugehen ist, so läuft dieser Mechanismus aber subtiler und mittelbarer ab, als in der von Hoppe dargestellten Weise. 459 Was bekennende Anarchokapitalisten wie Hoppe nicht davon abhält, einfach das Gegenteil zu behaupten, Hoppe 2003, 91 und 150. Zahlen zu den effektiv bis 40% reichenden Zinssätzen, die frühneuzeitliche Monarchien entrichten mussten, bietet Reinhard 2002, 319 f.

190

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

Tatsächlich ist die Menschheitsentwicklung durch eine übergeordnete säkulare Tendenz zu einem fallenden Zinssatz gekennzeichnet. [. . .] Während hohe oder steigende Mindestzinssätze Zeiten generell niedrigen oder fallenden Lebensstandards anzeigen, reflektiert die übergeordnete Tendenz in Richtung niedriger und fallender Zinssätze den Fortschritt der Menschheit insgesamt – ihren Fortschritt von der Barbarei zur Zivilisation. Insbesondere reflektiert der Trend zu niedrigeren Zinssätzen den Aufstieg der westlichen Welt, zunehmenden Wohlstand, Weitblick, Intelligenz und moralische Stärke ihrer Völker und die unerreichte Höhe der europäischen Zivilisation im ausgehenden 19. Jahrhundert. [. . .] Wenn Realeinkommen höher, aber Zinssätze nicht niedriger sind, dann kann die ceteris-paribus-Voraussetzung nicht mehr als gegeben angenommen werden. Stattdessen muss sich der Verlauf der gesellschaftlichen Zeitpräferenzkurve nach oben verschoben haben. Das bedeutet, der Bevölkerungscharakter muss sich verändert haben. Die Menschen müssen im Durchschnitt moralische und intellektuelle Kraft eingebüßt haben und gegenwartsorientierter geworden sein. Das scheint in der Tat der Fall zu sein.“ 460

Zu erläutern ist, dass Hoppe mit dieser Kritik alle seine Argumente, die er im weiteren Zusammenhang gegen Staatsverschuldung, Demokratie und letztlich gegen den Staat als solchen vorbringt, zusammenzufassen beabsichtigt – und sie damit widerlegt: Denn die Zinssätze notieren auf historischen Tiefpunkten und widerlegen damit das zentrale Argument. In der Tat ist der entscheidende Hintergrund nicht ein ökonomischer, wie Hoppe zutreffend feststellt. Das, was Hoppe als Einbuße „an intellektuelle[r] und moralische[r] Kraft“ und Zunahme von „Gegenwartsorientiertheit“ ausmacht, ist just das Gegenteil: Es ist die Zunahme an langfristiger Planung und Investition, es sind wachsender Mut und Demokratisierung von „merchandise adventureshipe“. Die Menschheit entfernt sich mit zunehmender Zeit immer weiter von der Subsistenzwirtschaft, was sich, wie Hoppe auf der funktionellen Ebene zutreffend diagnostiziert, in sinkenden Zinssätzen manifestiert. Ein geradezu dramatisches Gegenbeispiel für Hoppes Gegenwartsdiagnose bietet gegenwärtig Japan. Der Grund, der zu solch massenhafter Fehldiagnose führt, liegt in der Vorstellung begründet, öffentliche Schulden allein als Beschränkung zukünftiger Handlungsfreiheit zu begreifen. Tatsächlich handelt es sich aber bei öffentlichen Schulden regelmäßig um Investitionen, die in weitaus größerem Maße Freiräume erschließen als sie solche nehmen. Überwiegend realitätsfern und teils ideologisch, teils lobbyistisch begründet ist die in der herrschenden Lehre der Wirtschafts-“wissenschaften“ übliche Einteilung in investive und konsumtive Güter. In der Bundesrepublik Deutschland ist dieses Dogma der Amtswissenschaft zudem auch teils verfassungsrechtlich, teils einfachgesetzlich normiert.461 Fraglich 460

Hoppe 2003, 149 ff. Vor allem im Hinblick auf die gigantische Vernachlässigung des Bildungswesens und der Familienförderung meldet sich in der (Fach-)Öffentlichkeit zunehmend Unmut 461

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

191

ist, ob das Kapital, das dem Staat geliehen wird, in privaten Händen größeren Mehrwert erzeugen würde. Das stellt letztlich eine Reformulierung der Frage dar, die dieser gesamten Untersuchung zugrunde liegt. Für eine skeptische Beurteilung generalisierter Schuldenphobie spricht aber nicht zuletzt die selbsttätig optimierende Wirkung des Marktes: Offensichtlich haben die Gläubiger den Staat anderen Schuldnern vorgezogen,462 was, historisch betrachtet, nicht selbstverständlich ist. Angesichts der in der westlichen Welt chronisch niedrigen Zinssätze ist dies höchst erstaunlich: Offensichtlich rentieren staatliche Investitionen mit einer hohen Sicherheitsdividende. Im Falle solch freiwilliger Bereitstellung eigener Ressourcen, die gegenüber dem Staat erfolgt, gilt mehr denn je, was die gegenwärtige Forschung interdisziplinär sich zu entdecken anschickt: Solches Verhalten lässt sich nicht auf das Monopol des Staates reduzieren, legitim physische Gewalt anzuwenden. Es ist vielmehr Ausdruck des Vertrauens seiner Investoren in den Staat. Marktversagen vorzubeugen erweist sich also als vornehmster Erfolg des Marktes. Somit wird der Staat als rationellstes Optimierungssystem von Kollektivgütern bestätigt. Die über beinahe alle politischen und sozialen Grenzen hinweg epidemische Schuldenhysterie droht mittlerweile zu einem ähnlichen Wachstumshemmnis zu werden wie die allgemeine Tendenz zur Überregulierung. Das entscheidende Problem besteht darin, dass sich über den Kreditmarkt vermittelt unter marktwirtschaftlichen eine nichtmarktwirtschaftliche Wirtschaftsform, nämlich diejenige des Staates weithin durchgesetzt hat. Deren marktwirtschaftlich anerkannter und sanktionierter Erfolg lässt sich aber als solcher gerade nicht an wettbewerblichen, zumindest nicht an marktwirtschaftlichen Maßstäben messen: Die Marktwirtschaft bestätigt damit eben durch den Marktmechanismus selbst ihre eigenen Grenzen. Markt und Staat sind aufeinander verwiesene Größen.463 Der rabiate Marktwirtschaftsfetischismus, wie er für die Gegenwart kennzeichnend ist, stellt ein gefährliches Gleichgewichtsproblem dar, das historisch wahrscheinlich maßgeblich aus dem Wegfall eines Konkurrenzmodells resultiert, wie es der Ostblock zumindest bis in die 1970er Jahre hinein dargestellt hat. In der uneingeschränkten Negativierung von Schulden reflektiert sich, dass der Staat noch heute für unproduktiv gehalten wird. Darin zeigt sich aber, dass die Eigenart der Kollektivgüter weithin immer noch nicht verstanden wird.464 Kollektivgüter werden, wenn sie der Staat bereitstellt, als Konsumgüter verstan-

darüber, welche Güter investiv und welche konsumtiv sind, Kaufmann 2005, 16 und 74 f. 462 Die Zeit 5. Januar 2006, 25. 463 Esping-Andersen 1998, 4 und 10. 464 Cf. 5.

192

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

den.465 Hierbei scheint oftmals weniger die Art der Güter selbst als vielmehr die Art ihrer Bereitstellung, als öffentliche, diese Vorstellung zu leiten. Selbst wenn der Kreditmarkt irren sollte und sich, was zu vermuten ist, zahlreiche Kollektivgüter effizienter und effektiver, rationeller und schonender privatwirtschaftlich bereitstellen lassen, kann mit notwendigen Investitionen in entsprechende Kollektivgüterbereitstellung nicht in jedem Falle gewartet werden, bis langwierige und in ihrem Ergebnis offene Privatisierungsprozesse abgeschlossen sind. Da in Kontinentaleuropa nun einmal etliche Kollektivgüter dem Aufgabenbereich des Staates obliegen, droht allzu rigider Ordoliberalismus zu einer ernsthaften Gefahr für die Zivilisation der westlichen Gesellschaften zu werden: Ähnlich den Agoniesymptomen des real existierenden Sozialismus kommen immer mehr Bereiche des Lebens zum Erliegen. Apathie und Depression greifen um sich, da notwendige Kollektivgüter immer unzureichender und gestörter gewährleistet sind. Begründet wird dies in beiden Fällen, in demjenigen des Sozialismus wie in demjenigen des Kapitalismus mit einer Vernunft, die bisweilen in unüberschaubare Zeiträume hinein plant und das umwölkte Paradies einer staatslosen Gesellschaft verheißt. Das Problem liegt dabei weniger im Gedanken von Ordnungspolitik als solcher als vielmehr von der fehlenden Feindifferenzierung der verfolgten Ordnung selbst. Der fatale Irrglauben liegt dabei darin, dass diejenigen, zu deren Anwalt sich die Schuldengegner ernennen, nämlich künftige Generationen, tatsächlich die Hauptleidtragenden sind: Je jünger die Bürger sind, desto stärker werden sie Opfer der allgemeinen Schuldenhysterie. Am drastischsten zeigt sich dies an denjenigen Menschen, die erst gar nicht gezeugt oder geboren werden. E contrario zeigt sich am Beispiel vieler afrikanischer Staaten, dass sich für Staaten die nicht hinreichend gemeinwohlorientiert operieren und unzureichend Kollektivgüter bereitstellen, auch keine Gläubiger mehr finden.466 Bestenfalls Staaten sind es dann, die noch Kredit geben, was zeigt, dass der Staat, sobald er sich als Investor am Kreditmarkt beteiligt, diesen tatsächlich stört. Da ein über Schulden finanzierter Staat marktwirtschaftlich finanziert ist, ist Schuldenfinanzierung als Finanzierungsmodus selbst auch freiheitlicher als Steuerfinanzierung: Aus diesem Blick erscheint es durchaus als Fortschritt in der Freiheit, Steuersenkungen durch Schulden gegenzufinanzieren. Es ist der verloren gegangene Glaube an den „entfesselten Prometheus“ (Landes), wie er für das industrielle Zeitalter prägend gewesen ist, der sich in Schuldenangst widerspiegelt. Sieht der Steuerstaat kreditfinanziertes Handeln nur als Ausnahme von der Regel der Steuerfinanzierung vor, so haben sich zahlreiche westliche Steuerstaaten zu Schuldenstaaten entwickelt. Häufig lassen sich durch 465 466

Etwa ausdrücklich bei Blümel/Pethig/von dem Hagen 1986, 242. Fukuyama 2004, 33.

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

193

Neuverschuldung nicht mehr die Zinsen bereits laufender Kredite bedienen. Diese Entwicklung hemme nach der gegenwärtig in der Staatsrechtslehre fast ausschließlichen Ansicht nicht nur den Spielraum künftiger Politik, sondern stelle damit auch das Demokratie- und das Rechtsstaatsprinzip in Frage:467 So einseitig diese ganz herrschende Lehre der Staatsrechtslehre, aber auch der Volkswirtschaftslehre sind, so ist der Staat, will er seine ihn rechtfertigende Rationalisierungsleistung erbringen, an Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit gebunden. Hohe private Investitionsneigung in staatliche Kollektivgüterversorgung einerseits und staatliches Überfordertsein mit dem Schuldendienst zeigen dringenden Bedarf an, vom Staat wahrgenommene Aufgaben privatisierungsfähig zu machen, nicht jedoch Vernachlässigung entsprechender Kollektivgüterbereitstellung. Vermutlich erklärt sich der prekäre Zustand der Finanzen in etlichen modernen Staaten des westlichen Kulturkreises ähnlich wie die Lage im 17. Jahrhundert, die ebenfalls von verbreiteter Finanzkrise einerseits und niedrigen Zinssätzen andererseits gekennzeichnet ist: Sie dürfte eher „eine Frage vormoderner Strukturen als unzulänglicher Ressourcen geworden sein,“ wie Wolfgang Reinhard hinsichtlich der Situation des 18. Jahrhunderts vermutet.468 Die Funktion des Staates, der eine Einrichtung, das Gefangenendilemma zu überwinden, darstellt, muss im Falle der Steuern gegebenenfalls auch gegen sein vermeintlich eigenes Interesse handeln, das Steueraufkommen zu maximieren. Das Steuerwesen ist tatsächlich aber von einer konfrontativen und agonalen Kooperation zwischen Staat und Zensiten gekennzeichnet. Die rationalisierende Wirkung von Staat ließe sich jedoch erhöhen, wenn den Zensiten im Zweifel auch tatsächlich die geringste Steuerlast aufgebürdet würde: Der Rationalisierungsdruck, der auf die Politik, namentlich auf die Regierung dann einwirkte, würde zumindest als Ordnungs- und Planungsdruck, idealiter gar auch als höherer Sparsamkeitszwang somit nämlich erhöht. Dass demgegenüber eine Verselbständigung des Staates als Zweck an sich beständig droht, zeigt, in welchem Maße sich Politik zu einem gleichermaßen autonomen wie autistischen Mikrokosmos zu entwickeln pflegt: Der demokratische Rechtsstaat bleibt als Steuerstaat Nachfolger des dynastischen Fürstenstaates, wie ihn der höfische Absolutismus darstellt. Eine bemerkenswerte These, Verschuldung zu erklären, bietet Rüdiger Voigt: Zwar beurteilt auch er das Phänomen der Staatsverschuldung ausschließlich negativ, sieht sie aber als Konseqzenz unterausgeprägter Staatlichkeit. Da allein der Staat die letzte wirkungsvolle Agentur des Gemeinwohls sei, gehe mit seiner Krise eine Krise des Gemeinwohls einher. Diese führe aber gerade zu erhöhter Staatsverschuldung.469 467 468 469

Kirchhof 1988, § 221, 208 ff. Reinhard 2002, 322. Voigt 2007, 279.

194

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

bb) Relativierende historische Entwicklung Die aktuellen Schulden der westlichen Staaten entstehen über mehrere Jahrzehnte hinweg und gründen vornehmlich in jener Beschleunigung allgemeiner Staatsausdehnung, die in den 1960er und 1970er Jahren ihren Ausgang nehmen. Das Phänomen des modernen Schuldenstaates als solches kann indes auf eine lange Tradition zurückblicken: Bereits in der Habsburgermonarchie stehen 285 Millionen Florin Schulden im Jahre 1763 Nettoeinkünften von etwa 35 Millionen Florin gegenüber, die allein von den Jahresausgaben in Höhe von 40 Millionen übertroffen werden. 17,65 Millionen Florin davon müssen für Schuldendienste veranschlagt werden:470 Einnahmen und Budget um ein vielfaches übertreffende Schulden korrelieren also keinesfalls zwingend mit der Stabilität eines Staates oder gar einer Gesellschaft. Um Frankreichs Finanzen ist es hingegen noch im hohen 18. Jahrhundert besser bestellt: Die staatlichen Gesamtausgaben belaufen sich für das Jahr 1750 auf 273, 8 Millionen Livres, davon 67, 6 Millionen für Schuldendienste.471 Wie bekannt konnte sich das Ancien Régime gleichwohl nicht halten, was einmal mehr Anlass sein sollte, politische Entwicklungen nicht vorschnell als zwangsläufige Folge wirtschaftlicher Ursachen zu erklären. Auch hinsichtlich der Laufzeiten bewegen sich die Schuldenstaaten der Gegenwart durchaus im Rahmen des historisch Vergleichbaren. Auch die Revolutions- und Befreiungskriege werden maßgeblich durch Schulden finanziert.472 Der Schuldenstaat geht dem Staat der allgemeinen Steuerpflicht sogar voraus: Diese findet in Preußen erst Verbreitung, nachdem im Jahre 1807 die Staatsfinanzen unter dem Eindruck der militärischen Niederlage des Vorjahres zusammengebrochen sind.473 Sogar wenn die Staatschulden nur auf die Erwerbstätigen eines Staates wie etwa der Bundesrepublik Deutschland oder der USA umgelegt werden, ergeben sich Beträge, die durchaus üblicherweise massenhaft verbreitete private Hypotheken noch unterschreiten. Das Problem ist tatsächlich mehr ordnungspolitischer Natur, da die öffentliche Hand sich regelmäßig über Rentenanleihen und zumeist nicht über den regulären Finanzmarkt refinanziert, vor allem aber weil sie der kameralistischen Tradition des 18. Jahrhunderts folgt und nur in jährlich neuen Etats plant, statt langfristig abzuschreiben. Die bisweilen alarmistische Tendenz der Fachliteratur wie auch der öffentlichen Meinung ist also in der Sache nicht immer angemessen und oftmals Mittel bestimmter Interessengruppen: Die aus künftigen Steuerpflichten, die Schulden potentiell darstellen, gewonnene Legitimationsschwächung des Steuerstaates lässt sich im aktuellen Interessenkampf wohlfeil instrumentalisieren. 470

Zahlen nach Demel 1993, 15. Reinhard 2002, 308 und 327 f. 472 Exemplarisch am Beispiel Bayerns und Badens ist das Schuldenphänomen im epochalen Werk von Ullmann 1986 untersucht worden; cf. auch: ders. 1984. 473 Demel 1993, 121. 471

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

195

cc) Die Eigenmacht des Politischen Die genuin politische Frage besteht jedoch darin, ob ein Staatskonkurs tatsächlich zu einem Staatsuntergang führen muss.474 Diese These ist in den westlichen Staaten vornehmlich nicht endogen aufgrund der ständig steigenden Verschuldung erwachsen, sondern speist sich vornehmlich aus der Theorie, die totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts seien wirtschaftlich tot gewesen und daher auch politisch gestorben. Diese Behauptung ist jedoch bereits bei rein ökonomischer Betrachtung hochproblematisch: Die Fähigkeit des Staates, bestimmte Kollektivgüter bereitzustellen, gründet sich eben nicht allein auf die Fähigkeit zu besteuern. Die Überwindung des Gefangenendilemmas ist mehr, ja unendlich viel mehr, als eine ökonomische Funktion. Vielmehr konstituieren den Staat als solchen nicht nur der Steuerstaat, sondern etliche weitere Dimensionen von Staatlichkeit, die ihrer eigenen Rationalität folgen. Diese anderen nicht dem Steuerstaat zuzurechnenden Fähigkeiten wiederum sind keinesfalls auf repressives Verhalten beschränkt. Vielmehr können den Staat Faktoren wie Zugehörigkeitsgefühl, Angst oder auch Furcht vor dem Zustand der Staatslosigkeit und Vertrauen in staatliche Kräfte, wie etwa die Polizei nähren. Gesellschaftliche Steuerleistung und staatliche Schutzleistung stehen dabei in einem für die gegenseitige Abhängigkeit von Staat und Gesellschaft nicht nur symptomatischen, sondern konstitutiven Synallagma.475 Folglich stellt sich die Frage, ob über Jahrhunderte staatlich verfasste Gesellschaften, die darüber hochgradig veröffentlicht sind, hinsichtlich dieser Eigenschaft des Veröffentlichtseins überhaupt noch reversibel sind. Regierungen erklären zumindest in Deutschland höchst selten einen förmlichen Staatskonkurs, was die Eigenmacht des Politischen und die relative Abgeleitetheit des Ökonomischen veranschaulicht.476 Die Geschichte des modernen Steuerstaates lässt vielmehr vermuten, dass in dem Maße, in dem Rationalisierung des Staates und seines Bezugsfeldes zur Gesellschaft voranschreitet, auch früher bestehende Probleme teils gesellschaftlicher, teils staatlicher Provenienz entweder überhaupt erst quantitativ oder doch zumindest erst geldwert beziffert werden können. Insofern wäre der Anschein von Bedrohlichkeit, wie ihn steigende Staatsverschuldung erweckt, gerade Ausweis von politischer Stabilität und zivilisatorischem Fortschritt eines Gemeinwesens: Staatsverschuldung stünde also gleichsam am Anfang neuer Beherrschbarkeiten. Steigender Staatverschuldung stehen oftmals steigende Gegenwerte gegenüber, und zwar auch in Form von „Humankapital“. Deren gewinnbringender Verkauf ist nur eben unmittelbar nicht möglich oder er474 Eine ganze Serie von Staatskonkursen erlebt Frankreich bereits zwischen 1559 und 1598, vor allem aber der spanische Hegemon in den Jahren 1557, 1560, 1575 und 1596, Reinhard 2002, 320. Im 17. Jahrhundert weitet sich dieses Phänomen noch aus. 475 von Krockow 1976. 476 Ullmann 2005.

196

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

folgt einfach noch nicht. Wert und Verkäuflichkeit fallen bei staatserfordernden Kollektivgütern auseinander. Dies ist auch ein Konflikt von Aktualität und Potentialität. Die politische Funktion von Schulden besteht also letztlich darin, auf Privatisierung bzw. auf Erschließung von Privatisierbarkeitspotentialen hinzuwirken. c) Der Gebührenstaat Ist der Idealtypus des modernen Staates als Steuerstaat angelegt,477 so ist darin auch die Möglichkeit begründet, dass er ausschließlich dem Gemeinwohl verpflichtet ist und damit nicht an (marktwirtschaftlichem) Wettbewerb teilnehmen muss. Dies ermöglicht ihm altruistisches Verhalten. Und dies ist wiederum, was seine Existenz geradezu legitimiert.478 Gemeinwohl zu steigern kann als kulturund epochenübergreifendes Merkmal des modernen Staates erachtet werden.479 Diese Erkenntnis für sich sagt noch nichts zwingend darüber aus, ob und gegebenenfalls wie Gemeinwohl zu konkretisieren ist.480 Und umgekehrt wird durch Konkretisierung des Gemeinwohls nicht grundsätzlich widerlegt, dass die Begründung von Steuerstaatlichkeit als einer Quelle des Gemeinwohls unzutreffend sei.481 Eine andere Frage besteht darin, ob Steuern zwingende und vor allem ob sie immer optimale Voraussetzung von Gemeinwohl sind. Selbst diese Frage negativ zu beantworten bewertet streng genommen nur die Gemeinwohlverwirklichung selbst als ineffizient, widerlegt nicht jedoch das Argument der Unabhängigkeit des steuerfinanzierten Staates als Gemeinwohlagentur. Diese Erkenntnis stärkt den Staat gegenüber (potentiell) effizienteren Gemeinwohlagenturen. Zudem hebt sie die Einschränkung auf, seine Legitimation beruhe allein auf seiner Möglichkeit, altruistisch zu handeln. Offensichtlich gibt es noch weitere Legitimationen: Nämlich, dass staatlich gewährleistetes Gemeinwohl nicht von Partikular477 Auszugehen ist hierbei zum einen eben von einem Idealtypus, der als solcher homogen ist. Dass ein reiner Steuerstaat niemals tatsächlich bestanden hat, bleibt als Tatsache festzustellen. Zum anderen muss für diese modellhafte Begründung außer Acht gelassen werden, dass sowohl Staat als auch Gemeinwohl nicht zwingend in sich homogen sein müssen, ja beider Eigenart gleichsam konzertant sein kann. Vertreter jener im wörtlichen Sinne „reinen“ (Staats-)lehre werden freilich die (mögliche) Inhomogenität, ja Indifferenz des Gemeinwohls entschieden bestreiten. 478 Isensee 1968, 255. 479 Das englische Staatsdenken zeigt eine lange Tradition, Staat als Gemeinwohlagentur zu erklären, cf. Green 1986, 68. Für die deutsche Tradition cf. Isensee 1999, 41 und 48. 480 Anhand des deutschen Rechtskreises, aber mit eingehender philosophischer und staatstheoretischer Begründung und Implikation wird diese Frage in der rezenten Forschung von Anderheiden 2006 behandelt. 481 Anderheiden 2006, 635 bezeichnet Steuerstaat und Gemeinwohlverpflichtung daher als kompatible Größen. Als Begriff für den Ort des Gemeinwohls wählt er freilich bewusst nicht den Staat, sondern die Republik, 2006, 63.

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

197

interessen abhängt. In praxi ist diese Unabhängigkeit indes selbst Bestandteil des Gemeinwohls. In der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland ist das Gemeinwohl wie in den meisten westlichen Rechtsstaaten der Gegenwart zentrale Begründung für Grundrechtseinschränkungen.482 Sobald das Äquivalenzprinzip aufgehoben ist, stellt sich die Frage, warum eine entsprechende Leistung nicht grundsätzlich auch privat erbracht werden kann, gegebenenfalls vom Staat subventioniert oder vergünstigt. Eine denkbare, aber anscheinend heute nicht mehr recht als legitim anerkannte Antwort auf diese Frage zugunsten des Staates wäre sodann eben jene beschriebene Unabhängigkeit von Partikularinteressen.

Der staatstheoretische und staatsrechtliche Grundsatzstreit über die Vereinbarkeit von Staatsfinanzierung und Äquivalenzprinzip wird in der Wirklichkeit des öffentlichen Finanzwesens niemals klar zu entscheiden sein. Auch eine solche Prinzipienentscheidung wie noch andere verhindert die historisch zurückzuverfolgende mangelnde Definierbarkeit staatlicher Einnahmen in der Praxis.483 Ermöglicht die Zweckungebundenheit von Steuern dem Staat einerseits erst, das Gefangenendilemma in vielen Situationen aufzubrechen und suboptimale Gleichgewichte zu optimieren, so führt es andererseits auch zu einem neuen Gefangenendilemma, das in Form des Trittbrettfahrerproblems ausgeprägt ist: Jeder Steuerpflichtige versucht, sein eigenes Kosten-Nutzenverhältnis zu optimieren und nimmt darüber hinaus auch einen suboptimalen Individualnutzen in Kauf.484 Freilich bleibt ein erheblicher Teil des Rationalisierungsgewinns erhalten, der durch Staat begründet wird. Es ist weiterhin mit Staat eine allen Parteien idealiter überlegene und übergeordnete Macht gegeben, die solchen Entwicklungen Einhalt gebieten kann: Staat stellt einmal mehr einen spezifischen Problemlösungsmodus dar, der sich als problemtransformierende Rationalisierung erweist. Dieses transformierte Problem ist freilich in noch höherem Maße als das ursprüngliche Problem auf Staat als Bewältigungsinstrument angewiesen. Sein Einkommen soweit zu reduzieren, dass Steuern überhaupt nicht mehr fällig werden, stellt nicht nur ein Problem dessen dar, was als Problem des Sozialstaates im engeren Begriffssinne verstanden wird, sondern auch ein Problem dessen, was eher unter dem Begriff des Steuerstaates gesehen wird. Hinreichender Steuersachverstand ermöglicht in komplizierten Steuersystemen Partikularinteressen, namentlich Großunternehmen, ebenfalls überhaupt keine oder doch zumindest nurmehr eine deutlich unter dem regulären Satz liegende Steuerlast tragen zu müssen. Es ist in verschiedenen Epochen und Zusammen482 Anderheiden 2004, 113 bietet einen Überblick über neuere bundesdeutsche Rechtsprechung und Literatur zum Gemeinwohl als Begründung staatlicher Eingriffe. 483 Ullmann 2005, 19. 484 Spoerer 2004, 9.

198

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

hängen eine Neigung zu beobachten, dass es Unternehmen stets gelingt, Steuerlast auf die Konsumenten abzuwälzen. Insofern birgt Steuerstaatlichkeit ein Risikopotential sozialer Polarisierung, das sich jedoch nicht zwingend verwirklichen muss. Da aber Staatlichkeit theoretisch nur als Steuerstaatlichkeit begründbar ist, wird ihre Existenz prekär bleiben. Westliche Staatlichkeit sucht daher zunehmend einen Ausweg in den Gebührenstaat. Die potentiell angelegte Neigung, aus der Steuerpflicht zu fliehen, beschreibt über das Problem der Staatsfinanzierung hinaus möglicherweise auch eine Krise des den Staat erhaltenden Bürgersinns, ist doch die Steuerpflicht die letzte noch verbliebene Bürgerpflicht, die tatsächlich umfassend eingefordert wird.485 Da es aber in der Eigenart einer marktwirtschaftlich verfassten Gesellschaft begründet liegt, dass regelmäßig, um Gewinne zu erzielen, öffentlich bereitgestellt Kollektivgüter rationalisiert und professionalisiert genutzt werden, wird damit im Einzelfall ein grundsätzlich allen frei zur Verfügung stehendes Kollektivgut tatsächlich in höchst unterschiedlichem Ausmaße genutzt. Namentlich infrastruktureller Versorgungsauftrag und individueller Nutzervorteil sind hier schwer voneinander abzugrenzen: Es handelt sich um gleichsam „semikollektive“ Güter. Zur Finanzierung dieser Güter wird eine Kombination von steuergestützter Grundfinanzierung und nutzerabhängiger Zusatzfinanzierung erörtert.486 Da es jedoch keine semikollektiven Güter gibt, handelt es sich hierbei in der Sache um eine entgeltpflichtige, aber durch Steuermittel subventionierte Dienstleistung. Einmal mehr zeigt sich die Inkonsequenz, das Äquivalenzprinzip zum Maßstab staatlichen Handels zu erheben. Bürgerliche Gesellschaft, namentlich in England, das sich durch eine spezifische, nämlich ursprüngliche und unabgeleitete Freiheit traditionell auszeichnet, polarisiert sich daher schon verhältnismäßig früh der allgemeine Staatsdiskurs in Vertreter eines „individualist state“ 487 und solche eines „collectivist state“.488 aa) Mögliche Rationalisierungsvorteile von Gebühren gegenüber Steuern Eine positive Legaldefinition der Gebühr fehlt zumindest im deutschen Rechtskreis. In der rezenten Literatur wird die Gebühr folgendermaßen erklärt: „Die Gebühr ist einerseits ein Preis für eine öffentliche Leistung, ohne aber alle Funktionen eines Preises voll wahrzunehmen, und sie ist andererseits eine öffentliche Abgabe, ohne aber von der Gegenleistung unabhängig zu sein.“ 489 Da Ge485 486

Voigt 2007, 298. Schmehl 2004, 58, der dies am Beispiel der Verkehrswegefinanzierung entwi-

ckelt. 487 488 489

Spencer 1884; Herbert 1885; Donisthorpe 1889; Wilson 1911. Ball 1896; Webb Bd. 2, 1897; Headlam 1892; Turner 1897. Schmehl 2004, 192.

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

199

bühren zweckgebunden sind, erhöht sich mit Zunahme der Gebührengestütztheit der Staatsfinanzierung wahrscheinlich aber auch die Ausgabendisziplin der öffentlichen Hand. Daraus wird weiter gefolgert, dass sich unter ihren Bedingungen der Staat weniger weit ausdehnen oder sogar zurücknehmen werde.490 Dies ist jedoch keinesfalls sicher, zumal die Staatsquote, wie bereits abgehandelt worden ist, nicht zwingend Symptom jeglicher Staatsausdehnung ist. Gebührenhoheitlichkeit ist einerseits von großer Vielfalt historischer Einzelregelungen gekennzeichnet, mit der allgemein verbreitete Fälle gelöst werden. Andererseits ergeben sich gerade daraus (kultur-)evolutionäre Pfadabhängigkeiten, die Systematisierung, ja potentielle Kodifizierung des Gebührenwesens ermöglichen – im Falle der Bundesrepublik Deutschland reicht dazu bereits der Erfahrungsschatz eines einzigen, des deutschen Rechtskreises aus: „Die rechtlichen Grundlagen dafür sind bei den kommunalen Nutzungsgebühren und -beiträgen am eingehendsten entwickelt. [. . .] Sie bilden [. . .] ein Reservoir aus generalisierten oder generalisierungsfähigen, teils aus langer Tradition überkommenen und dabei immer wieder [. . .] erprobten und modifizierten Rechtsgedanken.“ 491 Gleichwohl bereitet es derart weitgehende Schwierigkeiten, Gebühren von Steuern abzugrenzen, dass ein positiver Begriff der Gebühr zumindest im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland nicht besteht.492 Gebühren stellen jedoch gegenüber Steuern eine Modifikation und möglicherweise auch bereits dadurch eine weitergehende Rationalisierung dar: Gebühren sind faktisch Entgelte, Steuern hingegen Zwangsabgaben, der Steuerpflichtige sieht sich unmittelbarem Zahlungszwang ausgesetzt, der für ihn insoweit unausweichlich ist, als er auf steuerpflichtige Formen der Teilnahme am Wirtschaftsverkehr ansonsten verzichten muss.493 Die Wahlmöglichkeit, auf die steuerfinanzierten Güter zu verzichten, bleibt ihm als Ausweichmöglichkeit versagt. Der Gebührenzahler sieht sich demgegenüber aufgrund einer monopolistisch erbrachten öffentlichen Leistung widrigstenfalls einer Notwendigkeit ausgesetzt. Der Staat verzichtet mit der Gebühr auf einen „Eingriff“ in die negative Handlungsfreiheit des einzelnen. Die Entwicklung vom Steuer- zum Gebührenstaat stellt damit eine Form des langfristigen Entwicklungspfades weg vom hochmodernen Interventionsstaat zu kooperativen Formen von Staatlichkeit dar.494 Die Wahlmöglichkeit hingegen, auf die gebührenfinanzierten Güter zuzugreifen, bleibt ihm zumindest insoweit, als er sich aktiv entscheiden muss, diese Güter in Anspruch zu nehmen. Der Unterschied ist in der Praxis zunächst psychologischer Natur: Während Steu490

Schmehl 2004, 31 f. Schmehl 2004, 117; zur Geschichte: 99. 492 Kloepfer 1972, 274 f.; Schmehl 2004, 98 f. 493 Schmehl 2004, 3. 494 Forsthoff 1963, 387 sieht bereits im Eingriff den Konflikt von Staatlichkeit und „introvertiertem Rechtsstaat“. 491

200

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

ern ohne sichtbare Gegenleistung als anonyme Wegnahme von Vermögen durch den Staat das Gefühl von Determiniertheit und Hilflosigkeit bis hin zu Frustration und Verzweiflung aufkommen lassen können, erwecken Gebühren das freilich keinesfalls ungefährliche Gefühl eines partnerschaftlichen Geschäftes. Steuerpflicht beschreibt ein Subordinationsverhältnis, Gebührenerhebung ein Koordinationsverhältnis, Steuer ist nur einseitig individualisierbar, Gebühren gegenseitig.495 Die Lenkungswirkung von Gebühren ist dabei keineswegs schwächer als diejenige von Steuern, aber genauer.496 Die Skepsis gegenüber dem Steuerstaat konventioneller Provenienz reflektiert allgemeine Steuerungsskepsis gegenüber dem Staat: Die Steuer ist als Zwangsabgabe geradezu Inbegriff der den Staat immer noch weithin definierenden und konstituierenden Zwangsgewalt.497 bb) Gebühren und Kollektivgüter Da der Staat Kollektivgüter zur Verfügung stellt und sich durch generellabstraktes Handeln auszeichnet, können zumindest Benutzungsgebühren nicht den egalisierenden Charakter kollektiver Finanzierungspflicht der gesamten Kosten einer Einrichtung vollends abstreifen:498 Immer weitergehende gleichsam rekonkretisierende Individualisierung der Finanzierungskosten im Verhältnis zum Nutzen bei Wahrung der Effizienz zugrundeliegender Rationalisierungsprozesse bleibt daher beständig eine gleichsam selbstreferentielle Staatsaufgabe. d) Die Grenzen des Finanzstaates: „Omnia venalia esse“? Im Bereich des Sozialstaates treffen zwei Entwicklungen aufeinander: Zum einen fordert die rationalisierende und modernisierende Wirkung der Monetarisierung bürgerlicher Leistungspflichten, abgabenartig aufrechterhalten zu werden. Allein diese ermöglicht auch eine störungsfreie Kompatibilität mit anderen Rationalisierungsprinzipien, etwa demjenigen der Bundesstaatlichkeit.499 Zum anderen trifft auf diesen Prozess jedoch das aus der (Sozial-)Staatsausdehnung zunehmend erforderliche Postulat der (Sozialstaats-)Subsidiarität. Diese manifestiert sich in nicht geldlichen, in Dienstleistungen, die durch die Bürger erbracht 495

Schmehl 2004, 3. Sacksofsky 2000, 2625; Kirchgässner 2000, 46; Schmehl 2004, 50. 497 Die Neigung, einen Gebührenstaat herauszubilden, ist jüngste Konsequenz jener von Foucault konzipierten „Bevölkerungspolitik“, „auf die der Bevölkerung offensichtlich entfernten Dinge Einfluß [zu] nehmen, von denen man aber durch das Kalkül, die Analyse und die Reflexion weiß, daß sie effektiv auf die Bevölkerung einwirken können.“, Foucault 2006, 111. 498 Schmehl 2004, 190 f. 499 Schmehl 2004, 210. 496

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

201

werden.500 Die Verschränkung von staatlicher und privater Sphäre, die letztlich aus jedem Subsidiaritätsverhältnis erwächst, macht jedoch systemkompatible Bemessung nichtgeldlicher systemspezifischer (Beitrags-)Leistungen erforderlich. 6. Der Militärstaat Zum Aufkommen des Finanzstaates steht das Phänomen des Militärstaates in gegenseitiger Bedingtheit. Der Begriff des Militärstaates bezeichnet in der Frühen Neuzeit zunächst den Landsknechtsstand. Je mehr sich sodann der geschlossene moderne Staat herausbildet, erhält der Begriff im Sinne eines „imperium in imperio“ eine pejorative Note.501 Im hiesigen Sinne ist zwar zunächst einfach ein Aspekt von Staatlichkeit gemeint, dem jedoch seiner Eigenart nach zwangsläufig jenes Gefahrenpotential innewohnt, wie es der Begriff Militärstaat bezeichnet. Ist Territorialität Konstituens moderner Staatlichkeit, so kann der moderne Staat nur bestehen, wenn sein Territorium integer ist. Der Banalität dieser Aussage entspricht nicht immer ihre Selbstverständlichkeit. Island bildet ein Beispiel für einen eigenen souveränen Staat, der nicht über eigenes Militär verfügt. Kollektive Sicherheitssysteme, als deren bekanntestes Beispiel die Nordatlantische Vertragsorganisation (NATO) gelten kann, führen regelmäßig zu militärischem Aufwand, der das Ausmaß unterschreitet, den die souveränen Staaten ohne den Schutz solcher kollektiver Sicherheitssysteme betreiben müssten. Dies kann Folge eines Trittbrettfahrerproblems sein, kann aber auch einfach bereits an sich einen Rationalisierungsgewinn kollektiven Handelns darstellen. a) Das Verhältnis von Krieg und Staatlichkeit als historische Phänomene Zweck des Militärs ist regelmäßig, nach außen Territorium und Volk zu schützen. Dieser Staatszweck, die „Sicherheit unsrer äußern vollkommenen Rechte“ (Kant) zu wahren, ist dem Ideal eines Gesamtwillens aller Bürger des Staates vermutlich am nächsten. Das Phänomen militärischer Organisation von Gesellschaft zur Abwehr äußerer Feinde und die entsprechenden Rückwirkungen einer solchen Organisation auf Beschaffenheit und Eigenart der eigenen Gemeinschaft ist den Akteuren schon in prähistorischer Zeit bewusst gewesen: Die These zunehmender Bevölkerungskonzentration und -zunahme, wie sie durch den Übergang von der prähistorischen „Wildbeuter-“gesellschaft zur (proto-)Produktionsgesellschaft hervorgerufen wird, führt nicht zwangsläufig zu kriegerischen Verteilungskonflikten. Ist also Krieg keinesfalls zwingende Folge von demografisch 500 Auch wenn hierbei eher an Ehrenämter als Zwangsdienste zu denken ist, sind Ähnlichkeiten zur Antike nicht zu übersehen, cf. Prolog II. 1. b). 501 Weinacht 1968, 107 ff. und 189 ff.

202

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

verdichteten Produktionsgesellschaften, so bilden solche allerdings umgekehrt die conditio sine qua non von Krieg, wenn dieser als „umfassend organisierte und systematisch durchgeführte Aktionen bei Beteiligung ganzer Stämme“ definiert wird:502 Wildbeutergesellschaften kennen nur persönliche Feindschaften, die „sporadisch, oftmals kaum geplant, individualistisch und relativ unorganisiert“ sind503 und bei deren Austragung „auf den Gebrauch komplizierter Bewaffnung und Technik „ verzichtet wird und verzichtet werden kann.504 Die paläo- und mesolithische Gesellschaft der Jäger und Sammler kennt also lediglich die (proto-?)politische Konfliktform der Fehde. Dies bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass Produktionsgesellschaften keine Fehden kennten, und schon gar nicht, dass die Grenzen dieser Begriffe klar wären. Aber die Fehden einer Produktionsgesellschaft sind stets kriegsgeneigt, wie spätmittelalterliche Beispiele aus der Latenzphase des modernen Staates im Alten Reich zeigen, nämlich die Soester Fehde (1444–1449), die Münstersche Stiftsfehde (1450–1456) und die Lichtenberg-Leiningsche Fehde.505 Hierbei handelt es sich um Konflikte, die einerseits in Form und Regularien aus der isolierten Ritterfehde resultieren, wie sie während des 13. Jahrhunderts in Blüte stand, die aber andererseits Bündnispflichten und Kausalketten für das Handeln dritter, teilweise sogar außerhalb des Reiches gelegener Mächte auslösen und damit auf den Staatenkrieg vorgreifen. Zudem werden dritte Unbeteiligte wie etwa Reichsstädte involviert. Ritterlicher Einzelkampf wird durch Söldner ersetzt. Schließlich werden zumindest die Ergebnisse durch rechtliche Formalisierung sanktioniert. Entscheidende Ursache ist die voranschreitende Schwäche des Reiches als arbiträrer Größe:506 Vormoderne Konfliktformen treffen hier also bereits mit modernen, namentlich verrechtlichten Formen zusammen, obwohl oder gerade weil das Reich geschwächt ist. Möglicherweise liegt hierin auch ein momentum der Selbstorganisation. Beide Größen begegnen sich als Extreme: Der Krieg ist am Ende des Mittelalters als Streitform einerseits paralysierter und privatisierter denn je. Das Recht hat andererseits in solchen Konflikten bereits eine Bedeutung erlangt, die es später möglicherweise nicht mehr halten kann.507 Die zunehmende Formalisierung, ja Verrechtlichung des Krieges kann sogar die Abstammungsmerkmale, die den frühneuzeitlichen Krieg als Spross der Fehde verraten, in Gestalt der Erbfolgekriege während der Zeitalters der Westfälischen Ordnung wieder hervortreten lassen. Dabei hatte die absolutistische Monarchie ihr stehendes Heer im diametralen Gegensatz zum Landsknechts502

El Masry 2004, 300 f. Keesing/Keesing 1971, 284. 504 El Masry 2004, 300. 505 Droege 1957, Battenberg 1976. 506 Moraw 1985, 380. 507 Zur weitgehend unerforschten „Prozessfreudigkeit“ der Frühen Neuzeit: Freist 2005, 2. 503

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

203

wesen, das am Übergang von Mittelalter zu Neuzeit noch dominant war, konsequent auf seinen instrumentalen Charakter, den es für die Politik wahrnimmt, reduziert: „última ratio de los reyes“, ließen erstmals die spanischen Könige auf Kanonen prägen.508 Die Paradoxie besteht darin, dass diese Kriegsform des Erbfolgekriegs gleichsam einen Atavismus bildet, den der zivilisatorische Fortschritt erst hervorbringt und der auch bis in die Gegenwart hinein selbst als Fortschritt angesehen wird.509 Dieser vermeintliche Rückfall ließe diese familialen Begründungen auch als Symptom des „handicap principles“ deuten, das die insgesamt hohe Angepasstheit der inzwischen staatlich verfassten Zivilisation westlicher Kultur gegenüber den natürlichen Herausforderungen zeigt. Der Fortschritt des Krieges offenbart die individualistischen Ursprünge dieser Konfliktform. Die Beseitigung des Ständestaates vollzieht sich dabei schneller als die Verselbstständigung des Staates gegenüber dem Monarchen:510 Denn gerade das kostspielige stehende Heer, was den Ständestaat zurückdrängt, ist gleichwohl Ausdruck des weithin privaten Charakters, den die Kriege der absolutistischen Monarchen aufweisen.511 Daher sind die Kriege auch unideologisch, eher öffentlich als staatlich, eben fast privat. Die allgemeine Bedeutung der Herausbildung des modernen Militärstaates bestehe nicht zuletzt darin, dass die enormen militärischen Leistungen, die der Staat aufbringen muss, um seine reine Existenz zu erhalten, zu allgemeinen Rationalisierungsschüben und staatlicher Durchdringung der Gesellschaft führen.512 Zumal die Kriegssituation selbst erfordert ein Maß an systematischer Orientierung aller Staatlichkeit hin auf den Militärstaat, wie es andere Eigenschaften, Funktionen oder Bereiche von Staatlichkeit nicht erfordern, da diese Herausforderungen entweder nicht akut oder nicht existentiell sind.513 Insbesondere die Allkompetenz des Staates durch gesteigerte Möglichkeiten zentralen Zugriffs sind maßgeblich als Folge äußerer Bedrohung anzusehen: Auch hierin manifestiert sich beispielhaft, dass existentielle Krisen zu Zentralisation führen. Insofern ist es umstritten und kaum zu klären, ob es sich beim mo508 Beiläufig bemerkt: Schleichender Zivilisationsrückschritt zeigt sich nicht zuletzt darin, dass es in heutigen Kriegen üblich ist, Sprengkörper mit Zynismen und Schmähungen des Gegners zu beschriften. 509 Kunisch 1973 und 1979. 510 Der Ständestaat geht nach verbreiteter Forschungsmeinung mehr an seiner eigenen Reformunfähigkeit, Demel 1993, 1 und in Deutschland zudem aufgrund außenpolitischer Umstände zugrunde, ebd. 38. 511 Krippendorf 1985. Reinhard 2002, 324 f. bedient sich des von John Brewer geprägten Begriffes des „fiscal-military-state“. 512 Historische Analysen aus dem Bereich des alten Reiches bieten: Beales 1987, 98 ff.; Weis 1988, 224 ff.; Winter 1983, 305; Dickson 1987. 513 In historischer Gesamtschau: Meinecke 1922, 534.

204

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

dernen Staat um einen „pristinen Staat“, also um eine endogene und originäre Bildung aus der Gesellschaft des zu gründenden Staates selbst heraus handelt oder um sekundäre Staaten, deren klassisches Beispiel die neuen Nationalstaaten der postkolonialen Welt darstellen.514 Was für Stämme und andere gentilizische Ordnungen, die sich im Wirtschaftsstadium der Produktion befinden, gilt, trifft jedoch anscheinend nicht auf „komplexere gesellschaftliche Gebilde zu“: Hat sich eine produktive substaatliche Ordnung erst einmal eingestellt, so reicht äußere Bedrohung durchaus aus, um „komplexere Gebilde“ i. e. Staaten zu bilden.515 Das Phänomen der Eroberung und letztlich des Imperialismus wirft sodann selbstverständlich die Frage auf, ob produzierende Wirtschaftsweise und auswärtige Politik von einander zu trennen sind.516 b) Binnenorganisierende Wirkung von Krieg und Landesverteidigung Bei diesen komplizierteren Bedingungsgefügen handelt es sich jedoch regelmäßig noch nicht um Staaten, sondern um ausschließlich kriegsbedingte Hierarchisierungen von Eliten mehrerer Stämme, die Max Weber als Kriegshäuptlinge bezeichnet hat.517 Die freie Übersetzung dieses Begriffs in denjenigen englischen des Warlords ist inzwischen derart einschlägig konnotiert, um hinreichend zu verdeutlichen, dass dieses Phänomen keinesfalls auf die Vergangenheit beschränkt ist, vielmehr der damit beschriebene prekäre Assoziierungszustand äußerst stabil sein kann.518 Krieg und Kriegsmöglichkeit straffen gesellschaftliche Binnenorganisation.519 Übergeordnete Herrschaft muss innergesellschaftliche Kräfte koordinieren und mithin innergesellschaftliche Konflikte disziplinieren.520 Die Empfindlichkeit des Auswärtigen leistet allgemein mediatisiertem Staatsverhalten Vorschub. Somit werden traditionell Lenkungswirkungen staatlicher Aufgabenwahrnehmung zu machtpolitischen Zwecken, die im Bereich des Auswärtigen angesiedelt sind, instrumentalisiert. Eine im Jahre 1770 in Podolien ausgebrochene Pestepidemie dient den damaligen Hegemonialmächten als Vorwand, 514

Zu dieser anthropologischen Begrifflichkeit: Fried 1967, 232 und 241. El Masry 2004, 301. 516 Die grundsätzlichen Fragen nach dem Primat von Politischem oder Wirtschaftlichem, von Außenpolitik und Innenpolitik können und sollen an dieser Stelle nicht erörtert werden und scheinen überdies auch nur als Wechselwirkung erklärbar zu sein. 517 Weber 1985, 676. 518 Münkler 2002, 33 ff.; Fukuyama 2004,138. 519 Cf. für die anthropologische Literatur nur: Ferguson 1990, 36; Harrison 2004, 562, der freilich im Zusammenhang von Krieg und Staatsentstehung auf die Gefahr eines beliebten Zirkelschlusses hinweist, Krieg über Staatlichkeit zu definieren und sodann Staatsentstehung über Krieg zu erklären. 520 El Masry 2004, 300, cf. Firth 1975. 515

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

205

einen cordon sanitaire einzurichten, was als Begründung von Absperrungen und Abschneiden gegnerischen Territoriums seither Schule macht. Welch existentielle Bedeutung der staatlichen Koordinationsleistung von Kriegsgesellschaften zukommt, illustriert anschaulich die uns heutigen befremdliche und nur schwer verständliche Reserviertheit, mit der auch gegen totalitäre Gewaltherrschaft eingestellte, widerständige und dissentierende Bevölkerungsteile auf misslungene Versuche reagieren, das Land während eines Krieges von einem solchen verbrecherischen Regime zu befreien: Vorgeworfen wird hier nicht primär der Plan als solcher, sondern sein Misslingen, das als stets mögliches Risiko sekundär das gesamte Unternehmen vornehmlich den Soldaten suspekt macht. Dass die Gefahr, die in einem Fall äußerster Kräfteanspannung von unsicheren oder unklaren Herrschaftsverhältnissen ausgeht, diejenige verbrecherischer Herrschaft unter Umständen übertreffen könnte, ist nicht mit solch hoher Sicherheit auszuschließen, wie sie sich potentielle Opfer solcher verbrecherischen Regime zumeist wünschen: Verbrechen ist nicht immer Anarchie, aber Anarchie wird allzu leicht zum Verbrechen. Ein weiteres Problem liegt letztlich jedoch in einer kompromittierenden psychischen Disposition des Menschen, wenn er gefährdet ist. Sie beschreibt gerade die Perfidie verbrecherischer Regime: Innere Wirren, die sich im sprichwörtlichen Sinne hinter dem Rücken kämpfender Truppen und unmittelbar betroffener Zivilbevölkerung vollziehen, können von den Soldaten an der Front emotional kaum anders als eine Form von Verrat empfunden werden. Die Totalisierung des Krieges beschleunigt und verstärkt diese Entwicklung: Die kompliziert und anfällig vernetzte Maschinerie einer industriellen Kriegsgesellschaft, deren Militär gleichsam nur letzte Exekutive eines langen Prozesses ist, kann tatsächlich bereits durch vergleichsweise geringfügige Störungen entscheidend geschwächt werden und mit ungeheuren Verlusten an Menschenleben einhergehen. Es ist hier Rationalisierung, die ein Dilemma zwischen offensichtlich moralisch Gebotenem einerseits und den eigenen moralischen Zwängen, die staatliche Rationalisierung schafft, andererseits verursacht. Diese sekundäre Moral staatlicher Rationalisierung ist jedoch ein Problem eben der Staatsraison im ursprünglichen Sinne des Wortes. Daher wird sie als Teil des Problems des Machtstaates noch zu behandeln sein. Das Dilemma ist dementsprechend auch so alt wie die Idee des modernen Staates selbst: Bereits Machiavelli zeigt sich gegenüber Verschwörungen skeptisch: „Die Erfahrung zeigt, dass viele Verschwörungen gemacht, aber wenige geglückt sind.“ 521 Gleichwohl ist der Militärstaat in vielerlei Hinsicht (Epi-)Phänomen obrigkeitlicher Funktion des Staates. Die bereits dargelegte Voraussetzung des modernen Finanzstaates lässt den Militärstaat erst erstarken, nachdem sich die dualistische 521

Machiavelli 1990, 91.

206

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

Herrschaft von Monarch und Ständen zu jener contradictio in adiecto weiterentwickelt hat, die mit dem Begriff des Ständestaates nur unzureichend erfasst werden kann. Dies geschieht sowohl als Grund wie auch als Folge der Überwindung des monarchischen Staates über die Stände.522 Die Stände durch den Staat zu überwinden und zu gleichen Untertanen zu machen523 ist Voraussetzung jener Gleichheit, die erforderlich ist, damit der Staat tatsächlich seine rationalisierende Funktion als arbiträrer Dritter erfüllen kann: Staat ist also eo ipso immer auch egalisierend. Demokratie wirkt demgegenüber antiegalistisch. Nicht zuletzt auch damit erklärt sich die relative Konstanz, von der auch in demokratisch verfassten Staaten die Außenpolitik gegenüber anderen Politikfeldern gekennzeichnet ist. Der Militärstaat erweist sich dabei innerhalb des Staates selbst nicht abschließend als Moment repressiver Staatlichkeit. Im Gedanken der levée en masse oder dem „Staatsbürger in Uniform“ tritt überdeutlich zutage, dass der Militärstaat Katalysator von Gleichberechtigung und Emanzipation des Bürgertums wird.524 Der Ursprung des modernen Militärstaates liegt jedoch darin, dass stehende Söldnerarmeen aufgestellt und diese mithin zu einem entscheidenden Merkmal des frühmodernen Staates schlechthin werden. Der Staat entsteht über die sich gegenseitig katalysierende Wechselwirkung eines coercion-extraction-cycle.525 Da dieses Phänomen in der Frühen Neuzeit nahezu überall auftritt, darf es dort als zwangsläufige Resultante der prekären politischen Ausgangssituation an der Wende vom Spätmittelalter zur Neuzeit gelten, wo Staatlichkeit entstand. Damit steht dem absolutistischen Herrscher nolens volens auch ein innerstaatliches Repressionsmittel zur Verfügung, ja durch das Aufkommen stehender Heere wird überhaupt erst etwas der heutigen Innenpolitik ähnliches ermöglicht: „Ius est in armis.“ 526 Im Alten Reich führt erst das Aufkommen des „miles perpetuus“ dazu, dass sich der Monarch der staatlichen „Landschaft“ als Gegenstand seiner Politik annimmt und die Stände zu rein gesellschaftlichen Kräften zurückdrängt. Erst unter dem Eindruck des an Kriegen reichen Jahrhunderts zwischen 1550 und 1650 beginnt sich der Fürst allmählich mit dem Staat zu identifizieren, womit er jedoch zugleich beginnt, die Eigenpersönlichkeit des Staates anzuerkennen.527 Schließlich wird nicht erst mit Napoleon beginnend, aber unter dessen Herrschaft

522 Schorn-Schütte 2004, 127. Der Untergang des Ständestaates durch die Geburt des Militärstaates ist durch etliche Einzelstudien belegt, cf. für Österreich Dickson 1987. 523 Habermas 1965, 80; Grawert 1972, 14; Angermann 1976, 115. Prominentes Kennzeichen der Ablösung überkommener Privilegiengesellschaft durch moderne Bürgergesellschaften ist die sich allmählich durchsetzende allgemeine Steuerpflicht, die später durch allgemeine Wehr- und Schulpflicht ergänzt wird, Reinhard 2002, 317. 524 Münkler 2002, 100 ff.; Foucault 2005, 74. 525 Reinhard 2002, 57 und 305. 526 Don Diego Mendoza prägt diese Devise des frühmodernen Staates in einem Schreiben an Karl V., Münkler 1987, 49. 527 Oestreich 1967, 70.

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

207

kulminierend der Militärstaat zum leitenden Paradigma, den gesamten Verwaltungsstaat zu organisieren.528 c) Wehrpflicht als gesellschaftlicher Veröffentlichungskatalysator Es ist die mit der französischen Revolution anhebende Wehrpflicht, die die Staatenkriege im 19. Jahrhundert zu Volkskriegen und im 20. Jahrhundert zu totalen Kriegen werden lässt und gleichsam die militärische Konkretion der für die Moderne kennzeichnende Verschmelzung von Staat und Gesellschaft darstellt.529 Die allgemeine Wehrpflicht ist wohl einer der stärksten Veröffentlichungskatalysatoren moderner Gesellschaften. Und schließlich ist es erst der moderne Nationalstaat, der der politischen Romantik ermöglicht, den Krieg zu verherrlichen.530 In der angelsächsischen und westeuropäischen Welt ist in der Gegenwart zumindest aktiver Wehrdienst binnen einer Generation verschwunden. Wo die Wehrpflicht noch besteht, hat sie diskrete Umwandlung in eine Rechtsgrundlage erfahren, arbeitsintensive zivile Bedürfnisse durch billige Arbeitskräfte zu befriedigen. Dass sich Wehrpflicht ökonomischer Argumentation entziehe, scheint beim Disput um sie dabei den einzigen Konsens darzustellen: Während ihre Befürworter die Freikaufmentalität ihrer Gegner kritisieren, argumentieren diese, die Wehrpflicht dürfe nicht aus ökonomischen Gründen beibehalten werden, da sie dafür einen zu erheblichen Freiheitseingriff darstelle. Tatsächlich wird die Wehrpflicht dort, wo sie aufrechterhalten wird, auch aus finanziellen Gründen beibehalten, aber immateriell begründet. Offensichtlich stellt die Wehrpflicht jedoch einen der seltener werdenden Bereiche des Staatlichen dar, in dem ausschließlich ökonomische Argumentation auf beiden Seiten für illegitim gehalten wird. Hier wird auf die unmittelbare Verhaltensdeterminierung und nicht wie im nahezu ubiquitären Steuerstaat auf Verhaltenslenkung oder wie im aufziehenden Gebührenstaat auf Verhaltensverantwortlichkeit abgestellt. Die Wehrpflicht ist in unserer Gegenwart zu dem Paradigma für das Trittbrettfahrerproblem schlechthin geworden: Hier manifestiert sich, wie der Staat, indem er das Gefangenendilemma überwindet und äußere Sicherheit zum gleichen Kollektivgut für alle macht, ein neues Dilemma schafft: Dieses Problem bietet e silentio ein weiteres eindrucksvolles Beispiel für die Rationalisierungsbeschleunigung finanzieller staatlicher Steuerung, da Geld durch seinen hohen Abstraktionsgrad auch dasjenige Steuerungsmittel ist, das am unmittelbarsten (Verteilungs-)Gerechtigkeit verwirklicht. 528

Leisner 2006, 61. von Krockow 1976, 456; cf. in der neueren Literatur unter ökonomischem Aspekt: Hoppe 2003, 106 und 109, Anm. 38. 530 Meinecke 1922, 150. 529

208

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

Die „postheroischen Gesellschaften“ nähern sich dabei demjenigen Zustand relativ an, den absolut das so genannte „Volunteer-Dilemma“ bezeichnet:531 Von einer Gruppe untereinander hermetisch abgeriegelter Individuen muss ein einziges sein Leben opfern, damit alle anderen gerettet werden können. Opfert sich kein Individuum aus der Gruppe, kommen zu einem festgesetzten Zeitpunkt alle Individuen ums Leben.

Gerade weil das Militärische zu solcher Art existentieller Zuspitzung neigt, ist es locus classicus der Staatsräson. Das Gemeinwohl kann nur bewahrt werden, wenn gewisse Individualinteressen vollständig übergangen werden, was aus einem ethischen Gesichtspunkt betrachtet problematisch sein mag.532 Die Gesamtnutzenoptimierung durch Individualnutzenpejorisierung verliert selbstverständlich in dem Maße an Legitimität, indem sich der Gesamtnutzendefekt in einem ungünstigeren Verhältnis zur Individualnutzenpejorisierung darstellt. Dies wird insbesondere dann der Fall sein, wenn es nicht um Gemeinwohlerhaltung, sondern Gemeinwohlverbesserung gehen wird. Dass das Gemeinwohl gleichwohl in totalen Widerspruch zum Individualinteresse par exellence geraten kann, nämlich dem physischen Existenzerhalt, legt nahe, die verbreitete These zu bezweifeln, das Gemeinwohl könne gar keine eigenständige Größe darstellen, die über die Summe der Partikularinteressen hinausgehe.533 d) Der postnationale Militärstaat: Vom politischen Staatenkrieg zur staatlichen Polizeiaktion? Der postnationale Militärstaat entsteht mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Möglichkeit der Menschheitsvernichtung und die Reduzierung möglicher feindschaftlicher Beziehungen auf einen einzigen Konflikt lassen die „Freundschaftslinien“ entstehen, „jenseits derer dann die Atom- und Wasserstoffbomben fallen.“ 534 Der Nationalstaat wird im Militärischen durch Allianzen kollektiver Verteidigung zunehmend ersetzt: Das Militärische ist eines der ersten Gebiete, auf dem für die Mehrzahl der westlichen Staaten äußere Sicherheit zum internationalen Kollektivgut wird. Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes ist freilich noch offener geworden, welchem Kollektiv das Gut der Sicherheit gewährleistet wird: Die Beziehung zu den Nationen, die mehr denn je die Militärmacht stellen, und solchen, die davon 531 Konzept der heroischen Gesellschaften: Münkler 2003, 140 ff.; zum „VolunteerDilemma“: Poundstone 1993, 202. 532 Klassisch für den Unterschied zwischen angelsächsischem und deutschem Rechtskreis ist der berühmte „Weichenstellerfall“, der sich aus der Hegelschen Rechtsphilosophie unmittelbar ableiten lässt. 533 Wie aber noch jüngst in der magistralen Arbeit von Anderheiden mit Vehemenz behauptet wird, Anderheiden 2006 passim, v. a. 27 und 45. 534 Schmitt 1974, 20.

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

209

profitieren, ist mittelbar und mehrgradig abgeleitet. Auch wird der als Legitimation bereits im Zweiten Weltkrieg beanspruchte Schutz von Menschenrechten anscheinend von formaler Begründung für demokratische Verfassungsstaaten tatsächlich zu inhaltlichem Grund, militärisch zu intervenieren.535 Dies gründet letztlich in der bei Locke bereits grundgelegten Universalität und Superiorität der Menschenrechte als vorstaatlichem Eigentum des Menschen.536 Mittlerweile sind spätmoderner Staat und ausgehende Industriegesellschaft auch im Militärischen soweit herangereift, dass die für die Moderne kennzeichnende Kriegsart des Volkskrieges ausstirbt und sich der Krieg und sein Militärapparat in wechselseitiger Koevolution einer Mischung aus Staatenkriegen und Polizeiaktionen annähern. Damit würde sich auf transnationaler Ebene eine Entwicklung fortsetzen, die Carl Schmitt im Inneren des Staates für die Frühe Neuzeit als kennzeichnend erachtet hat, die Ablösung von Politik durch Polizei.537 Sowohl hinsichtlich des Politischen in der Frühen Neuzeit als auch der gegenwärtigen transnationalen Politik sind indes Zweifel an dieser These angezeigt. Technik und Taktik, Technologie und Strategie haben sich dabei nicht nur soweit verkompliziert,538 sondern sind überdies auch so metamorph und polymorph geworden, dass Kriegführung zu einer Angelegenheit von professionellen Spezialisten geworden ist. Die Professionalisierung des Militärischen ist durch die elektronische Überwachung und Bewirtschaftung des Gefechtsfeldes sowie durch hochdistante Lenkwaffen und durch die damit einhergehenden Folgen militärischer Asymmetrie beschleunigt worden. Schnelle Verfügbarkeit, Koordination über weit auseinander liegende Orte hinweg und zwischen den Teilstreitkräften setzen ein Maß an Informationsverarbeitung mit einer Geschwindigkeit und einem Vernetzungsgrad voraus, dem offensichtlich keine Macht außerhalb der USA gewachsen ist. Einer der vielen entscheidenden Umstürze des US-amerikanischen Militärwesens besteht darin, dass anscheinend zumindest die Möglichkeit besteht, die Strategie mittlerweile begrenzt Waffenerfindung und -produktion bestimmen zu lassen und nicht mehr nur umgekehrt. Inwieweit diese Möglichkeit Wirklichkeit ist, bleibe an diesem Ort unerörtert. Politische Analyse und Willensbildung, Strategie, serielle Rüstungsproduktion und schließlich taktischer Einsatz der Mittel sind durch beispiellose Geschwindigkeit zu einem Prozess verschaltet, der beinahe synchron abläuft. Damit ist nicht nur der Krieg für die USA in gewissem Umfang wieder ein Mittel der Politik geworden. In der überlieferten Weltgeschichte ist selten zuvor alles Militärische so stark von der Politik instrumentalisiert und 535 Münkler 2002, 222 ff. Im Hinblick auf das äußerlich weitgehend befriedete Imperium Romanum der späten Republik und des frühen principatus bezeichnet auch ein Historiker wie Theodor Mommsen häufig Militäroperationen als Polizeiaktionen. 536 König 1994, 144. 537 Schmitt 1963, 11. 538 Hoch 2001, 205 ff.; Münkler 2003, 95.

210

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

eine auch militärisch erfolgreiche Kriegführung selten so politisch steuerbar gewesen wie heutzutage für die USA. Neben dieser Fortentwicklung und diesem erneuten Bedeutungszuwachs des Militärischen ist innerhalb des modernen Staates ein zunehmender Bedeutungsverlust militärischer Gewalt zu konstatieren. Selbst systemtranszendierende Konflikte zentrieren sich nicht mehr um den Besitz des militärischen Apparates im Besonderen wie der Erzwingungsstäbe im Allgemeinen.539 Systemveränderung scheint wenn überhaupt nur noch über Systeminfiltration möglich zu sein. Das Schicksal des „Marsches durch die Institutionen“, den die Studentenbewegungen des Jahres 1968 in der westlichen Welt zur revolutionären Strategie erhebt, lässt die revolutionäre Systeminfiltration freilich wiederum eher als systemische Revolutionsabsorption erscheinen. Die Gewaltapparate, wie sie im Militärstaat manifest sind, sind jedenfalls nicht nur auf rein funktionale, sondern überdies auch nur noch auf höchst sektorale Bedeutung beschränkt: Das Militär ist in den westlichen Staaten der Gegenwart für potentielle Revolutionäre eher unerheblich. – Kanonen sind durch Fernsehkameras abgelöst worden. 7. Der Machtstaat Die Formen des frühmodernen Staates erscheinen als eigentümlich unideologisch, ganz den praktischen Problemen des Inhaltes, vor allem aber denjenigen des Erhaltes herrschaftlicher Machtausübung verpflichtet. Daher wird der frühmoderne Staat nicht selten auch als Machtstaat bezeichnet540 und die Konzeption eines gemäßigten gleichsam pragmatisch geläuterten Absolutismus, wie er von Hobbes und Machiavelli begründet und von Lipsius sodann als optimale Herrschaftsorganisation beschrieben wird, als seine theoretische Grundlegung erachtet.541 Reduziert auf die Eigenschaft eines allgemeinen Organisationsschemas ist bereits in der athenischen Polis fortgeschrittenen Stadiums Staat als weithin inhaltsloser und disponibler Apparat eines Machtstaates konzipiert.542 Aus einem Verständnis ausschließlich kollektiver Trägerschaft von Freiheit oder doch zumindest der Beschränkung individueller Freiheit auf Partizipation, wie sie im alten Athen geläufig war und womit sie eigentlich im neuzeitlichen Sinne eher unter den Begriff der Gleichheit zu zählen ist, lassen sich machtstaatliches Denken und im Innern des Staates Staatsraison begründen, ja geradezu postulieren: Denn es geht nicht nur um etwas Erhaltenswertes, sondern auch um etwas, zu dem solches Denken gar nicht in Widerspruch geraten kann.543 Es ist daher kein 539 540 541 542 543

Schelsky 1973a, 21 und 28. Z. B. Habermas 1965, 21. Schorn-Schütte 2004, 156; Oestreich 1956, 31–78; Reinhard 2002, 109. Isensee 1999, 24. Münkler 1987, 59.

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

211

Zufall, dass dasjenige antike Paradigma von Machtpolitik, das als vormoderner Referenzpunkt der neuzeitlichen Lehre von der Staatsraison verwandt wird, der Melierdialog, die Athener als Protagonisten des Gesetzes der Macht, das auch sie nicht beherrschten, hervortreten lässt.544 Um das, was den Alten mit vormoderner Unbekümmertheit als Gesetz der Macht erschien, als spezifisch legitimationsbedürftige ratio zu verstehen, ist die bewusste Konfrontation des kollektiven mit dem individuellen Interesse erforderlich. Herfried Münkler entwickelt die Lehre Machiavellis daher vor dem Kontrast derjenigen des Erasmus von Rotterdam: Denn das Spezifische der neuzeitlichen Staatsaison ist gemäß Münkler nur dialektisch erfassbar.545 Ordnung als Zweck und Funktion an sich beschreibt die auch für die Gegenwart durchaus plausible raison d’être des Machtstaates.546 Die Berufung auf ein Gewissen ohne äußere Referenz wird gleichsam zur „causa belli civilis“.547 Es ist der entideologisierte und entidolisierte Machtstaat, der erst wieder den Frieden herzustellen weiß. Daher stellt sich bereits auf der Ebene des Polizeistaates die Frage der Staatsraison und nicht erst auf der Ebene des Rechtsstaates: Wenn der Staat nur legitimiert ist, unmittelbar für das Gemeinwohl zu sorgen und keine legitime Selbstzweckhaftigkeit aufweisen darf,548 so kann es auch per definitionem keine Staatsraison geben. Denn die jeweils Herrschenden werden dann von Mit- zu Alleinprofiteuren der Gemeinwohlgewährleistung. Umgekehrt gilt: Wenn der Rechtsstaat erhalten bleiben soll, muss er auch nicht-öffentliches und vor allem nicht- bzw. widergesetzliches Staatshandeln tolerieren.549 Das Recht in seiner 544

Münkler 1987, 36. Münkler 1987, 36. 546 Hobbes, Kap. 16 Leviathan; Koselleck 1973, 26 geht auf das spezifische Ordnungskonzept des hobbesianisch instruierten Absolutismus ein. Ordnung als Faktor, Grund und Begründung von Macht wird allgemein bei Anter, Die Macht der Ordnung, Tübingen 2004 untersucht. Cf. Voigt 2007, 18; 34 und 283. 547 Koselleck 1973, 22. 548 Zur normativen Unvereinbarkeit von Gemeinwohl und staatlicher Selbstzweckhaftigkeit: Isensee 1988, § 57, 8. 549 Es zeigt sich am Beispiel der Staatsraison die Grenze von juristischer zu nichtjuristischer Staatswissenschaft. Die Jurisprudenz muss ihrer Logik folgen, Staatsraison kann es in ihrem Denksystem nicht geben, cf. dazu eine an sich für nichtjuristische Betrachtung weithin offene Untersuchung wie diejenige von Isensee. Sie kennt an dieser Stelle weder Rechtfertigung noch Entschuldigung, Isensee 1968, 278. Wo die Staatsraison Anerkennung findet, wird sie jedoch in eine Dichotomie von Zweck und Mittel eingeordnet und kann als solche nur als Mittel, das der Zweck heiligt, gewürdigt werden, Isensee 1988, § 57, 22: Dabei ist der ragione di stato als solcher zu Eigen, gerade nicht das durch sie begründete Verhalten zu rechtfertigen oder zu entschuldigen. Vielmehr ist sie selbst mit soviel Geltungskraft imprägniert, dass sie ihr entsprechendes Verhalten fordert, also durchaus auch Eigenschaften, wie sie Zwecke und Ziele selbst kennzeichnen. Sie ist eben eine ratio und als solche eine genuin romanische Kategorie und deutschem Denken lange Zeit hindurch nur schwer einzufügen. 545

212

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

mittelalterlichen Unbedingtheit, wie sie sich in den Weistümern manifestierten, wird durch die necessità ersetzt.550 Zwar ist dieses dann kein Ausfluss der Rechtsstaatsfunktion, wohl aber deren notwendige Voraussetzung.551 Die Staatsraison ist somit auch das erste Phänomen, was den Territorialstaat transzendiert. Deutlich wird dies bei Fichte, der Machiavelli als Vater der ragione di stato rezipiert.552 Besold hat ein Konzept sachlich verselbständigter Gewalt im Discursus politicus, der in dem Jahre, da der Dreißigjährige Krieg ausbricht, 1618 erscheint, erstmals theoretisch verfasst: Das Reich, das Imperium, ist demnach eine vom Kaiser, dem Imperator, selbstständige Gewalt.553 Damit sind auch die theoretischen Voraussetzungen geschaffen, die italienische Lehre von der ragione di stato in die deutsche Staatslehre zu übernehmen.554 Gleichwohl verläuft deren Anverwandlung an das deutsche Staatsdenken eher schleppend. Kants Werk ist sodann vom Gedanken eines allgemeinen Staatswillens, der den Willen aller seiner Bürger umfasse, derart durchzogen, dass darin dieser Wille schließlich als „historische Wahrheit“ bezeichnet wird.

Einziges Ziel der ragione di stato besteht im „mantenere lo stato“, im Aufrechterhalten des Staates.555 Diese Lehre der ragione di stato, deren Gegenstand der Herrschaftsapparat und nicht das auf dienende und instrumentelle Funktion beschränkte Recht an sich ist, ist noch zu Beginn des 17. Jahrhunderts der deutschen staatswissenschaftlichen Literatur unbekannt.556 Das heutige Tabu der ragione di stato ist dabei nicht von vornherein im deutschen Staatsdenken angelegt. Die bis weit in das 20. Jahrhundert hinein verbreitete Vorstellung des Staates als einer von der Gesellschaft abgelösten Herrschaftsorganisation und als einer in sich ruhenden Entität hätte durchaus Möglichkeit geboten, die ragione di stato zu rechtfertigen. Es ist wohl weniger humanistische Moral oder christliche Menschenliebe, sondern mehr ein tief verankertes legitimistisches und an Formen gebundenes Denken, was die Übernahme dieser Denkfigur verhindert. Dem Dilemma anspruchsvoller ethischer Staatsziele und rationaler politischer Staatserhaltung sehen sich bereits Monarchen in der Aufklärung ausgesetzt, wie etwa das „Königtum der Widersprüche“ (Schieder) Friedrichs des Großen veranschaulicht.557 Außerdem wird an dieser Einstellung eine dauerhafte (Hyper-?)Sensibilisierung gegenüber Eigendynamik von Staatsgewalt durch die deutsche Erfahrung des Totalitarismus deutlich: Staatsraison ist als Kategorie nicht nur juristischen, sondern auch politischen Denkens Tabu. Dies in der Staatspraxis auch durchzuhalten setzt freilich den schützenden Schirm einer auswärtigen Hegemonialmacht voraus. 550 Münkler 1987, 50. 551 Ein sich analog darstellendes Spezialproblem stellt die Notwendigkeit von Verfassungsschutz dar. 552 Fichte 1834, 423. 553 Besold 1632. 554 Kern 1949, 25; Lenz 1925, 273 f. 555 Münkler 1985, 35 f.; Münkler 1987, 11; Voigt 2007, 283. 556 Lenz 1925, 268.

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

213

Gegenüber einer Position, den Staat als politisches Phänomen und nicht als Mittel des Rechts anzusehen, wird also Skepsis bereits lange vor den totalitären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts geäußert, ja solche Positionen werden weithin als nichtbeachtenswert eingeschätzt. Das Phänomen der Machtstaatlichkeit bleibt umgekehrt keinesfalls auf die Frühmoderne beschränkt.558 Die Theorie des Machtstaates entsteht parallel zum Phänomen bereits relativ bald nach dem Entstehen des modernen Staates überhaupt. Auch wer sich auf den Frieden berufe, führe durch den Totalitätsanspruch das „bellum omnium contra omnes“ herbei. Gerade die Gemeinsamkeit dieser Haltung der Parteien aber sei sodann die Voraussetzung des Bürgerkrieges.559 Der Wille beider Parteien, eine solche Lösung anzustreben, die für beide Parteien, also auch für die jeweils gegnerische Partei, in der eigenen Wahrnehmung Überlegenheit begründet, kennzeichnet das Problem, der ideologischen und weltanschaulichen Gründung moderner Herrschaft. Im Namen aller gegen alle anderen zu handeln ist das, was der Staat zu überwinden hat. Es reicht nicht der bewusste Wille aus, einen für alle Individuen optimalen Gesamtnutzen erstreben zu wollen, sondern es muss eine arbiträre Macht diesen herbeiführen, die nicht im Namen aller, sondern „im Namen des Staates“ handelt.560 Bereits ein noch vom Deutschen Idealismus geprägter Staatstheoretiker wie von Humboldt erkennt jene „unbedingte [] Auswirkung [. . .] immanenter Machttriebe, wie sie später noch Ranke und noch stärker Bismarck“ sehen.561 Haller und die Kreise um Friedrich Wilhelm IV. hindert ihre Staatsfremdheit nicht, in der Macht ein gleichsam sich selbst legitimierendes Phänomen zu sehen, da Macht bald normativ, bald deskriptiv als nicht übertragbar erachtet wird. Vielmehr wird eine Legitimität, die behauptet, auf Übertragung zu beruhen, zu Despotismus.562 Es folgt der Konsequenz Hobbesianischer Tradition, den Staat als eigenständig und eigengesetzlich zu begreifen, wenn Carl Schmitt das Konzept des Machtstaates für das 20. Jahrhundert weiterentwickelt.563 Fortschreitende technische und wissenschaftliche Möglichkeiten, aber auch politische Rationalisierung und Nationsbildung führen nun jedoch dazu, dass das instrumentelle totalitäre Potential, das dem Hobbesianischen Staat als einem Staat der Gedankenfreiheit wider 557 Schieder 1983, 34. Während Birtsch daraufhin bestritten hat, dass Friedrich gänzlich unbewegt von „der Umsetzung aufgeklärter Philosophie in die Staatspraxis“ gewesen sei, geht Möller 1974, 525 von einer relativ sauberen Trennung von Staatsraison und Staatsphilosophie aus. Diese näher an der älteren Forschung liegende Auffassung dürfte auch der Eigenart der Staatsraison als etwas Ausnahmehaftes entgegenkommen. 558 Schorn-Schütte 2004, 146. 559 Koselleck 1973, 22. 560 Herfried Münkler hat deshalb diese Wendung sogar als Titel einer Monografie über Geschichte und Entstehung der Staatsraison gewählt. 561 Meinecke 1922, 194. 562 Meinecke 1922, 228. 563 Schmitt Staff 1987, 142.

214

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

Willen innewohnt, nunmehr für das gerade Gegenteil von Hobbes’ Anliegen aktualisiert wird. a) Eigenart und Definition, Funktionsweise und Logik von Staatsraison Angesichts der Massivität, mit der Individualinteressen im Bürgerkrieg zu Zeiten von Machiavelli und Hobbes aufeinander treffen, und der Grundsätzlichkeit, mit der das Gefangenendilemma die Ausweglosigkeit der Individualinteressen uns heute vor Augen führt und bewusst erleben lässt, fragt sich indes, ob nur eine Gewalt diese Situation gegenseitiger Blockade aufheben kann, der auch Eigenpersönlichkeit zuerkannt wird, solange dies dazu dient, ihre überragende und arbiträre Stellung zu stärken und sie nicht zu einer weiteren Partikularmacht verkommen zu lassen.564 Zumindest die klassische Lehre von der Staatsraison geht von solch einer Eigenpersönlichkeit aus, deren Energie die Eigendynamik der Macht ist.565 Tatsächlich können Nash-Gleichgewichte für einzelne Individuen bzw. Partikularinteressen zu optimalen individuellen Ergebnissen führen, die sie bei einem Verhalten, das auf den Gesamtnutzen optimierend gewirkt hätte, nicht erreicht hätten.566 Es bleibt umstritten, ob der Staat nicht für seine Träger wie für seine Bürger auch tÝloò sein muss. Gerade der sich seit rund zweihundert Jahren ausdehnende Rechtsstaat führt zu Restriktionen, die staatliche Akteure in tragische Dilemmata verwickeln, das, was sie erhalten wollen, nur gegen dessen Regeln bewahren zu können. Die Staatsraison definiere sich durch ihre Undefinierbarkeit, sie „suspendiert und dispensiert“, ihre Eigenart beschreibt die Ausnahme.567 Darüber ist Staatsraison schon früh zu einem Mythos moderner Rationalität geworden. Definieren lässt sie sich aber durchaus soweit, dass es sich um eine Bezeichnung für irreguläres Ausnahmehandeln des Staates zur Erhaltung der Unversehrtheit und des von seiner Existenz unmittelbar abhängigen Gemeinwohls handelt. Die pragmatische Leitfrage, um festzustellen, ob Staatsraison angezeigt ist, ist daher diejenige, welche Konstellationen grundsätzlich eher für eine isolierte Betrachtung des Gesamtnutzens durch den Staat sprechen. Voraussetzung ist eine existentielle Bedrohung des Staates. Dabei muss es sich nicht unbedingt um eine aktuelle oder akute, es kann sich auch um eine potentielle und chronische Störung staatlicher Existenz handeln. Ist Staatsraison selbst instrumentell auf Staats564 Diese Frage bejahend zu beantworten, stellt den eigentlichen, zutiefst hobbesianischen Kern u. a. der Lehre Carl Schmitts dar, Günther 2004, 125: Der Staat ist unhinterfragbar und damit faktisch Selbstzweck, wobei auch Schmitt und seine Schüler diese scheinbare Tabuierung des Staates begründen. Ein solches Verständnis liegt letztlich auch der Definition Münklers zugrunde: 1987, 9; 2. 565 Meinecke 1957; Münkler 1987, 14 und 36. 566 Poundstone 1993, 98. 567 Münkler 1987, 11.

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

215

erhalt gerichtet, so können auch Personen nur instrumentell für die Staatsraison von Interesse sein, denn der eigentliche Gegenstand ist der Staat. Dies wird oftmals übersehen, wenn Machiavelli mit Machiavellismus identifiziert wird: Machiavelli ging es um ein zutiefst selbstloses Ziel, den Erhalt des Staates, der sich klassisch eben in der Selbstbehauptung einer Regierung verwirklicht. Aber Regierungserhaltung ist nur ein Nebenprodukt von Regierbarkeitserhaltung und letztlich von Staatserhaltung. „Ein rechter Gebrauch [der Grausamkeit], wenn man dies so nennen darf, ist der, wenn das Böse ein einziges Mal zur eigenen Sicherheit geschieht, dann aber aufhört und sich soviel wie möglich zum Nutzen der Untertanen verwandelt. Einen Mißbrauch nenne ich es, wenn das Böse im Anfang gering ist, mit der Zeit aber eher zunimmt als nachläßt.“ 568

Dass Machiavellis Impetus ein genuin ethischer und sein Denken dem Gemeinwohl verpflichtet ist, wird ebenfalls deutlich. „Ferner soll ein Fürst die Tüchtigkeit lieben und die Trefflichen in jedem Fache ehren. Er soll seine Bürger anfeuern, ihrem Beruf emsig zu obliegen [. . .], damit sie nicht ablassen, ihren Besitz zu mehren, aus Angst daß er ihnen genommen werde, noch aus Furcht vor Steuern ihren Handel vernachlässigen. Vielmehr soll er jeden dazu ermuntern und alle belohnen, welche die Stadt oder den Staat auf irgendeine Weise bereichern wollen.“ Der Fürst „soll [. . .] sich menschenfreundlich und freigiebig erweisen.“ 569

Staat wird dabei in größter Abstraktion gedacht, das Wohl seiner Angehörigen soll gerade optimiert werden, indem sie nur sekundär erheblich sind.570 Auch wenn die Staatsraison mit der Ausbreitung des modernen Staates weltweit Karriere macht, so liegt ihr doch ein zutiefst romanisches Staatsverständnis zugrunde. Das Konzept einer arbiträren Macht, derer es bedarf, um die Konstellation des Gefangenendilemmas zu überwinden, wird in der Idee der Staatsraison derart konsequent gedacht, dass das Fortbestehen des Staates zum allprioritären Maßstab wird. Ohne Zweifel ist die von den Partikularinteressen völlig verselbstständigte Eigenmacht eines arbiträren Dritten der unmittelbarste und radikalste Weg, Partikularinteressen zur Kooperation zu zwingen: Sie haben keine eigenen vorstaatlichen Rechte, sondern allein dem Staat zu dienen. Dass Staatsraison gleichwohl 568

Machiavelli 1990, 53. Machiavelli 1990, 110. 570 Carl J. Friedrich hat eben wegen dieser Staatszentriertheit Machiavelli abgesprochen, die Theorie der Staatsraison erschaffen zu haben. Zwar zeugt dies von der Erkenntnis, Machiavelli habe nicht den Machiavellismus erfunden, aber diese These gründet auf einer Verschmelzung von Staatsraison und Machiavellismus. Die staatwissenschaftliche longue durée hat von Friedrich Meinecke bis Herfried Münkler sich vielmehr das auch hier vertretene Verständnis von Staatsraison zu Eigen gemacht, Münkler 1987, 16. 569

216

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

nicht mit Tyrannis identisch, sondern gemeinwohlverpflichtet ist, erhellt etwa aus Machiavellis Maxime, „wenn die Fürsten nicht umhin können, den Hass eines Teils der Bevölkerung auf sich zu laden, so müssen sie zunächst darauf sehen, daß sie nicht von allen gehasst werden.“ 571 b) Das Dilemma der Sicherheitskräfte Zentrale Felder dieses Dilemmas sind klassisch Polizei und Militär, Paramilitär und Nachrichtendienste. Hierbei sind sowohl Auftrag als auch Möglichkeiten der verschiedenen Kräfte dilemmageneigt. Hinzukommt jedoch, im Hiat wachsender technischer Möglichkeiten und rechtlicher Zulässigkeiten aufgehoben, das Dilemma des Überwachungsstaates. Namentlich Nachrichtendienste sehen sich selbst aufgrund der Unmittelbarkeit ihres Erlebens permanentem Handlungsdruck ausgesetzt, erzeugen solchen jedoch auch gegenüber anderen staatlichen Institutionen: Wissen belastet. Im gewaltenteiligen Staat kann der Ort des Machtstaates nur die Exekutive sein, wie er im Konzept des autoritären Verwaltungsstaates sichtbar wird.572 Einen Ausweg aus dem Dilemma des Machtstaates weist möglicherweise die englische Praxis, Entscheidungen der Regierung nicht zu begründen. Dass diese Tradition unter dem Eindruck der Europäischen Integration allmählich abstirbt, zeigt jedoch, dass eine Entwicklung zur Selbstillegalisierung des wehrhaften Rechtsstaates wohl unabwendbar ist. Selbstbindung ist als „das einzige Widerlager der Hybris in der Diätetik der Macht“ erkannt und mittlerweile in Deutschland auch verinnerlicht worden.573 Diese Einsicht hebt jedoch nicht das Dilemma der Macht auf, entweder an ihr durch Überanstrengung zugrunde zu gehen oder sie durch ihre Nichtanwendung zu verlieren.574 Staatsraison ist im wörtlichen Sinne dasjenige Verhalten des Staates, was in einer solchen Konstellation ausschließlich den Gesamtnutzen berücksichtigt, auch wenn dies zu Lasten einzelner Individualinteressen geht.575 c) Staatsraison und Recht Es liegt in der Eigenart von Macht begründet, dass diese anders als Herrschaft nicht insititutionalisiert und konserviert werden kann. Sie muss nicht nur wie 571 Machiavelli 1990, 94. Diese lässt sich zwar als reine Machttechnik despotischer Herrschaft lesen. Eine solche Lesart erweist tatsächlich auch erst der Zusammenhang seines Werkes als unzutreffend. Aber unzutreffend ist sie gleichwohl: Es geht Machiavelli weder ausschließlich noch primär um Machttechnik. 572 Günther 2004, 137 (in der Reinform durch Carl Schmitt), 264 (als funktionaler Pragmatismus durch Ernst-Wolfgang Böckenförde). 573 Münkler 1987, 36. 574 Münkler 1987, 36. 575 Poundstone 1993, 284.

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

217

Energie in dem Moment vorhanden sein, in dem sie gebraucht und verbraucht wird, sondern sie entsteht oder vergeht allein durch Gebrauch und ist mithin hochreaktiv. Da Recht jedoch auf Regelhaftigkeit und Berechenbarkeit hin angelegt ist, ist Macht zwar einerseits immer in Recht auf dem Wege der Rechtsbehauptung enthalten,576 steht aber andererseits zum Recht und damit zu sich selbst in einem konfliktären Verhältnis. Münkler spricht von einer Autokatalyse, die Macht tendenziell zu Eigen sei.577 Als Individualbesitz ist Macht gerade deshalb ein nicht unbegrenzt regenerierbares Verbrauchsgut, weil sie als solche hingegen nicht verloren geht. Auch darin gleicht sie Energie wie auch Masse. Damit ist der Macht als solcher bereits ein Hang zum Kollektiven zu Eigen. Macht in ihrer Flüchtigkeit als Individualgut wird im neuzeitlichen Staat institutionalisiert sowie damit alloziert, und die Grundlage für eine Kraft geschaffen, die einen überindividuellen kollektiven Gesamtnutzen verfolgen kann. Damit wird das Recht des modernen Staates aber disponible Größe der Politik.578 Waren Rechtsfragen im Mittelalter Fragen der Rechtsbewahrung, so werden sie in der Neuzeit zu Fragen der Staatsbewahrung. Dort wo der vormalige Naturzustand noch am deutlichsten auszumachen oder gar nicht vorhanden ist, nämlich im Zwischenstaatlichen, bricht die Notwendigkeit des Machtgebrauchs am leichtesten durch: Krieg bietet hier weitgehende Möglichkeit der Gewaltanwendung und der Machtpolitik, ohne auf Recht Rücksicht nehmen zu müssen. Je stärker sich rechtliche Begründungen von Staat und Politik nach dem Westfälischen Frieden verbreiten, desto mehr verschwindet die Staatsraison aus der politischen Theorie.579 Die zunehmende Selbstreflexion sozialer Existenz, die das 19. Jahrhundert kennzeichnet, bringt auch einen Kritiker alles Bestehenden wie Friedrich Engels zu der Einsicht, dass Macht als „eine gewisse Subordination“ gegenüber den Dingen zu sehen ist, „die sich uns unabhängig von der sozialen Ordnung aufdrängen“.580 Macht erkennt er also zumindest als ubiquitär, vielleicht sogar als autonom, wahrscheinlich nicht jedoch als autark an. Und noch Max Weber postuliert gemäß seiner Politikdefinition folgerichtig581 den nationalen Machtstaat.582 Macht fungiert entgegen der pejorativen Note, die 576

Zum Behaupten von Macht als Eigenart von Institutionen Brodocz 2005, 16 ff. Münkler 1983, 36. 578 Münkler 1983, 49. 579 Münkler 1987, 13. 580 Friedrich Engels 1873, 37 zit. nach Heller 1983, 195. 581 „,Politik‘ würde für uns also heißen: Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen Machtgruppen, die er umschließt. Wenn man von einer Frage sagt: sie sei eine ,politische‘ Frage [. . .], so ist damit immer gemeint: Machtverteilungs-, Machterhal577

218

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

diesem Begriff gegenwärtig häufig anhaftet, als Selbsterhaltungsfunktion und ist somit auch daran orientiert, den optimalen Gesamtnutzen eines Gemeinwesens zu wahren bzw. zu erlangen.583 Auch das Mehrheitsprinzip als Regel der Machtverteilung führt nach ökonomischer Demokratietheorie zum Machtstaat, da sie den public-choice-Ansatz zugrunde legt. Dieser anerkennt ausschließlich egoistische Motive staatlicher Herrschaftsträger. Um den Eigennutzen zu maximieren, besteht der ökonomischen Demokratietheorie zufolge das einzige Ziel der Politik der Herrschaftsträger darin, die nächsten Wahlen zu gewinnen.584 Damit ist der demokratische Staat aber reiner Machtstaat. Die Entwicklung der Demokratien scheint sich nach dem Ende des kommunistischen Systemkonkurrenten tatsächlich beschleunigt in Richtung eines solchen bald vorteilnehmenden, bald aber auch gemeinwohlrationalen Machtstaates zu entwickeln. Staat wird als institutionalisierte Macht inhalts- und zwecklos und als Mittel der Regierenden beliebig disponibel. Der Machtstaat handelt, als ob es keine Wahrheit gebe, aber er leugnet deren Existenz nicht: „Kompetenz legitimiert, nicht Richtigkeit.“ 585 Hat Skepsis gegenüber dem Machtstaat zwar in Deutschland eine Tradition, die keinesfalls erst durch die außer Kontrolle geratene machtstaatliche Politik der beiden Weltkriege begründet wird,586 so wird freilich erst nach den beiden Weltkriegen den Machtstaat und möglichst alle Machtpolitik zu brechen systematisch verfolgtes Programm der Politik und mithin auch des Staates.587 Exkurs: Der Bismarckstaat – Idealtyp des modernen Machtstaates oder deutscher Sonderweg? Seine Blütezeit erlebt der Machtstaat in Deutschland durch Otto von Bismarck, der zunächst als preußischer Ministerpräsident und sodann als Reichskanzler bis zum Jahre 1890 ein politisches System aufbaut, das sich in eigentümlicher wie eigenartiger Weise gleichsam ohne vitales übergeordnetes Interesse selbst stabilisiert. Formal tungs- oder Machtverschiebungsinteressen sind maßgebend für die Antwort auf diese Frage. [. . .] Wer Politik treibt, erstrebt Macht: Macht entweder als Mittel im Dienste anderer Zwecke – idealer oder egoistischer – oder Macht ,um ihrer selbst willen‘, um das Prestigegefühl, das sie gibt, zu genießen.“, Weber Politik als Beruf, 1968, 9. 582 Waschkuhn 1998, 241. 583 Münkler 1984, 314 f.; Waschkuhn 1998, 196 f. 584 Downs 1974, 107. 585 Isensee 1999, 49. 586 Die Frage zu erörtern, ob dies für den Ersten Weltkrieg nicht weitaus stärker als für den Zweiten gilt, verließe den hiesigen Zusammenhang. Sie muss aber hier gleichwohl beiläufig aufgeworfen werden. 587 Ikenberry/Hall 1989; Katzenstein 1997; Kupchan 2002.

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

219

dient Bismarck zwar dem Kaiser und der Dynastie der Hohenzollern, aber tatsächlich erscheint diese nicht selten selbst als sonderbar instrumentalisiert. In ihrer Aporie hat die Forschung daher den Begriff des Bismarckstaates geprägt.588 So offensichtlich der Zusammenhang mit der spezifisch deutschen Verfassungsform des Konstitutionalismus ist, so unklar ist indes zu unterscheiden, inwieweit diese Form die relative Inhaltslosigkeit des Bismarckstaates oder jene Inhaltslosigkeit die Form des deutschen Konstitutionalismus erfordert. Wahrscheinlich wird hier von einer ursächlich nicht mehr zu trennenden Wechselwirkung auszugehen sein. So sehr Bismarck Staat und Politik als Mittel in Dienst nimmt, um das Bestehende vor Reaktion und Fortschritt zu bewahren, so sehr muss wohl von einem schlichten, aber in all seiner Reflektiertheit nur vermeintlich primitiven Grundmotiv ausgegangen werden: Bismarck realisiert als einer der ersten kontinentaleuropäischen Staatsmänner tatsächlich die Idee des Staates als Gemeinwohlagentur. Zum einen setzt sich im Bismarckschen Staatsverständnis das überkommene Pflichtenethos fort, Staat und Dynastie zu dienen. Zum anderen wird darin die Dynamik des Gedankens der Nation widergespiegelt. Was Carl Schmitt die nachnapoleonische Konstellation beschreibend als „Kollision dynastischer und nationaler Legitimität“ bezeichnet, wird in Person und Politik Bismarcks fassbar wie außer ihm vielleicht nur noch in Metternich. Zum dritten ist eine Fortschrittsskepsis zu erkennen, die sich nicht nur darauf reduzieren lässt, Ausfluss von monarchisch-dynastischer Gesinnung zu sein. Vielmehr ist die scheinbare Disponibilität sämtlicher politischer Größen, die für den Bismarckstaat kennzeichnend ist, Bescheidenheit gegenüber dem historisch Machbaren. Dass weder eine demokratische noch eine längere parlamentarische Tradition in Deutschland anzutreffen ist, mag Bismarck ermöglichen, dass er derartige Weiterentwicklungen nicht als Ziel und Zweck zu verfolgen gedrängt wird.589 Dem 20. Jahrhundert ist es unter dem Eindruck des Antagonismus von totalitären System mit demokratischem Rechtsstaat eigentümlich fremd geworden zu verstehen, dass ein Staat weithin inhaltsleer bestehen kann.590 Diese Möglichkeit ist wohl auch in der Form des Bismarckstaates nicht nur an die Persönlichkeit, sondern auch an deren Zeit gebunden. Das vortotalitäre Zeitalter ermöglicht eine „herrschaftlichstaatspolitische Verfassung.“ Hernach kann sich derart inhaltlich neutrale Staatlichkeit zumindest im westlichen Kulturkreis offensichtlich nicht mehr behaupten, was ohne Zweifel einen großen Rationalitätsverlust und mithin einen zivilisatorischen Rückgang beschreibt. Gleichwohl sprechen auch wieder erhebliche Teile der Politik Bismarcks dafür, dass er dem Staat nur instrumentellen Charakter zubilligt. Zum Beispiel verhindert er bis zu seiner Entlassung im Jahre 1890 erfolgreich, dass die Einkommensteuer in Preußen eingeführt wird, die in England bereits 1842 aufgekommen ist und mit Sachsen im Jahre 1874 auch Deutschland erreicht, um in Baden seit 1884 erhoben zu wer588

Stürmer 1973. Die an dieser Stelle vorgetragenen Überlegungen müssen ihrer Eigenart nach, Abwesendes zu beschreiben, Vermutungen bleiben. Das Motiv, Staat und Dynastie zu dienen, und eine verhaltene Sympathie mit der Idee der Nation, der Preußen als politische Größe jedoch im Zweifel stets vorzuziehen war, sind freilich heute allgemein anerkannt, für viele: Gall 1981. 590 Forsthoff 1962, 386 f. 589

220

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

den.591 Dieses Beispiel könnte wiederum eher für eine Interessenwahrung privilegierter Kreise sprechen, da progressive Einkommensteuern diese bekanntlich stärker belasten. Freilich treffen Einkommensteuern mehr den neuen industriellen als den traditionellen agrarischen Reichtum.

II. Staat als Mittel sozialer Integration Gesellschaftliche Integration sieht sich in der Geschichte des Phänomens vom „modernen Staat“ zwei unterschiedlichen Herausforderungen konfrontiert: An seinem Anfang steht bisweilen die obrigkeitliche Einsicht, dass die eigene Herrschaft dauerhaft nicht allein auf Repression gründen könne. Integration ist bereits im Selbstverständnis aufgeklärter Monarchen wie im friederizianischen Preußen eine Funktion des frühmodernen Anstaltsstaates und in England wird die Wahrung des Rechts in Gestalt eines öffentlichen Gewaltmonopols zum Aufstiegsmoment für den auf diese Weise in das Herrschaftsgefüge integrierten Mittelstand. Die Funktion von Befehl und Gehorsam, wie sie in ihrer mechanischsten Form das Gesetz verkörpert, ist auch als Folge fortgeschrittener Integration der Befehlsempfänger zu erklären.592 Zumal in Deutschland wird die obrigkeitliche Repression des spätabsolutistischen Staates nicht abgelöst, sondern vielmehr in Formen obrigkeitlicher Integration überführt, indem das bis zu gewissem Grade jeder Monarchie innewohnende paternalistische Potential und die Kontinuität dynastisch begründeter Herrschaft sowohl politisch wie staatstheoretisch erschlossen werden.593 Die einschlägigen Konkretionen integrierender Staatsfunktion sind erst in der nachrevolutionären (Hoch-)Moderne anzutreffen. Nicht von ungefähr bringt jene Epoche des Umbruchs eine derart wendige Persönlichkeit wie Talleyrand hervor, demzufolge eine Regierung mit Bajonetten alles machen könne, nur nicht auf Bajonetten sitzen. Der erste große Integrationskatalysator ist die Nation. Sie geht als die ideenhistorische Siegerin aus der französischen Revolution von 1789 gleichermaßen hervor wie aus dem untergegangenen Heiligen Römischen Reiche, das eben schon seit Jahrhunderten durch den Genitivus Qualitatis „Deutscher Nation“ ergänzt wird und dennoch gegen Ende mehr und mehr als retardierend denn als katalysierend für die staatliche Einigung Deutschlands erachtet wird. Diese Unterschiede in Wirkungsgrad und Wirkungsrichtung des Konzeptes Nation widerspiegeln die zu der enormen historischen Wirkmacht des Konzeptes der Nation gegensätzliche theoretische Bewältigung und begriffliche Klärung dessen, was Nation ist.594 Anders als im Falle der Französischen Revo591

Spoerer 2004, 74. Freist 2005, 40; Bradick 2005, 70. 593 Bouveret 2003, 268 unter Rückgriff auf Treitschke; weitere Quellen bei Bouveret 2003, 395. 594 Dieses Definitionsproblem wird in der neueren Forschung eingehend u. a. von Anderson 1996, 13 ff. behandelt. 592

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

221

lution als Archetypus nationalistischer Artikulation und anders als im Falle der Nationalismen, die in der Neuen Welt um sich greifen, ist für den „neueren Nationalismus“, wie er „zwischen 1820 und 1920“ in der Alten Welt um sich greift, fast immer eine ,nationale Schriftsprache‘ „Zentrum von Ideologie und Politik“. Außerdem gibt es tatsächliche oder konstruierte historische Vorbilder und Paradigmen, die weit zurückliegen.595 Fördert der Buchdruck, eine Idee wie diejenige der Nation zu verbreiten, allgemein, so verstärkt sich dies im Falle solcher Nationen, deren Fluchtpunkt eine gemeinsame Schriftsprache ist.596 Aus der Perspektive von Spät- und Postmoderne betrachtet, ist es die Hochindividualisierung arbeitsteilig und marktwirtschaftlich, freiheitlich und rechtsstaatlich, niedrigprivater und familienarmer Gesellschaften pluralistischer Verfasstheit, die Integration als Reaktion auf Modernisierung erfordern. Und diese zweite Herausforderung von Staat und Politik ersetzt keinesfalls die erste beständig drohender repressiver Verlockung der Herrschenden. Vielmehr ist obrigkeitliche Repression der Anlage des modernen Staates unlöschbar eingeschrieben. Was sich in der säkularen Dimension ändert, ist das Verhältnis von Repression und Integration: Integration erweist sich mit Repression sanktioniert als effektives Mittel, Individualinteressen zu koordinieren. Wachsende Zivilisierung menschlichen Verkehrs ist nicht zuletzt auch ein Rationalisierungsprozess. Das rechte Maß staatlicher Integration liegt jenseits der Alternative „voller wirtschaftlicher und sozialer Entscheidungsfreiheit“ auf der einen und „Unterwerfung unter die planende Gewalt des [. . .] Staates“ auf der anderen Seite, „darin, ob man die große Masse der Glieder der Gesellschaft der formell privaten (und also an Partikularinteressen, nicht am Gemeinwohl orientierten) Gewalt derjenigen Glieder der Gesellschaft unterwirft, die über die entscheidenden [. . .] Machtpositionen in der Gesellschaft verfügen können.“ 597 Tatsächlich ist es ein konservativer Junker wie Otto von Bismarck, der auf die Desintegrationswirkung der industriellen Revolution und der sich formierenden Sozialdemokratie reagiert, indem er weltweit erstmalig ein System sozialer Sicherheit begründet.598 Die neuen Integrationsaufgaben liegen ebenfalls dort, wo das Individuum unmittelbar betroffen ist, also auch vornehmlich im Bereich des Sozialen.599 Ist die Integration klassischer Provenienz in hohem Maße traditional begründet wie etwa im Konzept der Nation, so zeichnet sich die neue Integration durch den Grad gesellschaftlicher „Selbstdeutung, Selbstbeobachtung, Selbstöffnung, Selbstfindung, ja Selbsterfindung“ aus. „Zukunft, Zukunftsfähigkeit, Zukunftsgestaltung

595 596 597 598 599

Anderson 1996, 72. Anderson 1996, 85 und 175. Abendroth 1955, 97 f. Zur weltweiten Erheblichkeit dieser „Erfindung“: Rimlinger 1971. Beck/Beck-Gernsheim 1994, 30.

222

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

ist der Maßstab“ der Integration.600 Diese gesellschaftliche und durch den Staat bald ausgeführte, bald von ihm organisierte Selbstreflexivität stellt freilich ein in der Moderne als solcher angelegtes Merkmal dar.601 Smendt, der als erster systematisch Staat als Prozess der Integration erklärt, sieht diesen bereits vom Individuum her, das den Staat nur konstituieren kann, wenn es in ihm und als Teil von ihm Individuum bleibt – Unteilbares.602 Damit wird nach Rationalisierung die Humanisierung der zweite große gesellschaftliche Prozess der Neuzeit, den der moderne Staat systematisch verfolgt: „Das letzte Kriterium gesellschaftlichen Fortschritts ist Humanität.“ 603 Genuin politische Integration ist demgegenüber fragwürdig geworden. Nicht zuletzt unter dem Eindruck der im Innern konkurrenzdemokratisch verfassten angelsächsischen Weltherrschaft, erscheinen die kontinentaleuropäischen Konsensund Konkordanzdemokratien, namentlich diejenige der Schweiz, als Machtkartell der von der bürgerlichen Mitte repräsentierten Interessen. „Die Überbetonung der integrativen Sozialfigur über die notwendige Konsensbasis einer Gesellschaft hinaus mache immobil, beschränke sich auf kurzfristiges Krisenmanagement und begnüge sich daher mit einem prinzipienlosen ,Sichdurchwursteln‘“ 604, fasst Arno Waschkuhn die gegenwärtige Konsensmüdigkeit zusammen. Solcherart Kritik verkennt jedoch zweierlei: Zum einen stellt das „muddling along“ eines der Hauptmerkmale in der Tradition englischer Demokratie dar, das sich eben auch positiv als „piecemeal social engeneering“ begreifen lässt.605 Zum anderen setzt eine derart konfliktual orientierte politische Kultur eine lange und kontinuierliche, äußerlich relativ unberührte und innerlich ziemlich unumstrittene Behauptung des Konzeptes der Nation voraus.606 Nation muss vitale Dimension individueller Identität sein. Eben jene im Nationalstaat manifeste gesellschaftliche und politische Größe ist in Kontinentaleuropa bekanntlich prekär- und dies wahrscheinlich nicht erst seit 1945. Eine erfolgreiche Nachkriegsordnung ist daher von vornherein nur als konsensuale möglich und muss somit suboptimalen Gesamtnutzen in Kauf nehmen, um nicht der Gefahr vollständiger Defektion der Partikularinteressen zu erliegen, wie sie aus den Zwischenkriegsdemokratien als existenzbedrohend bekannt ist. Staat wird als Mittel der Integration bereits im späteren 19. Jahrhundert auch zur Integration der Institute ganzer gesellschaftlicher Gruppen namentlich durch 600

Beck/Beck-Gernsheim 1994, 35 f. Giddens 1999, 26 ff.; 52 ff. und passim. 602 Smend 1928, 44 ff.; Smend 1933; Smend 1994, 240; Smend 1966, 803 ff. 603 Nida-Rümelin, 167. 604 Waschkuhn 1998, 446. 605 Der Begriff „piecemeal social engeneering“ stammt von Popper, zit. nach Schieren 2001, 17. 606 Geppert 2003, 88 illustriert dies etwa am Beispiel des thatcheristischen England. 601

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

223

Bismarck in (macht-)politisch geschickter Form genutzt. Die Verfassung des Norddeutschen Bundes betont Macht und Interessen des ständig wachsenden Militärstaates vornehmlich preußischer Provenienz. Begründet wird dies jedoch maßgeblich mit der zunehmenden Schutzbedürftigkeit der ökonomischen Interessen einer reüssierenden bürgerlichen Gesellschaft.607 Wie eng am Beginn Integration und Repression verwoben sind und wie sehr gesellschaftliche Integration als Homogenisierung auf staatlicher Zwangsgewalt beruht, zeigen die beiden vornehmsten Instrumente staatlicher Integration: Schul- und Wehrpflicht, deren Ausgestaltung auch auf größtmögliche Angleichung und Vereinheitlichung abzielt.608 Bildung wird dabei immer in doppeltem Sinne auch als Persönlichkeitsbildung und als solche wiederum als Staatsbürgerbildung begriffen.609 Der Integrationsmodus der Hochmoderne ist dabei bürokratisch verfasst.610 Durch Weiterentwicklung von Verwaltung und Regierung gilt es gemäß diesem Konzept, den Obrigkeitsstaat zu überwinden.611 Der verwaltende Staat bleibt jedoch weithin obrigkeitlicher Staat, was nicht zuletzt in der Eigenart seiner Aufgaben liegt. Abstrakt betrachtet gründet die gegenseitige Bedingtheit von Repression und Integration in der für den modernen Staat konstitutiven Vereinheitlichungsfunktion. Dies droht im deutschen politischen Denken nicht hinreichend berücksichtigt zu werden,612 seit eine polarisierende Wahrnehmung zwischen Smendts auf die gesamte Gesellschaft bezogener Integrationslehre und Schmitts Definition des Staates als „Ausschließungsmechanismus“ 613 Platz greift. Dabei ist die innere Homogenität des Staates beiden gemeinsamer Ausgangspunkt.614 Integration kann, zumal wenn sie durch Vereinheitlichung erfolgt, sich auch als Form von Zwang vollziehen.615 Als Vereinheitlichung von Lebensbereichen ist der Staat damit Prozess, der als solcher immer wieder je neu herzustellen ist, wie der mehr von den Dezisionisten als den Integristen favorisierte Hobbes bereits feststellt.616 Auch wenn die Einheit des Staates an sich von seiner vereinheitlichenden Wirkung zu trennen ist, so ist evident, dass beides einander erfordert,617 um607 Konstituierender Reichstag des Norddeutschen Bundes, Stenografische Berichte 1867, 520 ff.; Bouveret 2003, 269. 608 Isensee 1968, 200 f.; Schnabel 1949, 342; 365. 609 Meinecke 1922, 109. 610 Metzler 2002, 79. 611 Metzler 2002, 95. 612 Bereits zeitgenössisch wurde diese Entwicklung von Scheuner kritisiert, Schlaich 1982, 8. 613 Cf. dazu auch: Forsthoff 1962, 388. 614 Günther 2004, 34. 615 Smend 1928, 138 f. und 171; Korioth 1990, 130–134; Günther 2004, 41. 616 Weiß 1980, 127; Waschkuhn 1998, 202. 617 Cf. Erster Teil C. II. 2. c) und Erster Teil A. II. 1. a).

224

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

stritten ist jedoch, in welchem Maße.618 Jenes Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, das die Einheit des Staates ermöglicht, ist schließlich Aufgabe von Politik als ars gubernandi.619 Zunehmende Präzisionierung dieses Gleichgewichtes zumal um einen langfristig angelegten Angelpunkt ist Maßstab rationalisierender Wirkung staatlicher Zwangsgewalt. In der deutschen politischen Ideenzeitgeschichte steht hierbei das Konzept des Staats als Integralfunktion der Gesellschaft620 demjenigen eines von der Gesellschaft getrennten Staates gegenüber, der der Politik einen Raum selbstständigen Entscheidens belässt, um die Homogenität und mithin die Existenz des Staates zu sichern.621 1. Der Nationalstaat Mag Hegel auch den neu aufziehenden Nationalstaat im Wandern des von ihm entwickelten „Weltgeistes“ mit dem überkommenen Universalitätsanspruch der Aufklärung versöhnen, so ist die historische Wirklichkeit doch von einem tiefen Hiat gekennzeichnet.622 Gleichwohl ist Hegels Konzept bereits im Nationalstaatskonzept Herders und des deutschen Idealismus angelegt, wenn dort der Nationalstaat der Vaterländer als kriegshemmender Fortschritt gegenüber den bellizistischen Kabinettsregimen des Absolutismus gefordert wird.623 Nach der Französischen Revolution wird dieses durch von Humboldt gar expliziert.624 Auf der einen Seite befindet sich eine Staatenwelt, in der Außenpolitik ein elitäres „jeu des rois“ darstellt und in der sich vermittelt durch die in spätabsolutistischer Herrschaft geborgene Zivilität eine grenzüberschreitende „Gelehrtenrepublik“ als sozialer Raum gleichermaßen entwickeln kann wie das freimaurerische Ideal der Menschheitsverbrüderung.625 Auf der anderen Seite steht zwar noch nicht das Elend des Proletariates, das aus den voranschreitenden Entwurzelungsprozessen erst noch entstehen wird. Aber es tritt mit dem Schlachtruf der „levée en masse, der nach 1789 durch den alten Kontinent erschallt, doch eine neue Kraft in der Arena des Staates auf: Die Nation. Das Definiens des Konzeptes der Nation ist dabei nachgerade ihre Undefinierbarkeit – oder doch zumindest ihre Undefiniertheit. In diesem Zusammenhang 618

Günther 2004, 167. Schlaich 1982, 4. 620 Als ideenhistorisch bedeutend ist hinzuzufügen, dass dieses integrale Modell endogenes Produkt deutschen Staatsdenkens ist und nicht der erst später erfolgten Westernisierung, Günther 2004, 163. Möglicherweise ist dies als Indiz zu werten, dass es sich hierbei um eine grundsätzliche nicht historisch einmalige, sicherlich aber verlaufsabhängige Definition von Staatlichkeit handelt. 621 Günther 2004, 36; Hildebrand 2004, 827. 622 Grimm/Grimm 1999, 1581; Grandner/Komlosy 2004, 10. 623 Meinecke 1922, 32. 624 Meinecke 1922, 49. 625 Möller 1986, 217. 619

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

225

gelte als Arbeitshypothese daher der von Anderson unternommene Definitionsversuch: „Sie ist eine vorgestellte politische Gemeinschaft – vorgestellt als begrenzt und souverän.“ 626 Nation ist dabei nicht a priori natürlich gegeben wie Familie, Klan und bis zu einem gewissen Grade auch Stamm. Vielmehr stellen Staat und Nation „kulturelle Entwürfe“ dar.627 Bereits von Montesquieu und Voltaire im esprit des nations angelegt, dient der Nationalstaat zumal im Reich als viel versprechendes Modell, Gruppen- und Individualinteressen zu überwinden und die Stände dennoch gegenüber den Monarchen zu stärken.628 Vor allem gegenüber der antiken Philosophie der Polis, die von einer potentiellen Gleichheit der Menschen in ihrer Vernunftgeneigtheit ausgeht, vertraut Montesquieu in Institutionen, die seiner Zeit allmählich bewusst als Adaptions- und Intermediärmechanismus bewusst werden, um heterogene Individuen an das Gemeinwesen anzugleichen.629 Spätere Modelle begreifen erst die Summe all jener Entwicklungen moderner Staatlichkeit als Nationalstaat, die sich in den allermeisten Staaten Europas bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts herausgebildet haben. Nationalstaat ist demnach dasjenige Konzept, dass Machtstaat, Handelsstaat und schließlich Rechts- und Verfassungsstaat umfasst.630 a) Das Verhältnis von Nation und Demokratie Zweifelsohne ist der Nationalstaat älter als die aus den atlantischen Revolutionen hervorgegangene Weltordnung. Seine Ursprünge finden sich im ausgehenden Mittelalter. Doch erst in der Moderne zeigen sich die unterschiedlichen Konsequenzen des Nationalstaates: Während er in den meisten Ländern zumindest Demokratisierung beschleunigt, wenn nicht gar Demokratie schafft, ist die Deutsche Reichsgründung von 1871 bekanntlich ein Erfolg des Obrigkeitsstaates, der den politischen Liberalismus als Verfechter der demokratischen Idee in einen Zielkonflikt zwischen nationaler Einheit und demokratischer Verfassung bringt und somit den Deutschen die Möglichkeit nimmt, aus eigener Kraft zur Demokratie zu gelangen.631 Nation als Mittel obrigkeitlicher Repression wurde freilich bereits von Friedrich dem Großen genutzt:632 Nation und Partizipation stellen also unterschiedliche Güter dar, wobei die Partizipation zumindest Ansätze von Na626

Anderson 1996, 15. Schulze 2004, 15. 628 Meinecke 1922, 27 ff. 629 Waschkuhn 1996, 188 und 216. 630 In dieser Weise definiert etwa Schulze im Anschluss an Otto Hintze den Nationalstaat, Schulze 2004, 16. 631 von Krockow 1976, 482 f.; Pleßner 1959. 632 Politisches Testament von 1752; Acta Borussica, Behördenorganisation, 9, 362. 627

226

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

tion voraussetzt.633 Den darin angelegten Konflikt nimmt bereits Friedrich Karl von Moser im hohen 18. Jahrhundert wahr.634 Während die Idee der Nation in Frankreich nicht nur von literarischer, sondern auch von bürgerlicher Praxis getragen wird, bleibt er in Deutschland Sache der Literaten und hat bis zur Großen Revolution im Nachbarland kaum Bezugspunkte zu Staatlichkeit als politischer Organisationsform der Nation.635 Bietet Deutschland ein Beispiel für Nationenbildung ohne Demokratie, so fehlen umgekehrt Beispiele erfolgreicher Demokratieetablierung ohne Nation. Die Demokratie ist ihrer Eigenart nach auf ein kollektives Bewusstsein des Volkes als Einheit angelegt: Solche genuin demokratische Identität vermag sich jedoch nicht ohne einen spezifischen Bezug zum Gemeinwohl bilden.636 In der historischen Phänomenologie Europas zeigt sich dies darin, dass das Bürgertum als entscheidender Träger von Rechtsstaat und Demokratie des Nationalstaates bedarf.637 Ist das Gemeinwohl also die Sache der Demokratie, wird es über diese letztlich durch die Nation vermittelt.638 Aber die Sache des Gemeinwohls ist umgekehrt nicht unbedingt diejenige der Demokratie, wohl aber ist sie im 19. Jahrhundert diejenige der Nation geworden: Die Nation „gründet sich auf den gesetzmäßigen Willen des Fürsten, der kein anderes Interesse hat als das Interesse des Ganzen und der Nation.“ 639 Auch wenn der Gesamtnutzen bzw. das Gemeinwohl noch gesondert angeführt werden, so ist die Nation längst als sein alleiniger Ort ausgewiesen.640 Zumindest ist „der Patriotismus wahrscheinlich das stärkste nicht-ökonomische Motiv für Zusammenschlüsse.“ 641

633

Dahrendorf 1992, 54. Meinecke 1922, 35. 635 Meinecke 1922, 30 f. 636 Isensee 1988, § 57, 56. 637 Dahrendorf 1992, 53. 638 Anderheiden betont in seinen Arbeiten stets, dass Ort des Gemeinwohls die Republik sei. So überzeugend dieses Argument eo ipso ist, so fragwürdig ist die Weiterung, Demokratie als ungeeignete Kategorie zur Loszierung des Gemeinwohls generell auszuschließen, Anderheiden 2006, 63: Dass die Republik der prominente und traditionelle Ort des Gemeinwohls ist, wenn aus der Perspektive des Gemeinwohls gesehen, dessen Ort gesucht wird, heißt nicht unbedingt, dass prozedural begriffenes Gemeinwohl nicht naheliegendste Aufgabe sein könnte, wenn aus einer Perspektive der Demokratie, also nota bene der Volks- und nicht der Mehrheitsherrschaft, betrachtet, deren Aufgabe erforscht wird. Gewiss, Aufgabe und Sinn von Demokratie mag Freiheit sein – aber Freiheit wozu? Doch wohl zum Gemeinwohl. 639 Ranke 1920, 65. 640 Ob dies tatsächlich der von Ranke auf diese Weise beschriebenen preußischen Reformpolitik in Folge der Befreiungskriege gerecht wird, stellt eine andere Frage dar: Ranke wird in diesem Zusammenhang so gelesen, wie ihn bereits Meinecke las, als ideenhistorische Quelle ihrer eigenen Zeit, der Zeit des neugegründeten kleindeutschen Reiches. 641 Olson 1968, 12. 634

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

227

b) Anthropologisch geleitete Erklärungsansätze Anthropologisch und soziobiologisch gründet Nationenbildung, durchaus unabhängig von ethnischen Heterogenitäten, im Prozess der Etikettierung: Zum einen gründet diese Etikettierung im vorliegenden Fall selbstverständlich in historischen Entwicklungen, die dann in der Eigenschaft von Individuen als Nationenangehörigen und schließlich als Nationalstaatsangehörigen gleichsam thesauriert und die in der Interaktion mit anderen Individuen sofort präsent sind.642 Daneben hat die Etikettierung jedoch auch die Eigenschaft Stereotypen zu bilden. Die eine Folge der Etikettierung ist eingängig und im Grunde aus der umgangssprachlichen Verwendung des Wortes abzuleiten: Spieler verschiedener Etiketten schneiden schlechter ab, weil Kooperation zwischen den unterschiedlichen Gruppen für jedes einzelne Individuum den Nutzen erhöhen könnte und diese Möglichkeit ungenutzt bleibt.643 Diese Erfahrung pflegt bekanntlich auch als einer der Hauptgründe angeführt zu werden, um Staatenverbünde wie die EU oder den Mercosur einzuführen. Und in dieser individuellen Nutzenerhöhung liegt auch der Grund, warum solche Verbindungen regelmäßig auf dem Gebiet wirtschaftlicher Kooperation begonnen werden. Die andere Folge besteht darin, dass Etikettierung die Individuen der zahlenmäßig unterlegenen Gruppe benachteiligt, da diese häufiger mit Individuen der Mehrheit interagieren müssen als Individuen der Mehrheit, die weitestgehend auf ihresgleichen und damit auf kooperierende Interaktionspartner treffen.644 Dies führt aber tendenziell zu (Selbst-)Isolierung der Minderheit, was wiederum die tatsächliche Entfremdung der Gruppen und ihrer Individuen von einander begünstigt. Was Etikettierung im einen Zusammenhang noch selbst erforderlich macht, wirkt im anderen bereits als deren Überwindung: Es ist die anthropologisch angelegte Abhängigkeit menschlicher Individuen, sich zu assoziieren.645 Die wohl bekannteste Erklärung für diese Verhaltenseigenart besteht darin, den Menschen als Mängelwesen zu begreifen.646 Mit diesem Assoziations- und Koordinationsdruck wird beispielsweise in der gesamten Hellerschen Staatstheorie „die Mitkonstituierung gesellschaftlicher Institutionen auch durch willentlich indifferente oder widerstrebende Individuen“, wie sie heute mit dem Gefangenendilemma beschrieben wird, erklärt.647 Das Distinktiv nationalstaatlicher gegenüber dynastischer Ordnung besteht maßgeblich darin, dass staatenübergreifende Verwandtschaftsverbindungen durch

642 643 644 645 646 647

Axelrod 2000, 132. Axelrod 2000, 132. Axelrod 2000, 133 f. Für viele: Heller 1983, 45; 89. Gehlen 1950, 21; 91–97; 140 und 366 ff. Heller 1983, 5 [Niemeyer].

228

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

eben innerstaatliche anonyme Verbandsbildungen als politisch operierenden Größen abgelöst werden.648 Und was der Nationalstaat im Inter-Nationalen schafft, behebt er weitgehend innerhalb seiner selbst: Denn das, was das Gefangenendilemma zum Dilemma werden lässt, ist die angenommene Voraussetzung, dass der individuelle Entscheidungshorizont auf seinen Eigennutz beschränkt ist. aa) Nation als spiel- und entscheidungstheoretisches Problem Sen unterscheidet drei „types of privateness“, in die sich das mögliche Interesse des Individuums gliedert: „Self-centered welfare“ als Richtschnur im Sinne egoistischen Handelns, wie es im Gefangenendilemma angenommen wird. Dieses Verhalten geht weder mit Sympathie noch mit Antipathie gegenüber anderen Personen einher. Daneben sieht er freilich ein „self-welfare goal“ als ein Verhalten, das zwar auch insofern rein eigennützig ist, als es dazu dient, das eigene Wohl ohne weitergehende Interessen zu maximieren, aber bei Unsicherheit auch einen „expected value“ zum Maßstab machen kann. Dieses Verhalten macht jedoch das Wohlergehen anderer Personen nicht entscheidungserheblich, auch wenn das Wohlergehen anderer faktisch für das eigene Wohlergehen erheblich sein mag. Schließlich sieht Sen eine „self-goal choice“: Das Subjekt wird bei jeder Handlung von der Überzeugung geleitet, die Entscheidung diene eigenen Zielen. Dieser Maßstab ist nicht davon beschränkt, ob (an-)erkannt wird, dass andere Personen ihre nicht für das Subjekt erheblichen Ziele erlangen.649 Diese gleichsam natürliche Rationalisierung menschlichen Zusammenlebens durch das Irrationale, wird als Merkmal der Nation bereits von Wilhelm von Humboldt beschrieben: Selbst irrationale Größe bietet die Nation jedoch eine Form die Koexistenz und Kommunikation regulierender Vernunft zugänglich macht.650 Die rationalisierende Wirkung der Nation erkannte freilich auch von Humboldt ebenso und klassifizierte sie als anthropologisches Datum.651 Der Nationalstaat als Zwangsgewalt wird daher für Fichte Mittel der Wahl, um Freiheit als individuell zu genießendes Kollektivgut, freilich mithin eben auch als Gut eines Kollektivs zu sichern und zu erlangen.652 Die Handlungsanweisung der Nation sei in der von Cicero angeführten altrömischen Formel zu finden, die da lautet: „Salus et decus populi suprema lex esto.“ 653

648 649 650 651 652 653

Hoppe 2003, 106. Sen 2002, 213 f. Meinecke 1922, 40; dort auch Humboldt 1903, 83. Humboldt 1903, 385. Meinecke 1922, 102. Meinecke 1922, 106.

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

229

Die relative Selbstlosigkeit des Individuums hängt indessen vom Grad der gegenseitigen Abhängigkeit ab, in dem ein bestimmtes Kollektiv mit den Individuen steht: Die Nation erweist sich insofern als weitaus wirksameres Movens als der Staat, dem in der kontinentaleuropäischen Tradition ein hohes Maß an Eigenpersönlichkeit und Unabhängigkeit zukommt: „Dann sah er [von Humboldt] schon in den neunziger Jahren über dem Individuum Kraftentwicklung zu erhalten.“ 654 bb) Emotionale Wirkung Unter dem Gesichtspunkt reinen Effizienzdenkens mag sich als unerheblich erweisen, zwischen Staat und Nation zu unterscheiden, ja Staat dürfte prima vista sogar das geeignetere Medium sein, das Gefangenendilemma zu überwinden. Aber emotional bietet die Nation das individuengerechtere und anheimelnder wirkende Potential. Somit wirkt der moderne Staat durch die Nation vermittelt. Die Nation sanktioniert den Staat emotional:655 „Zwischen Individuum und Staat vermittelt die Nation.“ 656 Die internationalen Ähnlichkeiten mit einer Definition dieses Verhältnisses durch die englische Wissenschaft sind auffallend: Der Staat wird hier auch als „political concept which identifies the nation in its corporate and collectivist capacity; as a legal institution with an inherent responsibility for regulating matters of public concern; and as a socio-cultural phenomenon which expresses anew, unique form of associative bond.“ 657 Die vergleichsweise starke Entindividualisierung bzw. Transzendierung des Individuums durch die Nation erklärt auch, warum die Lehre von der Staatsraison Mittel des Nationalstaates wird, während der das Individuum zentrierende Humanismus seinen Ort im Weltbürgertum findet.658 So wie der Staat aus der Nation hervorgehe,659 werde die Nation durch die Konstitution am stärksten geeint660 – der Verfassungspatriotismus der Zweiten Deutschen Republik vermag also auf frühe Wurzeln zu verweisen. Die Nation funktioniert dabei als leitend, indem der „Nationalgeist“ im Individuum lebt und sich durch individuelle Selbstverwirklichung vollzieht.661 654

Meinecke über von Humboldt, 1922, 194. Herrmann-Pillath 2003, 117. 656 Isensee 1999, 66. 657 Dyson 1980, 43. 658 Münkler 1987, 48. 659 So wenn von Humboldt 1903, 131 seine These fiktionale Zeitlichkeit und faktische Historizität nicht unterscheidend formuliert. Meinecke 1922, 42 versteht sie wohl im zweiten Sinne, wenn er in ihr eine „eigentümliche Modifikation und zugleich Auflockerung der Vertragstheorie“ erblickt. 660 Humboldt 1903, 234. 661 Meinecke 1922, 46. 655

230

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

Zunehmend scheint diese Wirkung indes schwächer zu werden – so lautet zumindest seit Jahrzehnten die faible convenue. Neue Bezugsgrößen von vergleichbarer Bindungswirkung bleiben aber eher aus, zumal auch Bewusstseinsdimensionen wie Religion oder Konfession schwinden. Somit bleibt „die Nation der bislang stärkste Ausdruck kollektiver Identität.“ 662 Freilich gründet die Krise der Nation auch in der wachsenden Schwierigkeit, sie zu definieren.663 cc) Altruismus? Darüber hinaus sind aber auch Motive auszumachen, die völlig von der eigenen Person absehen, also selbstlos sind. Die Frage, ob Altruismus doch noch eigennützig sein kann, ist umstritten,664 die Waage schlägt aber zunehmend insofern zugunsten einer solchen Annahme aus, als Egoismus evolutionsbiologisch als Optimierung genetischer Vererbung erklärt wird.665 Ist das naheliegendste Beispiel die Familie, wo dieses Verhalten biologisch mehr oder weniger determiniert ist, so bildet die Nation zwar ebenfalls eine solche soziale Einheit, die eine entsprechend selbstlose Bezugsgröße für das handelnde Subjekt sein kann. Aber der Soziobiologie ist bei keiner Tierart bislang sicher nachzuweisen gelungen, dass oberhalb von Fortpflanzungsgemeinschaften altruistisches Verhalten einen evolutionsbiologischen Vorteil ergeben könnte.666 Daher sind entsprechende Verhaltensweisen beim Menschen bis auf weiteres als kulturelle und mithin genuin humane Phänomene anzusehen. Die Nation ist ein Mittel, das Gefangenendilemma zu überwinden, aber dabei Zwang zurückzudrängen bzw. ihn dort zu modifizieren, wo er regelmäßig durch den Nationalstaat ausgeübt wird.667 Diese Reduzierung von Zwang geschieht ungleich, aber die Nation erweist sich als Möglichkeit, vormoderne Standesunterschiede zu verschleiern und in die moderne Gesellschaft hinein zu transferieren. Bereits allein am Gegenstand des Nationalstaates wird deutlich, dass die Fähigkeit des Staates, Individualverhalten gesamtnutzenmaximierend zu lenken, keinesfalls allein in seiner Fähigkeit ruht, besteuern zu können, wie die Neue Institutionenökonomie annimmt. Es ist nicht zuletzt die staatsorientierte Identität der Individuen, die sich über Jahrhunderte hinweg in mannigfaltigen historischen Verbindungen mit anderen kollektiven Eigenschaften gebildet hat, die dem Staat verhaltenssteuernde Macht ermöglicht.668 Seit dem 19. Jahrhundert will die Dis-

662 663 664 665 666 667 668

Voigt 2007, 55. Voigt 2003, 321. Diese These wird z. B. vertreten von Downs 1968, 36. Sen 2002, 164. Kappeler 2006. Sen 2002, 216. Sen 2002, 215.

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

231

kussion darüber nicht abbrechen, ob die Nation oder die Gesellschaft bestimmende und dem jeweils anderen übergeordnete Größe sei: Dabei haben sich die Begriffe längst als kategorial zueinander disparat erwiesen.669 Für das Zeitalter des Nationalstaates, von dem niemand mit letzter Sicherheit sagen kann, ob es bereits vergangen oder nicht gar neuerstanden ist, zeichnet sich dabei ab, dass Gesellschaft gleichsam das wissenschaftlich-deskriptive und weniger werturteilsbehaftete Korrespondenzkonzept zur Nation darstellt.670 Zudem erweist sich der Begriff der Gesellschaft zu demjenigen des Staates als kompatibeler. Dass die Nation zumal in der Organisationsform des Nationalstaates sich derart erfolgreich hat entwickeln können, dass „nation-building“ in der Gegenwart zu einem der entscheidenden Ziele internationaler Politik werden konnte, dürfte nicht zuletzt in diesem Effekt gründen. c) Das Verhältnis von Staat und Nation im engeren Sinne Der Staat ist dabei disziplinierende Ordnungsmacht, dem Staat ermöglicht die Idee der Nation umgekehrt, seine Existenz zu legitimieren. Nation und Staat bedingen einander. Was dem jeweils anderen vorangeht und was vorrangig ist, bleibt hingegen historische Singularität. Führt im politischen Denken der Deutschen die Idee der Nation zum Staat,671 so ist es in Frankreich der Staat, aus dem die Nation hervorgeht. Durch die Nation wird „der Staat nationalisiert und die Nation politisiert.“ 672 Wo die Nation nicht aus dem Staate hervorgeht, dort entwickelt sie sich zumeist aus gemeinsamer Kultur, worin deutlich wird, dass der Staat neben der Kirche niemals die einzige überpartikulare Bezugsgröße war.673 Erst im 20. Jahrhundert tritt das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ als normative Größe auf. Ist die Nation also eine irrationale Größe, wie es die rational-choice-Lehre beurteilt? Vergleichsweise unumstritten ist zumindest, dass die rational-choice-Lehre als solche mit ihrem Rationalitätsbegriff 669 Gleichwohl findet sich solch ein „eigentümliche[r], unpolitische[r] Nation-Begriff“ bereits bei Wilhelm von Humboldt, dazu Isensee 1968, 52, der wiederum auf Meinecke und Cassirer verweist. 670 Böckenförde 1976a, 134 ff. 671 Konzentriert bei Meinecke 1922, 60 formuliert. Aber selbst dies ist in Deutschland nicht unumstritten. Preußische Machtpolitiker wie Ludwig von Gerlach und Haller sehen die Nation aus dem Staat hervorgehen, Meinecke 1922, 252 [von Gerlach] und 265 [Haller]. Aber auch ein Gemäßigter wie Wilhelm Jordan konstatiert bereits im Jahre 1848, der Begriff der Nation habe „sich völlig verändert.“ Denn sogar „die Nationalität ist [. . .] ganz einfach bestimmt durch den politischen Organismus, durch den Staat.“, zit. nach Schieder 1952, 169. 672 Meinecke 1922, 60. 673 Kultur als Bereich und als Teil des Gemeinwohls wird wiederum unter dem Gesichtspunkt des staatlichen Auftrags, Kultur zu wahren, eingehend von Uhle 2005 erschlossen.

232

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

zu kurz greift.674 Eine derart umfassende Population wie die Nation zur individuellen Bezugsgröße zu erheben wird in der Neuzeit überhaupt erst mit der Entstehung des Territorialstaates realisierbar, was bereits relativ früh reflektiert und bewusst wird.675 Die Wirkung der Nation, das Gefangenendilemma zu bewältigen und teilweise gar zu lösen, ist paradigmatisch für eine hinsichtlich des Wirkmechanismus nicht-selbstreferentielle, eine historisch gewachsene, im besten Sinne evolutionäre Anpassung. Es bewirkt gerade den emotionalen Effekt und begründet die rationale Effizienz der Nation, dass sie nicht eine künstlich geschaffene und logisch kalkulierte Größe deduzierter Planung darstellt. Dies gilt auch für die meisten anderen Bezugsgrößen wie Familien, Korporationen, Religionsgemeinschaften, Orden, standesbewusste Berufe oder andere organisierte Gruppen: Ihre rationalisierenden Potentiale aggregieren sich um und mit dem modernen Staat. Während sich in Westeuropa Nationalstaaten bilden, die auch konfessionelle Homogenität vermittels ihrer Zwangsgewalt herbeiführen wie Heinrich VIII. von England oder Kardinal Richelieu durch die Niederwerfung der Hugenotten zu La Rochelle, wird diese in den zu Territorialstaaten amalgamierten Landesherrschaften des Alten Reiches durch den Augsburger Religionsfrieden erreicht: „Cuius regio, eius religio.“ Namentlich die auf das 16. Jahrhundert datierenden Entwicklungen bestärken die Vermutung, dass Staat über sich selbst hinaus gesellschaftsstrukturierende und sogar gesellschaftshomogenisierende Wirkung entfaltet. Dies würde schließlich darauf hinweisen, dass seine enorme und weit ausstrahlende Kraft angetan ist, Konstellationen des Gefangenendilemmas zu überwinden. Der Nationalstaat verschiebt das Legitimitäts- und Existenzproblem des Staates und seiner Regierungsform vom Auswärtigen in das Innere: Selbst wenn Nationalstaatlichkeit noch lange nicht mit Demokratie identisch ist, so enthält das Konzept der Nation im Allgemeinen und dasjenige des Nationalstaates im Besonderen ein Aktivierungs- und Partizipationspotential des Volkes, auch wenn dies zunächst auf das Bürgertum beschränkt bleibt: Umgekehrt nimmt damit die „Veröffentlichung“ der Gesellschaft ihren Ausgang.676 Noch zu Zeiten von Befreiungskriegen und Restauration ist das Nationalgefühl durch weltbürgerliche und mithin standessolidarische Emotionen moderiert, auch die Möglichkeit, na-

674 Leider bleibt bei Sens Kategorialisierung von „privateness“ offen, ob diese Typen als Erweiterung der rational-choice-Lehre zu verstehen sind oder diese bereits widerlegen. Sind nicht Fälle von self-welfare-goal, die lediglich self-centered welfare verletzen (Subjekt ist betroffen vom Leid anderer) und Fälle von self-goal-choice (Subjekt bedenkt bei seiner Entscheidung auch das Wohlergehen anderer Personen), Sen 2002, 214 als eine solche Erweiterung anzusehen? Das Öffentliche ist jedenfalls bereits in der „privateness“ angelegt, sobald sie den Bereich der „self-centered welfare“ verlässt. Eine auch potentiell öffentlichkeitsfreie Gesellschaft ist damit nicht denkbar. 675 Meinecke 1922, 33 f. 676 Draht 1966, 380 f.

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

233

tionale Einheit in ihrer staatlichen Form durch eine auswärtige Macht garantieren zu lassen, erscheint bis dato als vereinbar mit Patriotismus.677 Diese subjekttranszendierende Wirkung des Staates demonstriert darüber hinaus, dass die Fähigkeit des Staates, Kollektivgüter bereitzustellen, nicht ausschließlich in seiner Kompetenz zu besteuern gründen kann. Möglicherweise ist diese Kompetenz noch nicht einmal conditio sine qua non, wie das Symptom des Nationalismus nahe legen mag. Die Nation ist freilich auch nicht a priori eine solche conditio sine qua non für Staatlichkeit schlechthin. Vielmehr reicht hierzu ein „sense of identity“ aus, der die Mitglieder einer Gemeinschaft veranlasst, „certain rules of conduct as part of obligatory behavior towards others in the community“ anzuerkennen.678 Doch als wirkmächtige Größe von Staatlichkeit, die in dieser Amalgamisierung mit dem Konzept der Nation ein auf die Moderne beschränktes Phänomen darstellt, tritt er erstmals im England der frühen Neuzeit auf, die dort eben als early modern history begrifflich bereits als Teil der Moderne zugeschlagen wird. Die Nation als staatskonstituierende Entität steht selbstverständlich in enger Wechselwirkung mit dem mächtigen Parlamentarismus, der es vergleichsweise weiten Teilen der Bevölkerung, über den Hochadel hinaus auch der gentry, ja sogar dem Bürgertum ermöglicht, an der Herrschaft teilzuhaben und sich auch mit dem auswärtigen Schicksal des Staates, eben als demjenigen der Nation zu identifizieren.679 Komplementär zu dieser Entwicklung ist die binnenintegrative Wirkung des Konzepts der Nation.680 Es scheint, als sei England auch derjenige Ort, an dem sich die Nation als entscheidende, den Staat letztlich instrumentalisierende Größe zu erhalten weiß: Die thatcheristische Revolution ist vermutlich in ihrer atemberaubenden Geschwindigkeit so nur in einem Gemeinwesen möglich, in dem sich die Nation als vitale Größe in der gesellschaftlichen Befindlichkeit anrufen lässt.681 Es lässt sich tatsächlich fragen, ob das, was die Bevölkerung eines Staates als Nation kennzeichnet, gerade die „bürgerliche Gesellschaft“ ist, „die als vom Staat unterschiedene regiert worden wäre“, wie der französische Althistoriker Paul Veyne behauptet.682 Selbstverständlich wird diese Unterscheidung mit dem Aufblühen des Nationalstaates nicht überwunden, vielmehr weiß die Obrigkeit 677 Meinecke erläutert das eine am Beispiel des Reichsfreiherrn vom Stein 1922, 182 und das andere als Reflex der öffentlichen Meinung während der Restauration, 207. 678 Sen 2002, 216. 679 Dahrendorf 1992, 53; Nolte 2004, 5. 680 Grandner/Komlosy 2004, 16. 681 Cf. Geppert 2003, 81. Die dort skizzierte Entwicklung findet ihre konsequente Fortsetzung darin, dass sich die Tories unter Thatchers Nachfolger John Major als „national party“ darzustellen wissen. 682 Meyer/Veyne 1990, 15; Waschkuhn 1998, 147.

234

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

bis in das 20. Jahrhundert hinein die Kraft des Nationalen für sich zu instrumentalisieren, sich aber selbst auch zunehmend als deren Mandatar zu begreifen. Aber das Integral der Nation ist gerade das, was diesen Unterschied von bürgerlicher Gesellschaft und Staat zurücktreten und ihn in Kontinentaleuropa unter den Bedingungen der (Hoch) moderne beherrschbar werden lässt. Freilich scheiden sich liberale und konservative Nationalstaatsidee von einander: „Der eine appellierte an die bewusste souveräne und regulierende Vernunft der Einzelnen und der Gesamtheit, der andere leitete die unbewusste Vernunft der Geschichte aus ihrer souveränen Regulierung durch Gott ab.“ 683 Je mehr in Deutschland freilich die konservativen in die Defensive gelangen und ab 1848 teilweise zu Reaktionären werden, desto flexibler wird das Konzept der Nation benutzt: Bald soll es den Staat gegenüber dem Volk als entscheidende gesellschaftliche und historische Wirkmacht stärken, bald die auf den Staat begrenzte Regierung gegenüber dem Volk als Souverän herausstellen. Die Kompromissbereitschaft ist zeitweise selbst bei einem Manne wie Stahl erstaunlich ausgeprägt, weit reichende Rechte für Repräsentativorgane werden in der Staatstheorie eingeräumt. Bei alledem bleibt die Bezugsgröße die Nation: Sie ist Leit- und Ordnungsbegriff des politischen Diskurses der Jahrhundertmitte. Weil die Idee der Nation in Deutschland jedoch so lange als „geistige Einheit“ und kulturelle Gemeinschaft verstanden worden ist, tut sich die Politik schwer, einzelstaatliche Kompetenzen einem geeinten eben nationalen Staat zu übertragen. Die Konservativen in Preußen hoffen bis zuletzt, die Nation als eine nichtstaatliche politische Einheit realisieren zu können.684 Solche Tradition, politische und öffentliche Gewalten diffus zu organisieren, leisten paradoxerweise gerade in Deutschland der Unabgeschiedenheit von Staat und Gesellschaft Vorschub. So lange nicht eine klare nationalstaatliche Lösung erstrebt wird, bleibt stets etwas Kollektives, Öffentliches, Politisches jenseits des Staates, aber diesseits des Völkerrechts. Ist der Nationalstaat erst einmal gegründet, wird er auch in Deutschland fortan zum Movens nationaler Einheit, und mithin zur Politisierung von Gesellschaft. Ranke nennt dies die „moralische Energie“ des Staates, vermittels derer der „bestimmte Staat“ zum „Geist des gemeinen Wesens“ wird:685 Staat wird also als kultureller und mentaler Zusammenhang begriffen, der nicht auf Staatsgewalt beschränkt ist, sondern dessen Bürger vielmehr freiwillige Teilhaber an ihm sind. Für Hermann Heller ist schließlich das Moment politischer Zusammengeschlossenheit Definiens von Nation überhaupt.686 Der Nationalstaat ist dasjenige, was den Staat mit der Gesellschaft verschmelzt, und er ist somit der erste konkrete Fall von Staatlichkeit als allgemei683 684 685 686

Meinecke 1922, 258. Meinecke 1922, 269. Ranke 1909, 333. Heller 1983, 181.

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

235

ner Integrationsfunktion – sei es als Distinktivfunktion gegenüber der nichtinsularen, vornehmlich der kolonialen Bevölkerung wie in England,687 sei es als letztlich nicht mehr steuerbares Medium der Herrschenden wie in Kontinentaleuropa, namentlich demjenigen der fortgeschrittenen Französischen Revolution. Diese fehlende Steuerbarkeit stellt freilich die denkbar reinste Selbstzweckhaftigkeit der Nation dar, in der ihre das Gefangenendilemma überwindende Wirkung zugleich zusammenbricht. Die terreur restauriert den Hobbesianischen Naturzustand, indem gegenseitige Denunziation herrscht und primitivste Instinkte enthemmt werden: Die Nation bedarf der Eigenständigkeit eines Staates gegenüber anderen sozialen Kräften, um nicht ad absurdum geführt zu werden. Und dennoch ist die terreur ein früher Endpunkt totaler Veröffentlichung der Gesellschaft. Die Nation ist demzufolge der Grund für staatliche Regulierung und Verantwortlichkeit von Kollektivgütern. Erst die Nation umreißt die Gruppe, deren Nutzenoptimierung Gegenstand staatlicher Rationalisierung sein kann. Diese enorme Bedeutung der Nation als Bezugsgröße, die den einzelnen stabilisiert, wird bei der Übertragung angelsächsischer Konzepte und Institute reduzierter Staatlichkeit auf andere Kulturräume häufig übersehen. Nation und Nationalstaat sind die Konsequenz des die Moderne kennzeichnenden Prozesses funktionaler Differenzierung, der eine permanent ihre Selbstzerstörung androhende Fragmentierung der Gesellschaft zeitigt. Nation und Nationalstaat sind der Ort, wo „die Interessenkonstellationen [. . .] in Solidarität und internalisierten Gefühlen von Loyalität und Verpflichtung begründet sind“, um eine allgemeine Beschreibung derjenigen Voraussetzungen anzuführen, die Nationenbildung erfordert, wie sie Waschkuhn aus Talcott Parsons „Theorie sozialer Systeme“ heraus entwickelt.688 Die Nation ist gemeinsamer Nenner und allgemeine Appellationsinstanz: In ihr wird es möglich, das l’interêt particulier als zeitgenössischen Begriff des dem Gefangenendilemma zugrunde liegenden Egoismus zu überwinden. Das Instrumentalisierungspotential, was dem Konzept der Nation zu Eigen ist, steigert freilich das Machtpotential des Staates und derer, die sich seiner bedienen, ins Unermessliche. Wie gewichtig freilich die Eigenmacht und Unabhängigkeit nationalstaatlicher Steuerungskraft ist, erhellt e contrario aus seinem tatsächlichen oder auch nur vermeintlichem Schwinden: Michael Zürn macht eine Wechselwirkung derart aus, dass mit abnehmender „politische[r] Steuerungsfähigkeit des Nationalstaates“ einerseits die „gesellschaftliche Kontrolle der Entscheidungsträger“ andererseits verringert werde.689 Mag die Nation also zunehmend als Hindernis der eben mittlerweile trans-nationalen Integra687

Meadowcroft 1995, 159. Waschkuhn 1998, 377; „Theorie sozialer Systeme“ lautet der deutsche Titel eines der Standardwerke von Parson: Parson, T., Theorie sozialer Systeme, Opladen 1976. Zum solidarisierenden Effekt von Nation cf. auch Schefczyk 2003, 244. 689 Zangl/Zürn 1996. 688

236

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

tionsziele erscheinen, so entpuppt sich der Nationalstaat als Kontrollinstitut des Souveräns über die politischen Akteure. Im spezifischen Falle der europäischen Integration fungiert er gar als rocher de bronze der Demokratie. Kompetenzübertragungen auf nicht-nationale Ebenen scheinen fast regelmäßig mit Demokratierückschritten erkauft und der historische Prozess einer schrittweisen Machtbeteiligung, die sich die Parlamente erkämpfen, wiederholt zu werden. Offensichtlich handelt es sich hier um einen historischen Typus.690 Der Nationalstaat ist politisch derart grundlegend, dass er die im Konzept der Nation angelegten beiden großen Entwicklungslinien überwölbt: Die Nation wird einerseits diejenige Größe, die es dem einzelnen erlaubt, sich in seiner Einzigartigkeit zu entfalten. Andererseits wird sie Rechtfertigung für totalitäre Kollektivismen wie den Nationalsozialismus oder auch den „Sozialismus in einem Lande“ stalinistischer Provenienz. Das Offene der modernen deutschen Geistesgeschichte namentlich des 19. Jahrhunderts liegt nicht zuletzt darin, dass in ihr beide Entwicklungen des Nationalen angelegt sind: So ist für Novalis die lediglich instrumentelle Legitimität der Nation nicht nur durch ihre dem Individuum dienende Funktion, sondern zudem durch ihren Charakter als subordiniertes Mittel des Universellen, namentlich der Menschheit umgrenzt.691 Es kennzeichnet die Antirationalität der politischen Romantik, dass damit selbstverständlich der Konflikt von Individual- und Kollektivinteressen, den Novalis durchaus klar erkennt, lediglich auf eine höhere Ebene verlagert wird. Indem die Nation somit gleichsam zu einer religiös anmutenden Institution wird, zeigt sich darin zugleich, dass die Emanzipation der weltlichen von der geistlichen Macht, die seit dem späten Mittelalter allmählich den Staat hervorgebracht hat, an der Schwelle zur klassischen Moderne einen vorläufigen Endpunkt erreicht.692 In unserer Gegenwart erlebt der Staat als Nationalstaat wahrscheinlich, was dem Staat als gesellschaftlicher Größe längst widerfährt: Seine Unverzichtbarkeit wird mit dem Schwinden seines Einflusses deutlich. Im supranationalen Rahmen könnte sich der Nationalstaat sogar als gleichsam gesundgeschrumpftes Gegengewicht erhalten, das den erhöhten Freiheitsgrad der Bürger in einer Gesellschaft konkurrierender öffentlicher, namentlich auch supra- und internationaler Gewalten wahren hilft.693 Neben dem Bundesstaat ist der Nationalstaat dasjenige Phänomen von Staatlichkeit; bei dem die Bedingtheit von Staatlichkeit durch institutionelle Zusammenhänge am deutlichsten zu Tage tritt, wie sich im Falle seiner demokratischen 690 691 692 693

Tiedtke 2005, 31. Novalis 1901, 129. Schulze 2004, 36. Sturm 2004, 373; Di Fabio 2001, 36.

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

237

Verfasstheit noch weiter herausschält.694 Der Nationalstaat ist historische Einmaligkeit, da er die Persönlichkeit eines Staates als Summe aller historischen Erfahrungen beschreibt. 2. Der Versorgungsstaat Den nicht unbelasteten Begriff des Versorgungsstaates als genus proximum nicht zuletzt auch des Sozialstaates zu wählen ist zweifelsohne rechtfertigungsbedürftig. Hiermit wird, last but by no means least, ein parataktischer Begriff hypertaktisch verwendet. Theodor Blank betont den Unterschied der Begriffe im Jahre 1958, nachdem er von Eugen Gerstenmeier in polemischer Absicht geprägt worden ist.695 Auffallend ist jedoch jenseits aller Werturteilsbehaftetheit, dass in den Mittelpunkt moderner Staatsaufgaben zunehmend der Begriff der Sorge eintritt. Menschliche Bedürfnisse, deren Befriedigung(-smöglichkeit) dem Staat überantwortete wird, als Problem und Leben als Bewältigungsaufgabe zu objektivieren und zu reflektieren ist ein kennzeichnendes Merkmal, das neuzeitliches von mittelalterlichem Denken im Allgemeinen unterscheidet und modernes gegenüber vormodernem im Besonderen kennzeichnet. Kann ein derart vielgestaltiger und verwickelter Zusammenhang wie der Sozialstaat oder seine Alternative, der Wohlfahrtstaat, überhaupt einer übergeordneten Kategorie von Staatlichkeit zugeordnet werden?696 Diese Frage soll im Zusammenhang dieser Untersuchung positiv beantwortet werden. Denn das faktisch dominante, wenngleich auch nicht zwangsläufig intendierte Merkmal des Sozialstaates besteht im Gegensatz zum Nationalstaat als spezifischem Mittel der Integration darin, dass seine Angehörigen sich als „Sozial(staats)bürger“ passiv und im engeren Sinne des Begriffes des Politischen unpolitisch verhalten. Der Sozialstaat steht zu seinen „Leistungsempfängern“ in einem Verhältnis, das durch deren „allgemeine Forderungshaltung“ gekennzeichnet wird.697 Ausdehnung und Überforderung des Sozialstaates haben aber mittlerweile Ausmaße angenommen, die es als nicht mehr angemessen erscheinen lassen, alle Versorgungsfunktionen des spätmodernen Staates unter dem Begriff des Sozialstaates zu subsumieren. Dies gründet nicht zuletzt in der faktischen Ausweitung des Sozial- zum Wohlfahrtsstaat, dessen leitendes Prinzip in der Kompensation liegt, was aber den Wohlfahrtsstaat über die Grenzen des Sozialstaates hebt.698 Auch eine weitere damit einhergehende zunehmende Beschränkung, diejenige auf die beiden 694

Meadowcroft 1995, 164 und 187. Ritter 1991, 7. 696 Cf. dazu die Erörterung der Frage von Kapitel A. II. 2. b) im Ersten Teil: Sozialoder Wohlfahrtsstaat? 697 Habermas 1965, 231. 698 Kaufmann 2005, 22. 695

238

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

Steuerungsmittel Geld und Recht, führt zu einer dramatischen Wirkungsausweitung.699 Damit schießt aber das, was umgangssprachlich unter dem Begriff des Sozialen subsumiert wird, deutlich über das hinaus, was ursprünglich gemeint ist: Der Staat sorgt sich nun um und er sorgt für seine Angehörigen, statt ihnen lediglich in einem weiteren Sinne zu helfen. Vielmehr ist in der politischen Diskussion und mittlerweile auch im Bewusstsein der öffentlichen Meinung, der Sozialstaat in ein komplementäres, also ergänzendes aber auch antinomisches Verhältnis zum Präventionsstaat gerückt,700 das nicht zuletzt aufgrund der Krise des Sozialstaates längst zu einem weiteren Feld staatlicher Intervention geworden ist, die immer weiter ausgreifen zu lassen, sich die Politik gezwungen sieht. Beredtestes Zeugnis dieser Entwicklung ist die neuere Tendenz der Interventionsstaaten westlicher Provenienz, privatwirtschaftlich organisierte Versicherungssurrogate als Zwangssysteme durchzusetzen. Dieses Phänomen des Vorsorgestaates befindet sich freilich im Grenzbereich zur spätmodernen Erscheinung des Subsidiärstaates als Organisator gesellschaftlicher Rationalisierung. Dem Versorgungsstaat haftet freilich noch stärker das paternalistische antipermissive Selbstverständnis an,701 für den Bürger handeln zu müssen, statt ihn handeln zu lassen, wie es sich im repressiven und integrativen Moment von Staatlichkeit zeigt. a) Vorsorgestaat (Präventionsstaat) Vorsorge als Aufgabe und Prinzip staatlichen Handelns dürfte wohl diejenige Form von Staatlichkeit sein, die am stärksten gegenüber der Gesellschaft intervenierend und mithin inkorporierend wirkt. Seit der Staat in der Frühen Neuzeit Gesetzesstaat wird, wird er planender Staat, da Recht seiner Eigenart nach stets eine Form von Planung darstellt:702 Im modernen Staat ist vorsorgendes Handeln bereits definitorisch angelegt.703 Dies ist schon zeitgenössisch in der Frühzeit umfassenderer und ausdrücklich institutionalisierter Prophylaxe durch den Staat bewusst.704 Der Vorsorgestaat 699

Luhmann 1981, 7; 9 und 47. Der Begriff Präventionsstaat lässt sich in der bundesdeutschen Staatsrechtslehre bis in die 1970er Jahre rekonstruieren, Florian Becker 2005, 2; das spezifische Präventionsmotiv der sozialen Sicherung lässt sich in Deutschland bis tief in das 19. Jahrhundert zurückverfolgen, Ritter 1991, 75. 701 Inwieweit das Gegenteil diese Selbstverständnisses als liberal zu kennzeichnen ist, muss insbesondere mit Blick auf den Nationalstaat und das Verhältnis von Liberalismus und Nation füglich bezweifelt werden. Zur hyperprotektiven Neigung des Versorgungsgedankens cf. als Beispiel das schwedische Ordnungsmodell des „Volksheim“, dazu: Valeska 1999. 702 Herzog 1971, 328. 703 Willke 1992, 234 und Reinhard 2002, 364. 704 Achinger 1958, 79 f.; Habermas 1965, 172 f. 700

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

239

greift in den oœküò der Familie in einer bis dato nur von totalitären Diktaturen bekannten Weise ein.705 Der Vorsorgestaat scheint in weitaus größerem Umfang die im Wortsinne öko-nomischen Gründe dieser kleinsten Form menschlicher Assoziation zu absorbieren als alle anderen bis dato existierenden Kategorien von Staatlichkeit. aa) Gesellschaftsverändernde Auswirkungen vorsorgender Staatlichkeit Das entscheidende Problem aber, das sich bei forcierten Vorsorgemaßnahmen stellt, liegt selbstverständlich in der drohenden sozialen Entfremdung und Isolation der Individuen begründet. Ja, es ist bezeichnend, dass familiale Desintegrationsprozesse landläufig in den westlichen Gesellschaften dasjenige darstellen, was deren Mitglieder spontan mit dem Begriff der Moderne am häufigsten assoziieren. Es sei hier dahingestellt, ob sich tatsächlich bestimmte Integrationsprozesse möglicherweise vielmehr verändert als aufgelöst haben. Die Eigentümlichkeit des Interventionsstaates, die Schranke zwischen Staat und Gesellschaft zu überwinden, verstärkt sich im Falle vorsorgenden Handelns soweit, dass bei diesem Typus staatlichen Handelns das Prinzip der Generalität von Gesetzen und die auf diesem Wege garantierte Gleichheit vor dem Gesetz hinschmilzt. Materielle Normengeneralität ist erst dann hergestellt, wenn die Norm auch faktisch keine selektive und Personen- oder gruppenorientierte Wirkung zeitigt.706 Bereits so gegensätzliche Denker wie Habermas und Forsthoff haben eingehend dargelegt, warum sozialstaatliches Handeln weitestgehend auf dem Wege von Maßnahmegesetzen erfolgt. Mittlerweile stellen nicht eben wenige Gesetzeswerke in den Rechtsstaaten der westlichen Welt gar nur noch Finalprogramme dar, die Ziele vorgeben oder sich sogar auf (rechts) politische Programmsätze beschränken, deren szientistische Provenienz sich im Typus des Planungsgesetzes in der Mitte des 20. Jahrhunderts manifestiert hat.707 Damit werden Staatsfunktionen in nicht selten sozialwissenschaftlich-dekriptiver Form unmittelbar normativiert, was ihre Einordnung und Anwendung in überkommene juristische Kategorien oftmals erschwert,708 auch wenn in den westlichen Staaten die Staatsrechtslehre bereits seit den 1960er Jahren versucht, den Plan als Rechts705 Universalhistorisch betrachtet mag im antiken Sparta noch in ähnlicher Weise familiale Privatheit von der Polis aufgelöst worden sein. Aber neben den grundsätzlichen Problemen, die sich beim Vergleich vormoderner mit modernen Gesellschaften und moderner Staatlichkeit ergeben, ist die Quellenlage mehr qualitativ als quantitativ zu unsicher, als dass hier eindeutige Gleichsetzungen möglich und zulässig wären. 706 Habermas 1965, 196. 707 Cf. Herzog 1971, 328. 708 Die klaren Unterscheidungen, die noch Isensee 1968, 315 benennt, lösen sich dabei auf.

240

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

institut in das Recht systematisch einzuweben.709 Dass staatliche Steuerung zunehmend finalprogrammiert wird, gründet nicht zuletzt in der Widersprüchlichkeit von Wachstum und Selbstdestruktion, wie sie der Logik des reinen Kapitalismus zu eigen ist.710 Auch wenn die Stabilisierung dieser Wirtschaftsform durch den selbst als „kapitalistisch“ oder gar als „Klassenstaat“ apostrophierten Staat immer wieder betont wird,711 so neigt der Staat in dem Maße, in dem er tatsächlich Staat ist, wiederum eben aufgrund seiner Anlage als gemeinwohlorientiertes und auf die Überwindung des Gefangenendilemmas eingestelltes Funktionssystem nolens volens dazu, diese beiden durchaus synchron anzutreffenden Entwicklungspole zu moderieren. Diese Tendenz, leitende Idee und normiertes Recht zu verschmelzen, stellt wiederum ein tertium comparationis zum mittelalterlichen Recht dar.712 Der Rationalisierungsprozess der Moderne ist soweit vorangeschritten, dass, da das Recht vorrechtlicher Ideen weithin entladen ist, nun die metajuristischen Prinzipien der Rationalisierung, namentlich Effizienz und Effektivität als neuer beinahe ins Metaphysische gesteigerter säkularer Ideenhimmel unmittelbar ins Recht übernommen werden. Daher nimmt es nicht wunder, wenn als zweite Kategorie solcher globaler Sätze, die sogar in Widerspruch zum übrigen Inhalt ihres Gesetzeswerkes werden können, neben programmatischen Aussagen der Moderne auch auf vormoderne Ideen reduzierte Reservate aufkommen, wie etwa die Bezeichnung der Ehe als eines lebenslangen Rechtsverhältnisses.713 Dies bedroht aber die Einheit(-lichkeit) des Staates und kann seine arbiträre Wirkung stören. Die Eigenart vorsorgenden Handelns besteht gerade darin, dass um der Beherrschbarkeit künftiger Probleme willen eine prognostische Berechenbarkeit der Zukunft zugrunde gelegt werden muss, die selbst aber erst die Zukunft determiniert: Mögen die zu regelnden Problemverhinderungen durch die daraus abgeleiteten und zumeist auch in szientistischer Form legitimierten Vorsorgemaßnahmen, die aber eben regelmäßig Maßnahmen darstellen, tatsächlich bewältigt wer709 Günther 2004, 277. In der Bunderepublik Deutschland wird diese Entwicklung maßgeblich von Joseph H. Kaiser angestoßen: Eine Quelle dieser zeithistorischen Entwicklung wie des inhaltlichen Sachproblems gleichermaßen ist das sechs Bände umfassende Werk „Planung“. Dieses œuvre ist bereits interdisziplinär angelegt und versucht somit, sozialwissenschaftlich-deskriptiv gewonnene Ergebnisse zu normieren und zu verrechtlichen, um sie auf diese Weise zu Geltung zu bringen und Praxis werden zu lassen. Ansonsten sind die Versuche, den Plan zu einer Kategorie des Rechts werden zu lassen, eher wieder im Begriff zu erlahmen. 710 Offe 1972, 13 ff. und passim. 711 An dieser Stelle sei exemplarisch auf Offe 1972 als einem der wohl bekanntesten Werke verwiesen. 712 Zu diesem Merkmal des mittelalterlichen Rechts: Brunner 1939, 152 u. 155; Kern 1949, 60. 713 § 1351, Abs. 1 BGB.

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

241

den, so wird auch das zu regelnde Problem auf diesem Wege zumeist in der prognostizierten Form verschärft, wenn nicht gar erst erzeugt. Vorsorgende Problemverhinderung ist somit in hohem Maße selbstinduktiv.714 Dass dieser Mechanismus weitgehend diskret abläuft, liegt nicht zuletzt darin begründet, dass für vorsorgendes Handeln sehr viel ausgedehnter als für andere, etwa rein vollziehende Aufgaben, eine der wohl glaubwürdigsten Formen öffentlicher Meinung mobilisiert wird, nämlich die wissenschaftsförmig formulierte öffentliche Meinung. Die oftmals namentlich als Mathematisierung eintretende Verwissenschaftlichung stellt die nahezu einzig mögliche Form dar, Aussagen über die Zukunft zu treffen, die sehr viel glaubwürdiger als andere Formen den Anschein von Naturgesetzmäßigkeiten ihrer Aussagen erweckt. Diese selbstinduzierende Wirkung von Vorsorge wie auch die damit einhergehende Szientifizierung von Politik, die gleichsam zu einem Szientismus des Politischen führt, ändert auch die Eigenart von Politik und ihrer Akteure: Max Weber reduziert die politischen Tugenden noch auf Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß; in dem Maße, in dem Mit- und Umwelt von Politik bedacht werden müssen, setzt sich der rationelle Stratege gegenüber dem charismatischen Demagogen durch. bb) Veröffentlichung von Gesellschaft durch vorsorgende Staatlichkeit Vorsorgendes Handeln beschleunigt den Vorgang der Veröffentlichung der Gesellschaft, ja es gestaltet sie geradezu staatsförmig um: Die normierten Tatbestände des Vorsorgestaates sind soziale Tatbestände. Viel beachtet ist die Veränderung, die dies auf das Recht ausübt. Aber die Normierung sozialer Tatbestände formt selbstverständlich auch die Gesellschaft. Wenn die Normen nunmehr „an bestimmte Personengruppen und unstete Situationen gebunden“ sind,715 so hat diese Normierung, da sie ja als Norm auch sanktioniert ist, verhaltenslenkende Wirkung. Indem Vorsorge jedoch gesellschaftlichen Kräften entzogen und dem Staat überantwortet ist, wird sie zuverlässiger und den Partikularinteressen dritter entzogen. Damit wird allerdings nicht nur für den Empfänger oder Nutzer die Vorsorgeleistung als solche berechenbarer, sondern auch als Last dritter. Subsidiarität erfordert daher, soll sie effizienzsteigernd und rationalisierend wirken, unvermindertes staatliches Interesse, namentlich staatliche Aufsicht, um gegenüber vorstaatlicher gesellschaftlicher Bewältigung, sofern eine solche überhaupt stattfand, überlegen zu bleiben. Demgegenüber ist freilich betont worden, dass auf der politischen Ebene der Staatsleitung und Normsetzung der Vorsorgestaat seine Steuerleistung optimiere, wenn die Leitung „auf die Stimme [. . .] der dominanten Interessen“ hört.716 714 715 716

Cf. Zweiter Teil B. II. Habermas 1965, 196 f. Jonas 1963, 293.

242

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

Das gegenwärtige Dilemma des vorsorgenden Staates besteht darin, dass vor allem die Mittel, die vorsorgenden Aufgaben dienen, in solchem Maße finanziellen Spielraum in Anspruch nehmen, dass dies wiederum die Zukunft determiniert und Freiheit nimmt: Die Vorsorge droht künftige Freiheit aufzufressen und damit diejenige Ressource zu verbrauchen, die erforderlich ist, um den Vorsorgefall zu verhindern.717 Überdeterminierung zu vermeiden ist letztlich einziges Mittel, Interessen künftiger Generationen zu berücksichtigen, weil deren Interessen der Eigenart der Sache nach eben nicht bekannt sein können, sondern sich bestenfalls hypothetisch erschließen lassen.718 Die Unvorhersehbarkeit künftiger Folgen ist ein nahezu allen hoch- und spätmodernen Techniken eigenes Risiko: Daher sind künftig erforderlich werdende Freiheitseinschränkungen nicht abzusehen. Die doppelte Gefahr besteht darin, dass mit diesem Risiko bereits „präventive“ gegenwärtige Freiheitseinschränkungen gerechtfertigt werden können.719 Dagegen wird noch zu Zeiten jener Fortschrittseuphorie, wie sie für die Zeit vor der Energiekrise des 20. Jahrhundert auszumachen ist, angenommen, dass es gerade die durch moderne Zivilisation bedingten Veränderungen seien, die eine zunehmende „Vorherberechenbarkeit“ gesellschaftlicher Probleme mit sich brächten.720 cc) Das deutsche Konzept der Daseinsvorsorge Im Mittelpunkt des Vorsorgestaates wird in Zeiten von Privatisierung und Deregulierung das von Forsthoff 1938 entwickelte Konzept der Daseinsvorsorge stehen, das sich rasch verbreitet. Es gründet vornehmlich darin, dass Anstaltsförmigkeit als einzige Form staatlicher Leistungsverwaltung bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr ausreicht, um die sich ständig ausweitenden Leistungsaufgaben der Verwaltung rechtlich zu normieren und praktisch zu organisieren.721 Das Konzept der Daseinsvorsorge begründe sich, so Forsthoff, im Wandel von obrigkeitlicher Eingriffsverwaltung zu integrierender Leistungsverwaltung.722 Es bleibt festzuhalten, dass die Idee der Daseinsvorsorge, ja des Interventionsstaates überhaupt ein Phänomen ihrer Zeit, der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft darstellt und als solches ambivalent ist. Die veränderte Situation einer fortgeschrittenen Industriegesellschaft hochmoderner Provenienz verführt seinerzeit zu der Annahme, dass die „Grundrechte der Geschichte angehören“ und „individuelle Freiheit und staatlicher Zwang“ als Antinomie rechtsstaatlichen Denkens überholt seien.723 717 718 719 720 721 722 723

Kirchhof 2004 (b), 32 und 35. Sen 2002, 535. Staff 1987, 162. Herzog 1971, 328. Forsthoff 1938, 20 f.; Schieren/Hildebrand 2003, 149; Ullmann 2005, 66. Forsthoff 1938, 1 ff. und 20 f. Forsthoff 1938, 1.

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

243

Dass Vorsorge zu Freiheit in einem potentiell konkurrierenden Verhältnis steht, das jedoch nicht zwangsläufig rivalisierend sein muß, ist kaum zu bestreiten: Vielmehr soll Vorsorge im modernen demokratischen Rechtsstaat der Freiheitssicherung dienen.724

Forsthoff hat versucht, die Eigenart der Daseinsvorsorge durch zwei Kriterien einzugrenzen: Es müsse sich zum einen bei den Leistungsverhältnissen der Daseinsfürsorge um zweiseitige Rechtsverhältnisse, also regelmäßig um Verträge, handeln. Zum anderen müsse das Individuum darauf angewiesen sein, dass das entsprechende Leistungsverhältnis bestehe, um Grundbedürfnisse zu befriedigen, damit es der Daseinsvorsorge zugerechnet werden könne.725 Als entscheidendes Problem erweist sich dabei zu konkretisieren, welche Aufgaben der staatlichen Daseinsvorsorge zuzurechnen seien,726 wie bereits Forsthoff selbst erkennt.727 Außerdem wird scharf kritisiert, dass Daseinsvorsorge dazu führe, Leistungen, die privat- und marktwirtschaftlich zu erbringen seien, durch die öffentliche Hand durchzuführen.728 Dies verursache den Bruch etlicher Grundsätze, vornehmlich desjenigen der Subsidiarität. Vor allem die gesetzliche Rentenversicherung, zumeist zur spezifischen Ausformung des Vorsorgestaates als Sozialstaat gezählt, stellt zunächst als staatliche Organisation privaten Wirtschaftens im Rahmen einer Solidargemeinschaft eine der prominentesten Funktionen vorsorgenden Staatshandelns dar.729 Die Paradoxien der Moderne haben aber bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts längst Entwicklungen ausgelöst, die sich sogar in unfreien Staaten und totalitären Gesellschaften überschneiden: „So wird im Jahre 1935, mitten im Ausbau einer Zentralverwaltungswirtschaft“ durch „Die Deutsche Gemeindeordnung“ (DGO), in der „ein erster Anruf zur Reprivatisierung vernehmbar“ wird,730 neue Gemeindeunternehmen zu errichten oder deutlich zu erweitern untersagt und darauf gedrängt, die Reprivatisierung bestehender Unternehmen zu verstärken. Noch bevor es als solches identifiziert worden ist, tritt also die Konstellation des Gefangenendilemmas als Dilemma der Wirtschaftspolitik bereits in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts zu Tage: Sie droht einerseits zunehmend, Eigeninitiative erlahmen und weite Teile von Dienstleistungen, die zur Bereitstellung von Kollektivgütern erforderlich sind, durch die Kommunen vereinnahmen zu 724

Hesse 1976, 499. Forsthoff 1938, 41 f. 726 Hermes 1998; Löwer 1989, 118; Ossenbühl 1971, 517; Ruge 2004, 159. 727 Forsthoff 1998, 42. 728 Hermes 1988, 341; Ruge 2004, 159. 729 Zur Einführung der gesetzlichen Rentenversicherung in der Bundesrepublik Deutschland einschlägig: Hockerts 1980. Divergenzen und Konvergenzen demokratisch-marktwirtschaftlicher, nationalsozialistischer und kommunistischer Sozialstaatlichkeit werden in einem von Hockerts 1998 herausgegebenen Sammelband verglichen. 730 Isensee 1968, 78. 725

244

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

lassen. Andererseits erweist sich die massive Intervention des nationalsozialistischen Staates zunächst als wirksameres Mittel gegen die Weltwirtschaftskrise, von der sich die westlichen freiheitlichen Gesellschaften nur deutlich langsamer erholen. Zunehmend wird davon ausgegangen, dass Daseinsvorsorge nicht aus Marktversagen, sondern aus Zeitpräferenz und „mangelhafter Alltagsheuristik“ der Individuen, sich selbst zu schützen, resultiere.731 Eine solche Annahme impliziert, Daseinsvorsorge sei paternalistisch. Demgegenüber ist freilich zu berücksichtigen, dass zumal die klassischen Bereiche der Daseinsvorsorge, also die häufig über Netze erfolgende Befriedigung alltäglicher Grundbedürfnisse, die ihrer Eigenart nach dem Individuum geringste Zeitpräferenz abverlangen, durch immer weit ausgreifendere Zusammenhänge erfolgt. Ebendiese Kollektivierung geht aber gerade mit zunehmender Länge von Planungszeiträumen einher. Vornehmlich der vielfach an ihren technisch oder ökonomisch Grenzen angelangte Ausbau der physischen Kapazitäten von Netzen erfordert deren bessere Ausnutzung. Da sich damit Wachstum aber informationell vollzieht, nehmen Berechnung und Planung von Daseinsvorsorge gegenüber ihrer schlichten Durchführung zu, ja werden Teil dieser Durchführung. Zwangsläufig führt dies jedoch zu einer Verringerung der Zeitpräferenz, da sich die Planungshorizonte erweitern. dd) Verantwortung als Prinzip des Vorsorgestaates Den Vorsorgestaat im engeren Sinne begründet der Einzug des Konzeptes der Verantwortung, dessen Wort ursprünglich sogar der Rechtssprache entstammt. In den 1970er-Jahren findet der Terminus sodann wieder Eingang in die Rechtssprache und ist mit der Einführung des Vorsorgeprinzips als neuer Dimension staatlichen Handelns zeitlich und sachlich eng verknüpft.732 Das Verantwortungsprinzip ist gleichsam leitende Idee des Vorsorgestaates. Vorsorge erfordert jedoch Prognose und Planung.733 Da die Offenheit der Zukunft vielerlei Mittel bietet, das jeweilige Vorsorgeziel zu erreichen, rückt immer stärker Prognostizieren und Planen in das Zentrum vorsorgestaatlichen Handelns. Planen und Prognostizieren gemäß dem Verantwortungsprinzip erfolgen dabei aber wiederum zunehmend aus Planungs- und Steuerungsskepsis heraus: Planung erweist sich als Hydra des modernen Staates. Das ursprünglich in den westlichen Staaten verfolgte Ziel, durch Planung Staat und Politik von einer reaktiven in eine aktive Rolle zu bringen, ist letztlich nicht erreicht.734 731

Anderheiden 2004, 129. Ruge 2004, 161. Dort findet sich auch eine eingehende Entwicklungsdarstellung des Verantwortungsbegriffes. 733 Ruge 2004, 224. 734 Blessing 1987, 114. 732

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

245

Die Verantwortungsdimension der Nachwelt kennzeichnet eine Politik, die weder personen- noch institutionenorientiert ist, sondern vielmehr resultatorientiert, wie es sich im Siegeszug des Effizienzbegriffes in der Politik westlicher Staaten seit den 1990er Jahren exemplarisch niederschlägt. Dem entspricht die wachsende Bedeutung zweckrationaler Legitimität gegenüber charismatischer, vor allem jedoch gegenüber traditionaler Legitimität. In Politik und Staathandeln scheint jene Managerialisierung von Selbstverständnis und Arbeitsauffassung, das bereits Hannah Arendt735 und Jürgen Habermas ausmachen, sich mittlerweile bis hin zum dominanten Eigenschaftszug von Staat und Politik entwickelt zu haben.736 Die letzte Konsequenz des Vorsorgestaates führt schließlich zu der Frage, ob der Sozialstaat durch den Wohlfahrtsstaat überflüssig werden soll oder ob sich der Staat auf eine leistungsanspornende Minimalversicherung sozialer Risiken, wie sie der Sozialstaat vorsieht, beschränken soll.737 Von dieser Frage hängt auch das Ausmaß künftiger Veröffentlichung der Gesellschaft ab. Gegenwärtig kann wohl von einer Krisis des Wohlfahrtsstaates ausgegangen werden, die maßgeblich auch im Wegfall der Systemkonkurrenz von kapitalistischer Marktwirtschaft und kommunistischer Planwirtschaft begründet ist. Diese Konkurrenz hält, solange sie währt, die westliche Staatstheorie im Gleichgewicht, das mit ihrem Verschwinden gestört wird.738 Fortsetzung und Weiterentwicklung

735

Arendt 1996, 13. Für das Beispiel der (alten) Bundesrepublik Deutschland wird der Beginn dieser Entwicklung erörtert bei Hildebrand 2003, 325. 737 Barry 1990, 73 ff.; Schefczyk 2003, 236. Der Begriff des Wohlfahrtsstaates wird freilich in einem Ausmaße falsch benutzt, dass inzwischen vielmehr von einer Unschärfe des Begriffes an sich auszugehen ist, Schefczyk 2003, 224. Klassisch ist die Definitionstrias Esping-Andersens: Er unterscheidet corporatist welfare regimes, deren Gesellschaften durch einen sozial stabilen Kapitalismus gekennzeichnet sind, social democratic, die einen politisch gesteuerten Kapitalismus aufweisen, und schließlich liberal welfare regimes, in denen ein sich selbstorganisierender Kapitalismus vorherrscht, wobei das Gemeinwesen im Grunde auf Armenfürsorge beschränkt ist, Esping-Andersen 1998, 32 Aller von Schefczyk betonten Kontingenz dieser Kategorisierung zum Trotz fällt die Häufung solcher Dreiheiten auf, wenn es gilt, die Konzeptionen des (hoch-)modernen Sozialstaates zu kategoriesieren. Günther etwa kommt in seiner Geschichte des bundesdeutschen Staatsrechtes auch zu dem Ergebnis, es hätten sich in der bundesdeutschen Staatsrechtslehre im Kern drei derartige Entwicklungsrichtungen gebildet, Günther 2004, 301. Demnach formiert sich in der Bundesrepublik der 1960er Jahre eine etatistische Richtung, die einerseits den Staat als starken Eigentümer und die Gemeinwohlverpflichtung der Wirtschaft betont, andererseits aber dem Interventionismus des Staates auch Grenzen setzen will, daneben finden sich Revisionisten, die die freiheitliche Eigentumsordnung in Frage gestellt sehen, und schließlich die Befürworter eines bewussten sozialplanerischen Engagements des Staates und eines weiteren Ausbaus seines Leistungsnetzes. 738 In England setzt diese Entwicklung eines kompetitiven Gleichgwichts bereits mit der russischen Oktoberrevolution des Jahres 1917 ein, Meadowcroft 1996, 18 und hält aber auch im angelsächsischen Bereich bis weit in die 1970er Jahre hinein an, Schefczyk 2003, 213. 736

246

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

des Wohlfahrtsstaates werden dabei sogar von einem seiner scharfsinnigsten Theoretiker kausal nicht immer sauber analysiert: Niklas Luhmann. So konstatiert er im Jahre 1981 als einen, wenn auch allgemein längst akzeptierten Grund der Krisis, dass fortdauerndes Wachstum unmöglich sei.739 Diese seit über dreißig Jahren zur nachgerade dogmatischen Unheilsgewissheit mutierte Ansicht ist von der Geschichte widerlegt worden. Das Problem besteht eher darin, dass Wachstum und breite Wohlstandsstreuung zweierlei sind. ee) Handlungsprohibitive Nebenwirkungen des Verantwortungs- und Vorsorgeprinzips Ein grundsätzliches Problem der zunehmenden Verantwortungsethik als Maßgabe staatlichen Handelns, wie sie nicht nur durch das Recht, sondern noch sehr viel restriktiver durch die öffentliche Meinung sanktioniert wird, ist die ihr eigene handlungsprohibitive Tendenz: Der zumal in Deutschland festzustellende, aber in Kontinentaleuropa vielerorts bemerkte inzwischen vermeintliche Stillstand ist maßgeblich Folge einer Wachstumsskepsis, die sich bald unter ökologischem und antibürgerlichem, bald unter neokonservativem und antiliberalem Signum seit der Mitte der 1970er Jahre stetig verstärkt hat.740 Freilich ist zu bedenken, dass ein wirklich dauerhaftes Ende des Wachstums nicht eingereten ist. Politik und Gesellschaft des Risikio- und Umweltstaates fortgeschrittenen Stadiums leben nicht mehr in einer Phase existenzieller Angst, wie sich für die 1970er und frühen 1980er Jahre in der westlichen Welt kennzeichnend ist, sondern im postexistenziellen Frieden einer den eigenen Imperativen genügenden Klagsamkeit, mit der sich resignierte Zufriedenheit fassadiert. Einmal erfolgte Ausdehnung weithin handlungsprohibitiver Funktionen, wie sie zumal für den die spätmoderne Industriegesellschaft kennzeichnenden Umweltstaat kennzeichnend sind, lässt sich nicht mehr revidieren und die in Umwelt- wie in jeder Staatlichkeit angelegte Tendenz zu unbegrenzter Ausdehnung kaum hemmen. Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen solch handlungsprohibitiver institutionalisierter Folgenabschätzung sind jedoch ebenfalls nicht öffentlich akzeptabel, da die Programme der Hochmoderne neben denen der Spätmoderne weiter laufen.741 Zum Fortschritt dogmatisierte Rationalitäts- und Fortschrittsskepsis trifft auf die Beharrungskräfte des erwerbs- und wachstumszentrierten Menschenbildes der klassischen Moderne. Den Ausweg scheint das Konzept der ökologischen Marktwirtschaft zu weisen. Da Kapitalismus und Ökologie Dogmata der ausgehenden Moderne beschreiben, muss tendenziell diesem tabuierten und geleugneten Widerspruch das Soziale als weinender Dritter geopfert werden. 739

Luhmann 1981, 147, dessen weitere Folgerungen indes zweifelsohne zutreffend

sind. 740 741

Das Phänomen wurde u. a. von Halfar 1987, 30 bereits formuliert. Offe 1995, 246.

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

247

Diese beiden beherrschenden Probleme werden zu bewältigen versucht, indem als „ökologische Steuerreform“ gestaltet das Prinzip der fehlenden Zweckbindung von Steuern zu modifizieren erstrebt wird.742 b) Sozialstaat oder Wohlfahrtsstaat? Der moderne Sozialstaat wird als eine der Hauptursachen von Staatsausdehnung erachtet.743 Vieles spricht für die Valenz dieser These. Indes ist zu fragen, ob bereits der moderne Staat als solcher nicht wiederum geneigt ist, Sozialstaatlichkeit herauszubilden: Denn die instrumentelle Reduzierung auf die Steuerungsmedien Geld und Recht, die Staatsaufgaben und Staatstätigkeit an sich ausweitet, stellt eine Verhaltensform dar, zu der moderne Staatlichkeit allgemein neigt:744 Eine frühzeitige Konzentration auf andere Steuerungsmittel, wie sie anderen Kollektivgütergewährleistern möglich ist, verhindert vermutlich, dass der Sozialbereich sich derart ausdehnt. Entgegen aller Sozialstaatsskepsis wird tatsächlich durch den Sozialstaat noch immer die Freiheit aller seiner Angehörigen regelmäßig wiederhergestellt, da sich aus der „Dialektik von Freiheit und Gleichheit“ immer wieder neu Ungleichheit reproduziert.745 Der moderne Sozialstaat hat den repressiven Obrigkeitsstaat insoweit verabschiedet, als er aus sozial rechtlosen Untertanen Staatsbürger mit Anspruchsrechten gemacht hat.746 Die verbreitete Kritik am „Anspruchsdenken“ lässt außer acht, dass der moderne Sozialstaat in seiner Grundkonzeption zunächst einmal eine Freiheits- und Chancenerweiterung darstellt. Entscheidend ist, um dieses Dilemma von individueller Freiheitsals Chancenwahrung auf der einen und bürokratie- und regelungsgespeister Staatsausdehnung auf der anderen Seite zu bewältigen, eine klare Staatsaufgabendefinition zu erlangen.747 Da sich die Neuzeit im Allgemeinen und die Moderne im Besonderen durch einen Paradigmenwechsel des Menschen vom patiens zum agens kennzeichnen und tÝloò zumindest im westlichen Kulturkreis aller Rationalisierung Freiheit ist, kann sich der moderne Wohlfahrtstaat anders als die vormoderne Armenfürsorge nur als Mittel zur Freiheit und Mittel der Freiheit rechtfertigen.748 Das ist weder mehr noch weniger als die Formulierung eines Ideals: Umstritten ist, ob solche Freiheit nur möglich ist, indem der Staat eine Freiheit von Umständen ermöglicht, die Selbstbestimmung hemmen, also 742

Schmehl 2004, 57 und 215. Bereits Gustav Schmoller 1902, 924 vertrat diese These. Jüngst ist sie etwa als Grundlage einer systematischen Untersuchung von Florian Becker 2005, 3 skizziert worden. Die Literatur zu diesem Konnex wächst allein im deutschsprachigen Bereich täglich. 744 Blessing 1987, 55. 745 Böckenförde 1976 (b), 420 f. 746 Blessing 1987, 28. 747 Böckenförde 1976 (b), 423. 748 Sen 2003, 22. 743

248

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

gleichsam eine ,Freiheit durch‘ zur ,Freiheit von‘ gewähren soll.749 Oder ob die einzig wahre Freiheit die Freiheit von jeglicher staatlichen Einflussnahme sein soll.750 Tertium comparationis beider Positionen ist indes die Freiheit. Hierin liegt der entscheidende Unterschied des modernen zum vormodernen feudalen und paternalistischen Paradigma.751 Das Konzept des Wohlfahrtsstaates geht über dasjenige des Sozialstaates insofern hinaus, als er nicht nur Hilfe für den einzelnen leisten soll, sondern Kompensation für sämtliche Nachteile.752 Der moderne Wohlfahrtsstaat wird somit zum Manager der Kollektivgüter.753 Ebenso wie evident ist, dass dies eine potentiell unendliche Weite von Staatstätigkeit eröffnet,754 ist jedoch auch das Problem, dass die Alternative zum Wohlfahrtstaat der Wohlfahrtsstaat selbst ist: Denn das an seiner statt favorisierte Modell des subsidiären Staates beinhaltet in nicht unerheblichem Umfang auch, die problemnäheren sozialen Einheiten überhaupt erst möglichst weitgehend in die Lage zu versetzen, dass sie eigenständig diese Probleme bewältigen können. Dies wiederum ist jedoch bereits wieder unter den sehr weiten Begriff der Kompensation zu fassen.755 Indes kann auch kein Sozialstaat einem gewissen Minimum wohlfahrtsstaatlicher Funktion entkommen, weil auch der Umfang sozialer Hilfe keine zeitenthobene feste Größe ist, sondern sich mit allgemeiner Wohlstandsvermehrung verändert.756 Die Ursprünge der „sozialen Frage“, die erstmals im Deutschen Reich zur Institutionalisierung dessen führen, was den nucleus des späteren Sozialstaates bilden sollte, sind bereits mehrfach in anderen Zusammenhängen bemüht worden. Die Frage nach Staat als Optimierungsmittel des Gesamtnutzens einer Gesellschaft ist mit der Frage nach dem Sozialstaat oder auch dem Wohlfahrtsstaat in einem Maße wie mit keiner anderen Art moderner Staatlichkeit identisch. Um die durch den Rechtsstaat errungene Freiheit von staatlicher Zwangsgewalt mit der ausgleichenden und arbiträren Macht dieser Zwangsgewalt zu wahren, wie sie erforderlich ist, um die Interessen des einzelnen Arbeiters gegenüber dem (Groß-)Unternehmen durchzusetzen, wird in Deutschland international wegweisend für die Bewältigung der erwachsenen sozialen Frage die Versicherungslösung gewählt. Diese Reaktion auf die erste aus der Industrialisierung erwach749

Di Fabio 2004, 79. Di Fabio 2004, 80 f. 751 Was zwangsläufig zu der Einsicht führt, dass die Herausforderung in einer immer feineren Justierung der via media und der Vermeidung des Radikalen liegt, cf. Di Fabio 2004, 83. 752 Luhmann 1981, 7 ff. 753 Esping-Andersen 1998, 13 und Kersting 2002, 23. 754 Brall 2006, 17. 755 Darin besteht auch der neuralgischer Punkt von Luhmanns scharfsinniger Analyse und luzider Thetik zum Wohlfahrtsstaat 1981, 147. 756 Esping-Andersen 1998, 18. 750

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

249

sene soziale Frage wird sodann in der Folge auf alle Erwerbstätigen ausgedehnt, was angesichts der staatlichen Sanktion dieses Institutes nicht nur zu massiver Staatsausdehnung führt, sondern auch zu einer nicht unerheblichen Freiheitseinschränkung. Hiervon sind vornehmlich Selbstständige und Kleinunternehmer betroffen.757 Das Problem eines solchen nicht mehr vom ursprünglichen Anlass gerechtfertigten, weil schematisch auf andere soziale und wirtschaftliche Zusammenhänge übertragenen sozialversicherungsverursachten Freiheitsverlustes stellt sich alsbald hemmend für wirtschaftliches Wachstum dar. Diese nicht-intendierte Nebenwirkung, die im generell-abstrakten Wirken des Staates und seiner vereinheitlichenden Funktion gründet, geht mit allen Sozialversicherungsfunktionen einher und lässt sich wiederum nur durch diejenige Kraft abmildern, die Freiheit wieder nimmt, den Staat. Die Eigendynamik der Wirtschaft ist gegenüber der staatlichen Zwangsgewalt zu schwach. Dies gilt freilich nicht für den technisch-wissenschaftlichen Fortschritt als solchen, der zu entsprechender, durch wettbewerblichen Anpassungsdruck beschleunigter Innovation der Wirtschaft führt: Der grundlegende Paradigmenwechsel wirtschaftlichen Wachstums von einer auf Produktinnovation beschränkten Industriegesellschaft zu einer auf Prozessinnovation beruhenden Dienstleistungsgesellschaft, die zudem vornehmlich wissens- und qualifikationsorientiert ist, hat zusammenwirkend mit seinem unmittelbar zuvor beschleunigten Ausbau des Sozialstaates, der gleichwohl den Grundformen des bismarckschen Versicherungssystems verhaftet blieb,758 seine säkulare Krise verursacht.759 aa) Das Problem der Armenfürsorge in der anonymen Massengesellschaft Ausgehend von einer reinen Versicherung der Erwerbsfähigen wäre Sozialstaat demnach Ausdruck von Versicherungsmarktversagen.760 Dass eine Dichotomie von Staats- und Marktversagen aber nicht das Grundproblem dieser Untersuchung allein erklären kann,761 wird im Falle der Sozialversicherung bereits daran deutlich, dass sich auch im Schlepptau staatlicher Sozialversicherung durchaus gewinnbringende Versicherungsmärkte gebildet haben und nicht nur im vermeintlich staatsfreien Bereich bürgerlicher Handels- und Wirtschaftstätigkeit.762 757 Graf von Hertling etwa analysiert dieses Problem bereits im Jahre 1916, von Hertling 1916, 5. 758 Metzler 2002, 72. 759 Metzler 2002, 64; cf. den Inkurs zum Industriestaat, der sich Kapitel B. II. 2. anschließt. 760 Schefczyk 2003, 230. 761 Zu den Folgen einer Reduzierung des politischen Diskurses auf diese Dichotomie. Waschkuhn 1998, 406. 762 Dazu allgemein: Esping-Andersen 1998, 63.

250

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

Dies spricht eher dafür, dass der Sozialstaat eher eine markterschließende und -ergänzende als -ersetzende Funktion wahrnimmt. Sozialstaatliche Vorsorge und Versicherung unterscheidet sich von anderen, namentlich privatwirtschaftlichen, indem ein solidarisches Moment, das Umverteilungen beinhaltet, hinzutritt.763 Ist dieser Unterschied weithin erkannt, wenn auch zunehmend weniger anerkannt, so besteht freilich ein Unterschied zwischen solidarischer Umverteilung und deprivativer Umverteilung. Jenseits staatlicher Umverteilung hat zumindest der Wohlfahrts-, bedingt aber möglicherweise selbst der klassische Sozialstaat, antiegalisierende Wirkung,764 indem er nämlich Gesellschaft stratifiziert.765 Ob Stratifizierung als gesamtnutzenoptimierend einzuschätzen ist oder nicht, hängt davon ab, ob antiegalisierende Rationalisierungsfunktionen als optimierend zu erachten sind. Vermutlich besteht hier jedoch kein zwingender Zusammenhang. (1) Pareto-Prinzip und Gefangenendilemma Ein rein summarischer Begriff des Gemeinwohls, wie er dem Pareto-Prinzip eignet, führt (Pareto-)prinzipiell zwangläufig zum so genannten „Pareto-inklusiven Präferentialismus“: „Wenn die Nutzensituation mindestens eines Individuums“ aus einer gegebenen Gruppe in einer Situation „besser ist als in“ einer bestimmten anderen Situation „und für kein Mitglied“ aus dieser gegebenen Gruppe „schlechter, so ist die“ eine Situation besser als die andere der beiden Situationen. Das Gemeinwohl dieses „Pareto-inklusiven Präferentialismus“ „ist eine monoton steigende Funktion.“ 766 Der Paretianismus strenger Observanz erachtet das Pareto-Prinzip als „alleinige Grundlage für die Rechtfertigung staatlichen Handelns.“ 767 Resultativ mutet diese Lehre der spieltheoretisch informierten Hypothesis des Gefangenendilemmas gleich an: Der Staat existiert, um den Gesamtnutzen zu optimieren. Der entscheidende Unterschied, der ja erst die Erzählung vom Gefangenendilemma erfordert, besteht jedoch darin, dass der spieltheoretische bzw. institutionenökonomische Ansatz des Gefangenendilemmas davon ausgeht, dass nur auf das Verhalten der einzelnen Spieler, also im Gleichnis gesprochen der Gefangenen, einzuwirken die den Gesamtnutzen maximierende Funktion ausmacht. Demgegenüber trifft das nackte Pareto-Prinzip keinerlei Aus763

Für viele: Schmehl 2004, 203. Esping-Andersen 1998, 3 und 27. 765 Esping-Andersen 1998, 55. 766 Schefczyk 2003, 79, [Kursiv im Original] der für den hiesigen Zusammenhang erheblicherweise darauf hinweist, dass Amartya Sen den „Pareto-inklusiven Präferentialismus“ auch als „Pareto-inclusive-Welfarism“ beschreibt: „Social welfare is an increasing function of personal utility levels, thus satisfying both welfarism and the Pareto preference rule.“ 1979, 538. Nach Schefczyk 2003, 79: führt bereits ein summarischer Gemeinwohlbegriff zum Wohlfahrtsstaat. 767 Schefczyk 2003, 79. 764

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

251

sagen darüber, wie unter realen institutionellen und historischen Bedingungen die von ihm postulierte rein summarische Nutzenmaximierung zu erreichen ist: Es würde bestätigen, dass die Besserstellung des allein gestehenden Gefangenen die Summe des Gesamtnutzens erhöht. Da es aber die Nutzensituation des nichtgeständigen Gefangenen gegenüber der Situation eines beidseitigen Geständnisses verschlechtert, erklärt diese Lösung letztlich nicht den Staat. Daher wird das Pareto-Prinzip bisweilen sogar als unmöglich beschrieben.768 Es würde selbstverständlich auch berücksichtigt, wenn beide schweigen. Das Pareto-Prinzip ist also der institutionenökonomischen Überwindung des Gefangenendilemmas gegenüber nicht konträr, sondern indifferent. Je weiter sich jedoch der individuelle Paretonutzeneffekt von Null entfernt, desto stärker ist das öffentliche Interesse betroffen: Kollektivierung und in der Folge Veröffentlichung immer weiterer Lebensbereiche sind damit auch theoretisch durch die Ökonomie der Kollektivgüter erklärbar.769 Bemerkenswert an beiden Maximen, derjenigen des Pareto-Prinzips und der aus dem zu überwindenden Gefangenendilemma resultierenden, ist, dass sie offensichtlich den Fall der einseitigen gesamtnutzensteigernden Defektion als Ziel ausschließen. Mittelbar werden solche gesamtnutzensteigernden defektiven Verhaltensweisen hingegen von Axelrods Strategiediskussion des iterierten Gefangenendilemmas erfasst. Auch wenn zum einen das „tit for tat“, also die einmalige Vertrauen vorschießende Kooperation beim ersten Akt, sich in der simulierten Evolution n-fach iterierter Gefangenendilemmata als die relativ überlebensfähigste Strategie erwiesen hat, hängt doch viel von den Ausgangs- und Begleitumständen ab: Eine wirklich eindeutige Lösung gibt es nicht, was beinahe selbstverständlich ist.770 Zum anderen betreibt Axelrod dieses Experiment aus einer die Spiele sich selbst überlassenden Perspektive, weil das Nahziel seiner Forschungen darin besteht, dasjenige, was evolutionstheoretisch formuliert die „relative Fitness“ der einzelnen Strategien ausmacht, zu ermitteln und seinen weiteren Forschungshorizont ja die sich selbst stabilisierende, also staatsfreie bzw. staatslose Gesellschaft beschreibt. Pareto sucht jedoch genauso wie die Institutionenökonomen nicht nach der individuell besten Strategie, sondern nach der Manipulation und Koordination der individuellen Strategien in der Absicht, den Gesamtnutzen zu optimieren. Er denkt also aus der Perspektive des Staates: „Eine der wirtschaftspolitischen Aufgaben der Institutionenökonomik ist es, solche Institutionen vorzuschlagen, die aus einem Gefangenendilemma ein Spiel machen, bei dem es für beide Akteure rational ist, sich an die gemachten Versprechungen zu halten.“ 771 Als Steuerungsinstitut dieser Optimierungsfunktion wird von den Ins768 769 770 771

Sen 2002, 407. Blümel/Pethig/von dem Hagen 1986, 254. Axelrod 2000, 34. Voigt 2002, 50.

252

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

titutionenökonomen der Staat angenommen und von Pareto vorausgesetzt. Während das Pareto-Prinzip jedoch rein resultativ bewertet, ist die Lösung des Gefangenendilemmas als spieltheoretisches Paradigma der Institutionenökonomik auch funktional-beschreibend ausgerichtet. (2) Pareto-Prinzip und Sozialstaatsmodelle Die einschlägige Literatur unterscheidet nicht immer klar zwischen paretianischer Argumentation, die besser als paretianistische Argumentation bezeichnet werden sollte, und lediglich vom Pareto-Prinzip geleiteter Argumentation, die vielleicht der Einfachheit halber dann paretianisch genannt werden könnte. Schefczyk hat diese embarras de richesse zu mehreren Varianten zusammengefasst. Selbstverständlich fehlt hierbei die Variante, auf das Pareto-Prinzip zu verzichten, da – aufgrund der beschriebenen indifferenten Allgemeinheit des ParetoPrinzips – dies ja zumindest gemäß kollektiven Maßstäben grob rationalitätswidrig wäre. Das Problem besteht nun darin, dass die „anderen normativen Prinzipien“, mit denen das Pareto-Prinzip vereinbar sein muss, wenn die Regierung dieses entweder anwenden darf oder gar muss, tatsächlich keine zusätzlichen Bedingungen zum Pareto-Prinzip darstellen, sondern das Pareto-Prinzip diesen gegenüber eine zusätzliche – mögliche oder verpflichtende – Spezifizierung konstituiert. Die Einschränkung regelt lediglich die Priorität dieser Normen gegenüber dem Pareto-Prinzip: Im Zweifel mag anderes wichtiger sein als die Maximierung des Gesamtnutzens, ja wichtiger sogar als dessen Optimierung. Die Gesamtmenge der „anderen normativen Prinzipien“ umfasst aber immer auch das Pareto-Prinzip. Lediglich die paretianistische Argumentation beschränkt sich auf die pareto-prinzipielle Teilmenge der „anderen normativen Prinzipien“. Sofern jedoch diejenige Variante, die mit V benannt sei und derzufolge die Regierung Maßnahmen ergreifen muss und nicht nur Maßnahmen ergreifen darf, wie in derjenigen Variante, die mit IV benannt sei, muss sich die Regierung nolens volens für andere pareto-prinzipielle normative Prinzipien entscheiden.772 Das heißt aber, dass zwingend andere normative und im neoklassischen Sinne nichtökonomische Kriterien zur Umsetzung des Pareto-Prinzips erforderlich sind. Und damit wird das überkommene Pareto-Prinzip durch die Institutionenökonomik aktualisiert. Bevor die Frage zu behandeln ist, inwieweit der westliche Sozialstaat, wie er sich seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts ausgebildet hat, den hier diskutierten Konzepten als nicht-selbstreferentiellem Wissen einer entsprechenden anthropologisch oder soziobiologisch begründeten Informiertheit folgt, ist die Frage, ob und inwieweit er als selbstreferentielles Wissen in einer modernen szientistisch begründeten Gesellschaft planmäßig eingeführt wird, zumindest auf772

Die hiesige Nummerierung folgt Schefczyk 2003.

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

253

zuwerfen. Dies gilt sicherlich in dem Maße, wie Pareto-Prinzip und Institutionenökonomik selbst als historische Phänomene kategorisiert und relativiert werden müssen. Der Nationalökonom Vilfredo Pareto folgte wie Robert Michels und Gaëtano Mosca der Bewegung Mussolinis und der spezifisch faschistischen Ausrichtung von dessen „stato totalitario“. Als eigenständige Begründungskategorie von Sozialstaatlichkeit hat sich sogar im philosophisch-theoretischen Sozialstaatsdiskurs eine These der „property right in persons“ halten können, die Schefzcyck in einer „starken moralischen Intuition“ liegen sieht,773 was beinahe an die Vermutung einer anthropologischen bzw. soziobiologischen Anlage grenzt. Tatsächlich ergänzt die zunehmende Erforschung der kommunikativen Vernunft, was die Evolutionsbiologie nahe legt: Beides, „property right in person“ und „starke moralische Intuition“ begünstigt, zumal im Zusammenspiel, soziale Normen, die Individuen, wenn sie ihr Verhalten diesen Normen anpassen, Wettbewerbsvorteile sichern kann.774 (a) Fürsorge – Menschliche Intuition oder Recht des Menschen? Um der Gefahr auszuweichen, in gleichsam biologistischen Dogmatismus abzugleiten, seien hier die beiden grundsätzlichen Alternativen argumentativer Formulierung dieser Intuition vorgestellt. (1) Die eine, maßgeblich von Friedrich August von Hayek vertretene Linie geht von einer gegenseitigen Beistandspflicht aus, denn eigener Beistand begründet Ansprüche auf die Fähigkeiten und Ressourcen anderer.775 Dazu trete unter den Bedingungen einer modernen und mithin weitgehend anonymisierten Gesellschaft das Eigeninteresse der Privilegierten, sich vor Verzweiflungskriminalität zu schützen.776 Wie erheblich dieses Argument tatsächlich ist, lässt sich schwer ermitteln, da Korrelierungen aggregierter Daten oftmals zu ökologischen Fehlschlüssen führen.777 Obwohl ordoliberal orientiert, konstatiert von Hayek in seinem Werk „The constitution of Liberty“ als Quelle seiner Überlegungen, dass „in the Western world some provision for those threatened by the extremes of indigence or starvation due to circumstances beyond their control has long been accepted as a duty of the community.“ 778

773

Schefczyk 2003, 99. Sen 2003, 311. 775 Hayek 1960, 285 f.; Schefczyk 2003, 99. 776 Zur Korrelation von sozialstaatlich institutionalisierter sozialer Sicherheit und der Frequenz an Eigentumsdelikten besteht inzwischen eine kaum noch überschaubare Literatur. Statt vieler cf. Alber 2001. 777 http://www2.fh-fulda.de/~grams/dnkfln.htm#_Das_Braess’sche_Paradoxon; Falter 1991, 77. 778 Hayek 1960, 285. 774

254

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

Die weitere Entwicklung dieses vormodernen Armenrechts zum modernen Sozialstaat sieht von Hayek sodann in jener Entwicklung begründet, die im hiesigen Zusammenhang bereits als Folge der Territorialisierung staatlicher Herrschaft erörtert worden ist.779 Der Sozialstaat trägt, so lässt sich Hayek resümieren, der Anonymisierung der Gesellschaft Rechnung. (2) Geht die Forschungsrichtung um von Hayek herum von der Regulierung und Steuerung einer Ausnahmesituation aus, der als Regel gleichwohl die Pflicht jedes Einzelnen zur Subsistenz zugrunde liegt, so dass staatlicher Zwang stets minimiert werden muss, postuliert die andere Richtung vielmehr einen Anspruch jedes Einzelnen „auf einen angemessenen Lebensstandard. [. . .] Wenn eine Person Pb nicht über die Mindestmenge von Möglichkeiten verfügt, dann haben alle Personen aus Pi [sc.: alle anderen Personen] die über mehr als die Mindestmenge verfügen, die Pflicht, Bedingungen der Möglichkeiten Mi an Pb zu transferieren [sc.: Über eine Mindestmenge von Möglichkeiten Mi zu verfügen ist Kriterium, dass ein angemessener Lebensstandard X als erfüllt gilt, der ja seinerseits wiederum ,gerechter Anspruch‘ aller Personen ist].“ 780 (b) Ökonomisch manifeste Menschenbilder Diesen Folgerungen liegt letztlich ein Menschenbild der Passivität zugrunde. Denn ein derart weitgehender Egalitarismus, wie er sich in diesen Konsequenzen manifestiert, ist letztlich nur legitimierbar, wenn nicht nur Not als unverschuldet, sondern Privilegierung als unverdient erachtet wird. Tatsächlich ist in modernen Gesellschaften neben dem Prozess voranschreitender Individualisierung als individueller Freiheit eine Entwicklungstendenz angelegt, die Individuen zunehmend zu unselbstständigen Funktionsträgern gesellschaftlicher Prozesse werden zu lassen und somit Akteure zu Agenten zu wandeln.781 Gleichwohl ist diese spezifische Heteronomisierung des Individuums durch die Gesellschaft ein Kennzeichen der Moderne gegenüber der vormodernen Heteronomie des Individuums durch die Natur. Offen bleibt, ob die Umverteilung, die diese Heteronomie sanktioniert, dann als Voraussetzung für Freiheit begründet wird oder zumindest werden soll oder ob eine wie auch immer zu definierende Gerechtigkeit, die in Gleichheit erblickt wird, tatsächlich der letzte nicht weiter zu hinterfragende Wert ist. Aus dieser Tatsache hat James Buchanan wiederum – das Locksche Denken im Zusammenhang moderner Sozialstaatlichkeit reanimierend – die Lehre des Sozialstaates als eines Vertragsverhältnisses entwickelt, das aktuelle interpersonelle 779 Ebenfalls als in einer „geschichtliche Kontinuität“ stehend sieht den Sozialstaat: Rendtorff 1962, 410. 780 So die Zusammenfassung der Anspruchstheorie durch Schefczyk 2003, 103. 781 Beiläufig sei erwähnt, dass dieser Gedanke eine vormoderne Tradition in Aristoteles’ Lehre vom Bienenstaat (Ameisen-) aufweist, der sogar lyrisch durch Walter von der Vogelweide im Mittelalter rezipiert und tradiert wurde.

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

255

Unterschiede als Konkretion potentieller intrapersoneller Unsicherheiten erachtet, die durch den intertemporalen Rollenstausch während eines Erwerbslebens alle Gesellschaftsmitglieder betreffen.782 Teil des Sozialstaates, aber nicht völlig identisch mit ihm, ist das Leistungsfähigkeitsprinzip, das zum Äquivalenzprinzip in Widerspruch steht.783 Diesen Widerspruch in Kauf zu nehmen und zu verarbeiten statt ihn durch Verzicht auf das Äquivalenzprinzip zu ignorieren und mithin Konflikte unausgetragen zu lassen mag zwar durchaus noch effizient sein, würde aber zu weiterer Staatsausdehnung führen, durch administrativen Mehraufwand und zusätzliches Eindringen in die informationelle Privatsphäre. bb) Sozialstaatlichkeit als Freiheitsgarant Freiheit als Ziel sozialer Sicherheit beschreibt indes eine ganze Entwicklungslinie sozialistischer und sozialdemokratischer Tradition, die ihren Ausgang mit Pierre Proudhons im Jahre 1840 verfasster Schrift „Qu’est-ce que la propriété?“ und seinen 1846 erschienen „Contradictions économiques“ nimmt784 und ihre rezente Aktualisierung in Philippe van Parijs Konzept des „real freedom for all“ findet: Demzufolge ist letztlich jedes Verhalten Zwang, das die Handlungsoptionen eines anderen so beeinflusst, dass der Wille des einen gleichsam unter dem des anderen steht. Die damit begründete Omnipräsens von Zwang, die zudem einen regressus ad infinitum darstellt, wird nun von Schefczyk auf ein praktikables Maß reduziert: „Zwang ist die intentionale Erhöhung der Kosten von Handlungsoptionen anderer.“ 785 Zwang setzt also Erzwingungswillen voraus. Gegen einen mit dem ohnehin unscharfen Argument der Gerechtigkeit begründeten Sozialstaat lässt sich auch ein Einwand aus dem freilich schon zeitgenössisch hoch umstrittenen und nicht mehr aktuellen Rechtsverständnis ableiten, das eine zweifelsohne auch schon zu Lebzeiten schillernde Persönlichkeit wie Ernst Forsthoff zur Beschreibung des neuen Sozialstaates der Bundesrepublik zugrunde legt:786 Da „der Entfaltungsraum des Sozialstaates [. . .] Gesetzgebung und Verwaltung sei“ ließe er sich mit dem Konzept des Rechtsstaates, der sich seinem Selbstverständnis nach als Realisationsversuch des „Gerechtigkeitsprinzips“ definiert, „auf der Verfassungsebene nicht verschmelzen.“ Den Rechtsstaat hat Forsthoff freilich zwei Dezennien zuvor als überholt denunziert. Freilich lässt sich daraus nicht ableiten, Forsthoff habe Sozialstaatlichkeit a limine abgelehnt. Seine 782

Buchanan 1987, eingehende Auseinandersetzung bei Schefczyk 2003, 127 ff. Kersting, 2000, 18; Schmehl 2004, 54; 60; 64 und 191. 784 Proudhon 1840 und 1846. 785 Schefczyk 2003, 111. Kursive Hervorhebung im Original. 786 Cf. die Kritik eines damaligen Nachwuchsgelehrten wie Habermas: Habermas 1965, 197. 783

256

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

Skepsis bezog sich vielmehr auf die Möglichkeit eines sozialen Rechtsstaates. Schon einhundert Jahre zuvor sagt hingegen ein Denker wie Lorenz von Stein vorher, dass die eigentliche Bewährung des Staates als Freiheitsgaranten davon abhänge, inwieweit er sich zu einem sozialfürsorgerischen Staates entwickele, der den Besitzlosen den allmählichen Erwerb von Besitz und mithin von Freiheit ermöglichen werde. Wie sehr dies aber Staat und Gesellschaft verschränkt und die Gesellschaft veröffentlicht, zeigt sich, als sich die bundesdeutschen Staatsrechtslehrer Ende der 1960er Jahre mehrheitlich für den Sozialstaat als Aktualisierung des freiheitlichen Rechtsstaates aussprechen und ein bekannt gewordener Aufsatz von Wilhelm Henke, der eben jenen Vorgang der Veröffentlichung des Privatrechts und ausufernder Staatlichkeit anhand zahlreicher Beispiele als eine seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zu beobachtende Tendenz kritisch beschreibt, mit seinem liberalen Tenor aber auf entschiedenen Widerstand stößt.787 Was gut eine Generation später schon kaum mehr verständlich ist, beschreibt die vorherrschende öffentliche Meinung jener Zeit. Staatsausdehnung und Verschränkung von Staat und Gesellschaft werden als Ausdruck sozialer Sicherheit und gesellschaftlichen Friedens befürwortet. (1) Soziale Sicherheit als Kollektivgut Da besagter Erwerbsprozess eine (system-)stabilisierende Wirkung entfalte, diene eine solche Entwicklung auch den besitzenden Bevölkerungsgruppen, weiß bereits Lorenz von Stein. Damit wird schon das Kollektivgut des sozialen Friedens als ein Zweck des Sozialstaates formuliert.788 Fraglich bleibt nun, inwieweit soziale Mobilität als tÝloò des Soziastaates ein Kollektivgut darstellt. Zumindest ein Teil der Bevölkerung kann daran anscheinend kein Interesse haben. Zu einem Kollektivgut vermag sich diese Mobilität hingegen in einer entsprechend mobilen Ordnung im fortgeschrittenen Stadium entwickeln, zunächst intergenerationell, künftig wahrscheinlich aber im Sinne des Sicherungsgedankens auch intragenerationell. Vermutlich ist jedoch davon auszugehen, dass der soziale Rechtsstaat eine soziale Mobilität ermöglicht, die derartige Kräfte freisetzt, dass diese soziale Mobilität auch längst ein synchrones Kollektivgut darstellt. Der Sozialstaat wird bereits bei der Definition seiner zentralen Aufgabe, der Armut abzuhelfen, kontrovers. Üblicherweise wird Armut über die Höhe des Einkommens definiert.789 Armut kann auch allgemeiner als „capability deprivation“ definiert werden. Das heißt aber im Umkehrschluss, dass Einkommensarmut nicht 787

Günther 2004, 303. von Stein 1850, 218 f.; cf. Böckenförde 1976a, 131 ff. 789 OECD und EU definieren als arm, wer über weniger als 50% des durchschnittlichen Nettohaushaltseinkommens seines Lebensraumes verfügt. 788

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

257

grundsätzlich zu wirtschaftlicher oder sozialer Not führen muss: Sich zunehmend komplizierter zusammensetzenden Wohlstand angemessen zu berücksichtigen wird möglicherweise eines der größten Problem zukünftiger Sozialpolitik sein. Ist Sozialfürsorge auch als Kollektivgut konzeptualisierbar,790 ist als ein solches auch einem Legitimitätsdenken, was gemeinhin für liberal erachtet wird, als Staatsaufgabe nicht zwangsläufig verschlossen. Das Dilemma eines puristischen Liberalismus, also letztlich des Libertarismus, besteht freilich darin, aufgrund der Selbstüberlassenheit des Individuums, letztlich jegliche Sozialfürsorge zugunsten privater Versicherung ablehnen zu müssen. (2) Sozialstaat und Rechtsstaat Gilt der Sozialstaat mittlerweile als Ort einer wie auch immer zu definierenden Gerechtigkeit, so wird gerade der Rechtsstaat als Grundlage von Effizienz erachtet. Das liegt darin begründet, dass der Rechtsstaat vornehmlich private Eigentumsrechte und der Sozialstaat menschliche Existenzrechte schützt. Beide Werte führen aber nahezu selbstverständlich zu zahlreichen Konflikten.791 Da der Rechtsstaat Wort und Gedanken nach aber auch ein Gerechtigkeitsideal verfolgt, ist er als Voraussetzung der bürgerlichen Erwerbsgesellschaft Ort der Tauschgerechtigkeit und der Sozialstaat als Konsequenz der nachständischen Risikogesellschaft Ort der Verteilungsgerechtigkeit.792 Die Entstehung eines gigantischen Sozialrechts, das in manchen Ländern wie der Bundesrepublik Deutschland über eine eigene Gerichtsbarkeit verfügt, bestätigt jedoch Herrmann Heller, der bereits 1930 damals freilich noch eher normativ als deskriptiv, eher programmatisch als dokumentarisch, eher auf die schwere Massenerwerbslosigkeit reagierend, als eine langfristige Staatsvision programmatisch entwickelnd, den Begriff des „sozialen Rechtsstaates“ ausdrücklich prägt.793 Auffallend bleibt jedoch, dass der Rechtsstaat über einhundert Jahre lang, nachdem er sich herauszubilden begonnen hat, als Errungenschaft des liberalen Bürgertums Garant von Freiheitsrechten bleibt und nicht Mandatar sozialfürsorgerischer Ansprüche wird: Als der Rechtsstaat dann auch Sozialstaat wird, und die moderne Sozialfürsorge ihre Eierschalen des überkommen Armenrechts abstreifend, sich umgekehrt zum einklagbaren Gegenstand des Rechtsstaates wandelt, ist dies Ausweis von Sozialstaatlichkeit als Mutation des Armenrechtes vom vagen „Gerechtigkeits“- zum anspruchsförmigen Freiheitsinstitut. Freilich behält der Begriff des Sozialstaates in Gestalt des Sozialstaatlichkeitsprinzips eine ge-

790

Friedman 1962/1998, 191. Schmehl 2005, 35 und 48. 792 Aristoteles, Ethica Nikomachia V 5, 1130 b. 793 Heller 1930; in der rezenten Literatur cf. U. K. Preuß 1995, 185; Waschkuhn 1998, 249. 791

258

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

wisse Autonomie gegenüber dem Rechtsstaat, aber gerade diese Autonomie ist als potentielle Antinomie zum Rechtsstaat nicht juristische Manifestation des „Gerechtigkeits“-, sondern des Freiheitsprinzips und somit wird soziale Hilfe mithin anspruchsförmig.794 Mit dem Wandel von der Wohlfahrtsgesellschaft christlicher Caritas zum Sozialstaat gesellschaftlichen Ausgleichs nimmt in Deutschland jedoch bereits in der Zeit um 1800 Kategorisierung und Distinktion im Sozialbereich zu: Der unberechtigte Leistungsempfänger wird nunmehr endgültig zum Kriminellen.795 Die reguläre flächendeckende Armenfürsorge erfordert wie jede moderne Staatstätigkeit vornehmlich soziale Disziplin. Nachdem die zivile Gesellschaft des Rechtsstaates Macht an rechtliche Legitimität gebunden und somit illegitime Gewalt zurückgedrängt hat, bindet die Wohlfahrtsgesellschaft des Sozialstaates Vermögen an soziale Sicherung und drängt somit nichtstaatliche Heteronomie zurück. Gegenwärtig scheint der Koordinationsstaat der sich einrichtenden wissensgestützten Gesellschaft796 Wissen an kommunikative Regulierung zu binden und somit fehlende Öffentlichkeit von Wissen auf der einen Seite, riskante Veröffentlichung auf der anderen Seite aber zurückzudrängen.797 cc) Koordinierende Funktion Aber die koordinierende Rolle des Staates in ihrer spezifisch arbiträren Funktion stellt sich in den Zusammenhängen der Sozialfürsorge bereits in den Anfängen des Sozialstaates dar: Der Kaiser „werde in eine Art Schiedsrichterrolle manövriert, die sich über die in partikulare Interessen gespaltene bürgerliche Gesellschaft erhebt.“ 798 Dieses der arbiträren Funktion innewohnende Integrationspotential weiß Otto von Bismarck zu nutzen, indem er 1883 die Fundamente des Sozialstaates legt. Auch der Staat selbst kann gerade in seiner vornehmsten institutionenökonomischen Funktion vom übergeordneten Koordinator799 zum Mittel der Politik werden, seine „Staatspolitiker“ sind somit als Inhaber des tertium comparationis zugleich der tertius gaudens. Gleichwohl lässt sich historisch rekonstruieren, dass Bismarck jenseits allen machtpolitischen Kalküls auch staatspolitische Verantwortung und wissenschaftlich fundierte Staatsorganisation gegenwärtig ist:800 Im Anschluss des Hegel794 795 796 797 798 799 800

Rendtorf 1962, 410. Demel 1993, 52; Walz 2005, 109. Implizit als Teil der Neuen Institutionenökonomik bei Voigt 2002, 51 erläutert. Willke 1996, 193 f.; Waschkuhn 1998, 395. Bouveret 2003, 394. U. K. Preuß 1976, 366. Blasius 1971, 33.

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

259

schen Staatsideals wird der Sozialstaat in Deutschland als die entscheidende Aktualisierung staatlicher Unabhängigkeit und Überparteilichkeit entworfen.801 Der Urheber des modernen Sozialstaates, Bismarck, handelt weder vollkommen interessefrei, noch als unmittelbarer Teilnehmer, wie die Spieler des Gefangenendilemmas, sondern machtpolitisch, aber eben dynastisch und staatsinstrumentalisierend. Er ist gleichsam als „interessierter Dritter“ zu begreifen.802 Aber auch diese Rolle sympathisiert nicht mit den unmittelbar begünstigten Interessen der Arbeiter, sondern mit denjenigen der sozialen Führungselite. Der Sozialstaat erfüllt für den Bismarckstaat eine interdependente Nutzenfunktion. Aufgaben sozialen Ausgleichs nehmen mit wachsender Information zu: Da Information sowohl dem Individuum als auch dem Staat den Vergleich ermöglicht, deckt Aufklärung bei den Betroffenen Ungleichheiten zum einen auf. Zum anderen kann der Staat aber Bedürftigkeit zunehmend nur durch immer makroskopischer werdende Vergleiche feststellen und beheben. Aufklärung eröffnet Wahlmöglichkeiten selbst dann, wenn nicht alles Wissen in ummittelbare Entscheidung umgesetzt werden kann. Denn es beeinflusst gleichwohl den „social choice“.803 Die Pluralität der öffentlichen Meinung ist ein Faktor von sozialer Sicherheit. dd) Demokratiefördernde Wirkung von Sozialstaat? Dennoch wird der von Bismarck begründete Sozialstaat schnell zu einem Mittel intrakonstitutioneller Integration der einzelnen Gewalten. Indem sich der „Staat“, in Deutschland namentlich die Hohenzollernmonarchie und ihre Regierung, zum sozialen Interventionsstaat entwickelt, steigt der Gesetzgebungs- und Finanzbedarf und somit die Macht des Parlaments:804 Sozialstaatlichkeit verändert nicht nur die Gesellschaft und ihr Bezugsfeld zum Staat, was die eigentümliche Sphäre des Sozialen erst schafft,805 sondern verändert auch die intrakonstitutionellen Verhältnisse, indem der „Staat“ als Konzept zunehmend auch die Legislative umfasst.806 Der Sozialstaat scheint über den historischen Einzelfall hinaus eine demokratisierende Wirkung zu entfalten:807 Die Mehrheit der Nichteigentümer am Produk801 Dies ist die ratio des Gesamtwerkes Lorenz von Steins, v. a. von Stein, Handbuch der Verwaltungslehre, 255 f. 802 Voigt 2002, 230 ff. 803 Sen 2002, 80; cf. zum Informations- als Partizipationsproblem Waschkuhn 1996, 392. 804 Bouveret 2003, 323. 805 Habermas 1965, 73. 806 Bouveret 2003, 323. 807 Habermas 1965, 164; Kailitz 2004, 302.

260

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

tionskapital hat entgegen der marktwirtschaftlichen Drift zu Kapitalkonzentration ihren Anteil am Volkseinkommen zumindest in Kontinentaleuropa seit Kriegsende halten können. Der Anteil an Immobilieneigentümern ist in der westlichen Welt nach wie vor sogar zunehmend. Offensichtlich gewährleistet Sozialstaatlichkeit also breite Vermögensallokation, wie sie allgemein immer noch als rationellster Akkumulationsmodus erachtet wird.808 Ob aber umgekehrt Demokratie Ausdehnung von Sozialstaatlichkeit begünstigt, ist höchst fraglich.809 Im Gegenteil, Demokratie hat eine eher antiegalisierende Wirkung. Der Prozess fortschreitender „Kollektivierung individueller Verantwortung“, den mit einer gewissen Unbefangenheit, wie sie den Zeitzeugen eines neu sich einstellenden Prozesses eignet, Tocqueville als Konsequenz tyrannischer Mehrheiten prognostiziert, scheint vielmehr in der allgemeinen Kollektivierung der Lebensverhältnisse unter den Bedingungen der Moderne zu liegen als in einer spezifischen unmittelbaren Wirkung von Demokratie.810 Möglicherweise ist Sozialstaatlichkeit nur Symptom von Umverteilungsprozessen und dient der Stabilisierung jenes gesellschaftlichen Friedens, der Voraussetzung ist, um einerseits die hochanfällige Produktionsprozesse der industriellen Wirtschaft realisieren zu können. Andererseits ist dieser Frieden selbst wiederum möglicherweise deswegen schwieriger zu erhalten als in vorindustriellen Gesellschaften, da der Mehrwert, den industrielle und noch stärker nachindustrielle Produktion schöpfen, ohne Umverteilung größere Ungleichheiten hervorruft, als sie unter den Bedingungen vorindustrieller Gesellschaften üblicherweise anzutreffen sind. Da der Wohlfahrtsstaat wahrscheinlich eine unerreichbare Utopie darstellt, könnte eine weitestmögliche Realisierung seiner notverhindernden Funktion im Konzept eines „Sozialinvestitionsstaates“ liegen,811 der vor allem Bildungspolitik als sozialfürsorgerisches Handeln begreift.812 Die historische Hypothek des Wohlfahrtsstaates reicht dabei bis in den Absolutismus zurück: Staatliche Wohlfahrtsfürsorge ist dem Bürgertum des liberalen Rechtsstaates verdächtig.813 Noch bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein sind es liberalismusskeptische Wirtschaftstheoretiker, die Absolutismus als besten Wohlfahrtsgaranten favorisieren, 808 Ein besonders spektakuläres, weil unmittelbare Steuerung darstellendes Beispiel war Thatchers Maßnahme, den Bewohnern von Sozialwohnungen deren Kauf zu ermöglichen, Geppert 2003, 71. Bis zum Jahre 1983/84 wurden im Rahmen dieses Programms 204 000 Wohnungen verkauft, was zu einer drastischen Zunahme der Wohneigentümerquote in Großbritannien führte, die bereits 1984 bei 63% lag. 809 Eine besonders prononciertes Beispiel für diese These in der rezenten Literatur bietet: Hoppe 2003, 153. 810 Formulierung von Hoppe 2003, 153. 811 Der Begriff des „Sozialinvestitionsstaates“ ist soweit ersichtlich von Giddens 1998, 137 geprägt worden. Cf. auch Schefczyk 2003, 291. 812 Kaufmann 1997, 23; ders. 2005, 74 bietet erschöpfende Hinweise über die neuere bildungsökonomische Debatte; grundlegend: Schultz 1986, 12 ff. und 29 ff. 813 Isensee 1968, 54.

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

261

da sie nicht dem reinen „cash nexus“ einer geldgesteuerten Wirtschaft vertrauen.814 Insbesondere Lists an Smiths Vertrauen in den „cash nexus“ vorgetragene Kritik aktualisiert sich in der neueren Bevölkerungsentwicklung, die in den meisten westlichen Staaten zu beobachten ist: Was für den einzelnen, also für (potentielle) Eltern, nicht rational zu rechtfertigen ist, stellt sich kollektiv betrachtet als rationale Investition in Humanvermögen, ja in Humankapital dar:815 Diese aktuelle Gestalt des Gefangenendilemmas dürfte eine der größten Herausforderungen der Gegenwart darstellen. Das Umkämpftsein der Sache reflektiert der Kampf um den Begriff des Wohlfahrtsstaates: Wird der Begriff im Jahre 1879 durch Adolph Wagner positiv konnotiert,816 sieht Franz von Papen keine zwei Generationen später durch den Wohlsfahrtsstaat „die moralischen Kräfte der Nation geschwächt.“ 817 Der Begriffsgehalt des Wortes „Wohlfahrtsstaat“ hat sich dabei im Deutschen nicht im gleichen Maße klären können wie in England.818 Dies gründet nicht zuletzt darin, dass Wohlfahrt auch leitende Größe des frühmodernen Anstalts-, insbesondere des Polizeistaates ist.819 Es scheint sich ein Bedeutungsgehalt herauszukristallisieren, wie es demjenigen Konzept nahe kommt, der hier unter dem Begriff des Verteilerstaates behandelt werden wird, nämlich eines Staates, der Egalisierung als eigenes Ziel erstrebt. Der Unterschied zum Verteilerstaat, wie er hier definiert wird, besteht zumeist nur noch darin, dass Egalisierung nicht alleiniges Ziel ist, sondern noch mit sozialen Staatszielen verbunden ist.820 Die Entwicklung des Sozialstaates wird noch lange von der auch Nichtsozialisten und Sozialstaatsgegnern eigenen Vermutung begleitet, zwingend eine Änderung der überkommenen Eigentumsverhältnisse nach sich zu ziehen:821 Sozialfürsorge als Prinzip staatlichen Handelns ist in seiner Vereinbarkeit mit einer marktwirtschaftlich verfassten Wirtschaftsordnung bekanntlich bis heute nicht unumstritten. Allein die Vorstellung des somit gewaltig ausgedehnten Machtanspruches des Staates, der über das Potentielle staatlicher Allmacht als solcher hinausgeht, erscheint Ordoliberalen und Libertären als mit der überkommenen Privateigentumsordnung unversöhnbar, auch wenn sich der Sozialstaat nicht bis zu aktiver Enteignung überkommenen Privatvermögens aktualisiert. Während sich in den USA ein Sprachgebrauch von welfare social herausgebildet hat, der darin eine existentielle Grundversorgung Bedürftiger ohne erbrachte 814

Esping-Andersen 1998, 10. Kaufmann 2005, 73. 816 Wagner 1879, 304. 817 von Papen 1968, 468. 818 Für den dortigen Sprachgebrauch ist die Definition durch Asa Briggs einschlägig. 819 Cf. Flora/Heidenheimer 1981; Ritter 1991, 9. 820 Cf. Furnis/Tilton 1977, 1–21. 821 Ein Beispiel aus der Bundesrepublik Deutschland bieten Ipsen und der Diskurs bundesdeutscher Staatsrechtslehrer der Nachkriegszeit, Günther 2004, 90. 815

262

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

Gegenleistung bezeichnet und social weitgehend der konsequent als Versicherung gedachten social security zuordnet, sehen der Sozialwissenschaftler Kaufmann und sich auf ihn berufend der Historiker Gerhard A. Ritter im Wohlfahrtsstaat die deutsche Variante des Sozialstaates.822 Dieses Verständnis reflektiert die abnehmende Individualisierbarkeit und den zunehmend systemischen Charakter der Gefahren, vor denen der Staat schützen soll: Ist es originär der Bürgerkrieg und sekundär der Missbrauch von Staatsgewalt, so zieht der Sozialstaat eine tertiäre Sicherungsebene gegen wirtschaftliche Fährnisse ein.823 Mit jeder dieser drei Schwellen, die durch den Staat in der Neuzeit überschritten werden, vor allem aber mit dieser letzten Schwelle wird das Dasein des Individuums fortschreitend kollektiviert und die Gesellschaft veröffentlicht. Die gegenwärtige institutionen- und evolutionsökonomisch inspirierte Wissenschaft sieht die Erfolglosigkeit von Reformen des Sozialstaats vor allem darin begründet, dass diese normative Ideale zugrunde legen und nicht mit den historisch gewachsenen Institutionen und den daraus resultierenden Pfadabhängigkeiten und Determinierungen von Politik rechnen. Die zweitbeste Lösung anzustreben sei angesichts des hohen Alters der Sozialsysteme, das in den hoch entwickelten Staaten regelmäßig bei mehr als 100 Jahren liegt, praktisch oftmals die beste.824 Kollektiven Nutzen zu optimieren setzt also oftmals voraus, historisch gewachsene Singulärphänomene zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang zeigt sich einmal mehr, dass die Grenze zwischen theoretischen Schriften und praktischer Realität gänzlich künstlich ist: Als Modell für ein erfolgreiches und praktisch umsetzbares Konzept gilt die Studie „Turning Sweden around“, die im Jahre 1994 erschienen ist. Diese legt den Wohlfahrtsstaat als „ein in Gesetzen niedergelegtes und wirklich bestehendes Netz von Institutionen“ zugrunde und betrachtet dessen Reform als Ziel und nicht die Errichtung eines völlig neuen Systems.825 Es ist vor allem der auffallende wirtschaftliche Erfolg Schwedens im vergangenen Dezennium, der diese Studie in ihrer Skepsis gegenüber normativen Modellen bestätigt. Beschränkt sich die spätmoderne Wohlfahrtsdiskussion weitgehend auf materiellen Ausgleich und setzt die Übertragbarkeit materieller in immaterielle Vorteile voraus,826 so sind davon verselbstständigte Umverteilungskonzepte zu unterscheiden, wie noch zu erörtern sein wird.827

822 823 824 825 826 827

Skocpol/Ikenberry 1983, 133–139; Kaufmann 1983, 49–86; Ritter 1991, 17. Isensee 1999, 42 f. Goodin et al. 1999, 37. Schefczyk 2003, 224. Sen 2002, 526. Cf. Erster Teil B. II. 1. und dort f); cf. ebd. a).

A. Die Aufgabe rationaler Gemeinwohloptimierung

263

c) Nachsorgender Staat Folgen von Ereignissen und Vorgängen zu bewältigen ist für den Staat Jahrhunderte lang auf den Kriegsfall beschränkt gewesen. Friedensverträge enthalten zwar seit jeher Reparationsabkommen. Ansonsten obliegt Krieg aber geplantem Vergessen, wie sich in den Oblivisionsklauseln zeigt, die bis in das 19. Jahrhundert hinein in Friedensverträgen zu finden sind.828 Erst die „Totalisierung“ des Staates im späteren 19 Jahrhundert erbringt im Auswärtigen wie im Inneren dem Staat weitere nachsorgende Verpflichtungen erheblichen Ausmasses. Es ist maßgeblich die systematische durch die Rahmenbedingungen der Moderne ermöglichte Verfolgung durch totalitäre Staatlichkeit, bzw. das Phänomen des Totalitarismus als solchem, der Opferentschädigung und Wiedergutmachung erfordert. Es ist die Fortentwicklung der „levée en mase“ zu Volkskriegen, die generellabstrakt und anspruchsförmig geregelte Invaliden- und Hinterbliebenenversorgung erforderlich werden lässt. Aber auch die Industriegesellschaft rechtsstaatlich verfasster Friedensgesellschaften macht nachsorgende Staatstätigkeit erforderlich, denn sie ist, um das Dilemma der Gesellschaft analog zu dem berühmten Diktum Böckenfördes zu reformulieren, auf Voraussetzungen angewiesen, die sie selbst nicht garantieren kann. Das besondere Spezifikum liegt hierbei in der naturwissenschaftlichen Tatsachenblindheit moderner Technik: Dass sie friedlicher Wohlfahrt ebenso wie organisierter Gewalt dienen kann, begründet ihr politisches Potential, das den Staat auf den Plan rufen muss. Die Massenerheblichkeit technisch nutzbar gewordener Naturgesetze macht derartige Techniken eo ipso kollektiv erheblich. Daher sind Überwachung und Beendigung industrieller Stoffkreisläufe durch dauerhaft gesicherte Entsorgung wenn überhaupt dann nur durch eine auf Dauer gestellte und den Partikularinteressen enthobene Kraft wie den Staat möglich. Das zunehmende Risiko einer Verbindung von Proliferations- und Terrorismusgefahr zeigt indes, dass überhaupt allein hoch entwickelte Staaten, die zudem diesen Standard zu erhalten vermögen, eine realistische Gewähr bieten, abstrakte Massengefährdungen bewältigen zu können, die aus Techniken moderner industrieller Produktionsweise erwachsen. Gerade weil die Massenerheblichkeit moderner Technik, sofern sie über deren reines Gewaltpotential hinausgeht,829 sich erst recht der ausschließlichen Verfügung des Staates entzieht, ist der Staat gerade in diesem nicht a priori durch Freund und Feind geordneten Bereich erforderlich und gefordert. Einen entsprechenden Paradigmenwechsel vom allkompetenten zum allverantwortlichen Staat führt spätestens die nach dem Zweiten Weltkrieg entstehende Atomwirtschaft herbei. Das Potential solcher Techniken und ihrer Stoffe vermag freilich die Allmacht des Staates zu überwinden: Solange sie unter seiner Kon828

Walz 2005, 107. Auf den ihn z. B. Staff 1987, 157 begrenzt, obwohl gerade im hiesigen Zusammenhang die nicht menschlich intendierten Potentiale gemeint sind. 829

264

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

trolle bleiben, perfektionieren sie seine Macht, sobald sie ihm außer Kontrolle geraten, begründen sie seine Ohnmacht: Hierin liegt das qualitativ Neue begründet.830 Diese gesamtnutzenoptimierende Funktion des Staates, die das Kollektivgut der Sicherheit optimiert, wird jedoch wie in zahlreichen anderen Zusammenhängen durch individuelles Verhalten, das den Individualnutzen zu steigern trachtet, immer aufwendiger. Diese mittelbare Sozialisierung von Kosten privater Gewinne stellt insbesondere im Bereich der Technikfolgenbewältigung eine der größten Herausforderung des Subsidiärstaates dar, der sich zum Gebührenstaat wird wandeln müssen, will er seinen Auftrag auch künftig erfüllen, Sicherheit zu gewährleisten. Der spezifische „Nachweltschutz“ erfordert vom Staat, teilweise vom obrigkeitlichen und hoheitlichen in den kooperativen und verhandelnden Verhaltensmodus zu wechseln.831 Die Bedeutung des Sozialstaates und der allgemeinen Wohlfahrt ist für den spätmodernen Staat nicht zuletzt deswegen so entscheidend, weil die Ideen eines Monarchen von Gottes Gnaden und einer Nation als integralem Sinn und Solidarität stiftenden Konzept, zumal in Deutschland vergangen sind. Der Legitimationsmaßstab für den Staat kann nur noch das „Urteil über den Erfolg bei der sozialen Ordnung“ sein.832 Denn die Freiheit des Individuums ist dem Staat als eine negative Freiheit ihrer Eigenart nach konfrontiert, als positive Freiheit zu Lebensgestaltung ist sie aber vom sozialen Erfolg des Staates abhängig.

B. Die Zähmung potentieller Allmacht des Staates: Selbstbindung und Selbstbegrenzung des Staates In der gegenwärtigen Theorie der Informations- und Kommunikationsökonomik gilt die Fähigkeit zu Selbstbindung von Aktoren als ausschlaggebend, erfolgreiche Entscheidungen zu treffen. Diese Theorie geht freilich unausgesprochen von relativ gleichstarken Aktoren aus, denn Selbstbindung als ausschlaggebendes Merkmal begründet sich mit der dem einzelnen Aktor unabänderbaren Unentscheidbarkeit interdependenter Entscheidungsgegenstände.833 Auch der moderne Staat wird aufgrund der Sphärenverschmelzung von Gesellschaftlichem und Staatlichem, von Privatem und Öffentlichem zunehmend zu einem unter mehreren zumindest gleichberechtigten Aktoren: Wie sich im Leitbild des kooperativen Staates zeigt, ist diese Grundannahme der Informations- und Kommunikationsökonomik zur Erklärung und Interpretation staatlicher Selbstbindung durch830 831 832 833

Staff 1987, 143. Treutner 1998, 50. Draht 1966, 281. Herrmann-Pillath 2002, 102.

B. Die Zähmung potentieller Allmacht des Staates

265

aus weiterführend. Aber auch in historischer Perspektive liegt der entscheidende institutionenökonomische Grund für die Selbstbindung des Staates in der Initiative hemmenden Wirkung von Aktualisierungsversuchen der potentiellen Allmacht des Staates, wie sie dem absolutistischen, aber auch dem totalitären Staat zu eigen sind. Vornehmstes Mittel, diese Selbstbindung umzusetzen, ist der Beamtenstaat:834 Es ist bezeichnend, dass die nationalsozialistische Staatslehre betont, der „Führer“ bekleide kein Amt.835 Nicht von ungefähr ist die Selbstbindung des Staates entstehungszeitlich zunächst durch Verfassung und sodann durch Recht als Kampf um bürgerliche Freiheitsrechte mit dem Siegeszug des Bürgertums als ökonomisch dominanter Gesellschaftsschicht identisch. Ihren Zenit erlebt die Selbstbindung des Staates in den Grundrechten, die als individuelle negative Abwehrrechte, jeden staatlichen Eingriff unter den Rechtfertigungszwang stellt, der Eingriff diene dazu, die „Grundrechte im Gefüge des Verfassungsganzen“ proportional zum Eingriff zu verstärken.836 Obwohl der Staat als genus proximum entstehungszeitlich älter ist als seine verfassungsund rechtsstaatliche Ausprägung, lässt sich diese Selbstbindung mit dem Selbstverständnis des Staates nur vereinbaren, wenn diese Grundrechte als vorstaatlich angenommen werden: „We hold these trues to be self-evident.“ Insofern ist Selbstbindung (formal-)logisch betrachtet eine Selbsttäuschung. Der Träger des Gedankens seiner Selbstbindung ist gar nicht der Staat selbst, sondern das Bürgertum. Die jüngste Steigerung dieses Gedankens stellt das Konzept des „kooperativen Staates“ dar, in dem „Arrangements und Agreements [. . .] einseitig hoheitliche und gesetzlich geregelte Verwaltung“ gar ersetzen sollen.837 Der kooperative Staat ist vornehmlich dadurch gekennzeichnet, dass er soweit wie möglich koordinierend und nicht subordinierend handelt. Kooperation tritt an Stelle von Hierarchisierung. Freilich bleibt die Eigenmacht der Politik bestehen und erschließt sich im kooperativen Staat neue Handlungsformen. Dies geschieht maßgeblich, indem an Stelle der im Staat als Politikmedium und Politikarena angelegten Machtkonzentration eine durch Personalisierung und Parteienherrschaft ermöglichte Informalisierung tritt. Dies soll einer in der Politikwissenschaft anzutreffenden Auffassung zufolge bis hin zu so genanntem „stille[n] Regieren“ reichen.838 Dem ist gegenüberzustellen, dass die Wende zum kooperativen Staat just in eine Zeit fällt, da in der westlichen Welt die öffentliche Finanzlage chronisch angespannt ist. Somit ist zu fragen, inwieweit solche Entwicklungen nicht vor834 835 836 837 838

Henke 1976, 382 ff.; Böckenförde 1976b, 400 f. Henke 1976, 382. Forsthoff 1963 (a), 391. V. Neumann 1992, 432. Korte/Fröhlich 2004, 245.

266

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

nehmlich die Funktion erfüllen, „daß bisher durch die öffentliche Hand wahrgenommene Aufgaben partiell auf Private abgewälzt werden.“ 839 Freilich reflektieren diese Finanzprobleme oftmals selbst grundlegende gesellschaftliche Veränderungen und sind also nur Medium gesellschaftlichen Drucks, der den Staat zu veränderten Strategien nötigt.840 Am „stillen Regieren“ erweist sich insbesondere die notwendige Nichtöffentlichkeit des sich Einigens eher als ein Rückschritt zumindest in das vordemokratische, letztlich aber in das vorkonstitutionelle Zeitalter: Mit betroffenen Partikularinteressen insbesondere Gesetze informell zu vereinbaren mag effizienter und den Partikularinteresse entgegenkommender sein. Es schaltet jedoch faktisch das Parlament aus, das auf Beurkundungsfunktionen reduziert wird, und verringert die Möglichkeiten öffentlicher Diskussion.841 Schließlich kommt diese Steuerungsform allein denjenigen Partikularinteressen entgegen, die als Verhandlungspartner anerkannt sind. Diese vertreten aber nicht notwendig alle Betroffenen.842 Sobald der Staat aber selbst als Partei auftritt, entfaltet er einen seinen Partikularmächten überlegenen Druck auch dann, wenn der Bürger ihm in koordiniertem Verhältnis konfrontiert wird. Daraus resultierend ist namentlich in Deutschland vermehrt die Bindung auch des so genannten „fiskalischen Staates“ an Formen des öffentlichen Rechts gefordert worden.843 Prominenter Ort der Selbstbindung ist der freiheitliche Polizeistaat: Denn Gefahrenabwehr ist historisch die anfälligste Einbruchstelle staatlicher Freiheitsbedrohung.844 Den Zwangscharakter staatlichen Handelns soweit zu beschränken, dass es lediglich Hindernisse gesellschaftlichen Handelns beseitigen, aber nicht das „common good“ direkt und unmittelbar verfolgen dürfe, weist in der englischen Staatstheorie eine lange Tradition auf. Gemeinwohl darf nur durch die Gesellschaft unmittelbar erzeugt werden. Ansonsten steht es im Verdacht, kein Gemeinwohl zu sein. „Is the proposed measure bona fide confined to hinderin an hindrance, or is it attmepting direct promotion of the common good by focre?“, formuliert Bosanquet die Leitfrage der Legitimität staatlichen Handelns und beschreibt Staatshandeln normativ als „negative in its [. . .] ultimate purpose.“ 845

Da Freiheit einen gegebenen Zustand beschreibt, kann die Bewertungskategorie im Verhältnis von Individuum und Staat nicht mehr diejenige von Freiheit, 839 840 841 842 843 844 845

Treutner 1998, 13; cf. auch Treutner 1998, 47. Treutner 1998, 50. Vesting 2001, 19. Vesting 2001, 19; Schuppert 2001, 215. Bachof, VVDStRL Heft 12, 125; Forsthoff 1963 (b), 13. Cf. Erster Teil A. II. 2. Bosanquet 1899, 3.

B. Die Zähmung potentieller Allmacht des Staates

267

sondern nur noch diejenige von Verantwortung sein.846 Dieses rein delegative Staatsverständnis, das mit der Folge, Verantwortung zur entscheidenden Kategorie im Verhältnis von Individuum und Staat werden zu lassen, einhergeht, reicht in seinen Ursprüngen bis zu John Locke zurück. Es kulminiert in der Umkehrung des kategorischen Imperativs durch Buchanan: Wer eine staatliche Norm schaffe, müsse sich fragen, „whether self-interested individuals would prefer to impose such a constraint on their own subsequent behaviour.“ 847 Statt das Gefangenendilemma durch ethische Appelle zu bewältigen, wird hier eine Steuerung des Individualinteresses hin zur Optimierung des Gesamtnutzens favorisiert: Diese Synchronisierung ist die Aufgabe der Politik. Demgegenüber sieht traditionelles kontinentaleuropäisches Staatsdenken gerade darin, dass der Staat unabhängig und zur Gesellschaft distant definiert, was Gemeinwohl sei, dasjenige, was seine „innere Souveränität“ begründet.848 Zwar mag sich theoretisch betrachtet auch dieses auf Beseitigung von Gemeinwohlhindernissen beschränken. In praxi aber ist mit der unabhängigen Definition des Gemeinwohls und damit seiner Aufgabenerledigung durch den Staat selbst der Weg zum modernen Interventionsstaat eröffnet. Dieser muss sodann ständig vor Indienstnahme durch Partikularinteressen geschützt werden.849

I. Selbstbindung: Staat als Garant und Antagonist individueller Autonomie Der Staat erfüllt zweierlei freiheitserhebliche Funktionen, die im Grunde gegensätzlich sind: Er ist gleichermaßen Gegner wie Garant der Freiheit. Wo jedoch die Grenze zwischen diesen beiden Rollen verläuft, wie schnell die daraus jeweils resultierenden Imperative, die an das Verhalten des Staates gerichtet sind, zueinander in Konflikt geraten können, ist traditionell Gegenstand des Streites zwischen liberalstaatlichen Konzepten, die am dramatischsten in Gestalt des so genannten „Nachtwächterstaates“ ausgeprägt sind, und obrigkeitsstaatlichen Konzepten, die im Polizeistaat enden können. „Der Staat als Garant und Gegner der 846

Meadowcroft 1995, 149. Nach Thorbecke 1995, 374, der sich auf Buchanan 1990 bezieht. 848 „Innere Souveränität ermöglicht dem modernen Sozial- und Interventionsstaat. die Sache der Schwächsten zur allgemeinen Sache zu erheben und den gesellschaftlichen Prozeß entsprechend zu beeinflussen und zu korrigieren. Souveränität bedeutet letztlich Gemeinwohlfähigkeit“, formuliert Isensee eines der gegenwärtig wohl flamboyantesten Bekenntnisse zur arbiträren Gemeinwohldefinition durch den Staat, Isensee 1988, § 57, 43. Freilich sieht auch er Gemeinwohl zu definieren in denjenigen Grenzen als Aufgabe des öffentlichen Diskurses an, innerhalb derer nicht die Grundlagen des freien Diskurses selbst in Frage gestellt werden, 1988, § 57, 45. Dies dürfte den Konsens der relevanten politischen, wenn auch nicht unbedingt der relevanten gesellschaftlichen Kräfte in den westlichen Staaten der Gegenwart beschreiben. 849 Isensee 1988, § 57, 57. 847

268

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

Freiheit“ 850 befindet sich stets einerseits auf dem schmalen Grat zwischen notwendiger Intervention, um die Voraussetzungen freier individueller Entfaltung vor Dritten zu schützen, indem der Staat sich selbst als Friedensordnung behauptet und erhält. Andererseits befiehlt er sich notwendig Selbstbindung, um die vorgefundenen individuellen Freiheiten seinen Bürgern nicht zu nehmen, indem er sich selbst als Verfassungs- und Rechtsstaat zähmt und beherrscht. Selbstbindung erfordert noch stärker als Intervention, dass die Gesellschaft ihn mit Leben erfüllt. Anders als der rein pazifierende Staat, der auf den Naturzustand des bellum omnium contra omnes trifft, ist der Staat als Garant außerstaatlicher Freiheit nicht rein schützend, indem er etwa als totaler Staat keinerlei Raum außerhalb seiner selbst beließe, sondern anerkennt die Gesellschaft als eigenständige Größe. Der instrumentelle Charakter von Staat ist im Zusammenhang individueller Emanzipation als Ziel von Staat bereits im Begriff des „arbeitenden Staates“ durch Lorenz von Stein konzipiert worden: Der Ideenwelt seiner bürgerlichen Herkunft entlehnt, ist der Staat demnach als Exekutive wissenschaftlicher Erkenntnis konzipiert.851 Die freiheitswahrende Kehrseite der Allmacht des Staates ist seine Allgegenwart. Auch die staatsfreien Räume einer staatlich verfassten Gesellschaft entwickeln sich anders als eine gänzlich staatsfreie Gesellschaft, die eher als staatenlose Gesellschaft zu definieren ist. Einerseits stehen diejenigen Kollektivgüter, von denen niemand ausgeschlossen werden kann, auch den staatsfreien Räumen zur Verfügung. Andererseits können viele Kollektivgüter überhaupt erst allen verfügbar sein, weil die moderne Gesellschaft staatlich verfasst ist. Staatlich verfasste Gesellschaft ist nicht nur sektoral und quantifizierbar, sondern universell und qualitativ veröffentlicht. Schließlich gibt es keine unbegrenzte, sondern nur noch staatlich umzäunte Freiheit vom Staat. Drittens verändert schließlich das Fehlen bestimmter Freiheiten Dritter auch das Verhalten der Geschützten. Damit ändert sich freilich die Qualität der Freiheit:852 „Die Freiheit als Ordnungselement ist daher inhaltlich determiniert. Ihr fehlt jedes Moment der Unbestimmtheit und Beliebigkeit. Die durch die Grundrechte wie durch die ganze Rechtsordnung verfasste Freiheit ist nicht mehr das ,natürliche‘ Reservat eines anarchischen, vorstaatsvertraglichen Urzustandes. Sie hat mit jener ,natürlichen‘ Freiheit nicht mehr zu tun als eine Parkanlage 850 So lautet der Titel eines Essay von Paul Kirchhof, Kirchhof 2004 (b). Die außerhalb seiner selbst zu wahrende Freiheit wird auch von Isensee als Garantenfunktion beschrieben, Isensee 1968 114. 851 Stein 1972, 159. 852 Zum fortdauernden Bewusstsein einer naturwüchsigen Freiheit in England cf. das Zitat John Majors: „We have no need of a Bill of Rights, because we have freedom.“ Zit. nach Schieren 2001, 237. Cf. zum Unterschied vorgesellschaftlicher und gesellschaftlicher Freiheit: Kelsen 1963, 5.

B. Die Zähmung potentieller Allmacht des Staates

269

des 18. Jahrhunderts, in der die Naturrechtsphilosophen ihre ,Natur‘-Anschauung erhalten haben, mit einer unberührten, wilden Landschaft.“ 853

Bezeichnenderweise geht auch ein Machtstaatsdenker wie Carl Schmitt von einer ursprünglichen vorstaatlichen „prinzipiell unbegrenzt[en]“ Freiheit des einzelnen aus. Nur zieht er daraus dann Hobbesianische Schlüsse.854 Um der Konstruktion einer in das Mittelalter zurückreichenden Tradition willen übergehen in der Weimarer Republik die Arbeiten Konrad Beyerles und Robert von Kellers, dass sowohl der Staat als Anspruchsgegner wie auch als Garant gegenüber dritten zu ihrer Zeit noch fehlt.855 Für den modernen Staat der Grundrechte lässt sich daraus lediglich eine „sehr allgemeine Parallelität von Grundformen“ ableiten,856 die freilich das Fehlen einer Individuum-/Kollektivspaltung für das Mittelalter relativiert bzw. immer früher datiert. Deutlich wird hieran, dass die spezifische für alle Individuen Nutzen steigernde Wirkung des Staates nicht nur auf dem Zwangscharakter seiner Koordinationsgewalt beruht, sondern gleichermaßen auch auf deren arbiträrem Charakter. Wo diese Freiheit nicht nur gehegt, sondern auch weitgehend gepflegt ist, gibt es bezeichnenderweise keine weitere begriffliche Unterscheidung von Freiheit. Wo es diese gibt, im Angelsächsischen, da ist die Freiheit deutlich naturwüchsiger, eben nicht nur freedom, sondern auch liberty.857 Die Naturrechtslehre, derzufolge Freiheit unabhängig von der Existenz des Staates gegeben ist, lässt konsequenterweise einen allmächtigen oder doch zumindest einen allkompetenten Staat nicht zu, auch wenn seine Allkompetenz schon allein sachlich durch Grenzen modifiziert wird. Der Staat gewährt nicht die Freiheit, sondern gewährleistet sie lediglich:858 Theoretisch ist ein Gemeinwesen, in dem Freiheit überpositiv und überstaatlich ist, für Nash853 Isensee 1968, 284 f. Diese Freiheit ist im Grunde ein drittes, das nicht nur von der Freiheit vom Staat, sondern auch von der mittelalterlichen naturwüchsigen Freiheit zu unterscheiden ist. Sie ist vielmehr eine Freiheit, die durch den Staat gewährleistet zu werden konstitutiv für das Entstehen des kontinentaleuropäischen Staates der Neuzeit ist, cf. Mayer 1939, 473; Kern 1949, 38 und 65. 854 Schmitt 1928, 126. 855 Einschlägig sind die Einlassungen Konrad Beyerles 1919 und 1933 und die Arbeit Robert von Kellers 1933. Für England gilt diese Diskontinuität (selbstverständlich) nicht. 856 Kern 1949, 32. In der rezenten Forschung zur Verfassungsrechtsgeschichte wird freilich die von der Beyerleschen Schule übergangene Diskontinuität wiederum relativiert, Pauly 2004, 49 dazu Rez. Hildebrand 2005, 780. 857 Dies würdigt auch Isensee 1968, 285: „Mit der [. . .] Objektivierung der Grundrechte darf die individualistische Staatsgrundlage nicht verdunkelt werden. Diese kommt primär in den subjektiven Grundrechten zum Ausdruck. Ihr Wesensgehalt darf sich nicht im institutionellen, vom Rechtssubjekt abstrahierten Ordnungsmoment erschöpfen. Vielmehr muss er auch willkürliche individuelle Spontaneität gewährleisten – einen Rest jener ,natürlichen‘ Freiheit, ohne den die ,Freiheit‘ ihren Namen nicht verdient“; zu diesem Unterschied als demokratietheoretischem Problem cf. Kelsen 1963, 4 und 9. 858 Herzog 1971, 367.

270

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

Gleichgewichte anfälliger. Somit erklärt sich praktisch, dass breite staatliche Zwangsausübung und gesellschaftliche Legitimität oder gar Verbreitung von Neid miteinander korrelieren. Denn sobald Optimierung nur als Pareto-Optimierungen erfolgen kann, ist für diejenigen, die keinen Nutzengewinn daraus ziehen, diese Pareto-Optimierung ein relativer Verlust. Nur über Pareto-Optimierung aufzubrechende Nash-Gleichgewichte werden also auch nur dort aufgebrochen werden können, wo eine gewinnerfreundliche Grundstimmung vorherrscht und wo eine Verbesserung von Gesamtzuständen als etwas für alle positives begriffen wird. Da Konstellationen, denen das Pareto-Prinzip in Reinheit zugrunde liegt, in der Wirklichkeit selten nachweisbar sind, relativiert sich dieses Problem indes.859 Ist Fortschritt als Ziel allen Modernisierungsprozessen gemein, so ist dem angelsächsischen Denken Freiheit dessen entscheidende Bedingung: Ihr ist auch der Staat als Mittel des Fortschritts untergeordnet, während das kontinentaleuropäische Denken in seiner klassischen Ausprägung den Staat unmittelbar zum Fortschritt sieht. Im Folgenden soll der Aspekt staatlicher Verwiesenheit auf gesellschaftliche Lebendigkeit betrachtet werden. Umstritten ist, ob sich der Staat schlechthin aus sich selbst erhalten, wenngleich auch sicherlich nicht legitimieren kann. Als Verfassung- und Rechtsstaat, zumal noch demokratischer Verfassung, kann er jedoch nur aufrechterhalten werden, wenn seine Gesellschaft ihn auch aktiv in Anspruch nimmt und gestaltet.860 Es liegt nicht nur in der Menschennatur, dass die Regierenden stets versucht sind, die legalen und legitimen Grenzen ihres Regierens zu überschreiten, sondern vielmehr müssen sie in der alltäglichen Vielgestaltigkeit staatlicher Aktivität diese Grenzen durch die Regierten erfahren. Insofern sind der Gedanke von Subsidiarität und derjenige von Eigenverantwortung bereits als Entwicklungsoptionen im Verfassungs- und Rechtsstaat des 19. Jahrhunderts angelegt und ist der Staat als gemeinwohloptimierender Koordinator der Individualinteressen bereits gedacht: Individuelle Autonomie muss als Freiheit zu autonomem Verhalten und nicht nur als Freiheit von heteronomem Zwang genutzt werden, um erhalten und vom Staat garantiert werden zu können: Dies kann der Verfassungs- und Rechtsstaat per definitionem aber bestenfalls anregen, niemals hingegen selbst leisten. Die Verfassung und mit ihr der freiheitliche Rechts- und Verfassungsstaat, können sich selbst nicht garantieren, wie Joseph von Eichendorff anlässlich des Hambacher Festes bereits 1832 erkennt.861 Das Gebot der Wiener Kongressakte, die als Konsequenz auf die napoleonischen Umwälzungen hin verabschiedet worden ist, in allen deutschen Staaten hätten landständische

859 860 861

Woll 1986, 760. Kirchhof 2004 (b), 54 f. von Eichendorff 1988, 125.

B. Die Zähmung potentieller Allmacht des Staates

271

Verfassungen stattzufinden, harrt damals in den meisten deutschen Staaten schon seit 17 Jahren seiner Umsetzung. Der zurückhaltende, auf das Notwendige reduzierte Staat ist seit Wilhelm von Humboldt Königsweg, um „scheinbar widersprechende Dinge, den Zweck des Staates im ganzen und die Summe aller Zwecke der einzelnen Bürger, durch ein festes und dauerndes Band freundlich miteinander zu verknüpfen.“ 862 Dieses Komplementärverhältnis ist noch nicht vollkommen identisch mit der Ausgangssituation des Gefangenendilemmas und formuliert den Konflikt noch nicht mit derjenigen Schärfe, wie sie dem fortgeschrittenen Individualismus späterer Zeit eignet, deutet aber dessen Bewältigung bereits an. Zu den nicht eben zahlreichen Möglichkeiten, vermittels derer der freiheitliche Staat seine Bürger anregen kann, die Leere formaler Freiheit inhaltlich zu füllen, zählt unbestritten das Bildungs- und Wissenschaftssystem. Inwieweit dieses staatlich finanzierte und in seiner machtgeschützten Freiheit vom Staat behütete Residuum diese Funktion gegenwärtig noch erfüllt, wird jedoch aus verschiedensten politischen und weltanschaulichen Richtungen bezweifelt.863 Dies ist umso problematischer, als sich die gegenwärtige Gesellschaft von einer Erwerbsarbeitsgesellschaft seit den 1970er Jahren beschleunigt zu einer Privatgesellschaft entwickelt.864 Fähigkeit zu ideeller Lebensgestaltung wird damit zunehmend vom Recht zur Notwendigkeit. Es ist aber vor allem Bildung, die den Menschen instand setzt, unabhängig und ohne Vorgaben seine Zeit zu gestalten: Was seit dem Altertum als gleichsam transzendentes Ideal galt, ist zur praktischen Notwendigkeit geworden.865 Freiheitsbereitschaft und Freiheitsfähigkeit der Bürger liegen im außerstaatlichen Bereich, bedürfen aber wiederum staatlicher Unterstützung:866 Damit ist indes das Problem weltanschaulicher Färbung des Staates verbunden. Insofern bieten bei dieser Aufgabe Parität und Parteienstaatlichkeit praktikable Auswege. Grundrechte kodifizieren den Schutz des Individuums vor staatlicher Intervention, aber nicht unbedingt denjenigen des Partikularinteresses vor dem Allgemeininteresse. Die Grundrechte des Verfassungsstaates gewähren kein Gemeinwohl, schützen es jedoch vor ausuferndem Eigennutz.867 Der Akzent wird dabei von Staat zu Staat durchaus unterschiedlich gesetzt. Unter den Bedingungen postmoderner Gesellschaft liegt die Bedeutung der Grundrechte praktisch im Recht der Individuen zur eigenen Lebensgestaltung: Eine solche Lebensgestal862 Humboldt 2002, 153 Cf. zur anthropologischen Grundlage dieser Staatsfunktion: Cf. Prolog I. 863 Kirchhof 2004 (b), 59. 864 Dahrendorf 2003, 59 ff. 865 Beck, Süddeutsche Zeitung 10. September 2005; van Parijs 2005. 866 Uhle 2005, 51 ff. 867 Isensee 1988, § 57, 82.

272

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

tung muss der Staat jedoch ermöglichen. Er kann nicht Sinn stiften, aber er muss seine Bürger befähigen, solchen zu finden. Möglicherweise wird dies die größte Herausforderung der westlichen Zivilisationen im 21. Jahrhundert darstellen. Hierin liegt der Schlüssel zu den auch wirtschaftlich drängenden sozialen und psychischen Problemen der Individuen und der durch sie konstituierten Gesellschaft. Das Problem, Freiheit nur durch Ordnung aufrechterhalten zu können, aktualisiert sich regelmäßig darin, Wettbewerb zu wahren oder zu ermöglichen.868 Der Staat als Garant einer Wettbewerbsordnung stellt damit Wettbewerbsfreiheit als Kollektivgut sicher. Damit erst reift der Laissez-faire zum Ordo-Liberalismus.869 Doch damit erweist sich auch eine dem Freiheitsprinzip scheinbar gegensätzliche Dimension, die Sozialstaatsfunktion als freiheitsgarantierende Aufgabe des Staates.870 In der (west-)deutschen Nachkriegsrenaissance des Naturrechtes hat dies einen seiner rhetorisch kraftvollsten Ausdrücke im bekannten, aber niemals geltend gewordenen Artikel 1 des Herrenchiemseer Verfassungsentwurfes gefunden: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.“ 871 Ist individuelle Emanzipation einerseits gegenwärtig auf staatliche Leistungen in immer stärkerem Maße angewiesen, so wird auch individuelle Emanzipation letztlich durch Freiheit von staatlicher Intervention garantiert. Dies liegt nicht zuletzt darin begründet, dass zunehmender funktionaler Differenzierung angemessene Steuerung nur noch als gesellschaftliche Selbststeuerung erfolgen kann, so dass hinreichende Emanzipationspotentiale dauerhaft nur noch gesellschaftlich erschlossen werden können. Denn Selbststeuerung ermöglicht per definitionem stets wirkungsvoller, Selbstreflektion zu berücksichtigen und daraus resultierende Entscheidungen idealiter mit dieser Selbstreflektion zu synchronisieren. Freiheitskriterium wird oftmals nicht die Freiwilligkeit eines individuellen Opfers sein können, sondern vielmehr die Transparenz von Erforderlichkeit und Verwertung dieses Opfers: Offenheit bzw. Offenlegung von Beweggründen und Zwecken staatlicher Zwangsgewalt schaffen, wenn auch sekundär Freiheit.872

868

Isensee 1968, 138. Isensee 1968, 139. 870 Isensee 1968, 139. 871 Art. 1 Abs. I HchE, zit. nach Isensee 1968, 143. Bemerkenswerterweise scheiterte diese Formulierung des Artikels maßgeblich an der Intervention des Liberalen Theodor Heuß! [2. Plenarsitzung des Parlamentarischen Rates vom 8. September 1948, Sten.Ber., S. 44.] 872 Schmehl 2004, 212. 869

B. Die Zähmung potentieller Allmacht des Staates

273

1. Der Verfassungsstaat Der Begriff der Verfassung ist anders als derjenige des Verfassungsstaates hochgradig heterogen und diffus.873 Gesetzesstaat, Verfassungsstaat und Rechtsstaat von einander abzugrenzen ist gleichermaßen schwierig wie umstritten. Dies verdeutlicht sich besonders bei der historischen Periodisierung dieser Entwicklungsstufen. Während für Preußen etwa die einen im Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794 nicht mehr als eine „Ersatzverfassung“ sehen,874 sehen die anderen bereits in dieser Kodifikation frühkonstitutionelle Elemente.875 Von den Skeptikern des spätabsolutistischen Gesetzesstaates werden Verfassungs- und Rechtsstaat jedoch bisweilen nicht unterschieden.876 Verfassung muss dabei, wie das Beispiel Großbritanniens und Israels zeigen, nicht ein einheitlich geschriebenes und kodifiziertes Verfassungsgesetz sein. In seinem ursprünglichen auf die griechische Polis zurückgehenden Konzept ist die Verfassung vielmehr mit der Polis identisch. Das Gemeinwesen kann zur Verfassung nicht in ein transitives Verhältnis treten: „Der Staat hat nicht eine Verfassung, [. . .] er ist [. . .] Verfassung.“ 877 Sodann wird Verfassung mit Thomas von Aquin und den Denkern des 16. Jahrhunderts bereits ein wenig transitiver als Staatsform angesehen werden.878 Schließlich beginnt sich der Begriff mit Anbrechen der Moderne zu dynamisieren. Verfassung ist ein prozeduraler Begriff, der das Geschehen der Bürgergesellschaft im Staat beschreibt.879 Damit protokolliert die Verfassung auch gleichsam den fortschreitenden Prozess der Veröffentlichung von Gesellschaft. Dieses Verständnis von Verfassung als gleichsam politologischbeobachtender und weniger rechtlich-gestaltender Größe hat im Konzept der Athener Eunomie und der Isonomie einen Vorgänger. In der französischen Restauration wird in historischer Gestalt der „charte constituionelle“ Verfassung erstmals als ein Grundgesetz angesehen, das sowohl über allen Gesetzen als auch über allen Personen steht.880 Geht der Gesetzesstaat bereits als Praxis auf den Absolutismus und als Idee mindestens auf Marsilius von Padua zurück, so ist erst mit diesem der moderne Verfassungsstaat begründet. Transitiv und zugleich objektivierend wird das Verhältnis vom Staat zur Verfassung begriffen: Der Staat hat tatsächlich eine Verfassung und in dieser wird seine Ordnung gegenständlich erfassbar. Dem korrespondiert ein intransitives und subjektivierendes Verhältnis der Verfassung zum Staat: Die Verfassung ist weiterhin Staat, aber zugleich un873 874 875 876 877 878 879 880

Zur „Offenheit“ des Verfassungsbegriffs: Grawert 1999, 336. Etwa Koselleck 1981 passim und noch skeptischer Birtsch 1968, 114. Möller 1974, 525. Birtsch 1968, 114. Carl Schmitt 1928, 4. Ideenhistorischer Überblick bei Schmitt 1928, 5. Schmitt 1928, 6. Schmitt 1928, 7 f.

274

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

terwirft sie sich diesen. Somit leben die anderen Phänomene, die der Begriff beschreiben kann, fort. Die Verfassung als Grundgesetz ist der Nachfahre der Verfassung als Identität der Polis, als Staatsform und schließlich als Prozess, die das Gemeinwesen als lebendes System begreift. Wenn aus der Not der alten Bundesrepublik geboren, ein Verfassungspatriotismus empfohlen wird, so aktualisieren sich darin diese älteren Anlagen. Zu beobachten ist eine zunehmende Verselbstständigung der Verfassung gegenüber dem Staat und gegenüber den Bürgern, die durch die Verselbständigung des Staates wiederum noch einmal katalysiert wird. Die Verfassung wird zum Bau- und Funktionsplan abstrakter Kollektivgüter und überindividuellen Gemeinwohls. Ein prominentes Distinkt des modernen Verfassungsstaates gegenüber dem frühmodernen Fürstenstaat absolutistischer Provenienz besteht darin, über bürgerliche, maßgeblich wirtschaftliche und auf den Privatraum begrenzte Freiheit hinaus politische Freiheit zu gewähren.881 a) Verfassungsstaat als Konsequenz des Vertragsdenkens Der moderne Verfassungsstaat882 ist die Konsequenz der Lockeschen Vertragstheorie, die über den reinen Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag hinaus auch Herrschaftsbegrenzung sanktioniert.883 Ist der Vertrag des Hobbesianischen Leviathan auf Mittel der Abschreckung beschränkt, so wird staatliche Gewalt, wie die rezente Forschung herausgearbeitet hat, nunmehr als Vertrauen der Bürger in die Regierung begriffen. Die Regierung handelt nicht mehr aus einer von den Beherrschten unabhängigen Legitimation heraus, vielmehr ist bei Locke bereits in nuce der Delegationsgedanke angelegt. Der Verfassungsstaat begründet aus Normenkenntnis und Systemverständnis ableitbares Vertrauen. Hinzu kommt jedoch Locke zufolge ein Vertrauensverhältnis, das ein freilich elitär definiertes Volk mit den Regierenden verbindet und das, wenn es gebrochen wird, dem Volk gewaltsame Absetzung gestattet:884 Der Bezug der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung zu Lockes Vertragstheorie ist einmal mehr von schlagender Unmittelbarkeit. Diese Rückversicherung ergänzt sich mit Vertrauen, das induktiv unter den spezifischen erwartungsstabilisierenden Bedingungen des den Verfassungsstaat darstellenden normativen Systems gewonnen werden kann.885 881

Demel 1993, 55 und 82. Es sind auch vormoderne Formen von kodifikatorisch verfasster Staatlichkeit anzutreffen, cf. Manville 1990. 883 Dieser Gedanke wird vornehmlich im Second treaty on Government konkretisiert, nachdem im first treaty, formal als eine Auseinandersetzung mit Robert Filmer gestaltet, die theoretischen Grundlagen von Staat und Gesellschaft geklärt werden. Zur staatsausdehnenden Wirkung des modernen Verfassungsstaates cf. Zweiter Teil A. III. 2. 884 Euchner 1987, 19. 885 Waschkuhn 1998, 133. 882

B. Die Zähmung potentieller Allmacht des Staates

275

Obwohl die englische Verfassung bis heute eine ungeschriebene oder doch zumindest nicht kodifizierte ist, sind die regelmäßig schriftlich fixierten und kodifizierten Verfassungen des Kontinents weniger weit reichend, abgesehen von Ausnahmen, wie der französischen Verfassung von 1791. Namentlich in Preußen-Deutschland verzögert das Anliegen der „nationbuilding“, das liberale Ideal umzusetzen, demzufolge mit dem Verfassungsstaat zugleich auch dessen demokratische Steuerung einzuführen sei. Stattdessen etabliert sich das eigentümliche Verfassungsphänomen des deutschen Konstitutionalismus,886 der Gesetzgebung formal als Vertrag zwischen Herrscher und Parlament begreift.887 Auch die Ablösung des absolutistischen Fürstenstaates durch den konzeptionell säkularen Verfassungsstaat vollzieht sich eher als Prozess der Amalgamisierung und Legierung: Der Monarch muss zunächst politisiert werden, um als solcher dem öffentlichen Diskurs überhaupt zugänglich zu werden. Er wird daher gleichsam „in den staatlichen Organisationsablauf hineingestellt“. So lässt sich schließlich, als das Deutsche Kaisertum des Bismarckstaates inthronisiert ist, mit den Worten Mathias Bouverets feststellen, der Kaiser sei „kein Kaiser mehr von Gottes, sondern allein von Verfassungsgnaden.“ 888 Und wenn Paul Laband im Kaiser einen vertretenden Träger der Staatsgewalt sieht, da das Reich als juristische Person handlungsunfähig sei, trägt er einerseits dem Erfordernis der Verfassungsmäßigkeit kaiserlicher Herrschaft Rechnung, sichert aber andererseits dem Kaiser weithin vorkonstitutionelle Rechte.889 Die Inflexibilität für historische Entwicklungen ist für Labands System im Besonderen wie für den perfektionistischen Definitivitätsanspruch der Jahrhundertwende im Allgemeinen der Preis.890 In seiner monumentalen Vollendetheit und technizistischen Endgültigkeit droht die Fähigkeit zu evolutieren, verloren zu gehen. Georg Jellinek wandelt hingegen just in dieser Epoche seine Meinung über das Verhältnis von Kaisertum und Staatsgewalt: Zunächst noch ganz der These Labands verpflichtet, so akzeptiert er später kein einzelnes Organ, insbesondere nicht den Kaiser als Träger der (ausschließlichen) Staatsgewalt: „Träger der Staatsgewalt ist der Staat und niemand anders.“ 891 Damit präsumiert er den Endpunkt einer Entwicklung öffentlicher Gewalt zum arbiträren Dritten, dem modernen Staat. Diese Entwicklung ist dem ersten Inhaber des neuen Deutschen Kaisertums, Wilhelm I., sehr wohl bewusst, wenn er anlässlich seiner Inthronisation als deutscher Kaiser bekanntlich bemerkt, er fühle sich

886 Eine behelfsmäßige Definition des Undefinierbaren bietet in der rezenten Literatur Bouveret 2003, 299 f.: „Unter dem Begriff der ,konstitutionellen Monarchie‘ versteht man in Abgrenzung zu der absoluten Monarchie eine verfassungsmäßig beschränkte Monarchie.“ 887 Herzog 1971, 325. 888 Bouveret 2003, 296. 889 Bouveret 2003, 367. 890 Bouveret 2003, 360. 891 Jellinek 1913, 552; Bouveret 2003, 371.

276

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

wie ein zum Leutnant degradierter Charaktermajor. Die Verfassung soll auch künftighin den Hohenzollern im Zweifel disponibel bleiben. Somit bleiben auch Definitionen des intrakonstitutionellen Ortes der Monarchie von konziliatorischen Bedürfnissen gekennzeichnet, wenn Gierke beispielsweise in der konstitutionellen Monarchie „die Versöhnung der geschichtlich ererbten Obrigkeit mit der volkmäßigen Grundlage des genossenschaftlichen Gemeinwesens“ ausmacht,892 und er den „repräsentativen Verfassungsstaat“ als „ein die genossenschaftliche Grundlage (die Staatsbürgergenossenschaft) und die obrigkeitliche Spitze (Die Monarchie) organisch, d. h. nicht als Summe, sondern als eine neue lebendige Einheit verbindendes Gemeinwesen“ ansieht.893 Die unentschiedene Zerwühltheit des konstitutionellen Staatskonzepts gemäßigter Provenienz zeigt sich, sobald seiner Konstitutionalität zum Trotz die obrigkeitliche Funktion des Monarchen in ihrer demokratieunabhängigen Legitimierung und Terminierung erklärt werden soll: „Insbesondere liegt im Wesen der Monarchie, daß eine Person allen anderen Staatsgliedern gegenüber eine specifische und eigenthümliche Bedeutung für den Staatskörper hat. Der Monarch erscheint nicht als ein gewöhnliches Staatsglied [. . .], sondern er erscheint als das Haupt des Staatskörpers.“ 894 Gerade die Konstitutionalisierung der Monarchie dient im Deutschen Kaiserreich nach 1871 sodann wieder der konservativ-reaktionären Staatstheorie zur Begründung einer de facto neoabsolutistischen Monarchie: Gerade die Kontinuität, die durch die Konstitutionalisierung gewährleistet werden soll, stelle ein Monarch und nicht ein heterogene Gesellschaftsverhältnisse abbildendes Parlament dar.895 Das Kaisertum weise als vorgesetztes Organ der gesamten Reichsverwaltung eine „Tendenz zu weiterem Wachstum“ auf, wie der Staatsrechtslehrer Bornhak behauptet.896 Anders als in der zeitgenössischen konstitutionellen Theorie Frankreichs ist der unparteiische Kaiser keinesfalls „pouvoir neutre“, sondern gleichsam die Regierung kontrollierende Macht.897 Als erster dauerhaft lebensfähiger Verfassungsstaat neben England treten die USA auf, die in ihrer 1776 gegebenen Verfassung und mehreren Amendments 892

Gierke 1919, 22. Gierke 1868, 833. 894 Gierke 1915, 120. 895 Bouveret 2003, 393; grundsätzlich verweist Forsthoff 1963, 387 darauf, dass sich eine Verfassung niemals auf die sie als rechtsstaatlich ausweisenden Grundrechte beschränken könne, da „Freiheit als Abwesenheit von Zwang und Herrschaft nichts konstituiert“, während „herrschaftlich-politische Verfassungen ohne rechtsstaatliche Elemente sehr wohl denkbar sind.“ Auffällig ist, dass Forsthoff noch nicht einmal den Begriff der rechtsstaatlichen Verfassung korrespondierend zu demjenigen der „herrschaftlich-politischen“ anführt. Cf. Erster Teil C. II. 2.; cf. auch unter Berufung auf Carl Schmitts Verfassungslehre: Forsthoff 1963, 394. 896 Bornhak 1893, 474. 897 Bouveret 2003, 302. 893

B. Die Zähmung potentieller Allmacht des Staates

277

den Gedanken der Regierungsgewalt als einem vertrauensgestützten und durch das bekanntlich auf Montesquieu zurückgehende Prinzip der Gewaltenteilung limitierten System der checks and balances ergänzen, womit die englische Entwicklung zunächst sogar überholt wird.898 In Deutschland ist es hingegen erst einer derjenigen, die später die Weimarer Reichsverfassung schöpfen sollen, nämlich Hugo Preuß, der eindeutig Gewaltenteilung als integralen Bestandteil des „verfassungsmäßigen Rechtsstaates“ beschreibt – aber damit wird Gewaltenteilung eben über reine Verfassungsstaatlichkeit hinaus als Merkmal von Rechtsstaatlichkeit kategorisiert.899 Hinzu kommt, dass es sich bei dieser Entwicklung um einen rezipierenden, ja gleichsam adeptischen Vorgang früher Westernisierung handelt. Denn Preuß strebt explizit „englische Verhältnisse“ an.900 Der deutsche Konstitutionalismus indes bleibt ein Phänomen, das zwischen einem Übergangsphänomen retardierender Westernisierung901 und Eigenständigkeit einer alternativen Moderne schillert.902 b) Die Bedeutung der Verfassung für eine pluralistische Gesellschaft Die moderne Verfassung bildet heute den „abstraktesten Identifikationskern“ der Gesellschaft:903 Sie ist Ort „zivilreligiöser Leitideen“.904 Die Verfassung „hält die Fülle der Geschichte, wie ein Augenblick sie zeigt, der Entwicklung selbst entgegen.“ 905 Sie ist einerseits die auf Dauer gestellte Ideologie einer historischen Epoche. Sie ist aber andererseits darin gegenüber dem sich wandelnden einfachen Recht immer auch historisch, gerade weil sie nicht der weiteren historischen Entwicklung folgt. In der Verfassung symbolisiert sich der Gründungsakt des Staates.906 Das verfassunggebende Organ ist für den Moment und in dem Moment der Verfassungsgebung „unbeschränkt zuständig“.907 Sie ist die staatliche Form einer sich als autonom begreifenden bürgerlichen Gesellschaft. Der Verfassungsstaat ist seit Kant Mittel der Wahl, um individuelle Freiheit zu opti898 Die rezente Forschung betont zunehmend, dass neben institutioneller und rechtlicher Gewaltenteilung, Macht- und Gewaltverteilung auf verschiedene Personen und soziale Gruppen hinzukommen müsse, e. g. Waschkuhn 1998, 217. Die auf das Jahr 1789 datierende „déclaration des droits de l’homme“, die in der berühmten Nachtsitzung vom 26. August verabschiedet wird, sowie die französische Verfassung von 1791 werden hier nicht genannt, da sie zwar in ihrer ideengeschichtlichen Wirkung kaum zu unterschätzen sind, aber keinen stabilen und dauerhaften Verfassungsstaat begründen. 899 Hugo Preuß 1902, 589; Bouveret 2003, 383. 900 Hugo Preuß 1964, 95. 901 Winkler 2000. 902 Hildebrand 2004, 84. 903 Münch 1982a, 217. 904 Kränke 2007, 29. 905 Leisner 1968, 140. 906 Anter 2004, 53; Herrmann 2005, 106 und 108. 907 Akzin 1962, 272.

278

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

mieren: „Der Satz: Salus publica suprema civitatis lex est, bleibt in seinem unverminderten Wert und Ansehen; aber das öffentliche Heil, welches zuerst in Betrachtung zu ziehen steht, ist gerade diejenige gesetzliche Verfassung, die jedem seine Freiheit durch Gesetze sichert.“ 908 Das spezifische Kollektivgut, das der Verfassungsstaat gewährleistet, ist die Freiheit. Durch deren konstitutionelle Gewährung und Regulierung wird sie insgesamt maximiert und optimal distribuiert. Diese vermeintliche Selbstverständlichkeit dürfte nicht zuletzt auch in jenem langen Weg zur ersten und noch keinesfalls endgültigen Etablierung des Verfassungsstaates begründet liegen, die allein bereits vom Ausgang des Mittelalters an in Deutschland fast vier Jahrhunderte erfordert. Als eine solchermaßen eigentümliche Institution der Gesellschaft setzt die Verfassung wiederum Öffentlichkeit voraus, diese wiederum sieht ihre Existenz freilich dauerhaft nur als Verfassungsstaat gesichert.909 Als in der Verfassung der ersten deutschen Republik schließlich sogar der Fortschritt kodifiziert wird, erreicht die Moderne und mit ihr der Verfassungsstaat seinen Zenit.910 Tatsächlich setzt aber das Gefangenendilemma zu überwinden den Glauben an Verbesserung voraus, wie es sich im Kollektiven regelmäßig als Fortschrittsglauben verkörpert. Ist jeder Staat notwendig subsidiär, so stellt der Verfassungsstaat dies endgültig fest und erteilt damit dem liberalen Staatsminimalismus des 18. Jahrhunderts ebenso eine Absage, wie die Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates obrigkeitliches Handeln wiederum ein Stück berechenbarer werden lässt. Durch die Verfassung kodifiziert der Staat erstmals seine Ziele und anerkennt somit zumindest mittelbar seinen instrumentellen Charakter.911 Dass der Staat seine ratio in der Verfassung kodifiziert, ändert nichts an seinem prozessualen Charakter der je neue Interpretation der Verfassung erfordert.912 Der Verfassungsstaat enthält sich jeder geschichtsplanenden Ideologie: Er bewältigt die Probleme, die aktuell anstehen. Freiheit, Gleichheit und soziale Verantwortung, die bald als „Brüderlichkeit“, bald als „Solidarität“ und in jüngerer Zeit vorsichtiger als „Allgemeinheit“ bezeichnet wird.913 Damit gerät der Verfassungsstaat potentiell in Widerspruch zum sich im 20. Jahrhundert entwickelnden Vorsorgestaat. Zwar ist er grundsätzlich als Konsequenz und Teil des Verfas908

Immanuel Kant 1793/2000, 154 f. Habermas 1965, 95. 910 Pauly 2004, 12. 911 Isensee 1988, § 57, 134 und 119 mit den einschlägigen Beispielen deutscher Verfassungsgeschichte. 912 Isensee 1988, § 57, 65. 913 Diese dem hiesigen Untersuchungsgegenstand affine Bezeichnung wählt etwa Isensee 1988, § 57, 73. 909

B. Die Zähmung potentieller Allmacht des Staates

279

sungsstaates auch nicht auf einen Sinn der Geschichte hin zentriert: Er legt jedoch nicht nur zeitlich, sondern auch hinsichtlich der Definition gelungenen Lebens die condition humaine soweit fest, dass insbesondere in der Anfangszeit der ökologischen Bewegung der bestehende gegenwartsorientierte Verfassungsstaat mit chiliastischen Untergangsprophetien einer totalen Verdammung anheim fällt, weil er sich nur als sektoraler Staat versteht –914 dessen Gegenteil ist aber der „stato totalitario“. Ähnliche Gefahren bietet freilich just unideologische überschießende Technokratie: Namentlich die Altersversorgung nimmt Züge weit reichender Lebensplanung für die Individuen an. Die libertären Konzepte folgen dabei just dem gleichen Prinzip wie der Vorsorgeeifer der ökologischen Protestbewegung: Kritisiert wird jeweils die hohe „Zeitpräferenz“ im Sinne hoher Gegenwartsorientiertheit. Stattdessen sei stärker auf eine möglichst langfristig geplante Zukunft hinzudrängen.915 Die pragmatische Kraft des Verfassungsstaates hat bislang freilich den total programmierenden Vorsorgestaat abzuwehren und abzumildern verstanden. 2. Der Rechtsstaat Eine abschließende und vollständige Definition dessen, was Rechtstaatlichkeit ausmacht, ist bis heute nicht möglich –916 nicht zuletzt deswegen, weil die Fortbildung und Umsetzung des Rechts niemals abgeschlossen werden kann. In begrifflicher Ausdrücklichkeit wurde das Konzept des Rechtstaates bereits erstmals im Jahre 1813 erfasst: „Gesetze, Recht und Staat der Vernunft (Rechtstaat)“ werden von Karl Theodor Welcker als „die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe“, also als Begründung „des objektiven Vernunftrechts und Rechtsstaates“ angegeben.917 Der Staat besteht somit gleichsam aus Recht.918 Aber schon in diesem ersten Konzept schimmert das Tautologische durch und die Unterscheidung gegenüber dem absolutistischen Gesetzesstaat und vollends vom neoabsolutistischen Verfassungsstaat, wie ihn für Deutschland die Wiener Schlussakte begründet, ist offensichtlich weniger grundsätzlich und abstrakt definierbar, sondern stärker von den jeweiligen Umständen des jeweiligen Falls und der allge914 Dass Verfassungsstaat notwendig „sektoralen Staat“ begründet, wird eingehend bei Isensee 1988, § 57, 12 erörtert. 915 Die frühe ökologische Protestbewegung zeigt hierbei Argumentationsmerkmale und Verhaltensmuster, denen die heutige libertäre Gesellschaftskritik durchaus ähnlich ist, was die bürgerliche Herkunft der beiden Ideologien zeigt. Zur Entstehung der ökologischen Protestbewegung: Hildebrand 2003, 325 ff. 916 Auch in der Praxis wird dies etwa vom Bundesverfassungsgericht durchgehend festgestellt. BVerfGE 65, 238; 290: „Das Rechtstaatsprinzip [. . .] enthält keine in allen Einzelheiten eindeutig bestimmten Gebote und Verbote. Es bedarf der Konkretisierung je nach den sachlichen Gegebenheiten.“ 917 Welcker 1964, 25. 918 Gierke 1954, 31; Gurjewitz 1997; Hofmann 1995, 75.

280

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

meinen politischen Kultur abhängig als seine bürgerlichen Protagonisten wahrnehmen wollen. Rechtstaat als einen entwicklungsgeschichtlichen Begriff von moderner Staatlichkeit zu begreifen wird schließlich auch durch zeitgenössische Quellen des 19. Jahrhunderts sanktioniert.919 Der Rechtsstaat ist heute unumstrittener Garant bürgerlicher Freiheitsrechte.920 Umstritten ist hingegen, ob durch den Rechtsstaat zu garantierende Freiheit sich allein auf eine staatlich zu gewährende Zwangsfreiheit beschränken soll, also in praxi vornehmlich auf Abwehrrechte gegenüber dem gewaltmonopolisierenden Staat, oder ob Freiheit erst durch Optionalität zu verschiedenen Formen positiven Handelns konstituiert werde.921 Es wurde bereits deutlich, dass noch zu Zeiten, als der Sozialstaat bereits im Begriff ist, Teil des Rechtsstaates zu werden, auch oder sogar gerade bei Denkern, die dem National-Sozialismus seinerzeit nahe gestanden haben, dieser als mit dem Rechtsstaat Unvereinbares postuliert wird.922 Tatsächlich spricht für die These, Rechtsstaatlichkeit müsse Freiheit zu positiver Wahl gewährleisten, dass dieser Annahme im Gegensatz zum Libertarismus ein dezidierter Egalitarismus innewohnt.923 Ist Gesetzesstaatlichkeit Voraussetzung von Rechtsstaatlichkeit, zeichnet sie sich jedoch unumstritten auch durch Gleichheit vor dem Gesetz aus, wie bereits der „déclaration des droits de l’homme et du citoyen“ zu entnehmen ist,924 wenngleich historisch betrachtet das Gleichheitsprinzip noch lange ein weitgehend bürgerrechtliches und nicht ein menschenrechtliches Prinzip bleibt.925 Umge919 Stahl 1846 106: „Der Staat soll Rechtstaat seyn, das ist die Losung und ist auch in Wahrheit der Entwicklungstrieb, der neueren Zeit.“, cf. infra. 920 Zu erörtern wäre, inwieweit er auch Garant von Menschenrechten ist, Welcker 1813, 25. Bereits Stahl postuliert 1846, 106: „Der Staat soll Rechtstaat seyn, das ist die Losung und ist auch in Wahrheit das, wobei politisch die Frage seiner Garantenstellung für die eigenen Staatsangehörigen im Ausland ist. Die aktuelle Diskussion geht freilich im europäischen Raum bekanntlich weiter, wo sich die Politik der Universalität der Menschenrechte verpflichtet sieht und den Staat dafür instrumentalisiert.“ 921 Eine Zusammenfassung dieser Diskussion, als deren Antipoden sich in der rezenten Forschung ebenfalls Nozick und van Parijs profiliert haben, bietet Schefczyk 2003, 120 f. Tatsächlich sind die Individualrechte, unter ihnen zumindest die Menschenrechte ihrer responsiven Eigenart nach an den Staat adressiert, König 1994, 160 f.; Waschkuhn 2003, 306. Denn nachdem der Gesellschaftsvertrag einmal abgeschlossen ist, kann nur noch der Staat Adressat bleiben, sei es, woran Locke dachte, um ihn selbst zu binden, sei es, um ihn als gewährleistenden Garanten gegen diejenigen zu verpflichten, die den Gesellschaftsvertrag übertreten. 922 Forsthoff 1954, 36 ff., scharfe Kritik durch Habermas 1965, 197; cf. auch: Forsthoff 1963, 389. 923 Schefczyk 2003, 91; Habermas 1965, 93. 924 Artikel 1: „Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits. Les distinctions sociales ne peuvent être fondées que sur l’utilité commune.“ 925 Habermas 1965, 121. Freiheit hingegen ist vom Anbeginn der Rechtsstaatsidee an ein allgemein menschliches Recht, Habermas 1965, 139. Als vornehmstes Menschen-

B. Die Zähmung potentieller Allmacht des Staates

281

kehrt lässt sich der „Kabinettsjustiz“ eines absolutistischen Monarchen wie Friedrich des Großen nicht eine Humanisierung der Strafjustiz gegenüber den von ihm angetroffenen Verhältnissen entnehmen.926 Zwar sind Argumente vorstellbar, die diese Gleichheit als eine rein formale derart begrenzen, dass sich der negative libertäre Freiheitsbegriff als Zwangsfreiheit auch mit dem Konzept der Rechtsstaatlichkeit vereinbaren lässt. Rechtsstaatlichkeit als Existenz strikter Verbote wird für die Gewährleistung auch von den Vertretern eines restriktiven Freiheitsbegriffes einer reinen Zwangsfreiheit anerkannt. Bereits Aristoteles erachtete Gleichheit und Gesetzesherrschaft als Zusammenhang, den er freilich nicht als Eigenschaft des zumindest dem Begriff nach noch unbekannten Rechtsstaates beschrieb, sondern als Merkmal der Demokratie, die er in ihrer gemäßigten Form wiederum als politßa zu bezeichnen pflegte.927 Das Problem einer ökonomischen Betrachtung von Rechtsstaatlichkeit besteht nun darin, dass ein aus dem Pareto-Prinzip resultierendes Schlechterstellungsverbot für sich genommen die letztlich außerökonomische Eigenschaft von Rechten verkennt, Unantastbarkeit sicherzustellen und nicht einen Preis für Übergriffe festzusetzen, der ja überdies nach dem eigenen Ideal reiner Ökonomie auf Dauer ohnehin nur vom Markt ermittelt werden dürfte.928 a) Rechtsstaat als bürgerliches Emanzipationsinstitut Der Rechtsstaat ist also seinem Grund nach vornehmlich institutionenökonomisch und mithin nicht ohne seine spezifische historische Herkunft zu erklären. Zwar ist der Emanzipationsprozess der bürgerlichen Gesellschaft vom herrschenden Staat auch ein ökonomischer, der als solcher mit dem Wandel von einer renten- zu einer reinvestiven Kapitalwirtschaft einhergeht. Aber gerade diese Unabhängigkeit des Privaten ist nur möglich, indem die Öffentlichkeit gleichsam „Organisationsprinzip“ dieses Emanzipationsprozesses und seiner Institutionalisierung, eben des Rechtsstaates wird.929 Der Rechtsstaat ist die politische Thematisierung des Unpolitischen. Die öffentliche Kritik wird auf dem Kontinent

recht apostrophiert Locke wiederum das Eigentumsrecht, Locke, second treatise, chaps. 1–5, 7–9, 16–19 . Als frühmodernem und Zeugnisse von Gleichheit als Menschenrecht sind Diderots und Louis de Jaucourts Artikel in der zwischen 1751 und 1780 herausgegebenen „Encyclopédie“ anzusehen, Weis, Geschichtsschreibung 1956, 171–237, cf. im Zweiten Teil A. III. 5. 926 Inwieweit das Friderizianische Preußen im Besonderen und der Absolutismus im Allgemeinen bereits proto-rechtsstaatliche Wirkungen entfalten, ist wenig erforscht und vielfach auch kaum rekonstruierbar, Regge in: Ziechmann (Hrsg.), Panorama der fridericianischen Zeit. Friedrich der Große und seine Epoche, Bemen 1985, o. S., zit. nach Demel 1993, 81 i.Verb. m. 138; Schmidt 1962, 95 ff.; skeptisch: Gooch 1991, 309. 927 Cf. auch Waschkuhn 2003, 187. 928 Schefczyk 2003, 91. 929 Habermas 1965, 86.

282

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

erstmals mit der französischen Verfassung von 1791 auch machtpolitisch, wenn nicht gar überhaupt souverän, als sie vermittels des demokratischen Rechtsstaates mit der Legislative „verschränkt“ wird.930 Absolutistischer Staat und Rechtsstaat sind freilich, wenn auch ungleiche, Brüder. Deutlich wird dies bereits an der zutiefst empiriegeleiteten politischen Theorie der Stadtrepubliken des spätmittelalterlichen Oberitaliens. Machiavelli profanisiert und konstitutionalisiert den Alleinherrscher in einer Weise, mit der er die Theorie des deutschen Konstitutionalismus gleichsam avant la lettre impliziert: „Der Alleinherrscher wie die Volksmenge werden von der Gesetzesherrschaft überragt.“ 931 Dass der Rechtsstaat nur ein solcher sein kann, wenn er diese Rechte nicht nur für den Bürger gegen ihn selbst wahrt, sondern auch gegenüber dritten verteidigt und damit die Schutzfunktion seines absolutistischen Vorgängers und Widerparts übernimmt, ist auch der déclaration des droits geläufig, wenn sie zwischen Gleichheit und Freiheit als gegen den Staat gerichteten Abwehrrechten und allgemeinem (Menschen-)recht erst undeutlich unterscheidet und, darin ganz Kantianischem Denken verhaftet, Freiheit nur durch die Freiheit des anderen beschränkt sieht.932 Der Staat als Gewährleister wird hierbei auf eine vollkommen instrumentelle Bedeutung reduziert, so dass die gegen ihn gerichteten Rechte als allgemeine Kollektivgüter im nichtstaatlichen Feld nur durch ihn gewährleistet werden können. Auch dies entpuppt einmal mehr den im Kern nichtstaatlichen Ursprung des Rechtsstaatsgedankens. Bereits der Französischen Revolution scheint indes die Existenz von Grund- und Menschenrechten selbstverständlich geworden und nicht mehr begründungspflichtig zu sein. Jene Legitimität, die die Aufklärer dem Ancien régime absprechen, setzen sie nämlich für ihren eigenen Staat begründungslos voraus. b) Das Dilemma des Rechtsstaates Der Rechtsstaat ist dabei sowohl Form des Staates als auch dessen Antagonist. Da Grundrechte nach naturrechtlicher Tradition als vorstaatlich konzipiert sind, stellen sie potentielle Gegenkräfte für die staatliche Überwindung des Gefangenendilemmas dar. Erst ein subsidiäres Staatsverständnis kann diesen Gegensatz wieder versöhnen. Der Rechtsstaat als solcher, wie er sich im 19. Jahrhundert in Kontinentaleuropa herauszubilden beginnt, ist tatsächlich ein Modus staatlichen Tätigseins, das zur Idee des Staates antagonistisch steht. Einerseits ist es Pflicht des Staates, Gerechtigkeit walten zu lassen, gegen sich selbst und gegen dritte. Ein Gebot, dessen Störanfälligkeit freilich schon in der relativen Unschärfe des 930

Habermas 1965, 112 f. Machiavelli, discorsi I, 58; Stabilität als tertium comparationis modernen Verfassungsdenkens und Machiavellis Gesetzesherrschaft wird von Waschkuhn 1998, 295 herausgehoben, cf. dazu Konstanten politischer Anthropologie, cf. Prolog I. 932 Art. 2 und 4. Cf. auch Böckenförde 1976b, 402. 931

B. Die Zähmung potentieller Allmacht des Staates

283

Gerechtigkeitsbegriffes begründet liegt. Andererseits ist er dem Gemeinwohl verpflichtet und muss den Gesamtnutzen und das Allgemeininteresse zum Ziel haben. Drittens ist aber wiederum unter den Bedingungen einer auch durch intensive Wirtschaftsaktivität definierten Moderne gerade diese Rechtlichkeit selbst ein zentrales öffentliches Gut. Fehlen individueller Rechtlichkeit hat wegen des Allgemeingültigkeitsanspruches von Recht und der darin begründeten Neigung, individuelle Fälle zu extrapolieren, zumal in einem kasuistisch organisierten Rechtskreis erhebliche Folgen für das Allgemeininteresse, denn Gerechtigkeit bedeutet Vertrauen und Sicherheit. Indem zwischenmenschliche Beziehungen verrechtlicht werden, wird die Gesellschaft aber wiederum potentiell staatsförmig, also veröffentlicht. Soll diese Rechtlichkeit am schwierig zu konkretisierenden Ideal der Gerechtigkeit orientiert sein, so ist es erforderlich, „Gerechtigkeit“ nicht allein als Folge von Staatshandeln, sondern stets auch als dessen Aufgabe zu begreifen. Eine als Ausgleich verstandene Gerechtigkeit ist demnach integraler Bestandteil aller einzelnen Staatsaufgaben. „Verteilung von Gütern und Lasten oder von Rechten und Pflichten, und die Herstellung einer ,guten Ordnung‘“ wird von einer Handlungsfolge zum Handlungsinhalt.933 Hierin wird auch künftig der entscheidende Unterschied zur privaten Kollektivgüterbereitstellung liegen, also in der Interessenfreiheit des Staates bezüglich der eigentlichen Sache. Denn ein unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung und existentieller Kollektivierung tendenziell sich ausdehnender Bereich von Aufgaben ist nur durch gegenüber der jeweiligen Aufgabe interessenfreie Mächte, also Staat, (optimal) zu versehen. Je kollektiv erheblicher und orientierter private Aufgabenerledigung wird, desto mehr bedarf es koordinierender und konnektierender Kraft, um die Partikularisierung der mehr denn je von übergeordneten Zusammenhängen wachsenden Ausmaßes abhängigen Partikularinteressen kollektiv rational zu steuern. Freilich gilt es, bei aller gebotenen Skepsis gegenüber rein ökonomischen Erklärungen der Gründe des Rechtsstaates zu bedenken, dass im Sinne von Fortschritt als Anpassungs- und Daseinsoptimierung allein schon von einer weitgehend nicht-selbstreferenziellen Rationalisierungstendenz auszugehen sein dürfte, die die Entstehung von rechtsstaatsartigen Verfahren und Institutionen in einer marktwirtschaftlichen Gesellschaft reinvestiven Kapitalismus begünstigt: Industrieller Kapitalismus bedarf berechenbarer Ordnungsbedingungen,934 die „Garantien der Kalkulierbarkeit“ bieten.935 Locke bestimmt sogar den Grenzwert, 933

Schmehl 2004, 35. Draht 1966, 280. Bis zu einem gewissen Grade kann diese rein funktionelle und auf die Notwendigkeit von Regulierung als solcher reduzierte Aufgabe auch privatisiert werden, Hoffmann-Riem 2001, 13. 935 Habermas 1965, 92 f. Wie sekundär inhaltliche Regelungen gegenüber der reinen Berechenbarkeit, also ein eher formaler Rahmen, für industrielle Produktionsformen sind, erhellt aus einem innerökonomischen, gleichsam schon als technisch zu bezeich934

284

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

jenseits dessen Rechtsstaatlichkeit erforderlich werde, wenn er die über reine Subsistenzwirtschaft, also über den Eigenbedarf hinausgehende Akkumulation von Kapital als Ende des harmonischen und herrschaftsfreien Naturzustandes ausmacht, die nunmehr einen Gesellschaftsvertrag erforderlich werden lasse. Dessen Inhalt sei die Gründung einer „civil society“, die nur in Gestalt eines Rechtsstaates zu institutionalisieren sei.936 Rechtsstaat bleibt indes lange ein hochgradig normativer Kampfbegriff der Liberalen. Die Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1867 beschreibt den Übergang der zumal im preußischen Staat seit Jahrhunderten angelegten rechtsstaatlichen Potentiale zum Prinzip realer Staatstätigkeit. Als ein entscheidender Garant von Rechtsstaatlichkeit erweist sich im Laufe des 19. Jahrhunderts neben der Unabhängigkeit der Justiz die Eigenmacht eines Parlamentes: Bei langfristiger Betrachtung kennzeichnend ist für die Preußische Verfassung von 1851 daher durchaus eine gesteigerte Bedeutung des Parlaments. Mit einer weiteren Stärkung des Parlamentarismus gilt dies auch noch für die erwähnte Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1867, da das parlamentarische Budgetrecht in Militärsachen eingeschränkt bleibe. Hierin verdeutlicht sich ein Charakterzug Bismarckscher Politik, der das Deutsche Kaiserreich von 1871 kennzeichnet und in der Forschung als „Bismarckstaat“ auftritt:937 Bismarck instrumentalisiert die Verfassungsförmigkeit von Politik, um die Reaktion zu disziplinieren, der das Militär allenthalben zuzurechnen ist. Die Offenheit und faktische Disponibilität der Verfassung macht ihm hingegen das Parlament als legitimitätsstiftendes Alibi gefügig, um Demokratie abzuwehren.938 Fast alle Politik ist für Bismarck Funktion von Staatspolitik.939 Wie lange neben dem sich im Verfassungsstaat einrichtenden Rechtsstaat der überkommene Obrigkeitsstaat mit seinen spätabsolutistischen Rudimenten fortbesteht und Bismarck erlaubt, seine Politik zwischen legaler Rechtsstaatlichkeit und weithin noch legitimer Obrigkeitsstaatlichkeit changieren zu lassen, zeigt die Beurteilung eines Liberalen wie Hänel aus dem Jahre 1880: Den Verfassungskonflikt, der sich in den Jahren von 1861 bis 1864 hinzieht, aufgreifend stellt er, um das Verfassungsrecht des Deutschen Kaiserreiches zu erklären, fest, dass „hier im Widerspruch der deutsche Rechtsstaat kurzerhand abnenden Phänomen, den technologischen Kriterien, Stromversorgung zu bewerten: Entscheidend ist für die Produktionsweise des postindustriellen Zeitalters die Zuverlässigkeit der Stromversorgung, hinter welcher der Strompreis als sekundär zurücktritt, da es sich bei ihr um prozessorientierte Produktion handelt, Hilker 2004; Scholz-Reiter 2003. Die entscheidende Voraussetzung für fortgeschrittene Herstellungs- und Steuerungsvorgänge sind Vorhersehbarkeit der Bedingungen, so dass Planbarkeit ermöglicht wird. Sind Effizienz und Effektivität regelmäßig Folge oder gar Zweck von Rationalisierung, so bedarf diese stabiler Rahmenbedingungen. 936 Locke II, §§ 95 und 97; Willke 1996, 193 f. 937 Cf. den Exkurs, der sich im Ersten Teil Kapitel A. I. 7. c) anschließt. 938 Bouveret 2003, 268. 939 Schieder 1952, 171.

B. Die Zähmung potentieller Allmacht des Staates

285

bricht; Macht geht vor Recht.“ 940 Dass der Rechtsstaat freilich für weitere Machtzuwächse des Parlaments als ursächlich erachtet wird, zeigt, dass die Begriffe Rechtsstaat und Verfassungsstaat seit ihrer Entstehung durchaus promiscue verwandt werden. Die für den Rechtsstaat konstitutiven Freiheitsrechte wurden in Deutschland noch bis weit in das 20. Jahrhundert hinein als reine Gewährleistungen des Staates erachtet und ihnen institutioneller Charakter abgesprochen. Schließlich gelingt es auch nicht, wirklich endogen zu Demokratie zu gelangen. Erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts setzt sich schließlich auf Basis des nunmehr anerkannten Institutionencharakters der Freiheits- und übrigen Grundrechte und somit das naturrechtliche Postulat von Grundrechten als vorstaatlicher Selbstverständlichkeit durch. Daraus begründet sich allerdings dann auch der faktisch längst ausgebaute Leistungsstaat.941 Im Grunde wird damit die Phase des klassischen bürgerlichen Rechtsstaates atlantischer Provenienz übersprungen. Daneben ist der Rechtsstaat in einer Demokratie auch Steuerungsmedium für die Implementation außerökonomischer und letztlich außerrechtlicher Normen, Ideen und Programme, die nach den Kriterien der je anderen innersystemischen Rationalität unvereinbar wären.942 Im demokratischen Rechtsstaat fortgeschrittenen Stadiums bedroht nun just dasjenige, worin sich der Rechtsstaat bei seiner Entstehung dereinst maßgeblich manifestiert hat, nämlich die Öffentlichkeit, eben diese Freiheit des pluralistischen Diskurses insofern als sich die Öffentlichkeit eine „plebiszitierten“ und daher demagogisch manipulierte beständig zu entwickeln droht.943 Damit wird die den Gesamtnutzen optimierende Koordination des Staates auf sublime Weise unterhöhlt: Der Staat wird von einzelnen am gesellschaftlichen Spiel Teilnehmenden okkupiert, gerade weil in ihm aufgrund seiner arbiträren und koordinierenden Eigenschaft gewaltige materielle, vor allem aber ideelle Macht thesauriert ist. Rechtsstaatlichkeit im strengen Sinne überkommenen gesetzesfundierten und gerichtsfesten Staatshandelns gerät in einer Gesellschaft hochgradig fortgeschrittener Differenzierung zunehmend in Widerspruch zur gesamtnutzenmaximierenden Funktion des Staates. Daher vollzieht sich immer häufiger eine Abkehr von der klassischen Normstruktur einer Konditionalprogrammierung, die von der Exekutive tatsächlich nur vollzogen wird, hin zu einer Finalprogrammierung: Die Konkretisierung dessen, was im jeweiligen Fall dem Gemeinwohl dienlicher sei, obliegt derjenigen Verwaltung, die sachlich und räumlich örtlich zuständig ist.944 Dies mindert wiederum die Judiziabilität von Rechtsnormen, was Rechtsstaat940 941 942 943 944

Hänel 1880, 353. Martens/Häberle 1972, 7 bis 191; Günther 2004, 304. Schefczyk 2003, 206. Habermas 1965, 226 f. Hanebeck 2004, 269.

286

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

lichkeit beeinflusst.945 Schließlich droht die Justiz, wird sie dennoch weiter angerufen, zu politisieren. Dies wiederum ist Bedingung für eine weitere Möglichkeit mittelbarer Staatsausdehnung: Neben der eigentlichen, gleichsam primären Verstaatlichung von Bereichen führt dies wegen der Notwendigkeit von „Gerichtsfestigkeit“ zugleich bereits zur Verdichtung dieser Staatlichkeit. Wie die Entwicklung nicht eben weniger westlicher Rechtsstaaten zeigt, führt dieser Vorgang jedoch keinesfalls zu einer Optimierung staatlicher Uraufgaben wie Berechenbarkeit und Sicherheit, Frieden und Ordnung. Dass entgegen der tatsächlichen Funktion des Rechtsstaates, (vornehmlich bürgerliche) Freiheit zu gewährleisten, ohne dabei die pazifizierende Funktion von Staat und Recht zu stören, das motivierende Ideal dasjenige der Gerechtigkeit ist, erweist sich oftmals am Ende historischer Aufbruchs- und Umbruchssituationen: Dann tritt der gleichsam materiell ausgerichtete Erwerbsalltag hinter die ehrgeizigen das Materielle transzendierenden Ideale zurück. c) Rechtsstaat und Subsidiarität Der Rechtsstaat bleibt prekär. Gegenwärtig droht er gleichsam durch seine eigenen Erfolge ausgehöhlt zu werden: Jene bürgerliche Freiheit, die seit dem 19. Jahrhundert die Entfaltung marktwirtschaftlicher Kräfte ermöglicht hat, erscheint als Allheilmittel gegen die wirtschaftlichen und nicht selten auch andere Gebrechen der Zeit, Privatisierung droht von praktischer Problembewältigung zum ideologischen Dogma zu werden. Privatisierung entzieht jedoch immer weitere Bereiche dem Rechtsstaatsprinzip als Qualifikation staatlichen Handelns.946 Umgekehrt erweist sich zumindest in Deutschland das Rechtsstaatsprinzip somit auch als mächtigere Schranke denn das Prinzip des Gewährleistungsstaates, die den Staat daran hindert, sich aus weiten Teilen des Lebens vollständig zu entwinden.947 Demgegenüber droht in Großbritannien ein anderes Extrem: Der britische regulatory state als Archetypus der Privatisierung staatlicher Aufgaben vermag die britische „Verwaltungstradition von Ermessen, Informalität und mangelndem Rechtsschutz nur in begrenztem Umfang zu brechen.“ 948 Unter den Bedingungen des kontinentaleuropäischen Rechtsstaates führt Privatisierung widrigsten Falles dazu, den Staat von seiner rechtsstaatlichen Bindung zu entfesseln, während ein solcher Schritt in England ohnehin viel kleiner ist. Schließlich sind Privatisierung wie Deregulierung nur unter den hochgradig einschränkenden Bedingungen des Gewährleistungs- und Regulierungsstaates tatsächlich eine Weiterentwicklung von Staat und Gesellschaft. Denn es handelt 945 946 947 948

Isensee 1968, 315. Hellermann 2000, 68 ff.; Ruge 2004, 135. Ruge 2004, 181. Cf. Gewährleistungsstaat. Ruge 2004, 254, cf. auch Loughlin/Scott 1997, 218 f.

B. Die Zähmung potentieller Allmacht des Staates

287

sich bei vielen privatisierten Kollektivgütern tatsächlich nur um Reprivatisierungen nicht originär staatlicher Kollektivgüter: Es ist zumal im Deutschen Reich, aber auch in den anderen europäischen Staaten, der Erste Weltkrieg, der erstmals in größerem Umfang auch bürgerliche Kräfte einen „starken Egoismus der besitzenden Schichten“ erfahren, die Notwendigkeit eines auch wirtschaftlich intervenierenden Staat einsehen und den Sozialisierungsgedanken postulieren lässt:949 Und es ist gerade das Bürgertum, das überproportional verliert. Hierin zeigt sich, dass die Wirksamkeit des modernen Staates maßgeblich von der Vitalität der Nation als Bewusstseinsdimension abhängt: Statt von Verstaatlichung ist im Englischen daher auch von „nationalisation“ bzw. „nationalising“ die Rede. Dieser Begriff beschreibt aber eine Entwicklung, die weit über das Wirtschaftliche hinausweist und bereits Ende des 18. Jahrhunderts einzusetzen beginnt.950 Tatsächlich haben jedoch die spätmodernen Deregulierungsprozesse eine deutliche Marktund Wettbewerbsgeneigtheit des Gewährleistungs- und Regulierungsstaates offenbart, zumal im Falle der Europäischen Union: Wettbewerbsfördernde Regulierungsnormen und -maßnahmen sind gemeinwirtschaftlicher Regulierung vorausgegangen.951 Damit sind vermeidbare Störungen und Gefährdungen in der daseinsvorsorgenden Kollektivgüterversorgung in Kauf genommen worden, historische Erfahrungen ungenutzt geblieben. Bisweilen ist es freilich auch die extreme Ausformung funktionaler Differenzierung bestimmter gesellschaftlicher Bereiche, die den minderinformierten Rechtsstaat materiell auszuhöhlen und ihn auf eine formelle Funktion zu beschränken droht.952 Der Rechtsstaat erfährt jedoch auch Neudefinitionen, die seinen Geltungsbereich ausdehnen und eine Neigung rechtsstaatlich gehegter Gesellschaften erkennen lassen, das Rechtsstaatsprinzip auf Gebiete auszudehnen, die bis dato von Staatlichem handeln völlig unberührt waren. Somit aktualisiert sich seit Mitte der 1970er Jahre die Forderung, den Verantwortungsbegriff in das öffentliche Recht einzubinden. Dies kulminiert darin, Verantwortung als „Prinzip des modernen Rechtsstaates“ 953 zum „Schlüssel zu einer Staatstheorie der Gegenwart und Zukunft“ werden zu lassen.954 Offensichtlich dient der Begriff des Rechtsstaates und noch nicht einmal primär das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit dazu, neue Kategorien und Ordnungskriterien, Begriffe und Definitionen in das öffentliche Recht einzuschleusen, so dass sich in der Folge der Staat auf immer weitere Be-

949

Pauly 2004, 19. Meinecke 1922, 9. 951 Ruge 2004, 132. 952 Ruge 2004, 240. Cf. das im Ersten Teil mit „Schutzstaat“ überschriebene Kapitel B. II. 2. 953 Ruge 2004, 162. 954 Saladin 1984, 40 ff. und 90 ff. 950

288

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

reiche ausdehnen kann. Festzustellen ist also ein Zusammenhang von Rechtsstaat und Staatsausdehnung. Im vorliegenden Falle des Verantwortungsbegriffs hat dies de facto zu einer neuen, in gewissem Maße eigenen Form von Staatlichkeit geführt: Dem Vorsorgestaat.955 Im Rechtsstaat ist darüber hinaus bereits das Genom einer weiteren funktionellen Typologie von Staatlichkeit angelegt, nämlich derjenigen des Subsidiärstaates. Das dem kontinentaleuropäischen Rechtsstaat eigene Gebot der Verhältnismäßigkeit, der alles staatliche (Hoheits-)Handeln unterliegt, reduziert sich auf einen Grundsatz, den es mit dem Subsidiaritätsprinzip teilt: „So wenig Staat wie möglich.“ 956 Letztlich wird die liberalstaatlich verfasste bürgerliche Erwerbsgesellschaft durch jede nicht erforderliche Staatstätigkeit unzulässig, weil für die Gesellschaftserhaltung unnötig, eingeschränkt. Doch während der rechtsstaatliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sehr viel konkreter, nämlich unmittelbar an staatliches Handeln als Maßstab anzusetzen ist, ist das Subsidiaritätsprinzip abstrakter, eben weil es Prinzip ist. Den historischen Verlauf vom Rechts- zum Subsidiärstaat beschreibt also eine voranschreitende Einsicht zunehmenden Abstraktionsvermögens. Somit wird in der gegenwärtigen Staatstheorie auch das Äquivalenzprinzip als rechtsstaatskonform, weil sogar rechtsstaatsvertiefend legitimiert.957 Der „kooperative Staat“ lässt freilich als zunehmend dominante Funktionsform von Staatlichkeit auch den Rechtsstaat von einer entscheidenden und dabei nicht ohne standardisierende und egalisierende Formen zu zähmenden Staatsgewalt zu einer aushandelnden und mithin individuellen und kasuistischen Partnergewalt mutieren, die auch als „informeller Rechtsstaat“ bezeichnet zu werden pflegt:958 Risiko dieser Entwicklung ist eine schleichende Aushöhlung des Rechtsstaates und der arbiträren Funktion von Staat schlechthin. Als Gewährleister von Kollektivgütern wird der Rechtsstaat zunehmend zur Form, die eher klassischer Staatlichkeit entgegengesetzte Güter pflegt. Was schon anhand von Grundrechten, Demokratie und Sozialstaat deutlich geworden ist, gilt auch für die gesellschaftliche Kultivierung dieser Werte. 3. Kulturstaat Dabei emanzipiert sich nach 1945 aus dem Kulturstaat des 19. Jahrhunderts zunehmend ein politischer Bildungsstaat, der über die in Deutschland besonders dicht organisierte und institutionalisierte politische Bildung hinaus auch Ge955 956 957 958

Cf. Erster Teil A. II. 2. a). von Krauß 1955, 14. Schmehl 2004, 89. V. Neumann 1992, 433 [Begriff] und 431 [Ursachen].

B. Die Zähmung potentieller Allmacht des Staates

289

schichte und Erinnerung fördert und das kollektive Gedächtnis zur Staatsaufgabe macht.959 Ob Geschichte unmittelbare Handlungsanleitungen zu formulieren vermag, ist umstritten, wird aber allgemein skeptisch beurteilt.960 Unmittelbare Anwendbarkeit als zunehmender Legitimationsfaktor drängt freilich immer wieder zu Versuchen, Geschichte regelförmig erfassen zu wollen. Unumstritten ist jedoch, dass historisches Bewusstsein für das Überleben einer Gesellschaft und ihres Staates unabdingbar ist, so wie jedes Individuum nur selbstbewusst sein kann, wenn es seine Persönlichkeit als Summe aller Erfahrungen wahrnimmt. Somit bedarf auch die Gesellschaft ihrer Geschichte, um sich und ihre Herausforderung zu erkennen.961 Die Diskussion über die gesellschaftliche und öffentliche Funktion der Geschichte ist alt, die Begriffe von Geschichts- und Vergangenheitspolitik sind indes erst ein Phänomen der Gegenwart, auch wenn die bezeichnete Angelegenheit selbst alt ist.962 Die erhebliche Staatsaktivität in den Bereichen von Geschichte und politischer Bildung ist freilich nicht nur ein Phänomen des Staates als Mittel gesellschaftlicher Integration, wie sie sich namentlich im Nationalstaat verwirklicht, sondern auch ein Phänomen des Staates als Organisator und Initiator autopoietischer Gesellschaft. Er lässt sich durch die „Theorie der Selbstbestimmung“ erklären, derzufolge sich nur eine Gesellschaft selbst steuern kann, wenn ununterbrochen drei Informationsflüsse aufrechterhalten werden: Informationen über die Außenwelt, Informationen aus der Vergangenheit und Informationen über sich selbst und alle Einzelteile.“ 963 4. Die territoriale Organisation: Einheitsstaat oder Bundesstaat Mindestens fünf Staaten der Erde gelten als Bundesstaaten: Die USA, Kanada, die Bundesrepublik Deutschland, die Schweiz und Australien. Je nach Definition lassen sich des weiteren Österreich und Indien als Beispiele für freilich sehr unitarisch geprägte Bundesstaaten hinzufügen. Zwar stellen sich nicht unerhebliche Unterschiede zwischen Einheits- und Bundesstaat hinsichtlich der Frage, wie sie das Gefangenendilemma überwinden. Aber dass sie dieses zu überwinden angelegt sind, ist beiden Arten gemein. Gemäß dem Anspruch der vorliegenden Un-

959

Uhle 2005, 451 und passim. Popper 1987, 47; Meier 1993, 285; Habermas 1995, 187. 961 Homann/Suchanek 1992, 20. 962 Exemplarisch sei für das besonders traditionsbedürftige Deutsche Kaiserreich von 1871 auf die politische Bedeutung des Sybel-Fickerschen Gelehrtenstreits, der über die Bedeutung des mittelalterlichen Kaisertums geführt wird, und die Werke von Wendland 1886 und Schäfer 1884 hingewiesen. Die Entwicklung der geschichtsorientierten Legitimation der Deutschen Kaiserreiches ist zusammenfassend von Fehrenbach 1969 dargestellt. 963 Deutsch 1973, 193. 960

290

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

tersuchung, den modernen Staat als Typus zu erfassen, hieße daher diese Frage eingehender zu behandeln das Thema zu verlassen.

II. Selbstbegrenzung: Staat als Organisator gesellschaftlicher Rationalisierung Staat als Organisator gesellschaftlicher Rationalisierung und mithin wiederum von Organisation ist in jeder Staatlichkeit ab ovo angelegt. Das „Privatrecht“ als dasjenige öffentliche Recht, das der Regelung des Verkehrs unter Privaten dient, lebt davon, vorstaatliches Recht bereits anzutreffen964 und weiteres nichtstaatliches Recht zu initiieren. Sind somit schon von jeher Termini wie „Eigenrecht der Wirtschaft“ oder von „privatautonom erzeugten Rechts, als Mittel gesellschaftlicher Selbstzucht“ anzutreffen,965 ist gleichwohl die mit dem aufkommenden Rechts- und Verfassungsstaat einhergehende Wende von objektiven Pflichten des Untertans zu subjektiven Rechten des Bürgers erste Voraussetzung, um Selbstregulierung zum unmittelbaren Ziel staatlicher Regulierung zu machen. Das Privatrecht als dispositives öffentliches Recht belässt anders als das imperative öffentliche Recht den Privatleuten die Möglichkeit, ihre Angelegenheiten selbst zu regulieren, und setzt dort ein, wo diese Selbstregulierung endet.966 Ein anschauliches Beispiel bereits vor(-rechts-)staatlicher Selbstregulierung stellen die Kaufmannsusancen dar, wie sie etwa durch eine Institution vor- bzw. frühstaatlicher Gesellschaft, die Hanse, verbreitet wurden. Das Kennzeichnende solcher Usancen besteht darin, dass sie nicht bilateral, sondern einzelnen Verhältnissen vorgegeben und übergeordnet sind. Dazu bedarf es zumeist spezifischer historischer Umstände, die bislang kaum normierbar und abstrahierbar sind. Zum Beispiel schufen maghrebinische Händler ein über den Mittelmeerraum verbreitetes Handelsrecht.967 Das Organspendesystem und die Verkehrsleitung sind als Beispiele aus der Gegenwart bereits behandelt worden.968 Bezeichnend ist sowohl, dass solche vorstaatlichen relativ freiwilligen arbiträren Systeme im Bereich menschlichen Wirtschaftens entstehen, als auch, dass es eben in diesem Bereich nicht unbedingt des Staates bedarf. Die entscheidende gesellschaftsformende Kraft, auf der sie aufbauen, ist Vertrauen.969 Sport und Kirche sind weitere solche Gebiete eigenen nichtstaatlichen Rechts mit hoher Geltungsmacht. 964 Da in Kontinentaleuropa das Privatrecht maßgeblich auf dem Römischen Recht aufbaut, handelt es sich hierbei nicht nur im normativen, sondern auch im historischentstehungszeitlichen Sinne um vorstaatliches Recht. 965 Isensee 1968, 274 [Selbstzucht]; zum Phänomen aus (institutionen-)ökonomischer Perspektive: Streit 1992, 700. 966 Grimm 2001, 12. 967 Fukuyama 2004, 55. 968 Cf. Erster Teil A. 969 Bergier 1998, 136.

B. Die Zähmung potentieller Allmacht des Staates

291

Offensichtlich sind menschliche Populationen grundsätzlich aus sich heraus fähig, übergeordnete und unabhängige Institutionen zur Optimierung der unmittelbar materiellen Versorgung herauszubilden, und diese Fähigkeit ist anscheinend nicht auf den Fall des Staates beschränkt. Auch wenn Zahl und Geltungsmacht solch arbiträrer Systeme kaum quantifizierbar sind, so scheint jedoch die Staatsentstehung zu Beginn der Neuzeit und die seither anhaltende Staatsausdehnung solche außerstaatliche Entstehung nicht-suboptimaler Gleichgewichte zu hemmen. Daraus resultiert wahrscheinlich auch das für die Moderne kennzeichnende und mit Rationalisierung unwillkürlich assoziierte Schwinden von Vertrauen als Koexistenz regulierende und absichernde soziale Kategorie, obwohl Vertrauen, lateinisch creditura benannt, in den Partner zu hegen Grundlage des neuzeitlichen Wachstums, aber auch Voraussetzung institutionalisierter Daseinsbewältigung ist.970 Dass sie jedoch auch für staatliches Handeln erklärtermaßen als Idealform fungiert, datiert nicht länger als eine Generation zurück.971 Diejenige staatlich gewährleistete Form privaten Verkehrs, die wohl die umfänglichsten nichtstaatlichen Potentiale bewegt und zugleich die sensibelste Form darstellt, ist in moderner Gesellschaft Geld. Dabei hat der Staat keine unmittelbare Macht über die von ihm formalisierte Materie, also über das geldwerte Vermögen als solches. Die stets unscharfe Grenze von Form und Materie führt freilich dazu, dass er über Manipulationsmöglichkeiten der eigenen Schulden verfügt.972 Diese Macht stellt aber in der reinen ökonomischen Lehre lediglich ein Störpotential dar, dessen sich die Politik freilich, historisch betrachtet, nahezu regelmäßig in extenso bedient. Gleichwohl bleibt Geldwertstabilität ein öffentliches Gut, das aber dem bei öffentlichen Gütern üblichen Trittbrettfahrerproblem unterliegt.973 Insofern kann hier wörtlich auf das verwiesen werden, was bereits zum Trittbrettfahrerproblem des Staates erläutert wurde.974 Daneben ist nicht zuletzt aufgrund voranschreitender transnationaler und internationaler Prozesse des Wirtschaftens, wie sie unter dem Begriff der Globalisierung erfasst zu werden pflegen, durch finanzkräftige Partikularinteressen Geldwertstabilität jedoch sehr viel akuter bedroht. Diese Gefahr verschärft sich durch die Verselbständigungsneigung von Kapital.975

970

Bergier 1998, 136. Metzler 2002, 103. 972 Kratzmann 1996, 225. Erschöpfend bietet Reinhard 2002, 311 f. für diese Art der Staatsfinanzierung historische Beispiele. 973 Frey 1974, 158. 974 Cf. Erster Teil A., sowie dort I. 5. a) und 6. 975 Seinen Ursprung nahm das free-floating capital in Gestalt der so genannten „Petrodollars“, also in Dollar abgerechneter Einkünfte erdölausführender Staaten, die in diesen selbst keine Anlagemöglichkeit fanden und daher von den Gläubigern permanent über die internationalen Finanzmärkte geschoben wurden, um neue renditeträchtigere Anlagemöglichkeiten zu finden, Oweiss 1975, 84–85. Dies führte für Schwellenländer 971

292

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

Neben der Grenze gesellschaftlicher Organisation besteht weiterhin jene sich nicht selten als identisch erweisende Grenze, die in der Frage aufgehoben ist, ob alles zu Organisierende überhaupt spezifisch staatlicher Organisierbarkeit zugänglich ist: Nicht alle möglichen Organisationsleistungen sind auch potentiell staatlich organisierbar. Viele Bereiche menschlichen Verhaltens sind schließlich überhaupt nicht organisierbar, was nicht zuletzt Folge der menschlichen Begabung zu freier oder zumindest (bislang) nicht durchschaubarer Willensbildung ist. Diese erheblich von den Totalitarismen, aber gelegentlich auch anderen modernen Form staatlicher Steuerung ignorierte Grenze des Staates war der Vorkriegsmoderne weitaus bewusster. Friedrich Julius Stahl wusste beispielsweise: „Die Aufgabe des Staates ist nicht die Totalität des menschlichen Lebens, sondern nur die Totalität des menschlichen Gemeinlebens.“ 976 Das Ideal gegenwärtig vorherrschender Staatspolitik und Staatstheorie begrenzt sich weithin darauf, den Staat nur noch bestehen zu lassen, um solche Entwicklung zu initiieren bzw. dort zu übernehmen, wo die Selbstorganisationskräfte der Gesellschaft noch nicht hinreichend entwickelt sind: In der Bundesrepublik Deutschland ist das Ideal eines „aktivierenden Staates“ durch Kabinettsbeschluss sogar als Richtlinie der Politik festgelegt.977 Eine sozialwissenschaftlich informierte Politik versucht angesichts überbordender Staatsausdehnung und chronischer Staatsüberforderung Konzepte gesellschaftlicher Selbstorganisation zunehmend planmäßig zu implementieren. 978 Denn was Wettbewerb ermöglicht, ermöglicht soziale Evolution. Soziale Evolution aber enthält eine Entdeckungsfunktion.979 Über das Mittel der Meinungsfreiheit und der öffentlichen Meinung wird auch die Ermittlung des Allgemeininteresses sowie die Frage danach, inwieweit dieses Gegenstand staatlichen Handelns sein soll, gesellschaftlicher Selbstorganisation überlassen. Die Frage nach Selbstorganisation der kollektiven Interessen einer Gesellschaft obliegt mithin in nicht unerheblichem Umfange selbst gesellschaftlicher Selbstorganisation.980 Dies ist die Konsequenz, die aus dem Postulat des modernen demokratischen Rechtsstaates nach größtmöglicher Autonomie der Gesellschaft erwächst. Der ausgeprägte Organisierbarkeitsglaube des 20. Jahrhunderts erweckt nahezu den Anschein, das proprium jenes totalitären zu solchen Währungsschwankungen, dass es erstmals Anfang der 1980er-Jahre zu einer schweren Schuldenkrise kam, Oweiss 1980; U.S. Department of Commerce 1983. 976 Stahl 1846, 150. Weitere klassische Quellen zu den Grenzen staatlicher Organisationsfähigkeit: August Ludwig Schlözer 1793, 94 f.; Robert von Mohl 1872, 76 f., 80 ff.; Richard Schmidt 1901, 150 f. 977 Kabinettsbeschluss „Moderner Staat – Moderne Verwaltung“ vom 1. November 1999, Ziff. I, 1, S. 2. Offiziell wird das Ideal des „aktivierenden Staates“ als „Leitbild“ bezeichnet. Cf. Schuppert 2001, 203; Schmehl 2004, 243 f.; Korte-Fröhlich 2004, 131. 978 Waschkuhn 1998, 218. 979 Kuran 1991, 241 und 243. Zum Phänomen der Entdeckungsfunktion: Sutter 1994, 401 und 409; Siegenthaler 2005, 3 ff. 980 Isensee 1988, § 57, 80; 93.

B. Die Zähmung potentieller Allmacht des Staates

293

Zuges auszumachen, der für die Rationalisierungsentwicklung dieses Jahrhunderts kennzeichnend ist. Der „enabling state“, der eine definitorische Schnittmenge der beiden deutschen, sich ebenfalls überlappenden Formen von „aktivierendem“ und „Gewährleistungsstaat“ beschreibt,981 löst jedoch ein Problem nicht, nämlich die Unfähigkeit von Individuen, konträre Sozialwahl auszuwählen, die durch Grundrechte legitimiert ist. Es handelt sich hierbei um eine Abwandlung des Arrowschen Unmöglichkeitstheorems,982 das sich in anderer Form auch als Unmöglichkeit der Mehrheitenbildung darstellt: Favorisiert ein Individuum den Besuch einer bestimmten von zwei Veranstaltungen, das andere Individuum aber genau die andere Veranstaltung, und ist dem zuerst genannten Individuum wichtiger, auf einer der beiden alternativen Veranstaltungen das zweite Individuum zu treffen, als die von ihm favorisierte Veranstaltung zu besuchen, während dem anderen Individuum hingegen vorrangig vor der Art der Veranstaltung ist, gerade nicht mit dem einen Individuum zusammenzutreffen, so ergibt sich eine Unmöglichkeit.983 Daher können dritte, namentlich der Staat nicht die individuelle Freiheit jedes einzelnen Individuums gewährleisten, befinden sich die Individuen doch in unauflösbarem Interessenwiderspruch – und zwar weil es eben die Individuen sind, die untereinander konfligierende Interessen haben. Der einzelne Konflikt ist tatsächlich durch arbiträre dritte nicht zu lösen, da es anders als beim Gefangenendilemma keine für beide Seiten gleichermaßen optimale Gesamtlösung gibt. Dennoch ist diese Situation keinesfalls zwingend ein Argument dafür, Freiheit auf reine Freiheit vom Staat zu reduzieren, der sich ansonsten auf die Funktion des „enabling“ zu beschränken habe. Vielmehr bedarf es ebenfalls einer überlegenen arbiträren Macht, um das Unmöglichkeitsdilemma konträrer individueller grundrechtsgeschützter Interessen zu bewältigen. Dies wird dann möglich, wenn die einzelnen Entscheidungen in einen Zusammenhang eingebunden, spieltheoretisch formuliert: wenn sie iteriert werden. Zwar trifft der Einwand zu, dass dies praktisch nur für einen Bruchteil von Situationen möglich ist und indirekt damit möglicherweise doch eine Rangfolge von Werten gesetzt wird, die ein Individuum benachteiligen. Nichtsdestotrotz ermöglicht der Staat bei derartigen Kollisionen überhaupt eine Lösung, während die Individuen zu einer solchen erst gar nicht kommen. Die Gemeinsamkeit mit dem Gefangenendilemma besteht in gegenseitiger Hemmung oder gar Verhinderung der Individuen. Es widerspricht nicht nur 981

Hoffmann-Riem 2001, 24. Diese Identifikation mit dem Arrowschen Unmöglichkeitstheorem ist nicht vollkommen unzweifelhaft, aber allgemein anerkannt und durch Arrows Werk selbst sanktioniert, Sen 2002, 330. 983 Möglicherweise ist die formallogische Ausdrucksform hier verständlicher als die sprachliche. Die Präferenzen von Individuum I lauten: aa > bb > ab > ba, diejenigen von Individuum II: ab > ba > bb > aa. Dann führt dies zu: ba > bb > aa, aber aa > ba. Cf. Sugden 1992, 128; Sugden 1993, 130; Schefczyk 2003, 273 f. Vom Problem ungleicher Informiertheit über die Entscheidung des anderen sei hier bewusst abgesehen. 982

294

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

der Erfahrung, sondern auch der Logik, dass ein bestimmter Konflikt, der für sich betrachtet durch dritte, namentlich den Staat, genauso wenig lösbar ist wie für die beteiligten Individuen selbst, daher auch der Chance eines kontextualen Ausgleichs entzogen wird. Der Einwand einer Überlastung des Staates und einer übermäßigen Verstaatlichung der Gesellschaft trifft nur ein Problem der Rationalisierung von Rationalisierungsleistung, aber keinen prinzipiellen Einwand gegen interindividuelles arbiträres Engagement dritter, ob dies als Staat bezeichnet wird oder nicht, ist für das Problem als solches unerheblich.984 In der Terminologie des englischen Staatsdiskurses der 1980er Jahre ließe sich plakativ formulieren, der „enabling state“ setze den „caring state“ voraus.985 Genau diese Problemkonstellation liegt jedoch regelmäßig ethnisch oder religiös verursachten (Staatszerfalls-)Kriegen zugrunde: Diese sind ihrer Eigenart nach nicht lösbar, sondern bestenfalls durch eine überlegene dritte Macht unterdrückbar. Zumal die mittlerweile vorherrschende staatliche Handlungsform des Verfahrens hat bei hinreichendem Zeitvorrat für die Entscheidung Wirkungen, die ganz „unmittelbar der Konfliktdämpfung, der Schwächung und Zermürbung der Beteiligten“ dienen. Dadurch wird das Dilemma nicht lösbar, aber für die unterlegene Seite hinnehmbar.986 Entscheidend kann oftmals bereits eine einstweilige Verfügung wirken wie auch eine solche bewusst zu unterlassen. Insofern dürfte es ein weiteres Symptom allgemeiner Staatszurückhaltung und Vertrauens in die autopoietischen und selbstregulierenden Kräfte der Gesellschaft darstellen, dass das englische Recht das Institut der einstweiligen Verfügung nicht kennt und erst aufgrund europäischen Drucks entwickelt.987 Ein prominenter Grund für den Erfolg von Staat als Gesamtnutzenoptimierer ist allgemein darin zu finden, dass es deutlich einfacher ist, aus sozialen Dilemmata zu entkommen, bevor sich die zugespitzte Konstellation eines Gefangenendilemmas eingestellt hat, und somit das Eintreten der Gegensätze zwischen Individualinteresse und Gesamtinteresse erst gar nicht aufkommen zu lassen.988 In Analogie zu einem dictum Isensees, der dieses im Jahre 1968 gleichsam avant la lettre formuliert hat, ließe sich feststellen, dass der liberalstaatlich-kapitalistisch verfassten Gesellschaften letzter Schluss darin besteht zu erreichen, was der Kommunismus erstrebt, aber verfehlt hat: Das Absterben des Staates.989 Die Entwicklung des modernen Staates ist teils intentional als Folge selbstreferentiel984 Bei gegebener Informationsungleichheit dient der Dritte sogar dazu, den Konflikt überhaupt erst zu aktualisieren. 985 Meadowcroft 1995, 18. 986 Luhmann 1983, 4. 987 Schieren 2001, 192. 988 Dies ist auch die Quintessenz, die sich aus der Literatur zur Rechtfertigung von Kooperation ergibt, Poundstone 1993, 223. 989 Isensee 1968, 274 schreibt: „Die staatliche Tätigkeit ist stets geboten, wenn unkontrollierbare gesellschaftliche Sanktionen das staatliche Monopol unwiderstehlicher

B. Die Zähmung potentieller Allmacht des Staates

295

ler Planung von Staatsaufgaben und Staatstätigkeit zu erklären, teils emergent als Folge nicht-selbstreferentieller in Richtung des so genannten „kooperativen Staates“ ablaufender Entwicklung. Dieses Konzept, das bereits in Ansätzen der deutschen Föderalismuslehre des 19. Jahrhunderts zugrunde liegt990 und das seitdem immer wieder propagiert wird,991 begreift in letzter Konsequenz den Staat als eine Rationalisierungsfunktion, die der Gesellschaft durch eine überlegene Koordinationskompetenz ermöglicht, sich selbst zu organisieren.992 Dieses Konzept geht freilich von einer Annahme aus, die den Staat idealerweise überflüssig macht, dass sich die Gesellschaft selbst überwachen kann. Im sozialwissenschaftlichen Experiment konnte eine solche Selbststeuerung auch durch die allseitige Strategie des „tit for tat“ nachgewiesen werden.993 Diese anderen gesellschaftlichen Kräften überlegene Koordinationskompetenz liegt nicht nur in der Neutralität oder Übergeordnetheit, die den Staat idealerweise kennzeichnet, sondern auch in seinen zumeist überlegenen informationellen Dispositionsmöglichkeiten begründet: Somit kann auch in einer anonymen Assoziationsform, wie sie moderne Gesellschaften regelmäßig darstellen, ermöglicht werden, jede gesellschaftlich interagierende Person jederzeit wieder zu erkennen. Damit wird das Hauptproblem, das bei einer n-fachen Teilnehmerzahl am Spiel eines ansonsten nahezu niemals iterierbaren Gefangenendilemmas aufträte, weitgehend gelöst.994 Insofern beschreibt die Funktion des modernen Staates als Überwachungsstaat weit mehr als nur jene pejorative Ächtung durch die bürgerliche Gesellschaft, wie die (früh)liberaler Kritik vermuten lässt. Vielmehr stellt zunehmender Regulierungsbedarf eine Folge fortschreitender Differenzierung dar, wie sie wiederum nicht ohne den modernen Staat möglich wäre. Systemtheoretisch betrachtet ist dies an und für sich noch nicht zwingend Bedarf nach Hierarchisierung. Vielmehr weisen zunächst einmal die anderen Teilsysteme der Gesellschaft dem politischen System, als einem von diesen Teilsystemen, damit seine wenn auch wachsende und dringender werdende Aufgabe zu.995 Nicht zuletzt seine informationelle Überlegenheit, die eben auch maßgeblich in der Überwachungsfunktion des Staates gründet, empfiehlt den Staat und das auf ihn bezogene politische System als Spezialisten für Regulierung. Da diese Spezialistenfunktion jedoch mit zunehmender funktionaler Differenzierung

Gewalt und damit die Funktionsfähigkeit des Staates überhaupt bedrohen.“ Seinerzeit sieht er diese Gefahr noch vom Marxismus ausgehen. 990 Frantz 1879, 141. 991 Die „effektive Macht“ der „gesellschaftlichen Verbände“ zu beachten, führe dazu, so entwickelt Isensee bereits 1968, dass sich Herrschaft zu „Arrangement“ wandele. Am Ende stehe eine „Sozial-föderale Kooperation“, Isensee 1968, 216. 992 Waschkuhn 1998, 414. 993 Axelrod 2000, 124. 994 Axelrod 2000, 10. 995 Grimm 2001, 16.

296

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

der Gesellschaft schwindet, erweist sich in einer wachsenden Anzahl von Kontexten und Teilsystemen Selbstregulierung als überlegen. Diese Selbstregulierung ist aber, was häufig übersehen wird, nicht staatsbezogen, sondern eben nur selbstbezogen. Selbstregulierung verfolgt in ihrer Eigenlogik nicht absichtlich „staatlich definierte öffentliche Zwecke“ oder beabsichtigt, dem Gemeinwohl zu dienen.996 Vielmehr ist es wiederum die spezifische Funktion des Staates bzw. des politischen Systems, diese Selbstregulierung derart zu regulieren, dass sie auch solchen öffentlichen Zwecken und dem Gemeinwohl dient. Dies ist aber Ausdruck der darauf gerichteten Spezialisierung dieses Teilsystems, Gesamtnutzen, Gemeinwohl und Allgemeininteresse zu gewährleisten. Im Falle der Regulierung von Selbstregulierung bedeutet dies, Partikularinteressen nicht zu ignorieren. Dafür wären diese Interessen aufgrund der fortgeschrittenen Differenzierung zu autonom. Aber es bleibt dem Staat die Funktion, diese Partikularinteressen mit dem Allgemeininteresse zu koordinieren:997 Selbstregulierung kann aus sich heraus nicht gemeinwohlorientiert sein. Sobald dies dennoch der Fall ist, handelt es sich nicht mehr um Selbstregulierung sondern um Funktionsäquivalente zum Staat. Diese fehlende originäre Gemeinwohlorientierung lässt die zunehmende funktionale Differenzierung aber eben hierarchische Differenzierung erforderlich machen, auch wenn diese unter den Bedingungen fremdregulierter Selbstregulierung diskret und auf ihr funktionelles Minimum reduziert ist.998 Geschichte in ihrer Kontingenz folgt einmal mehr keiner Sachlogik, wenn festzustellen ist, dass bereits bevor sich das Konzept des Staates als Initiator und Koordinator gesellschaftlicher Selbstorganisation verbreitet, durchaus die gerade Umkehrung des traditionellen Verhältnisses von Staat und ihn leitender Politik auf der einen gegenüber Gesellschaft auf der anderen Seite konzipiert wird: Namentlich die elektronische Datenverarbeitung, ursprünglich als „Hilfsmittel zur besseren Erfüllung staatlicher Aufgaben“ legitimiert,999 ermöglicht ausgehend vom angelsächsischen Kulturkreis seit den 1960er Jahren auch in den kontinentaleuropäischen Staaten „Reflexionen über politische Herrschaft“,1000 die regelmäßig als Selbstreflexion von Staat und Politik betrieben das für die Moderne als solche konstitutive Merkmal der Selbstreflexion beschleunigen.1001 Jene Selbstreflexivität der Moderne bringt freilich mit sich, dass das Problem des Datenschutzes als Aktualisierung der Freiheitsrechte im Informationszeitalter nahezu 996 Schmidt-Aßmann 2001, 255. Cf. auch eine anderen Zusammenhängen gewidmete politikökonomische Analyse wie die jenige von Faust 2006, 64. 997 Cf. Hoffmann-Riem 2001, 21; 30; 33 und passim. 998 In zugespitzter Polarisierung lässt sich die staatlich regulierte partikulare Selbstregulierung mit Faust als „die Kraft, die stets das Böse will und doch das Gute schafft,“ beschreiben. 999 Bundesminister für Wissenschaftliche Forschung 1967, 77. Metzler 2002, 93. 1000 Metzler 2002, 68. 1001 Die These von der Selbstreflektivität der Moderne wird namentlich von Giddens vertreten, Giddens 1999.

B. Die Zähmung potentieller Allmacht des Staates

297

zeitgleich mit dem auf elektronischer Datenverarbeitung gestützten Konzept moderner Politik- und Staatsplanung Thema der öffentlichen Diskussion, Gegenstand der politischen Agenda und letztlich Modifikation des überwachungsstaatlichen Handelns wird.1002 Mit zunehmender funktionaler Differenzierung und politischer Pluralisierung gewinnt diejenige staatliche Organisationsleistung Bedeutung, die der Gesellschaft ermöglicht, das Gemeinwohl zu definieren und zu finden.1003 Diesem angelsächsischen Verständnis steht das namentlich für deutsches Staatsdenken kennzeichnende Postulat einer partikular- und mithin gesellschaftsunabhängigen Kompetenz des Staates zur Gemeinwohldefinition gegenüber. Auch wegen dieser definitorischen Offenheit ist die staatliche Förderung kirchlicher und anderer nichtstaatlicher Gemeinwohltätigkeit und der damit verbundenen Privilegiengewährung problematisch.1004 Wenn in der Bundesrepublik Deutschland Religionsgemeinschaften Körperschaftsstatus ohne synallagmatische Gemeinwohlverpflichtung zuerkannt wird,1005 so nützt dies auch insofern der Gesellschaft, als sie zumindest vor wirtschaftlich motiviertem und entsprechend gesteigertem Kampf der Kirchen um Anerkennung ihrer spezifisch religiösen Arbeit als gemeinwohldienlich geschützt wird: Der Verzicht auf Gegenleistung hat pazifierende Wirkung. Gesellschaftliche Selbstorganisation beschreibt das letzte Entwicklungsstadium des Konzepts moderner Staatlichkeit, bei dem der Staat nur noch reguliert und kontrolliert, aber nicht mehr regiert. Aber diese Beschränkung des Staates vermag nur Regulierungswirkung zu entfalten, wenn Intervention und mithin Interventionsfähigkeit des Staates gleichwohl möglich bleiben.1006 Staatsgewalt ist dann im Allgemeinen, gleich wie Clausewitz für das Besondere des Kriegsfalles die Waffenentscheidung definiert, dasjenige, „was die bare Zahlung für den Wechselhandel ist.“ 1007 Der Staat der bürgerlichen Gesellschaft legitimiert sich in letzter Konsequenz allein noch als Mittel, um individuellen Egoismus effizient zu optimieren. Weder er selbst noch seine Gesellschaft als Gesamtheit haben ein Eigenrecht. Dieses Staatsverständnis wird in England bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur beschrieben, sondern auch bereits gleich den heutigen organisationstheoretischen Begründungen des subsidiären und gewährleistenden Staates aus der Natur abgeleitet: Unverzichtbare Grundlage ist dafür Kommunikation zwischen den einzelnen Gliedern eines Systems.1008 Daraus leitet Spencer 1002

Metzler 2002, 93 f. Korte/Fröhlich 2004, 128 mit Äußerungen des Bundeskanzlers Schröders, die dieses Selbstverständnis erkennen lassen. 1004 Magen 2004, 16; 29; 77; 150 ff. 1005 Magen 2004, 151. 1006 Ladeur 2001, 66 geht gar davon aus, dass „ein Moment des Eingriffs“ gar nicht verzichtbar sei, cf. ibid. 60. 1007 Clausewitz 1996, 30. 1008 Spencer 1876, 22. 1003

298

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

etwa wiederum auch Aussagen ab, die unmittelbar das Subsidiaritätsprinzip als Richtschnur staatlicher Aktivität vorwegnehmen.1009 Aber auch in Deutschland finden sich bereits im 19. Jahrhundert zumindest Ansätze, Staat und seine Funktionsweise aus der Natur abzuleiten: „Diese Art von Staatspersönlichkeit ist etwas ganz anderes, als was früher etwa schon einzelne naturrechtliche Denker meinten, wenn sie eine juristische oder moralische Person des Staates oder Volkes konstruierten, – sie ist ein Lebewesen, das in all seinen Gliedern und Funktionen von Vitalität und Geist überquillt [. . .] Alles im Staate, Gesetze, Einrichtungen, Sachen, gewinnt Leben für ihn. Das ist eben das große Geheimnis von der Persönlichkeit der Besitztümer, der Gesetze, der Menschen, der Staaten und der ganzen Natur.“, wie Friedrich Meinecke in Auseinandersetzung mit dem politischen Romantiker Adam Müller schreibt.1010 1. Der Verteilerstaat Die Verteilungsfunktion des Staates deckt sich in sachlichem Vollzug und institutioneller Konkretion weithin mit seiner Eigenschaft als Steuer- und Sozialbzw. Wohlfahrtsstaat, ist aber kategorial so zu beiden disparat und teleologisch inkommensurabel wie beide selbst zu einander. Im Folgenden soll erläutert werden, was den Staat als Versicherer sozialer Risiken vom Staat als Umverteiler um der Umverteilung willen unterscheidet. Erkenntnisleitende Frage ist, ob das Ziel von Umverteilung also subsidiäre Sozialfürsorge ist oder ob er Egalisierung als eigenständiges Ziel verfolgt. Die Verwendung des Begriffs der Umverteilung gehorcht hier der Not fehlender begrifflicher Alternativen. Damit eng verbunden ist die Frage, ob dem Staat grundsätzlich alles Vermögen seiner Bürger legitim, und darüber hinausgehend, ob es ihm auch praktisch verfügbar ist: Ob er somit Vermögen zuteilt oder ob er lediglich in bestehende Vermögensverhältnisse eingreifen darf.1011 Stand beim Sozialstaat freilich Bezug nicht selbst erworbener materieller Güter im Mittelpunkt, so wird im Zusammenhang des Verteilerstaates auch das Problem des Sozialstaats wieder thematisiert. Diesmal geschieht dies aber unter der korrespondierenden Frage danach, was die Kompetenz des Staates begründet, überhaupt Privateigentum einzunehmen, das er nicht für seine eigene Existenz benötigt – und zwar nicht erst dann, wenn Egalisierung, sondern auch, wenn lediglich Fürsorge Ziel staatlichen Verhaltens ist. Warum ist es überdies rational effizient, dies durch den Staat vornehmen zu lassen? Das Spezifikum des Verteilerstaates lässt sich mit dem Paradigmenwechsel von iustitia commutativa zur iustitia (re-)distributiva fassen.1012 Seine Konkretisierung im modernen Staat westlicher Art findet die Distinktion von Sozial- und Verteilerstaat regelmä1009 1010 1011 1012

Meadowcroft 1995, 63. Meinecke 1922, 148 f. Cf. Erster Teil B. II. 1. f). Isensee 1968, 118.

B. Die Zähmung potentieller Allmacht des Staates

299

ßig auf dem Bezugsfeld von Rechts- und Sozialstaat.1013 Freilich wird in anderem Zusammenhang gerade der Rechtsstaat als Ort der austeilenden Gerechtigkeit erachtet.1014 Dies gründet nicht zuletzt in der Veränderung, die Freiheit unter den Bedingungen der Anwesenheit von Rechtsstaat erfährt, und zwar selbst dann, wenn sie als vorstaatlich gedacht wird. Denn auch dann muss auf einmal bemessen werden, was belassen wird. Freiheit selbst kann unter den Bedingungen von Staat nur als ein Gleiches konzipiert werden. Das ist sie aber nicht im vorstaatlichen Realzustand, sondern nur im Lockeschen Idealzustand. Ohnehin erledigt hat sich die Frage, wenn sie als eine sekundäre und als durch den Staat redistribuiertes Gut angesehen wird. Eine Änderung des Vermögensstandes geht zwar fast immer mit einer umverteilenden Wirkung einher, aber höchst selten beschreibt Umverteilung die offizielle Legitimation einer Steuer.1015 Da die ,natürliche‘ Verteilung jedoch fast immer gestört wird, stellt sich die Frage, inwieweit eben nicht nur sozialfürsorgerische Zuteilung, sondern je nach Standpunkt auch sozialneidische oder eben sozialgerechte Wegnahme ein Motiv staatlicher Verteilungspolitik darstellt. Inwieweit beschreibt also Ausgleich oder Gleichheit, Hilfe oder Bevormundung Motiv staatlichen Handelns: In dieser Frage liegt das Spezifische des Verteilungsbegriffes, der sich vornehmlich im Begriff der „Steuergerechtigkeit“ zu konkretisieren pflegt.1016 Im Unterschied zum Steuerstaat aber, der der Kategorie des Finanzstaates zuzuordnen ist, ist der Verteilerstaat nicht auf den Eigenbedarf des Staates gerichtet, worauf der Steuerstaat ursprünglich beschränkt ist, sondern er stellt einen eher materiell-rechtlichen Aspekt dar. Mit einem Instrument wie der progressiven Einkommenssteuer nimmt freilich auch der Steuerstaat Umverteilungsfunktionen wahr. a) Umverteilung als Wert an sich? Dass Redistribution allgemein ursprüngliches Konstituens von Staatlichkeit ist, zeigt sich freilich nicht zuletzt darin, dass schon im Häuptlingstum diese Aufgabe dem Häuptling als politischem, also für das Gemeinwohl als dem Gesamtnutzen der ihm anvertrauten Population oblag.1017 Selbst zumeist in den wirtschaftlichen Produktionsprozess eingebunden organisierte er sogar unter den überschaubaren Bedingungen seiner Herrschaft die Arbeitsteilung.1018 1013 Im Kern ist es dieses Problem, dem sich Herrmann Hellers Gesamtwerk immer wieder widmet. Als Kern sozialer Fürsorge werden dabei „sozialer Rechtsstaat“ und „soziale Demokratie“ als Garant individueller Freiheit erachtet, cf. U. K. Preuß 1995, 185; Dehnhard 1996, 6; vgl. statt vieler die bei Bäumlin 1954, 160 herausgestellten Distinkte. 1014 Günther 2004, 38. 1015 Schremmer 2001, 38; Spoerer 2004, 33. 1016 Spoerer 2004, 34. 1017 El Masry 2004, 348. 1018 El Masry 2004, 342.

300

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

Die historische Herkunft des Begriffes, die sich bis zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zurückverfolgen lässt,1019 rührt freilich daher, dass der „Sozialproduktzuwachs zunehmend in die Kompetenz des Staates fällt“, um dessen Redistribution sodann gestritten wird.1020 Ein solcher Mechanismus ist aber in einem nicht umverteilenden Staat nur sehr eingeschränkt sinnvoll. Daher impliziert er, von liberaler Seite auch als pejorativer Note verwandt, tatsächlich Verteilung. Die hiesige Begriffsverwendung ist aber mit derjenigen des zudem unscharfen politischen Diskurses der Nachkriegszeit nicht unbedingt identisch. b) Vorzüge staatlicher gegenüber marktlicher Umverteilung Dass soziale Ausgaben legitim seien, setzt der Begriff des Sozialen schon fast voraus. Staatliche (Um-)verteilung werde nicht zuletzt durch ihre Vernunftförmigkeit legitimiert:1021 Während andere, also vornehmlich marktgestützte (Um-) Verteilung, lediglich nicht-selbstreferentieller kollektiver Vernunft dienen und mithin als Voraussetzung nur als kollektiv vernünftig angenommen werden könne, könne staatliche (Um-)verteilung planmäßig erfolgen, lautet das Argument, was für staatliche (Um-)verteilung angeführt wird. Tatsächlich liegt staatlicher (Um-)verteilung bis zu einem gewissen Grade aufgrund der zentralisierenden und koordinierenden Wirkung spezifisch staatlicher Rationalisierung eine Neigung zu selbsttätig sich einstellender kollektiver Vernunft zugrunde, die in geringem Maße sogar gegen Politik immun ist. c) Das Legitimationsproblem von Egalisierung1022 Während der Sozialstaat die staatliche Neutralität nicht stört, da er lediglich Mindeststandards garantieren will, die einem Teil der Bürger durch den Erfolg

1019 Das Konzept eines „distributive state“ findet sich bereits mit einem ambivalent besetzten Werturteil in Hilaire Bellocs Monografie, The servile State, die in das Jahr 1913 datiert. Dort wird sie als Gemeinwesen beschrieben, in dem jeder lediglich über ein Minimaleinkommen verfügt und möglichst viele Individuen über eine minimale Sicherung. Diese als Rückkehr zum Naturzustand beschriebene Konzeption sei jedoch eben so wie der Kollektivismus zu verwerfen. In den 1950er Jahren wird der Begriff sodann programmatisch für die auf Konsens angewiesene Gesellschaft der Wiederaufbauzeit angewendet, Schui 1997, 9, um in den 1960er Jahren zunehmend zu einem Kampfbegriff der Vorläufer des Neoliberalismus zu werden. Seit dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme wird er jedoch auch von linker Seite als polemischer Begriff gegen die bestehende staatliche Ordnung verwandt. Gemeinsam ist diesen Konzepten, dass sie den Verteilerstaat als etwas Manipulatives erachten. 1020 Habermas 1965, 245. 1021 Waschkuhn 1998, 220 unter Berufung auf Rawls „Theorie der Gerechtigkeit“. 1022 Zum Legitimationsproblem von Gleichheit unter den Bedingungen der postkommunistischen westlichen Zivilisation allgemein: Kersting 2002, 10 und passim. Schefczyk 2003.

B. Die Zähmung potentieller Allmacht des Staates

301

anderer verschlossen bleiben, lässt sich egalisierend motivierte Umverteilung nur dann mit der arbiträren Funktion des Staates vereinbaren, wenn als allgemeines Interesse erachtet wird, die materiellen Rahmenbedingungen anzugleichen. Im Verteilerstaat geht der Sozialstaat zwar auf, aber er bleibt dennoch eine grundsätzlich andere Form von Staatlichkeit. Ist hier Gleichheit, so dort Sicherheit das dahinter stehende Staatsziel. Da finanzielle Mittel stets knapp sind, konkretisiert sich der gleichheitsorientierte Umverteilungsgedanke zumeist nicht in staatlicher Versorgung eines Teils der Bevölkerung über das selbst erwirtschaftete oder auch vom Sozialstaat gewährte Minimum, sondern vielmehr in Konzepten, wie auch immer zu definierenden Reichtum als solchen zu besteuern. Doch selbst in einem Zusammenhang von Verteilung, bei dem offen bleibt, ob Gleichheit Ziel oder Bedingung des Verteilungshandelns ist, bleibt die Gleichheit entscheidende und konfliktäre Größe.1023 Die Diskussion um eine „Millionärssteuer“ ist deutlichstes Symptom einer solchen Absicht. Daneben gibt es Besteuerungsarten, die Grenzphänomene darstellen. Faktisch sind bestimmte Arten der Kapitalertrags- und Erbschaftssteuer derart angelegt, dass sie weit überdurchschnittliche Wohlhabenheit besteuern. Da der marxistische Staat kein Verteiler-, sondern ein reiner Enteignerstaat ist, sind Beispiele in den grundsätzlich freiheitlich verfassten Gemeinwesen zu suchen. Das thatcheristische England weist Rudimente eines Verteilerstaates auf, indem es zu erheblicher Anhebung von Erbschaftssteuern griff. Auch das skandinavische Konzept, bei niedrigen Unternehmenssteuern hohe Einkommen drastisch zu besteuern, weist verteilerstaatliche Elemente auf. Eine diskretere nicht personalisierte Form stellen innerstaatliche Transferleistungen zwischen Gebietskörperschaften in dem Maße dar, als sich Entscheidungsträger durchsetzen, die diese Transfers nicht mit der Bedürftigkeit der einen, sondern damit begründen, der Wohlstand der anderen sei ungerecht. Eine Richtschnur, um Verteilung statt Bedürftigkeit als Motiv zu ermitteln, bietet der Begriff der Gerechtigkeit. Gleichwohl ist Umverteilung weder ihre eigene steuertheoretische Begründung noch regelmäßig ihre offiziell proklamierte Begründung. Diese verweist nämlich vielmehr auf die Finanzierung des Sozialstaates, wenngleich die in der Politik üblichen Begründungsformeln, die Reichen sollten den Schwächeren etwas abgeben, sich vom reinen Sozialstaatsgedanken relativ weit entfernen, denn einerseits ist relative Schwäche nicht zwingend mit Bedürftigkeit identisch und andererseits die Finanzierung des Sozialstaates nicht vornehmliche Aufgabe wie auch immer definierter Reicher, sondern aller Bürger gemäß ihrer Leistungsfähigkeit. Der Gedanke progredierender Steuern ist Ausfluss des Leistungsfähigkeitsprinzips und nicht eines etwaigen Egalisierungsprinzips. Offene Egalisierung gefährdet 1023

Isensee 1977 (a), 110.

302

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

vielmehr den Staat als solchen, nämlich als übergeordnete arbiträre Größe. Vielmehr soll die Bekämpfung materieller Not nicht neue Not erzeugen: Die Begründung des Leistungsfähigkeitsprinzips liegt in dem freilich schwierig auszumachenden Unterschied zwischen Ausgleich und Gleichmachen: Indes gibt es Stimmen, die eine „flat tax“ oder gar ein regredierendes Steuersystem als zuverlässigsten Garanten sozialen Ausgleichs ansehen.1024 Es liegt freilich in der nachgewiesenen Ausschließlichkeit verschiedener möglicher Optimierungsziele und damit einhergehender staatlicher Koordinierungsfunktionen, dass eine allgemeine Funktion sozialer Wohlfahrt nicht möglich ist. Insofern können auch Sozial- und Wohlfahrtsstaat niemals unmittelbar den Nutzen aller Individuen optimieren, wohl ist dies mittelbar durch (sozialen) Frieden möglich. Vier grundsätzlich verschiedene Bedingungen schließen sich einander aus: Zum einen ist dies die so genannte „unrestricted domain“, i. e. Addition aller möglichen individuellen Präferenzen, was nicht mit individueller Nutzenmaximierung identisch ist, zum anderen das Pareto-Prinzip, sowie zum dritten die Unabhängigkeit von unerheblichen Alternativen, i. e. Begrenzung aller individuellen Entscheidungen auf zwei Alternativen, ohne andere Alternativen bzw. Entscheidungszusammenhänge zu berücksichtigen, und schließlich Fehlen von Diktatur, i. e., dass nicht der Maßstab einer einzelnen Person allgemeinverbindlich sein darf.1025 Auffallend an den verschiedenen Konzepten von Verteilungspolitik ist die auch durchaus global orientierten gemeinsame Beschränkung auf den Nationalstaat, innerhalb derer (Um-)verteilung lokalisiert wird. Selbst Umweltpolitik konkretisiert sich in Verteilungskonflikten und ist daher auf die Durchführung des Nationalstaates angewiesen, obwohl das Eigentümliche von Umweltschäden in seiner Staatsgrenzen überschreitenden Wirkung liegt und oftmals erst dann als Phänomen manifest wird, wenn sich globale Zusammenhänge auftun (Ozonloch).1026 Ein Reflex dieses allgemeinen Gesinnungswandels mag darin zu finden sein, dass die afrikanischen Staaten statt Schuldenerlass vermehrt Schadensersatz für früheren Sklavenhandel und Völkermorde fordern. Dies stellt einen ersten Schritt zur Synallagmatisierung und mithin zur Symmetrisierung Afrikas gegenüber der westlichen Welt dar. Einer der profiliertesten Verteilungstheoretiker der Spätmoderne, John Rawls, negiert freilich, Umverteilung sei auch ein völkerrechtliches Problem.1027

1024 Auffallend ist dabei, dass mit van Parijs 2005 just ein eher als sozialdemokratisch oder sozialliberal orientierter Denker dieses Modell propagiert, während der neoklassische „Erfinder“ der „flat tax“, Milton Friedman, sein eigenes Modell zuletzt als unsozial abgelehnt hat. 1025 Arrow 1967, 215 ff.; Sen 2002, 329. 1026 Münch 1996, 10; Waschkuhn 1998, 405 f. 1027 Rawls 1996, 54.

B. Die Zähmung potentieller Allmacht des Staates

303

Operationalisierungsinstitute des Verteilungsstaates sind Grundrechte: Dass solche zumindest auch Verteilungsnormen sind, ist unumstritten.1028 d) Der arbiträre Verteilerstaat Das den Verteilerstaat über den Sozialstaat hinaus qualifizierende Spezifikum besteht nicht zuletzt darin, Entkopplung von volkswirtschaftlichem Einkommen gegenüber staatlicher Verteilung dieses volkswirtschaftlichen Gesamteinkommens zu ermöglichen, was zu optimieren eben nicht unbedingt durch Ausgaben geschehen muss. Mittel dazu ist eine Möglichkeit staatlicher Einkommensteuerung, vulgo: Wirtschaftspolitik, die nicht auf interpersonellen Vergleichen individuellen Nutzens beruht, so sie die Einkommensoptimierung der gesamten Volkswirtschaft eo ipso bewertet. Wenn alle Individuen einer gegebenen Gruppe mehr gegenüber weniger bevorzugen, so lässt sich, ohne die Nutzenwerte der Individuen zu addieren, nachweisen, dass ein größeres kollektives Gesamteinkommen einem kleineren vorzuziehen ist, da das größere in seiner späteren Verteilung dem kleineren gegenüber bei jeder Entscheidung überlegen ist.1029 Das Weiterführende an dieser vermeintlichen Binsenweisheit besteht in der Einsicht, dass eine Bewertung und mithin Entscheidungsfindung für Wirtschaftpolitik unabhängig von Partikularinteressen möglich ist.1030 Die Verteilung dieses Vermögens ist dann, wenn es die optimale Wirtschaftpolitik nicht stören soll, von politischen Zweckmäßigkeitsentscheidungen abhängig zu machen. Mehr Ungleichheit kann also unter Umständen für alle Individuen mehr Nutzen erbringen als größere Gleichheit: Zweifelsohne kann aber eine solche Steuerung mehr denn je nur durch einen arbiträren Dritten erfolgen. Denn so wie diejenigen, die sich als zurücksetzt sehen, die Wirtschaftspolitik durch ihr Egalisierungsstreben pejorisieren würden, so würden diejenigen, die sich als Stärkere sehen, ihren Nutzen soweit optimieren, dass das Gesamteinkommen ab dem Grade suboptimal bleibt, als die „Stärkeren“ vermeintlich oder tatsächlich von dessen weiterer Optimierung individuell keinen Nutzen mehr hätten. Daher birgt Übermacht von Verbänden eine der größten Gefahren für die Funktionstüchtigkeit des Staates: Sowie Sozialpolitik keine Domäne von Gewerkschaften und Kirchen ist, wenn das volkswirtschaftliche Gesamteinkommen optimiert werden soll, so ist der Zweck von Wirtschaftspolitik nicht, den Nutzen von Unternehmern und Arbeitgebern zu steigern.1031 Eine optimale Wirtschaftspolitik darf sich für Partikularinteressen 1028

Hesse 1976, 487. Kaldor 1939, 551 hat diese These erstmals systematisch und explizit dargelegt. 1030 Schefczyk 2003, 71. 1031 Dem stehen selbstverständlich die Konzepte des Verteilerstaates auf der einen wie die bereits in die 1930er-Jahre zurückgehende Konzeption des Wirtschaftsstaates auf der anderen Seite entgegen, die für eine Koalition der Ständeinteresse aber eben anfällig sind, Günther 2004, 54 f. 1029

304

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

nur streng instrumentell interessieren. Also muss der Staat traditionell über institutionelle Unabhängigkeiten verfügen, so dass der Staat als arbiträrer Dritter eine Größe für sich darstellt.1032 Im Staat der Industriegesellschaft fortgeschrittenen Stadiums oder der nachindustriellen Gesellschaft formieren sich Verteilergruppen freilich regelmäßig jenseits der überkommenen parteipolitischen Verwerfungen, was das Problem entschärft.1033 Außerdem setzt sie für staatliche Verhältnisse im Allgemeinen und für demokratisch-parlamentarische im Besonderen vergleichsweise langfristige Planung voraus.1034 Je unabhängiger sich der Staat begreift, desto effektiver ist er. Psychologisiert formuliert bedeutet dies, dass der Staat Wirtschaftslenkung frei von Gefühlen des Neides oder der Habgier ermöglicht. Das daraus zwingend folgernde Postulat einer von diesen psychologisch erklärbaren Motiven freien Wirtschaftspolitik bestätigt auf psychologischer Ebene, was auf ökonomischer ebenfalls behauptet wird, dass nämlich das Pareto-Prinzip nicht Grundlage wirtschaftspolitischer Entscheidungen in einer marktwirtschaftlichen Ordnung sein kann.1035 Die libertäre Annahme negiert das Problem des arbiträren Staates, weil sie die Möglichkeit negiert: Es gebe keinen allgemeinen Nutzen, da eine entsprechende soziale Ganzheit nicht vorzufinden sei, bedeute Umverteilung stets die Instrumentalisierung des einen zugunsten des anderen Individuums. e) Probleme der Umsetzung Wie wenig selbstverständlich diese vermeintlich einfache Einsicht ist, zeigt nicht zuletzt das Beispiel des Kommunitarismus, der Gemeinwohlorientierung ausschließlich vom Bürger aus betrachtet und den Staat kaum in seiner institutionellen Eigengesetzlichkeit berücksichtigt.1036 Elementar, um Wirtschaft gemäß dem Kaldor-Prinzip zu steuern, sind möglichst abstrakte und entpartikularisierte Daten, die Aufschluss geben, wie volkswirtschaftliches Gesamteinkommen zu erhöhen ist. Nicht zuletzt daraus erklärt sich auch der relativ hohe Verwissenschaftlichungsgrad von Wirtschaftspolitik in den modernen Staaten westlicher Provenienz. Konkretisieren lässt sich eine solche Wirtschaftspolitik regelmäßig, indem Partikularinteressen aus dem staatlichen Entscheidungsprozess herausgehalten wer1032 1033 1034 1035 1036

Frey 1993, 351. Hefeker 1996, 361. Böckenförde 1972, 430. Woll 1986, 760. Popp 1995, 58.

B. Die Zähmung potentieller Allmacht des Staates

305

den.1037 In der Praxis können historisch gewachsene Verhältnisse freilich auch für eine moderate gleichgewichtige Beteiligung von Partikularinteressen bestehen.1038 Locus classicus hierfür ist die Schweizer Gesellschaft.1039 Staaten und Gesellschaften können sich jedoch von solch partikularinklusiven Konsenssystemen zu entpartikularisierten Trennungssystemen entwickeln.1040 f) Unterscheidungskriterien Als Erprobungsmaßstab für den Unterschied von Sozialstaat und Verteilerstaat kann die Sinnhaftigkeit des Äquivalenzprinzips dienen: Zwar steht dies auch im Sozialstaat in Widerspruch zum Leistungsfähigkeitsprinzip. Dennoch kann es ordnungspolitisch sinnvoll sein, beide Prinzipien anzuwenden. Ist jedoch nicht Sozialfürsorge, sondern Umverteilung oder gar reine Wegnahme als solche das Ziel, dann wäre es absurd, das Äquivalenzprinzip anzuwenden.1041 Es sei denn, der Umverteilungseffekt sollte besonders drastisch veranschaulicht werden, um gleichsam Genugtuung und öffentliche Ächtung von Vermögen zu steigern. Darauf haben sich aber bislang sogar kommunistische Staaten nicht eingelassen. Aber auch das Steuersystem kann als Anhaltspunkt dienen. Sozialstaatlich motivierte Umverteilung wird vornehmlich untere Einkommensgruppen entlasten, statt unmittelbar oder isoliert obere Steuergruppen zu belasten. So nimmt es wenig wunder, dass bereits mit der Einführung der Sozialversicherung im Jahre 1883 der bereits im Rezessionsjahr 1873 eingeführte Steuerfreibetrag erhöht wird.1042 Es ist ebenfalls bezeichnend, dass sich danach der Junker Bismarck gegen die Einführung einer Einkommensteuer wandte, die sodann von Finanzminister Miquel 1891 eingeführt wird.1043 Im Ursprungsland der Einkommensteuer, in England, wurde diese schon wenig später als Medium kritisiert, sozialverantwortliche zu sozialneidischer Umverteilung umzuwandeln. Hugh Cecil formulierte drei begrenzende, aber zugleich legitimierende Kriterien staatlicher Umverteilung: Zum einen dürfe eine Steuer nicht zur Enteignung werden. Ohne eine Grenze, die aber naheliegenderweise spätestens bei der Hälfte erreicht sein dürfte, zu nennen, wird hiermit der Grundsatz formuliert, dass Einkommen denjenigen, die es erwerben, gehört und nicht dem 1037

Olson 1985, 308 f. Waschkuhn 1992, 30 f.; Keller 1992, 94 und 97. 1039 Katzenstein 1984, 28 f. und passim. 1040 Korte/Fröhlich 2004, 321 und 347 beschreiben für die Bundesrepublik Deutschland einen Wandel weg von partikularer Klientelpolitik hinweg zu staatlicher Zurückhaltung. 1041 Schmehl 2004, 3. 1042 Spoerer 2004, 73. 1043 Spoerer 2004, 74 f. 1038

306

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

Staat, der es etwa sodann verteile.1044 Zum anderen muss der Staat all sein erworbenes Eigentum gleichbehandeln. Darin formuliert just ein Konservativer wie Cecil die Absage an Zweckbindungen: Ist das Geld vom Staat eingenommen, ist es im Fiskus gleich. Schließlich sollten Steuern, die allgemeine Bedürfnisse befriedigen, also klassische Kollektivgüter, den Leistungsfähigeren auferlegt werden. Steuern, von denen partikulare Bedürfnisse befriedigt werden, müssten hingegen von der Allgemeinheit getragen werden. Würden etwa die Bedürfnisse der Schwächeren nur von den Wohlhabenderen bezahlt, stelle dies tatsächlich nur einen Einkommenstransfer dar.1045 Hinzuzufügen wäre, dass selbstverständlich die Schwächeren auch nicht die Interessen der Wohlhabenderen allein zu finanzieren gezwungen sein dürften. Auch aus neutraler Sicht, wie sie den Staat zum Staat macht, kann also Vermögensumverteilung um ihrer selbst willen im Hinblick auf den Gesamtnutzen zweckrational sein. Denn der Nutzen einer zusätzlichen Einkommenseinheit steigt mit sinkendem Vermögen eines Individuums. Somit wird aber auch der Gesamtnutzen optimiert, was Anliegen des Staates ist.1046 Die keynesianische Wirtschaftspolitik kalkuliert dabei Umverteilung und Egalisierung von Einkommen, die als Ziel an sich begriffen werden, als wachstumsteigerndes Moment ein.1047 Die Stabilität des Staates der Industriegesellschaft ruht demnach letztlich nicht auf der Demokratie, sondern auf der sozialen Umverteilung des Mehrwertes.1048 Allein diese garantiert den Bestand der überkommenen Eigentumsordnung. Bestand und ohnehin Effizienz des Staates werden durch Umverteilung des Privaten katalysiert und nicht durch demokratische Partizipation am Staatlichen. Seine Vollendung fände der Verteilerstaat in einer stake-holder-society. Zwar ist bislang eine solche Gesellschaft nicht realisiert worden, wenngleich die Vermögensverteilung in den USA bei deren Gründung im Jahre 1776 dem sehr nahe gekommen ist.1049 Es wird jedoch allgemein vermutet, dass eine solche Gleichverteilung von Vermögen zu größerer Unfreiheit führt als auf Dauer gestellte Umverteilungsmechanismen staatlicher oder auch gesellschaftlicher Provenienz.1050 Aber die Voraussetzung ließe sich nicht im Rahmen einer bestehenden Rechts- und Verfassungsordnung schaffen und „thus, belongs to a ,revolutionary’s handbook‘.“ 1051 Ob solche Ungleichheit in Freiheit gesellschaftlicher Stabilität 1044

Cecil 1912, 153. Cecil 1912, 152. 1046 Schefczyk 2003, 84. 1047 Schefczyk 2003, 14 ff. Noch ganz von diesem Gedanken geprägt ist Habermas 1965, 161. 1048 Forsthoff 1971, 47; ders. 1963, 219; ders. 1953, 53; Staff 1987, 154. 1049 Cohen 1978, 31 ff. 1050 Schefczyk 2003, 300 f. 1051 Sen 2002, 505. 1045

B. Die Zähmung potentieller Allmacht des Staates

307

eher dient als Unfreiheit in perpetuierter Gleichheit ist nicht ökonomisch, sondern nur kulturell und historisch zu beantworten. Es ist jedoch entgegen der heutigen Euphorie US-amerikanischer Weltherrschaft zu vermuten, dass die Welt doch nicht in Kansas City aufgeht. 2. Der Schutzstaat Schutz und Sicherheit zu gewährleisten ist bekanntlich Zweck des modernen Staates schlechthin. Die Eigenart des Staates liege darin, dass er, „um eine Definition zu geben, eine Person ist, bei der sich jeder einzelne einer großen Menge durch gegenseitigen Vertrag eines jeden mit jedem zum Autor ihrer Handlungen gemacht hat, zu dem Zweck, daß sie die Stärke und Hilfsmittel aller so, wie sie es für zweckmäßig hält, für den Frieden und die gemeinsame Verteidigung einsetzt.“ 1052

Es ist Thomas Hobbes, der in dieser Weise die Staatsaufgaben definiert, indem er den Herrschaftsvertrag erläutert. John Stuart Mill sieht sodann zwei Jahrhunderte später den „einzige[n] Grund, aus dem die Menschheit, einzeln oder vereint, sich in die Handlungsfreiheit eines ihrer Mitglieder einzumengen befugt ist,“ darin, „sich selbst zu schützen.“ 1053 Inkurs: Der Industrie-, Risiko- und Umweltstaat Der Begriff des Industriestaates, der sich in England als Bezeichnung für die ökonomische Verfasstheit einer Gesellschaft bereits im 19. Jahrhunderts explizit belegen lässt,1054 beschreibt wie derjenige des Risikostaates eine soziale Größe, während Umweltschutz in manchen westlichen Staaten inzwischen ein Staatsziel oder auch ein Staatsprinzip darstellt. Im einen Fall werden die Begriffe also rein deskriptiv verwandt, während im anderen Fall der Begriff des Umweltstaates zwar für den hiesigen Zweck auch deskriptiv verwandt wird, aber weitgehend ein normatives Staatsziel programmatisch benennt. Der Begriff des Industriestaates ist als Qualifikation der allgemeinen Schutzfunktion des Staates wiederum in erheblichem Maße disparat. Denn über das Problem des Umwelt- und Menschenschutzes hinaus bezeichnet er bestimmte Formungen, die Gesellschaft und Staat durch industrielle Erwerbsweise erfahren. Von dort ausgehend hat er sich jedoch zunehmend auch zu einem Epochenbegriff verselbstständigt. Im Phänomen des Staates der Industrie- und Risikogesellschaft manifestieren sich gleichermaßen Folgen, Ursachen und Wechselwirkungen zunehmender Kollektivierung der Daseinsformen: Der Staat erhält im Bestreben, das Gefangenendilemma zu überwinden, seine Gestalt, die sich wieder durch zahlreiche Begriffe verdichten lässt. 1052 1053 1054

Hobbes, Leviathan Kap 17. Mill 1988, 16. Mac Donald/Hardie 1899, 33.

308

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

Zunächst wird das Problem der Umweltverschmutzung lediglich als „sektorale Krise der ,Modernisierung im Selbstbezug‘“ erachtet, das am grundsätzlichen Wert von Modernisierung als definitiver Krisenüberwindung nichts ändert.1055 Erst allmählich tritt in das Bewusstsein, dass mit dem Bedarf nach Umweltschutz ein eigenständiges Dauerproblem entstanden ist, das ein eigenes neues Politikfeld erschließt und zu neuen Formen von Staatlichkeit führt. Das momentum des Risikos begründet jedoch zusammen mit der Massenerheblichkeit hochmoderner Industrien geradezu ein Einfallstor für die Politik. Im westlichen Kulturkreis begründet dies aufgrund des staatlichen Gewaltmonopols und der Staatsorientierheit von Politik verstärkte Staatstätigkeit. Loci classici dieses Zusammenhangs sind Kernenergie und toxische Stoffkreisläufe, ohne dass dieser Zusammenhang darauf beschränkt wäre.1056 Freilich sind stärkste Zweifel angezeigt, ob Gesellschaft und Staat der vorindustriellen Zeit statt an Stelle der Probleme, die im Industriezeitalter naturwissenschaftlich-technischer Fortschritt gebiert, tatsächlich von politischen Entscheidungen geleitet wurden, wie Isensee impliziert:1057 Waren es nicht vielmehr Naturgewalten, deren Unbeherrschtsein mythisch verbrämt wurde, die an der Stelle von Naturwissenschaft standen, deren Eigenmacht sich heute als Sachzwang darstellt? Das Politische ist hier nicht Gegenpol. Es ist die Massenerheblichkeit als spezifische Massenbedrohung, die die Industriegesellschaft und ihren Staat für Formen irregulärer politischer Gewalt, namentlich Terrorismus und Partisanenkrieg, so anfällig macht. Entfaltet sich dieses Risiko erst in der Gegenwart, nachdem der „kalte Krieg“ als weltweiter Konflikt klassisch-neuzeitlichen also staatsfundierten Formats beendet ist und die USA zur militärisch und wirtschaftlich weltumfassenden Hegemonialmacht herangewachsen sind, so wird diese Gefahr bereits in der Mitte des 20. Jahrhunderts von Carl Schmitt und Ernst Forsthoff als entscheidendes Risiko der modernen Industriegesellschaft prophezeit.1058 Für Schmitt ist diese Entwicklung gar Symptom einer Entstaatlichung der Welt, worin er auf eigentümliche Weise die Thesen eines so gegensätzlichen gegenwärtigen Denkers wie Erhard Eppler vorwegzunehmen scheint.1059 Der Begriff des Industriestaates bzw. des Staates der Industriegesellschaft datiert dabei auf einen älteren Zeitpunkt als denjenigen, da Umweltschutz in der Öffentlichkeit thematisiert wird, und geht auch diesen Begriffen hinaus. Vielmehr ist er nur eine notwendige Folge von mehreren Ursachen, die durch den

1055 1056 1057 1058 1059

Metzler 2002, 101. Metzler 2002, 67. Isensee 1968, 120 f. Schmitt 1995, 71 f.; Forsthoff 1971, 59 und 166; Staff 1987, 147 und 155. Schmitt 1979, 36; cf. auch Eppler 2002.

B. Die Zähmung potentieller Allmacht des Staates

309

Wandel der Agrar- zur Industriegesellschaft verursacht werden: Angenommen wird dabei, dass die Industrialisierung „immer weiter greifende Planungszusammenhänge“ erfordere. Daher bedürfe es immer weitreichenderer und umfassenderer Steuerung, um angesichts der ständig steigenden Kosten der Industrialisierung Risiken zu beherrschen:1060 Das Leben und mit ihm die Gesellschaft wird immer weiter „verplant“. Die Industriegesellschaft ist somit permanent potentieller Überdeterminiertheit ausgesetzt. Diese fortschreitende rationalisierungsbedingte Verbindung immer größerer und immer neuer Lebensbereich lässt bereits in der Hochmoderne den Bereich des Privaten auf die Familie zusammenschmelzen: 1061 somit setzt die industriellen Produktionsform bereits Entprivatisierung von Gesellschaft voraus und fördert diese weiter, was von Staat und Politik oftmals reaktiv als Veröffentlichung fortgesetzt wird. Auffallend ist, dass die sich ausdehnenden Zusammenhänge von Industrie und industriellen Gesellschaften keinesfalls derart zwingend den modernen Flächenstaat voraussetzen, wie ihn der westliche Nationalstaat der Neuzeit gleichsam als Regeltyp verkörpert. Vielmehr können zumindest agrarische Kleinstaaten in Zeiten, da die Industrialisierung weitgehend abgeschlossen zu sein scheint, diesen Prozess nachholen. Offensichtlich ist innere Stabilität des Staates entscheidender als seine Größe, um Industrialisierung zu ermöglichen.1062 Die industrielle Ressourcenbindung, namentlich von Kapital und Personal, erreicht durch ihre, vornehmlich rationalisierungsbedingte, Ressourcenkonzentration regelmäßig Dimensionen, die solche Vorgänge zu öffentlich relevanten machen,1063 weil diese Vorgänge oligo- oder monopolistisch Kollektivgüter hervorbringen, aber auch benötigen. Hierbei droht der Staat seine Funktion als übergeordneter arbiträrer Dritter zugunsten einer „Komplementärfunktion“ zu verlieren.1064 Dort, von wo die Industrialisierung ausgeht, nämlich in England wird daher bereits im 19. Jahrhundert vermutet, Industrialisierung erfordere mehr Regulierung, obwohl staatliche Zurückhaltung des laissez faire die Industrialisierung angestoßen hat.1065 Gewerbefleiß, lateinisch industria geheißen, ist dabei mehr denn je auf einen allgemeinen inneren Frieden der Gesellschaft angewiesen, wie ihn der Staat als vornehmste seiner Aufgaben gewährleistet. Industrie setzt also, um überhaupt entstehen zu können, Schutz vor jener Gesellschaft voraus, für die sie sodann 1060

Böckenförde 1976b, 424. Habermas 1965, 249. 1062 Waschkuhn 1992, 42 f. weist auf das Beispiel Lichtenstein hin. 1063 Böckenförde 1976b, 427. 1064 Böckenförde 1976b, 427 f.; Forsthoff 1971, 43 ff. 1065 Eine europaweite Übersicht derjenigen Reformen, die die Kräfte industrieller Produktionsweise seit dem Anbruch der industriellen Moderne freisetzen, findet sich bei Habermas 1965, 89 f. Das Postulat regulierenden Eingreifens findet sich namentlich bei Huxley 1894, 227. 1061

310

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

ihren Nutzen entfalten kann. Zuerst muss die entstehende Industrie vor der Gesellschaft geschützt werden, bevor die Gesellschaft vor der Industrie zu schützen ist. Dies wird bereits Jahrhunderte, bevor jene naturwissenschaftlich gestützte technische Industrie erscheint, auf die der Begriff mittlerweile verengt ist, von Hobbes erkannt.1066 Es sind daher um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vor allem die Industriegebiete, die überdurchschnittlich viele Polizeikräfte binden.1067 Die moderne Wirtschaft ist somit nicht aufgrund politischer Rahmenbedingungen, sondern gleichsam anthropologisch vorgegebener Zwänge extrem staatsabhängig. Ein hochgradig spezialisiertes und differenziertes rechtliches System wird damit in seiner Notwendigkeit für effiziente Märkte immer unverzichtbarer und vor allem unersetzbarer.1068 Die relativ schnell nach Beginn der Industrialisierung maßgeblich von Herbert Spencer in England entwickelte Annahme, der Staat verliere unter den Bedingungen einer Industriegesellschaft an Bedeutung, ist zum einen nur vor dem Hintergrund einer entsprechenden vorindustriellen Phase wie auch immer definierter starker Staatlichkeit,1069 zum anderen auch nur als deskriptive, wenn auch zeitgenössisch mit normativer Intention formulierte Theorie einer inkrementellen und nicht schon a priori selbst-referentiellen Entwicklung zu begreifen.1070 Der Umweltstaat ist ein Bereich expansiver Staatlichkeit, der sich des zumeist gerade als Mittel zur Staatsimpansion favorisierten Regulierungsstaates bedient, indem er so genannte externe Effekte, nämlich den Verbrauch von Umweltgütern, in Produktionsprozesse internalisiert und damit regelmäßig zu einem Bestandteil des langfristigen Preises werden lässt.1071 Damit wird Umwelt wiederum als staatserforderndes Kollektivgut sanktioniert. Klassisch wird der Umweltstaat freilich als Ausfluss des Schutzstaates lokalisiert.1072 Schutz gegen nicht individuelle entpersönlichte Gefahren „höherer Gewalt“ sind freilich kein neuer Aspekt staatlicher Schutzaufgaben: Seuchenpolizei und Katastrophenschutz stellen klassische, noch nicht einmal auf die Moderne beschränkte1073 öffentliche Aufgaben dar. Hierbei wehrt Staat gleichermaßen akute wie latente Gefahren ab. Daher überschneiden sich die Aspekte des Risikound Umweltstaates auch mit dem Vorsorgestaat. Da akute Umweltverschmutzun1066 „In such condition, there is no place for industry.“, sagt Hobbes, Leviathan Kap 13 über den Naturzustand. 1067 von Unruh 1965, 449. 1068 North 1986, 236. 1069 Spencer 1874, 142 f. 1070 Spencer 1874, 386. 1071 Forsthoff 1971, 74; 78 bis 80; 159; 164 f. 1072 Peter Tobias Stoll 2003. 1073 Zu Begriff und Sache der Katastrophe als politisch erheblichem Großschadensfall: Clausen/Dombrowsky 1987. Ferner: Dombrowsky 2004, 165–183; Clausen/Geenen/Macamo 2004.

B. Die Zähmung potentieller Allmacht des Staates

311

gen bereits mit dem überkommenen Staatsverständnis und seinem Instrumentarium abzuwehren sind, hat der Umweltstaat als Vorsorgestaat die Dimension der Zukunft als Kategorie staatlichen Handelns vertieft.1074 Merkmal der Industriegesellschaft bleibt freilich weiterhin, möglicherweise sogar gegenüber vorindustriellen subsistenzwirtschaftlich und rentenkapitalistisch verfassten Gesellschaften verstärkt auf materiell-energetischen Vorgängen zu beruhen. Merkmal der Dienstleistungsgesellschaft ist demgegenüber die Gestaltung von Netzwerken.1075 Ist Netze zu betreiben gleichsam Konsequenz dessen, was die Industriegesellschaft hervorbringt, so wird auch verständlich, warum der Gewährleistungs- und Regulierungsstaat der Gegenwart prominentes Merkmal der postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft ist: Da es sich bei Netzen regelmäßig um massenerhebliche Kollektivgüter handelt, liegt hierin mehr denn je Grund und Begründung gegenwärtiger Staatlichkeit. Diese zurückhaltende Definition von Staatlichkeit ist freilich ebenfalls als Möglichkeit bereits im Staat der Industriegesellschaft angelegt.1076 Der These einer „Entpolitisierung durch Verwissenschaftlichung“, wie sie des weiteren als kennzeichnend für den „Industriestaat“ augewiesen wird,1077 gegenüber lässt sich aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive, die durch Historisierung des hochmodernen Industriestaates mittlerweile eine abgekühlte Betrachtung gestattet, entgegenhalten, dass zwar sehr wohl eine „Politisierung der Technik“ festzustellen ist, „ohne daß damit freilich auch eine Technisierung des Politischen einhergegangen wäre.“ 1078 Möglicherweise verbirgt sich hinter dieser vermeintlichen „Entideologisierung“ des Industriestaates auch nur eine erdrückende Besetzung und Dominanz der Verarbeitungskapazität politischer Systeme durch die Probleme industriell geprägter Gesellschaften.1079 Es liegt in der Metamorphosität des Politischen begründet, dass es im eigentlichen Sinne gar nicht zu einer wirklichen Entideologisierung kommen kann. Wohl ursprünglich als in seiner Biografie begründete Verlegenheitstheorie entstanden, stellt Forsthoff die These auf, die Industrie selbst habe diejenige steuernde und regulierende Gesellschaftsfunktion übernommen, die zuvor der Führerstaat erfüllt habe. So unglücklich die Entstehungsumstände dieser Aussage sind, entdeckt sie möglicherweise eine tatsächliche Folge von Industrialisierung, nämlich deren gleichsam alldeterminierende Wirkung auf 1074

Isensee 1988 § 27, 25. Herrmann-Pillath 2002, 182. 1076 Forsthoff 1971, 151. 1077 Böckenförde 1964, 250 und 256 f.; Metzler 2002, 84. 1078 Staff 1987, 142; Metzler 2002, 66, die 84 auch Böckenfördes Behauptung einer Entpolitisierung durch Verwissenschaftlichung historisiert und mithin relativiert. 1079 Forsthoff 1962, 396. Zur „Entideologisierung“ als allgemeiner Befindlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland der 1960er Jahre cf. Günther 2004, 285. 1075

312

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

den Staat. Die Verobjektivierung des Individuums zum Gegenstand der Vernichtung unter dem Eindruck zunehmend abstrahierter und rationalisierter Strategie und Taktik der Kriegführung mit Massenvernichtungswaffen industrieller Provenienz führt gleichsam zu einem sekundären Ideologiebedarf, wie sich namentlich in der westlichen Welt zu Beginn der 1980er Jahre zeigt.1080 Diese grundsätzliche Drift, das Politische zu „entideologisieren“, bleibt auch für die Parteiendemokratie und den entstehenden Parteienstaat nicht ohne Folgen: Es korrespondiert mit dem gewandelten Charakter einer Industriegesellschaft ein Wandel von Weltanschauungs- zu „catch-all“-Parteien, wie ihn Otto Kirchheimer für die Nachkriegszeit diagnostiziert.1081 Diesem Parteienbegriff liegt ein Verständnis von „Demokratie als Methode“ zugrunde, derzufolge Demokratie von den politischen Akteuren als Konkurrenz um Führung und nicht um Weltanschauung oder grundsätzliche Systemrevision aufgefasst wird.1082 Demgegenüber ist freilich zu bedenken, dass erst die Industriegesellschaft Pluralität insoweit ermöglicht, als sie an materielle Voraussetzungen gebunden ist.1083 Aber auch die Gesellschaft muss in Gestalt des Einzelnen vor den Folgen der Industrialisierung, namentlich derjenigen des Erwerbslebens geschützt werden: Denn Arbeit wird weitgehend zu abhängiger Erwerbstätigkeit, ohne jedoch aufgrund der notwendigen Anpassungsflexibilität der Industrie an Markt und Technik sowie der unvermeidbaren Standardisierung und Typisierung, Egalisierung und Anonymisierung der Arbeitsverhältnisse jenen paternalistischen Schutz zu bieten, wie er etwa dem Synallagma des Lehnswesens zu eigen war. Nicht zuletzt die Arbeitsteiligkeit begünstigt, dass sich neben den angeborenen und frühkindlich erworbenen privaten Identitäten so genannte Arbeitsplatzidentitäten herausbilden, was Industrialisierung, wenn nicht überhaupt ermöglicht, so doch zumindest erheblich begünstigt. Kulturen, in denen solche professionellen Identitäten traditionell stark ausgeprägt sind, erleichtern jedenfalls Industrialisierung. Damit wird nicht nur seit Max Weber der Ursprung von Kapitalismus und Industrialisierung in der westlichen Welt, sondern auch deren schnelle Adaption in Ostasien während des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts erklärt.1084 Wo Berufsethos Teil persönlicher Identität und gesellschaftlichen Status ist, kann auf Überwachungs- und Sanktionsmaßnahmen verzichtet werden, während diese in Gesellschaften, in denen Arbeit weniger identitätsstiftend ist, noch nicht ein1080

Staff 1987, 146. Kirchheimer 1965, 20 ff. 1082 Schumpeter 1980, 478 und passim. 1083 Günther 2004, 11. 1084 Max Weber 1996; ders. 1989. Die Skepsis, moderne Industriegesellschaften und ihre Staaten über den protestantischen Glauben zu erklären, ist freilich annähernd so alt wie die Theorien Webers, cf. Heller 1983, 120. 1081

B. Die Zähmung potentieller Allmacht des Staates

313

mal die Wirkung jener ethisch verpflichtend wirkenden Identitätsbildung erreichen.1085 Die Industriegesellschaft lässt aufgrund voranschreitender Arbeitsteiligkeit Konsumenten und Produzenten auseinander fallen. Das Individuum ist nicht nur in seiner beruflichen Erwerbstätigkeit, die ihn in der Industriegesellschaft als Arbeit-Nehmer kennzeichnet, sondern auch als Konsument von ihm nicht beeinflussbarer Kollektivgüterwährleistung abhängig. Dies eröffnet Freiheitschancen und Abhängigkeitsgefahren gleichermaßen: Private Substistenzwirtschaft kann durch öffentliche Daseinsvorsorge abgelöst werden, aber individuelle Autonomie kann auch durch mannigfaltige Heteronomien abgelöst werden. Eine noch skeptischere Diagnose stellt Isensee der modernen Industriegesellschaft: „Die Verfügungsgewalt über die Mittel der Daseinsvorsorge“ sei „den gesellschaftlichen Mächten ebenso entglitten wie vorher den Individuen.“ 1086 Dies beurteilen gegenwärtig wissenschaftliche Theorie und politische Programmatik des Staates wieder optimistischer. Der Grund liegt freilich darin, dass nunmehr dem Staat als dritter Macht seine Mittel zwar nicht aus der Hand geglitten sind, aber Daseinsvorsorge als deren Zweck über den Kopf gewachsen ist. Staatliche Steuerung kann sich nicht mehr über die direkten Mittel der Daseinsvorsorge herstellen, wohl aber über die Schlüssel zu diesen Mitteln. Bedingt durch Arbeitsteiligkeit und Desintegration überkommener Sozialordnung schlägt mit der Industrialisierung die Stunde des Sozial- und Wohlfahrtsstaates.1087 Die zunehmende Akkumulierung und Verflechtung menschlicher und materieller Ressourcen birgt ein Risikopotential, das vor allem in England schon früh als Herausforderung für den Staat erkannt wird.1088 In Deutschland stellt sich diese Entwicklung eher als eine Entfremdung von politischer Verfassung gegenüber gesellschaftlicher Verfasstheit dar: Friedrich Naumann beschreibt aber im Grunde dasselbe Problem, wenn er das ursprünglich von Lorenz von Stein entwickelte Konzept des sozialen Kaisertums dahingehend entwirft, der Kaiser müsse zur Integrationsfigur sich zunehmend auseinander entwickelnder Interessen eines wohlhabender werdenden Bürgertums als kapitalistischer Industriebetreiber sowie einer zunehmend emanzipierten Arbeiterschaft werden.1089 Die Industriegesellschaft löst aus, was die Dienstleistungsgesellschaft weiter zunehmen lässt: Nämlich eine neuartige soziale Unsicherheit, deren Ursachen nicht mehr in 1085

Draht 1966, 278; Fukuyama 2004, 98. So ist noch in seiner im Jahre 1968 veröffentlichten Dissertation nachzulesen, Isensee 1968, 117. 1087 Isensee 1968, 116. Das Phänomen sozialer Not aus zunehmender Arbeitsteiligkeit, Landflucht und sozialer Desintegration zeigt sich bereits an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, Ritter 1991, 33. 1088 Hobson 1901. 1089 Naumann 1905; zum sozialen Kaisertum: Fehrenbach 1969, 184 ff.; Ritter 1991, 74; Hildebrand 2005, 779 (780). 1086

314

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

wirtschaftsexogenen Faktoren wie Alter und Krankheit begründet liegen, sondern vielmehr endogen verursacht werden durch Unsicherheiten der Humankapitalmärkte.1090 Zeichnet sich der Sozialstaat der Industriegesellschaft durch seine Verstetigung aus, da er ja gerade Wohlstand und Sicherheit der Individuen von konjunkturellen Schwankungen unabhängig machen soll, so stellt sich mit dem schleichenden Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft, von der modernen zur postmodernen Epoche, die Frage danach, ob gerade die Verstetigung sozialer Sicherungssysteme nicht dasjenige Element darstellt, das Konjunktur dauerhaft hemmt.1091 Was sich für die Sozialgesetzgebung als Problem an der Schwelle der Industrie- zur wissensbasierten Dienstleistungsgesellschaft stellt, betrifft das Gesetz als Herrschaftsmittel und nicht zuletzt als (Vervielfältigungs-)Medium allgemein und bereits beim Wandel der Agrar- zur Industriegesellschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Es ist auch damals eine exponentielle Zunahme ökonomischer, sozialer und allgemein zivilisatorischer Differenzierung und eine Zunahme von Kommunikation und mithin eine plötzliche Vervielfältigung sozialer Austauschund Kontaktsituationen, die das Gesetz als zeitlosen Wächter der ratio zu einem altmodischen Traditionalismus werden lässt.1092 „Technisierung, Industrialisierung und Vermassung“ ließen das Gesetz damals von „einer Bewusstseinsgröße [. . .] zur Verkörperung gesellschaftlich-kollektiver Bedarfsdisposition im Rahmen eines automatisch, eigengesetzlich ablaufenden Bedarfsdeckungsprozesses“ werden, wie Bäumlin unter Rückgriff auf eine Analyse Maiwalds über „Recht als Funktion gesellschaftlicher Prozesse“ feststellt.1093 Bei aller Vorsicht, Begründungszusammenhänge anzunehmen, wo sich sicher zunächst nur eine Koinzidenz feststellen lässt, kann auch Luhmann als Gewährsmann für diese Annahme herangezogen werden, der „eine Verschiebung des Autonomiebereiches vom Recht zu den Tatsachen hin“ vermutet.1094 Das Gesetz hat unter den Bedingungen der Industriegesellschaft an Präzision gewonnen, wie Luhmann feststellt.1095 Ursächlich dafür ist jedoch, wie Bäumlin wiederum diagnostiziert, dass das Gesetz noch nicht einmal „Planungsgesetz, sondern bloße Registration, Äußerung der sich von der menschlichen Beherrschung loslösenden Kräfte des Faktischen“ geworden sei.1096 Da soziale Sicherheit sowohl unmittelbar industrieller Provenienz in Gestalt sich absolut erhöhender und relativ egalisierender Einkommen als auch mittelbar 1090 1091 1092 1093 1094 1095 1096

Schefczyk 2003, 281. Schefczyk 2003, 20. Stolleis 2004, 62. Bäumlin 1954, 60; Maiwald 1952, 65 (zit. nach Bäumlin). Luhmann 1983, 73. Luhmann 1983, 73. Bäumlin 1954, 60.

B. Die Zähmung potentieller Allmacht des Staates

315

durch staatliche Sozialleistungen von industrieller Produktion abhängt, zeichnet sich von Beginn derjenigen Krise an, die den Übergang von der Industrie zur postindustriellen wissensbasierten Dienstleistungsgesellschaft begleitet, ein Konflikt zwischen sozialer Sicherheit und Vollbeschäftigung einerseits und von Umweltschutz andererseits ab; scheinbar unweigerlich hemmt Umweltschutz auf industrieller Produktion basierendes Wirtschaftswachstum:1097 Die Unvereinbarkeit von sozialverträglicher Vollbeschäftigung und umweltschonender Industrie stellt gegenwärtig wohl eines der wenigen Tabus in der Bundesrepublik Deutschland dar, worin sie von anderen Gemeinwesen abweicht, die teils stillschweigend, teils ausdrücklich beide Ziele relativiert haben. Planung wird unter den Bedingungen einer Industriegesellschaft gleichermaßen möglich wie notwendig.1098 Planung ist Technik aufgrund ihrer binären Eigenart gleichsam inhärent. Da sie Probleme nicht nur zu bewältigen, sondern zu lösen den Anschein erweckt und neue technikförmige Probleme hervorbringt, eignet ihr eine Tendenz zu gleichsam selbsttätiger Ausdehnung in immer weitere Lebensbereiche, der bislang nur der moderne Staat als Rationalisierungsmodus gewachsen zu sein scheint und der Technik daher nahezu unweigerlich folgt. Technik kann alle Probleme lösen und wird damit zur Ursache aller Probleme:1099 Somit erreichen die Staaten der westlichen Industriegesellschaften in den 1960er Jahren einen Planungsgrad, der zunehmend Flexibilität und Anpassungsfähigkeit dieser Staaten und ihrer Gesellschaften einengt. Als der Wandel zur wissensbasierten Dienstleistungsgesellschaft in Gestalt der großen Krise in den 1970er Jahren durchbricht, reagieren die Staaten entsprechend strukturkonservativ.1100 Eine ähnliche Entwicklung sozialer Sicherung zeichnet sich jedoch auch im privaten Bereich ab: Nachdem die Industrialisierung mit zunehmender Standardisierung von Verträgen entsprechend der industriellen und mithin seriellen Organisation aller wirtschaftlich bedeutsamen Handlungen eines Unternehmens einhergegangen ist, ermöglicht das Aufkommen des Kollektiven Arbeitsrechtes, was im Flächentarifvertrag eine seiner signifikantesten Ausprägungen findet, eine Stärkung des ökonomisch schwächeren Vertragspartners.1101 Sowohl die mit dem Ende der klassischen Industriegesellschaft zunehmende Kurztaktigkeit der so genannten „Innovationszyklen“ als auch die seit den 1970er Jahren nochmals 1097

Kielmansegg 1981, 80 f. Zu den staatsrechtlichen Reflexen der optimistischen Planungsphase der 1960er Jahre für die Bundesrepublik Deutschland, cf. Günther 2004, 291 und ihren frühen Skeptikern 317. 1099 Forsthoff 1963 (b), 10. 1100 Eine neuere ökonomische Diagnose dieses strukturkonservativen Planungsverhaltenes bietet Schefczyk 2003, 281. Cf. aus politischer Perspektive auch Hildebrand 2003, 325 ff. 1101 Habermas 1965, 166 unter Rückgriff auf Simitis 1958. 1098

316

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

schlagartig beschleunigte funktionelle Differenzierung ist zur Entwicklung des Vertragsrechtes in Widerspruch geraten, das namentlich im Arbeitsrecht, hin zu immer dauerhafter verstetigten und für immer größere Kollektive vereinbarten Standardisierungen geführt hat. Auffallend ist, dass sich am Beispiel des noch immer andauernden Übergangs in das postindustrielle Zeitalter, einmal mehr widerlegen lässt, solche Übergangsphasen, seien auch durch eine verstärkte soziale Interessenorganisation gekennzeichnet. Ähnlich wie im Anfangsstadium der industriellen Gesellschaft und in der Krise ihres Höhepunktes in den 1930er Jahren ist seit den späten 1970er Jahren ein allmählich einsetzender Organisationsrückgang zu beobachten,1102 der zunächst in der angelsächsischen Welt einsetzt und sodann auf Kontinentaleuropa übergreift. 3. Der Regulierungsstaat Der „regulatory state“ bezeichnet ein Staatskonzept, das es in seiner spezifischen Form nur im angelsächsischen Kulturkreis gibt und das sich in Kontinentaleuropa teilweise mit anderen Staatskonzepten überschneidet, wie etwa dem deutschen Gewährleistungsstaat,1103 ohne jedoch mit diesen Konzepten identisch zu sein. Ob staatliche Regulierung tatsächlich immer Marktversagen oder Marktfehler korrigiert, ist mittlerweile in einem solchen Maß umstritten, dass ihre Funktionalität wie ihre Dysfunktionalität als Marktregulierung zu behaupten locus communis geworden ist. Wird Pareto-Optimalität als Ziel der Wohlfahrtsfunktion von Markt erachtet, dann lässt sich tatsächlich staatliche Normierung nur als ausschließlich stabilisierend, nicht jedoch als ausschließlich korrigierend rechtfertigen.1104 Ein abstrakterer Gemeinwohl- und Staatsbegriff, wie ihn Kaldor modelliert hat und wie er kontinentaleuropäischem Selbstverständnis des Staates näher ist, kann sehr wohl ein Normsystem darauf ausrichten, ausschließlich korrigierend einen abstrakten Gesamtnutzen zu optimieren. Dieser muss nicht Paretooptimal sein, wie die Lehre von der ragione di stato am eindrucksvollsten veranschaulicht. „It is one which attaches relatively more importance to process of regulation than to other means of policy-making. The regulatory state is a rule-making state“, definieren MacGowan und Wallace in ihrem anerkannten zum regulatory state verfassten Aufsatz gänzlich deskriptiv, mahnen aber, dass „it is tempting to conclude that it is therefore equivalent to a minimal or ,night-watchman‘ state, although we should re1102 Dies bestätigt Olsons Skepsis gegenüber den modernen Theorien der pressure groups, Olson 1998, 121 f. 1103 Berg et al. 2001. 1104 Elster 1988, 357.

B. Die Zähmung potentieller Allmacht des Staates

317

call not only that the scope of its watch can be quite large, but that other policy approaches may also be adopted.“ Damit orten sie das Konzept des regulatory state wiederum in der Nähe des „providing state“, der tatsächlich eine mögliche Weiterentwicklung des regulatory state darstellt.1105

Der „regulatory state“ formiert sich bereits, nachdem sich in England in den Jahrzehnten zwischen 1820 und 1860 stark fragmentiert und lokal oft monopolisierend Eisenbahn-, Telegraphen-, Gas- und Wasserunternehmen gebildet haben, die lediglich durch Parlamentsverträge begründet,1106 einem geringen Maß an staatlicher Einflussnahme unterliegen. Diese Situation führt zu teilweise erheblichen Verschlechterungen bzw. suboptimaler Versorgung mit den über diese Systeme gewährten Kollektivgütern.1107 Die entscheidungstheoretische Erklärung eines regulierenden Staates verdeutlicht zugleich sein Dilemma: Auch wenn die Binarität von Entscheidungen aufgehoben wird, erhält sich die arbiträre Eigenschaft der Macht, obwohl in multiplen Entscheidungssituationen eine allen Optionen gleich distante Position nicht möglich ist.1108 Im idealtypischen Regulierungsstaat fungiert der Regulator, also der Staat, als „unparteiische[r] und effiziente[r] Verwalter einer relationalen Vertragsbeziehung (Relation no Contract) zwischen Käufer und Verkäufer auf Märkten, die durch Unsicherheit und hohe Kapitalinvestition geprägt sind“.1109 Märkte kapitalintensiver Güter, die zudem unsicher sind, vermögen sich zumeist nicht selbstständig aufrechtzuerhalten: Staat und Markt sind also nicht gegensätzlich, sondern verschränkt. 4. Der Gewährleistungsstaat1110 Das Problem, was den Gewährleistungsstaat erforderlich werden lässt, besteht darin, dass Kollektivgütermärkte ihrer Eigenart nach durch eine Ungleichheit von Anbietern und Abnehmern gekennzeichnet sind: „Die kollektive Wirkungseinheit wird weder durch die Kategorie des einigenden Zusammenschlusses noch durch die der Ordnung konstituiert, sondern durch die Kategorie der kollektiven Entscheidungs- und Aktionsfähigkeit,“ 1111 wie bereits Hermann Heller erkannte. 1105

McGowan/Wallace 1996, 563. Vom Parlament bestätigte, mit privaten Vertragspartnern abgeschlossene Verträge, die für ihren Geltungsbereich Gesetze teilweise außer Kraft setzen und daher parlamentspflichtig sind. 1107 Ruge 2004, 255. 1108 Blair/Pollak 1982; Suzumura 1983; Sen 1986; ders. 2002, 269. 1109 Boudreaux/Ekelund jr. 1987, 552. 1110 Zum Konzept des Gewährleistungsstaates als deutscher zum angelsächsischen regulatory state angelegter Entsprechung insgesamt: Berg et al. 2001 und Ruge 2004. 1111 Heller 1983, 102. 1106

318

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

Gewährleistung im Sinne einer Garantie von Rahmenbedingungen und Voraussetzungen individueller Freiheitsentfaltung ist ureigenster Grund von Staatlichkeit überhaupt. Den Staat darauf zu beschränken, dass er Produktionsbedingungen für das Wirtschaften der Gesellschaft zur Verfügung stellt, datiert schon in das alte Ägypten.1112 Was die Gewährleistungsverantwortung als Terminus, mit dem das angelsächsische Konzept des „regulatory state“ in akkulturierter Form in das deutsche Staatsrecht übertragen wird, gegenüber dem bis dato ausschließlich anzutreffenden Konzept der Erfüllungsverantwortung unterscheidet, ist das Fehlen einer zwingenden unmittelbaren Aktivität des Staates, vermittels derer er die von ihm gewährleisteten Güter produziert.1113 Der Begriff des Gewährleistungsstaates ist freilich noch weitgehend leer:1114 Diese relative rechtsdogmatische Armut und praktische Unerfahrenheit beruht nicht zuletzt darauf, dass in der Bundesrepublik Deutschland etwa Umfang und Geltung der Verfassung noch lange umstritten geblieben sind, nachdem sich die jahrzehntelange Diskussion um das Verhältnis von Staat und Gesellschaft in den 1960er Jahren beruhigt hatte. Im Kern geht es dabei bis heute um das Freiheitsverständnis.1115 Der Gewährleistungsstaat ist daher immer noch auf einen mittleren Grad an staatlicher Verantwortung gegenüber einer reinen Auffangverantwortung anzusiedeln.1116 Zugleich kann alle künftige Rationalisierung von Staat bis hin zum Entwurf des Äquivalenzprinzips in der Gegenwart ipso facto nur dazu dienen, Gewährleistung von Kollektivgütern zu optimieren.1117 Gewährleistungsverantwortung ist somit auch Grundlage von Erfüllungsverantwortung. Erfüllungsverantwortung ist zwar als Begriff älter, stellt aber gleichwohl eine qualifizierte Form von Gewährleistungsverantwortung dar. Gewährleistungsverantwortung umfasst nur noch die Kerne staatlicher Pflichten in Bereichen, aus denen sich der Staat als aktiver Produzent von Gütern zurückgezogen hat.1118 Als staatliche Aufgabe entstehen nun aber Kontrolle, Information und Ausgleich. In England baut aufgrund der Parlamentsallmacht in der Gegenwart die entschiedene Privatisierung, Deregulierung und Liberalisierung vor allem des Kollektivgüter produzierenden Teils der Wirtschaft auf ganz anderen Voraussetzungen auf als in Kontinentaleuropa: Zum einen kann das Parlament theoretisch unbegrenzt, faktisch zumindest in stärkerem Maße als kontinentaleuropäische oder US-amerikanische Legislative in private Eigentumsverhältnisse eingreifen, da es Grundrechte als negatorische Abwehrrechte des einzelnen gegen den Staat nicht gibt, sondern lediglich als allgemeines common law. In England muss aber zum anderen des1112 1113 1114 1115 1116 1117 1118

El Masry 2004, 282. Ruge 2004, 21 und 175. Ruge 2004, 21 und Berg et al. 2001. Die strittigen Punkte sind bei Günther 2004, 318 zusammengestellt. Ruge 2004, 136. Schmehl 2004, 62. Ruge 2004, 247.

B. Die Zähmung potentieller Allmacht des Staates

319

wegen nicht erst eine (mittelbare) Drittwirkung der Grundrechte konstruiert werden, damit die öffentliche Gewalt gegen Bedrohung von Grundrechten durch Private einschreiten kann.1119 Die Steuerungs- und Kontrollmöglichkeiten des Parlaments und damit einer unmittelbar demokratisch vom Volk gewählten Institution sind deutlich weitgehender als in anderen Ländern. Dass dies nicht graue Theorie beschreibt, verdeutlichen nicht zuletzt rigorose Wellen von Verstaatlichung, wie sie die britische Zeitgeschichte aufweist. Die Motivation des Thatcherimus war gerade nicht, eine faktische Einschränkung von Grundrechten durch Privatisierung, Liberalisierung und Deregulierung herbeizuführen, sondern durch diese Mittel die Freiheit von einem aktuell übermächtig gewordenen Staat wiederherzustellen, wie ihn bislang nur der Parlamentsabsolutismus ermöglicht und womöglich auch nur diese Staatsform ermöglichen kann.1120 Der Gewährleistungsstaat trägt die Verantwortung für die Versorgung seiner Bevölkerung mit Kollektivgütern der so genannten Daseinsvorsorge. Hierzu zählen insbesondere von der Europäischen Union als Universaldienste bezeichnete Dienstleistungen, was immer Aufrechterhaltung von Netzen kennzeichnet – Fernmeldenetzen, (Bahn-)verkehrsnetzen, Stromnetzen, flächendeckende Postzustellung, aber auch Straßennetz, leitungsgebundene Wasserversorgung, Gas und andere so genannte „natürliche Monopole“.1121 Für solche Monopole, die zur Effektivität bzw. zur Zweckerfüllung des entsprechenden Netzes überhaupt erforderlich sind, wurde in den USA von der Telefongesellschaft AT & T zu Beginn des 20. Jahrhundert der Begriff des Universaldienstes gebildet: Er bezeichnet ein zur Wertsteigerung bzw. zur Zweckerfüllung überhaupt notwendiges Monopol, das dementsprechend auch staatlicher Regulierung unterliegt.1122 Diesen Zustand hat die Europäische Union jedoch erst erreichen wollen, als sie den Begriff eingeführt hat – nicht zuletzt, um einen europäischen Standard in einigen Mitgliedsländern überhaupt erst zu schaffen. Die Kommission betont die Gemeinwohlorientierung, die der Bereitstellung entsprechender Güter zu Eigen ist.1123 Infrastrukturverantwortung wird hierbei freilich nicht zuletzt als notwendiges Mittel angesehen, um die Einheit des Staates zu wahren, die im modernen 1119

Ruge 2004, 277 f. Geppert 2003, 71, der als Beispiel dafür u. a. den Verkauf von Sozialwohnungen an ihre Mieter zu sozialverträglichen Preisen schildert. 1121 „Der Begriff der staatlichen Gewährleistungsverantwortung besagt in diesem Zusammenhang in normativer Hinsicht, dass trotz einer Politik des Rückzugs staatlicher Aktivität eine staatliche Verpflichtung verbleibt, einen Rahmen bereitzustellen, der eine effektive Erfüllung der jeweiligen Aufgabe auch durch Private möglich macht. Dabei gilt es in erster Linie, in den Bereichen der Daseinsvorsorge eine Grundversorgung sicherzustellen“, Ruge 2004, 247. 1122 Ruge 2004, 85 f. 1123 Ruge 2004, 88. 1120

320

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

Staat maßgeblich auf der Funktionstüchtigkeit von Netzwerken beruht.1124 Aus der „staatszentrierten Gesellschaft“ wird der gesellschaftszentrierte Staat, wie ihn das Ideal des kooperativen Staates verkörpert.1125 Der Gewährleistungsstaat als Konzept ergänzt vielerorts eine Form gleichsam staatskapitalistischen Wirtschaftens. Nicht zuletzt weil bei dieser Wirtschaftsform bereits versucht wird, soziale Sicherheit staatlicher Bereitstellung von Kollektivgütern der Daseinsvorsorge mit der Effizienz kapitalistischer Wirtschaftsprinzipien zu verbinden, so wird diese staatswirtschaftliche Form der Daseinsvorsorge jedoch nur allmählich abgelöst, wo sie einmal herrscht.1126 Die Gewährleistung öffentlichen Zugangs zu privaten Monopolleistungen hat im angelsächsischen Raum eine lange Tradition. Bereits im 17. Jahrhundert entwickelt der Rechtsgelehrte Hale ein Prinzip offenen Zugangs zu quasi-monopolistischen Einrichtungen, wodurch die Öffentlichkeit vor überzogenen Preisen geschützt werden soll. Kriterium ist, dass es sich bei der zugrunde liegenden Leistung um ein „business affected with a public interest“ handelt.1127 Wo solch natürlichen Monopole vorliegen, ist keinesfalls erwiesen, dass deren unmittelbare staatliche Aneignung nicht günstiger sei als deren regulierte Privatisierung.1128 Staatliche Verantwortung zu reduzieren liegt darüber hinaus auch in der Eigenart des politischen Systems parlamentarischer Demokratie rechtsstaatlicher Prägung begründet, zumindest unter den Bedingungen, wie sie sich im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts eingestellt haben: Sollte sich der Gewährleistungs- und Auffangstaat dabei verstärkt auf finalprogrammierte Normen zurückziehen, könnte dies tatsächlich Zeichen rückläufiger, ja erodierender Staatlichkeit sein. Normen können entsprechend eines sich verfestigenden Machtgleichgewichtes und gegenseitiger Verständnislosigkeit als „dilatorische Formelkompromisse“ auftreten, dienen aber auch der initiierenden Regierung dazu, ihre Handlungsfreiheit weniger einzuschränken als sie sich offen zu halten. Die Europäische Union ist für beide Möglichkeiten anschauliches Paradigma. Mit voranschreitender funktionaler Differenzierung erhöht sich aber die Wahrscheinlichkeit, dass eine wirtschaftliche Nutzenfunktion monopolisiert wird. Da die dem Staat verbliebenen regulierenden Aufgaben weitgehend präventives Handeln darstellen, ist auch diese Regulierung gefährdet, weil ihr Nutzen sich dem Individuum nicht erschließt: Anliegen des regulierenden Staates ist gerade, Nachteile im Potentialis zu lassen. Unter den Bedingungen der Demokratie können langfristig Nutzenfunktionen staatlicher Regulierung von der Politik fast 1124

Hermes 1998, 324; Ruge 2004, 173 f. Hobe 1998 (a), 522; Hobe 1998 (b), 137; Kirchhof 2004 (b), 31. 1126 Ruge 2004, 110 führt dies am Beispiel der Rechtsprechung des EuGH vor Augen. 1127 Ruge 2004, 275. 1128 Simons 1948; Gary Becker 1993, 34. 1125

B. Die Zähmung potentieller Allmacht des Staates

321

gar nicht erhalten werden.1129 Hier entfällt weitgehend die Möglichkeit, Standards staatlicher Aufgabenerfüllung durch das Äquivalenzprinzip zu wahren, indem die Leistungen näher an die Kostenperspektive gerückt werden.1130 Diese Leistungen sind eben nur kontrafaktisch darstellbar. Die entscheidende Herausforderung wird darin bestehen, ob im Gewährleistungsstaat Umfang und Stärke eines Partikularinteresses, wie sie unweigerlich von Zwangsmonopolen ausgeht, auf das notwendige Minimum in der Weise beschränkt werden können, dass Freiheit bzw. Verhandlungsmacht des Monopolisten und seiner Kunden sowohl für beide individuell als auch im Gesamtnutzen optimiert werden. Insbesondere führt extrem unterschiedliche Größe der Anbieterunternehmen zu ernsthaften Störungen der Optimierung.1131 Kollektivgütermärkte sind aber ihrer Eigenart nach durch eine Ungleichheit von Anbietern und Abnehmern gekennzeichnet: „Kollektive Wirkungseinheit wird“ nämlich „weder durch die Kategorie des einigenden Zusammenschlusses noch durch die der Ordnung konstituiert, sondern durch die Kategorie der kollektiven Entscheidungsund Aktionsfähigkeit.“ 1132 Da die die Nachfrageinteressen koordinierende Institutionen wie etwa der Verbraucherschutz je nach Bereich und Land unterschiedlich stark ausgeprägt sind, bedarf es regelmäßig des Staates, um die Interessen der Abnehmer zu vertreten. Staat ist hier geborene Arbiträrmacht und nicht Konkurrent. Dies setzt freilich einerseits das Eingeständnis voraus, dass ein Monopolist spezifischen Zwang ausüben kann,1133 und andererseits die Einsicht, dass trotzdem ein privates oder zumindest privatrechtlich organisiertes Unternehmen in manchen Zusammenhängen das günstigere Verhältnis, das sich aus Kosten und Nutzen ergibt, aufweisen kann als das öffentliche Unternehmen. Die Frage, ob öffentliche Güter durch öffentliche oder private Unternehmen wirtschaftlicher zur Verfügung gestellt werden können, lässt sich zuverlässig nur beantworten, wenn das Äquivalenzprinzip Maßstab öffentlichen Handelns ist.1134 Schließlich erfordern Privatisierung und Deregulierung von Kollektivgütermärkten auch den regulatory state als Sozialstaat, indem er übermäßigen Wettbewerb verhüten muss, der zum Schaden der konkurrierenden Unternehmer, aber auch ihrer Kunden führen kann.1135 Ist dies gewährleistet, kann der regulatory

1129

Downs 1974, 117. Schmehl 2004, 62. 1131 Olson 1998, 27. 1132 Heller 1983, 102. 1133 von Hayek 1960, 135 versucht beispielsweise diesen gewaltfreien Zwang einer Indexierung zu entziehen und durch enge Definition des Begriffes „Zwang“ nur „more severe forms“ als Unfreiheit des Abhängigen anzuerkennen; cf. Schefczyk 2003, 112. 1134 Schmehl 2004, 7. 1135 Dieses Problem wurde bereits von John Stuart Mill 1965 v, 323, 329 erkannt. 1130

322

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

state indes effizienter Wohlfahrt ermöglichen als der Wohlfahrtsstaat klassischer Provenienz.1136 Ihre Grenze findet Privatisierbarkeit zumeist dort, wo natürliche Kollektivgüter bereitzustellen sind, also Güter, von denen niemand zu vertretbaren Kosten ausgeschlossen werden kann.1137 Möglicherweise lässt sich die Bereitstellung dieser Güter auch durch individualisierbaren und damit vermarktbaren Nutzen privatisieren, der bei der Nutzung des Kollektivgutes durch die Allgemeinheit selbst ermöglicht wird: Hierbei könnten sich Werbung und Sponsoring als Mittel der Wahl erweisen. Das klassische Beispiel solch natürlicher Kollektivgüter freilich lässt eine im Wortsinne düstere Entwicklung ahnen: Als ein solches Beispiel ist der Leuchtturm geradezu topisch.1138 Dieser ist aber weitgehend durch Funk ersetzt worden, wovon sich zumindest grundsätzlich Teilnehmer ausschließen lassen, was beim Leuchtturm völlig unmöglich ist. Voranschreitende Technik schafft nicht nur neue Kollektivgüter, sondern erschließt auch für manche Kollektivgüter relativ einfache und kostengünstige Ausschlussmöglichkeiten. Als öffentliches Gut kat' ™coxÞn bieten sich nichtrivalisierend konsumierbare Kollektivgüter an, also Güter, die bereitzustellen nicht kostenträchtiger wird, wenn zusätzliche Konsumenten hinzukommen. Auch hierfür stellt der Leuchtturm das klassische Beispiel dar.1139 Die Nachteile späterer oder gleichzeitiger Nutzer können aber unter Umständen mittelbar und schwer quantifizierbar sein, da die Grenzen nicht immer eindeutig zu ziehen sind.

C. Pathologien des modernen Staates: Elitismus und Totalitarismus Der Staat ist aufgrund seiner idealtypischen konzeptualisierten Allmacht und universellen Präsenz, solange er besteht, Objekt partikularer Begierden. Diese können dann für den Staat und einzelne seiner Bürger gefährlich werden, wenn die Partikularinteressen ihre Sache zur Sache des Staates machen, um den Staat bewusst oder, was weitaus häufiger der Fall sein dürfte, unbewusst für ihre partikularen Interessen zu instrumentalisieren.

1136

Sturm 2004, 388; Sturm 2001, 125 ff. Kirchgässner 2000, 55; Samuelson 1954, 387; Musgrave 1959, 43 f.; Musgrave/ Musgrave/Kullmer 1990, 56. Zum Kriterium der Ausschließbarkeit bei Kollektivgütern allgemein: Blümel/Pethig/von dem Hagen 1986, 248. Unter spieltheoretischem Aspekt wird das Problem bei Poundstone 1993, 127 behandelt. 1138 Molitor 1995, 76 f.; Samuelson/Nordhaus 2005, 61. 1139 Samuelson/Nordhaus 2005, 61. 1137

C. Pathologien des modernen Staates

323

I. Demokratischer Elitismus Von Max Weber in Sympathie für die Sache konzeptionell ersonnen1140 und von Robert Michels bis heute einschlägig systematisch beschrieben,1141 ist das Phänomen älter und entstammt anderweitiger Provenienz als die über ihn formulierte Theorie: Es ist nicht nur die frühe Ausprägung von Demokratie, sondern vielmehr das tiefe Misstrauen gegenüber staatlich verfasster Herrschaft, das in England eine lange Tradition dieser spezifischen Art von Steuerungsskepsis begründet hat, wie sie freilich gegenüber dem Staat allgemein anzutreffen ist. Inwieweit die Situation des Gefangenendilemmas nur durch (staats-)funktionstragende Eliten zu überwinden ist oder ob auch unmittelbare Gleichheit der Herrschaftsgewalt oder gar Identität von Regierenden und Regierten möglich ist, bildet die Grundfrage nach der Art der Demokratie und wird in diesem Zusammenhang noch zu behandeln sein.1142 Vor allem die forcierte Einführung staatlicher Sozialfürsorge im Edwardianischen England nährt die Skepsis, dass ein Staat „democratized as well as socialized“, stets eine „grave danger“ berge, „it will pass into the hands of bureaucrats.“ 1143 Im obrigkeitsstaatlich geprägten Deutschland wird hingegen in der Weimarer Republik die Heilung des Übels durch sich selbst empfohlen: An Stelle der Parteienherrschaft solle ein Führeroligarchie treten.1144 Anscheinend besteht also zwischen Sozialstaatlichkeit und Demokratie ein Zusammenhang, der Verselbstständigung von und potentiellen Missbrauch durch Bürokratien begünstigt. Dies kann freilich nicht allein daran liegen, dass Sozialstaatlichkeit geradezu exponentiellen Verwaltungsbedarf hervorbringt, sondern auch daran, dass demokratische Verfasstheit überkommenes Berufsethos als Teil ständischen Selbstverständnisses ablöst und den Legitimationsdruck, der auf Individualinteressen lastet, erheblich verringert.1145 Elitäre Herrschaftsformen sind im modernen Flächenstaat nicht vollkommen auszuschalten, ja es wechseln sich Phasen positiver und negativer Konnotation des Elitebegriffes gar ab. „Denn immer bleibt es eine Tatsache, daß im Gegensatz zur Autokratie größere oder kleinere Kreise des demokratischen Staatsvolkes über eine wirksame politische Macht verfügen, die vor allem bei der Bestellung, Abberufung und Kontrolle der politischen Führer praktisch wird.“, erklärt 1140

Waschkuhn 1998, 240. Robert Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, Stuttgart 1989. 1142 Cf. Zweiter Teil A. III. 4. b). 1143 Hobson 1909, 163. 1144 Triepel 1930, 36. 1145 Den Wandel des Beamtentums behandelt ebenfalls im Zusammenhang mit dem Entstehen des Sozialstaates Böckenförde 1976b, 406, wenngleich er jenen Wandel nicht durch diesen Vorgang (unmittelbar) begründet sieht. 1141

324

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

ein sozialdemokratischer Staatstheoretiker wie Hermann Heller die Notwendigkeit von Funktionseliten.1146 Inwieweit Rangstreben dem Menschen biologisch eingeschrieben ist, stellt immer noch eine überwiegend unbeantwortete Frage dar.1147 Allgemein wird heute angenommen, dass Rangordnung eo ipso kein zwangsläufig natürlich gegebenes Assoziationsprinzip darstellt. Was dem Menschen tatsächlich zu Eigen sein dürfte, ist wahrscheinlich eine Neigung, „sich durch Leistungen gegenüber der Gemeinschaft zu bewähren.“ Erst um diese Bewährung zu motivieren, wird solche Bewährung mit individuellem Ansehen sanktioniert.1148 Daraus entwickelt sich sodann als eine Nebenwirkung von evolutionsgeschichtlicher Erheblichkeit, dass individuelles Ansehen den Erfolgreichsten „größeren Kopulationsspielraum verschafft“.1149 Wettbewerb um Ansehen ist politisch betrachtet gesellschaftliche Differenzierung, die unter der Bedingung von Integration erfolgt.1150 Insofern käme das Konzept der Funktionselite, vorausgesetzt, diese Annahmen treffen zu, der natürlichen Anlage der species näher als dasjenige der Standeselite, wenngleich sich der Wettbewerb um Anerkennung mit der Existenz verwandtschaftlich legitimierter Standeseliten oder ebenfalls weitgehend vererbter, aber nicht durch Verwandtschaft unmittelbar legitimierter Klasseneliten überschneiden und somit auch durch nicht rein funktionelle Eliten verwirklicht werden kann. Auch Demokratien bilden daher bisweilen Klasseneliten heraus. Von zunehmender Bedeutung als elitenbildender Faktor zumal im demokratisch verfassten Umfeld sind Freiheit und Möglichkeit von Wissenszugang. Während in der eher sozialkritisch eingestellten Forschung diese immer noch überwiegend als Funktion von Abstammungshierarchien erachtet wird,1151 stellt sich dieses Problem jedoch im politischen Zusammenhang moderner Staatssteuerung als Funktion von Organisationshierarchien. In diesen können zwar grundsätzlich Abstammungshierarchien thesauriert sein. Deren Bedeutung tritt jedoch ins Marginale zurück. Gouvernementaler Aktionsvorteil und veröffentlichte Meinung sind prominente Symptome der Wissensbasiertheit moderner Herrschaft.1152 Innerstaatliche Kontroll- und Aufsichtsinstitution erster Wahl ist das Parlament. Doch zumindest gegenüber der Exekutive ist dieses Verhältnis von Beginn des modernen Parlamentarismus an „prekär“.1153 Demokratischer Elitismus wird 1146

Heller 1983, 280. Cf. auch Engels 1981 (a), 39. Scharpf 1975, 19 (Anm. 27). El Masry 2004, 352. Nicht zuletzt, weil diese Frage von solch enormer praktischer Relevanz ist, dass der ideologische Missbrauch insbesondere der Evolutionstheorie so alt ist wie sie selbst, dürfte sie noch unbeantwortet sein. 1148 Auch deshalb fallen schließlich Arbeitsrolle und Status bis in die Gegenwart in hohem Maße zusammen, El Masry 2004, 485. 1149 Herrmann/Ulrich 1991, 515. 1150 El Masry 2004, 352. 1151 Firth 1975, 103; El Masry 2004, 285. 1152 Cf. Zweiter Teil B. I. 1147

C. Pathologien des modernen Staates

325

seitdem durch voranschreitende Verwissenschaftlichung staatlicher Aufgaben und Politikinhalte verstärkt. Die damit implizierte Gegnerschaft von Direktion und Herrschaft auf der einen Seite und von Diskussion und Partizipation auf der anderen wird jedoch durch die besondere Neigung zu Diskursförmigkeit, die Wissenschaft kennzeichnet, entschärft. Bedingungen für Elitismus verringern sich mit zunehmender Aufklärung: Auch die Aufklärung frisst gleichsam ihre Kinder. Wissenschaft als ihrer grundsätzlichen Konzeption nach öffentliches System löst damit Wissen in Form von herrschaftsbegründendem Geheimwissen ab. Gleichwohl stellt Wissen nicht nur als spezialisierte Fertigkeit, wie bestimmte Probleme zu bewältigen sind, sondern auch als Kenntnis der sozialen, ökonomischen und psychischen Verhältnisse und Mechanismen derjenigen Systeme, denen das bestimmte Problem zu bewältigen anvertraut ist, einen exklusiven Faktor elitärer Herrschaft dar. Hochdifferenzierte und staatlich verfasste Gesellschaften unterscheiden sich darin nicht prinzipiell von einfach aufgebauten Stammesgesellschaften.1154 Freilich wird diese Exklusivität geheimen Wissens durch andere Formen der Exklusivität ersetzt, etwa durch ökonomische Zugangsbeschränkungen zum weiterhin öffentlich verfügbaren Wissen der Wissenschaft. Da das Programm der Aufklärung, also die Rationalisierung der condition humaine, jedoch zu voranschreitender funktionaler Differenzierung, damit zu Spezialisierung und Unüberschaubarkeit führt, begünstigen Modernisierungsprozesse funktionale Elitenbildung. Je großräumiger Daseinsvorsorge und andere Formen der Existenzsicherung als Kollektivgüter organisiert werden und je weiter sich Staat also ausdehnt, desto unvermeidbarer ist Elitenbildung: „Eliten-Status-Systeme sind [. . .] funktionale Arrangements von Personen in hochkomplexen, technisch anspruchsvollen bürokratischen Organisationen.“ 1155 Das Phänomen ist weniger als andere politische Erscheinungen von seiner Legitimation her zu begreifen, sondern vielmehr anthropologisch zu verstehen. Auch demokratischer Elitismus scheint zumindest in seiner standeselitären Form durch die nach wie vor hohe Kohäsionskraft der Familie begünstigt zu werden. Somit neigen sogar ihrem Selbstverständnis und Bewegungsgesetz nach egalitäre Institutionen wie Gewerkschaften und sozialdemokratische Parteien,1156 bürgerliche Parteien, Arbeitgeber und Wirtschaftseliten ohnehin, dazu, paternalistischfeudale Erbkartelle aufzubauen.1157 1153

Habermas 1965, 253. Firth 1975, 102. 1155 Waschkuhn 1998, 48. 1156 Horkheimer1988/96, Bd. 4, 101 ff.; Münkler 1990, 193; Waschkuhn 1998, 284. 1157 Die neue Beliebtheit dieses Themas, die namentlich im Gefolge dieser Theorie Bourdieus zu verzeichnen ist, hat eine kaum noch überschaubare Fülle an Schrifttum hervorgebracht. Von erklärtermaßen linker Seite, aber mit solider sozialempirischer Grundlage eines großen repräsentativen Stichprobenraums ist Hartmann 2002 zu nennen. 1154

326

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

Das rationalitätsmindernde Problem am demokratischen Elitismus besteht darin, dass er nicht nur im Gegensatz zu vormodernen Eliten seine Existenz verleugnet, sondern in den Mehrebenen- und Gewaltenteilungssystemen moderner öffentlicher Gewalt Handlungszwänge konstruieren und darin überführte Eigeninteressen tarnen kann.1158 Darüber hinaus drohen familiale oder sonstwie gestützte Eliten Selbstkontrolle und Selbstreinigung von Eliten zu hemmen. Die Bedeutung dieses Effektes ist für die Wirtschaft hinlänglich anerkannt.1159 In den institutionenökonomisch informierten Sozialwissenschaften wird sie zunehmend auf den öffentlichen Sektor angewandt.1160 Ist die Elitenkonkurrenz aber erst einmal gestört, verfehlt auch Demokratie ihre spezifische Effizienz- und Entdeckungsfunktion.1161 Solche Camouflage von Elitismus, die ihn immerhin noch als demokratieimmanent erweist und sich zu legitimieren als Norm anerkennt, bedeutet freilich nicht, dass residual auch innerhalb von demokratisch verfassten Staaten offen vordemokratisches oder nichtdemokratisches Verhalten anzutreffen ist, was auf eine „unzureichende Verankerung demokratischer Einstellungen bei der politischen Elite eines Staates“ zurückzuführen ist.1162 Zwar ist die Grenze zu antidemokratischen also autoritären Herrschaftsformen selbstverständlich nicht immer eindeutig auszumachen, aber ein vor- und nichtdemokratische gegenüber antidemokratischer Einstellung unterscheidendes Distinktiv ist die Orientierung an anderen im demokratisch verfassten Gemeinwesen ebenfalls gültigen Werten, zumeist Rechtsstaat, aber etwa auch Sozialstaat und Wirtschaftlichkeit. Üblicher Verdächtiger demokratischen Elitismus ist die Exekutive, er kann aber auch von der Judikative und, sofern nicht ausschließlich Direktwahl durch das Volk vorgesehen ist, grundsätzlich sogar von der Legislative ausgehen. Dieses Phänomen ist demokratietheoretisch ein Problem der veto-berechtigten Minderheit. Basierend auf Gaëtano Moscas These unvermeidlicher Minderheitenherrschaften beweist Robert Dahl, dass Minderheitenveto und Oligarchie nicht identisch sind. Ein Minderheiten-Veto liegt vor, wenn die Minderheit eine von der Mehrheit gewünschte Änderung des status-quo verhindert, eine Oligarchie liegt hingegen dann vor, wenn eine Minderheit eine Änderung des status quo gegen den Willen der Mehrheit durchsetzt.1163 Aufgrund dieses Gedankens ist auch für nicht unmittelbar demokratisch legitimierte Institutionen, namentlich für Verfassungsgerichtsbarkeit und Zentralbanken entscheidend, sie auf Hüterfunktionen zu

1158

Fukuyama 2004, 162. Fama 1980. 1160 Rose-Ackermann 1979; Weingast/Moran 1983; Weingast 1984; Moe 1984, Harris et al. 1995; zusammenfassend: Fukuyama 2004, 74. 1161 Dies macht im Ansatz bereits Schumpeter deutlich, Widmaier 2005, 142. 1162 Kailitz 2004, 296. 1163 Dahl 2005, 54–56. 1159

C. Pathologien des modernen Staates

327

beschränken. Diese verlassen sie jedoch in dem Moment, in dem sie sich nicht darauf beschränken, Mehrheitsbeschlüsse zu verwerfen, sondern stattdessen positive Alternativen formulieren. Dies gebietet überdies schon ein gleichsam intrajurisdiktionelles handwerkliches Gebot, nämlich der weitestmögliche Verzicht auf und die Unverbindlichkeit von obiter dicta, also „nicht entscheidungserheblichen Rechtsausführungen“.1164 Es ist also ein rechtsstaatlicher Grundsatz, der eo ipso Demokratieschutz beinhaltet, wie er sich in dem Erfahrungssatz der Jurisprudenz verdichtet, „daß weit reichende über die Begründungserfordernisse des konkreten Falles hinausgreifende richterliche Regelbildungen einer späteren Erprobung am konkreten Sachverhalt nicht standhalten.“ 1165 Da die positiv angeordneten Alternativen eis ipsis bereits obiter dicta sind, sind sie als solche ungültig. Alles andere wäre eine geradezu groteske Umkehrung des Zweckes von „obiter dicta“, der darin besteht, den beteiligten Parteien die Prüfung zu ermöglichen, ob das erkennende Gericht auf den konkreten Lebenssachverhalt das Recht richtig angewendet hat.“ 1166 Demgegenüber werden obiter dicta selbst als solcherart verstandene Mittel der Urteilsbegründung durchaus als legitimierendes Moment angesehen, richterliche Entscheidungsfreiheit mit demokratischem Legitimationserfordernis zu vereinbaren.1167 Das ist aber im Grunde vom gewünschten Ergebnis her deduziert und nicht vom sakrosankten Bereich dessen her induziert, was richterlicher Entscheidung nicht disponibel ist. Im Prinzip sind daher im Bereich der Verfassungsrechtsprechung nur Kassationsgerichtshöfe mit einer demokratischen Staatsordnung vereinbar. Alternativen für Gesetze zu formulieren ist nicht mit dem Demokratiegrundsatz vereinbar, da hier die Grenze vom Veto zur Oligarchie überschritten wird. In der neueren Demokratieevaluierung nimmt die Bedeutung von Vetospielern zu: Dabei wird zwischen institutionellen und parteipolitischen Vetospielern unterschieden.1168 Während die parteipolitischen Vetospieler demokratisch legitimiert sind, gilt dies für die institutionellen Vetospieler nicht, diese unterliegen bestenfalls wie in der Bundesrepublik Deutschland dem Demokratizitätsgebot, haben aber auch dort darüber hinaus eigene unmittelbar aus der Verfassung entspringende institutionelle Eigenlegitimation. Eng mit dem Problem einer demokratieökonomisch begründeten Oligarchisierung hängt dasjenige eines geringen Polyarchisierungsgrades zusammen, Robert

1164

Schlüter 1973, 83. Schlüter 1973, 86. 1166 Schlüter 1973, 94. 1167 Schlüter 1973, 95. 1168 Tsebelis 1995, 305; Tsebelis 2002; Colomer 1996, 1–17; Kaiser 1998, 525–541; Schmidt 2000, 346. 1165

328

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

Dahl nennt Deutschland als Beispiel für eine eher geringer polyarchische und Großbritannien für eine denkbar stark polyarchische Herrschaftsordnung.1169 Ineffizienz solcher Elitismen ist nicht logisch ableitbar, sondern nur empirisch beweisbar. Darüber hinaus stellt sich freilich die Frage, ob Autonomie nicht Wert an sich, ja Gebot von Menschenwürde ist: Selbst ein theoretisch angenommenes autoritäres Verteilungssystem, das die Verteilungsergebnisse eines dezentralen und sich selbst organisierenden Systems vollständig nachahmt, wäre nicht gleichwertig, weil der Akt des Wählens als solcher erheblich sein kann.1170 Da Elitenbildung mittlerweile weithin als notwendig und Elitismus als unvermeidbar anerkannt sind, besteht die entscheidende Frage elitengestützter Staatlichkeit, insbesondere dann, wenn sie demokratisch verfasst ist, darin, wie Eliten veranlasst werden können, auch die Interessen von Nichteliten zu befriedigen.1171 Kriterium des Umschlags von elitärer in elitistische Steuerung ist der Grad notwendiger Heteronomie. Dieser Grad ist jedoch möglicherweise nicht auf den unmittelbaren Spezialisierungs- oder Delegierungsbedarf beschränkt, und auch nicht auf das Maß (sozial-)technisch erforderlicher Kollektivität, das Individualität ermöglicht. Ansehen und Prestige sind vermutlich als Anreiz kollektivrelevanten und altruistischen Verhaltens unabdingbar. Insofern ist ein gewisses Maß an rational vermeidbarer Herrschaft in der Praxis dennoch unvermeidbar, da Vermeidbarkeit nicht nur isoliert aus den jeweiligen Handlungszusammenhängen bestimmt werden kann.1172 Demokratisierung und Gewaltenteilung bilden dabei zunehmend nur konfliktstrukturierende Wirkung interelitärer Kämpfe, die möglicherweise je nach Stärke und Grad ihrer Ausgeprägtheit tatsächlich in historischen Zusammenhängen gründen.1173 Die professionalisierte Überwindung des Gefangenendilemmas durch Steuerungswissen, das immer neue Fachgebiete konstituiert, wird dann mit neuen Situationen erkauft, die dem Gefangenendilemma entsprechen, wenn sich die entsprechenden Wissens- und Kompetenzträger nicht mit der unmittelbaren individuellen Rendite zufrieden geben, die ihre Kompetenz abwirft. Die mag zwar für die Gesellschaft hoch, vielleicht sogar unrentabel sein und ist in der Realität wohl niemals vollkommen anzutreffen,1174 aber sie stellt nicht unbedingt Sub1169

Dahl 2005, 76. Sen 2002, 169; die Annahme wird freilich praktisch unmöglich, da eine durch autonome Wahlakte gesteuerte Verteilung gerade aufgrund dieses psychologischen Effektes immer dann rational überlegen ist, wenn über eine gegebene Einzelentscheidung hinaus auf größere Entscheidungsketten und -zusammenhänge transzendiert wird. 1171 Waschkuhn 1998, 21 und 48. 1172 El Masry 2004, 352 f. 1173 Schelsky 1973 (a), 47. 1174 Diese Elitenskepsis ist diejenige der rational-choice-Theorie, z. B. bei Frey/ Meißner 1974, 97. 1170

C. Pathologien des modernen Staates

329

optimalität von der Art des Gefangenendilemmas dar. Diese tritt erst mit einer das Materielle, zumindest vordergründig, transzendierenden Geschlossenheit einer bestimmten Personengruppe ein, die sich dadurch auszeichnet, dass eigene Herrschaft zum Selbstzweck wird. Neben der Gefahr unnötiger Herrschaft bedroht Elitismus aber auch die Einheit des Staates. Personelle Cluster begünstigen Verselbstständigung und Autismus zumal behördlichen Handelns.1175 1. Der Parteienstaat „Die Demokratie ist notwendig und unvermeidlich ein Parteienstaat:“ 1176 Parteien bieten nützliche und tendenziell notwendige Kontrollmechanismen, um den Machtmissbrauch einzelner Politiker zu hemmen, die aufgrund bestimmter mit dem Zeitlichkeitsprinzip verbundener Umstände nicht mehr zu konstruktiver Kooperation bereit sind. In diesem Falle wirkt die Partei gleichsam als Responsibilitätsagentur: Während Politiker kommen und gehen, muss sich die Partei immer wieder von neuem Wahlen stellen und mithin für ihre Kandidaten und Mandatsträger Verantwortung übernehmen.1177 Parlamentarische Demokratien, gleich ob es sich um Konkurrenz- oder Konsensdemokratien handelt, führen nahezu zwangsläufig zu „parteipolitisch geprägte[n] Wettbewerbsgesellschaften.“ 1178 Indem Parteien im modernen Parlamentarismus verschiedene Entscheidungen durch Kompromisse zu so genannten Gesetzespaketen oder Lockrules verknüpfen, tragen sie dazu bei, das von Condorcet bereits formulierte Paradoxon widersprechender Mehrheiten zu überwinden, und fungieren als Transformator zwischen Partikular- und Gesamtinteressen.1179 „Daß das isolierte Individuum politisch überhaupt keine reale Existenz hat, da es keinen wirklichen Einfluss auf die Staatswillenbildung gewinnen kann, daß also Demokratie ernstlich nur möglich ist, wenn sich die Individuen zum Zwecke der Beeinflussung des Gemeinschaftswillens unter dem Gesichtspunkt der verschiedenen politischen Ziele zu Gemeinschaften integrieren, so daß sich zwischen das Individuum und dem Staat jene Kollektivgebilde einschieben, die als politische Parteien, die gleichgerichteten Willen der einzelnen zusammenfassen: Das ist offenkundig.“

Die Betonung liegt bei dieser von Kelsen formulierten Einsicht mehr auf dem Wert der integrierenden Wirkung von Parteien als auf demjenigen gleichgerichteter Willen der Individuen. Die integrierende Wirkung ermöglicht aber dem Ein-

1175

Kirchhof 2004 (b), 41. Kelsen 1963, 20. Parteien, so erläutert Kehlsen, seien das Ergebnis einer Umorientierung vom Ideal- zum Realbegriff des Volkes, Kelsen 1963, 19. 1177 Axelrod 2000, 166. 1178 Waschkuhn 1998, 443. 1179 Kiewiet/MacCubbins 1988, 713 ff.; Kiewiet/MacCubbins 1989, 677. 1176

330

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

zelnen, stärker an dem auch für ihn vorteilhaften Gesamtnutzen orientiert zu entscheiden. Außerdem hat die Integrationswirkung von Parteien eine schlicht koordinierende Wirkung. a) Gesellschaftliche Verstaatlichung durch Parteien Diese staatstragende Funktion von Parteien führt in der Bundesrepublik Deutschland schon früh zu der Frage, ob Parteien als Staatsorgane oder als freie Vereine zu qualifizieren sind.1180 Fortschreitende Demokratisierung bedingt aufgrund dieser staatstragenden Funktion organisatorische Erfordernisse, die eine weitere Ausdehnung des Parteienstaates zu einer Parteiengesellschaft befördern.1181 Da Parteien aber weiterhin als politische Organisationen auf Kollektivgüter hin orientiert sind und deren traditioneller Bereich der Staat ist, überträgt sich gleichsam über die Parteien als Zwischenwirt Staatlichkeit auf originär nichtstaatliche Bereiche, mitunter über parteipolitisch determiniertes Personal auf private Wirtschaftsunternehmen. Fraglich, aber weithin unhinterfragt bleibt, ob Ausdehnung von Parteien eine zwingende Folge von Demokratisierung ist.1182 Zwar wird das Politische und werden mithin auch die Parteien in dem Maße über den engeren Bereich des Staates hinausstreben, in dem Kollektivgüter nicht mehr vom Staat bereitgestellt werden, aber weiterhin staatliche Verpflichtungen oder Interessen bestehen bleiben. Denkbar ist aber, dass sich die Gesellschaft auch gegen Parteien zu wehren versucht. Nicht zuletzt auch diese Hoffnung richtet sich auf das Konzept der Zivilgesellschaft. Der eigentliche Kern des Problems liegt dabei vielmehr in den zahlreichen Konnexen von gesellschaftlichen organisierten Interessen und Parteien unter der Firnis des Politischen: Gewerkschaften und Sozialdemokratische Parteien, Wirtschaftsverbände und bürgerliche Parteien sowie Kirchen und Parteien allgemein sind nicht nur personell durch regelrechte Pendlerbiographien, sondern über gewerkschafts- und parteieigene bzw. kirchliche Wirtschaftsunternehmen mit den Interessen des Parteienstaates verbunden, der Staat ist weithin partikularisiert. Was die Entflechtung einer solcherart vernetzten Gesellschaft erschwert, sind die in aller Regel auch für das Allgemeininteresse nützlichen Gründe, die zu dieser Verflechtung geführt haben. Grundsätzlich stellt es einen Fortschritt dar, dass Gewerkschaften aus der ausschließlichen Rolle des fordernden Arbeitnehmers zu eigener Wirtschaftstätigkeit finden und der allgemeinen Wohlfahrt etwa durch Wohnungsbau dienen. Dass zwei gesellschaftlich entscheidende Größen, die wie Wirtschaft und Staat darauf ausgerichtet sind, Kollektivgüter bereitzustellen, im industriellen Zeitalter zusammengefunden haben, erbringt durchaus koordinierende Wirkung.

1180 1181 1182

BVerfGE 20, 56. Leibholz 1967, 23; 36; 72; 74; 97; 100 und 103, v. a. aber 90. Wie von Schelsky 1973 (a), 54; 97 und passim behauptet wird.

C. Pathologien des modernen Staates

331

Neben diesem politiktechnischen Aspekt tritt jedoch auch die Notwendigkeit hervor, Interessen zu bündeln und politikfähig werden zu lassen: Das Luhmannsche Konzept permanent fortschreitender funktioneller Differenzierung moderner Gesellschaften ist bereits von Platon vorweggenommen worden. Parteien erfüllen informatorische und mithin freiheitsvergrößernde Funktionen.1183 Auch Platon sieht mit fortschreitender zivilisatorischer Entwicklung neue Konfliktlinien auftreten, deren Ursprung er sogar eher genau auf den Zeitpunkt zu terminieren weiß, da Luxus entsteht. Während Platon daraus aber Schlussfolgerungen zieht, die ihn letztlich den Idealstaat der Philosophenherrschaft postulieren lassen, pflegt die Wirklichkeit regelmäßig anders zu verlaufen: Es entstehen Faktionen und schließlich in der modernen parlamentarischen Arena Fraktionen, die wiederum Parteien erfordern.1184 Das Mehrparteiensystem ist somit längst konstitutives Element westlicher Demokratien geworden.1185 Somit verwundert es auch nicht, wenn Luhmann das Scheitern weitgehend staatsgesteuerter Gesellschaften bzw. solcher Gesellschaften, die alle Steuerungserfordernisse mit dem Mittel des Staates befriedigen wollen, daran scheitern sieht, dass der Staat nicht durch eine oder mehrere Parteien ersetzt oder marginalisiert werden kann.1186 b) Gesamtnutzenoptimierung durch Parteien Auch wenn der Begriff des Parteienstaates eine pejoraitve Note nicht ablegen kann, so stellt er gleichwohl einen rationalisierenden und gesamtnutzenoptimierenden Fortschritt dar, da Parteien gemeinwohlorientiert sind1187 und die Akteure im Parteienstaat ihre individuellen Interessen zumindest gemeinwohlförmig formulieren und legitimieren müssen. Hierin unterscheidet er sich namentlich vom Verbändestaat, mit dem er nicht eben selten uno actu genannt wird. Zumal in Mehrebenensystemen, wie sie Bundesstaat und Staatenverbund ausmachen, kann Parteienstaatlichkeit in Gestalt von Parteidisziplin vermittelt über das Parteiwohl Hüter des Gemeinwohls sein. Genau umgekehrt ist das Verhältnis von Parteienstaat und horizontaler, also der klassischen Gewaltenteilung: Zwischen Rigorosität von Gewaltenteilung und machtpolitischem Gewicht von Parteien besteht offensichtlich ein Zusammenhang, wie die noch bis vor kurzem im politischen System der USA zu beobachtende relative Schwäche politischer Parteien zeigt.1188 1183

Sen 2002, 76. Waschkuhn 1998, 158. 1185 Waschkuhn 1998, 362. 1186 Luhmann 1995, 101 f. 1187 U. K. Preuß 1976, 361; Gary Becker 1993, 35. 1188 Kiewiet/McCubbins 1989, 676 und 679. In letzter Zeit ist hingegen ein auch als Europäisierung bezeichneter Bedeutungswandel der US-amerikanischen Parteien zu beobachten. 1184

332

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

Die Gemeinwohlförmigkeit staatsbezogenen Handelns wird wie der Staat als Instrument zum Gemeinwohl selbst zunehmend geringer geschätzt und als Leerformel gar existentiell in ihrer Relevanz in Frage gestellt. Auch wenn sich tatsächlich jedes noch so partikulare Interesse in der politischen Rhetorik traditionell als gemeinwohldienlich formulieren lässt, so heißt es, die Eigenmacht von Sprache unterschätzen und überdies verkennen, dass sich der gemeinwohlverpflichtete Herrschende bzw. Partikularinteressierte in einen Diskurs über die Legitimität seiner Absichten verstricken lassen muss, der regelmäßig eine Eigendynamik entfaltet – und wenn diese allein darin besteht, die Allgemeinheit darauf hinzuweisen, wie sie Nutzen aus dem Eigennutz des Partikularinteresses ziehen kann. Parteien entfalten aber auch aufgrund ihrer Eigenmacht, die mit ihrem Alter zunimmt, eine spezifische eigene Wirkung, die Situation des Gefangenendilemmas aufzuheben.1189 Auch wird im öffentlichen Diskurs der fortgeschrittenen westlichen Demokratien nicht selten übersehen, dass Parteien und ihre Führung, in dem Maße, in dem sie sich des Staates bemächtigen, durch diesen gezähmt und einer in dieser Art der Herrschaftsorganisation besonders weitgehend aufbewahrten Verantwortung unterworfen werden.1190 2. Vom Ämter- zum Beamtenstaat: Eine schleichende Pathologie Der kontinentaleuropäische Staat der Neuzeit ist seit seinen Anfängen auch Beamtenstaat. Im Zuge von Rationalisierung und Technisierung auszuübender Herrschaft entsteht wie bereits erläutert Bürokratie. Der moderne Beamtenstaat westlicher Provenienz ist damit bereits in den normannischen Gemeinwesen des Früh- und Hochmittelalters potentiell angelegt.1191 Somit beginnt sich in Italien um die Mitte des 13. Jahrhunderts,1192 und nördlich der Alpen etwa ein Jahrhundert später1193 Berufsbeamtentum herauszubilden. Nach ihrem Selbstverständnis bilden, zumal in Preußen, aber auch in den anderen sich entwickelnden Territorialstaaten, die Beamten einen – nicht selten geadelten – Stand,1194 dessen Selbstverständnis das Ethos einer Staatsdienerschaft ist. Am Beginn des modernen Staates stehen, zumindest im Alten Reich jedoch die Stände, die sich die neu 1189

Kelsen 1963, 20. Henke 1976, 389. 1191 Das Grundlagenwerk zur normannischen Staatlichkeit stammt von Heinrich Böhmer, Kirche und Staat in England und in der Normandie im 11. und 12. Jahrhundert, Leipzig 1899. 1192 Kern 1949, 25; Dahm 1941, 83. 1193 Moraw 1983, 85; 100 ff.; Moraw 1985, 172. Willoweit 1983, 346, der maßgeblich die im Lehnswesen liegenden Wurzeln des neuzeitlichen öffentlichen Dienstes hervorhebt. 1194 Dieser Beamtenadel pflegt auch als Neuadel bzw. der Anlass seiner Kreation als preußisch-neuadelig bezeichnet zu werden, Oestreich 1977, 55. 1190

C. Pathologien des modernen Staates

333

entstehende Lehre von den „öffentlichen Ämtern“ als „Dienst und Leistung für das ganze Gemeinwesen“ zu Eigen machen. Dies geschieht aber vornehmlich, um den dynastischen Interessen des Monarchen eine legitimatorisch wirksamere Idee entgegensetzen zu können.1195 Die Idee des Amtsträgers als Gemeinwohlagenten entspringt dem Konflikt monarchischer und ständischer Gewalt: Die Allgemeinheit, nicht unbedingt nur das „Volk“ ist tertius gaudens dieses Wettbewerbs. Das Gemeinwohl verkörpert zwar gleichsam die konzeptionelle Innovation des monarchischen Staates. Aber auch die Stände nehmen, wenn auch häufig nicht uneigennützig, Gemeinwohlinteressen wahr.1196 Somit erwies sich bereits im vorgewaltenteiligen Staat Konkurrenz um Gemeinwohlverantwortung als Mittel der Gemeinwohlverwirklichung. a) Selbstverständnis des modernen Beamten Dieses Selbstverständnis der neuadeligen Beamtenschaft des Monarchen, einer überparteilichen von der Gesellschaft zu trennenden Aufgabe zu dienen, wird bekanntlich über Generationen hinweg tradiert.1197 Vor der eigentlichen Untersuchung der pathologischen Entwicklung gilt es zunächst, Ideal und Konzept des modernen Beamten zu beschreiben, wie sie für das Beamtentum klassischer Provenienz konstitutiv sind: Dieses Selbstverständnis wird auch für den Inhaber monarchischer Herrschaftsgewalt zur Herrschaftslegitimation, wenn Joseph II. sich als „erster Beamter“ und Friedrich II. als „premier serviteur de l’état“ definieren, womit zugleich Amt und Staat als verselbständigte Größen aufgefasst werden.1198 Dieses Konzept sachlich verselbstständigter Gewalt hat im Alten Reich eine lange Tradition, die aus dem Kampf der Reichsstände gegen den Kaiser herrührt. Dieser Hintergrund hindert sodann zwar einen politischen Romantiker wie Adam Müller nicht, den herrschaftsinstrumentellen Charakter des Staates in einer Weise zu bestreiten, bei der er ohnehin offen lässt, ob es sich lediglich um die Rüge angeblich versuchter oder vermeintlich tatsächlicher Mediatisierung des Staates durch den absoluten Monarchen handelt. Der Staat „ist nicht bloß ein Spielwerk oder Instrument in der Hand einer Person, eines Friedrichs, sondern er ist eine Person selbst, ein freies, in sich durch unendliche Wechselwirkungen streitender und sich versöhnender Ideen bestehendes Ganzes.“ 1199

Deutlich wird aber in jedem Falle, dass dem Staat mit voranschreitender Zeit zunehmend mehr Eigenpersönlichkeit zugerechnet wird. Beamte werden neben

1195 1196 1197 1198 1199

Oestreich 1969, 69. Demel 1993, 6. Für viele Demel 1993, 5; kritisch: Bourdieu 1998, 153. Angermann 1976, 117; Böckenförde 1976b, 400. Reinhard 2002, 51. Müller, vermischte Schriften I, 222, nach Meinecke 1922, 148.

334

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

dem Monarchen bald zum Zentrum des konstitutionellen Staates,1200 bald zum Staat schlechthin.1201 Vor allem im Wettbewerb mit dem westlichen Herrschaftsmodell des Parlamentarismus und in Abgrenzung zu demselben, gilt das Beamtentum als Garant der arbiträren Funktion des Staates, die in einer parlamentarischen Parteienherrschaft als nicht mehr gewährleistet erachtet wird: „Ein unparteiisches Schiedsrichtertum, wie es dem König und seinen Beamten zwischen den streitenden Interessen der verschiedenen Klassen naturgemäß innewohnt.“ 1202 Diese Sorge um die arbiträre Wirkung des Staates, die zumal den angelsächsischen Gemeinwesen tatsächlich nicht in solcher Reinheit und Dringlichkeit zu Eigen ist wie den kontinentaleuropäischen, lässt den deutschen Konstitutionalismus und seinen Staat als nicht eine vormoderne Form der Herrschaftsinstutionalisierung, sondern vielmehr als einen eigenen Weg der Moderne erscheinen. Auch ist dafür nicht selten der Terminus vom „Deutschen Sonderweg“ bemüht worden. Dass sich dieses Ethos im lutherischen Preußen bei relativ geringer Besoldung erhält, veranschaulicht die enorme Sanktionierung jenes arbiträren Ethos, die möglicherweise nur noch in der freilich nicht endogen herausgebildeten, sondern nicht zuletzt auch am preußisch-deutschen Vorbild orientierten Staatlichkeit der Meiji-Reformen in Japan ihresgleichen findet. Diese Verselbständigung des Amtes und in dessen Folge auch des Staates stellt bereits die Synthese dar, die Marx noch im 19. Jahrhundert als aktuelle Dialektik wahrnimmt. Der unter vorstaatlichen Bedingungen ursprünglich im Interesse, aber gleichwohl als eigene Person handelnde Häuptling wurde zur verselbständigten Funktion, die aber Marx zufolge – zuletzt sogar ausschließlich – dem Eigennutz des Funktionsträgers dient.1203 Diese Privatheit avant la lettre wird im (früh-)modernen Beamtenstaat veröffentlicht und damit wieder uneigennützig. Marxistisch lässt sich dagegen einwenden, dass diese vermeintliche „Veröffentlichung“ des Amtes nur legitimatorische Fassade der herrschenden Klasse sei, da die einzige Form der Uneigennützigkeit in der urgesellschaftlichen Häuptlingsfunktion besteht. Hier zeigt sich jedoch die Unverträglichkeit der Theorien: Marx unterscheidet nämlich nicht zwischen einem vormodernen Gegensatz zur Privatheit und der modernen Öffentlichkeit.1204 Dieser Unterschied ist aber nicht zuletzt deswegen entscheidend, da das Verselbständigtsein des modernen öffentlichen bzw. staatlichen Amtes (zweck-)rationale Legitimität stiftet und zweck1200

Bouveret 2004, 143. B. Wunder 1974; W. Bleek 1974; Stolleis 1999, 359; Bouveret 2004, 378. 1202 Delbrück 1914, 181. 1203 Marx 1977/79, Bd. I, 372 systematisch auseinandergesetzt wird die Entwicklung des Häuptlingstums bei El Masry 2004, 252. 1204 Dies liegt wiederum in der marx(isti)schen Theorie vom Stammesgemeinschaftseigentum begründet. 1201

C. Pathologien des modernen Staates

335

wie prozessrationale Herrschaftsverfahren ermöglicht.1205 Der urgesellschaftliche Häuptling war hingegen überwiegend charismatisch legitimiert. Die Eigennützigkeit, konkretisiert im Gedanken seiner Herrschaft als privatem Eigentum des mittelalterlichen und höfisch-absolutistischen Fürsten, stellt also ein Durchgangsstadium auf dem Weg zum modernen Ämterstaat dar. Diese Eigenständigkeit des Amtes nicht zuletzt gegenüber seinem jeweiligen Träger begründet auch, dass der Amtsträger als solcher nicht individuelle Freiheitsrechte gegen Direktionsrechte anderer geltend machen kann. Die darüber gesicherte Funktionstüchtigkeit hierarchisch verfasster Bürokratien sichert letztlich im westlichen Staat der Gegenwart auch die Demokratie: Der auf Hans Kelsen zurückgehende Gedanke, dass Hierarchie Demokratie schafft, ist inzwischen nahezu topisch.1206 Wie weit diese handlungsleitenden Wertsysteme im nachmodernen Ideal des staatlichen Dienstleisters fortleben, bleibt abzuwarten. b) Gefahren der Verselbstständigung Ist dieses Konzept des Beamten als Dieners der Volksherrschaft und daher als Diener des Volkes mit dem republikanischen Konzept eines Dieners für das Volk durchaus kompatibel,1207 so wird bisweilen das republikanische Prinzip gegen das demokratische ausgespielt. Der Beamte ist dann Funktionsträger der wahren Interessen des Volkes, die das Volk selbst verkennt. Als Selbstlosigkeit fassadiert versuchen bürokratische Apparate dann auf diese Weise, subjektive Ansichten über das Gemeinwohl oder auch eigennützige Interessen zu verfolgen. Als Sache des Beamtentums wird nicht selten die zu demokratischer Legitimation konfrontierte Verfassungswahrung erachtet. Verpflichtung zu Überparteilichkeit geht beständig mit der Gefahr exklusiver Verselbständigung und Gemeinwohlverpflichtung mit derjenigen einer daraus sich erst sekundär bildenden Partikularinteressenverpflichtung einher.1208 Sind Republik und Demokratie kompatibel, so sind sie gleichwohl nicht von einander abhängig: Vielmehr ist in Großbritannien als Keimzelle der Demokratie das Herrschaftsprinzip eines monarchisch verfassten Staates anzutreffen. Die strukturelle Angleichung der westlichen Demokratien republikanischen wie monarchischen Typus mag dies als Formfrage erscheinen lassen. Doch konstitutionelle Monarchien zum 1205 Die freilich dann wiederum Residuen für vorrationale Herrschaftsformen dienen können, indem sie diese gleichsam inkorporieren, und camouflieren cf. Isensee 2003, 43 f., was oftmals nur möglich ist, indem der einzelne Gehorsam als subordinierter Staatsbürger üben muss, aber Kritik als koordinierter Wahlbürger äußern kann. 1206 Kelsen 1963. 1207 Isensee 1988, § 57, 100 cf. auch: ibid. 69 f. 1208 Hennis 1962, 51 ff.; Krüger 1964, 253 ff.; ders. 1975, 23 ff.; Dreier 1972; Loschelder 1982, 227 ff.; Graf Kielmansegg 1985, 9 ff.

336

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

republikanischen Typus zu subsumieren, würde den Begriff der Republik ad absurdum führen. Monarchie und Republik mag freilich gemein sein, dass sie das demokratische Prinzip einer Regierung durch das Volk durch dasjenige einer Regierung für das Volk ergänzen, wenngleich der konstitutionelle Monarch heute nur noch „king in parliament“ ist.

Republik als Legitimation für nicht demokratisch begründbares Verhalten von Amtsträgern stellt ein höchst fragwürdiges Argument dar. Bleibt es für eine hoheitliche Entscheidung staatlicher Amtsträger einzig mögliche Begründungsgrundlage, was mehr ein theoretischer als ein praktischer Fall zu sein scheint, wird der gut beratene Amtsträger im Zweifel anders entscheiden – oder in der Praxis eben anders begründen. In England wird traditionell gar nicht begründet. Postuliert Weber noch zum Ende des Kaiserreiches hin, dass „Staat [. . .] ein politischer Anstaltsbetrieb heißen“ solle, „wenn und insoweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt,“ 1209 so ist freilich das Dilemma bereits in diesem Zwangsmonopol des Verwaltungsstabes begründet: Wenn schon nicht zu einer exogenen Primärpartikularisierung, so ist doch eine endogene Sekundärpartikularisierung durch diesen Stab wahrscheinlich, gerade weil er sich als arbiter authentifiziert. c) Gegenwärtige Staatsskepsis Die gegenwärtige Konnotation des Begriffes vom „Beamtenstaat“ bezeichnet freilich eine genau gegenteilige Entwicklung, die ein im Beamtenstaat angelegtes Gefahrenpotential darstellt und die Bedenken von Marx gleichsam in liberalem Gewand vertritt: Die vornehmlich materiell begründete und ideell höchstens fassadierte Ausbeutung des Staates. Dass diese Gefahr der Eigenart jeder konkurrierender Individuen übergeordneten öffentlichen Gewalt immanent ist, zeigt Augustins Schelte des spätantiken Bürokratenstaates als Räuberstaat. Daher muss der Begriff des Beamtenstaates inzwischen von demjenigen des Ämterstaates unterschieden werden, da der Begriff des Beamtenstaates entgegen seiner ursprünglichen Bedeutung eine pejorative Note angenommen hat. Es nimmt kaum wunder, dass Steuerungsskepsis gegenüber einem demokratisch legitimierten und sozialen Beamtenstaat, just dort prominent wird, wo jene Bedingungen bereits vorhanden sind, die sich in Deutschland erst nach dem Zweiten Weltkrieg vollständig herausbilden: In England. Staatsdiener, zu denen idealiter auch die Politiker zuzurechnen sind, skeptisch wahrzunehmen ist mittlerweile zum Kern eines gesamten Modells geworden, das aus der „public choice-theory“ abgeleitet wird. Diese Theorie geht davon aus, dass die Staatsdiener ihren eigenen Nutzen maximierten und ihr Verhalten von 1209

Max Weber 1985, 29.

C. Pathologien des modernen Staates

337

Eigeninteresse bestimmt sei. Dies führe dazu, dass Politik so eingerichtet werde, dass die Wahlergebnisse die Interessen der professionalisierten Politik in jedem Falle berücksichtigten und der Staatshaushalt stetig vergrößert werde, damit Beamte Stellenzuwächse und Gehaltserhöhungen erlangen könnten. Zugleich werde die Wissensüberlegenheit, die sich im „gouvernementalen Aktionsvorteil“ (Bergsdorf) niederschlägt, für eigene Lobbyarbeit ausgenutzt. Diese Phänomene bilden schließlich eine bedeutende Definitionsteilmenge dessen, was mit dem Begriff des „Staatsversagens“ beschrieben wird.1210 Die public-choice-theory hat mit der Neuen Institutionenökonomik gemein, dass sie Handlungsanreize, die „durch exogen gegebene Regeln“ gesetzt werden, in die Analyse des Gesamtnutzens einbeziehen. Zumeist werden auch in der Institutionenökonomik Staatsdiener als eigennützig angenommen.1211 Fraglich ist, ob die hier dargestellte Entwicklung staatsskeptischer Theorien ohne weiteres als eine deckungsgleiche Abbildung der Wirklichkeit des Beamtenstaates angesehen werden kann. Entwickeln und verbreiten konnte sie sich vornehmlich dort, wo demokratisch verfasste Parteienstaaten existieren, auch wenn das Symptom auf Gemeinwesen solcher Art zweifelsohne nicht beschränkt ist. An dieser Stelle bleibt die neue Institutionenökonomik, soweit sie diese Theorie übernimmt, zunächst ideengeschichtliche Darstellung und kann nicht unmittelbar als heuristisches Mittel verwandt werden. Es ist aus historischer Perspektive betrachtet durchaus fraglich, ob eigennütziges Verhalten des Personals, das dem Staat dienen soll, tatsächlich die Regel beschreibt. Diese gegenüber Staatsskepsis vorzutragende Skepsis wird noch durch den empirischen Befund verstärkt, dass offensichtlich nicht die Eigentums- und mithin zumeist nicht die reine Rechtsform die Effizienz von Institutionen bestimme, sondern dass vielmehr Wettbewerb entscheidend sei, um Effizienz zu steigern.1212 Die Eigennützigkeitsvermutung der Wirtschaftswissenschaften bleibt jedoch deren binärer Methode verhaftet. Für praxisbezogene Staatstheorie ist hingegen die Eigennützigkeit niemals kategorisch, sondern nur graduell entscheidend. Die Demokratietheorie, namentlich diejenige Joseph Schumpeters und Antony Downs’, hat daher versucht, eine soziale Funktion als Nebenprodukt eigennütziger Motivation Regierender zu erklären.1213 Die soziale Funktion werde „nur nebenher erfüllt [. . .] im gleichen Sinne wie die Produktion eine Nebenerscheinung beim Erzielen von Profiten“ sei.1214 1210 Waschkuhn 1998, 15; Ruge 2004, 31. Kritik an diesem Begriff übt Luhmann 1981, der die Diagnose des „Staatsversagens“ in einer fehlenden Gesellschaftstheorie derjenigen sieht, die sie stellen, was den Begriff als Versuch hilfloser Komplexitätsreduktion entlarve. 1211 Voigt 2002, 122. 1212 Ruge 2004, 32. 1213 Downs 1968, 28. 1214 Schumpeter 1993, 448.

338

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

In der jüngeren, institutionenökonomisch informierten Forschung ist der public choice-Ansatz auch dahingehend modifiziert worden, Vorteilsnahme des einzelnen Amtsträgers nicht primär in unmittelbarer Begünstigung der eigenen Person, sondern vielmehr in mittelbarer Form der Begünstigung der eigenen Behörde zu suchen.1215 Die Eigenmacht behördlich organisierter Institutionen innerhalb des Staates wird als Ursache dysfunktionaler Verselbständigungen angesehen. Solch mittelbare Vorteilsnahmen, die jedoch auf der Notwendigkeit eines gewissen Maßes an Selbstlosigkeit aufbauen können, versucht die Social-choice-Theorie zu formulieren.1216 Zumal im kontinentaleuropäischen Staat und hier vornehmlich in Preußen, aber auch in anderen Kulturkreisen wie etwa dem chinesischen Mandarinstaat ist davon auszugehen, dass in der eingangs angedeuteten Art und Weise, ein Beamtenstand sich gerade über das Ethos der Selbstlosigkeit definiert. Selbstverständlich ist auch in solchen Fällen einzuwenden, dass es kein uneigennütziges Handeln gibt und dass sich jedes menschliche Handeln letztlich auch ökonomisch bewerten lässt. Der Eigennutz stellt sich aber ungleich vermittelter und diskreter ein, als es die „public-choice-theory“ glauben machen will. Die methodische Offenheit der Neuen Institutionenökonomik gestattet, sich zunächst jenem Phänomen des ethischen Beamtenstandes zuzuwenden, um sodann auf die unmittelbareren Eigennutzphänomene einzugehen. d) Historische Ausprägungen Es ist einmal mehr die monarchische Obrigkeit des frühmodernen Staates, die mit ihrem Zentralisierungs- und Gewaltmonopolanspruch tendenziell eher vormoderne Kräfte zu Selbstbehauptung durch Modernisierung nötigt. Der städtische Beamte wird zum Sachwalter städtischer Freiheit, indem er sich als ganz in den Dienst des Gemeinwohls gestellt legitimiert:1217 Gemeinwohl wird damit zum zentralen Bezugspunkt öffentlicher Herrschaftsagenten. Freilich gilt es zu beachten, dass nicht die Steuerungsskepsis der Gegenwart, ähnlich der „Staatsverliebtheit“ früherer Generationen, die Macht der Beamten und die langfristige Entwicklungsneigung hin zu Vereinheitlichung und Zentralisierung von Herrschaft weitgehend leugnen.1218 Der obrigkeitlich bestellte Vermittler ist die embryonale Anlage zum modernen territorialen Beamtenstaat. Vom mittelalterlichen Ministerialen unterscheidet den Beamten ab dem Ende des 16. Jahrhunderts nicht zuletzt die veränderte Wertewelt der Reformation. 1215

Fukuyama 2004, 75. Sen 2002, 285. 1217 Freist 2005, 18; nicht selten wird die Intervention des Monarchen aber auch von lokalen Kräften provoziert oder gar erbeten, Freist 2005, 19. 1218 An die Notwendigkeit derartiger Relativierung erinnert Brakensieck 2005, 50. 1216

C. Pathologien des modernen Staates

339

Darstellung und Ausübung amtlicher Macht und Herrschaft wandeln vielfach überkommene Institutionen. Dies schlägt sich vornehmlich in einer unpersönlicheren und präziseren Sprache nieder, in der einerseits die Obrigkeit Zuverlässigkeit und Spielraum von Amtsträgern regulieren will, vermittels derer aber andererseits auch der Respekt und die Akzeptanz gegenüber einer Bevölkerung gehoben werden sollen, die hinter Ungenauigkeit und Vagheit nicht mehr ein Zeichen der Stärke, sondern der Korruption und Selbstherrlichkeit sieht.1219 Im Binnenverhältnis des Apparates wie in der Durchgangszone von staatlichem System und gesellschaftlicher Ordnung bildeten sich je eigene Idiome heraus:1220 Kommunikationsstörungen sind genauso möglich wie Kommunikationsoptimierung. Entscheidend ist nicht zuletzt, inwieweit der entstehende Kompilationsbedarf gedeckt wird. Ein sich über Jahrhunderte ausbildender Beamtenstand weist beispielsweise in Preußen noch während der Weimarer Republik1221 und residual gar in den Anfängen der Bundesrepublik Deutschland ein Selbstverständnis auf, eigenem Stand und herrschender Dynastie zu dienen. Das Individuum nimmt sich hierbei zugunsten der Gruppe zurück, die seinen Nutzen weitaus effizienter zu vergrößern imstande ist. Der Staat ist zwar auch hierbei streng genommen Mittel, wird aber seit seiner Entstehung mit der dynastischen und ständischen Herrschaft identifiziert.1222 Wiederum anders stellt sich die Lage in Frankreich dar: Der absolutistische Hofstaat absorbiert alten Adel und Noblesse de robe derart, dass das allmählich entstehende Bürgertum sich nicht wie in England mit der Beamtenschaft verbinden kann. Wer dann doch Adelstitel und wohldotierte Pfründe in Form eines Beamtenpostens erhält, scheidet aus dem produktiven Wirtschaftsleben aus und gerät entsprechend auch in die finanzielle Abhängigkeit des Königs.1223 Ist der Beamte in gesellschaftlichen Konflikten als arbiträrer Dritter anerkannt, so zeigt die neuere historische Forschung, dass der Beamte im frühmodernen Staat solche Vermittlungsfunktion vielfach zwischen monarchischer Obrigkeit eines zentralisierenden Staates und örtlichen Kräften überkommener Ständegesellschaft zu vermitteln hat.1224 Der Beamte ist „Schnittstelle zwischen Behörde und Bevölkerung“.1225 Diese stärker mangeriellen als obrigkeitlichen Funktionen erfordern Glaubwürdigkeit und Akzeptanz der Beamten bei der Bevölkerung. Hierfür sind jedoch im Wirkbereich erworbenes Ansehen und gesellschaftliche Exzellenz und weniger karriereförmige Biographiegestaltung und staatliche Qualifikation konstitutiv.1226 Der örtliche

1219

Braddick 2005, 85 f. Brakensiek 2005, 51. 1221 Heller 1983, 149. 1222 Cf. den Exkurs zum Bismarckstaat, der sich im Ersten Teil dem Kapitel A. I. 7. c) anschließt. 1223 Habermas 1965, 79. 1224 Freist 2005, 15. 1225 Brakensiek 2005, 50. 1226 Freist 2005, 17; Braddick 2005, 82. 1220

340

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

Herrschaftsprozess unterlag damit einem relativ hohen Maß an Selbstkontrolle durch das betreffende und betroffene soziale Umfeld.1227

e) Partikulare Nutzengewinne aus Gesamtnutzenoptimierung Schließlich ist auch die faktische Kraft des Normativen über die vielbeschworene normative Kraft des Faktischen hinaus nicht zu unterschätzen: Während dem privaten Akteur eigennütziges Handeln zumindest zugestanden, ja im marktwirtschaftlich-liberalstaatlichen Gesellschaftsmodell als „methodischer Individualismus“ vorausgesetzt wird, ist der staatliche Amtsträger zumindest normativ gebunden, gemeinwohlorientiert zu handeln.1228 Neben diesem gemeinwohlbezogenen Diskurs über Gründe und Legitimität des Beamtenstaates tritt dies gleichsam funktionsanalytisch zurück, was vermutlich darin gründet, dass die Erforderlichkeit von Professionalisierung wegen des weitaus selbstverständlicheren allgemeinen Zivilisationsprozesses funktionaler Differenzierung zumindest grundsätzlich weniger umstritten ist. Verstetigung, Vereinheitlichungsfunktion, Planmäßigkeit und die wiederum aus seiner Zentralisierungsfunktion resultierende Hierarchisiertheit der Behördenförmigkeit des modernen Staates erfordern professionelle Beamte.1229 Professionalisierte Apparate setzen wiederum in einem sich selbsterhaltenden Regelkreis voraus, was sie gewährleisten sollen: Stetigkeit. Den frühmodernen Archetypus dieses Regelkreises verkörpert das gegenseitige Bedingtsein von stehendem Heer und Steuerstaat. Dass dieser Regelkreis ungestört funktioniert, ermöglicht dem Staat, vertreten durch seine Diener, die Rolle des arbiträren Dritten wahrzunehmen, ohne sie indes bereits zu garantieren. Geht die „public-choice“-Theorie einerseits von der rein materiellen Motivation öffentlicher Amts- und Funktionsträger aus, macht sie andererseits explizit zum Argument, dass im Gegensatz zu anderen Berufsgruppen Beamte über Staatsgewalt verfügen: Indem sie nämlich die Möglichkeit außer Acht lässt, dass das Eigeninteresse an der Staatsgewalt den allgemeinen Nutzen zu verbessern vermag und durch vielfältige Anreiz und Sanktionsmechanismen mobilisiert werden kann. Warum sollen, um ein Beispiel von Gordon Tullock aufzugreifen,1230 Richter nicht auch ein persönliches Interesse, etwa Beförderungen oder Ehrungen verfolgen, indem sie Rechtserzeugung als das von ihnen erzeugte öffentliche Gut optimieren? Dies ist eine Frage von Steuerungssteuerung und gegenseitiger Kontrolle.

1227 1228 1229 1230

Braddick 2005, 82. Isensee 1988, § 57, 29. Herzog 1971, 261; Heller 1983, 148 f. Tullock 1974, 98.

C. Pathologien des modernen Staates

341

3. Der Justizstaat Die Anfälligkeit des Individuums, bewusst oder unbewusst seine persönlichen Präferenzen statt des jeweils als Entscheidungsgegenstand anstehenden öffentlichen Guts zum Maßstab von Entscheidung zu machen, erstreckt sich freilich auch auf Richter. Da diesen jedoch im Rechtsstaat schon allein per definitionem weitestgehende Autonomie eingeräumt werden muss, sind die Missbrauchsmöglichkeiten hier entsprechend größer, was sich nicht zuletzt aus einer erschwerten Nachweisbarkeit „parteiischen“ Verhaltens speist.1231 Exkurs: Das Dilemma des Rechtsstaates und der Vergleich mit England Rechtsstaatlichkeit bedeutet Einklagbarkeit jeglicher staatlichen Handlung vor Gerichten. In ihrer Absolutheit liegt jedoch zugleich das Problem dieser Aussage begründet. Zwar bildet auch die Justiz eine gegenüber gesellschaftlichen Interessen übergeordnete und im Wortsinne arbiträre Institution. Darüber hinaus scheint das Rechtsstaatsprinzip sogar gleichsam eine Krönung der das Gefangenendilemma überwindenden Steuerung darzustellen; aber hier liegt genau das Problem begründet: Die über staatliches Handeln urteilende Gerichtsbarkeit stellt den Staat auf eine Stufe mit den anderen Partikularinteressen, die am Gefangenendilemma teilnehmen. Beschreibt dies bereits an sich ein staatspolitisches Dilemma, so wird die Partikularisierung des Staates durch eine demokratisch legitimierte Staatsgewalt verschärft. Der staatliche Willensbildungsprozess, der zumindest auf der gesetzgeberischen Ebene in den meisten Demokratien schon selbst kompliziertes Ergebnis von Interessenkonkurrenz darstellt, droht durch die Einklagbarkeit seiner Ergebnisse wieder auf die Stufe eines im Gefangenendilemma verhafteten Akteurs zurückgesetzt zu werden. Dies verhält sich aber nicht in jeder Demokratie, die im weitesten Sinne als dasjenige gestaltet ist, was noch mit dem deutschen Begriff des Rechtsstaates bezeichnet werden kann, solcher Maßen. In England ist weder die eigentliche Willensbildung konsensual angelegt, noch ist Staatshandeln uneingeschränkt einklagbar. Beides gründet im Parlamentsabsolutismus, aus dem eine Art „elective dictatorship“ resultiert, die entsprechend auch gegenüber dritten, also der Judikatur, gilt.1232 Unter den Bedingungen einer parlamentarischen Demokratie bedeutet dies eine Unanfechtbarkeit demokratischer Willensbildung: „What the queen in parliament enacts, is law.“

1231

Tullock 1974, 100. Erkannt wurde dieses Phänomen, noch bevor die englische Demokratie wirklich bestand, von niemandem anders, als von einem Radikaldemokraten wie Rousseau: „Je n’ai pas lu que le titre de cives ait jamais été donné au sujet d’aucun prince, pas même anciennement aux Macedonniens, ni, de nos jours, aux anglois, quoique plus près de la liberté que tous les autres.“, Du contrat social, 1. Buch, 6. Kapitel, cf. Erster Teil A. II. 1232

342

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

Trotz europäischer Harmonisierung agiert auch „her majestys government“ grundsätzlich justizfrei.1233 In anderen Bereichen hat der europäische Integrationsprozess, namentlich dort, wo er verbindlich vorgab, Kollektivgütermärkte der „Daseinsvorsorge“ zu deregulieren, oftmals erst die faktischen Voraussetzungen geschaffen, die eine nachträgliche gerichtliche Kontrolle und mithin die Judiziabilität von marktschädigendem Verhalten überhaupt erst ermöglichen.1234 Das Rechtsstaatsprinzip ist freilich auch bei ökonomischer Betrachtung mehr als nur ein hinzunehmendes Hindernis, sondern erweist sich regelmäßig als Garant von Selbstregulierung: Da die Rechtsprechung regelmäßig auf die Aussagen und Werte freiwilliger Selbstverpflichtungen der Industrie zurückgreift, wird die Zahl von Übertretungen dieser Empfehlungen gesenkt und werden die Kräfte des Staates ergo geschont.1235 Der große Einfluss der Justiz beruht in der auf Locke und Montesquieu zurückgehenden Annahme, die Justiz sei gar keine Gewalt, sondern wende die Gesetze nur an.1236 Hierin spiegelt sich ein im weiteren Verlauf der Aufklärung verbreiteter Optimismus wider, wie er sich sodann auch im Gebot der wortgetreuen Gesetzesauslegung des Preußischen Allgemeinen Landrechtes findet.1237 Die Justiz ist einem berühmten Wort Montesquieus zufolge „en quelque facon nulle“. Gleichwohl ist es bereits eine via media, die Montesqieu mit seinem Modell einer zwar nicht buchstabengetreuen, wohl aber auf Gesetzesmilderung beschränkten Interpretationshoheit der Justiz beschreitet, die jedoch nur neben bzw. über einer ausschließlich buchstabengetreuen gesetzeskonformen Justiz bestehen darf.1238 Insofern dürfte Montesquieu jedoch, gerade weil er auch eine nicht rein buchstabengetreue Justiz als notwendig erachtet, die Gefahr eines möglichen Justizstaates erkannt haben.1239 Freilich hat sich in den pluralistischen Gesellschaften fortgeschrittener Demokratie mittlerweile die Meinung verbreitet, dass ein „Toleranzspielraum für Widersprüche und Ambivalenzen in einem gegebenen politischen System“ von existenzieller Bedeutung ist.1240 Diesen Bedarf, Widersprüche und Ambivalenzen abzubilden, kann eine als kompetenzübergreifend und nicht mehr als kompetenz1233

Allgemein: Schieren 2001; für das Beispiel der Stromwirtschaft: Ruge 2004,

254. 1234

Für das Beispiel des Strommarktes: Ruge 2004, 241. Ruge 2004, 240. 1236 Habermas 1965, 95. 1237 ALR §§ 46 ff., zit. nach der Ausgabe von Pappermann 1972, 46 f. 1238 Allein schon daraus versteht sich von selbst, warum für Montesquieu das politische System Englands idealtypisch ist, das er im sechsten Kapitel des elften Buches „De l’esprit des lois“ nachgerade enkomiastisch beschreibt.; Waschkuhn 1998, 215. 1239 Voigt 2007, 72. 1240 Deutsch 1973, 23. 1235

C. Pathologien des modernen Staates

343

überschreitend begriffene Justiz institutionell befriedigen. Auch die Verfassungsordnung, wie sie das bundesdeutsche Grundgesetz vorsieht, ist „dadurch gekennzeichnet [. . .], daß die Staatsleitung einfach ,Parlament und Regierung zur gesamten Hand‘ (Friesenhahn) zusteht“ –1241 nicht jedoch den Gerichten. Jurisdiktionelle Staatsleitung wird unterdessen als unvermeidbare Folge von Rechtsfortbildung legitimiert, die wiederum jeder Rechtsprechung zwingend innewohne. Dass über Drittwirkung Grundrechte auch Private binden, stellt mittlerweile ein weltweit anzutreffendes Phänomen dar, was einmal mehr zeigt, dass auch die hier erörterten Entwicklungen einer vom Staat initiierten und gesteuerten gesamtgesellschaftlichen Demokratisierung den modernen okzidentalen Staat als Typus betreffen.1242 Im speziellen Fall der Bundesrepublik Deutschland tritt ein weiteres höchst fragwürdiges Argument hinzu: Das Bonner Grundgesetz verbiete nicht expressis verbis die Teilhabe der Jurisdiktion an der Staatsleitung. Es fragt sich indes, ob für ein derart sensibles und riskantes Gebiet wie die Staatsleitung das Fehlen von Verboten positive Vollmachten ersetzen kann.

II. Die totalitäre Versuchung moderner Staatlichkeit Merkmal totalitärer Regime im Allgemeinen ist die Gleichschaltung aller sozialen und politischen Institutionen. Damit sind totalitäre Regime staatsgeneigt. Nicht nur der dramatische Rückgang der Zahl solcher Regime nach dem Untergang des sowjetischen Imperiums kennzeichnet diese Verabsolutierung des Staates als ein primär historisches und lediglich sekundär „logisch“ bedingtes Phänomen. Es folgt vielmehr der Eigenlogik entstehungsgeschichtlicher Abläufe. Bereits am Vorabend des Ersten Weltkriegs ist der staatstheoretische Diskurs in England von Postulaten eines Staates als monopolistischer Bezugsgröße des Individuums wahrzunehmen. „As compared to those more closely associated with idealism, however, the thinkers later dubbed ,pluralists‘ were less inclined to integrate groups into a single hierarchy, or to insist upon the ascendancy of the state.“ 1243

Ursächlich für diese Konzepte ist also die Sorge, in einer fortgeschrittenen Phase von Industrialisierung und Marktwirtschaft die Gesellschaft zu integrieren: Komplementär zum englischen Modus, das Problem als ein gesellschaftliches wahrzunehmen, lässt diese Entwicklung in Kontinentaleuropa hingegen einen liberalen Demokraten wie Smend den Staat als Integrationsmodus reformulieren. Verabsolutierung des Staates erweist sich gerade aufgrund seiner hohen integra-

1241 Böckenförde 1972, 444 unter Berufung auf Friesenhahn 1958, 37 f. Von politikwissenschaftlicher Seite sei als geradezu klassisch Ellwein/Görlitz 1967, 22 ff. genannt. 1242 Seedorf 2005; Preedy 2005. 1243 Meadowcroft 1995, 226.

344

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

len, legitimierenden und konziliatorischen Fähigkeiten als schleichende Versuchung, von der Demokratie und selbst Liberalismus nicht frei sind. 1. Der Arbeiter- und Bauernstaat Finaler Konflikt totalitärer Regime kommunistischer Observanz ist nicht zuletzt die Einseitigkeit, mit der insbesondere im so genannten „Wissenschaftlichen Kommunismus“, wie er vor allem den postkolonialen Satellitenstaaten des Sowjetunion, aber auch den europäischen und dem sowjetischen Staat selbst zugrunde gelegt worden ist, Rationalität zum steuernden Prinzip erhebt: Rationalität und Rationalisierung bedürfen jedoch paradoxerweise gewisser Freiheitsgrade individueller und kollektiver Akteure, um nicht suboptimal Aufgaben zu bewältigen;1244 relativ schnell aber belässt ihnen kommunistische Planwirtschaft diese Freiheitsgrade aber nicht mehr.1245 Auch eine überschießende Planung den Individualinteressen übergeordneter Dritter, wie Staat und Partei, kann zu Nash-Gleichgewichten führen und Fortschritt somit hemmen oder gar verhindern. Dieses Problem ist freilich nicht auf das historische Beispiel kommunistischer Staaten beschränkt, sondern als Symptom sozialer Sklerose wie auch alles verdrängenden Ökonomismus ebenfalls den übrig gebliebenen staatlich verfassten Gesellschaften des Westens nicht fremd. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die nicht unmaßgeblich durch überschießende Rationalität verursachte Erstickung der kommunistisch verfassten Gesellschaften Folge einer umfassenden und kontingenten Staatstheorie des Kommunismus ist: Entscheidend ist dabei, dass diese Staatstheorie, die genau genommen nur eine Theorie über dessen „Absterben“ ist, bereits bevor die Marktwirtschaft als selbstreferentielles Konzept bewusst wird, vorhanden ist und bereits auf Marx selbst zurückgeht.1246 Der Staat wird dort als gleichsam neutral und arbiträr getarnte Interessenagentur der bürgerlichen Klasse dargestellt, die somit diskret ihre primär wirtschaftlich begründete Allmacht über den Staat institutionalisiert. Zwar bleibt in den totalitären Gemeinwesen sozialistisch-kommunistischer Observanz Besteuerung grundsätzlich erhalten, wird aber angesichts fehlender größerer privater Kapitalakkumulation schnell nachrangig. Damit fällt das entscheidende Umverteilungsinstrument aus. Umverteilung ist jetzt entweder funktionell durch staatliche Zuteilung ersetzt oder erfolgt durch Finanztransaktionen zwischen den staatlichen Betrieben. Gegen Ende der Herrschaften des „Ostblocks“ gewinnen solche Wirtschaftsformen, die teils als formal „privatrechtlich“ geregelt, teils ungeregelt erfolgen, zunehmend an Bedeutung. Dies kann zumindest ex post insofern als Krisensymptom interpretiert werden, als sich offensichtlich ein Bedarf nach kapitalistischer Wirtschaftsweise auch unter den Bedingungen fortgeschrittener sozialistischer Planwirtschaften staatlicher Urheberschaft überhaupt einstellt und zudem nur eingeschränkt systemimmanent befriedigt werden kann.1247

1244

Sen 2002, 52. Waschkuhn 1998, 247. 1246 Auf diese frühe Ausprägung weist u. a. Olson 1998, 101 hin. 1247 Weralski 1984; Jelc ˇ ic´ 1985 sind soweit bekannt die einzigen Monografien aus der kommunistisch beherrschten Welt, die solche kapitalistischen Transaktionen darstellen. 1245

C. Pathologien des modernen Staates

345

Im Arbeiter- und Bauernstaat ist bekanntlich das Absterben des Staats Programmpunkt. Das funktionalistische Geschichtsbild des Marxismus gestattet nicht, Staat als arbiträre Größe anzuerkennen. Staat ist vielmehr immer Herrschaftsmittel von Klassen

2. Der Führerstaat Der Begriff des Führerstaates stellt sich als contradictio in adiecto dar, zumindest wenn das dieser Untersuchung zugrunde liegende Verständnis des Staates als übergeordnetem, arbiträrem, durchaus mit Zwangsgewalt ausgestattetem Institutionenzusammenhang enstanden, um den Individualnutzen möglichst aller zu optimieren, zum Maßstab genommen wird. Das Augustinische Bild des Staates als Räuberbande trifft auf die als Drittes Reiches bezeichnete Herrschaftsorganisation der Nationalsozialisten in einem womöglich wörtlicheren Sinne zu, als dies bislang bewusst ist.1248 Schwierig einzuschätzen bleibt die moralisch ehedem amorphe Frage, inwieweit der Gesamtnutzen durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft maximiert wird und dabei für die nicht verfolgte Mehrheit der Bevölkerung pareto-optimal ist. Totalitäre Systeme sind aufgrund des ihnen zugrunde liegenden immanenten Heilsplans rationaler Betrachtung zunächst unzugänglich, auch wenn sie sehr wohl ihre eigene ratio haben, wie unter anderen Mancur Olson betont: unendlicher Individualnutzen, der daraus gezogen werden kann, dass die Gruppe ihr Utopia erreicht, rechtfertigt nahezu unendliche Individualkosten.1249 Läuft der Limes des Individualnutzens gegen unendlich, so muss der Limes der Individualkosten nur gleichsam phasenverschoben sein. Dies scheitert in der Praxis daran, dass die Kosten im Voraus zu entrichten und nur durch die Glaubwürdigkeit der Machthaber gedeckt sind. Die eigentliche Funktion solcher Organisation von Gemeinwesen liegt in der pathologischen Bewältigung massenhaft auftretender psychischer Störungen.1250 Ein Liberaler und zugleich ein Vater der Weimarer Reichsverfassung formuliert schon früh den Typus des Führerpolitikers, der seine Macht durch massendemagogische Mittel gewinnt: Max Weber. Dieser Führer sei keinesfalls rational legitimierter Mandatar des Volkes, sondern vielmehr charismatischer Caesar. Dieses politische Bedürfnis erachtete Weber sodann im Amt des Reichspräsidenten als Ersatzkaiser für konstitutionell realisiert.1251

1248 Obwohl die Idee, die nationalsozialistische Gewaltherrschaft als prädatorisches Regime zu begreifen, schon alt ist, steht die Diskussion mit Alys These vom Führerstaat als „Volksstaat“ erst am Anfang, cf. zum Begriff des auf Joachim von Fiore zurückgehenden Begriffs Butzer 2003, 600 ff. 1249 Olson 1998, 159. 1250 Olson 1998, 159. 1251 „Deutschlands künftige Staatsform“, Artikel in der Frankfurter Zeitung vom November 1918.

346

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

Der Führerstaat geht auf einen langen Entwicklungsprozess in der politischen Ideengeschichte zurück, deren Ausgang bereits an den konkreteren Entwürfen von Platons Politeia ausmachen zu können bisweilen angenommen wird.1252 In einer spezifisch antidemokratischen und faschistischen Ausformung findet er sich bereits im Herrscherideal der Alldeutschen1253 und verfügt seit Mussolinis Marsch auf Rom im Jahre 1922 erstmals über einen existierenden Modellstaat. a) Daseinsvorsorge als nationalsozialistisches Konzept? Die Idee der Daseinsvorsorge, ja des Interventionsstaates überhaupt ist ein Phänomen ihrer Zeit, und das bedeutet im Falle Deutschlands ein Phänomen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, das als solches wiederum ambivalent ist: Die veränderte Situation einer fortgeschrittenen Industriegesellschaft hochmoderner Provenienz verleitet Zeitgenossen zu der These, dass die „Grundrechte der Geschichte angehören“ und „individuelle Freiheit und staatlicher Zwang“ als Antinomie rechtsstaatlichen Denkens überholt seien.1254 Verfassungsrechtlicher Kunstgriff ist dabei die Abgeleitetheit der individuellen Grundrechte als staatlicher Garantie statt als naturrechtlicher Gegebenheit:1255 Eine solche Argumentation wäre im englischen Denken, aber auch in jeder anderen Naturrechtssystematik gar nicht möglich und wird nur vor dem spezifischen Hintergrund des deutschen Obrigkeitsstaates verständlich. Es ist für den Führerstaat kennzeichnend, dass er sich in stärkerem Maße als die zeitgenössischen Demokratien auf das Gemeinwohl in der spezifischen, bereits erstaunlich ökonomisch und rational geprägten Legitimationsformel des „Gemeinnutzes“, der Vorrang vor dem „Eigennutz“ habe, zurückgriff.1256 Den Rechtsstaat zu verabschieden wird mit den sozialen Verpflichtungen des Staates motiviert und begründet. Für die Ursachen totalitärer Entartung moderner Staatlichkeit ist Forsthoffs Gedanke überaus instruktiv: Der liberale Rechtsstaat bürgerlicher Provenienz stellt sich der Bevölkerung mehrheitlich als kalt und desintegrierend dar. Demgegenüber bietet der Nationalsozialismus genau das an, was Josef Isensee als atmosphärische Qualität auch der vormaligen DDR ausmacht: An die Stelle der Bürgergesellschaft tritt die „Volksgemeinschaft“,1257 „in 1252 1253 1254 1255 1256

Popper 1992 (I), 27–239; Waschkuhn 1998, 180. Cf. das Pamphlet Heinrich Claass, Wenn ich Kaiser wär’ von 1911. Forsthoff 1938, 1. Herzog 1971, 369. Cf. Michael Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht,

1974. 1257 Wie tief diese Sehnsucht wurzelt, kann daraus ermessen werden, dass der Mythos von der Volksgemeinschaft bereits in den früheren Zwanziger Jahren topisch ist und vornehmlich in Deutschnationalen Kreisen verwandt wird, Hildebrand 2004, 85 und passim.

C. Pathologien des modernen Staates

347

der auch der letzte willige Volksgenosse das Gefühl der Zusammengehörigkeit findet.“ 1258 Bürgerliche Freiheit ist für die neuen Massen des industriellen Proletariates, der Kriegsversehrten und des abstiegstraumatisierten Kleinbürgertums zur „Freiheit unter den Brücken“ (Proudhon) geworden. Freiheit wird als vermeintliche Herrschaftsstabilisierung derer wahrgenommen, auf die alle Aggressionen konzentriert werden: Juden im einen Fall, ein wie auch immer zu definierender „Klassenfeind“ im anderen Fall. Tatsächlich korrespondiert der Totalitarismus mit der großen Krise der Moderne, die mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Jahre 1914 ihren Ausgang nimmt: Der Wirtschaftskrise, der Demokratiekrise, der Nationenkrise. b) Spezifika nationalsozialistischen Totalitarismus Was den Nationalsozialismus vom Kommunismus, aber auch vom italienischen Faschismus unterscheidet, ist seine gleichermaßen eigentümliche wie eigenartige Ideologiefremdheit, die Ideologie zugunsten einer Mystifizierung machtpolitischen Denkens zurücktreten lässt. Das Kennzeichnende am Nationalsozialismus ist gleichsam die bereits inhärent-konzeptionell angelegte Verselbstständigung von Herrschaft und Gewalt, die sich von Beginn an vorhanden, dann während Hitlers Herrschaft den Zeitgenossen als historischer Prozess erst zu entfalten scheint. Dass er dabei in einer Traditionslinie des deutschen Obrigkeitsstaates steht, dürfte mittlerweile ebenso unumstritten sein wie die Erkenntnis, dass jener Obrigkeitsstaat nicht zwangsläufig in einer totalitären Gewaltherrschaft enden muss. Anders als der Kommunismus zeichnet sich der Nationalsozialismus von vornherein durch eine dezidiert antidemokratische Haltung aus. Das Konzept des „gouvernment by discusion“ mit Parlament und als zentralen Institutionen widerspricht den Staatsvorstellungen des Dritten Reiches.1259 Der Vorwurf inhaltlicher Indifferenz des parlamentarischen Mehrheitsprinzips1260 ist ebenfalls sicherlich nicht ohne den Hintergrund der instabilen Verhältnisse der Weimarer Republik verständlich, in der wechselnde Mehrheiten und Regierungen, die wiederum auch aus einem ungedämpften Verhältniswahlrecht resultieren, zumindest ab 1928 Regel waren. Demgegenüber bietet der Führerstaat das Konzept des Maßnahmestaates und damit der einfachsten Dialektik, derjenigen von Befehl und Gehorsam.1261 1258 Präambel zur DGO, Deutscher Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger, 1935, Nr. 25 ff., ebenfalls zit. nach Isensee hier: Isensee 1968, 83. 1259 Forsthoff 1933, 16. 1260 Forsthoff 1933, 20. 1261 „Das auszeichnende Merkmal einer autoritären Ordnung ist die Befehlsförmigkeit ihrer Gliederung“, Forsthoff 1933, 34. Parlamentarismusskepsis und Führerstaatsprogramm entwickelt aber auch vor seiner Emigration ein Gelehrter wie Bergstraesser.

348

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

In seiner Auseinandersetzung mit der Demokratie ist ein Mittel der Ideologiegewinnung, dessen sich der Führerstaat bedient, die auch heute bei inhaltsarmen, also vornehmlich rechtsextremistischen totalitären Herrschaftsformen anzutreffende gezielte Verunglimpfung demokratischer, rechtsstaatlicher und anderer freiheitlicher Konzepte durch Reduktion auf deren Extremformen. So schreibt Forsthoff, Demokratie sei die „Staatsform, die in ihrem Wesen durch die Gleichsetzung von Regierenden und Regierten bestimmt wird.“ 1262 c) Unvereinbarkeit von Führerprinzip und Staatlichkeitsprinzip Schon zu Beginn des Dritten Reiches zeigt sich freilich ein Antagonismus von Führerprinzip und Staat.1263 Während das Führerprinzip seiner Eigenart nach hochgradig an die Person Hitlers und damit zeitlich ist, bleibt der Staat notwendig „res publica aeterna“. Diese Sorge, mit dem Staat der größten neuzeitlichen Rationalisierungsleistung überhaupt verlustig zu gehen, schimmert bei Forsthoff bereits im Jahre 1933 durch, wenn er nach einigen möglicherweise pflichtschuldigen, möglicherweise überzeugten Lobpreisungen Hitlers äußert: Der Staat „ist, so stark das Moment persönlicher Führung auch sein mag, mehr als ein persönlicher Führungszusammenhang.“ Was dann folgt, ist beinahe schon als sensationell zu bezeichnen: „Die persönliche Führungsgemeinschaft erlischt mit der Person des Führers, und ist darum zeitgebunden. Der Staat darf nicht erlöschen; er ist die Form der politischen Existenz des Volkes, und das Volk darf nicht politisch untergehen. Der Staat ist gebunden an Tradition, Gesetz und Ordnung.“ 1264 Vor allem die Mehrheit der deutschen Staatsrechtslehre bleibt während des Dritten Reiches einer der führenden Protagonisten des Staates, was ihr gerade durch ihre ideologische, bisweilen sogar moralische Indifferenz möglich wird.1265 Bollwerk dieses technischen Staatsverständnisses, das Staat als Ordnungsprinzip gegenüber Führer und Reich, Partei und Bewegung begreift, um ein als existentiell erachtetes Maß an Effizienz bei der öffentlichen Bewältigung gesellschaftlicher Probleme aufrechtzuerhalten, ist die klassische Verwaltung. Da Bestand und Fortentwicklung von Rationalisierung öffentliches Engagement und moralische Kompromittierung motivieren, dienen „Verlässlichkeit und Regelhaftigkeit“ als Orientierungsgrößen.1266 Hat er erst einmal den bürgerlichen Rechtsstaat als Der maßgeblich von Fraenkel empirisch unterlegte und theoretisch weiterentwickelte Begriff des Maßnahmestaates ist nach dem Krieg scharf kritisiert worden, namentlich von Forsthoffs Schüler Zeidler, Günther 2004, 275. Als nichtjuristische Kategorie reflektiert er freilich den Gegensatz zum Gesetzgebungs- wie auch zum Rechtsstaat derart anschaulich, dass er namentlich in der Geschichtswissenschaft bis heute verwandt wird. 1262 Forsthoff 1933, 30. 1263 Zum Phänomen als solchem grundlegend die magistrale Arbeit von Rebentisch 1989, sowie von Hehl 2001. 1264 Forsthoff 1933, 31. 1265 Günther 2004, 52 f.

C. Pathologien des modernen Staates

349

Richtgröße abgelöst, bleibt der Verwaltungsstaat sodann auch in der neugegründeten Bundesrepublik lange noch Maß des Staatsrechts.1267 Tatsächlich wird der klassische Rechtsstaat bürgerlicher Provenienz auch niemals wieder derart interventionsarm werden, vielmehr amalgamisiert der Verwaltungsstaat allmählich mit dem sozialen Rechtsstaat. Staatslähmung bildet in Gestalt der Ausnutzung des prekären Zustandes, in dem sich die Einheit des modernen Staates befindet und die in der zunehmenden funktionellen Differenzierung begründet liegt, ein ganz spezifisches Instrument totalitärer Herrschaftssicherung: Führermacht kann nur bei Hemmung und Hinderung von Staatsmacht dominanter Herrschaftsmodus sein.1268 Die abnehmende Einheit des Staates dient jedoch nicht nur als systempolitische Herrschaftsgrundlage, sondern ist im Führerstaat des Dritten Reiches auch gegenüber der Gesellschaft wirkungsvolles Terrormittel:1269 Dieses Phänomen ist bereits zeitgenössisch eingehend von Fraenkel in seiner Studie über den „Dual state“ beschrieben und untersucht worden.1270 Obwohl für das Dritte Reich spezifisch, so ist das Phänomen parastaatlicher Institutionen, die von staatlichen Kontrollen und Verpflichtungen einerseits entbunden, aber andererseits mit formal weiterhin staatlichen Gewaltbefugnissen ausgestattet sind, nicht auf dieses beschränkt, sondern in totalitären Systemen verbreitet. Auch der islamische Gottesstaat des Iran kennt mit den Pastamaran bzw. anderen motorisierten Schlägertrupps solche gouvernemental organisierten und von den übrigen staatlichen Gewalten hingenommenen oder auch unterstützten Institutionen.1271 d) Ökonomischer Terror statt Terror der Ökonomie? Dass solche totalitäre Polykratie anders als pluralistische Polyarchie nur für den Führer rational ist, ansonsten aber ineffizient, scheint eine selbstverständ1266

Günther 2004, 54. Günther 2004, 207. Zugrunde liegen diesem Staatskonzept zwei getrennte Sphären, die Forsthoff bereits 1933 vorgezeichnet hat, wonach die totalitären Systemelemente die überkommenen staatlichen Strukturen lediglich ergänzen sollen: „Bürokratische und befehlsförmige Verwaltung müssen darum nach den Erfordernissen der staatlichen Aufgaben angesetzt, balanciert und in einer sinnvollen, die Einheit der gesamten Verwaltung verbürgenden Verbindung gehalten werden.“, Forsthoff 1933, 37; cf. Staff 1987, 151. 1268 Cf. Erster Teil A. II. 1. a). 1269 Cf. ebd. 1270 Fraenkel 2001. 1271 Van Creveld 1998, 328 sieht hierin allgemein ein Merkmal verschwindender Staatlichkeit. Diese Beobachtung, die auf die Entwicklung der auch als „low intensity conflicts“ bekannten „Neuen Kriege“, wie sie in der so genannten „Dritten Welt“ stattfinden, bezogen ist, erweist sich jedoch auch für die Eigenart totalitärer Regime aufschlussreich: Solche „Schlägerbanden“ zeugen von einer Auflösung des Staates inmitten seiner totalen Ausbreitung. 1267

350

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

liche Folgerung darzustellen.1272 Dies ist aber zunehmend in Zweifel geraten. Nachdem mit der gebotenen moralischen Sensibilität bereits in den 1960er Jahren kliometrisch fundierte Zweifel geäußert worden sind, ob der Zweite Weltkrieg saldiert tatsächlich zu einem Wachstumsrückgang geführt habe, lässt sich eine relative Kontinuität der deutschen Wirtschaft mittlerweile fast als opinio communis der Wirtschaftsgeschichte bezeichnen.1273 Das Wirtschaftswunder der Ära Adenauer sieht sich als Wunder verstärkter Entzauberung ausgesetzt. Trotz aller Gefahr, moralischer Indifferenz anheim zu fallen, ist eine relative Prosperität in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre nicht zu übersehen, die auf die kriegszentrierte Rationalität des Systems und dem schon gegen Ende der Weimarer Republik einsetzenden Wandel vom demokratischen Gesetzgebungsstaat zum autoritären Maßnahmestaat gründet. Dieses vollzieht sich nicht zuletzt gerade durch die spezifisch menschenverachtenden Vorfälle, namentlich Enteignungen und Plünderungen. Möglicherweise hat sich das Wirtschaftswachstum in Westdeutschland zwischen nationalsozialistischer Machtergreifung im Jahre 1933 und Gründung der Bundesrepublik relativ stetiger entwickelt als in den angelsächsischen Demokratien. Der dafür entrichtete Preis zieht freilich in einem bis dahin nicht anzutreffenden Maße in Zweifel, was bis heute als Selbstverständlichkeit der Moderne ausgegeben wird: Mit materiellem Fortschritt stets Fortschritt schlechthin gleichzusetzen. Die Verbrechen des Führerstaates erzeugen einen gewaltigen Veränderungsdruck auf Legitimität und Definition des modernen Staates überhaupt. Im hiesigen Zusammenhang ist dabei vornehmlich die erhebliche Diskreditierung des Gemeinwohls als Wert von Bedeutung: Einst als Inbegriff moderner Herrschaftsbegründung entstanden, ist es, durchaus phasenverschoben, im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts in beträchtliche Legitimationskrisen geraten.

III. Gibt es einen Klassenstaat? Karl Marx sieht im Staat der Moderne, die bei ihm bekanntlich in die beiden Stadien der Klassenherrschaft und des zu erstrebenden Kommunismus zerfallen, zunächst ein Produkt der bürgerlichen Gesellschaft, das sich diese als Herrschaftsapparat errichtet habe.1274 Dieser Hypostasierung unternehmerischer Macht entspricht in der Ideologie des bürgerlichen Klassenstaates die Hyperstasierung von auch politische Freiheit schädigender Lohnabhängigkeit und Er-

1272 Die in dieser Form auch bereits zeitgenössisch von Kirchheimer erwogen und in der Literatur lange Zeit übernommen wird, e. g. Saage 1989, 88, Waschkuhn 1998, 253. 1273 Werner Abelshauser in der Financial Times Deutschland vom 8. Mai 2005. 1274 Marx/Engels, Das kommunistische Manifest, Berlin 1958, Bd. 1, 43; Olson 1992, 101 f.; Waschkuhn 1998, 238.

C. Pathologien des modernen Staates

351

werbslosigkeit als reinen Marktstörungen, die Staat keineswegs rechtfertigten.1275 Die Anonymisierungsvorgänge und neuen Unsicherheiten individueller Lebensbewältigung, die aus der Massenbezogenheit rationaler Produktionsmethoden resultieren, wie sie industrielle und bürokratische Organisation darstellen, werden bereits zeitgenössisch als Ursache dafür angesehen, dass überkommen soziale Bindungen zerbrachen und Kontinuität menschlicher Existenz durch Periodizität ersetzt wird.1276 Der Klassenstaat als Konstrukt wie als Wirklichkeit gründet auf der funktionalistischen Erklärung einer Gesellschaft, deren Individuen auf der Prämisse des Individualismus handeln: Als Theorienstreit ist es die funktionalistische Reduktion des methodischen Individualismus, die die Urheber des Kommunismus zum Konstrukt des Klassenstaates führt. Im wirtschaftlichen und sozialen Vollzug ist es die funktionalistische Erklärung zumindest tatsächlich egoistischen Handelns der Individuen als einem Klassenhandeln, das die anzutreffenden vormarxistischen Verhältnisse als Klassengesellschaft entschlüsselt.1277 Der Staat als arbiträre Größe kommt im Marxismus nicht vor: Staat ist in jedem Falle Klassenstaat und als solcher zu überwinden. Der Kommunismus kennt keinen Staat als arbiträre Größe. Gegenüber den betroffenen Massen haben industrielle Unternehmer regelmäßig einen Organisationsvorsprung, da nicht zuletzt durch Spezialisierung und Differenzierung begünstigt, diese Gruppen nur Oligopolgröße erreichen.1278 Unmittelbarsten Ausgleich durch demokratisch legitimierte und befristete Aufteilung vorübergehender Inbesitznahme des Staates durch gewerkschaftliche oder unternehmerische Interessen bietet grundsätzlich ein Zwei-Parteiensystem,1279 wenngleich dieses auch nicht säkulare Ausschläge innerhalb einer Generation zu regulieren vermag. Ein Indiz, das die These des Klassenstaates zumindest in Ansätzen belegt, liegt im Fortleben ständestaatlicher Elemente als klientelistischer Steuerpolitik vor: Das preußische aber auch zahlreiche andere Steuersysteme des 19. Jahrhunderts progedieren nicht nach Vermögen, sondern nach Vermögensart: Grundbesitzer und somit vornehmlich Adelige unterliegen bis zur Erzbergerschen Steuerreform der Weimarer Republik im Jahre 1921 deutlich geringeren steuerlichen Belastungen als das Bürgertum, dessen Vermögen auf Industrie, Handel und Kapital beruht:1280 Gerade dies begründet jedoch Zweifel an Marxens Thesen einer Herrschaft der Bourgeoisie.

1275 1276 1277 1278 1279 1280

Olson 1992, 121. Meadowcroft 1995, 20 und 174. Heijdra/Lowenberg/Mallick 1988, 296 und 314. Olson 1998, 141. Olson 199, 133. Spoerer 2004, 25.

352

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

1. Ausgangslage der Fragestellung Inwieweit Adelsprivilegien eine Partikularisierung des Staates begründen oder als partikularistische Relikte vorstaatlicher Ständeherrschaft nachhallen, ist kaum abzugrenzen. Privilegienwahrung und Instrumentalisierung des Staates zeigen sich hierbei als fließend. Die wirtschaftlich führenden Schichten fallen auch vor dem Ersten Weltkrieg zunehmend in Kapital und Bodeneigner auseinander. Freilich sind formale und tatsächliche Steuerinzidenz von einander stark abweichend, da die Steuerlast regelmäßig überwälzt wird, wo dies möglich ist.1281 Obwohl der Politik dieses Phänomen bereits im 19. Jahrhundert bewusst ist, ist es wissenschaftlich bis heute nicht aufgearbeitet.1282 Möglicherweise katalysiert auch die überdurchschnittlich starke Belastung in der Rheinprovinz und in Westfalen,1283 also genau dort, von wo die deutsche Industrialisierung ihren Ausgang nimmt, Landflucht und Klassengegensätze. In England wird die Instrumentalisierung und Manipulation des Staates durch Interessen einer so genannten Bourgeoisie analog auf die These vom „general will“ übertragen, der von Partikularinteressen korrumpiert werden könne. Dort wird Demokratie als probatestes Mittel gegen eine Herrschaft der „Bourgeoisie“ auch von sozialistischer Seite empfohlen.1284 Beende die Demokratie, also der demokratisch verfasste Staat, nicht die Klassenherrschaft, so läge keineswegs in Staat und Demokratie eine Störung begründet, sondern vielmehr in der Bürgerschaft.1285 Die genuin marxistische These, Staat als Klassenstaat zu definieren, findet in der englischen öffentlichen Diskussion erst mit dem Ersten Weltkrieg und der Oktoberrevolution Eingang.1286 Dabei ist in England das Phänomen des Klassenstaates deutlich stärker ausgeprägt als in Kontinentaleuropa, wo es weitgehend bei einer Klassengesellschaft bleibt, da es dem neu erstarkten Bürgertum nicht gelingt, sich mit Adel und überkommenen staatstragenden Eliten zu vereinen.1287 2. „Das Zeitalter der Massen“ Der moderne Staat erweist sich als eine monarchische Erfindung, die gegen den Adel gerichtet vom Bürgertum getragen ist und durch den vermittelt sowie auf den hin gerichtet in Gestalt des Nationalstaates die Massen aktiviert und integriert werden.1288 Die vorübergehende Stabilisierung, die vormoderne Stände1281 1282 1283 1284 1285 1286 1287 1288

Spoerer 2004, 29. Spoerer 2004, 30. Spoerer 2004, 46. Mac Donald 1912, 56. Mac Donald 1912, 56. Meadowcroft 1995, 234. Habermas 1965, 79. von Krockow 1976, 446 f.

C. Pathologien des modernen Staates

353

herrschaft im Verein mit dem erstarkenden Bürgertum durch den industriellen Kapitalismus erfährt, bleibt aber prekär, da diese Wirtschaftsverfassung auf permanenter Innovation und damit auch permanenter Veränderung der allgemeinen Lebensverhältnisse beruht und soziale Mobilität beschleunigt.1289 Dies bedroht jedoch nicht nur überkommene ständische Herrschaft, sondern führt jede ideologisch festgelegte Staats- und Gesellschaftsordnung ad absurdum. Die seit dem Entstehen des modernen Staates ständig neu auftauchenden gesellschaftlichen Gruppen, deren erste das Bürgertum darstellt, sind Produkt der staatlichen Verfasstheit der Gesellschaft: Entsteht die bürgerliche Gesellschaft durch den Staat,1290 so findet der „vierte Stand“ des Proletariates erst durch das Bürgertum und dessen Staat zu Identität und kann sich formieren. Der „vierte Stand“ ist tatsächlich in seinem Bestehen und Wirken noch staatsabhängiger als das Bürgertum. Daher hat die Sozialdemokratie anders als der Kommunismus den Staat von Beginn an als „treibende Kraft für den Kulturfortschritt“ erkannt.1291 Mit seiner Kritik kommt Marx hingegen den Theoretikern des Machtsstaates sehr nahe, zumal beiden ein Verständnis des Staates als instrumentell gemeinsam ist – und zwar gerade dieses den Machtstaatstheoretikern sich als entscheidend erweist.1292 Die allmähliche Wandlung des frühmodernen Anstalts- zum hochmodernen Interventionsstaat begünstigt die spätestens ab der Mitte des 20. Jahrhunderts festzustellende Nivellierung von Klassengegensätzen. Das marxistische Denken und seine Realität entkommen hingegen nicht ihrem Klassenverhaftetsein.1293 Nachdem bereits bei der Beratung der Weimarer Reichsverfassung der „Eintritt des vierten Standes“ in die Regierung von einem Nationalliberalen wie Friedrich Naumann konstatiert und die Erweiterung des bürgerlichen zum sozialen Rechtsstaate postuliert, aber eben auch prognostiziert worden ist,1294 schlägt sich diese Entwicklung nicht zuletzt in der späteren bundesdeutschen Staatsrechtslehre nieder, aus deren Blickwinkel der klassische Rechtsstaat bürgerlich-liberaler Provenienz während der 1960er Jahre zunehmend entschwindet.1295 Stattdessen wird in den 1970er Jahren das Ideal eines allumfassenden Wohlfahrtsstaates favorisiert, das sich seit den 1980er Jahren auf dasjenige eines subsidiären Sozialstaates konzentriert. Durch die Folgenbewältigung der untergegangenen DDR und das Aufkommen islamistischen Terrorismus hat sich bekanntlich die Frage nach 1289

Habermas 1965, 25. Habermas 1965, 33. 1291 Ritter 1991, 75. 1292 Ritter 1991, 2. 1293 Marx/Engels, Das kommunistische Manifest, Berlin 1958, Bd. 1, 23; Dahrendorf 1959, 35, hier nach der englischen Übersetzung des Verfassers zit. (dt. Originaltitel, Soziale Klassen und Klassenkonflikte in der industriellen Gesellschaft); Olson 1998, 101. 1294 Pauly 2004, 32; cf. auch ibid., 68. 1295 Günther 2004, 278 f. 1290

354

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

Wert und Weite des klassischen abwehrrechtlich konzipierten Rechtsstaates mittlerweile dramatisch reaktualisiert. 3. Rechtstaat als Formprinzip eines bürgerlichen Klassenstaates Das Formprinzip des bürgerlichen Klassenstaates ist der Rechtstaat, der den absolutistisch-adeligen Gesetzesstaat ablöst, der die in ihn von den Physiokraten gesetzten Hoffnungen frustriert hat.1296 Innovation der bürgerlichen Herrschaft ist die relative Diskretionierung von Exklusionsmechanismen:1297 „Juristische Herrschaftsgleichheit“ wird ergänzt durch „ökonomische[], allerdings erblich gesicherte[] Ungleichheit.“ 1298 Damit dürfte sich auch die Radikalität und Grundsätzlichkeit der marxistischen Kritik am Klassenstaat erklären. Der bürgerliche Rechtsstaat lässt anders als die vormoderne Adels- und Kirchenherrschaft den bürgerlichen Klassenstaat hinreichende Legitimität ermangeln.1299 Tatsächlich besteht aber auch eines der größten Probleme des Konzeptes vom Klassenstaat als Begründung marxistischer Herrschaft darin, dass es Legitimitätsdifferenzen innerhalb der Bevölkerung nicht aufheben kann, sondern potentielle Bürgerkriegsfronten vielmehr institutionalisiert:1300 Auf eine angenommene Diktatur des Kapitals wird mit einer solchen des Proletariates geantwortet. Der klassische Rechtsstaat zeigt sich dort als Herrschaftsinstitut eines bürgerlichen Klassenstaates, wo die auf die Pivatrechtsautonomie gestützte Unterscheidung von Privatrecht und öffentlichem Recht hypostasiert wird. Da echtes Privatrecht gar nicht staatlich garantiert werden kann, ist es im Grunde öffentliches Recht, das von Partikularinteressen besetzt wird. Die Infragestellung der grundsätzlichen Andersartigkeit zumal des gar „bürgerlich“ genannten Privatrechts ist eines der entscheidenden Indizien des ansonsten hochgradig diskreten Klassenstaates.1301 Namentlich Handel kann unter den Bedingungen moderner Ökonomien nicht ohne eine übergeordnete arbiträre Macht betrieben werden. Allein somit begünstigt aber Recht (durch Setzung) als staatliches Gut Eigentümer und Eigentumsvermehrung.1302 Insofern, als Recht immer bewahrend wirkt, wirkt es seiner Eigenart nach stabilisierend auf die bestehenden sozialen Verhältnisse ein:

1296

Habermas 1965, 93 f. Habermas 1965, 100. 1298 Heller 1983, 131. 1299 Heller 1983, 133. 1300 Draht 1966, 281. 1301 Wenn die klassische englische Rechtsordnung als Beispiel einer Rechtsordnung angeführt wird, der öffentliches Recht unbekannt sei, z. B. Hoppe 2003, 92, trifft dies nur eingeschränkt zu: In England gibt es traditionell keinen Unterschied zwischen öffentlichem und privatem Recht. Gerade das mag jene gesellschaftliche Permeabilität miterklären, die am Ausgang der Industriellen Revolution steht. 1302 North 1986, 233. 1297

C. Pathologien des modernen Staates

355

Kommunistische Systeme bilden hier keine Ausnahme.1303 Daher zeigt zunehmende Verrechtlichung letztlich Festschreibung von Klassenherrschaft an. Um die Notwendigkeit zu verschleiern, den Staat durch das Partikularinteresse einer Klasse in Dienst zu nehmen, muss das bürgerliche Recht gleichsam naturgesetzlich und von mathematischer Genauigkeit sein und unabhängig von menschlicher Erkenntnis in den Sachverhalten enthalten sein, um jeden Zweifel auszuschließen. Die Herrschaftsbehauptung ist gleichermaßen perfekt wie fadenscheinig: Offenheit und mithin letztlich Konflikte als solche werden einfach bestritten. Gerade deswegen konnte jedoch der bürgerliche Rechtsstaat auch dem sozialen Rechtsstaat angepasst und der bürgerliche Klassenstaat weitestgehend überwunden werden. 4. Sozialer Rechtsstaat Es ist gleichwohl die Beurteilung des Rechtsstaates, die im 20. Jahrhundert maßgeblich kommunistische vom sich herausbildenden sozialdemokratischen Staatsbegriff unterscheidet: Herrmann Heller sieht nämlich gerade in den Anlagen des Rechtsstaates Möglichkeiten, den Klassenstaat zu überwinden, indem der bürgerliche Rechtsstaat zum sozialen Rechtsstaat erweitert wird.1304 Marx’ Erkenntnis, die kapitalistisch verfasste Herrschaftsordnungen vermöchten sich nicht störungsfrei als „natürliche Ordnung“ zu reproduzieren, hat weder den Urheber noch seine Epigonen zu der Frage geführt, ob diese Unfähigkeit ein spezifisches Problem des Kapitalismus darstellt oder der Moderne als solcher zu eigen ist. Die für die Moderne nachgerade konstitutiven Rationalisierungsprozesse neigen nämlich dazu, einzelne naturgegebene Katastrophen in permanente Modernisierungskrisen zu transformieren, die sodann für die einzelnen Systeme der Gesellschaft passend codiert und bearbeitbar sind. 5. Marxistische Unschärfe, bürgerliche Klassenherrschaft und moderne Gesellschaft zu unterscheiden Somit kritisiert der Marxismus auch Phänomene von Klassenstaat und Klassengesellschaft, die tatsächlich nicht in den Bedingungen kapitalistischer Wirtschaftsweise, sondern vielmehr industrialisierter bzw. rationalisierter Wirtschaft und Gesellschaft als solcher begründet sind und insofern eine Eigenart der Moderne schlechthin darstellen, die Verschränkung und Verschmelzung von Gesellschaft und Staat. Dieser Prozess vollzieht sich in den totalitären Systemen kommunistischer Observanz weitaus grundlegender und umfassender als in den west1303 1304

Zur Konservativität von Recht: Anter 2004, 64. Heller 1930.

356

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

lichen. Zwar trifft wahrscheinlich die Annahme zu, diese im hiesigen Kontext als „Veröffentlichung der Gesellschaft“ beschriebene Verschmelzung sei auf die Entwicklung vom liberalen Konkurrenzkapitalismus zum „organisierten Kapitalismus“ zurückzuführen, dessen letzte Konsequenz freilich der Staatsmonopolkapitalismus darstellt; aber das Heilmittel marxistischer Planwirtschaft, was dagegen konzipiert wird, revidiert offensichtlich diese Wirkung nicht. Gesellschaft und Staat verschmelzen gleich, ob „sich die gesamtgesellschaftlichen Prioritäten naturwüchsig, als Nebenfolgen privater Unternehmensstrategien, herausbilden“ oder aber zentral geplant und möglichst kollektiv gebilligt werden.1305 Dieser Unterschied ist anscheinend nicht entscheidend für die Verschmelzung von Staat und Gesellschaft. Der Grund liegt in der Massenerheblichkeit und gleichsam strukturellen Kollektivität moderner Industriegesellschaften, die zwar historisch fast immer eine, auch vom Marxismus für notwendig erachtete Zwischenphase des organisierten Kapitalismus durchlaufen, aber sodann auch mit planwirtschaftlichen Mitteln sich nicht wieder revidieren lassen. Aus dem klassenstaatlichen „Antagonismus zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung des Mehrproduktes“ wird im realen Kommunismus gleichsam die private Aneignung im Sinne individueller Produktion und die gesellschaftliche Aneignung des Mehrproduktes mit der Folge, dass ein solches langfristig nicht mehr erwirtschaftet werden kann, da kein Individuum dauerhaft motivierbar ist, für ein Mehrprodukt zu arbeiten, in dessen Genuss es ohnehin kommt.1306 6. Nachbürgerliche Gesellschaftshierarchisierung Analog zur Entpolitisierung wird mit der Rationalisierungseuphorie der ausgehenden Hochmoderne auch das Ende der Klassen als sozialer Distinkte ausgerufen: Tatsächlich hat sich die soziale Kategorie der Klasse als weniger resistent gegenüber der geschichtlichen Entwicklung erwiesen als das anthropologische Datum des Politischen. Die Neigung des Menschen zu gesellschaftlicher Distinktion hat diese indes nicht aufgehoben. Bereits die von Marx idealisierte Stammesgesellschaft enthielt in nuce Anlagen von wettbewerbsermöglichender Ungleichheit, die sich auch materiell manifestierte.1307 Ob die Steuerung der Stammesgesellschaft als Gesamtheit hingegen bereits demokratisch war und somit ein Beispiel von Demokratie, die ohne Staat besteht, abgeben kann, ist höchst zweifelhaft.1308 Auch rezente Forschung, die für die Theorien von Marx und Engels offen ist, bleibt diesbezüglich skeptisch.1309 1305 1306 1307 1308 1309

Habermas 1973, 51. Schefczyk 2003, 15 f. Gluckman 1971, 53. Engels 1919, 100. El Masry 2004 passim.

C. Pathologien des modernen Staates

357

Gleichsam in archaischer, wenn auch nicht archetypischer Form hat sich der Klassenstaat in den so genannten Entwicklungsländern der postkolonialen Welt herausgebildet und erhalten:1310 Es ist hier freilich die Herrschaft über den Staat, die zur entscheidenden gesellschaftlichen Hierarchisierungsfunktion wird und nicht privatwirtschaftliches, namentlich industrielles Kapital, das die Gesellschaft schichtet. Hierin liegt ein grundlegender Unterschied zum westlichen Klassenstaat der Industriellen Revolution. Dieser birgt nämlich in sich bereits seine Überwindung. Der Klassenstaat, wie er in den Entwicklungsländern vorherrscht, ist dagegen gleichsam ein zirkuläres perpetuum mobile auf das sich Marxens Modell durchaus anwenden lässt. Dass die Kritik am Klassenstaat des Bürgertums freilich dessen Ideale zum Maßstab nimmt und sie auch in Zeiten, da deren fehlende Praktikabilität auch in den kritisierten Regimen gar nicht mehr bestritten wird, fortdauert, zeigt, wie unbestritten das Ideal einer sich selbststeuernden und durch öffentliche Meinung vermittelt sich optimierenden Gesellschaft ist.1311 Dort, wo sich die Skepsis, hinter dem bestehenden Gemeinwesen einen Klassenstaat zu vermuten, am längsten erhält, nämlich in England, von dort nimmt auch die ideologische Zurückdrängung der sozialistischen und kommunistischen Alternativkonzepte ihren Ausgang: Im Thatcherismus wird vor allem die entmutigende und im psychologischen wie ökonomischen Sinne deprimierende Wirkung eines Staates thematisiert, dessen ausschließliches Programm die Beseitigung des Klassenstaates sei, der aber keine positiven Inhalte und Ziele mehr verfolge.1312 Der Thatcherismus führt hingegen herbei, was der Sozialismus verfehlt: Er brach Jahrhunderte alte Strukturen von standes- und Klassenherrschaft auf. Das einzige Mittel gegen die Instrumentalisierung des Staates durch eine gesellschaftliche Klasse ist fortdauernde Veränderung. Auch die zunehmende Reinheit und Schärfe des Kapitalismus begründet nicht unbedingt einen Klassenstaat, es sei denn Klasse wird als eine mit beliebigen Bevölkerungsgruppen beliebig häufig besetzte Funktionsstelle in der gesellschaftlichen Schichtung angesehen.1313 Der entscheidende Unterschied zum Klassenstaat liegt darin, dass keine echte Stratifikation der Gesellschaftsordnung eintritt. Insofern liegt nicht mehr im klassischen Sinne Klassenbildung vor, die sich nicht zuletzt durch ihre relative Abgeschlossenheit kennzeichnet, sondern schlicht gesellschaftliche Prekarität und Instabilität. Dass diese sich ausdehnen, 1310

Diamond 1992, 482; cf. Zweiter Teil A. III. 1. Scharpf 1975, 23. 1312 Geppert 2004, 82. 1313 Ein solcher Begriff von Klasse scheint Offe 1972, 19 vorzuschweben, wenn er schreibt: „Welche sozialen Gruppen und Schichten es sind, die diese negatorische Funktion [i. e. Auslöser von Konflikten, die die Fortsetzung kapitalistischer Akkumulation in Frage stellen] [. . .] jeweils [. . .] erfüllen, darüber ist mit der Kennzeichnung der kapitalistischen Gesellschaft als Klassengesellschaft eine Vorentscheidung nicht getroffen.“ 1311

358

1. Teil: Staat als säkulare Rationalisierungsfunktion der Moderne

ist freilich nicht zu leugnen. Eine solche sich beschleunigende soziale Instabilität, die sich positiv als Mobilität darstellt, kann aber auch gerade das Bewusstsein schärfen, dass es Institutionensystemen bedarf, die kollektiven Nutzen und nicht markgängige Kollektivgüter sicherstellen. Zwischenfazit Der moderne Staat der Neuzeit entfaltet seine spezifische Rationalisierungswirkung, indem er über seine reine Zwangsgewalt hinaus, die Einbindung partikularer, ja individueller Bedürfnisse in kollektive Zusammenhänge fördert oder selbst betreibt. Die entscheidende Größe bilden dabei Kollektivgüter, über die die Bedürfnisse der Individuen effizienter und effektiver befriedigt werden können, da mögliche partikulare Interessengegensätze, wie sie im Paradigma des Gefangenendilemmas codiert sind, synchronisiert und koordiniert werden. Mindestens ebenso entscheidend wie die Zwangsgewalt ist dabei die Informationsgewalt des Staates: Denn unter den Bedingungen funktional differenzierter Gesellschaft wird das Problem der Defektion durch partikulare Interessen zunehmend von demjenigen der Disordination dieser Interessen übertroffen. Sowohl die historische Entwicklung des modernen Staates als auch die immanente Logik der Sache legen im folgenden zwei Fragen nahe: Zum einen gilt es zu untersuchen, ob der mittlerweile weltweit zu beobachtende Entwicklungstrend, Staat demokratisch zu verfassen, eine Konsequenz voranschreitender Rationalisierung kollektiver Daseinsbewältigung ist. Zum anderen zieht die zunehmende Relativierung des Zwangsmomentes, wie sie die Funktion des modernen Staates beschreibt, die Frage nach sich, inwieweit staatsbasiert und demokratisch katalysiert Öffentlichkeit im Allgemeinen und die öffentliche Meinung im Besonderen rationalisierende Steuerungsfunktionen übernommen hat, die individuelle Lebensbewältigung kollektiviert und Gesellschaft „veröffentlicht“. Zu Fragen ist, inwieweit die Überwindung des Gefangenendilemmas zunehmend durch eine kategoriale Trias von Staat, Demokratie und öffentlicher Meinung erfolgt, der eine akteurspezifische Trias von Verwaltung, Politik und Öffentlichkeit entspricht, wie sie von Luhmann als ternäre Codierung „politischer Theorie im Wohlfahrtsstaat“ angenommen wird.1314 Unabhängig von den Befunden der beiden folgenden Teile dieser Untersuchung ist festzuhalten: Staat beschreibt katexochen eine Rationalisierungsfunktion, gleich wie Staat im spezifischen Sinne organisiert oder verfasst ist.

1314

Luhmann 1981.

Zweiter Teil

Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion Die Entwicklung des modernen Staates wird in Kontinentaleuropa spätestens seit dem 18. Jahrhundert, in England bereits seit dem 17. Jahrhundert von einer zunehmenden Beteiligung der Gesellschaft am Staat begleitet. Dies führt zur Herausbildung eines Bereiches, der bereits zeitgenössisch in seiner Eigenart als öffentlich begriffen und benannt wird. Beobachtung und Beobachtbarkeit staatlicher Steuerung müssen nicht zusammenfallen, führen aber, wenn sie zusammenfallen, zu beschleunigtem Wandel; ganz offensichtlich ist aber in jedem Fall die rationalisierende Wirkung staatlicher Steuerung der Gesellschaft, die darüber nun wiederum zunehmend veröffentlicht, obwohl auch dies beides nicht zusammenfallen muss. Sowie der rein staatliche Bereich der arcana zu schwinden beginnt, setzt auch die Zurückdrängung des staatsfreien Bereichs der privata ein. Kontrolle des Staates1 und daraus resultierende Rationalisierungssteigerung der allgemeinen Lebensverhältnisse werden mit dem langsamen Schwund nicht kollektiv eingebundener, sondern unabhängiger privater Autarkie erkauft: Das, was über zweihundert Jahre später als „großorganisiertes Dasein“ ein Gefühl individueller Ohnmacht und Hilflosigkeit beschreiben soll, nimmt in der Aufklärung seinen Ausgang. Nachdem sich die Nationalstaaten eingerichtet haben, kommt es regelmäßig wiederum zu einer „,Vergesellschaftung‘ der politischen Gewalt“. Auch dieser Prozess erweist sich aber als Vorgang zentralisierender Rationalisierung.2 Offensichtlich ist Zentralisierung ein allgemeines Symptom der die Moderne kennzeichnenden Rationalisierung, wofür der Staat nur prototypisch ist. Skepsis gegenüber dem, was nach konventioneller Staatstheorie noch als Spezifikum des Staates angesehen wird, nämlich öffentlicher Zwangsgewalt, wird jedoch schon bei Marsilius von Padua deutlich, der diese als „potestas coactiva“

1 Frz. la contrôle bezeichnet ursprünglich ein Gegenregister (contre-rôle) zur Prüfung von Angaben eines Originalregisters und ist just im 18. Jahrhundert immer häufiger auch im Deutschen belegt, Kluge 1989, 401. Das Prinzip der Demokratie als kontrollierendes zu begreifen begegnet bereits im antiken Athen. Die universalgeschichtliche Präsenz dieses Gedankens bestätigt historisch empirisch die sachlogisch sich bereits einstellende Vermutung, Demokratie als kontrollierende passive Herrschaft zu konzipieren. Cf. auch Popper 1994, 168; 208; 224 f. und Waschkuhn 1998, 272. 2 Graf von Krockow 1976, 444.

360

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

von der „potentia coactiva“ der Gesetze unterschieden und modifiziert wissen will.3 In der englischen Staatstheorie wird der Zwangscharakter staatlichen Handelns teilweise selbst bei den relativ etatistisch ausgerichteten Denkern nur insoweit als legitim erachtet, als er zur Gewährleistung individueller Freiheit gegenüber Dritten und von Kollektivgütern unumgänglich ist. Eine Formulierung Leonard Hobshouse’ aus dem Jahre 1911 ist bereits sehr nahe an der Erkenntnis, dass der Staat das Gefangenendilemma überwindet: Der Staat erhalte „finally its own power to carry out common objects undefeated by the recalcitrance of individual members“ aufrecht.4 Er formuliert es in Gestalt des Trittbrettfahrerproblems, indem er auf die von ihm prosaisch als „recalcitrance“ bezeichnete Widerspenstigkeit der Individualinteressen abstellt. Er geht also weniger von der unmittelbaren Defektion der Individuen untereinander aus, wie sie den vorstaatlichen Zustand kennzeichnet, als von derjenigen, wie sie im bereits staatlich verfassten Zustand zwischen Individuum und Staat potentiell angelegt ist. Dass sich diese Defektion nicht aktualisiere, begründet sich freilich gleichermaßen mit der Überwindung des Gefangenendilemmas. Es handelt sich hierbei um einen Beleg, dafür, dass in der englischen Staatstheorie der Gedanke des Staates als Zwangsgewalt zur Gewährleistung oder Optimierung kollektiver Güter bereits im 19. Jahrhundert anders als in Kontinentaleuropa und den USA wahrscheinlich nahezu vollständig erfasst war.5 Skepsis herrscht gegenüber staatlicher Zwangsgewalt zumal, wenn sie gegenüber dem Individuum ausgeübt werden soll, um dessen individuelle Interessen wahrzunehmen, also gegenüber dem Schutz des Menschen vor sich selbst. Die englische Angst vor Paternalismus schimmert im Diskurs immer wieder durch, wie sie für die Viktorianische Debatte kennzeichnend ist. Die Entdeckung, dass der Staat erforderlich ist, um eine Situation, wie sie das Gefangenendilemma beschreibt, aufzubrechen, ist demgegenüber über das Verständnis von Kollektivgütern vermittelt in Kontinentaleuropa Lorenz von Steins Vermächtnis. Für diese Erkenntnis, dass der Staat Kollektivgüter bereitstelle und so das Gefangenendilemma überwinden würde, ist dabei freilich noch der Gedanke der überspielten Schwächeren leitend und noch nicht unmittelbar derjenigen des Gesamtnutzens. „So nun scheiden sich die Gesellschaft und der Staat. Die Gesellschaft ist derjenige Organismus unter den Menschen, der durch das Interesse erzeugt wird, dessen Zweck die höchste Entwicklung des Einzelnen ist, dessen Auflösung aber dadurch erfolgt,

3

Marsilius von Padua, Defensor Pacis, passim Buch 6, Kapitel 1–15. Hobhouse 1911/1944, 146 f. 5 Olson 1998, 98 sieht diese Erkenntnis erst im 20. Jahrhundert in das Bewusstsein durchbrechen. Cf. Meadowcroft 1995, 163 und 216. 4

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

361

daß in ihm jedes Sonderinteresse sich das Interesse aller anderen mit allen Mitteln unterwirft.“

Daraus folgert von Stein: „Der Staat dagegen ist als selbständige Persönlichkeit von dem Willen und den Interessen der Einzelnen unabhängig und da er die Einheit aller in seine Persönlichkeit umfasst, so ist es klar, daß die Interessen jedes Einzelnen, mithin auch die Interessen desjenigen, der durch den Gegensatz der anderen Interessen bedroht ist, zugleich die Seinigen sind.“ 6 Individuelle Freiheit und individueller Wohlstand stehen, obwohl oder gerade weil sie von einander nicht zu trennen sind, gleichwohl in einem antinomischen Verhältnis: Marktwirtschaft pflegt zwar mit dem Argument der Freiheit gerechtfertigt zu werden.7 Beurteilt wird der faktische Erfolg von Wirtschaftssystemen jedoch vornehmlich an der individuellen Wohlfahrt und nicht an vollendeter Individualfreiheit.8 Es ist zumindest nicht a priori einsichtig, warum Selbstbestimmung effizienzsteigernd wirken soll.9 Denn das Bedürfnis nach Optionalität ist wohl unabhängig von der Wahrscheinlichkeit, diese Option auch wahrnehmen zu wollen. Insofern lässt sich Autonomie zum einen als Wert an sich erklären. Zum anderen, und das ist im hiesigen Zusammenhang entscheidend, wirkt solch sachlich dysfunktionale Freiheit mittelbar effizienzsteigernd.10 Rationalisierungsverstärkend wirkt sich zudem die Demokratie faktisch inhärente Zeitlichkeit aller staatlichen Zwangsanwendungen aus: Korrekturen und Anpassungen, Kontrollen und Revisionen werden somit bestimmendes Merkmal allen Staatsverhaltens, ohne die Errungenschaft institutioneller Kontinuität, wie sie der Staat bietet, aufzugeben. Es ist die Wirkung einer nur unter den Bedingungen der Freiheit möglichen und nur unter derjenigen der Demokratie sinnvollen größtmöglichen Pluralität der öffentlichen Meinung, der eine spezifische Entdeckungsfunktion innewohnt, kollektiv relevante Probleme aufzuspüren und zu lösen.11 Dem liegt der Optimismus zugrunde, dass ökonomische Sicherheit und die daraus resultierenden allgemeinen Freiheiten, insbesondere persönliche Freiheit, durch politische Freiheit optimiert und nicht selten überhaupt erst begründet würden.12

6

Lorenz von Stein, Gesellschaftslehre, Stuttgart/Augsburg 1856, 32. Als wohl bedeutendster zeitgenössischer Verfechter dieser Ansicht sei Milton Friedman 1980 genannt. 8 Die Existenz dieses Konfliktes gesteht als einzige große gesellschaftliche Kraft des Westens wohl lediglich die katholische Kirche offen ein, indem sie im Konfliktfall in ihrer Soziallehre den Wohlstand der Freiheit bevorrechtigt. 9 Sen 2002, 502. Cave: Sen ist selbstverständlich kein Gegner der Selbstbestimmung. 10 Hier lässt sich letztlich auf das Gesamtwerk von Hayeks hinweisen, beispielhaft konzentriert u. a. in Hayek 1960, 31. 11 Sen 2003, 340, 3. 12 Sen 2003, 180 ff. (v. a. 181). 7

362

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

Dabei beschreibt Optimierung durch „requisite variety“ einen Rationalisierungsmodus, den die moderne Genetik als Strategie der Evolution mit dem Phänomen der Rekombination bestätigt: Systeme vermögen nur rationale Ergebnisse gegenüber einer sich wandelnden Umwelt hervorzubringen, wenn sie sich pluralisieren und Subsysteme bilden, die wiederum entsprechende Eigendynamik entwickeln:13 Dies beschreibt en gros die Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion durch institutionelle Systeme des Pluralismus, namentlich Demokratie und öffentliche Meinung.

A. Modifikation von Zwangsgewalt: Mehrheitsprinzip und Demokratie als legitimierende Rationalisierungskatalysatoren des modernen Staates Demokratie als Legitimationsmodus scheint der Gegenwart so selbstverständlich geworden zu sein, dass demokratisch legitimierte Staatsgewalt bisweilen gar nicht mehr als Zwangsgewalt wahrgenommen werden mag, sondern als gleichsam vertragliche Einwilligung der einzelnen Gewaltunterworfenen. Demokratie ist hierbei als Mehrheitsherrschaft westlicher Provenienz zu begreifen, wie sie sich namentlich im angelsächsischen Raum seit dem ausgehenden Mittelalter allmählich herausgebildet hat. Die basisdemokratische Entscheidungsfindung durch den „Palaver“, wie sie in weiten Teilen Afrikas faktisch bis heute bzw. heute wieder anzutreffen ist, wirkt zumindest nach westlichen Kriterien weder rational noch effizienzsteigernd.14 Die bei der Implementation von Demokratie in anderen Kulturkreisen auftretenden Komplikationen lassen es als wahrscheinlich erscheinen, dass Demokratie nicht als „abstraktes Formprinzip“, sondern nur als historisch gewachsenes Kulturgut diese Wirkung entfaltet. Trotz der (relativen) Einwilligung in Zwang vermuten Teile der Demokratietheorie, in der Demokratie konkretisiere sich Abneigung von Zwang.15 Gleichwohl ist dieses Bewusstsein vornehmlich ein Symptom für den Erfolg der Demokratie westlicher Provenienz. Es ermöglicht, den konventionalen Charakter, den staatliche Herrschaft bereits zu Zeiten des frühmodernen Staates aufwies, genauer wahrzunehmen. Das Mehrheitsprinzip verfolgt die gleiche Absicht wie der Staat, die Wahrung des inneren Friedens, obgleich nicht davon auszugehen ist, dass die Mehrheitsentscheidung auch immer die qualitativ beste inhaltliche Entscheidung ist.16 Das Mehrheitsprinzip lässt sich als unmittelbare Konsequenz aus der Situation des Gefangenen13

Braybrooke/Lindblohm 1963; Lindblohm 1965; Scharpf 1975, 31. Die nahe liegende Frage, ob derartige indigene Entscheidungsformen wie der Palaver in ihrem Umfeld wiederum effizienter sind als exogene Verfassungsformen, wird im Zusammenhang mit politischer Kultur zu erläutern sein, cf. Zweiter Teil A. IV. 1. c). 15 Kelsen 1963, 3. 16 Hättich 1967, 131. 14

A. Modifikation von Zwangsgewalt

363

dilemmas erklären: Es ermögliche, weiß bereits Hans Kelsen zu urteilen, dass so wenig Menschen wie möglich „mit ihrem Willen im Widerspruch zu dem allgemeinen Willen der sozialen Ordnung geraten.“ 17 Potentiell sind es 50–x Prozent, wobei x gleich null aus der Defintionsmenge ausgeschlossen ist. Dazwischen erstreckt sich eine Skala „from majoritarianism at one end to consensus on the other.“ 18

I. Hinweise auf Rationalisierung katalysierende Wirkung Die Frage, ob auf Mehrheitsprinzip beruhende Steuerung den Staat oder die staatlich verfasste Gesellschaft rationeller sein lässt, ist vieldiskutiert und schwer meßbar, da es über das Wachstum hinaus wenige einschlägige Größen gibt und sich diese zumeist auch nur über Metadaten erschließen. Ebenfalls ist zwischen Mehrheitsprinzip als Partizipationsmodus im Allgemeinen und als Staatsform im Besonderen zu unterscheiden. Inwieweit beispielsweise der vielfach als Verbraucherdemokratie apostrophierte Markt tatsächlich den optimalen Modus rationeller Allokation darstellt ist ebenso umstritten wie die Frage, ob betriebliche Mitbestimmung Produktivität optimiert. Für den Bereich des Staates gibt es jedoch manche Hinweise und Plausibilitäten, die nahe legen, eine Wirkung zu vermuten, die staatliche Rationalisierungsleistung gleich einem biologischen Katalysator optimiert. 1. Zwangsgewalt bleibt Kennzeichen staatlicher Kollektivgütergewährleistung Zwangsgewalt als kennzeichnender Bestandteil staatlichen Verhaltens kann trotz aller Relativierungen, die dieses Faktum erfahren hat, als unumstritten angesehen werden. Auch Demokratie ist bestenfalls Modifikation dieser Zwangsgewalt, dessen ungeachtet ist es aber diese Zwangsgewalt, die als Steuerungsmittel ihre Bezugsgröße bleibt.19 Grundsätzlich ist freilich sogar vorstellbar, dass demo17

Kelsen 1963, 9 f. Lijphart 1999, ix. 19 Bereits in der Anfangsphase der zweiten deutschen Demokratie ist diese nüchterne Einsicht vergleichsweise unumstritten, wie einige prominente Stimmen verdeutlichen, etwa A. Bergstraesser: „Im Zentrum des politischen Denkens und Handelns steht [. . .] die Herrschaftsordnung, kraft deren verbindliche Entscheidungen über das Ganze eines Gemeinwesens getroffen mit Hilfe der Möglichkeit des Zwanges zur Durchführung gebracht und in der Durchführung erhalten werden“, Bergstraesser 1961, 23. Eschenburg 1956, 277 „Die Demokratie mildert die Herrschaftstendenzen der Staatsgewalt, hebt sie aber nicht auf.“ Eingehend wird der Zwangscharakter mehrfach bei Hättich 1967 untersucht: v. a. 43; angeleitet sind diese Forschungen unter anderem von der US-amerikanischen Demokratietheorie der Zeit Finer, „Auch die demokratische Regierung übt einen Zwang aus.“, Finer 1949, 21. 18

364

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

kratisch legitimierte Zwangsgewalt drückender und erstarrender wirkt als anders legitimierte Zwangsgewalt. Auch demokratische Genesis der staatlichen Ordnung beseitigt nicht den Gehalt von Zwangsgewalt, wie er dieser Ordnung innewohnt.20 Diejenige Wirkung des Staates, die die Situation des Gefangenendilemmas überwindet, kann sich selbstverständlich nur entfalten, wenn der Mehrheitswille auch für die Minderheit gilt. Die Mehrheit der Bürger unterscheidet sich von der Minderheit jedoch nicht darin, dass sie dem Mehrheitswillen etwa nicht subordiniert wäre. Vielmehr optimiert die Legimitation durch die Mehrheit die den Staat definierende Allgemeingültigkeit seiner mit Zwangsgewalt bewehrten Befehle. Damit verfolgt das Mehrheitsprinzip aber schon im Vorfeld desjenigen staatlichen Handelns, das Gegenstand der Mehrheitsentscheidung ist, eine gesellschaftskoordinierende Funktion. Eine Zwischenform aus Herrschen und Beherrschtsein stellt sich am ehesten im Falle von Wahlen ein, sofern diese als Willensbildung definiert werden. Ob Wahlen tatsächlich diese Funktion aufweisen, wird noch zu erörtern sein.21 Staatliche Zwangsgewalt neigt unter den Bedingungen der Moderne dazu, demokratische Legitimationsmodi herauszubilden: Der weltweite Trend zur Demokratie ist spätestens seit dem Ende des „Kalten Krieges“ unleugbar. Ob dies der historischen Entwicklung einer Anglisierung der Welt folgt oder im modernen Staat als emergentes Programm angelegt ist, muss nicht nur offen bleiben, sondern beschreibt überdies auch eine müßige Frage: Beides bedingt einander und ist weithin identisch. Verschwindet also die Zwangsgestalt von Staatsgewalt nicht, so ist sie vielmehr geradezu erforderlich: Anderes würde die Legitimation zumindest des Mehrheitsprinzips unterminieren, nämlich spezifische Zwangsgewalt also Staat erfordernde Kollektivgüter zu steuern. Wo dies hingegen nicht erforderlich ist, heilt nämlich auch demokratische Legitimität nicht deren fehlende Legitimation. Vielmehr entspringt die moderne Demokratie derselben Motivation wie der Staat, nämlich dem Individuum größtmögliche Freiheit zu eröffnen und Wohlfahrt zu ermöglichen. Namentlich als Gesetzesstaat bleibt auch der demokratische Staat subordinierender Souverän, der befehlsförmig seinen Willen äußert. Auch im demokratischen Staat gilt die Hobbesianische Lehre: „auctoritas, non veritas facit legem.“ Doch sie wird ergänzt durch eine spätere angelsächsische Staatsweisheit, die die raison d’être der Demokratie einfängt: „To obey punctually, to censure freely.“ Dass der demokratische Staat daneben zunehmend auch programmatische Leitsätze und finalprogrammierte Normen verwendet, ist wiederum nicht sein Spezifikum, sondern vielmehr Konsequenz allgemeiner Politisierung, wie sie nicht in Demokratien, sondern in totalitären Regimen ihre äußerste Ausformung erfährt. Die darüber hinaus anzutreffende Informalisierung von Regieren ist nicht nur Reaktion auf überschießende Verrechtlichung, sondern 20 21

Hättich 1967, 75. Hättich 1967, 113.

A. Modifikation von Zwangsgewalt

365

auch auf abstumpfendes Schleifen des Zwangscharakters formellen staatlichen Handelns: Unter Ausschluss der Öffentlichkeit mit betroffenen Partikularinteressen zu kommunizieren eröffnet der Politik wieder verschüttete Handlungsalternativen. 2. Mehrheitsprinzip als Rationalisierungskatalysator? Demokratie stellt eine weitere Entwicklungsstufe in jenem allgemeinen Prozess der „Rationalisierung der Macht“ dar.22 Bereits ein Skeptiker der Demokratie wie Tocqueville beobachtete, dass unter den Bedingungen der Demokratie „Tatkraft, Betriebsamkeit, Neuerungsbereitschaft, Wohlstandsmehrung“ zu beobachten seien. Demokratie steigere Effizienz23 oder sei doch zumindest einer der „geeigneten Steuerungsmechanismen zur Ressourcenlenkung“.24 Marktwirtschaft beispielsweise sei ohne Demokratie unmöglich. So lautet der cantus firmus gegenwärtiger Demokratietheorie. Zweifel sind jedoch nicht nur daran angezeigt, ob Marktwirtschaft tatsächlich Demokratie voraussetzt, sondern auch daran, ob Demokratie in jenem vordergründigen Sinne einer rationalisierenden Wirkung effizienzsteigernd wirke. Arrows „impossibility theorem“ scheint hingegen bereits den abschließenden Beweis dafür zu erbringen, dass eine Gesellschaft demokratisch zu verfassen nicht immer zu Optimierungen führt. Vielmehr können „democratic decicions [. . .] sometimes lead to incongruities.“ 25 Der empirische Befund, namentlich der Untergang des kommunistischen Weltreiches und der globale Siegeszug demokratischer Verfassungen, sprechen jedoch gegen eine derartige Beurteilung der Demokratie. Tatsächlich hat auch Arrow nicht beabsichtigt, Demokratie zu verdammen, sondern weiterzuentwickeln.26 Liegt die höhere Effizienz demokratisch verfasster Gemeinwesen womöglich darin begründet, dass sie Inkongruenzen Raum lässt und die allgegenwärtige „Anmaßung des Wissens“ zähmt, indem sie gesellschaftliche und vor allem staatliche Kräfte gegeneinander ausgleicht?27 Arrows Unmöglichkeitstheorem bietet optimierende Wirkungspotentiale, wenn es in seiner informationsökonomischen Spielart als Unwissenheitsproblems des Wählers begriffen wird: Weil dasjenige, was tatsächlich geschieht, ohne Rück22 So bereits Kelsen 1963, 19. Die Wendung „Rationalisierung der Macht“ als solche stammt von B. Mirkine-Guetzvich 1893, 259 ff., zit. nach Kelsen, ibid. 23 Kailitz 2004, 326; Schmidt 1999, 187–200; Berg-Schlosser 1997. 24 Schmehl 2004, 16. 25 Sen 2002, 95. 26 Arrow 1951, sections 4–5; Sen 2002, 95. 27 Der Terminus stammt von Friedrich August von Hayek, Die Anmaßung von Wissen. Neue Freiburger Studien (hrsg. von Wolfgang Kerber), Tübingen 1996.

366

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

sicht darauf geschieht, ob es der Wähler auch gewählt hätte, wenn er im Zustand vollkommenen Wissens gewesen wäre,28 lässt sich das Legitimationspotential durch den Wahlakt bis zu einem gewissen Maße vom Inhalt des Legitimierten trennen, soll heißen: Da der Wähler ehedem relativ unwissend entscheidet, gibt er den Gewählten (Blanko-)Vollmachten und keine Weisungen. Hier liegt die Chance der Politik, in einer Demokratie unpopuläre Notwendigkeiten durchzuführen. Relativ unabhängigen Mandataren wird nicht nur die Optimierung von Zuständen, namentlich die Überwindung von Nash-Gleichgewichten ermöglicht, sondern dazu noch die effizienzsteigernde Kraft demokratischer Legitimation verliehen. Daher gilt Demokratietheoretikern, die nach funktionierenden und defekten Demokratien unterscheiden, die repräsentative Demokratie gerade als eine Notlösung.29 In der politischen Praxis wandelt ein solcher Demokratiegebrauch freilich auf einem schmalen Grat zum Demokratiemissbrauch. Gegenüber rein legaler Legitimation ist daher die psychologische Wirkung demokratischer Legitimation entscheidend, wie sie im menschlichen Bedürfnis nach Teilhabe und Selbstständigkeit zu Tage tritt:30 Dies liegt auch der englischen Konzeption eines general will zugrunde, in dem gleichsam wie in prästabilierter Harmonie die Individualwillen der unterlegenen Minderheit aufgehen.31 Dieser prima vista der Rousseauschen volonté générale ähnelnde Entwurf wird aber just von dieser abgesetzt, handelt es sich hierbei doch um eine Vorstellung, die aus der englischen Vorstellung von „fairness“ abgeleitet ist und als solche eben auch den fairen Verlierer postuliert. Eine so begründete partizipatorische Wirkung setzt freilich voraus, dass überhaupt eine so geartete Kultur vorhanden ist. 3. Die pia fraus der Demokratie Dem steht die menschliche Neigung, Verantwortung zu meiden und auf unmittelbar verfügbare individuelle Vorteile nicht zu verzichten, gegenüber. Beide Neigungen haben ihre individuelle ratio. Repräsentative Demokratie löst dieses Dilemma gleichsam durch eine pia fraus der Wählermeinung zugunsten des Wählerinteresses. In der englischen politischen Theorie ist dieser Mechanismus repräsentativer Demokratie von Ramsay Mac Donald als Argument gegen plebiszitäre Demokratie formuliert worden: Der wahre Staatsmann handele „without mandates, and even against mandates, does what the people really want.“ 32 Im Bild des Gefangenendilemmas ist der Staatsmann der Verteidiger der beiden Kriminellen, der auch gegen deren aktuellen vermeintlichen Willen handelt.33 Aktu28 29 30 31 32

Sen 2002, 397 f. Gallus/Jesse 2004, 16. Kelsen 1963, 34; Isensee 1999, 46. Meadowcroft 1995, 120. Mac Donald 1905, ii und 9.

A. Modifikation von Zwangsgewalt

367

ell nicht mehrheitsfähige Politik genießt gleichwohl die Vorzüge demokratischer Legitimation, wenn sie durch demokratisch gewählte Politiker vertreten werden muss, die in überschaubaren und feststehenden Perioden für ihre Politik Rechenschaft gegenüber dem Wähler ablegen müssen. Sie unterscheidet sich durch unmittelbare Verantwortlichkeit gegenüber dem Wähler (Responsivität) von ausschließlich sachverständiger und nur noch mehrfach abgeleiteter demokratischer Legitimation. Möglicherweise liegt in der Periodizität der eigentlich katalytische Wirkstoff der Demokratie: Demokratie wird auch als Chance definiert, in periodisch wiederkehrenden Wahlen unter mehreren Wettbewerbern für ein politisches Amt auszuwählen.34 Inwieweit und inwiefern die Dauer von Wahlperioden, also die Aktualisierungsmöglichkeit dieser Chance mit der Effizienz der Rationalisierungsleistung staatlicher Zwangsgewalt korreliert, ist offen: Zu beobachten ist in der westlichen Welt jedoch eine Neigung, solche Perioden zu verlängern. Die katalytische Wirkung von Demokratie nimmt also weder gegen Null ab noch gegen unendlich zu: Vielmehr scheinen die Extrema zugleich Pessima darzustellen und das Optimum durch eine Parabel beschrieben zu werden. Auch ist von variierenden Werten je nach kulturellem Konzept auszugehen. Die Entwicklung der westlichen Demokratien deutet vielmehr daraufhin, dass das Optimum flexibel und situativ, nicht starr und allgemeingültig zu bestimmen ist. Entsprechende rechtliche Statuierungen stellen ein nicht unerhebliches Effizienzproblem dar. 4. Funktionsweise der Katalyse Demokratische Entscheidungsfindung vermag ihre Effizienz im Sinne einer auf innere Konsistenz beschränkten Rationalität dort rationell zu entfalten, wo dasjenige in Frage gestellt wird, was Staat als solchen konstituiert: Sicherheit und Schutz der eigenen Existenz, sowie jene „general political issues“, die den modernen Verfassungsstaat ausmachen.35 Sachlogisch setzt Demokratie also Staatlichkeit voraus.36 5. Grundprinzipien Dienen Katalysatoren gemeinhin der Beschleunigung, so sind nicht die historischen Beispiele zu übersehen, bei denen in Auseinandersetzung mit nichtdemokratisch verfassten Gemeinwesen der größeren moralischen Integrität und stär33 Zu denken ist an den nachgerade sinnbildlich gewordenen Rechtsanwalt, der seine beschuldigten Mandaten autoritär zum Schweigen bringt. 34 So lautet der Tenor von Lipsets, Soziologie der Theorie, Neuwied/Berlin 1962. 35 Sen 2002, 76. Insofern ist im Verfassungsstaat eine potentielle demokratische Entwicklung des auch formal verfassten Gemeinwesens zumindest angelegt, cf. dazu das Problem des deutschen Konstitutionalismus, cf. Erster Teil B. I. 1. a) und C. I. 2. a). 36 Cf. zum Verhältnis von Demokratie und Staat: Zweiter Teil A. IV. 2. a).

368

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

kere individuelle Motivation eine Verlangsamung der Entscheidungsprozesse gegenübersteht. Auffallend ist, dass für alle grundlegenden Modifikationen, die die öffentliche Gewalt infolge der Atlantischen Revolutionen erfahren hat, auch eine retardierende Wirkung festzustellen ist.37 Zwar sind in den entsprechenden potentiell verlangsamenden Eigenschaften idealiter zugleich die Mittel gegen solche Verlangsamung aufgehoben, was für Rechtsstaatlichkeit in höherem Maße als für Demokratizität gilt.38 Aber dennoch wird die Reaktionszeit verlängernde Auswirkung demokratischer Gemeinwesen gegenüber dem autoritären Obrigkeitsstaat bzw. dem totalitären Unrechtsstaat immer wieder auffällig. Möglicherweise vollzieht sich die Katalyse staatlicher Zwangsgewalt in den gegenwärtigen Demokratien häufig aber auch filternd und damit im eigentlichen Sinne katalytisch: Was demokratischer Entscheidung unterliegt, muss alternativ sein. Daher kann es keine demokratisch gebotenen Maximierungs- und Optimierungsgebote geben, sondern lediglich Untermaßverbote oder Schutzniveaus.39 Je nach Betrachtungsweise kann es sich dabei auch Übermaßverbote handeln. Ist eine solche in den klassischen Staatswissenschaften, namentlich im bundesdeutschen Staatsrecht anzutreffende Kategorisierung begrifflich noch vertretbar, so stößt sie sachlich aufgrund ihrer binären Zuspitzung auf eine einzige Grenze auf erhebliche Probleme: In den modernen Naturwissenschaften, namentlich in der Biologie, definiert sich das Optimum als Fläche zwischen zwei Werten, es ist also ganz im klassischen Aristotelischen Sinne ein Mittleres. Da innerhalb eines so definierten Optimums durchaus noch Alternativen bleiben, die demokratisches Entscheiden ermöglichen, ist also durchaus vorstellbar, dass sich Optimierungsgebote mit einer, freilich dann noch stärker als bei Unter- oder Übermaßverboten eingeschränkten, demokratischen Wahlmöglichkeit vereinbaren lassen. Tatsächlich erfordert freilich auch ein so verstandenes Optimierungsgebot eine nicht demokratischer Wahl unterliegende Auswahl der Optionen, die dann zur demokratischen Wahl gestellt werden. Dass dieser Schutz in den demokratischen Rechtsstaaten zumindest Kontinentaleuropas, vor allem Deutschlands immer häufiger durch Gerichte ausgeübt wird, stellt zum einen Substanz- und Steuerungsverlust des demokratischen Elements, namentlich des Parlamentarismus dar. Außerdem erfolgt, sofern es sich nicht um rein kassatorisch wirkende Rechtsprechung handelt, oftmals eine vermeidbare und illegitime Überdeterminierung, da es sich beim Optimum ja nicht um eine absolute Größe handeln muss. Zum anderen erweist es sich im hiesigen Untersuchungszusammenhang als Erkenntnisproblem: Welche Optimierungen 37 Isensee 1968, 297 f., der die Mittel gegen solche Verlangsamung zwar in den entsprechenden potentiell verlangsamenden Eigenschaften aufgehoben sieht, es aber dennoch offensichtlich für angezeigt hält, auf dieses Problem einzugehen. 38 Ausführlich dazu: Isensee 1968, 299. 39 Anderheiden 2004, 128; ders. 2006, 64 und 286.

A. Modifikation von Zwangsgewalt

369

und in welchem Maße solche Optimierungen tatsächlich dem demokratischen Steuerungsmodus des Staates zuzuordnen sind, ist nicht immer eindeutig auszumachen. Demokratie wirkt vielfach eher begrenzend auf überschießende staatliche Tätigkeit ein und reduziert sie im politischen Wettbewerb auf ein ausgelotetes Maß. Rechtsstaatlichkeit hingegen wirkt auf Staatstätigkeit eher stimulierend ein. Die „quaestio an“ liegt freilich darin, welche der beiden Größen, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, auf die Sozialstaatlichkeit als prominentem Ausdehnungsfaktor staatlicher Tätigkeit stimulierend wirkt. Staatsaufgaben, die hingegen nicht zur demokratischen Debatte stehen, kann Demokratie nur durch einen Wettbewerb weiter rationalisieren, der von Antworten auf die Frage geführt wird, wie diese wiederum optimal zu optimieren seien. Somit vermag Demokratie die ansonsten als solche sakrosankte und demokratieresistente Optimierung beeinflussen. Als Kriterium für die katalytische Wirkung, die demokratische Legitimation auf staatliche Zwangsgewalt ausübt, wird nicht selten der Grad der Unmittelbarkeit demokratischer Legitimation erachtet: Die Protagonisten der civil society, namentlich Benjamin Barber, erachten direktdemokratische Elemente als Instrumente, politische Entscheidungsrationalität zu steigern.40 Im Kern liegen dieser Korrelierung von Unmittelbarkeit demokratischer Legitimation und Katalyse von Rationalität die Annahmen zugrunde, dass direkte Demokratie zum einen Partizipation erhöhe und damit „das Humanpotential wie das soziale Kapital des Gemeinwesens individuell wie kollektiv besser“ ausschöpfe.41 Direkte Demokratie führt demnach also zu qualitativ besseren Entscheidungen. Analog zum Markt kommt es durch unmittelbarere Wettbewerblichkeit der Entscheidungsfindung in der Demokratie zu härterer Eignungsprüfung. Die Ergebnisse sind sachlich und inhaltlich effektiver.42 Wenn eingewandt wird, mehr Demokratie führe zu weniger Rationalität, so ist dies insofern zutreffend, als tatsächlich demokratieorientierter Diskurs sich um Verständlichkeit und damit auch um emotionale Ansprache bemühen muss. Das leistet zweifelsohne Personalisierung Vorschub und birgt die Gefahr von Ideologisierung.43 Von Ideologisierung ist jedoch rationale Argumentation auch nicht frei, da sie sich zwangsläufig aus mehr oder weniger ge40

Barber 1994, 260 ff. und passim. Waschkuhn 1998, 509. 42 Wenn sich auch in den untergegangenen totalitären Diktaturen des Ostblocks zumindest innerhalb der herrschenden Partei Konkurrenz einstellte und sich gelegentlich sogar Unzufriedenheit der Bevölkerung mit einzelnen Personen durchsetzen konnte, Schelsky 1973 (a), 51, so spricht dies eher für die Neigung moderner Staaten zu internem Steuerungswettbewerb, als es eine Gleichwertigkeit oder gar Überlegenheit dieser Diktaturen gegenüber den freiheitlichen Demokratien des Westens darstellt. 43 Bei einem Verfechter hergebrachten kontinentaleuropäischen Politikverständnisses wie Schelsky 1973 (a), 52 ist das noch Argument genug, Demokratisierung als solche in Zweifel zu ziehen. In seinen während des Exils geäußerten Betrachtungen führte eben jenes Bedenken bereits Napoleon gegen die Demokratie ins Feld, Leisner 2006, 35. 41

370

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

schlossenen Systemen ableiten muss: Das kann aber auch zu Ideologie führen. Das Erstaunliche an demokratischer Entscheidungsfindung besteht darin, dass mit weniger Rationalität in der Entscheidungsfindung zumindest rationellere Ergebnisse gefunden werden können, auch wenn das Verfahren nicht nur weniger rational und in erheblichem Maße weniger rationell ist. Dieser Zweck von Demokratie im Allgemeinen und von Parlamentarismus im Besonderen spiegelt sich bereits um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in der Debatte um das Mehrheitswahlrecht in England wider. Dessen Gegner argumentieren, vornehmlich mit dem Verlust des „persuadable element“ durch die „party machines“ werde die tatsächliche Debatte gehemmt.44 Nicht genau zu trennen ist die zweite Argumentationsgruppe, der zufolge direkte Demokratie „für mehr Responsivität im politischen Prozess“ sorge und zu „Bürgernähe“ veranlasse.45 Direkte Demokratie führe also auch zu besserem Entscheiden. Die Politik ist stärkerem Optimierungsdruck ausgesetzt. Besseres Entscheiden steht zu besseren Entscheidungen nicht im Widerspruch von effektivem Produkt und effizientem Prozess. Im Gegenteil die relative Langsamkeit und Aufwendigkeit stellen in jedem Falle zunächst eine Schwachstelle dar, die freilich längerfristig zu höherer Effizienz führen kann: populus locutus causa finita. So ließe sich die ratio dieser zweiten Argumentationsgruppe formulieren. Vielmehr wird nämlich die Vermutung einer Verbesserung der verbesserten unmittelbaren Ausnutzung des gesamtgesellschaftlichen Potentials, wie sie durch die regelmäßig wohl nur binär zu treffende Entscheidung erfolgt, durch die Vermutung einer verbesserten Ausnutzung des Potentials der Anbieter von Optionen, also der Politik, ergänzt. Da aber gerade diese Optimierungswirkung höchst fraglich ist, vermag auch das gesamtgesellschaftliche Potential, also dasjenige des Volkes aufgrund der binären Entscheidungssituation nur suboptimal ausgenutzt zu werden. Sogar Wahlen wird aufgrund dieser Vorgegebenheit der Optionen eine entsprechende Effizienzsteigerung abgesprochen.46 Die rationalitätssteigernde Wirkung demokratischer Legitimation erweist sich zunehmend als darauf verwiesen, dass zwischen der Zeitdimension politischer Entscheidung allgemein, die sich etwa in mittelbaren, oftmals nicht-intendierten Folgen zeigt, und dem Zeitbedarf im besonderen, einzelne Staatsaufgaben zu erfüllen, unterschieden wird: Dies trifft auf solche Aufgaben zu, deren Qualität vom „feedback“ abhängt, „das sie von den Endverbrauchern der Regierungsdienstleistungen bekommen“:47 Es gibt also gleichsam eine Zeit des Staates und eine Zeit jenseits des Staates. 44

Cecil 1909, 33. Waschkuhn 1998, 509. Cf. Zweiter Teil A. I. 3., wo das Responsivitätsproblem im Hinblick auf von Wählermeinung divergierendes Wählerinteresse untersucht wird. 46 Luhmann 1983, 14. 47 Fukuyama 2004, 46; daher, so fährt Fukuyama fort „habe die Demokratie [. . .] auch einen funktionellen Wert.“ 45

A. Modifikation von Zwangsgewalt

371

Eine weitere Unterscheidung lässt sich nach dem Grad der inneren Konsistenz bemessen, also der engen und klassischen Definition dessen, was gemeinhin als Rationalität bezeichnet zu werden pflegt. Sen zufolge wird diese bei Kollektivgütern, die „national outrage“ verursachen, am deutlichsten sichtbar. Dieses Kriterium überschneidet sich weitgehend mit demjenigen der Fukuyamaschen „feedback“-Abhängigkeit. Daneben können dichte Parteiorganisation bzw. -identifikation Entscheidungen kongruenter werden lassen48. Zweifelsohne hängt eine so zu erklärende rationalisierungssteigernde Wirkung der Demokratie von den Voraussetzungen der politischen Kultur ab, insbesondere davon, inwieweit Parteien sich nicht nur wähleranpassend, sondern auch wählerkultivierend verhalten.49 Dies führt zu „agenda-setting“ und gleichsam vernunftfähiger rationalitätsgeneigter Formierung und Formulierung von Entscheidungsalternativen. Hierbei erbringen auch Verrechtlichung und Verwissenschaftlichung politischer Inhalte eine erhebliche rationalitätssteigernde Wirkung. Folglich fordert Arrow auch als Forschungsauftrag und Wissenschaftsprogramm, soziale Situationen auf ihre Konsistenzialisierbarkeit hin zu kategorisieren.50 Da demokratische Legitimationspflicht staatlichen Handelns evolutionsrationaler ist, bewirkt sie eine Modifikation, die zumindest psychologischer, wahrscheinlich aber auch materieller Art ist und insofern nicht nur Begründung, sondern auch Grund ist. Bekannt geworden ist Sens These, in Demokratien gebe es keine Hungersnöte.51 Die Ansicht, Demokratien führten untereinander nicht Krieg, scheint schon zur opinio communis geronnen zu sein – dies ändert indes nichts an ihrer Fragwürdigkeit.52 Anscheinend eignet demokratischer Entscheidungsfindung eine rationalisierende und im Hinblick auf den dieser Art der Entscheidungsfindung verfügbaren Staat auch eine dessen Rationalisierungswirkung beschleunigende Wirkung. Wird als Mehrheitsprinzip definierter Demokratie eine katalytische Wirkung auf den gesamten Rationalisierungsprozess neuzeitlicher westlicher Kultur zugebilligt, setzt dies freilich ein solches Verhältnis von Staat und Demokratie voraus, das rein funktionell ist und den der Staat als reines Umsetzungsprinzip instrumentalisiert. Die gerade vorherrschende Staatsform als Kriegsverhütung zu empfehlen hat Tradition: Die Restauration infolge des Wiener Kongresses favorisiert unter dem Eindruck der napoleonischen levée en masse die Verwandtschaft der monarchischen Dynastien miteinander, um Krieg zu vermeiden, ohne deswegen den Ge48

Sen 2002, 265. Zum Merkmal der Parteiidentifikation: Falter 1984. Rohe 1994, 82. 50 Sen 2002, 95. 51 Cf. z. B. Sen 2003, 27; 68 und 217 ff. Freilich wird von Sen bald Demokratie, bald Pressefreiheit der Abwesenheit von Hungersnöten korreliert. Mag Demokratie Pressefreiheit zwingend enthalten, so ist dies umgekehrt bestimmt nicht zwingend. 52 So auch Höffe 2002, 285 ff. 49

372

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

danken der Volkssouveränität zu übersehen. Diese realisiere sich vielmehr in diesem außenpolitischen Konzept: Ansonsten müßten die Völker die Fähigkeit entwickeln, einander friedlich und freundschaftlich zugeneigt zu sein. Die Völker würden dann nicht zuletzt ihren Fürsten, die Fürsten nicht ihren Völkern angehören. Darin spiegelt sich die Verwandtschaft der Europäischen Nationen wider, die internationale Konflikte abmildert und Bündnisse wie die Heilige Allianz ermöglicht.53 Die Entwicklung der stabilen westlichen Demokratie, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einsetzt, legt darüber hinaus die Vermutung nahe, dass die mit demokratischer Staatsverfassung auf Dauer einhergehende Permeabilität von Staat und Gesellschaft nicht nur auf instrumentelle und finale, prozedural-formale und material-inhaltliche Demokratie beschränkt ist, sondern darüber hinaus auch in eingeschränktem Maße Demokratizität von Entscheidungsverfahren begünstigt, indem nicht ausschließlich durch starre Bestimmtheit des Verfahrens im Sinne des gesetzesstaatlichen Bestimmtheitsgebotes Demokratie exekutiert wird. Vielmehr lassen sich auch Flexibilisierungen staatlicher Handlungsformen bei der Gestaltung von Entscheidungsverfahren beobachten. Sachlichkeit und Entideologisierung, Reduktion von Herrschaft auf ihr funktionell erforderliches Minimum, frühzeitige Entschärfung von Polarisierungspotentialen, die in binären Entscheidungsformen, wie sie etwa das Verfahren darstellt, angelegt sind, Bürgernähe und Vertrauensbildung herrschender Eliten54 und Mediation etwa beschreiben einen Wandel politischer und allgemeingesellschaftlicher Kultur: Demokratie ist offensichtlich mittlerweile derart stark verinnerlicht, dass ihre Weiterentwicklung sogar zu einer moderaten und überschaubaren Lockerung ihrer Formen führt. Westliche Demokratie ist „dynamisch-responsiv“ geworden.55 6. Direkt ökonometrische Aspekte Die Ökonomisierung, die auch das politische Denken zunehmend erfasst, führt die Befürworter der Demokratie dazu, Demokratie als Faktor wirtschaftlichen Wachstums und der materiellen Bedingungen moderner Zivilisation zu rechtfertigen. Dies ist freilich schwierig nachzuweisen und erklärt auch nicht hinreichend die Ausbreitung dieser Staatsform. Vielmehr stellt sie heute die einzige Form da, in der bürgerliche Freiheit als allen zugängliches Kollektivgut zu gewährleisten ist. Als solches ist sie aber Ziel und nicht Mittel, konstitutiv und nicht instrumentell.56 Das Kollektivgut Freiheit zu maximieren setzt aber wiederum einen starken Staat voraus: Francis Fukuyama unterscheidet daher Stärke von Staaten und 53 54 55 56

Meinecke 1922, 219, 282. Waschkuhn 1984. Waschkuhn 1998, 133. Sen 2003, 16.

A. Modifikation von Zwangsgewalt

373

deren Bandbreite. Die USA stellen demzufolge einen sehr starken Staat innerhalb einer geringen Bandbreite von Aufgaben dar, auf deren Erfüllung sich der Staat beschränkt.57 Zu ökonomischer Effizienz, sofern sie als Wachstum des Bruttoinlandsproduktes begriffen wird, steht Demokratie nur in einseitiger vollständiger Abhängigkeit. Das soll heißen: Demokratie hängt von wirtschaftlichem Wachstum ab. Dieser erstmals von Seymour Martin Lipset im Jahre 1959 beobachtete Zusammenhang ist mittlerweile als so genannte Lipset-Hypothese eingehend untersucht und zumindest als „cross-linear-tendency“ unumstritten.58 Setzt Demokratie auch Wohlstand voraus, so ist weniger klar, inwieweit Demokratie als Folge von Wohlstand zwingend ist. Die opinio communis tendiert nicht zuletzt aufgrund eingehender Versuche, die zugrunde liegenden Vorgänge im weltweiten Vergleich zu quantifizieren, dahin, eine solche relative Zwangsläufigkeit zu anzunehmen.59 Umgekehrt wird bislang überwiegend vermutet, Wirtschaftswachstum werde durch Demokratie hingegen nur in jener Anfangsphase begünstigt, in der sich eine nichtdemokratische Staatsverfassung in eine rudimentär demokratische wandelt.60 Ist der Staat erst einmal grundständig demokratisiert, so dass diese staatliche Verfassung demokratisch verfeinert werden kann und darüber hinaus auch gesellschaftliche Demokratisierung einsetzt, so stellt sich nach gegenwärtigem Stand der Wissenschaft eine solche Entwicklung gegenüber dem Wirtschaftswachstum als tendenziell hemmend dar.61 Einen neuen Impuls könnte eine Untersuchung von Jörg Faust geben:62 Auf Basis eines Stichprobenraums von 81 Ländern wird versucht nachzuweisen, dass diejenigen nichtdemokratischen Staaten, in denen überdurchschnittlich hohes Wachstum im Zeitraum zwischen den Jahren 1975 und 2000 festzustellen ist, also namentlich in den asiatischen, so genannten „Tigerstaaten“, Wachstum durch Akkumulation erzeugten.63 In den westeuropäischen Demokratien hingegen ist Wachstum während desselben Zeitraums überwiegend auf Produktivitätssteigerung zurückzuführen.64 Sofern also dieser Unterschied überhaupt zu den 57

Fukuyama 2004, 19. Lipset, 1962; Barro 1998, xii; 52; Wohlstand wurde als Voraussetzung, ja gleichsam als Sanktion von Demokratie bereits von Aristoteles erkannt, cf. Kap. Prolog I. 1.; die Beschreibung als „cross-linear tendency“ findet sich bei Diamond 1992, 452 und 468. Bei Diamond 1992, 461 ff. ist auch ein Überblick über multi-variate Verifizierungen der Lipset-Hypothese aufgestellt. 59 Namentlich Diamond 1992, 456, 468 und 472. Ebenso legen dies Barros Untersuchungen, Barro 1998, 61 ff., nahe. 60 Barro 1998, 49 ff. 61 Barro 1998, viii; xi; 49 ff., insbesondere 53. 62 Faust 2006. 63 Faust 2006, 68. 64 Faust 2006, 68. 58

374

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

unterschiedlichen Staatsformen in einem Kausalnexus steht, würde diese Studie die bisherige Forschungsmeinung umstoßen: Diejenige Art von Wachstum, der fortgeschrittene Marktwirtschaften bedürfen, würde demnach gerade von demokratischer Staatsform begünstigt. Dieses nonlineare Verhältnis fortgeschrittener Demokratie ist freilich auch umgekehrt formuliert worden: Wirtschaftliches Wachstum, „impact of development“ sei nur bis zu einem gewissen Grade der Demokratie förderlich.65 Da Demokratie bislang als Form staatlicher Herrschaft am weitesten entwickelt ist, liegt aber die Vermutung nahe, dass für Entstehen und Bestehen einer Demokratie nicht unmittelbar die Marktwirtschaft, sondern der Staat entscheidend ist. Demgegenüber ist freilich zu berücksichtigen, dass mittlerweile alle Staaten, die über die höchsten Einkommensraten verfügen, demokratisch verfasst sind, einige am persischen Golf gelegene Scheichtümer ausgenommen.66 Werden die bei quantifizierenden Untersuchungen üblichen Toleranzen und Standardabweichungen berücksichtigt, die sich durch definitorische Schwierigkeiten des Demokratiebegriffes multiplizieren,67 so verhält sich Demokratie zu Wirtschaftswachstum indifferent.68 Namentlich innerhalb der demokratischen Welt sind die Unterschiede vollkommen insignifikant.69 Einen positiven Kausalnexus von demokratischer Herrschaft und Wirtschaftswachstum zu vermuten gründet entscheidend darauf anzunehmen, dass „wettbewerbskonforme Regulierung des natürlichen Herrschaftsmonopols“ auch eine wettbewerbskonforme Wirtschaftsordnung begünstige.70 Begründet wird dies vornehmlich mit der Neigung autokratischer Herrschaftsmonopole, auch Wirtschaftsgüter zu kartellisieren.71 Zwingend ist dieser Kausalnexus allerdings keinesfalls. Überzeugender ist hingegen die These, solche Art Politik hemme Investitionsbereitschaft.72 Vorstellbar ist jedoch, dass diese Hemmung auf dem Wege einer „self-fullfilling-prophecy“ bereits unmittelbar aus dem Fehlen von Demokratie erwächst und es also unerheblich ist, ob der beschriebene Kausalnexus tatsächlich vorliegt. Ist die Abhängigkeit demokratischer Herrschaftslegitimation von wirtschaftlichem Wohlstand ausgiebig erforscht, so stellen systematische Untersuchungen, 65

Bollen/Jackman 1985, 39; Diamond 1992, 464. Diamond 1992, 456. 67 Relativ konsensual ist die Definition von „Political rights“ durch Gastil et al. 1986, 7: „Political rights are rights to participate meaningfully in the political process. In a democracy this means the right of all adults to vote and compete for public office, and for elected representatives to have a decisive vote on public policies.“ 68 Barro 1998, 51. 69 Barro 1998, 58; 67. 70 Faust 2006, 68. 71 Faust 2006, 63 und 66. 72 Faust 2006, 67. 66

A. Modifikation von Zwangsgewalt

375

die der Frage nachgehen, ob und inwieweit Demokratie wachstumsfördernd wirke, weithin beinahe ein Desiderat dar.73 Erst in jüngster Zeit ist diese Frage Gegenstand umfassender und auf quantifizierenden Methoden fußender Untersuchungen.74 Es liegt freilich in der Eigenart quantitativer Untersuchung von Kausalverhältnissen begründet, dass diese sich bisweilen in beiderlei Richtung interpretieren lassen:75 Dass diejenigen vierzehn Staaten, in denen der höchste Massenkonsum festzustellen ist, allesamt demokratisch verfasst sind und zwar alle als polyarchische Demokratien, legt den Schluss, dass Demokratie wohlstandsfördernd wirkt, genauso nahe, wie den Umkehrschluss: Tatsächlich ist wohl von einer Wechselwirkung zwischen Demokratie und Wohlstand auszugehen. Dies hängt höchstwahrscheinlich mit einem neuen erweiterten Freiheitsverständnis zusammen, wie es für die Gegenwart kennzeichnend ist: Dies maßgeblich von Sen reformulierte Freiheitsverständnis wird noch eingehender zu erörtern sein. Freiheit ist demzufolge erst vollständig, wenn sie die Möglichkeit einschließt, die eigene Regierung wählen zu können. Staaten, die freiheitlich verfasst sind, sind demnach auch stets demokratisch angelegt.76 Diamond fasst das Verhältnis von Wohlstand und Demokratie als asymmetrisch zusammen, lässt aber eine symmetrische Abhängigkeit als Vermutung offen.77 Dass Demokratie nicht nur Entwicklungsziel, sondern selbst auch Entwicklungsvoraussetzung sein könnte, wird insbesondere aufgrund des Entwicklungs-

73 Diese Indifferenz der Forschung, die aber letztlich, da sie Demokratie als Zweck setzt, die Frage betrachtet, ob diese von wirtschaftlichem Wohlstand abhängt, ist bereits der Studie Lipsets zu Eigen, mit der die Diskussion um das Verhältnis von Demokratie und Wohlstand ausgelöst wurde: Lipset formuliert seine Annahmen zwar zunächst offen – nämlich derart, „that democracy is related to the state of economic development.“ Unmittelbar danach beschränkt er sich jedoch auf die Abhängigkeit demokratischer Verfassung von wirtschaftlichen Daten: „The more well-to-do a nation, the greater the chances that it will sustain democracy.“, Lipset 1959, 31. Dieses Desinteresse begünstigend könnte eine breite ideologische Allianz von marktwirtschaftsskeptischen, namentlich sozialistischen Ansichten zuneigenden Forschern und demokratieskeptischen Ökonomen, namentlich libertärer Ausrichtung gewirkt haben. Eine entsprechende Andeutung lässt sich möglicherweise auch Diamond 1992, 473 entnehmen. 74 Faust 2006, 64. 75 Zumindest auf diese Offenheit weist auch Diamond 1992, 451 hin. 76 Dieses erweiterte Freiheitsverständnis erklärt auch, warum Sen eine ausreichende Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung bald mit Demokratie und bald mit Meinungsfreiheit korrelieren lässt. Dieses Ineinssetzen ist typisch angelsächsisch und aus dem deutschen historischen Hintergrund nicht selbstverständlich: Das deutsche Kaiserreich war keine Demokratie. Trotzdem dürfte es vom „Vorwärts“ kritisiert werden. Nicht ohne Pikanterie ist die Diagnose, dass die unterprivilegierten Deutschen von Hungersnöten sicherlich ferner waren als ihre Schicksalsgenossen in der britischen Demokratie. 77 „This relationship is causal in at least one direction: higher levels of socio-economic development generate a significantly higher probability of democratic government. It also appears to be the case that high levels of socio-economic development are associated with not only the presence but the stability of democracy“, Diamond 1992, 466.

376

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

rückstandes vermutet, der die meisten afrikanischen Länder im Vergleich mit Asien und Lateinamerika betrachtet kennzeichnet.78 Zu beobachten ist indes ein Paradoxon: Wirtschaftswachstum tritt durchgehend in Gemeinwesen mit solchen institutionellen Voraussetzungen auf, die kennzeichnend für demokratisch verfasste Ordnungen, teilweise gar auf solche beschränkt sind. Flächendeckende Versorgung mit Bildungseinrichtungen und gesundheitsfürsorgerischen Einrichtungen, stellen neben weitgehender Gleichberechtigung der Geschlechter die prominentesten dieser Institutionen mit wachstumsfördernder Wirkung dar:79 Offensichtlich wirkt die Demokratie weniger als Verfassungsform denn mehr durch Institutionen, die zugleich Voraussetzungen stabiler Demokratien sind, wirtschaftlich effizienzsteigernd. Insofern sind Demokratie und wirtschaftliche Entwicklung konkomitante Phänomene, die auf gleichen institutionellen Voraussetzungen beruhen. Diese Institutionen können jedoch stabil und dauerhaft nur vom Staat initiiert werden.80 In der postkolonialen Welt ist wiederum dieser institutionelle Entwicklungsstand mit der jeweiligen kolonialen Vergangenheit korrelierbar.81 Viele Indizien legen nahe, Erfolg und Wirkung von Demokratie stärker verlaufsabhängig zu betrachten und institutionell wie kulturell zu erklären.82 Offen bleibt, ob Demokratie eine rationalisierende oder gar eine spezifisch staatliche Rationalisierung katalysierende Wirkung zeitigt, die nicht mit den bekannten oder zumindest nicht mit den gängigen Parametern der Ökonomie aufzuspüren ist. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass demokratische Verfassungsform allgemein zu verbreiterter und vertiefter Sozialstaatlichkeit führt und damit ein ökonomisch schwer darstellbares, ja im (neo-)klassischen Sinne ein gänzlich nichtökonomisches Kollektivgut optimiert. Demokratie schafft somit weder Glück noch bringt sie dies der größten Zahl, sondern sie bietet allen eine Chance auf Zufriedenheit und gewährleistet ein so abstraktes Gut wie dasjenige der Menschenwürde, statt sich wie der reine Rechtsstaat auf dessen Gewährung zu beschränken.83 Zunehmende Verbreitung von Demokratie, wie sie vornehmlich in Europa zu beobachten ist, stellt keinesfalls eine weltweite Entwicklung dar: Vielmehr hat sich der allgemein-staatliche und spezifisch-demokratische Niedergang Afrikas 78

Sklar 1987, 709 und 711; Diamond 1992, 488. Sen 2003, 159 f. 80 Sen 2003, 158 ff.; cf. Prolog I. 81 Diamond 1992, Barro 1998, 76, cf. Epilog II. 3. 82 Diamond 1992, 474. 83 Damit soll nicht behauptet werden, dass nichtdemokratische Rechtsstaaten a priori und per definitionem dies nicht auch gewährleisten könnten. Namentlich das Beispiel des Kaiserreich des Deutschen Konstitutionalismus mahnt hierbei zu Zurückhaltung. Auffallend ist freilich, dass solche Reintypen in der Gegenwart kaum auszumachen sind. 79

A. Modifikation von Zwangsgewalt

377

auf die einschlägigen Weltindizes drückend ausgewirkt.84 Die Evolution der menschlichen Assoziationsformen hat die Demokratie, wenn nicht in eine rezessive, so doch in eine defensive Situation gebracht. Dies ist freilich weniger für ihre wirtschaftliche Effizienz, als vielmehr für den Faktor wirtschaftlicher Effizienz als solcher kennzeichnend: Die menschliche Species entwickelt sich nicht zwingend nach den Determinanten, die in der westlichen Welt als leitend erachtet werden. Die Entwicklung von Demokratie, Staat und Rationalität ist uneindeutiger denn je. Anscheinend neigen Gesellschaften ab einem gewissen Entwicklungsgrad freilich auch unmittelbar zu Demokratie. Ist Demokratie selbst dann vielleicht auch noch nicht unvermeidbare Folge von Wohlstand, so scheinen jedoch überkommene Institutionen und Organisationsformen staatlicher bzw. politischer Herrschaft gleichwohl relativ unvermeidlich in eine Krise zu geraten. Die Gesellschaften und mit ihnen das politische System verfallen in „a zone of transition or choice, in which traditional forms of rule become increasingly difficult to maintain and new types of political institution are required to aggregate the demands of an increasingly complex society and to imlement public policies in such a society.“ 85

Ist zwar widerlegt, dass undemokratische oder gar nichtrechtsstaatlich verfasste Staaten wirtschaftliches Wachstum stets begünstigen,86 so kann bislang auch nicht nachgewiesen werden, dass solche Rigidität Wirtschaftswachstum hemmt, also auch nicht e contrario, dass Demokratie Wachstum fördert. 7. Argumente gegen die rationalisierungskatalytische Wirkung von Demokratie Das praktisch relevanteste Problem von Demokratie besteht in der Gegenwart jedoch im Problem der Wahrnehmung von Chancen. Deren Vernachlässigung kann sich zu einem sich gegenseitig beschleunigenden Kreislauf von Apathie und Nichtrepräsentation entwickeln: Zum bekanntesten Beispiel für einen solchen Mechanismus ist der schwarze Bevölkerungsteil in den USA geworden.87 Zumindest Basisdemokratie und Elitenpluralismus, also Bedingungen, die Möglichkeiten erheblicher Partizipation und Permebilität eröffnen, erwecken in der empirischen, also in der Feldforschung eher den Eindruck, Rationalisierung zu vermindern, indem sie einem „strukturellen Konservatismus“ Vorschub leisten:88

84 85 86 87 88

Barro 1998, 55. Huntington 1984, 201. Sen 2003, 27. Sen 2003, 190. Scharpf 1975, 75.

378

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

Berichtet wird etwa von geringerer Innovationsfähigkeit von Gemeinden mit hoher Bürgerbeteiligung an den Entscheidungsprozessen.89 Gegen die Effizienz demokratischer Entscheidungsfindung sprechen Massenhaftigkeit und Anonymisierung öffentlicher Güterwirtschaft, die individuell zu tragende Folgen individueller Entscheidung nur schwer abschätzbar machen. Zudem korreliert deren Abschätzbarkeit mit einer Informationsbeschaffung, deren Aufwand wiederum mit dem Risiko behaftet ist, unverhältnismäßig zu den individuellen Auswirkungen zu sein:90 „Damit lohnt es sich“, wie Kenneth Arrow, der Entdecker des nach ihm benannten Unmöglichkeitstheorems nüchtern zusammenfasst, „für den Wähler – weil der Einfluss seiner Stimme so klein ist – nicht, Informationen zu beschaffen, außer sein Interesse am ursprünglichen Problem ist sehr viel größer als die Informationskosten.“ 91 Dies wiederum weiß der Wähler aber erst, wenn er die Kosten für die Informationen aufgebracht hat. Diese individuell sogar rationale relative Unwissenheit der Wähler begründet jedoch eine ebenfalls partikular rationale Suboptimalität der Budgets, wie sie die demokratisch legitimierte Regierung verabschiedet: Diese Budgets sind, da am Zweck des nächsten Wahlsieges ausgerichtet, regelmäßig kleiner als das ökonomische Optimum gebietet.92 Freilich setzt dies nicht nur voraus, dass die Wähler nicht vollständig wissen, was ihnen nützt, sondern zudem, dass zumindest die Regierung dies weiß. Denn sonst könnte deren Abhängigkeit von Wahlen nicht pejorisierend wirken:93 Genau dies ist aber fraglich. Somit verhindert Demokratie überschießende Planung und ein Regierungsverhalten, das von Hayek, wie bereits bemerkt wurde, als „Anmaßung des Wissens“ bezeichnet hat. Verhindert Demokratie überschießende Planung, dann kann ihr dies von steuerungsskeptischer Seite nicht als mangelnde Zukunftsorientiertheit angelastet werden.94 Demgegenüber betont Scharpf, dass Interessen einflussreicher Minderheiten, pressure groups, durch Wahlen neutralisiert würden, da auch diese Minderheiten ein Interesse daran hätten, dass durch allzu massive Umsetzung ihrer Interessen künftig die Wahlergebnisse ihrer politischen Agenten verschlechtert würden.95 Gerade aus dem Demokratieprinzip heraus wird aber in Kontinentaleuropa, zumindest in der Bundesrepublik Deutschland, gefolgert, es sei im Kern eine Finanzierung nötig, die eine Distanz zwischen Staatshandeln einerseits und Staatsfinanzierung andererseits schaffe. Außerdem müsse diese Finanzierung primär

89 90 91 92 93 94 95

Crain/Rosenthal 1968. Tullock 1974, 102. Arrow 1969, 107. Downs 1974, 106. Downs 1974, 111. Dies geschieht aber bei Hoppe 2003, 160. Scharpf 1975, 78.

A. Modifikation von Zwangsgewalt

379

auf Gemeinlasten statt auf Partikularlasten beruhen.96 Daher gebiete Demokratie Steuerstaatlichkeit. Die informationelle Korrelierbarkeit von Kosten und Nutzen, geschweige denn die Zweckbindung, die dem Wähler individuell zumindest eine relative Abschätzbarkeit des eigenen Nutzen ermöglicht, wird mit der Begründung zurückgewiesen, das Volk als Souverän müsse frei und ungebunden über die Staatsausgaben entscheiden können. Über diese Unabhängigkeit und Voraussetzungslosigkeit verfügt jedoch nur der Wahlbürger und nicht der Steuerzahler. Dies folgt der Konzeption des Wahlbürgers als koordiniertem und dem Steuerzahler als subordiniertem Glied. Die Konzeption des Steuerstaates folgt damit bester Tradition kontinentaleuropäischer Ideengeschichte, die das Politische als eigenmächtig und autonom denkt.97 Der Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten lässt sich als in der späten Ära Breschnjew einsetzender Schwund von Staatskapazität zum überwiegend passiven Legitimitätsschwund in einer Welt auch damals bereits zunehmender Demokratisierung in Beziehung setzen.98 Zumindest die Ausbreitung des demokratischen Gedankens relativer Autonomie der Regierten, möglicherweise gar nicht der demokratische Prozess oder dessen Ereignisse als solche, lähmt nicht demokratisch legitimierte Staatsgewalt: Ideen hält die Wirklichkeit frei nach Hegel nicht stand. Vollkommene Demokratie würde gleich vollkommenem Markt den Staat nur demjenigen anvertrauen, wer mit geringsten Kosten ein Gut, das der Staat produziert, diesen produzieren lassen würde. Insofern wäre Politik selbst ein Markt. Daraus folgt aber, dass Staat und Markt a priori gleichermaßen geeignet sind, effizient Güter bereitzustellen. Diese gleiche Eignung konkretisiert sich dann, wenn effizientestes Unternehmen und effizienteste Kraft in ihrer Effizienz gleich sind.99 Der Staat ist also unter den Bedingungen vollkommener Demokratie selbst ein Markt und unter den Bedingungen vollkommener Marktwirtschaft selbst auch ein Marktteilnehmer. Sind Marktteilnehmer und Wahlteilnehmer identisch, ist der Unterschied gar aufgehoben.100 96

Kirchhof 1990, § 88, 49; Isensee 1977 (b), 409 ff.; kritisch dazu: Schmehl 2004,

89. 97 Auch ein Anwalt des Äquivalenzprinzips wie Schmehl führt das von Downs formulierte Problem, auf informationsdefiziente Wähler zugeschnittene suboptimale Budgetgrößen zu überwinden, nicht unmittelbar und explizit als Argument für das Äquivalenzprinzip an. Möglicherweise ist eine Kompatibilität von ökonomischer Äquivalenz mit der bundesdeutschen Staatsrechtsdogmatik, wie sie sich bislang entwickelt hat, kaum herzustellen. Die Argumentation ist beständig bemüht, defensiv zu beweisen, dass das Äquivalenzprinzip das Demokratieprinzip ebenso wie dasjenige der Steuerstaatlichkeit nicht verletze. Bezeichnend ist, dass die Hauptsorge dabei dem Demokratieprinzip gilt und nicht der Souveränität des Parlamentes. 98 Fukuyama 2004, 45. 99 Gary Becker 1993, 37. 100 Cf. e contrario Gary Becker 1993, 37.

380

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

8. Demokratie als eigener Wert? Ist weder eine direkte negative noch eine direkte positive Korrelation zwischen Demokratie bzw. Mehrheitsprinzip und ökonomischer Prosperität nachzuweisen, so stellt sich die Frage, ob Demokratie nicht als Wert an sich zu erachten ist. Wird diese Frage bejaht, lässt sich freilich eine Reihe daraus erwachsender Konsequenzen, namentlich eine funktionierende Pluralität und breite Zugänglichkeit öffentlicher Meinung mit wirtschaftlicher Prosperität korrelieren. Nicht nur das Beispiel des prosperierenden Südindiens stellt hierfür ein anschauliches Beispiel der Gegenwart dar. Vielmehr lässt sich auch in Europa beobachten, dass eines der Länder mit der höchsten Wirtschaftsleistung, Großbritannien zugleich Heimstatt der modernen öffentlichen Meinung ist. Vielleicht muss aber die im hiesigen Untersuchungszusammenhang erhebliche genaue Trennung zwischen effizienzsteigernder Wirkung, die auf die staatliche Bereitstellung von Kollektivgütern einwirkt, gegenüber einer unmittelbaren auf allgemeines Wirtschaftswachstum einwirkenden unterschieden werden, um Effizienzsteigerung durch Demokratie nachzuweisen. Das durch das arbiträre Moment des individuellen Wahlaktes als tertium comparationis vermittelte und durch Wettbewerblichkeit gekennzeichnete Analogon von Markt und Demokratie führt indes zu weiteren beiden Steuerungs- und Organisationsformen eigenen Fähigkeiten. Da jedoch auf bestimmten Stufen eines jeden demokratischen Systems die Stimmen einer wie auch immer definierten Minderheit entfallen, ist die Effizienz nicht so optimal wie beim Markt.101 So wohnt der Demokratie auch eine Entdeckungsfunktion inne, die vor allem dann entscheidend wird, wenn das, was einen optimalen Zustand der Kollektivgütergewährleistung beschreibt, wenn also dasjenige, was traditionell als Gemeinwohl bezeichnet zu werden pflegt, unklar ist und zunächst definiert werden muss:102 Ein außer- oder vorstaatliches Gemeinwohl wird damit geleugnet. 9. Identische oder eigenständige Größe: Das Gemeinwohl in der Demokratie Gemeinwohl resultiert aus dem polyphonen Konzert individueller Interessen und nicht aus einer homophonen Vernunftdiktatur. Deutlicher könnte der Gegensatz dieser für den angelsächsischen Kulturkreis typischen Gemeinwohlkonzeption gegenüber der bis heute vorherrschenden idealistischen deutschen Gemeinwohlidee, wie sie etwa Isensee fervent vertritt, nicht sein. Während Gemeinwohl im Konkreten und mithin letztlich Gesamtnutzen in einem weiteren Sinne sich überhaupt erst durch das demokratische bzw. parlamen101 102

Gary Becker 1993, 38. Gary Becker 1993, 37.

A. Modifikation von Zwangsgewalt

381

tarische Verfahren und den damit einhergehenden öffentlichen Diskurs ermitteln lassen und gleichsam selbsttätig einstellen, geht das kontinentaleuropäische Denken davon aus, das Gemeinwohl beschreibe eine a priori bestehende Größe, die unabhängig von dem Willen der Mehrheit sei. Ist sie Kantianisch formuliert im Angelsächsischen also eine Art synthetisches Urteil a posteriori, so ist sie im Deutschen ein kategorisches Urteil a priori. Einen Mittelweg eröffnet möglicherweise das in Frankreich beheimatete physiokratische Konzept einer zwar a priori bestehenden Wahrheit, die sich aber exakt nur durch den Prozess der öffentlichen Meinung ermitteln lasse. Während Angelsachsen daher das Gefangenendilemma einerseits relativ früh relativ unmittelbar realisieren und mit besagten Mitteln andererseits auch nur unmittelbar zu überwinden versuchen, tut sich das kontinentaleuropäische Denken zwar schwerer damit, die Konstellation des Gefangenendilemmas als Realität zu akzeptieren, überwindet dieses aber dafür subtiler, indem es individuelle Bedürfnisse stärker und historisch früher durch kollektive Zusammenhänge, also in Kollektivgütern aufgehen lässt und entsprechend effektiv bedient. Inbegriff dieser Methode ist das Konzept der Daseinsvorsorge. Was aber die Evolutionstheorie zeigt, nämlich das Defektion eine dominante Strategie sein kann, gilt auch für die Evolutionstheorie selbst: Mit dem Vordringen solch „angelsächsischen“ Denkens verliert kooperatives Verhalten allgemein an Wert. Gleichwohl kann hierin unter Umständen ein Zivilisationsrückgang begründet sein.103 Wer kooperieren will, indem er für ein Entgegenkommen des Staates, sei es im Inneren, sei es im Äußeren, plädiert, wird in der US-amerikanischen Politik gemeinhin als „liberal“ konotiert.104 Nicht von ungefähr ist es daher ein in beiden Welten beheimateter Kosmopolit, nämlich Ernst Fraenkel, der zwar grundsätzlich dem angelsächsischen Gemeinwohlverständnis folgt, dies jedoch aus gemeinsam erfahrenen Werten entstanden sieht, die wettbewerblicher Gemeinwohlfindung als regulative Ideen begrenzend und richtunggebend beistünden. Zwar setzt dieses Beckers und Downs’ Modell auch prinzipiell verwandte Gemeinwohlverständnis Konkurrenz um Stimmen voraus, entfaltet diese Wirkung aber gerade nicht im verabsolutierten Mehrheitsprinzip, sondern mehr in der abbildenden Funktion von Proporz.105 Ein Denker ganz eigener Kategorie ist Hans Kelsen: In seiner Demokratietheorie leitet er gerade aus dem Gedanken von Mehrheitsprinzip und Volkssouveränität ab, das Gemeinwohl lasse sich nur im politischen Wettbewerb ermitteln,106 103

Poundstone 1993, 235. Poundstone 1993, 128. 105 Hierin liegt auch ideen- und theoriehistorisch betrachtet die Weiterentwicklung der Schumpeterschen Ökonomieförmigkeit der Demokratietheorie durch Downs aufgehoben, Widmaier 2005, 147. 106 Kelsen 1963, 21, wo sich auch ein Konzentrat der scharfen Auseinandersetzungen findet, die Kelsen mit Triepel führt. 104

382

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

der Staat selbst aber, gerade weil er Mittel von Demokratie sei, müsse eine Eigenpersönlichkeit bewahren, um den Mehrheitswillen unverfälscht umzusetzen.107 Nicht Grundlage solch demokratischer Erkenntnis sind freilich die Individuen. Ob daraus wiederum geschlossen werden kann, eine Gesamtheit von Individuen sei nicht in der Lage, ihr Wohl zu erkennen, muss gerade bezweifelt werden.108 Diese Annahme gründet auf einer individuozentrischen Annahme, die das Individuum als gegebene einmalige Ganzheit und nicht schlicht als eine beliebige Organisationsstufe begreift, wie sie die jeweils niedriger organisierten Zusammenhänge arbeitsteilig als funktionellen Zusammenhang bilden. Fehlende Erkenntnisfähigkeit überindividueller Organismenzusammenhänge erscheint aber schon deshalb als unwahrscheinlich, weil es ein kaum zu erklärender Zufall wäre, dass ausgerechnet das Individuum letztes Glied lebender Systeme sein soll. Sogar Machiavelli hält grundsätzlich für möglich, dass das Volk besser als ein Alleinherrscher sein Wohl ermitteln kann.109 Hier steht eine humanistischer gegen einen biologistischen Wissenschaftsbegriff. Nicht von ungefähr kommt Machiavelli mit seinem neuzeitlichen Wissenschaftsverständnis zu einem anderen Ergebnis als die überkommene Jurisprudenz. Durch das demokratische Prinzip der Öffentlichkeit besteht die Möglichkeit im öffentlichen Diskurs zu ermitteln, was nur der Mehrheit einen überdies auch nur relativen Nutzen erbringt und was hingegen allen größeren individuellen Nutzen gewährt. Vor allem die Bestenauslese durch Wettbewerb sieht sich immer wieder schwersten Zweifeln ausgesetzt und wird durch gegenteilige Beispiele zu widerlegen versucht.110 Eine wirklich rationalere und effizientere Alternative ist aber bislang nicht in Sicht. Zwar kann die Gemeinwohlkonkretisierung in Form von Definitionen bestimmter Güter als Kollektivgüter nicht dem demokratischen Prozess selbst unmittelbar überlassen werden, weil dann, wie bereits erwähnt, nicht allgemeine Kollektivgüter, sondern demokratische Interessenallokation erreicht und folglich Partikularinteressen bedient würden.111 Mit der öffentlichen Meinung zusammen bildet es sozusagen ein demokratisches Epiphänomen, das den Entscheidungsprozess rationalisiert.

107 108 109 110 111

Kelsen 1963, 11. Wie aber z. B. Anderheiden 2004, 115 behauptet. Machiavelli, Discorsi 1, 58. Luhmann 1983, 14. Anderheiden 2004, 126.

A. Modifikation von Zwangsgewalt

383

II. Staat und Staatlichkeit: Von allgemeiner Rationalisierungsfunktion zu spezifischem Rationalisierungsprinzip Staatlichkeit bezeichnet hingegen jene Prinzipien, nach denen Staat organisiert oder verfasst ist. Dieser technische Begriff trägt aber tatsächlich nicht zuletzt über die sachliche und potentielle hinaus, auch der historischen und bis in die Gegenwart hinein aktualen Unabhängigkeit von Staat allgemein gegenüber bestimmter Staatlichkeit Rechnung. Wie bereits Augustin weiß, kann ein Staat nicht nur unrechtsstaatlich und undemokratisch, sondern auch unsozial sein: „Was sind also Reiche, wenn ihnen die Gerechtigkeit fehlt, als große Räuberbanden?“, fragte bereits der große Kirchenlehrer.112 Ob dies auf dasjenige Gemeinwesen zutraf, was Augustin vor Augen stand, stellt eine andere Frage dar, die hier zu erörtern nicht Raum und Anlass ist. Der Begriff der Staatlichkeit wird allgemein zwischen den einzelnen Disziplinen unterschiedlich definiert. Teilweise umschreibt Staatlichkeit, in der angelsächsischen Forschung statehold genannt, gesellschaftliche Assoziations- und Organisationsformen, die nicht vollzählig oder gar nicht über die Merkmale des modernen Staates verfügen oder in denen diese Merkmale zumindest nicht vollständig ausgeprägt sind. Staat umschreibt dann bestimmte Formprinzipien sozialer Interaktion. Im gegenwärtigen deutschen Rechtssprachgebrauch sollte Staatlichkeit, zumal wenn es als Suffix verwandt wird, allgemeine vom Staat garantierte Prinzipien einer gesamten Rechtsordnung beschreiben. Der Sprachgebrauch in der Forschung ist jedoch weithin promiscue.

III. Gründe für Mehrheitsherrschaft Auch die freiheitlichste Demokratie kann nicht verhindern, dass das Individuum zu einem gewissen Grad heteronom ist.113 Dies wird sogar durch die allgemeine Kollektivierungstendenz verschärft. Partizipation begünstigt jedoch Motivation. Da Mehrheitsherrschaft wiederum die Partizipation der Ganzheit per definitionem voraussetzt, vermag sie den motivatorischen Verlust, mit dem die spezifisch in Kollektivierung liegende Rationalisierung erkauft wird, bedingt zu kompensieren. Diesem vornehmlich endogen aus der Demokratietheorie heraus entwickelten Grund für Mehrheitsherrschaft ist aber ein (institutionen-)ökonomischer hinzuzufügen: Er ist in der so genannten Menüabhängigkeit der einzelnen Wahlmöglichkeiten zu finden:114 „In valuing the ,autonomy‘ of a person, it is not adequate to be concerned only with whether she receives what she would 112 113 114

Augustin, De civitate Dei 4, 4. Hättich 1967, 148. Sen 2002, 169.

384

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

choose if she had the opportunity to choose; it is also important that she actually gets to choose herself“, urteilt Sen.115 Die für den Absolutismus herrschaftsbegründende Einrede dagegen, derzufolge eine Regierung besser wisse, was für ihr Volk gut sei, da dieses niemals einen derart umfassenden Überblick über die Zusammenhänge und möglichen Folgen politischer Entscheidungen habe, lässt sich indessen auch in demokratischer und sozialwahlorientierter Ökonomie genauso wenig entkräften, wie sich umgekehrt die Demokratie und Rechtsstaat begründende Einrede auflösen lässt, derzufolge Freiheit ein Wert an sich sei: „We can [. . .] consider an authoritarian System of allocation that fully mimics what a decentralised system with autonomy of choice would achieve in terms of commodity productions, distributions, and consumptions. Even if such an authoritarian social alternative did exist, it need not be judged to be just as good as a system that allows the individual to choose, because the exercise of the freedom to choose can itself be important“, folgert Sen, wobei er von einer noch vollkommneren Nachbildung eines auf freier Wahl basierenden Systems ausgeht.116 Es ist die Freiheit als solche, die nicht zuletzt im Sinne eines goût de liberté leistungssteigernd wirkt, wie bereits de Toqueville beschrieb. Zwar ist damit noch keine unmittelbare Aussage über das Mehrheitsprinzip gefällt, sondern vielmehr über Wahlfreiheit als solche. Aber Kollektivgüter betreffende mithin kollektiv bindende, also politische Entscheidungen können,117 wenn alle Individualvoten gleichberechtigt sein sollen – venia sit verbo – nur im Mehrheitsprinzip getroffen werden, dem die freie individuelle Wahl zugrunde liegt. Von dieser Ausgangsbasis aus sind dann nur noch paretowidrige, also die Freiheit anderer minimierende Maximierungen der individuellen Wahlfreiheit möglich. Es liegt in der Eigenart von Kollektivgütern begründet, dass sie betreffende Entscheidungen entweder durch das Mehrheitsprinzip gleichgewichtiger oder einer damit verglichen paretowidrigen Individualfreiheit begründet werden können. Individuelle Freiheit muss nicht mit demokratischem Mehrheitsprinzip identisch sein, wohl aber setzt zumindest das moderne demokratische Mehrheitsprinzip individuelle Freiheit voraus. Es stellt sich die Frage, ob die Neigung zu Demokratie also darin begründet liegt, durch den Partizipationseffekt insgesamt auf Kollektivgütergewährleistung effizienzsteigernd zu wirken und somit einer tieferen Ursache zu folgen, oder ob sie sich ausschließlich als ein der menschlichen Spezies angepassterer Entscheidungsmodus einen Zweck an sich darstellt.118 Je stärker der Einzelne teilhat, desto schwieriger wird es ihm zu defek-

115

Sen 2002, 169. Sen 2002, 169. 117 Cf. Zweiter Teil A. IV. 1. a) bb). 118 Was hier freilich nur die Chiffre einer bislang nicht bekannten Wirkung auf den Menschen darstellt, mit der dieser adaptiven Erforderlichkeiten der Evolution entspricht. 116

A. Modifikation von Zwangsgewalt

385

tieren – vor allem vor sich selbst. Dies dürfte auch in gesteigerter Identifikation mit den Entscheidungen gründen, an denen er teilhat. Die bereits erwähnte Theorie des goût de liberté Tocquevilles, derzufolge demokratische Organisation Interesse an Freiheit wecke bzw. erhalte, nimmt an, Demokratie steigere Eigeninitiative. Trifft dies zu, wirkt sich dies auch wirtschaftlich aus.119 Was die Überwindung des Gefangenendilemmas durch den Staat zu lähmen droht, erhält und wiederbelebt der demokratische Steuerungsmodus. Eigeninitiative geht jedoch nicht unbedingt zwingend mit Partizipation einher. Partizipation dürfte zunächst lediglich Interesse und Interessen wecken. Diese bestehen, wie Luhmann eingehend gezeigt hat, entgegen der umgangssprachlichen Gepflogenheit nicht a priori. Vielmehr setzen sie einen Prozess der Formierung voraus, der sich vielen potentiellen Trägergruppen erst unter den Bedingungen einer demokratisch verfassten Gesellschaft eröffnet. 1. Mehrheitsherrschaft und Demokratie I: Ein Herrschaftsprinzip und seine Legitimation120 Mehrheitsherrschaft und Demokratie pflegen nicht eben selten synonym verwandt zu werden. Fault de mieux sind auch in dieser Untersuchung solche empirischen Forschungen betrachtet worden, die das Verhältnis von Demokratie und Wachstum betrachten. Jedoch ist weder die Synonymität der Begriffe noch die Identität der Sachen selbstverständlich und noch nicht einmal vollständig gegeben. Wie bereits dargestellt, ist vielmehr schon seit dem 5. vorchristlichen Jahrhundert die Mehrheitsherrschaft als Volksherrschaft bezeichnet worden, ohne dass Demokratia exklusiver Begriff für Mehrheitsherrschaft gewesen wäre. Tatsächlich ist also Volksherrschaft älteste Legitimation von Mehrheitsherrschaft. Dieser Unterschied wird später wieder in der staatsrechtlichen Begrifflichkeit Rousseaus deutlich, der bekanntlich volonté générale von volonté des tous unterscheidet. Das Einstimmigkeitsprinzip, das weltweit in politischen Gremien immer wieder anzutreffen ist, führt ebenso vor Augen, dass Alternativen zum Mehrheitsprinzip real existieren, wie die verschiedenen Qualifizierungen von Mehrheit in manchen der modernen Demokratien die Relativität dieses Begriffes verdeutlichen. Von der relativen Mehrheit bis zur Zwei-Drittel-Mehrheit entfächert sich – teilweise innerhalb ein und desselben politischen Systems, ja sogar derselben Verfassungsordnung – ein breites Kontinuum an Mehrheitsarten. Im ältesten Kulturkreis der modernen demokratischen Tradition, dem angelsächsischen, haben sich daher gleich drei Begriffe für dasjenige herausgebildet, was 119

Hereth 1979 und 1991; Waschkuhn 1998, 316. Unter der Dichotomie von „Idee“ und „Wirklichkeit“ wird dieses Verhältnis auch von Kelsen eingehend behandelt: Kelsen 1963, 14 ff. 120

386

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

Demokratie in praxi bedeuten kann: „consensualism“, also Einstimmigkeit, „majoritarianism“, also Mehrheitsprinzip und „pluralitarianism“, ein kaum übersetzbarer Terminus. „Pluralitarianism“ bezeichnet ein Prinzip, dem eine lediglich relative Mehrheit zugrunde liegt.121 Es kann mit dem „Pluralitarianism“ also, wo ein solches Prinzip herrscht, nicht mehr davon ausgegangen werden, eine Demokratie ermögliche zumindest, so wenige Menschen wie möglich gegen ihren Willen zu beherrschen. Der Preis dafür, möglichst wenige Menschen gegen ihren Willen zu beherrschen, ist indes entsprechend zunehmender Konsensualismus.122 Ebenso kann die Gesamtheit unterschieden werden: Von der Mehrheit der Wahlberechtigten über die Mehrheit der abgegebenen Stimmen kann dies bis zur Mehrheit der gültigen Stimmen variieren. Althusius will diese unterschiedlichen Partizipationsverfahren, wie sie heute der Demokratie zugeordnet werden, auf zwei grundsätzlich unterschiedene Kategorien von Entscheidungen auch unterschiedlich angewandt wissen: Das Mehrheitsprinzip sei geeignet für Entscheidungen, die alle in gleicher und allgemeiner Weise angehen. Was demgegenüber Partikularinteressen anbetreffe, sei nur bei Einstimmigkeit zulässig.123 Althusius unterscheidet also zwischen echten Kollektivgütern, die als solche von Partikularinteressen abstrahiert sind. Darin spiegelt sich nicht zuletzt die vereinheitlichende Wirkung der in seiner Zeit neuen politischen Assoziationsformen staatlicher und protostaatlicher Provenienz wider. Er unterscheidet damit Kollektivgüter, die sich in Kosten und Nutzen, in Vor- und Nachteilen ungleich über die Gesamtheit verteilen. Er beschreibt damit Güter, wie sie asymmetrischen Spielarten des Gefangenendilemmas, das Grundmuster sozialer Dilemmata bleibt, zugrunde liegen.124 Demokratie ist einerseits die den Bedingungen von Staatlichkeit angepasste oder vielmehr denjenigen der Gesellschaftlichkeit des Individuums überhaupt anverwandelte Form von Freiheit: Andererseits gerät gerade dann der Freiheitsschutz des Einzelnen zur Verhinderung der individuellen Freiheit aller anderen Individuen, wenn Einstimmigkeit, also Demokratie im strengen Wortsinne, erforderlich ist: Dieses Paradoxon der Freiheit vermag nur die Mehrheitsregel zu bewältigen.125 Ein erstes Zwischenergebnis gilt es festzuhalten: Anscheinend wirkt Demokratie an sich, wenn sie im wörtlichen Sinne einer einstimmigen Beschlussfassung 121 Lijphart 1999, 23 zur Polarität von Majoritarismus und „Pluralitarismus“, 1 und 5 zur Polarität von Konsenualismus und Majoritarismus. Cave! Pluralitarianism ist selbstverständlich nicht mit pluralism zu verwechseln. Dieser Terminus wird oftmals vielmehr als Gegenbegriff zu jeglichem Mehrheitsprinzip verwandt, namentlich in der „constitutional economy“. 122 Cf. Zweiter Teil A. 123 Althusius, Politik Kap. VIII, § 70. 124 Poundstone 1993, 217. 125 Kelsen 1963, 8 f.

A. Modifikation von Zwangsgewalt

387

verstanden wird, keineswegs katalytisch auf staatliche Rationalisierungsprozesse ein und ist mitnichten effizienzsteigernd, sondern diese Eigenschaften fallen vielmehr einer ihrer Spielarten, nämlich der Mehrheitsherrschaft zu – wenn diese überhaupt als Form der Demokratie angesehen werden kann. Dies gilt wiederum vornehmlich für entsprechende Demokratietheorien und ist als factum, wie bereits festgestellt worden ist, auch immer noch nicht unumstritten. Offensichtlich wurde bereits im Verlauf der athenischen Demokratie vergleichsweise schnell erkannt und in der Neuzeit allmählich üblich, die Herrschaft der Mehrheit als Demokratie zu bezeichnen. Angesichts einer solch langen und wirkmächtigen Geschichte von Ideen, die faktisch das Mehrheitsprinzip legitimieren, drängt sich eine prima vista forsch wirkende Frage auf: Offen ist dieser Frage zufolge, ob in der gegenwärtigen Welt mittlerweile gar nicht mehr das Mehrheitsprinzip als solches, sondern die Bezeichnung einer nach seiner ratio verfassten und als Demokratie benannten politischen Ordnung die effizienzsteigernde und katalytische Wirkung verursacht. Die Wirkung ginge demnach gar nicht vom Herrschaftsprinzip als solchem aus, sondern von seinem Namen.126 Die Frage lautet also, ob die – maßgeblich psychologische – Wirkung der Idee der Herrschaft aller und nicht die damit bezeichnete Sache einer Herrschaft der Mehrheit rationalisierend wirkt. Insofern ergibt sich die Hypothese, dass das Zusammentreffen von Mehrheitsgeltung und Demokratiebegriff katalytisch oder zumindest effizienzsteigernd auf staatliche Rationalisierungsfunktionen einwirkt. Zwar wird ein solcher Unterschied der Wirkursachen kaum nachweisbar sein. Dennoch muss auf die Möglichkeit hingewiesen werden, denn bekanntlich möchte seit Mitte des vorigen Jahrhunderts kaum noch ein Staat oder eine westlich orientierte politische Kraft darauf verzichten, sich als demokratisch auszugeben. Und auch der Verlauf des Untergangs offensichtlicher Scheindemokratien spricht dafür, dass es die demokratische Idee ist, die antreibend wirkt. So berufen sich die Revolutionäre im untergehenden kommunistischen Weltreich nicht nur darauf, das Volk zu repräsentieren, sondern mit ihm identisch zu sein. Diese Friktionen ahnend definiert Schumpeter gänzlich antirousseauistisch Demokratie gerade über das Konkurrenzprinzip, wie es im Mehrheitsprinzip enthalten ist und mit dessen zunehmender Reinheit sich verstärkt: Der Wille der Mehrheit ist der Wille des Volkes, jedes Bemühen um proportionale Abbildung ist Verfälschung.127 Schumpeter ist so konsequent, dass er sich noch nicht einmal bemüßigt sieht, diese „Mehrheit“ irgendwie zu qualifizieren: Derart selbstver126 Es muss an dieser Stelle offen, aber nicht unerwähnt bleiben, warum bereits Herodot als Legitimation der Volksherrschaft auf die besondere Bedeutung des ojnoma kallistün abhebt, wenngleich dieses für ihn freilich gerade die œsonomßa ist. Möglicherweise enthält die Frage die Antwort und die legitimierende, vielleicht gar die katalytische Wirkung liegt in der bürgerrechtlichen Gleichheit aller. 127 Schumpeter 1980, 451. Damit ist Schumpeters Demokratiekonzept grundsätzlich mit demjenigen der athenischen Demokratie identisch, cf. Prolog I. 2., wo die Abweichungen der athenischen Demokratie vom Rousseauschen Modell erörtert werden.

388

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

ständlich ist für ihn offenbar, dass Demokratie noch nicht einmal ansatzweise Herrschaft aller bedeuten kann. Wird der Begriff der Demokratie auf die Anwendung des Mehrheitsprinzips reduziert, eignet es sich nicht „als Unterscheidungskriterium von Staatsformen“.128 Vielmehr bezeichnet Demokratie dann nur den Herrschaftsvorgang, nicht aber den Herrschaftszweck.129 Nicht nur, um den Begriff der Demokratie zu erfüllen, muss Zusätzliches hinzukommen, sondern auch, um den Begriff der Demokratie zum Ausweis eines bestimmten Herrschaftssinns werden zu lassen, was die moderne pluralistische Demokratie freilich ihrer Eigenart nach wohl niemals recht leisten kann. Demokratie mit Mehrheitsprinzip zu identifizieren ist nichts sagend.130 Unter den historischen Ausgangsbedingungen der modernen Demokratie westlicher Provenienz bedeutet dies einen elementares Sinndefizit gegenüber dem Sinnkonzept des Gottesgnadentums.131 Diese eigentliche Sinnarmut, die Begriff und Sache der Demokratie innewohnt, führt dazu, nicht nur das Mehrheitsprinzip als Praxis der Demokratie, sondern sogar diese selbst als Form und nicht als Zweck anzusehen.132 Wird sie wiederum als spezifischer Legitimitätsgrund angesehen, was das relative Sinndefizit, das etwa gegenüber der Idee des Gottesgnadentums besteht, nicht vollständig ausgleicht, so ist sie nicht unbedingt auf eine einzige politische Ordnung angewiesen:133 Tatsächlich dürfte keine andere Staats-„ordnung“ einen solchen Formenreichtum aufweisen wie die Demokratie. Nicht zuletzt dies spricht dafür, in Demokratie gar keinen Ordnungsbegriff zu erkennen. Demokratie ist eine prinzipial beschaffene Form. Neben dem motivatorischen Moment der Partizipation ist es vermutlich diese finale Indifferenz und die somit ermöglichte hohe Reaktions- und Anpassungsfähigkeit staatlicher Steuerung, die demokratische Legitimation zu einem besonders effizienten Katalysator der Rationalisierungsleistung staatlicher Zwangsgewalt werden lässt. Dabei wiederum ist es die Möglichkeit des Regierungswechsels, die das reine Mehrheitsprinzip zur Demokratie qualifiziert.134 Denn politische Stabilität, wie sie sich in langen Amtszeiten von Regierungen niederschlägt, wirkt ebenfalls regelmäßig rationell. Darüber hinaus ist freilich nicht die Frage aus dem Blick zu verlieren, ob das Mehrheitsprinzip als brutum factum jenseits seiner begrifflichen Konnotation, 128 Hättich 1967, Zitat: 33; Kritik an einer Reduktion auf Mehrheitsprinzip und Gewaltenteilung: 16. 129 Hättich 1967, 139. 130 Hättich 1967, 118 und 131. 131 Hättich 1967, 143. 132 Schumpeter 1993, 384 bezeichnet sie daher auch als „Methode“. 133 Hättich 1967, 138 f. 134 Walter 1962, 139.

A. Modifikation von Zwangsgewalt

389

gegenüber anderen herrschaftsbegründenden Prinzipien, eine katalytische oder zumindest effizienzsteigernde Wirkung an und für sich entfaltet. Dies bedeutet, dass es nicht nur gegenüber elitären, sondern auch gegenüber dem Einstimmigkeits- oder gar hoch qualifizierten Mehrheitsprinzipien in dieser Hinsicht überlegen wäre. Es ist freilich nicht von vornherein selbstverständlich, ob die auch dem hiesigen Untersuchungszusammenhang zugrunde liegende Annahme, durch Mehrheitsentscheidung ausgeübte Zwangsgewalt werde für alle Gezwungenen (psychologisch) annehmbarer als namentlich elitäre oder oligarchische Prinzipien, zutrifft: Dass das Mehrheitsprinzip über zwei Jahrtausende hinweg als Demokratie firmieren muss, lässt dies jedoch bezweifeln. Dies liegt nicht zuletzt auch darin begründet, dass die Mehrheit unter den heutigen Bedingungen der Demokratie anonym bleibt, „so daß die Unterlegenen nicht das Gefühl haben müssen, sie seien dem autoritativen Befehl bestimmter Personen ausgesetzt.“ 135 Hierin liegt das in der Praxis entscheidende Problem sachverständig legitimierter Herrschaft, zumal das Gefühl der Unterlegenen möglicherweise noch durch entsprechendes Verhalten der Befehlenden verstärkt wird, da Allüren und Cäsarismen, Arroganz und Ignoranz sich unter Menschen niemals vollständig ausschließen lassen. Darin liegt aber wiederum eine Hemmung staatlicher Rationalisierungsfunktion begründet, da personalisierte und befehlsförmige Herrschaftsakte Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit, schließlich als Folge davon Resignation oder von vornherein Passivität und Desinteresse zeitigen. Reine Rationalität ist nicht rationell. Im partizipatorischen Moment liegt zu allen Zeiten die langfristig wirkende Überlegenheit von Demokratien. Daher ist das entscheidende Distinktiv zwischen bloßer Mehrheitsherrschaft und auf das Mehrheitsprinzip gestützter Demokratie der Minderheitenschutz. Er ist desto entscheidender, „je mehr demokratischer Legalitätsglauben, Mehrheitspositivismus und fragloser Rechtsgehorsam in der Gesellschaft schwinden.“ 136 Dasjenige Merkmal, was für die Demokratie spezifisch ist, ist die Integration der Minderheit, denn diese Integration qualifiziert die Mehrheitsherrschaft zur Volksherrschaft. Dass dies im Hinblick auf die Kooperation der unterlegenen Individualinteressen, wenn die vorstaatliche Ausgangssituation des Gefangenendilemmas zugrunde gelegt wird, entscheidend ist, liegt auf der Hand. Als integrales Sinnkonzept souveräner Herrschaft lässt sich Demokratie „als die ordnungspolitische Konkretisierung der gesellschaftlich-immanenten Legitimierung der Herrschaft, der Idee der gesellschaftlichen Freiheit und der Idee der politischen Gleichheit“ definieren. Minderheitenschutz hat aber zweierlei Nebenwirkungen auf die Steuerungsgewalt von Legislative und Exekutive. Zum einen vermindert er deren Berechenbarkeit und Planbarkeit und beeinträchtigt die Rationalisierungswirkung staatlicher Steuerung allgemein. Zum anderen wirft er le135 136

Bäumlin 1954, 20; cf. auch Schindler 1921, 85. Isensee 1988, § 57, 94.

390

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

gitimatorische Probleme auf, die ihrerseits mögliche Rationalisierungsgewinne, die aus dem demokratischen Legitimationsmodus entstehen wiederum aufheben. Dies kann bis zu Frustrationserlebnissen des Wahlvolkes führen. Entscheidend ist, ob der Minderheitenschutz von denselben Gewalten, von Legislative und Exekutive gewährleistet wird, deren Steuerungsgewalt auch Gegenstand des Prozesses demokratischer Herrschaftsbestellung ist oder von einer externen Gewalt, also der Judikatur. Richterlich gewährleisteter Minderheitenschutz stellt nicht nur einen legitimatorischen Fremdkörper dar, sondern wirft somit auch koordinatorische Friktionen auf und stört Rationalisierung, wie sie namentlich durch die „Einheit des Staates“ erzeugt wird. Ein Minderheitenschutz, der durch Gewaltenteilung erlangt wird, droht diese statt zu einer Gewaltenverzahnung zu einer Gewaltenarretierung zu machen. Denn Verzahnung erfordert eine zentrale Antriebswelle. 2. Vertragsdenken als frühmoderne Rationalisierung bürgerlicher Gesellschaft: Die atlantischen Vertragsmodelle Die vorgefundene Herrschaftsordnung der Gesellschaft wird seit dem 16. Jahrhundert zunehmend als Vertrag erklärt. Der Vertrag erfüllt dabei eine doppelte Funktion: Zum einen dient er der Herrschaftslegitimation, zum anderen dient er jedoch der Herrschaftserklärung. Legitimatorische und heuristische Funktion fallen dabei weitgehend zusammen. Staatstheorie und Staatsrecht, politische Theorie und politische Theologie grenzen sich nur allmählich von einander ab und sind institutionell in den meisten westlichen Gesellschaft bis heute eng verbunden. Mit den atlantischen Revolutionen werden jedoch abstrakte Tugenden und Werte durch das konkrete Privatinteresse als einzig legitimem tÝloò leitend.137 In der Vertragsidee ist die Demokratie bereits angelegt: Die Entwicklung hin zur Demokratie wird damit jedoch nur wahrscheinlich, nicht aber zwingend. Denn in einem Vertragsverhältnis sind die Beherrschten, und sei es noch so repressiv und fiktiv wie etwa bei Hobbes, agierende Subjekte und nicht reine Herrschaftsobjekte. Die Autonomie des Staates ist in der englischen Debatte des 17. und frühen 18. Jahrhunderts vertraglich begründet: Dies mag kontinentaleuropäischem Denken paradox erscheinen,138 obwohl es dies nicht ist und eine bis heute typische und im politischen Denken der Angelsachsen verbreitete Figur darstellt. Denn der Vertrag bietet das entscheidende Element, Eigeninitiative zu erhalten und das Gefangenendilemma dennoch zu bewältigen. Determiniert das neuzeitliche Vertragsdenken noch nicht die Entwicklung hin zur Demokratie, so determiniert es umgekehrt die genuin neuzeitliche Form von 137

Reinhard 2002, 259. Cf. etwa Koselleck 1973, 24. Demgegenüber betont Heller 1983, 267, dass der aus dem Naturzustand heraus staatsbegründende „Vereinigungsvertrag“ zugleich „Unterwerfungs- und Gesellschaftsvertrag“ ist. 138

A. Modifikation von Zwangsgewalt

391

Demokratie: Im Unterschied zur antiken Demokratie wird der Einzelne als Freiheitsträger begriffen. Die Grundrechte als individuelle und gleiche Rechte sind eine Entdeckung des westlichen Kulturkreises der Neuzeit.139 Somit tritt das Problem des Gefangenendilemmas im neuzeitlichen Vertragsdenken vergleichsweise deutlicher zu Tage als in der antiken Demokratie, in der es politisch nicht berücksichtigt wurde: Denn die Eleutheria war ein Kollektivgut, das auch nur kollektiv genossen werden konnte, und kein Individualrecht im modernen Sinne. Aber auch der modernen Demokratietheorie ist der Gedanke kollektiver Trägerschaft von Freiheit nicht fremd.140 Die für die Neuzeit kennzeichnende Individualträgerschaft wirft die Frage auf, inwieweit es sich bei dieser individuellen Freiheit selbst um ein Kollektivgut handelt. Der Herkunftsbereich der modernen vertragsbegründeten Individualfreiheit, England, wo diese Theorie eingehend erstmals von John Locke in Form von Verträgen formuliert wird,141 definiert Freiheit bis in die Gegenwart hinein als gegebenen Naturzustand. Eine gewisse Verfestigung und individuelle Zurechenbarkeit erhalten diese Freiheitsrechte durch William Blackstone, gleichwohl bleiben sie im Kern in England mittelalterliche Volksrechte.142 Ist sogar bei Hobbes schon der Einzelne Vertragspartner,143 so erwähnt Locke noch ausdrücklich das Individuum als Vertragspartei: Ein Wandel in der dem Individuum zukommenden Bedeutung ist also nicht festzustellen144 Mit Locke wandelt sich zwar der Herrschaftsvertrag von der Herrschaftsbegründung zur Herrschaftsbegrenzung.145 Auch dies ist aber wohl nicht mehr als eine Anverwandlung überkommener Freiheitsrechte an die neuzeitliche Konzeptualisierung individueller Freiheit. Kann die Vertragstheorie also bereits die Individualfreiheit denken, so wird sie als staatlich garantiertes Kollektivgut in der Gegenwart mittlerweile weitgehend als Hauptgrund von Staatsausdehnung erkannt. Neben der freiheitssichernden Funktion des liberalen Verfassungsstaates ist es jedoch möglicherweise gleichermaßen die vermutlich höhere Geneigtheit von Demokratien, wohlfahrtsstaatliche Funktionen zu verstärken, die die Demokratie Staatsausdehnung begünstigen

139

Herzog 1971, 358. Kelsen 1963, 11. 141 Locke, First und second treatise. 142 William Blackstone, An analysis of the law of England, erstmals erscheinen: Oxford 1754 (= ND 1979). 143 Hobbes Leviathan, Teil 2, Kap. 17. Nach Ingeborg Maus’ Auffassung liegt überdies gar kein Herrschafts-, sondern allein ein Gesellschaftsvertrag zugrunde, Maus 1994, 49: Das ist, falls sie sich weiter fundieren lässt, eine nicht unerhebliche Erkenntnis. Die Konsequenz, mit der sich Hobbes ohnehin vom mittelalterlichen Denken verabschiedet, wäre noch schärfer als gemeinhin unterstellt, Hobbes avancierte gar zum Liberalen avant la lettre. Cf. auch: ibid. 7; 21 und passim. 144 Locke, Second treatise on government, Kap. 96. 145 Waschkuhn 1998, 210. 140

392

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

lässt.146 Der modernen, maßgeblich aus dem Angelsächsischen stammenden Unterscheidung zwischen persönlicher Freiheit als Herrschaftsfreiheit und Recht auf Privatheit, Freedom, und der politischen Freiheit, die durch die Regierung der Regierten realisiert wird, Liberty, ist also, vor allem mit der antiken Demokratie verglichen, von der Freiheit des Volkes als ganzem zu unterscheiden.147 Da sich in der Demokratie final nur dessen Freiheit und niemals die Freiheit aller Einzelnen verwirklichen können, bleibt die politische Freiheit des Einzelnen auf das Wahlrecht und die Existenz einer unabhängigeren öffentlichen Meinung beschränkt. Erst das Bewusstsein solcher Individualträgerschaft lässt sodann neuartige Kollektivvermittlungen individueller Freiheitsrechte aufkommen, die aber nicht mit der kollektiven Freiheit der Antike gleichzusetzen sind, sondern auch noch als Ziel individueller Freiheit vorgeben, diese aber eben nur als eine von der kollektiven Größe des Volkes abgeleitete erachten, wie dies namentlich in den pleonatisch so genannten „Volksdemokratien“ totalitärer Art, aber auch in der jüngeren Verfassungsrechtsprechung eines Rechtsstaates wie der Bundesrepublik Deutschland ansatzweise zu beobachten ist.148 Aber nicht nur Freiheit, sondern auch Demokratie stellt ein Kollektivgut dar, das aufgrund des Paradoxons der Freiheit bislang nicht ohne Staat gewährleistet worden ist.149 In letzter Konsequenz ist es die Vereinbarung, die der angelsächsischen nachhobbesianischen Vertragstheorien zufolge, Herrschaft ablösen soll. Ein Mittel hierzu liegt in der inneren Widersprüchlichkeit des Individuums begründet, was sich in Zugehörigkeit zu mehreren widerstreitenden Interessengruppen manifestiere.150 Wird der Gedanke der Volkssouveränität als solcher also in der Welt der Gegenwart anscheinend nicht mehr ernsthaft bestritten und fehlen diejenigen Kräfte, König und Adel, die sie in Frage stellen,151 so wird er heute von der zunehmenden funktionalen Differenzierung, wie sie auch den spätmodernen Staat ergriffen hat, insbesondere von administrativer „Feinsteuerung“ bedroht. Gingen noch Rousseau, als er das interêt commun formulierte, und Kant bei seinem Konzept der Volkssouveränität als einem „Republikanism“ von einem relativ niedrigen Regelungsbedarf in einem Staat mit souveränem Volk aus, so ist es die 146 Ritter 1991, 11 f.; Kailitz 2004, 302. Diese Geneigtheit muss nicht im Widerspruch zur antiegalitären Wirkung von Demokratie stehen. 147 Hättich 1967, 145; Willke 1992, 228. 148 Hanebeck 2004, 82 und 104. 149 Popper 1992, 146 ff.; 333 ff.; Waschkuhn 1998, 271. 150 Scharpf 1975, 30. 151 Scheuner 1952, 280; Bäumlin 1954, 82.

A. Modifikation von Zwangsgewalt

393

Staatsausdehnung und die damit einhergehende unweigerliche Verselbständigung, die diesen aufklärerischen Konzepten einer echten bürgerlichen Selbstverwaltung, sich auf ein überschaubares notwendiges zu beschränken, den Garaus bereitet.152 Diese Entwicklung lässt den doppelten Charakter des Volkes als Souverän und Untertan, als Normgeber und Normunterworfener hervortreten. Wenn insofern versucht wird, durch Konzepte wie den kooperativen oder aktivierenden Staat Subordinations- weitest möglich durch Koordinationsverhältnisse zu ersetzen, kann dies zwar nicht den gestörten Mechanismus der Volkssouveränität selbst ersetzen, wohl aber deren Ziel eine Autonomie des Volkes begünstigen. Das Volk muss in den rechtsstaatlichen Demokratien des Westens heute erfahren, was der Monarch im frühmodernen Gesetzesstaat erleben musste: Nämlich, dass Recht und Normierung binden und der Staat zunehmend Eigenpersönlichkeit erlangt. Souveränität ist nur über die Souveränität des Staates vermittelt möglich.153 Genauso wie es aber verfehlt wäre, daraus zu schließen, der Monarch sei aufgrund gesetzlicher Selbstbindung kein absoluter mehr gewesen, so unzutreffend wäre es, dem Volk abzusprechen, dass es souverän sei: Der Aufwand, mit dem Wahlen begangen werden, zeigt auf das Anschaulichste das Gegenteil. Die klassische kontinentaleuropäische, namentlich die deutsche Staatslehre, die sich mit der Demokratie versöhnt, indem sie dem Volk den Rang eines Staatsorgans zubilligt, leugnet aber die Grundsätzlichkeit von Demokratie als außerstaatliche Bürgerherrschaft: Vielmehr zielt Demokratie darauf, den Staat als ganzen als Organ der Gesellschaft zu betrachten und nicht das Volk als personelles Substrat der Gesellschaft statt dessen als Organ des Staates zu definieren.154 Daraus folgt, dass Demokratie zwar eine Staatsform ist, zugleich aber den Staat transzendiert, da der entscheidende Urheber der Staatsgewalt außerhalb seiner selbst liegt. Damit wird freilich ein totalitäres Potential aufgebaut, weil die Trennung von Staat und Gesellschaft unscharf wird. Die Sache des Volkes, wie sie ihre beeindruckenste Ausprägung in der levée en masse der Französischen Revolution erhält, ist tatsächlich als zutiefst bürgerliche Legitimationsidee die Sache des Bürgertums. Das Bürgertum ist allerdings im Nachhinein betrachtet Agent jener Freiheitsrechte, die Emanzipation aller ermöglichen sollen und den Weg für die Demokratie zumindest freimachen – allerdings auch den Weg für die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts.155

152

Maus 1994, 7 ff. und 221 f. Heller 1983, 279. 154 Hättich 1967, 153 und 1. 155 Solcherart Verwandtschaft von Demokratie und Totalitarismus festzustellen hat den lebhaften Widerspruch von Maus 1994 gefunden. Indes heißt die gemeinsame Abstammung von Demokratie und Totalitarismus festzustellen nicht die einschlägigen Ideen der Aufklärung als totalitär zu denunzieren. Vielmehr ist in den Geburtsstunden der Moderne, wie sie 1776 und 1789 schlagen, beides als Möglichkeit angelegt. 153

394

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

Bis auf die Zeit Bismarcks ist die Nation von der Volkssouveränität getrennt kaum vorstellbar.156 Erst die staatliche Einheit der Nation im von ihm konzipierten Deutschen Kaiserreich lässt diese beiden Größen auseinander treten, womit der Liberalismus bekanntlich vor das Problem gestellt wird, Prioritäten zu treffen, wie es für ihn zuvor nicht vorstellbar war. Doch der Staat der aufklärerischen Freiheitsrechte ist in seiner sozialhistorischen Realität der Klassenstaat des Bürgertums, das zwar bislang nur dritter Stand ist, aber als Stand immerhin Geschichte hat, auch wenn es bis zu den Atlantischen Revolutionen noch nicht selbst Geschichte macht. Das Vertragsdenken als Begründungsmodus und Gründungsmythos des modernen Staates ist noch zutiefst bürgerlichem, ja nachgerade kaufmännischem Denken entlehnt. Die Sache des Bürgertums wird als Sache der Aufklärung betrieben, ihr politisches Signum ist das vermeintlich Unpolitische, wie es sich in der Wissenschaftsförmigkeit bürgerlicher Argumentation manifestiert.157 Das Bürgertum folgt damit – zumindest außerhalb Frankreichs – dem vom frühmodernen (Fürsten-)staat gesetzten Rahmen einer politikverleugnenden Gemeinwohlorientiertheit alles Politischen. Der Verfassungsstaat der Aufklärung ist wie der Rechtsstaat des 19. Jahrhunderts weithin das, was seine Gegner auch als „Klassenstaat“ bezeichnen. Während das Bürgertum seine von Adel und Geistlichkeit emanzipierte Staatlichkeit noch (vertrags-)rechtlich und mithin gemeinwohlförmig begründet, ist die Diktatur des Proletariats zwar auf das Wohl der Masse, aber eben nicht mehr der Gesamtheit ausgerichtet. Dass daher in einer solchen Ideologie kein Ort für Staatlichkeit ist, bestätigt sich damit freilich auf eine Art, die den Anhängern dieser Ideologie eher unlieb ist. Das Gefangenendilemma wird nicht überwunden, sondern seine prospektive Nichtexistenz beschworen. Damit wird der Kommunismus aber zur politischen Theologie. Die Sache der Unter- und Antibürger, des Proletariates und der Randgruppen, negiert den Vertrag und postuliert bewusst rechtssprengende Herrschaftsformen: Die kommunistische Diktatur des Proletariates und die nationalsozialistische Volksgemeinschaft. Während das Bürgertum einen Widerspruch von Individualnutzen und Nutzen aller anerkennt, wird dieser von den Theoretikern des vierten Standes nicht berücksichtigt. Friedrich Naumann beklagt den Eintritt des vierten Standes als sozialistischer Masse in die Geschichte,158 Marx folgt mit seiner Kritik der bürgerlichen Gesellschaft hingegen dem vom Bürgertum gesetzten Rahmen einer ideologieverleugnenden Ökonomiezentriertheit alles Gesellschaftlichen.159 Namentlich in England, das sich durch eine spezifisch ursprüngliche und unabgeleitete Freiheit traditionell auszeichnet, polarisiert sich daher schon verhältnis-

156 157 158 159

Meinecke 1922, 251; Schieder 1952, 170. Koselleck 1973, 6. Pauly 2004, 32. Frey/Meißner 1974, 11; Korsch 1974, 12.

A. Modifikation von Zwangsgewalt

395

mäßig früh der allgemeine Staatsdiskurs in Vertreter eines „liberal state“ 160 und solche eines „interventionist state“ 161. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund dieser bürgerlichen Provenienz der vertragsrechtlichen Konzeptionen bleibt der Nachwelt der in der 1948 verabschiedeten Menschrechtsrechtsdeklaration wieder aufgegriffene „Geist der Brüderlichkeit“ bislang vergleichsweise abstrakt.162 Neben Demokratie und Rechtsstaat als Ordnungen, die Gleichheit und Freiheit gewährleisten, lässt sich dieser Wert als Begründung des modernen Sozialstaates ansehen. Das 19. Jahrhundert ist in Kontinentaleuropa aber jener Zeitraum, in dem die frühesten protosozialistischen Ansätze einer Kritik am bürgerlichen Vertragsdenken der Atlantischen Revolutionen mit der spätabsolutistischen Kritik am Rousseauschen Konzept des contrat social noch zusammenfallen, wie sie namentlich die Kreise um Friedrich-Wilhelm IV. und Haller artikulieren. Mit der Beharrung, die Verzweiflung zu Eigen sein kann, versucht die patrimoniale politische Obrigkeit im Preußen-Deutschland des Vormärz an Stelle des contrat social eine Summe von Individualverträgen zu setzen: Die ist nicht zuletzt kennzeichnend für die Persistenz mittelalterlichen Lehnsdenkens und die Fremdheit des Staatsgedankens.163 Dass er die dem contrat social zugrunde liegende Vermittlung von volonté de tous und volonté générale durch Parteien als gestört ansieht, zeigt, dass Rousseau bereits einen Begriff von dem hatte, was sich heute als Gefangenendilemma darstellt. Parteien als Teilinteressen handeln Rousseau zufolge dem Interesse auch desjenigen Teils zuwider, den sie vertreten: Das heißt aber, dass sie eine suboptimale Gesamtlösung, ein Nash-Gleichgewicht konstituieren. Die totalitären Urheber der Französischen Revolution diffamieren das Ancien Régime daher als „la partie adverse de chacun“ oder als „,Partei‘, die per definitionem gar keine ,Partei‘ sein kann.“ 164 Damit wird jedoch einer Regierung die Gemeinwohldienlichkeit abgesprochen, deren zumindest gemeinwohlförmig begründete Politik gerade durch den Vorwurf, nicht Partei zu sein, bestätigt wird. Das strikter als andere absolutistische Herrschaftsordnungen staatlich organisierte Ancien Régime macht basierend auf der frühmodernen Kriminalstatistik und Polizeiwissenschaft eben dieses Gemeinwohl neben den dynastischen Interessen zunehmend zu seiner Aufgabe.165 Eben deshalb kann es sich auch nicht 160

Spencer 1884; Herbert 1885; Donisthorp 1889; Wilson 1911. Ball 1896; Webb 189; Headlam 1892. 162 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948; Krüger 1971, 249 f. 163 Meinecke 1922, 265. 164 Koselleck 1973, 128. 165 Nicht zuletzt die vergleichsweise solide Haushaltslage zeugt davon. Klassisch ist der Lobpreis Edmund Burkes auf das französische Ancien Regime, Burke 1987. 161

396

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

als Partei definieren. Der Staat des Ancien Régime ist „formales Ordnungsgefüge“, das den Untertan als Menschen privatisiert und dessen Moral der apolitische Raum der bürgerlichen Gesellschaft darstellt.166 In Deutschland fällt die aufgeklärte Kritik am Ancien Régime auf dieselbe zurück, indem ihr die Verfechter des Obrigkeitsstaates das Modell eines Staates als einer „metapolitischen Illusion“ entgegenhalten167. Die Moderne schafft, indem sich ihre politische Ideengeschichte zu einem Kampf um das Unmögliche entwickelt, tatsächlich das Unmögliche: Den arbiträren Staat. Denn daraufhin alle Politik ausrichtend entwickelt dieser zunehmende Eigenmacht gegenüber den partikularen Interessen: Die Idee schafft bis zu einem gewissen Grade einmal mehr ihre Wirklichkeit. In anderer Form, nämlich nicht durch état centralisateur, sondern durch partikularen Territorialstaat, nicht unter Ausschaltung der Stände, sondern mit ihnen und neben ihnen werden auch im Alten Reich die allgemeinen Interessen Maßstab monarchischer Herrschaft. Der Begriff der „Salus publica“ wird dabei zur Formel, Hausinteresse und Landesinteresse zu synchronisieren.168 Und auch hier bleibt das Gemeinwohl Zweck und Maßstab auch der auf Beseitigung der absolutistischen Monarchien zielenden Kräfte, wie etwa das Staatsrecht Johann Jacob Mosers zeigt.169 Es wird jedoch durch die Forderung nach politischer Freiheit nicht nur ergänzt, sondern zugleich verändert: Ging es den Monarchen und ihren Apparaten um die „Wohlfahrt“ der Untertanen, und das heißt um Sicherheit, so sucht das revolutionäre Gedankengut das Gemeinwohl mehr in der Emanzipation des Individuums. Möglicherweise sind das Programm der Aufklärung und die tatsächliche Programmierung des absolutistischen Systems in ihrem tÝloò unvereinbar.170 Insofern, als sich das Gemeinwohl für die antimonarchischen Aufklärer der Revolution in Emanzipation des Einzelnen konkretisiert, stellt sie einen Abstraktionsrückschritt gegenüber einer auf der Staatsraison aufbauenden Eigenständigkeit eines nicht am Individuum zu definierenden Gemeinwohls dar. Gemeinwohl als Maßstab der Politik und mithin den Staat als solchen selten explizit, aber unweigerlich implizit in Frage zu stellen ist schließlich erst Folge der totalitären Herrschaften des 20. Jahrhunderts.171 Der Engländer Hobbes ist demgegenüber schon fast zwei Jahrhunderte zuvor weiter als die Ideen der Französischen Revolution: Der Staat ist einerseits ständig vom angenommenen Naturzustand bedroht, aber der legitime Souverän setzt sich in der Geschichte die als Ablauf des Fortschrittes begriffen wird, immer wieder durch. Tatsächlich deutet er auch die Lord-Protektorate der beiden Cromwells als 166 167 168 169 170 171

Koselleck 1973, 154. Kelsen 1963, 22. Oestreich 1967, 65. Johann Jacob Moser, Von der Teutschen Reichs=Stände Landen, 1769, 1187. von Aretin 1974, 43. Cf. Erster Teil Kap. C. II.

A. Modifikation von Zwangsgewalt

397

eine solche Übergangsepoche: Darin erweist sich auch das Hobbesianische Denken in all seiner anthropologischen Skepsis von jenem Fortschrittsoptimismus erfüllt, der für die Aufklärung kennzeichnend ist: Suboptimale Zustände können demzufolge nicht zu länger anhaltenden Gleichgewichten führen. Daraus resultiert zwingend Fortschritt, dieser ist aber für Hobbes stets Fortschritt des Staates.172 Die gegenwärtige Rechtfertigung von Staat ist durch eine Renaissance des Vertragsdenkens nicht zuletzt in Gestalt des kooperativen Vertrages gekennzeichnet, der auch staatliche Einzelhandlungen und nicht nur seine reine Existenz als vertraglich statt befohlen legitimiert, eben als „kooperativen Staat“ 173 oder durch die Einführung des Äquivalenzprinzips174 zu begründen und zu gestalten sucht. Während die Hochmoderne dem Vertragsdenken fern ist, wird staatliche Zwangsgewalt seit den 1970er Jahren wieder zunehmend vertragstheoretisch erklärt.175 Dies entspricht der Entwicklungstendenz des spätmodernen Staates stärker koordinierend als subordinierend, stärker konventional als kommandierend zu agieren. Jene Verabsolutierung des Staates, die mit Hegel ihren konfrontativen Ausgang nimmt, ist längst wieder geschwunden. 3. Idee und Genesis moderner Volkssouveränität als Institut bürgerlicher Autonomie Volkssouveränität war stets Grundgedanke dessen, was als Mehrheitsherrschaft dauerhaft institutionalisiert werden konnte. Freilich führt der Gedanke der Volkssouveränität allein nicht zwingend zur Mehrheitsherrschaft. Vielmehr drückt er zunächst den Primat des Individuums solcher Maßen aus, wie bereits Althusius das Konzept der Volkssouveränität umschreibt: Regierung ist allein als effizienzsteigernder Modus der Bedürfnisbefriedigung des Volkes legitim: „Nam et regni proprietas est populi et administaratio regis“ 176 Gott bleibt gleichwohl noch Legitimationsquelle (staatlicher) Herrschaft.177 Dieser Gedanke ist jedoch historisch betrachtet von vornherein Ideologie und Utopie. Nicht nur, dass seine praktische Realisierbarkeit bislang unmöglich ist. Vielmehr ist der Gedanke der Volkssouveränität, wie er neuzeitlichem Verfassungsdenken eigentümlich ist, Produkt bürgerlicher Gesellschaft und bereits seit der Aufklärung Legitimation einer Klassenherrschaft patronalen Selbstverständnisses.178 172

Koselleck 1973, 167. Volker Neumann 1992, 431 f. 174 Schmehl 2004, 64. 175 Waschkuhn 1998, 419. 176 Althusius 1614, Kap 9, 4, i. e. Seite 169 der an dieser Stelle zitierten lateinischen Ausgabe von 1614/1961. 177 Heller 1983, 28. 178 Koselleck 1973, 41 bezeichnet Lockes „Essay concerning human understanding“ als „heilige Schrift des modernen Bürgertums“. 173

398

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

Es dauert nur vier Jahre, da wird die Erklärung der Menschenrechte, und zwei Jahre, da wird die Verfassung der ersten französischen Republik mit der Guillotine und den Septembermorden sanktioniert. Die terreur lässt die Idee der bürgerlichen Gesellschaft als Gruppe freier Individuen hinter sich und geht von der Rousseauschen volonté générale aus: „Le peuple souverain est l’universalité des citoyens français.“ 179 In ihrem antiabsolutistischen Reflex konzipiert die bürgerliche Gesellschaft den Menschen als ein Wesen, das zur Freiheit verurteilt ist.180 Bürgerliche Gesellschaft als maximierte Herrschaftsfreiheit begreift nicht nur die Unabhängigkeit von ständisch-absolutistischer, sondern auch von geistlicher Herrschaft ein.181 In ihr steigert sich jene Säkularisierung, die bereits den frühmodernen Staat des Monarchen hervorbringt. Ihre konsequenteste institutionelle Herrschaftsorganisation findet die bürgerliche Autonomie seit Rousseau in der Republik.182 Diese Manifestation bürgerlicher Autonomie ist freilich zugleich Ort des Gemeinwohls.183 Insofern versucht in der politischen Praxis das führende Herrschaftsorgan der Ersten Französischen Republik auch eben jener Konsequenz zu folgen, wenn es sich als „comité de salut“ bezeichnet.184 Das Konzept der bürgerlichen Gesellschaft setzt freilich schon aufgrund des Selbstverständnisses als einer Gesellschaft, zumal dann, wenn sie republikanisch verfasst ist, die Gleichheit ihrer Glieder voraus, handelt es sich bei der dem römischen Recht entstammenden Assoziationsform der societas um „freie und gleiche Vertragspartner“.185 Ist die Fiktionalität der Vertragsidee unbestritten, so ist der notwendige Grad dieser unvermeidbaren Fiktion hochumstritten, ja er stellt die verfassungspolitische quaestio an der gegenwärtigen Demokratien schlechthin dar. Demokratische Staaten mit geschriebener Verfassung, also außer Israel und Großbritannien mittlerweile alle Demokratien auf der Erde, sehen sich vor die Frage gestellt, ob ihre Verfassung plebiszitärer Bestätigung durch das Volk bedarf, zumal dann, wenn es sich um regulär eigentlich parlamentarische Demokratien handelt. Weit verbreitet ist die Annahme eines stillschweigenden Plebiszits wie in der Bundesrepublik

179

Verfassung vom 24. Juni 1794, Art. 7. Koselleck 1973, 7; Schefczyk 2003, 109. 181 Heller 1983, 125. 182 Rousseau, Du contrat social, Buch 2, c. 6. 183 Isensee 1988, § 57, 77; Anderheiden 2004. 184 Die Revolutionäre vollziehen damit im strengen Sinne Luhmanns 1981, 134 gesprochen den Sprung von politikwissenschaftlicher zu echter politischer Theorie als einer Politik, die einer Theorie folgt. 185 Heller 1983, 125. 180

A. Modifikation von Zwangsgewalt

399

Deutschland.186 Durch längeren Bestand bewährt und möglicherweise robuster zeigt sich die US-amerikanische Legitimation der Verfassung, derzufolge sich erst durch die Verfassungsgebung ein neuer pouvoir constituant gegründet habe.187 Mag diese Legitimationsfigur für staatsbegründende Verfassungsurkunden motivierend und effizient wirken, so verhält es sich schwieriger im Hinblick auf andere Umstände der Verfassungsgebung, vor allem dann, wenn in den einzelnen Gebieten ihres Geltungsraumes die Frage plebiszitärer Legitimation unterschiedlich beantwortet wird, wie etwa im Falle des internationalen Vertrages einer „Verfassung für Europa“. Die Fiktionalität des Vertragsmodells reflektiert freilich nur die Fiktionalität der Volkssouveränität. Diese lässt sich, ohne sie als normatives Konzept zu betrachten, kaum verstehen. Anders als der Staat als Organ der Gesellschaft, so ist das Volk als Souverän institutionell nicht unmittelbar fassbar. Das vornehmste Indiz von Volkssouveränität sind Wahlen.188 Genauso wenig wie diese allein jedoch Volksouveränität ausmachen, genauso wenig müssen Wahlen zwingend aus Volkssouveränität folgern. Existential und Essential der Volkssouveränität ist vielmehr die politische, also kollektive Zusammenhänge betreffende Freiheit des Volkes.189 Gegen Ende des 20. Jahrhunderts hat der Begriff der Volkssouveränität über die Frage paralysiert zu werden begonnen, wer jenes Volk sei, von dem in der nüchternen Prosa des Bonner Grundgesetzes gesprochen alle Staatsgewalt ausgehe. Bürger ist in diesem Zusammenhang vollends nicht mehr als eine soziale Konnotation, die ihn von anderen gesellschaftlichen Klassen unterscheidet, sondern in seiner rechtlichen Qualität als Staatsangehöriger relevant. Der Bourgeois ist verschwunden und allein der citoyen übrig geblieben. In den westlichen Gesellschaften der Gegenwart ist der Unterschied von Staatsangehörigem und Ausländer jedoch nicht selten mit demjenigen von Bürger und Proletarier, naturgemäß seltener mit demjenigen von Bürger und begüterter Exilelite identisch. Bürgerschaft scheint allgemein Bürgerlichkeit zu befördern. Rudimentärer Organisationsgrad und fehlende Initiativkraft des Volkes als Staatsorgan oder gar als Staatsperson manifestieren sich in der Verfügbarkeit des repräsentierten Körpers in seiner Gesamtheit durch die Repräsentanten: Dieses Problempotential aktualisiert sich, wenn die Repräsentanten massenhafte Einbürgerungen beschließen „und so die eigene Legitimationsbasis“ umdefinieren.190

186

Herzog 1971, 316. Steinberger 1991, 23; Hanebeck 2004, 85. 188 Hättich 1967, 14 gegen Duverger 1960, 6 und 14, der erst, aber zugleich ausschließlich in Wahlen Volkssouveränität konstituiert sieht. 189 Hättich 1967, 145. 190 Isensee 1999, 53. 187

400

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

Volkssouveränität wird unter den gegenwärtigen Bedingungen der ausgehenden Moderne auch als die Sache des Leitbildes vom „aktivierenden Staates“ verstanden: Der Staatszweck sei der Bürgerzeck.191 Das Spezifische an der Autonomie der bürgerlichen Gesellschaft liegt nunmehr darin begründet, dass sie „als System der partikularen Interessen und ihrer Verflechtungen“ 192 gleichsam dasjenige, was sie ihrer Eigenart eigentlich gerade widerspricht, die das als egoistisch angenommene Individuum in übergeordnete Zusammenhänge einzubinden, vollzieht, um den Individualismus weitest möglich zu optimieren.193 Daher kann die bürgerliche Gesellschaft auch niemals Gemeinschaft sein.194 Im Konzept der Volkssouveränität, wie es Rousseau und Kant entwerfen, wird Herrschaft möglicherweise nicht nur konstitutionalisiert, sondern gänzlich vergesellschaftet.195 Damit wäre indes die Teilung von Staat und Gesellschaft aufgehoben, die Voraussetzung für totalitäre Herrschaft gelegt.196 Dass sich zumindest tatsächlich diese Entwicklung spätestens mit den atlantischen Revolutionen zu vollziehen beginnt, dürfte weithin unumstritten sein. Was dann erst in den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts Wirklichkeit im Namen des Volkes wird, ahnt bereits zuvor Nietzsche: „Staat heißt das kälteste aller kalten Ungeheuer. Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: ,Ich, der Staat, bin das Volk.‘“ 197 Über eine möglichst ungehemmte Verwirklichung des Individuums soll sich der „ordre naturel“ einstellen.198 Diese individualistisch motivierte Gesellschaftlichkeit führt freilich auch nach Einschätzung eines ihrer prominentesten Kri191

Sturm 2004, 399. Freier 1976, 200. 193 Daher kann auch der Staat nur Mittel sein, Willke 1992, 14. Dies ist auch einer der herausragenden Unterschiede zwischen transatlantischer und alteuropäischer Nationenbildung, Anderson 1996, 58 und skeptisch: 160. 194 Klassisch für diese Unterscheidung allgemein ist bekanntlich Tönnies 1935; aufschlussreich, wenngleich terminologisch problematisch im hiesigen Zusammenhang ist auch Vierkandts Definition von „Kürwillen“ als Grundlage von Gesellschaft und „Wesenswillen“ als solcher von Gemeinschaft. Es fragt sich beinahe selbstverständlich, ob die bürgerliche Gesellschaft denn nicht gerade aufgrund ihrer extremen kollektiven Einbindung von Individuen in soziale massenhafte und -förmige Zusammenhänge, wie sie extremer Individualismus erfordern, mehr denn je zur Schicksalsgemeinschaft haben werden lassen, etwa in Form von Risikogemeinschaften. 195 In dieser Weise interpretiert zumindest Maus die beiden Denker, Maus 1994, 9. 196 Während Maus sich gegen eine solche Folgerung vehement wehrte, obwohl sie nun einmal durch ihre eigene Interpretation impliziert wird, müssten diejenigen, die namentlich Kant als antidemokratische und mithin als ideengeschichtliche Bedingung der Möglichkeit von Totalitarismus ansehen, einräumen, dass dieses totalitäre Potential aus einem entschieden demokratischen Standpunkt resultiert. Daraus leitet sich aber Demokratie genauso ab wie Totalitarismus. 197 Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Erster Teil. 198 Statt vieler: Bäumlin 1954, 54. 192

A. Modifikation von Zwangsgewalt

401

tiker, Karl Marx, zur „entwickelste[n] und mannigfaltigste[n] historische[n] Organisation“,199 wie sie gegenwärtig im Begriff fortschreitender funktionaler Differenzierung und zunehmender Individualabhängigkeit von Kollektivgütern erkannt wird. Dies ist die Konsequenz daraus, dass die bürgerliche Gesellschaft als Herrschaft der volonté générale, wie sie Rousseau definiert und die terreur praktiziert, den Staat zu überwinden beansprucht. Damit ist eine entscheidende Zielgröße der Marxschen Ideologie bereits begründet: Die staatslose Gesellschaft.200 Auch Sozialfürsorge ist Angelegenheit der souveränen bürgerlichen Gesellschaft: Der Sozialstaat darf nur subsidiär greifen:201 Ausdehnung des Sozialstaates ist somit Kehrseite fehlender bürgerlicher Solidarität. Diese individualistische Motivation bleibt als Legitimationsmodus Kern moderner liberalstaatlicher Theorie, wenngleich vielfach modifiziert. Robert von Mohl beispielsweise sah den Staat zwar auch als Mittel, aber gleichwohl nicht als schematischen, sondern organischen sozialen Zusammenhang an, in den das Individuum eingebunden sei.202 Wenn auch prosaischer wird die instrumentelle Funktion des Staates für die in ihm organisierten Individuen freilich auch von einem konservativen Romantiker wie Novalis getragen.203 Insofern ist das ihr zugrunde liegende Staatsund Gesellschaftskonzept dasjenige, was bislang wohl am reinsten den Staat auf seinen instrumentellen Charakter reduzierend als institutionalisierte Überwindung des Gefangenendilemmas bei fortbestehendem Egoismus der Individuen zugrunde legt. Dieses liberale Verständnis der Funktion von Volkssouveränität wird auch noch im demokratietheoretischen Gesellschaftsbegriff von Kelsen reflektiert. Diese Entwicklung ist freilich schon im Vernunftrecht der Aufklärung angelegt.204 So definiert der nach Amerika ausgewanderte Engländer Thomas Paine Regierung als Übel, das „im besten Falle nur ein notwendiges“ sei, aber immer ein Übel. Anders als in weiten Teilen des kontinentaleuropäischen Bürgertums hält Paine Gesellschaft stets für einen Segen, womit die Neuenglandstaaten den Entwicklungspfad zu einer „civil society“ als aktiver Bürgergemeinschaft einschlagen.205 Im status nascendi erweisen sich die USA als Experimentier- und Anwendungsfeld für aufklärerische Utopien. Paine formuliert, was in Europa

199

Marx 1974, 1–31; hier 25 f. Heller 1983, 185. 201 Isensee 1988, § 57, 168. 202 Robert von Mohl 1866, 21 und 1872, 39; 45 und 71. 203 Meinecke 1922, 66. 204 Böckenförde 1976b, 399. 205 Paine 1982; cf. Keane 1998; Fenske 2004, 169. Zur Volkssouveränität als leitendem konstitutionellen Prinzip der USA cf. Fenske 2004, 171. Geistesgeschichtliche Einordnung des angelsächsischen instrumentellen Staatsverständnisses: Isensee 1999, 56. 200

402

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

bürgerliche Geheimideologie ist. Den Staat zu überwinden ist Programm der Freimaurer, deren größte Loge nicht von ungefähr die Londoner ist.206 Es ist auffallend und wird dennoch zunehmend übersehen, dass der bürgerliche Liberalismus, lange bevor die anderen modernen Ideologien entstanden sind und gar totalitäre Spielarten hervorgebracht haben, schon soweit ins Utopische radikalisiert ist. Dies spricht einmal für die dem Staat eigene Imprägniertheit gegenüber Ideologie, zeigt seine eigentümliche Inhaltslosigkeit, die ihn auf den Machtstaat als Kern von Staatlichkeit reduziert und ihn als Modus rationaler Koexistenz empfiehlt. Somit entwickelt sich bürgerliche Autonomie als historisches tÝloò der Volkssouveränität in der Gegenwart auch zu einem tragenden Argument für Staatshandeln, das nach der reinen Idee der Demokratie nur gestört zu legitimieren ist: Der der Demokratie vorausgehende Gedanke der Volkssouveränität, der den Einzelnen als „Gesetzgeber“ seiner selbst postuliert, wird als Institut bürgerlicher Autonomie zur legitimatorischen Brücke.207 Mit diesem Brückenschlag gelangt die bürgerliche Gesellschaft in jene Selbstwidersprüchlichkeit, der in der gegenseitig begründeten Widersprüchlichkeit von demokratischem Mehrheitsprinzip und individuellen Grundrechten angelegt ist, ohne sich jedoch zu einer Ausschließlichkeit zwischen Demokratie und Rechtsstaat entwickeln zu müssen.208 Die Volkssouveränität als Quell aller Herrschaft steht dabei noch über der Demokratie: Diese Staatsform selbst kann nicht gegen den Willen des Volkes eingeführt werden. Ingeborg Maus sieht unter anderem darin begründet, dass Kant ihrer Einschätzung nach weithin fehl interpretiert werde.209 Indem er nämlich den Volkswillen auch dann zum Maßstab, nach dem sich das Handeln des Staatsoberhauptes zu richten habe, erhebt, schütze er gerade vor einem sich als Agent der Vernunft legitimierenden Paternalismus. Die Frage, ob das Volk auf diese Weise zu Demokratie gezwungen werden darf, ist unter diesem Aspekt betrachtet die Gretchenfrage, ob Volkssouveränität tatsächlich bestehe.210 Doch über die vornehmlich staatsbezogene Volkssouveränität schafft sich die bürgerliche Gesellschaft noch einen eigenen Raum jenseits von Kirchlichem und Staatlichem, Geistlichem und Weltlichem, den Bereich des Privaten, dessen prominenteste Manifestation, das Freimauererwesen, dem Mysterium fidei und den arcana rei publicae das bürgerliche Geheimnis zugesellt.211

206

Koselleck 1973, 71. Besonders deutlich wird dies am Beispiel des demokratie-, aber auch parlamentstheoretisch problematischen Äquivalenzprinzips, Schmehl 2004, 249. 208 Herzog 1971, 361. 209 Maus 1994, 7; 21 und passim. 210 Maus 1994, 123. 211 Koselleck 1973, 57. 207

A. Modifikation von Zwangsgewalt

403

Volkssouveränität ist heute zum universalen Legitimationsmodus moderner Staatlichkeit geworden. Auf sie glaubt keine Regierung zumindest als Herrschaftsbegründung mehr verzichten zu können.212 4. Demokratie als gesellschaftliche Totalität und gesellschaftsformende Kraft Zwischen Demokratien würden keine Kriege geführt, und in demokratisch verfassten Gemeinwesen käme es nicht zu Hungersnöten: Mit solchen und ähnlich lautenden Begründungen, warum moderne Demokratie allen anderen Herrschaftsformen überlegen sei, setzte sich dieser Teil der Untersuchung zu Beginn bereits auseinander. Der Krieg zwischen den USA und Großbritannien in den Jahren 1812 bis 1814, der zumindest kriegsartige Ruhrkampf, der im Jahre 1923 zwischen Deutschland, Frankreich und Belgien stattfindet, und der bewaffnete Konflikt zwischen Peru und Ecuador im Jahre 1995 reduzieren diese Gesetzmäßigkeit einerseits auf solche Staaten, deren Herrschaftsträger tatsächlich durch freie, gleiche und geheime Wahlen aller volljährigen Staatsbürger legitimiert werden, und andererseits auf eine Konfliktart, der ein sehr eng gefasster und strenger Begriff von Krieg zugrunde liegt.213 Gegenüber nichtdemokratisch verfassten Staaten ist hingegen größte Aggressivität auch demokratisch verfasster Staaten zu beobachten, die möglicherweise auch in der ideologischen Aufladung solcher Konflikte gründen. Ob demokratisch legitimierte Politiker mehr oder weniger Rücksicht nehmen müssen als nicht demokratisch legitimierte, lässt sich allgemein schwer einschätzen: Wenn in der heutigen postmodernen Gegenwart demokratisch legitimierte Politik äußerst gebunden ist, gründet dies vermutlich eher an der Eigenschaft der Postmoderne als einem „postheroischen Zeitalter“ denn darin, dass sie gleich dem frühneuzeitlichen Monarchen auf die Ressourcen wirtschaftliche Rücksichten nehmen müssten.214 Im Gegenteil je stärker sich Blutzoll durch finanzaufwendige Technik ersetzen lässt, je wahrscheinlicher wird Krieg. Gleichwohl ist nicht zu leugnen, dass Demokratien, so häufig sie mit nichtdemokratisch regierten Staaten in Waffengänge gehen, untereinander so gut wie nie bewaffnete Konflikte führen. Im Folgenden sollen zwei Konzepte von Demokratie betrachtet werden, die zwar letztlich in der Sache auch staatsbezogen sind, nicht jedoch in ihrem Selbstverständnis und von denen eine, nämlich die Polyarchie, geradezu ihre Bestimmung in der Überwindung eines die Gesellschaft beherrschenden Staates findet. 212 213 214

Gallus/Jesse 2004, 9. Cf. Höffe 2002, 285 ff.; Hildebrand 2003, 47 f. Wie zur Krieggeneigtheit von Demokratien Hoppe 2003, 100 f. behauptet.

404

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

Da das Politische an Politik deren präsumtiver Charakter ist, kollektiv bindend zu entscheiden, eignet ihr offen oder diskret gesellschaftsformende Wirkung.215 In aller politischen Herrschaft ist daher ein totales Muster mit totalitärem Risiko angelegt. Diesem Muster sind alle Gesellschaftsglieder unterworfen: „Politische Herrschaft ist die institutionalisierte Ordnungsmacht der Gesellschaft.“ 216 Die Prägung der Gesellschaft durch demokratisch geleitete Staatsgewalt ist umfassender und schnell wirkender als umgekehrt. Die Determination der Demokratie durch die gesellschaftliche Wirklichkeit, aus der sie einerseits hervorgeht und die sie andererseits verändern will, bildet jedoch ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis, das sich in funktionsfähigen politischen Ordnungen gegenseitig stabilisiert, in gestörten hingegen hemmt.217 Die Frage nach der gesellschaftsverändernden Wirkung wird an dieser Stelle aus Gründen der systematischen Vollständigkeit abgehandelt. Sie konkretisiert sich jedoch zum einen in der Frage danach, ob dem Mehrheitsprinzip bzw. der Demokratie katalysierende Wirkung von Staatsgewalt in der Weise zu Eigen ist, dass Wachstum ihrer Volkswirtschaften begünstigt werde. Zum anderen stellt sich die Frage in Gestalt des Phänomens der „Veröffentlichung“. a) Identitäre Demokratie Identitäre Demokratie ist bei wörtlicher Auslegung die einzige Herrschaftsform, in der das Volk tatsächlich herrscht. Das Konzept der identitären Demokratie wird traditionell mit der Lehre Rousseaus in Verbindung gebracht, auch wenn selbst Platons Politeia aufgrund solcher Identität das Zwangselement von Institutionen fremd war, in der sich freilich schon sein Gefahrenpotential verwirklicht: Die volonté des tous soll in der volonté générale aufgehen. Rousseau begründet das Postulat der Identität von Regierenden und Regierten mit dem Ideal, Allgemein- und Individualinteresse zur Deckung zu bringen.218 Es gelte, „trouver une forme d’association [. . .] par laquelle chacun s’unissant à tous n’obéisse pourtant qu’à lui-même et reste aussi libre qu’auparavant.“ 219 Damit setzt Rousseau die bereits bei Hobbes angelegte Tendenz zu einer verselbständigten Eigenpersönlichkeit des Staates fort. Doch Rousseau sucht diese verselbstständigte Eigenpersönlichkeit des Staates, um Moral und Politik zu vereinen, während für Hobbes 215

In diesem Zusammenhang einschlägig: Hättich 1967, 18. Hättich 1967, 89. 217 Anders Hättich 1967, 159, der zwar eine Soziologie der Demokratie für möglich hält, aber nicht einen soziologischen Demokratiebegriff. Tatsächlich ist freilich die systemübergreifende Prägekraft anderer Grundtendenzen der Moderne, namentlich der funktionellen Differenzierung sichtbar stärker, als diejenige der Demokratie. 218 Rousseau 1976, 49. 219 Rousseau, Du Contrat sociale I, 6. 216

A. Modifikation von Zwangsgewalt

405

moralisch ist, was staatserhaltend ist.220 Damit ist das Problem der Minderheit erledigt und Minderheitenschutz obsolet.221 Identitäres Demokratieverständnis lässt sich jedoch fast ausschließlich durch eine Diktatur dauerhaft institutionalisieren. 222 Da eine solche Identität von Regierenden und Regierten faktisch niemals bestehen kann, müssen derartige Staatsformen auf Annahmen gestützt werden. Hierbei gehen die Regierenden sodann regelmäßig „von einem a priori existierenden Gemeinwohl aus“, das eine paternalistische oder grundsätzlich gar eine totalitäre Herrschaft begründet.223 Ihren wohl symbolträchtigsten Ausdruck fand dieser Gedanke in der Verehrung der Vernunft als Göttin während der Französischen Revolution. Die Ideologisierung, die das Rousseauistische Konzept der identitären Demokratie kennzeichnet, ist dabei nicht zuletzt Folge jenes Drucks, den das Postulat der Gemeinwohlförmigkeit politischer Auseinandersetzung fast unweigerlich nach sich zieht, indem es die Diskussion ins Grundsätzliche und somit ins Totale stürzt, das sodann zum Totalitären degeneriert.224 Weil das Gemeinwohl Sache des Staates ist, wird der politische Gegner somit zum Staatsfeind.225 Um es drastisch zu formulieren: Aus einer Überwindung des Gefangenendilemmas mit der Brechstange wird der Totschlag des Individuums. Dies ist jedoch nicht nur ein Problem legitimatorischer Fassadierung von Gewaltregimen, sondern alltägliche Versuchung einer auf Mehrheitsherrschaft gestützten Ordnung wie der Demokratie. Die Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts lässt einen durch die Erfahrung des sowjetkommunistischen Totalitarismus erstmals staatlich dauerhaft institutionalisierten Totalitarismus sodann die Theorie der identitären Demokratie zur Denunziation von Demokratie schlechthin werden und entwickelt sich als solche zu einem der wenigen klareren Ideologeme nationalsozialistischer Ausrichtung.226 Da postulierte Identität von Regierenden und Regierten schließlich die Legitimation der Regierenden soweit stärkt, dass nur sie in der „Gleichartigkeit des

220

Koselleck 1973, 136. Aus diesem Grund setzt sich Kant 1794, 4 f. auch ausdrücklich von seinem Vorbild Rousseau ab, als er seine Lehre von einem Gesamtwillen läutert, indem er dafür einen vom Gesellschaftsvertrag, den er als „pactum unionis“ bezeichnet, gesonderten Vertrag, das „pactum subiectionis“, annimmt. 222 Koselleck 1973, 137 f. 223 Kailitz 2004, 297; Rüb 2002, 107. 224 Über dieses Gefahrenpotential und seine fast zwangsläufige Realisierung besteht innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses, wie er in den westlichen Demokratien nach dem Zweiten Weltkrieg geführt worden ist, relativ große Einigkeit: Bäumlin 1954, 38; 143; Wetzel 1962, 159 ff.; Koselleck 1973, 139; Isensee 1988, § 57, 98; Gallus/Jesse 2004, 16. 225 Heller 1983, 272. 226 Dieser fließende Übergang durch die totalitäre Erfahrung aktualisierter antidemokratischer Reaktion zu nationalsozialistischem Totalitarismus lässt sich bei Forsthoff 1933, 30, genau in diesem Übergangsstadium fassen. 221

406

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

Volkes verbleiben“,227 da die Regierten ja weiterhin in jenem Hiat leben, der für den Staat konstitutiv ist, nämlich dem Hiat von „Einheit und Differenzierung, Identität und Repräsentation“,228 also nur die Regierenden auch „mit sich und in sich identisch sind“, wird die Verschiedenheit von Regierenden und Regierten gegenüber anderen Herrschaftsordnungen noch verstärkt. – Fast lässt sich die Identität der Regierenden noch analog zur christlichen Trias der Dreifaltigkeit steigern, denn letztlich sind sie auch durch sich identisch. Da auch das Mehrheitsprinzip auf Herrschaft hin angelegt ist, kann nur Gleichheit im Mehrheitsverfahren, nicht aber im Mehrheitsergebnis angestrebt werden. Somit ist nur Gleichheit, niemals aber Identität möglich.229 Diese muss noch nicht einmal mit dem Verfahren als solchem bestehen, wie das demokratische Dilemma des Verfassungsschutzes überdeutlich zeigt: Jede Form kollektiver Steuerung muss das Gefangenendilemma als Ausgangskonstellation annehmen oder zumindest hinnehmen. Erst die nach dem Ende des Kalten Krieges entstandene Lage lässt das Konzept der „identitären Demokratie“ zu einem Legitimationsmodus nichttotalitärer Systeme so genannter „defekter“ Demokratie werden, so dass dieses überhöhte Demokratieideal zur Fassadierung lediglich kleinerer Störungen grundsätzlich durchaus demokratisch verfasster Systeme verwandt wird.230 Kant hat sich gleichwohl im Rahmen seiner Rezeption der Rousseauschen volonté générale zu der Aussage verleiten lassen, diese sei keineswegs eine Hypothese, sondern „wirkliche historische Wahrheit“.231 Dieser Wille der Gesellschaft, die Kant bereits vom Staat bewusst trennt, müsse freilich schon allein deshalb angenommen werden, da die Gesellschaften Träger von Rechten und Pflichten seien:232 Nicht nur geschaffener Staat, sondern bereits naturgegebene Gesellschaft sind demnach also sittlich verpflichtet. Das ist eben die Logik des Naturrechts, wie es für die Aufklärung kennzeichnend ist. Tatsächlich fragt sich, inwieweit dasjenige, was sie als selbstverständlich ansieht, wie es die Declaration of Independence der USA von 1776 ausdrücklich feststellt, auf anthropologische Konstanten und soziobiologische Anlagen der Species zurückgreift: Dies bedeutet freilich, eine Konstellation, wie sie das Gefangenendilemma beschreibt, zu leugnen. Kant löst dieses Problem, indem der Willen des einzelnen „aber [. . .] nur in Rücksicht seiner, nur in Rücksicht dieses gesamten Willens, nur in Rücksicht des Zwecks“ in den der Gesellschaft und den des Staates als deren besonderer Konkretion überführt wird. Staatsbildung ist dem Menschen gleichsam angeborener Trieb. 227 228 229 230 231 232

Schmitt 1928, 236. Hättich 1967, 39. Hättich 1967, 41. Rüb 2002, 107; Kailitz 2004, 297 f. Kant 1794, 3. Kant 1794, 2.

A. Modifikation von Zwangsgewalt

407

Die totalitäre Anlage der identitären Demokratie kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch das angelsächsische Gegenteil der „faktionären“ Demokratie, wie es klassisch bei Madison formuliert ist, als Tyrannis der Mehrheit gemeinwohlschädliches Risikopotential birgt, was für die Gegenwart, wie sie sich nach dem Ende des „Zeitalters der Ideologien“ (Bracher) darstellt, wahrscheinlich deutlich gefährlicher ist.233 b) Polyarchie Polyarchie ist Binnendifferenzierung von Macht innerhalb des öffentlichen Raumes, so dass „jeder Bezirk [. . .] eine Republik für sich“ darstellt,234 was in seinem konzeptionellen Kern auf Hume zurückgeht. Elitenkonkurrenz als solche definiert jedoch nicht allein, was polyarchische Demokratie ausmacht. Vielmehr liegt das Spezifische der Polyarchie darin, dass diese Eliten um Nicht-Eliten auf dem Wege von Wahlen werben. Dies setzt freilich voraus, dass Wahlen tatsächlich richtungweisend für die Politik sind, die zwischen den Wahlen stattfindet.235 Ansonsten droht auch die Elitenkonkurrenz unterzugehen zu Gunsten eines abgeschlossenen Elitemonopols. Für Effizienzdefizite und fehlende Rationalität, wie sie bei der Demokratie gegenüber anderen, namentlich monokratischen Steuerungsmodi, diagnostiziert werden, sind dabei aber wahrscheinlich gar nicht Wahlen als aufwendige und um der Stabilität willen auch nur in geregelten Abständen durchführbare Veranstaltungen optimales Gegenmittel. Vielmehr scheint die polyarchische Herrschaftsordnung derartige Probleme aufzuwerfen, auf die daher regelmäßig strukturkonservativ reagiert wird.236 c) Demokratie als Partizipationsmodus „An der Polis teilhaben“: Auf diese Maxime bringt Uwe Walter das politische Bewegungsgesetz der archaischen Polis.237 Auch wenn dies Selbstanspruch und Selbstverständnis von Demokratie bleibt, so erfährt der demokratische Prozess als solcher in den darauf folgenden zweieinhalbtausend Jahren grundlegende Veränderung. Partizipation am Öffentlichen, besonders aber am Politischen hat in der funktional differenzierten Welt der Moderne viele Gesichter. Die wohl unmittelbarste 233

Dahl 2005, 25. Waschkuhn 1998, 503. 235 Scharpf 1965, 45. 236 Braybrooke/Lindblohm, Strategy, 1963, 106–110; Lindblohm 1964; Dahl 1967, 263 ff. und 283 ff. 237 Uwe Walter, An der Polis teilhaben. Bürgerstaat und Zugehörigkeit im archaischen Griechenland, Stuttgart 1993; cf. auch: ders. 1994, 244–251. 234

408

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

Form, auf den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess und mithin auf das Staatsverhalten Einfluss zu nehmen, stellen die Verbände dar. Als Kristallisationskerne individueller Interessen schaffen sie eine Durchgangszone zwischen dem atomisierten Einzelwohl und dem Individualinteressen übergreifenden Kollektivinteresse, und bilden somit die Ausgangsbasis, um die Integration zu vollenden.238 Im „Lobby“ genannten Wandelgang von Westminster geboren sind „Lobbies“ ureigenster Ausdruck einer parlamentarisch geprägten politischen Kultur. Diese wirken nicht nur in einem gleichsam horizontalen Kontinuum von Gesellschaft und Staat, sondern auch in einem vertikalen von Individuum und Staat. Als „intermediäre Gewalten [. . .] zwischen und neben Staat und Individuum“ 239 vermitteln sie Individual- und Allgemeininteressen, indem sie Interessengruppen konstituieren und repräsentieren. Josef Isensee beschreibt auf das Anschaulichste, wie dieser Vermittlungsmechanismus durch seine Bündelungsfunktion auch bereits Anteil an der den Staat konstituierenden Koordinationsfunktion hat:240 Im Fehlen eben jener vermittelnden intermediären Gewalten liegt gerade die totalitäre Anlage der Rousseauschen volonté générale.241 Die Idee somit zu vermeiden, dass die Interessen der Individuen verfälscht werden, bedeutete praktisch indes, das Individuum zu totaler Ohnmacht gegenüber der volonté générale zu verdammen, was Rousseau zufolge freilich gar nicht möglich ist, da in der volonté générale ja der Individualwillen aufgeht. Praktikabel ist eine solche unvermittelte Demokratie indes nicht.242 In ihrer Neigung zu Monopolisierung der Interessenvertretung stellen sie freilich in dem Maße, in dem sie beherrschenden Einfluss auf staatliches Handeln gewinnen, Antagonismen zur Demokratie dar243 und dennoch ist es die Demokratie selbst, die ihrer bedarf.244 Die vermittelnde Wirkung, die Interessenverbände entfalten können, besteht maßgeblich darin, dass Staat und Verbände in dauerhaften Zusammenhängen so genannter „Kontaktsysteme“ eingebunden sind, die sie zwingen, nicht nur den kurzfristigen Vorteil im je aktuellen Fall zu suchen:245 Die das Gefangenen238

Isensee 1968, 114. Isensee 1968, 113. 240 Isensee 1968, 114. 241 Isensee 1988, § 57, 92. 242 Rousseau, Du contrat social, cap. 3. Pluralismustheoretisch begründete Kritik der volontée générale ist von Fraenkel 1968, 173 ff. begründet worden. 243 Dieses Phänomen ist im Bereich der freien Wohlfahrtspflege geradezu archetypisch zu beobachten. Eine eingehende Problemanalyse bietet: V. Neuman, 1992, 428. Verbandliche Monopolisierungsrisiken haben sich als chronisch und latent erwiesen. Systematische und definitive Konzepte, Verbände einzubinden, sind in den westlichen Gesellschaften gescheitert, wie Ludwig Erhards Vorhaben, eine „formierte Gesellschaft“ zu konstituieren, dramatisch verdeutlicht, Erhard 1966. Cf. dazu: Schott 1982; Switek 2002, 117 ff.; Metzler 2002, 86 f. Stattdessen wurde die Möglichkeit rationaler Planung als Gemeinwohloptimierung empfohlen, um die Macht der Interessen einzubinden, Metzler 2002, 96. 244 Bäumlin 1954, 105 und 128. 239

A. Modifikation von Zwangsgewalt

409

dilemma überwindende Wirkung besteht also in der zur Permanenz gesteigerten Iteration derartiger Konstellationen. Gleichwohl vermögen Verbände regelmäßig nicht, ihre Forderung durch Mobilisierung von Wählerpotentialen zu sanktionieren, auch wenn entsprechende Ausnahmen umso drastischer sind. Nicht zuletzt auch darin liegt begründet, dass sie nicht selten als Fremdkörper der Demokratie erscheinen und zu dieser in ein antagonistisches Verhältnis geraten.246 Ob sich der Staat als arbiträre Größe und mithin eben überhaupt als Staat im ihn kennzeichnenden Sinne halten kann, hängt indes nicht nur von der inhaltlich-teleologischen Beschaffenheit seiner Gewalt als relativ neutraler Kraft ab, sondern auch von seiner Stärke:247 Der gute Wille der Regierenden reicht nicht aus. Das Herrschaftsmonopol stellt sich in diesem erweiterten Sinne nicht mehr als die absolute, immer binär und grundsätzlich einmalig zu fixierende Größe des Gewaltmonopols dar, sondern als relative, zumindest multiple, meist aber kontinuierlich je neu zu dosierende Stärke der Autoritätssuperiorität dar. Deshalb ist gerade die arbiträre Stärke des Staates als einer scheinbar unpersönlichen Eigenschaftslosigkeit im höchsten Maße von den ihn repräsentierenden Persönlichkeiten abhängig.248 Grenze staatlicher Zurückhaltung ist ein Zustand gegenseitiger Vetoblockade in symmetrischen Situationen zweier Partikularinteressen. Freilich bleibt auch hier noch eine staatsfreie Lösung in Gestalt einer „antagonistischen Kooperation“ möglich.249 Einmal mehr zeigt sich das Risiko, durch gesellschaftliche Anwesenheit von Staat, selbstorganisatorische Kräfte, die das Gefangenendilemma überwinden könnten, zu hemmen. Historisches Paradigma und nahezu einzig überlebende Art vorstaatlicher intermediärer Gewalten sind in jenen westlichen Ländern, die weder laizistisch verfasst sind noch über Staatskirchen verfügen, die Religionsgemeinschaften, denen zumindest von konservativerer Seite eine unmittelbare durch ihren Status begründete Gemeinwohldienlichkeit zugebilligt wird,250 eben ohne dass diese Gemeinwohlfunktionen zur Staatsaufgabe würden251 oder der Staat ein Recht bzw. eine Pflicht hätte, Kirchen zu beeinflussen und zu steuern.252 Die Frage, ob die Aner245

Luhmann 1983, 75. Key 1961, 522 spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer „unloaded gun“; Milbrath 1977; Milbrath/Goel 1982; Bauer/de Sola/Pool/Dexter 1963, 433; Luhmann 1983, 166. 247 Herzog 1971, 385. 248 In der Politik des Staates anders als in seinem behördlichen Apparat wird es daher regelmäßig zum tragischen Schicksal an solchen Idealen orientierter Politiker, dass sie zu schwach sind, um die arbiträre Gewalt des Staates zu entfalten. 249 Schroeder/Esser 1999, 9; Korte/Fröhlich 2004, 129. 250 Einen internationalen Überblick für die Mitte des 20. Jahrhunderts bietet Bäumlin 1954, 115; für die Bundesrepublik Deutschland: Meyer-Teschendorf 1978, 318 ff.; cf. Magen 2004, 16. 251 Magen 2004, 29. 252 Statt vieler: Magen 2004, 77. 246

410

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

kennung als „Körperschaft öffentlichen Rechts“ Synallagma einer als Gemeinwohlverpflichtung verstandenen Gemeinwohldienlichkeit ist, stellt in der Bundesrepublik Deutschland die juristische Zuspitzung einer lebhaften bis in die Zeit der Weimarer Republik zurückreichenden Diskussion darüber dar, inwieweit die Kirchen Privilegien ohne Pflichten genießen dürfen.253 Andere Staaten kennen vergleichbare Diskussionen. Auch in der nördlichen Hemisphäre gibt es zumindest in Gestalt der beiden großen Kirchen de facto nichtstaatliche Institute der Kollektivgütergewährleistung. Mehr noch: Europa wird im islamischen Kulturkreis bisweilen als leitender und legitimierender Archetypus von Religion als gesellschaftsbeherrschendem Institut angesehen. Demokratie als Partizipationsform zu begreifen erklärt auch zu einem nicht unerheblichen Teil ihre angenommene katalytische Wirkung, die sie auf auszuübende staatliche Zwangsgewalt entfaltet: Wählen können ist als Form prozeduraler Freiheit entscheidende „significane of participation“.254 Demokratie als Partizipationsmodus hat gleichermaßen integrierende wie aktivierende Wirkung. Somit manifestiert sich in Demokratie eine säkulare Tendenz zu koordinierendem statt subordinierendem Verhalten öffentlicher Gewalt, wie sie seit dem 19. Jahrhundert im integrierenden und seit der Wende zum 21. Jahrhundert im aktivierenden Staat weitere Ausprägungen findet. Partizipation verleiht dem partizipierenden Individuum ein Gefühl von Bedeutung, sei es in Gestalt eines Macht-, sei es in Gestalt eines Pflichtgefühls. Beides erklärt maßgeblich, warum trotz marginaler Wirkung der Einzelstimme in den meisten westlichen Demokratie immer noch eine Mehrheit der Wahlberechtigten die demokratieökonomisch kaum zu erklärende Mühe des Wählens auf sich nimmt.255 Im Moment der Partizipation konkretisiert sich die psychologische Wirkung von Demokratie, die sie auch die Effizienz derart legitimierter staatlicher Zwangsgewalt steigern lässt: Wer mitgefragt wird, sieht sich entweder stärker verantwortlich für die Ergebnisse von Entscheidungen und deren Folgen oder steht unter höherem sozialen Druck, sich verantwortlich zu verhalten. Neben den Entscheidungsinhalten, was sich im weitest gehenden Sinne mit dem Begriff der policy beschreiben ließe, sind es vor allem institutionelle Zusammenhänge, und diese konstituieren mehr als nur die polity, sie stehen auch mit politics in Wech-

253 Hillgruber 2001, 1354 und Bohl 2000, 117 sehen ein solches Synallagma, wobei Hillgruber offensichtlich den Kirchen auch das Recht zugestehen will, dieses Verhältnis nicht einzugehen. Das Bundesverfassungsgericht sieht ein solches unmittelbares Synallagma jedoch nicht, BVerfGE 102, 370 [396]. Die gesamte Frage der Gemeinwohldienlichkeit wird erörtert und zusammengefasst bei: Magen 2004, 150 ff., der, ohne eindeutig eine Alternative zu favorisieren, im Falle des Synallagmamodells von „staatstragenden Gegenleistungen“ spricht, Magen 2004, 152. 254 Sen 2002, 165. 255 Sen 2002, 165.

A. Modifikation von Zwangsgewalt

411

selwirkung, die die Arten und Verbreitung demokratischer Partizipation in modernen Staaten bestimmen.256 Dem Individuum Verantwortung zu überlassen kann über die spezifisch politische Verantwortung hinaus sogar zu erhöhter sozialer Verantwortung führen, wenn die Rahmenbedingungen einer entsprechenden politischen Kultur gegeben sind. Maßstab wird im Extremfall nicht das eigene Interesse sein, sondern dasjenige derer, die über eine entsprechende Entscheidungsmöglichkeit nicht verfügen, dem Wähler aber doch anders als dem Politiker individualisierbar sind. Zwar ist solche soziale Verantwortung auf anonyme Verbände, wie Elektorate sie darstellen, schwieriger zu übertragen als auf offen, im politischen Zusammenhang eben öffentlich, entscheidende Entscheidungsträger und allgemein formuliert, schwieriger auf Massenverbände als auf herausgehobene Individuen zu übertragen. Aber gleichwohl ist ein solcher Effekt sozialer Verantwortung nicht vollends zu bestreiten. Die Idee des auf Eltern übertragenen Wahlrechts für Kinder beansprucht, sich demokratietheoretisch über die Steigerung dieses sozialen Verantwortungseffektes zu legitimieren.257 Das Entscheidende an einer entsprechenden Kultur demokratischer Partizipation besteht nicht in relativer Selbstverleugnung, sondern in relativer Selbstlosigkeit des Wählers. Sen illustriert diese Verantwortung durch Freiheit, die sich auch als taktisches Machtmittel einsetzen lässt, einmal mehr anhand einer Miniatur aus dem Alltag. „Assume that my wife and I have had dinner alone. [. . .] For dessert two cakes have been purchased. They are very different, but both are fine cakes and expensive. [. . .] My wife hands me the tray and suggests that I help myself. What shall I do? By looking up my own total utility function I find that I very much would like to devour one particular one of the two cakes. I will propound that this introspective observation is completely irrelevant for the choice problem I face. The really relevant problem is: which one of the two cakes does my wife prefer? If I knew that the case would be easy. I would say ,yes please‘ and take the other cake, the one that is her second priority.“ 258

Was den autoritären vom totalitären wie vom repräsentativen Staat unterscheidet, ist die Abhängigkeit der Regierenden von Partizipation der Regierten.259 Es ist die Essenz, die im Falle totalitärer Herrschaft entleert wird, und es ist die Existenz, die im Falle repräsentativer Herrschaft gestört wird, wenn Partizipation verschwindet. Auch Totalitarismus als nachrevolutionäre Ordnung ist auf die Massen angewiesen: Ein totalitäres Regime kann sich nicht die Kabinettspolitik eines Ancien Régime leisten, wie sie sich noch im 20. Jahrhundert mancher pri256

Waschkuhn 1998, 321. Singhammer 1998; Reimer 2004, 322. 258 Frisch „Sommerbeid Mellom Politikere og Okonometrikere on Formuleringen av Politiske Preferenser“, in: Socialokonomen 25, 1971, 3–11, zit. nach und übersetzt von Sen 2002, 177. 259 Hättich 1967, 78. 257

412

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

vatistisch ausgerichtete Militärdiktator erhalten konnte. Repräsentation als solche ist demgegenüber weniger anfällig, verlangt sie doch nicht jenes Maß an Identität mit der Regierung, wie sie als Begründung totalitärer Regierung kennzeichnend ist, muss jedoch letztlich von einer gegenüber autoritärer Herrschaft relativen Politisierung der Gesellschaft ausgehen.260 Somit lässt sich eine, möglicherweise kontinuierliche, möglicherweise auch diskontinuierliche Trias von Identität, Repräsentation und Autoritarismus modellieren, die zugleich auch Entwicklungsstufen der jeweiligen Entstehung seit diesen Herrschaftsformen verkörpert. Als Eigenschaften sind sie konträr, aber nicht kontradiktorisch. Als Mengen weisen sie Schnittmengen auf, ohne sich vollständig zu decken. Es ist vornehmlich die Essenz und erst mittelbar die Existenz demokratischer Ordnung, die paradoxerweise einer breiten Partizipation der Regierten am Regieren entgegensteht: Daraus begründet sich auch die namentlich in der angelsächsischen Demokratietheorie mittlerweile traditionsreiche Abkehr von inputorientierter zu outputorientierter Demokratie, also von Unmittelbarkeit demokratischer Herrschaft zu Ermächtigung herrschender Eliten, die mit ihrem Output um die Regierten werben müssen, wie sie im so genannten revidierten Pluralismusmodell formuliert wird.261 Dieses partizipationsskeptische Modell stützt sich nicht nur auf Beobachtungen wie die eines „working authoritarianism“, sondern auch auf das Apathieproblem. Selbst in den wie auch immer zu definierenden oberen Schichten ist traditionell ein Apathieproblem anzutreffen.262 Was in den USA schon früh empirisch herausgearbeitet wird, spiegelt sich in Europa in der Kulturgeschichte wider: Just im Sanktuarium des gebildeten Bürgertums, in Goethes Faust I, wird bekanntlich das „politische Lied“ durch den lebensfrohen Brandner als „garstig Lied“ ausgewiesen.263 Auch eine bereits in den Vormärz zurückreichende Tradition „politischer Professoren“ hat nicht eine gleichermaßen eigentümliche wie eigenartige Apolitie der wissenschaflich-universitären Eliten, wie auch anderer weiter Teile der akademisch Gebildeten überwinden können. Die Geschichte des frühmodernen Staates ist hingegen die Geschichte weitgehender Beseitigung basisdemokratischer Fermente, wie sie bürgerlicher Selbstverwaltung und städtischem Republikanismus, eignete, der für das Spätmittelalter kennzeichnend war. Umstritten ist der Grad an Unterschiedlichkeit und Ausschließlichkeit, der Formen unmittelbarer Demokratie von solchen repräsentativer Demokratie trennt. Carl Schmitt behauptet, es gebe überhaupt kein Gemeinwesen, das auf akklama260 Hättich geht gleichwohl freilich mit seiner Behauptung 1967, 179, „Repräsentation ist gerade Ausdruck von Identität“ zu weit. 261 Scharpf 1975, 42; stärker theoretisch reflektiert wird das Output-Paradigma bei: Hättich 1967, 114. 262 Dahl 2005, 72 ff.; Scharpf 1975, 57; Waschkuhn 1998, 245. 263 Goethe Faust, Der Tragödie Erster Teil V 2192.

A. Modifikation von Zwangsgewalt

413

torischen Bestätigungen seiner Bevölkerung bestehen könne.264 Herrmann Heller aufgreifend korreliert Ilse Staff den inneren Frieden, der ihres Erachtens nach über den in der Bevölkerung vorhandenen Legitimationsgrad vermittelt wird, mit der relativen Zwanglosigkeit staatlichen Handelns und beschreibt Demokratie somit nicht nur als Modifikation, sondern auch als Katalysator staatlicher Zwangsgewalt.265 Dieser nicht zuletzt effizienzsteigernden Wirkung steht eine effizienzmindernde gegenüber, die durch die Aufwendigkeit und relative Langsamkeit solcher Demokratieformen verursacht wird.266 Gegensätzlich, aber nicht ausschließend ist die Konzeption, wie sie etwa einer der führenden Kenner unmittelbarer Demokratie, der Schweizer Richard Bäumlin, entwirft: „Radikal [. . .] durchsetzen lässt sie sich noch nicht einmal im kleinsten Zwergstaat.“ 267 Demokratie kann insofern durchaus dazu führen, dass alle einzelnen ihre Arbeitskraft für sich selbst suboptimal verwerten können. Der Wille eines jeden, nicht dem anderen Herrschaftsmacht zu überlassen, lässt dann die Demokratie selbst zum Gefangenendilemma werden, was im antiken Athen noch durch die bürgerliche Moral der politischen Kultur zusätzlich motiviert wurde. Zwar ist gerade im Zusammenhang mit der athenischen Demokratie betont worden, was auch als Begründung moderner Demokratie und ihrer gesellschaftsformende Wirkung regelmäßig angeführt wird: dass bürgerliche Selbstbestimmung, die in Athen sogar Selbstregierung war, „Riskiertheiten erschloss“, die fremdbestimmten Subjekten verschlossen bleiben – Demokratie definiert sich somit nicht zuletzt gleichsam auch als „merchandise adventureship“.268 Die der Demokratie notwendig eigene Volkssouveränität führt jedoch dazu, dass je unmittelbarer demokratische Legitimation und Steuerung eines Staates angelegt wird, desto geringer der Grad an Gewaltenteilung und sektoraler Dezentralisierung ist.269 Anders als diejenigen der identitären Demokratie suchen freilich regelmäßig auch Vertreter einer repräsentativen Demokratie den Gedanken der Rätedemokratie als Elemente in den demokratischen Entscheidungsmodus zu integrieren. Als praktisches Anwendungsprinzip des Rätekonzepts wird hierbei auf das aus vorund frühstaatlicher Zeit bekannte Institut der Stände zurückgegriffen. Stände als Teil republikanischer Verfassung haben bis heute etwa in Österreich überlebt, werden dort freilich nicht selten als reform- und letztlich gar als demokratiehem-

264

Schmitt 1927, 33 ff. Staff 1987, 160. 266 Bäumlin 1954, 33. 267 Bäumlin 1954, 14. 268 Meier 1993, 108 f.: Die Entwicklungslinie des Meierschen Konzeptes der Ermöglichung solcher Riskiertheit lässt sich bereits in Meier 1980 ablesen. 269 Bäumlin 1954, 14. 265

414

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

mend wahrgenommen.270 Tatsächlich wird ein solches „institutionelles Modell“ bisweilen als „Zwischenform zwischen autoritärem und demokratisch-liberalem Modell“ erachtet, das freilich die Gesellschaft im staatlichen Entscheiden abzubilden und zu integrieren verstärkt.271 Die Verfassung des Salazarregimes aus dem Jahre 1933 stellt ebenfalls eine Renaissance solch korporativistischer Partizipationsmodi dar.272 Im Konzept des Ständestaates vereinigen sich zwei historisch polare Formen gesellschaftlicher Organisation: Das Prinzip der Adelsherrschaft mit dem Prinzip der Volksherrschaft. Als rein funktionelle Institutionenfigur ist gegenwärtige Staatlichkeit in ihren (exekutiven) Kernbereichen derart geneigt, wo nicht formell, so doch informell den Wandel zu solchen kammerähnlichen Institutionen zu begünstigen, dass in der einschlägigen Literatur vom Phänomen der „Verkammerung“ gesprochen wird.273 Denn gerade ihre öffentlichen Eigenschaften ermöglichen, dass Standesprivileg und Gemeinwohldienlichkeit mit einander korrelieren. Selbstverwaltungskörperschaften öffentlichen Rechts sind also gleichsam institutionalisierte Lösungsversuche des Interessenwiderspruches von Individual- und Allgemeininteresse. In dieser für die Mitglieder freiheitlichen, weil gerade nicht freiwilligen und nicht allgemein das Gefangenendilemma überwindenden und damit nutzenoptimierenden Funktion liegt vermutlich auch ihre hohe historische Persistenz begründet, die sich über verschiedene Staatsformwechsel erstreckt und teilweise in vorstaatliche Verhältnisse zurückreicht. Ein weiterer Grund wird in ihrem sachorientierten, „lediglich instrumentalen Charakter“ gesehen, der die Apparatförmigkeit von Selbstverwaltungskörperschaften begründet.274 Es stellt einen weit über den historischen Einzelfall des deutschen Reiches im Jahre 1918 hinausgehenden empirischen Wert dar, dass basisdemokratische Breitenpartizipation, wie sie sich in Räteherrschaften institutionell manifestiert, hohes Krisenniveau und erhebliche Grundsätzlichkeit von Konflikten erfordern.275 Solche Räte können bald aus institutionellem Machtvakuum, bald aus planmäßiger Machtreduktion alter Eliten entstehen: Die zweite Variante veranschaulichen jene „Runden Tische“, die den Übergang der Ostblock-Diktaturen zu demokratischen Rechtsstaaten kennzeichneten. Die Kontrollierbarkeit der Regierenden durch die Regierten ist sogar bei einer konsequenten Rätehierarchie, an deren 270 Der (Neo-)Korporatismus wird in Österreich ausgerechnet von den „Freiheitlichen“, aber nicht nur von diesen zunehmend als Relikt der Dollfuß-Verfassung von 1934 erachtet, Isensee 1968, 15. 271 Böckenförde 1976b, 411. 272 Es verwundert im Nachhinein noch weniger als zeitgenössisch, dass just eine Gestalt wie Maunz 1956, 16 f. auf Salazars portugiesische Verfassung von 1933 als programmatisch abzielte. 273 V. Neumann 1992, 434. 274 Isensee 1968, 103. 275 Scharpf 1975, 60.

A. Modifikation von Zwangsgewalt

415

Basis alle aktiv regieren, insgesamt geringer als bei Wahlen, wie sie repräsentative Demokratie kennzeichnen.276 Die Effizienz einer derart legitimierten Staatsgewalt ist schwer zu bestimmen, aber vermutlich äußerst gering, eben weil sich reine Räteordnungen bislang nirgendwo dauerhaft haben einrichten können. Das Repräsentationsprinzip, wie es etwa der Parlamentarismus praktiziert, ermöglicht, dass der Abgeordnete dramatisch besser informiert entscheiden kann, und mildert diverse Informationsdilemmata, die rationales Wählen erschweren, ab. Die Moral demokratischer Legitimation wird durch das Repräsentationssystem mit der Flexibilität und Effizienz vereint, die Entscheidungen eines überschaubaren Kreises von Entscheidungsträgern kennzeichnet. Im Gegensatz zu plebiszitären Entscheidungsmodi trägt es den zumeist nicht binären bzw. nur schwer binarisierbaren Entscheidungsmöglichkeiten nicht nur durch die Möglichkeit der Nuancierungen, sondern auch durch die Möglichkeit „menüabhängigen“ Entscheidens Rechnung. Gleichwohl wird es im kontinentaleuropäischen politischen Denken immer wieder Gegenstand einer von oftmals obskuren Vorstellungen direkter Volkssouveränität ausgehenden Kritik: Kein anderer als der Preuße Wilhelm von Humboldt fordert nicht nur direkte, sondern zudem einstimmige Volksherrschaft.277 Wenn aber „das meiste [. . .] immer den freiwilligen einstimmigen Bemühungen der Bürger zu tun übrig“ bleibt,278 kann das Gefangenendilemma überhaupt nur als iteriertes und allein durch übermäßigen gleichsam systemexogenen Druck überwunden werden. Humboldt übertrifft damit sogar Rousseau aber nur scheinbar: Denn tatsächlich ist Humboldts Einstimmigkeitspostulat Derivat radikalen Individualismus, der damit bereits die deutsche „politische Romantik“ vorwegnimmt.279 Repräsentative Demokratie unterscheidet sich in ihrem Optimierungsmechanismus von direkter Demokratie durch ihre Outputorientierung: Indem nicht unmittelbar durch Entscheidung der Regierten dem Staatsapparat nicht Inputs gegeben werden, sondern vielmehr durch die Kontrolle in Gestalt von Wahlen und die Garantie einer freien öffentlichen Meinung sollen Repräsentanten der Regierten die beste Lösung wettbewerblich ermitteln.280 Daneben stellen sich unter den Bedingungen der Moderne zusätzliche gleichsam sekundäre Repräsentationseffekte ein. Zum einen liegt es in der Eigenart des modernen Territorialstaates mit funktionaler Differenzierung, dass letztlich im276

Scharpf 1975, 64. Meinecke 1922, 44. 278 Humboldt 1903, 157 f. 279 „Wie ihn die Nation mehr als der Staat, so interessierte ihn der Mensch mehr als die Nation.“, konzentriert Haym 1965, 51 Humboldts Konzeption. 280 Zum systemtheoretischen Modell von Input- und Output-Steuerung der Politik allgemein: Easton 1965, 29; zur Repräsentation speziell: Scharpf 1975, 22. 277

416

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

mer nur stellvertretend, beauftragt, ermächtigt oder namens der Bürger gehandelt werden muss. Vollends der Repräsentation verpflichtet ist der moderne Staat hinsichtlich von Planung und langfristig wirksamen Entscheidungen, die aber unter den Bedingungen der Moderne gerade zunehmen.281 Repräsentation ist ein weiterer Mechanismus, der Mehrheitsherrschaft zu Demokratie qualifiziert und mit der Integration der Minderheit auf das Engste verwoben ist. Soll Repräsentation sich nicht zur Institutionalisierung einer volonté générale entwickeln, darf der Wille der Repräsentierten nicht zu einer mithin von den tatsächlichen Interessen der Repräsentierten gelösten Eigenmacht stilisiert werden. Ob sich dabei der Auftrag der Repräsentanten freilich von Zeit und Raum zu lösen hat und welcher Grad an Eigenmacht erforderlich ist, um das Wohl der Repräsentierten zu bewirken, stellt nicht nur einen der säkularen Konflikte der Moderne, sondern auch der westlichen Demokratien dar.282 Es sind jedoch maßgeblich der Repräsentationsgedanke im Allgemeinen und der Parlamentarismus im Besonderen, die über ihre relative Unabhängigkeit, dem Zusammenwirken von Verselbstständigung des Staatlichen und Verschmelzung mit dem Gesellschaftlichen vermittelt einer individalenthobenen, abstrakt auf Kollektivgüter orientierten Aktionseinheit Vorschub leisten; deren Gegenprogramm bildet das imperative Mandat. Sofern mit Demokratie nicht Einstimmigkeit, sondern das Mehrheitsprinzip bezeichnet wird, existiert Herrschaft, die vollständige Identität negiert. Dieser Einschränkung trägt das Repräsentationsprinzip freilich insofern Rechnung, als sich die Gewählten als Agenten der Gesamtheit zumindest der Wählenden, regelmäßig aber einer noch umfassender definierten Gruppe darstellen. Beschränkt sich bei Sachentscheidungen unmittelbarer Demokratie die allen verfügbare Möglichkeit von Identität auf das Verfahren selbst und darauf, das Ergebnis als geltend anzuerkennen, so ermöglicht Repräsentation mehr und ist dennoch weniger:283 Der Repräsentant muss sich mit allen Repräsentierten identifizieren, so dass dies diesen umgekehrt ebenfalls zumindest möglich ist. Identität als personale Eigenschaft ist demgegenüber selbstverständlich sogar denjenigen, die für die Person gestimmt haben, nicht möglich. Vollständige Identität, wie sie unmittelbare sachentscheidende Demokratie der Mehrheit ermöglicht, wird also gegen einseitige Identifikation des Gewählten mit allen Wählern, des Regierenden mit allen Regierten eingetauscht. Insofern ist das Repräsentationsprinzip integrativer als unmittelbare Demokratie. 281

Scharpf 1975, 86; Tenbruck 1967, 112 ff.; Luhmann 1965, 273, Anm. 6. Zu erwähnen ist Leibholz’ Konzept einer weitgehenden aktuellen Autonomie der Repräsentation gegenüber den Repräsentierten, Leibholz 1929, 32 ff. und Isensees Kritik hieran 1988, § 57, 95. Dem Problem der Verselbstständigung von Parteiapparaten durchaus aufgeschlossen, aber letztlich doch gegen ein imperatives Mandat: Schmitt 1928, 262. 283 Hättich 1967, 42. 282

A. Modifikation von Zwangsgewalt

417

Es liegt freilich in der Eigenart von Staatlichkeit als solcher, dass sie im strengen Sinne gar nicht anders als repräsentativ, im Namen anderer handeln kann, wobei sich wiederum ein Staat, gleich ob demokratisch oder anders legitimiert, der sich nicht im Namen aller seiner „Schutzbefohlenen“, legitimiert sich selbst ad absurdum führt.284 Daher ist Demokratie in dem Maße, in dem sie auf den Staat als Instrument angewiesen ist bzw. als Legitimation und Steuerungsmodus des Staates erachtet wird, immer repräsentativ. Es liegt ja gerade in der Eigenart seines Leistungsgegenstandes, der Kollektivgüter begründet, dass ein Einzelner entsprechende Aufgaben gar nicht versehen kann. In Form des von Kant so genannten Probiersteins ist die volonté générale hingegen dasjenige Instrument, was die repräsentative Demokratie, wenn schon nicht Volksherrschaft so doch zumindest Republik bleiben lässt: Maßstab ist, „jeden Gesetzgeber zu verbinden, dass er seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volkes haben entspringen können, und jeden Untertan, sofern er Bürger sein will, so anzusehen, als ob er zu einem solchen Willen mit zusammen gestimmet habe.“ 285 Die volonté générale ist die auf den Gesetzgeber zugeschnittene Form des kategorischen Imperativs. Sie ist damit Orientierungsgröße und Evaluation von Politik gleichermaßen, indem sie zum Maßstab erhebt, wie sich das Volk bei vollständiger Information in der Konstellation des Gefangenendilemmas verhalten hätte. Damit werden Staat und Politik freilich permanent überfordert, weil auch ihre Informationslage höchst unvollständig und zudem regelmäßig widersprüchlich ist. Hinsichtlich der Effizienz und Effektivität staatlicher Optimierung suboptimaler gesellschaftlicher Ausgangssituationen ist diese Frage nicht eindeutig zugunsten einer möglichst hohen Rückbindung an die aktuellen Bedürfnisse der Repräsentierten zu entscheiden. Daher ist es auch die allgemeine Effizienz- und Wirtschaftlichkeitsdebatte, die das Verhältnis von Repräsentation und Repräsentierten zunehmend wieder kontrovers werden lässt. Die Probleme der Repräsentation setzen bereits dann ein, wenn die Repräsentanten willens sind, die Wünsche und Bedürfnisse der von ihnen Repräsentierten zu erfüllen. Sogar der selbstlose Repräsentant, den reiner Altruismus motiviert, kann über den Zeitraum seines Mandats hindurch niemals den Willen der von ihm Repräsentierten ermitteln, zumal diese Interessen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch divergieren dürften.286 Umso entscheidender ist es, dass der Repräsentant durch den Zu284 Hättich 1967, 48 und 176 f., der freilich den Akzent nicht auf die Eigenart staatlichen Handelns, sondern auf die faktisch fehlende Einstimmigkeit legt, um einen Volkswillen wirklich negieren zu können. Diesen gibt es zwar nicht, wohl aber ein Volksinteresse. Und eben dieses ist es, was stets repräsentativ und beauftragt wahrgenommen wird. 285 Kant 2000, 153. Angesichts der eingehenden Rezeption Rousseaus durch Kant ist davon auszugehen, dass damit auf das Konzept der volontée générale abgestellt wird. 286 Sen 2002, 177.

418

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

sammenhang seines Handelns ein eigenes Interesse hat, den Willen der von ihm Repräsentierten möglichst genau zu ermitteln und umzusetzen. Oftmals wird dies tatsächlich nur altruistisch möglich sein, wie es sich etwa im klassischen Ethos des Parlamentariers widerspiegelt. „Es ist [. . .] Pflicht“ des Abgeordneten gegenüber den Wählern, und zwar gegenüber allen Wählern, wie Edmund Burke in seiner Rede an die Wähler von Bristol feststellt, „ihre Interessen den seinigen vorzuziehen. Aber seine unparteiische Ansicht, sein reifes Urteil, sein erleuchtetes Gewissen darf er weder ihnen noch irgendeinem Menschen noch irgendeiner Gruppe opfern. Euer Abgeordneter schuldet euch nicht nur seinen Fleiß, sondern auch sein Urteil, und wenn er dieses eurer Ansicht opfert, dann betrügt er euch, statt euch zu dienen.“287

Selbst repräsentative Demokratie verschiebt das Problem des Gefangenendilemmas oftmals nur in der Bereich des Staates, ohne es wirklich zu lösen.288 Ein weiterer auffallender und entscheidender Unterschied der repräsentativen gegenüber der plebiszitären Demokratie lässt sich in der Zeitlichkeit der Machtdelegation finden.289 Dies hat verschiedene entscheidungs- bzw. spieltheoretische Folgen: Zum einen ermöglicht Zeitlichkeit von Entscheidungsfolgen, in begrenztem Maße die Iteration von Entscheidungssituationen des Gefangenendilemmas sicherzustellen. Zum anderen wird aber dennoch jenes Maß an Zukunftsoffenheit ermöglicht, dass für Adaption und Innovation gegenüber gesellschaftlichen Herausforderungen notwendig ist. Aber gerade die Zeitlichkeit kann den Repräsentationscharakter ad absurdum führen, indem Verantwortlichkeit der Gewählten und Vertrauen der Wähler ausgeschaltet werden. Dies kann durch normierte und positive Beschränkungen, wie etwa im Falle des US-amerikanischen Präsidenten geschehen,290 oder auch durch faktische Aussichtslosigkeit einer Regierung wiedergewählt zu werden. Da diese Aussichtslosigkeit vom Grad der Gewissheit der Akteure abhängt,291 die jedoch niemals vollständig und deren Erfüllungsgrad Frage subjektiver Einschätzung ist, 287 288

Edmund Burke 1774 in seiner Rede an die Wähler von Bristol. Hierin liegt der Bezug zu Sens These von der altruistisch motivierten Optimie-

rung. 289 Es ist durchaus bezeichnend, dass es eine gescheiterte demokratische Verfassung ist, nämlich die von der Paulskirche im Jahre 1848 verabschiedete, die vorsah, durch einmalige Wahl eine Erbmonarchie einzusetzen, Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte 1960, 770. 290 Gesetz ist diese Begrenzung durch das 22. Amendment von 1947: Eingehend beschäftigt sich mit den rechtlichen Fragen der von Thomas Neal für den Kongress verfasste Bericht „Presidential and Vice-presidential Terms and Tenure“, im weltweiten elektronischen Datennetz: http://lugar.senate.gov/CRS%20reports/Presidential_and_ Vice_Presidential_Terms_and_Tenure.pdf (vom 6. Januar 2006). Über die politischen Folgen und demokratietheoretischen Implikationen stellen wirklich eingehende Untersuchungen weitgehend ein Desiderat dar. 291 Downs, Demokratie, 1968, 61.

A. Modifikation von Zwangsgewalt

419

können nicht zuletzt öffentliche Meinung oder eigene Stimmung der Regierung über ein relativ verantwortungsungebundenes Verhalten entscheiden. Am Vorabend von Wahlen abwahlgefährdeter Regierung ist in Demokratien regelmäßig auch eine Häufung von Versorgungsverhalten gegenüber eigenem Personal und Getreuen zu beobachten. Insofern ist das für die Verantwortlichkeit einer Regierung entscheidende Zeitlichkeitsprinzip wiederum Ausgang für mögliche absurde Folgen, die resignierte Regierung ihres Anreizes zu berauben, sich wenn schon nicht gemeinwohlorientiert, wie die „rational-choice“-Theorie ohnehin als regelmäßig im Verhalten vermutet, so unter Umständen auch nur noch rudimentär gemeinwohlförmig zu verhalten. Die Funktionstüchtigkeit zeitlicher Beschränkung und die Gemeinwohldienlichkeit von Machtdelegation hängen also in der Wirklichkeit repräsentativer Demokratien maßgeblich von der öffentlichen Meinung ab. Damit ist freilich ein entscheidendes Element der Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion „staatsfrei“, idealiter gar staatsunabhängig. Um diese Unabhängigkeit des Gesellschaftlichen vom Staatlichen zu erhalten und zur Staatssteuerung zu formieren, sind Parteien erforderlich.292 Daneben entfaltet sich auch durch die Zeitlichkeit der Machtdelegation der Verantwortungsdruck, der auf die Regierung ausgeübt wird: Da Hoffnung und mithin Verantwortungsbewusstsein der Regierung in dem Maße steigen, in dem sich die Opposition der Regierungspolitik angleicht, bedarf es einer Opposition, die in solcher Angleichung gleichwohl eine für sich chancensteigernde Wirkung erkennt: Dies ist genau dann gegeben, wenn sich die Opposition sicher ist, „in einer bestimmten Frage den Standpunkt der Minderheit angenommen“ zu haben.293 Dafür muss sich die Opposition wiederum jedoch sehr sicher sein, dass diese Frage wahlentscheidend ist. Dies tritt bei Konstellationen ein, die durch das so genannte Arrow-Problem gekennzeichnet sind – also bei Situationen, deren Ausgang erst dann absehbar ist, wenn die zur Absehbarkeit erforderlichen Kosten so hoch sind, dass sie den Kosten bei fehlender Absehbarkeit potentiell gleich sind. Denn seine Absehbarkeit allein ändert ja inhaltlich noch nichts daran, welchen Nutzen dieser Ausgang hat. Dies würde wiederum die Regierung in eine Verantwortungslosigkeit führen, wie sie die Depression ihrer Ausweglosigkeit verursacht. Daher leben Effektivität und Legitimität des Mehrheitsprinzips von Ungewissheit und Zukunftsoffenheit.294

292 Aus diesem Grund hat etwa das Bundesverfassungsgericht durchgängig die Staatsfreiheit des Meinungs- und Willensbildungsprozesses der öffentlichen Meinung sanktioniert, Isensee 1968, 165 und auf dieses Ziel hin maßgeblich die Parteienfinanzierung in der Bundesrepublik Deutschland hin ausgerichtet. 293 Downs 1968, 61. 294 Zur Kategorie der Zukunftsoffenheit ist namentlich auf Weber zu verweisen, der Zukunftsoffenheit vor allem in seinen Schriften Wirtschaft und Gesellschaft sowie Politik als Beruf als Präsumtion setzt. Cf. in der rezenten Literatur: Oevermann 1995, 27– 102.

420

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

Die jüngere Zeitgeschichte zeigt, dass zumeist außenpolitische Ereignisse Regierungen aus der Ausweglosigkeit des Arrow-Problems befreien, was die Vermutung nahe legt, dass Ungewissheit überwiegend in Politikbereichen anzutreffen ist, die nicht auf die nationale Ebene beschränkt sind. Eine solche graduelle Ungewissheitsgeneigtheit wäre freilich äußerst folgenreich für föderal verfasste Staaten: Tatsächlich lassen sich in Gliedstaaten, die auf innerstaatliche Kompetenzen beschränkt sind, weitaus häufiger Phasen von Regierungsverhalten ausmachen, die von durch Zuversichtslosigkeit verringertem Verantwortungsdruck und daraus resultierend verringerter Gemeinwohlförmigkeit geprägt sind. Hierin liegt ein erheblicher, wenngleich weithin unerkannter oder auch nur ignorierter Nachteil föderaler Staatlichkeit als Institut von Kollektivgütergewährleistung. Die Frage ist, inwieweit dies durch die damit einhergehende relativ stärkere Abhängigkeit zentralstaatlicher Politik von Auswärtigem wieder ausgeglichen wird. Verbindet das Repräsentationsprinzip allgemein die vornehmlich legitimitätsund akzeptanzsteigernden Wirkungen des Mehrheitsprinzips mit denjenigen sachverständiger Staatskunst, so ermöglicht der Parlamentarismus speziell durch seine informatorische Überlegenheit auch eine flexiblere Integration und Kooperation der Minderheit in Gestalt der Opposition, indem er grundsätzlich sach- und mithin gemeinwohlorientierte Entscheidungen ermöglicht. Damit können Effizienz und Effektivität von Entscheidungen mit Konzilianz und Konkordanz vereint werden. Die Opposition als parlamentarische Institution der Minderheit wird im 18. Jahrhundert von Bolingbroke nicht als positives Element einer idealen Staatsmaschine konstruiert, sondern aus anthropologisch begründeter Skepsis als negatives Komplement zu einer Regierung konzipiert die als regelmäßig fehlbar erachtet wird: Die Opposition wahre das „public interest“, während die Regierung ihr „private interest“ verfolge und den „influences“ bereits mehr oder weniger organisierter Einzelinteressen erliege.295 In den hiesigen spieltheoretischen Kategorien gesprochen ist also nicht etwa das Zusammenspiel von Opposition und Regierung, sondern die Opposition allein Mandatar des optimalen Gesamtnutzens. In der modernen parlamentarischen Demokratie ist die Opposition zudem zum Ort der Gewaltenteilung von Legislative und Exekutive geworden, da Regierung und Parlamentsmehrheit eine Willenseinheit bilden. Wenn die Opposition vielfach als notwendiger Bestandteil der Demokratie bezeichnet wird, ohne sie sachlich zu begründen, so wird tatsächlich jene Möglichkeit der Herrschaft übersehen, wie sie die Demokratie am wörtlichsten nimmt, nämlich die Einstimmigkeit.296 Insofern, als diese Möglichkeit der Einstimmigkeit nicht weiter reflektiert wird, ist Bolingbrokes Begründung zwar vielleicht

295 296

Kluxen 1956, 103 ff. Lijphart 1999, 6.

A. Modifikation von Zwangsgewalt

421

weniger abstrakt und prinzipiell, aber dafür sachorientierter und empirischer ausgerichtet. Das Problem mangelnder Sachkompetenz parlamentarischer Plena ist wohl so alt wie der Parlamentarismus. Bereits Blackstone formuliert daher hohe Anforderungen an Träger gesetzgebender Gewalt.297 Klassische Domäne der Parlamentes ist das Budgetrecht: Im Äquivalenzprinzip kann insofern daher eine Schwächung des Parlaments liegen, als sein Handlungsspielraum durch stärker konnektive Enumeration von Einnahmen und Ausgaben eingeengt wird. Denn wer Gelder bewilligt, denen nicht entsprechende Einnahmen gegenüberstehen, gerät unter Legitimationsdruck. Verfechter des Äquivalenzprinzips halten dagegen, dass dieses Prinzip Überschaubarkeit für die gegenwärtig völlig überforderte Legislative erhöhe und damit seinen Einfluss durch informationellen Gewinn stärke:298 „Scientia est potentia.“ Das Institut des Plebiszites ist demgegenüber vor allem in der Antike eine vergleichsweise dominante Ausformung von Demokratie gewesen. Wenn Ernest Renan das Konzept der Nation für ein plebiscite des tous les jours erachtet,299 so verdeutlicht dies umgekehrt, dass das Plebiszit nach dem Verständnis des 19. Jahrhunderts wie die Nation eine Gesamtnutzen und Individualinteressen synchronisierende Funktion aufweist. Das Gefangenendilemma zu überwinden verlangt, Gemeinwillen und Gemeinwohl zu unterscheiden. Dieser Unterschied ist daher auch proprium des modernen Verfassungsstaates und hat sich unter den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts weiter profiliert, auch wenn bereits in Rousseaus Unterscheidung zwischen volonté de tous und volonté générale immerhin die Möglichkeit jenes Filters direkter Demokratie, wie ihn der Verfassungsstaat darstellt, theoretisch angelegt ist.300 5. Das polare Gleichgewicht moderner Gesellschaft: Freiheit durch Gleichheit Als der Senator Stephen A. Douglas im Jahre 1858 äußert, ihm sei es gleichgültig, ob das Volk für oder gegen Sklaverei stimme, ihn interessiere allein, ob es sich um eine demokratisch zustande gekommene Entscheidung des Volkes handele, entgegnet Abraham Lincoln etwa nicht, dies verstoße gegen die Freiheit des Individuums. Nein, der Präsident argumentiert, eine derartige Entscheidung ver297

Blackstone 1979, 10. Schmehl 2004, 239. Die Folgen können aber auch Momente direkter Demokratie stärken, wie sich aus Schmehl 2004, 223 folgern lässt. 299 Renan 1995, 57. 300 Jean-Jacques Rousseau, Du contrat social, 1762, II, cap. 3. Die Bedingungen der Möglichkeit der volonté générale: Maier 1987, 129 ff. Kritisiert wird das Konzept auch aus der Sicht der neueren Pluralismustheorie: Fraenkel 1968, 173 ff. 298

422

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

stoße gegen die Gleichheit der Menschen.301 Diese Anekdote veranschaulicht die gesamte Vertracktheit des Bezugsfeldes von Freiheit und Gleichheit. Freiheit als Individualrecht führt zu Ungleichheit. Gleichheit der Entfaltungsmöglichkeiten aber ist Voraussetzung für individuelle Freiheit. Gleichheit als Voraussetzung von demokratischer Mehrheitsherrschaft, die eben nicht auf Zensus- oder Standeswahlrecht beruht, kann wiederum Garant fairer Ausgangsbedingungen bleiben, die das „unusquisque faber fortunae“ als Bewegungsgesetz marktwirtschaftlicher Leistungsgesellschaften erhält. Freiheit kann aber gleichwohl über einen ähnlichen Mechanismus wie Demokratie, über die summarische Wirkung addierter Individualentscheidungen optimierend wirken. Der Unterschied besteht nur darin, dass nicht der Wille der Mehrheit, sondern der Wille aller, nicht die volonté générale, sondern die volonté de tous, das Optimum beschreibt. Diese den Gesamtnutzen der Gruppe optimierende Individualfreiheit geht davon aus, dass der Inhalt der Individualentscheidungen unerheblich ist. Was auch immer die Individuen für vorzugswürdig halten, so wie sie sich entscheiden, ist es für die Gesellschaft als Ganzes die beste Entscheidung. Das ist die nicht unumstrittene, aber zunehmend akzeptierte Theorie wie sie unter anderen von Amartya Sen vertreten wird.302 Motivational ist eine derart begründete Optimierung plausibel und implizit bereits in den konziliaristischen Souveränitätslehren des 15. Jahrhunderts enthalten.303 Entscheidend ist demnach also die prozedurale Freiheit, nicht die instrumentelle Freiheit. Wird Freiheit als Wert an sich begriffen und Entscheidungskompetenz dem Mehrheitsprinzip oder gar anderen heteronomen Entscheidungsprinzipien entzogen, so optimiert sich der Gesamtnutzen von selbst. Denn Minderheiten werden nicht einfach aus dem Ergebnis ausgeschaltet, sondern sogar qualitativ im Grad ihrer Abweichung berücksichtigt, indem es gar keine Mehrheit mehr gibt, sondern nur noch eine Linearität der Einzelinteressen. Wird dieses im Ergebnis auch immer unumstrittener, so bleibt der Mechanismus, der dorthin führt, im Einzelnen unklar.304 Die Stabilität dieses Mechanismus hängt jedoch davon ab, dass die Wähler wenigstens die gleiche Freiheit besitzen wie die Kandidaten.305 Der Gleichheit der Kandidaten in ihrer Freiheit, ist wiederum erforderlich, damit Demokratie als Dauerzustand stabilisiert wird.306 Die Polarität, die zwischen Freiheit und Gleichheit herrscht, wird jedoch zum Gleichgewicht, wenn Freiheit nicht nur, wie in der europäischen Neuzeit durchgängig üblich, als Ziel und 301

Fukuyama 2004, 161. Sen 2002, 393. 303 Dohrn van Rossum 2004, 121. 304 Matz 1985, 321 ff.; aus der klassischen Literatur sind Mill 1969 und Friedrich 1959, 562 zu nennen; Krüger 1964, 284; Greaves 1960, 168. Skeptisch: Hättich 1967, 129. 305 Gary Becker 1993, 35 f. 306 Gary Becker 1993, 35. 302

A. Modifikation von Zwangsgewalt

423

Ende, als unhinterfragbarer Selbstzweck und reine Zivilreligion aufgefasst wird. Vielmehr hat Freiheit auch einen instrumentellen Charakter, der freilich vermittelt über zunehmenden materiellen Handlungsspielraum letztlich wieder auf konstitutive Freiheit zielt.307 „Gerade die Synthese beider Prinzipien ist für die Demokratie charakteristisch.“ 308 Dieses Paradoxon der Freiheit wird von Hans Michael Baumgartner in gleicher gedanklicher Morphologie für den Staat formuliert.309 Die Frage zu bejahen, ob sich nur in Gesellschaften, in denen diese konstitutive Freiheit einen Wert hat, auch instrumentelle Freiheit verbreiten kann, ist für den Westen Dogma seines Missionsauftrages, aber in Wirklichkeit tatsächlich offen. Die Freiheit der Demokratie, deren Grundlage Gleichheit ist, ist nicht zwangsläufig Voraussetzung der Freiheit einer Marktwirtschaft. Aber die politische Freiheit, wie sie die Demokratie garantieren soll, ist entscheidend auf die instrumentelle Freiheit ökonomischer Voraussetzungen, namentlich eines funktionierenden Bildungs- und Gesundheitswesens angewiesen.310 Den wirtschaftsliberalen Gegensatz von individueller Freiheit und Gleichheit scheint die Annahme zu bestätigen, dass mit wachsender Ungleichheit der Mitglieder einer Gruppe suboptimale Kollektivgutbereitstellungen abnimmt.311 Gleichheit ist jedoch nicht nur Voraussetzung für Demokratie, sondern letztlich auch für den modernen Staat, den seine vereinheitlichende Funktion maßgeblich als Rationalisierungskatalysator konstituiert, aber auch legitimiert.312 Freiheit ist demnach die „Möglichkeit hic et nunc lebender Menschen, ihren eigenen Vorstellungen gemäß zu leben und zu handeln.“ 313 Wie bereits erörtert, ist freilich Mehrheitsherrschaft zwar ein prominentes, aber nicht das einzige Mittel um jenes Gleichgewicht von Freiheit und Gleichheit zu erhalten, das mit den Begriffen von Fairness und Gerechtigkeit beschrieben zu werden pflegt.314 Im Ge307

Sen 2003, 10 und 28 ff. Kelsen 1963, 4. 309 „Der Staat ist ein notwendiges Produkt der Selbstbeschränkung von Freiheit um der Freiheit willen.“, Baumgartner 1991, 53. 310 Sen 2003, 28. 311 Olson 1998, 27. 312 Diese Funktion von Gleichheit ist in Deutschland maßgeblich von Hesse 1951/2, 167–224, aufgedeckt worden. Hesse bezieht dies zwar in erster Linie spezifisch auf den Rechtsstaat, sieht aber im Gleichheitsgebot auch „die Verwirklichung staatlicher Einheit“, Günther 2004,183. 313 Hesse 1976, 495. 314 Jede Person genießt gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten, wie es alle haben. Dieses System muss freilich mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist. Kantianisch formuliert: „Die Freiheit des einen endet dort, wo diejenige des anderen beginnt.“ 2. Soziale und ökonomische Ungleichheiten sind soweit zu modifizieren, dass vernünftigerweise zu erwarten ist, dass sie jedem nutzen, und sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen. 308

424

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

genteil, die gemäß dem Mehrheitsprinzip verfassten Gesellschaften westlicher Marktwirtschaften haben eine exklusive relative Gleichheit innerhalb der Mehrheit hervorgebracht, in der eine Minderheit von Benachteiligungen durch Armut und damit verbundenen Diskriminierungen betroffen und von einer unausweichbaren Isolation darin bedroht ist, wie noch zu erörtern sein wird. In der Eigenart der Demokratie liegt anscheinend eine Tendenz begründet, dass Staat und Gesellschaft verschmelzen.315 Daher kann eine griffige Lösung des Dilemmas von Freiheit und Gleichheit sich nicht darin erschöpfen, als „Rechtsprinzip des demokratischen Staates“ die Gleichheit und als „Rechtsprinzip der Gesellschaft“ die Freiheit zuzuteilen.316 Zum einen muss eben gerade der demokratische Staat mehr als jeder andere Staat der Ungleichheit der Menschen Rechnung tragen, will sich das demokratische Prinzip nicht als Leerformel ad absurdum führen. Zum anderen wird eine Gesellschaft, die als Vakuum freien Kräftespiels angelegt ist, niemals Freiheit sichern können. Eine freiheitsblinde Demokratie führt in den Totalitarismus Rousseauscher volonté générale. Eine chancenungleiche Gesellschaft wird niemals eine stabile Demokratie aufrechterhalten können. Der Beruf einer freiheitlichen Demokratie ist es vielmehr, den Widerspruch zwischen diesen beiden Werten auszuhalten und durch den Staat zu vermitteln. Gleichheit erweist sich dann tatsächlich jedoch als differentia specifica des genus proximum der Freiheit: Gleichheit herzustellen bedeutet Freiheit umzuverteilen, sie zu wahren eine als gleich erachtete Freiheitsverteilung zu erhalten.317 „Gleichheit [. . .] ist sozialisierte Freiheit.“ 318 Gleichheit wird somit als Verteilungsgerechtigkeit verstanden. Wird Gleichheit jedoch zu Gleichförmigkeit, so wird Freiheit monopolisiert. Die Freiheit weniger oder eines Einzelnen ist die Unfreiheit vieler. Der Freiheitsbegriff lässt sich jedoch auch in einer Weise auflösen, die ihn mit Partizipation und mithin mit jener Gleichheit identifiziert, die Voraussetzung von Demokratie ist. Dies setzt freilich überschaubare Zusammenhänge voraus und liegt daher etwa dem schweizerischen Freiheitsbegriff zugrunde.319 Freiheit als Staatsaufgabe kann sich freilich erst infolge der demokratischen Ideale, wie sie die Atlantischen Revolutionen propagieren, durchsetzen.320 Zuvor wird Demokratie vielmehr mit politischer Freiheit synonymisiert: Demokratie bedeutet, dass zumindest das Volk als Kollektiv frei ist. Es ist ein Paradoxon der 315 Logisch zwingend oder historisch unabwendbar ist eine solche Verschmelzung indes nicht. 316 So aber lautet die These von Isensee 1968, 152. 317 Hättich 1967, 150. 318 Hättich 1967, 150. 319 von Krockow 1976, 471. 320 Herzog 1971, 383; Kailitz 2004, 302.

A. Modifikation von Zwangsgewalt

425

Moderne, dass just aufgrund dieser Synonymität des Begriffes der Demokratie mit demjenigen der Freiheit des Volkes als Kollektiv sich auch gänzlich unfreie Staaten legitimieren, während in der freien Welt kontrovers werden konnte, was Demokratie sei – eben weil Freiheit herrschte.321 Es sei dahingestellt, ob Kelsen zutreffend diese vorrevolutionäre Lage beschreibt, wenn er „aus der Freiheit der Anarchie [. . .] die Freiheit der Demokratie“ werden sieht.322 Er reduziert damit Freiheit auf politische Freiheit. Diese kann aber wohl tatsächlich dauerhaft nur unter der Bedingung von Demokratie existieren. Wenn die Freiheit der Demokratie auf deren langfristige Abschaffung hinarbeitet, dann arbeitet sie daraufhin, jegliche politische Freiheit abzuschaffen. Arbeitet sie hingegen auf ihre Verstetigung hin, wird dies langfristig nur über die Demokratie möglich sein, wenngleich ein Phänomen wie der deutsche Konstitutionalismus auch hier warnt, die Vielfalt der historischen Wirklichkeit auf eine polare Alternative von Demokratie und politischer Unfreiheit zu reduzieren. Aktuell ist auch die Gleichheit zu denjenigen Werten zu zählen, die Opfer organisierter Interessen insofern werden, als diese zwar Bedürftige in den meisten Zusammenhängen moderner staatlich verfasster Gesellschaften benachteiligen, aber dies mittelbar durch Schädigung der Allgemeinheit bewirken.323 Ferner setzt nicht nur Demokratie, sondern auch Freiheit voraus, dass Individualrechte nicht nur als reine Erlaubnis zu handeln gewährt werden. Vielmehr muss der Staat Wahlhinderung durch dritte so weit wie möglich und soweit tragbar beseitigen.324Auch insofern ist Gleichheit Voraussetzung von Freiheit. Freiheit ist keineswegs immer Antagonist von Gleichheit. Vielmehr kann die Mehrheit in ihrer Freiheit eingeschränkt werden, um der Minderheit gleiche Chancen einzuräumen, Mehrheit zu werden. Minderheitenschutz ist also keinesfalls zwingend Ausfluss von Individualfreiheit, sondern durchaus von Gleichheit: Aktuell wird dieses Problem vor allem bei Mehrheitsentscheidungen, deren Gegenstand als solcher langfristig bindend wirkt. Im spätmodernen Staat konkretisiert sich dies zumeist bei Entscheidungen mit langfristigem Gefährdungspotential, das irreversibel ist.325 Diese Eigenschaft wohnt aber nahezu allen massenerheblichen Techniken bei. Da diese massenerheblichen Techniken aber zugleich regelmäßig Schlüsseltechniken der so genannten Kondratiefzyklen darstellen, kann eine Ablehnung solcher Techniken auch wirtschaftlich für Jahrzehnte bindende Wirkung entfalten, das zumeist schon nach vergleichsweise kurzer Zeit Entwicklungsrückstände nicht mehr aufzuholen sind. Massenerhebliche Techni321 Conze 1952, 391 [in Geleitwort zur Michels-Ausgabe von 1952]. Cf. auch Hättich 1967, 144. 322 Kelsen 1963, 6. 323 Kirchhof 2004 (b), 36. 324 Sen 2002, 283. 325 Staff 1987, 158 f.

426

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

ken mit dauerhaftem und irreversiblem Gefahrenpotential konfrontieren daher die Entscheidenden mit einem Dilemma, das in ihrer determinierenden Wirkung liegt, die Minderheit und nachfolgende Generationen in jedem Falle zu binden. Den wirtschaftsliberalen Gegensatz von individueller Freiheit und Gleichheit scheint die Annahme zu benötigen, derzufolge mit wachsender Ungleichheit der Mitglieder einer Gruppe Suboptimalität von Kollektivgutbereitstellung abnimmt.326 Da Gleichheit, wie namentlich Sen zeigt, nicht nur gleiches Wahlrecht, sondern weitergehende Gleichheit an sozialen Partizipationschancen voraussetzt, um Demokratie zu ermöglichen und aufrechtzuerhalten, besteht möglicherweise sogar zwischen marktwirtschaftlicher bzw. privater Optimierung von Kollektivgütern und demokratisch legitimierter Gewährleistung staatlicher Kollektivgüter ein Widerspruch: Ausdehnung des privaten Sektors hat auf die Demokratie also nicht nur insofern mittelbar Einfluss, als sich der staatliche Kompetenzbereich verringert und mit ihm der Regelungsbereich der Demokratie, sondern vermittelt über nicht zuletzt außerstaatlich fundierte Partizipationschancen faktisch auch auf denjenigen Bereich, der noch staatlicher Regelung und mithin demokratischer Legitimation zugeordnet ist. Sofern bestimmte Kollektivgüter nicht optimaler privatwirtschaftlich als staatswirtschaftlich oder öffentlich bereitgestellt werden können, bedeutet dies freilich, dass es ein indirekten Widerspruch zwischen marktwirtschaftlicher Kollektivgüteroptimierung und gleichen sozialen Partizipationschancen besteht. Da Gleichheit, wie namentlich Sen erläutert, nicht nur gleiches Wahlrecht sondern weitergehende Gleichheit an sozialen Partizipationschancen voraussetzt, um Demokratie zu ermöglichen und aufrecht zu erhalten, besteht möglicherweise sogar zwischen marktwirtschaftlicher bzw. privater Optimierung von Kollektivgütern einerseits und demokratisch legitimierter Gewährleistung staatlicher Kollektivgüter andererseits ein Widerspruch: Ausdehnung des privaten Sektors hat auf die Demokratie also nicht nur in sofern mittelbar Einfluss als sich der staatliche Kompetenzbereich verringert und mit ihm der Regelungsbereich der Demokratie sondern vermittelt über die nicht zuletzt außerstaatlich fundierten sozialen Partizipationschancen faktisch auch auf denjenigen Bereich, der noch staatlicher Regelung und mithin demokratischer Legimitation zugeordnet ist. Sofern bestimmte Kollektivgüter optimaler privatwirtschaftlich als staatswirtschaftlich oder öffentlich bereitgestellt werden können, bedeutet dies freilich, dass ein indirekter Widerspruch zwischen marktwirtschaftlicher Kollektivgüteroptimierung und gleichen sozialen Partizipationschancen besteht.327

326 327

Olson 1998, 27. Cf. Frey 1974, 152.

A. Modifikation von Zwangsgewalt

427

a) Gleichheit als Voraussetzung für Mehrheitsherrschaft Gleichheit wird spätestens seit dem 19. Jahrhundert auch in der Ideengeschichte als entscheidende gesellschaftliche Entwicklungslinie bewusst.328 Mit ihr gehe eine zunehmende Zentralisierung einher. Gleichheit als Voraussetzung für Mehrheitsherrschaft wird also gerade durch Mehrheitsherrschaft bedroht. Eines der anschaulichsten Beispiele im späten 20. Jahrhundert bietet das thatcheristische England, dessen Kurs als Muster einer „Zwei-Drittel-Gesellschaft“ vor allem in den 1980er Jahren hochgradig umstritten ist. In Analogie zur berühmten Beschreibung Böckenfördes von der Staatsentstehung infolge Säkularisierung formuliert kann Mehrheitsherrschaft also nicht leisten, was sie selbst voraussetzt. Dies vermöchte nur als Herrschaft tatsächlich aller angelegte Demokratie. Da es aber solch radikaler Demokratie an Praktikabilität mangelt, bedarf realistische Demokratie rechts- und sozialstaatlicher Ergänzung, will sie sich nicht selbst ad absurdum führen. Ist Gleichheit unabdingbare Voraussetzung für das Mehrheitsprinzip, so führt das Mehrheitsprinzip nicht immer zu Gleichheit: Vielmehr kann Demokratie in stärkerem Maße als Rechtsstaatlichkeit antiegalitär wirken.329 Da das Ziel von Demokratie jedoch Freiheit ist, sofern Demokratie nicht als ein letzter Wert an sich zu begreifen ist, löst sich der Widerspruch auf, ohne dass damit das Problem gelöst wäre.330 Da Gesellschaft, wie sie durch das Mehrheitsprinzip abgebildet wird, eben jene antiegalitäre Tendenz haben kann, bedarf die Demokratie des Staates schon allein aufgrund von dessen vereinheitlichender Wirkung.331 Zunahme von Gleichheit korreliert daher auch mit der Zunahme von Zentralisierung.332 Das Paradoxon antiegalitärer Wirkung einer auf Egalität gründenden Herrschaftsordnung steigert sich noch durch seine historische Herkunft: Es war der frühneuzeitliche Fürstenstaat, der die Gleichheit der Untertanen zu ihrer absoluten Beherrschung erforderlich machte, um sie den verschiedenen identitätsstiftenden Zusammenhängen insoweit zu entziehen, dass sie nur noch als subiecti des Monarchen definiert werden.333 Gleichheit ist also ein Merkmal des modernen Staates schlechthin und als Voraussetzung der Demokratie setzt sie historisch den Staat voraus. 328 Hauptprotagonisten dieser Entwicklungstheorie der Moderne sind der Historiker Guizot und der Jurist De Tocqueville, Craiutu 1999, 456 ff. 329 Sen 2002, 331; das Problem besteht darin, dass Freiheit nur als Chance auf Macht, also als Beeinflussung anderer, formuliert werden kann, Hättich 173. 330 Waschkuhn 1998, 249. 331 Woraus Böckenförde seinerzeit eine Renaissance der Trennung von Staat und Gesellschaft zu begründen sucht, Günther 2004, 316. 332 Dies ist auch eine der zentralen Aussagen des zweiten Bandes von de Tocqueville, De la democracy en Amérique. 333 Koselleck 1973, 14.

428

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

Mit der Krise des Naturrechts ist auch die Ableitung der Gleichheit der Menschen aus der Gleichheit der Menschen vor Gott und ihrer Gottebenbildlichkeit in die Krise geraten, zumal eine derartige Begründung elliptisch ist. Daher bezieht Gleichheit heute ihre Legitimation aus ihrem instrumentellen Charakter.334 Ohne Gleichheit ist Demokratie nicht anzuwenden, Demokratie wird aber als Wert an sich erachtet. Ist Gleichheit an Rechten Voraussetzung von Demokratie, so ist Gleichheit durch Rechte deren Verhinderung: Vielmehr setzt Demokratie ihrer Eigenart nach Pluralität der Anschauungen voraus, um Wettbewerb der Ideen zu ermöglichen.335 Freilich lässt sich die Beschränkung auf Gleichheit an Rechten wiederum nicht auf die rein formale Egalisierungswirkung beschränken, wie sie einem jeden Gesetzesstaat innewohnt. Die Gleichheit an Rechten will auch material beachtet werden, soll die Demokratie funktionstüchtig sein.336 Gesetze dürfen nicht so zugeschnitten werden, dass ihr Inhalt auf Ungleichheit hinausläuft und diese erst schafft. Gleichheit als Voraussetzung von Mehrheitsherrschaft kann daher nicht tatsächlich gleichen Anteil aller an der Herrschaft bewirken, aber sie verhindert, dass bereits „an der Basis des Prozesses politischer Rekrutierung“ soziale Unterschiede in das Herrschaftssystem einfließen.337 Auch wenn die Wahlbeteiligung mit unterschiedlicher sozialer Situation erheblich schwankt, so bleibt jedem in gleichem Maße die Möglichkeit belassen, sich an der Wahl zu beteiligen. Aber schon diese Möglichkeit stellt einen ungeheuren Machtfaktor dar, den die Politik sehr genau reflektiert, auch dann, wenn diese Möglichkeit gerade nicht genutzt wird. Gleichwohl hat sich der westliche Kulturkreis noch lange Zeit schwer getan, diese Voraussetzung von Demokratie zu erfüllen. Zensus, vor allem aber Geschlecht und Hautfarbe, in einem der US-Bundesstaaten zunächst auch Religion, blieben Diskriminierungsfaktoren. Dass Demokratie auch innerhalb des demokratischen Systems revidierbar ist, zeigt der Fall New Jersys, wo Frauen zunächst auch das Wahlrecht hatten, das ihnen aber zu Beginn des 19. Jahrhunderts wieder aberkannt wurde.338 Demokratie ist jedoch anscheinend auch umgekehrt Voraussetzung für Gleichheit. Denn wenn mittlerweile nachgewiesen ist, dass in demokratisch verfassten Gemeinwesen Hungersnöte nicht vorkommen, Hungersnöte aber stets auch Folge von anderer als politischer Ungleichheit sind,339 dann bedeutet dies, dass Demokratie anscheinend auch diese anderen Ungleichheiten zumindest soweit aufhebt, dass sie nicht mehr zu Hungersnöten führen: Damit ist aber das existenzielle Maß 334 335 336 337 338 339

Dahl 2005, 45 f. Loewenstein 1922, 69; Isensee 1968, 294. Bäumlin 1954, 48. Luhmann 1983, 172. Einen Überblick über diese einzelnen Diskriminierungen bietet Fenske 2004, 171. Sen 2003, 227.

A. Modifikation von Zwangsgewalt

429

an Gleichheit gesichert. Vermutlich liegt diese Wirkung darin begründet, dass mit der Demokratie stets sehr viel mehr Gleichheiten auftreten als nur die Gleichheit aller Stimmen. Bereits, bevor die moderne Demokratie aufkam, war indes bewusst, daß Hungersnöte kein Sachproblem, ursächlich noch nicht einmal ein Verteilungsproblem, sondern tatsächlich ein administratives Problem darstellen: Der frühneuzeitliche Ökonom Abeille bezeichnet Nahrungsmangel gar als „Schimäre“.340

Auch scheint eine unter den Bedingungen der Gleichheit ermittelte Auslese von Ideen und Personen überlegen zu sein:341 Gleichheit ist also im wörtlichen Sinne Voraussetzung für Elitenbildung. b) Schwinden oder Zunehmen sachverständiger Herrschaftsbegründung gegenüber demokratisch legitimierter Entscheidung? 342 Das Postulat von technisch oder wissenschaftlich gestützter Sachgerechtigkeit gegen Demokratie hat zumal in Deutschland eine lange Tradition und reicht sogar in seiner reinen Form noch bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein. Ist die Demokratieskepsis mittlerweile verflogen, so ist das Vertrauen in den Sachverstand dennoch oftmals größer als in die steuernden und optimierenden Kräfte eines als „Parteienhader“ wahrgenommenen Parlamentarismus. Das Dilemma solcher Skepsis ist ein Doppeltes: Zum einen würde ein Absolutismus des Sachverstandes aus Wahlen ein „Ausschreibungsverfahren zur Ermittlung der Machtingenieure“ werden lassen, „die dem Wahlvolk als dem Auftraggeber das günstigste Angebot machen.“ 343 Ist Demokratie aber erst einmal als legitimes Entscheidungsinstrument neben anderen so weitgehend, wie es gegenwärtig in den meisten westlichen Staaten der Fall ist, anerkannt, ergibt sich ein weiteres Problem, denn Demokratie ist eine expansive Idee. Was legitimiert dann noch andere Legitimationsmodi? Hegels Einsicht von der Macht der Ideen, der die Wirklichkeit nicht standhalte, richtet sich hier gegen das eigene Kind seiner Philosophie, den positivistisch gedachten Staat, der als Krone des Weltgeistes selbst Legitimation genug ist.

340

Abeille 1911, 91. Hättich 1967, 129. 342 Zum gesamten Problemzusammenhang von „unabhängigen“ Institutionen und demokratischer Legitimierung gibt die Studie von Bredt 2006 ausführlich Auskunft: Neben einer vergleichenden Phänomenologie, die Deutschland, Frankreich, Großbritannien und die USA betrachtet, 47–172, versucht der Autor auch demokratietheoretisch solche Institutionen zu legitimieren. Zentral ist hierbei die Unterscheidung von Demokratie und Mehrheitsherrschaft. Von einem Einstimmigkeitsgebot aus wird der nicht immer ganz überzeugende Versuch unternommen, solche „unabhängigen“ Institutionen als Konsequenz der Demokratie zu rechtfertigen, 173–468. 343 Isensee 1968, 186. 341

430

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

Die relative Subjektivität des Rationalitätsbegriffes bringt es mit sich, dass sogar von Politikern bzw. von Herrschaftsträgern als gut bewertete Ziele und deren geplante Herbeiführung nicht rational im ökonomischen Sinne sind. Dies kann soweit gehen, dass „der soziale Zustand, den sich der Politiker herbeiwünscht, zerstört würde, wenn man sich so verhielte“, wie er es vorsieht.344 Nicht alle normativen und für sich rationalen Sätze stimmen mit dem über ein, was gemäß deskriptiven Sätzen auch rational ist. Downs lehnt es daher gänzlich ab, solche normativen Sätze als rational zu bezeichnen.345 Das praktische Problem besteht jedoch darin, dass in nicht wenigen Fällen solcher deskriptiven und mithin bis zu einem gewissen Maße sogar notwendig aus Empirie selbst abgeleiteten Sätze tatsächlich Erfahrung fehlt. Downs will den Wert von Aussagen daher an ihrer Prognosegenauigkeit messen.346 Damit wird der deskriptive Satz aber de facto ein präsumtiver und mithin nicht selten sodann ein normativer. Tatsächlich verbirgt sich auch hinter diesem Problem ein Konflikt von sachverständiger Herrschaft und demokratischer Legitimation. Denn die Deskription ist eben vom tatsächlich faktisch Gewordenen derart weit deduziert, dass hierbei subjektive Einzelerfahrungen einfließen. Die Subjektivität führt jedoch in ihrer relativen Vereinzeltheit zu hochgradig präsumtiven normativen Aussagen: Sie sind eben subjektiv. Demgegenüber summiert demokratische Entscheidung sämtliche herrschaftsbetroffenen Einzelerfahrungen. Während sachverständige Herrschaft die Sache der Beherrschenden zum Objekt werden lässt, bleiben diese bei demokratischer Entscheidung zunächst Subjekt. Somit entsteht zwar auch keine Objektivität, aber Inter-Subjektivität: „Das Ganze ist das Wahre.“ (Goethe). Das Problem der Ungewissheit, der alle Entscheidungen unterliegen, führt zu einer relativen Beliebigkeit ihrer Auswahl. Diese ungewissheitsbedingte Eigenschaft wird durch Tatsachenblindheit verstärkt, die zwar ihrerseits wiederum freilich auch eine Folge der Ungewissheit darstellt, aber auch in einer Welt der Gewissheit als solche bestehen bliebe. Sie wäre aber irrelevant, weil eine Tatsache weiterhin verschiedene mögliche Wahlmöglichkeiten den Entscheidenden beließe. Tatsächlich gibt es also keine sachlichen Gründe, politische Entscheidungen Sachverständigen zu überlassen und der demokratischen Willensbildung der Wähler oder der von ihnen unmittelbar gewählten Repräsentanten vorzuenthalten. Vor allem in den demokratischen Rechtsstaaten, wie sie sich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet haben, sind jedoch verschiedene Staatsziele festgelegt und entsprechend zweckrational organisierte Institutionen aufgebaut worden, um diese Ziele regierungsunabhängig und möglichst politikfern zu erreichen. Damit wird freilich nicht nur der Bereich unmittelbar demokratisch 344 345 346

Downs 1968, 31. Downs 1968, 31. Downs 1968, 21.

A. Modifikation von Zwangsgewalt

431

legitimierten Staatshandelns eingegrenzt, vielmehr sind manche dieser statisch installierten Zielgarantien fragwürdig geworden, weil sich der dahinter stehende Wert als solcher relativiert hat. Locus classicus solch sachverständig legitimierter Herrschaft sind Zentralbanken.347 Während die deutsche Bundesbank bzw. die Europäische Zentralbank als „Währungshüterin“ die Geldwertstabilität zu sichern hat, werden in anderen Ländern die zahlreichen anderen wirtschaftlichen Steuerungswirkungen einer Zentralbank als solche anerkannt und genutzt. Spätestens die Erkenntnis der berühmten Phillips-Kurve, die Inflation und Erwerbslosigkeit in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis sich verhalten sieht, hat Geldwertstabilität als einzig legitimer währungs- und geldpolitischen Wert in anderen Ländern in Zweifel gezogen.348 Die relative Beliebigkeit solch statisch fixierter und weder Wählern noch Parlament unmittelbar verfügbarer Staatsziele stellt sich jedoch weitaus häufiger als Kampf um die institutionelle Kompetenzverteilung dar. Im öffentlichen Diskurs der 1990er Jahre fiel beispielsweise auf, dass die Sorge der Deutschen um die Unabhängigkeit der Zentralbank in ihrer Leidenschaftlichkeit der britischen Sorge um fortbestehende Verfügbarkeit der Zentralbank durch das Parlament und der französischen durch die gewählte Regierung entsprach.349 Dabei ist unumstritten, dass insbesondere wirtschaftlicher Sachverstand in dem Maße politisch wertlos oder selbst zu reiner Politik wird, in dem Distributionsfragen aus der wirtschaftswissenschaftlichen Expertise ausgelassen werden: Denn dann wird aus deskriptiver Präskription normative.350 Ein wirklich ausschlaggebendes Argument für so genannte „unabhängige“ Institutionen, die bereits aktuell kollektiv bindende Steuerung als solche und nicht nur deren konkrete potentielle Einzelanwendung unmittelbar betrifft, gibt es genauso wenig wie ein Sachargument für deren Demokratisierung. Das Dilemma von Sachverstand und Demokratie muss aber nicht in jedem Fall binär entschieden werden. Vielmehr bietet sich bisweilen als dritte Möglichkeit auch die Abschaffung entsprechender Institutionen und der (teilweise) Rückzug des Staates an. Demokratie kann mittelbar durchaus zu einem Rückzug des Staates führen, da sie Institutionen, die mit ihrem Prinzip nicht unkompliziert verträglich sind, und damit möglicherweise deren Steuerungsfunktion selbst in Frage stellt. Es ist aber letztlich vielmehr der Gedanke des herodoteischen Verfassungsdiskurses sowie die Entwicklung einer staatlichen Demokratisierung der Welt und 347

Frey 1974, 161. Frey 1974, 156. 349 Zwar ist auch die Bank of England inzwischen relativ unabhängig, aber dem Parlament bleibt diese Entscheidung jederzeit revidierbar. Es handelt sich hierbei mehr um eine technische Frage von Herrschaftsdelegation als darum, einen Bereich der Unberührbarkeit zu errichten. 350 Schefczyk 2003, 72. 348

432

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

einer gesellschaftlichen Demokratisierung der Lebensverhältnisse, die als momentum für einen demokratischen Entscheidungsmodus auch solcher bis dato „sachverstands“-gebundener Entscheidungen ausschlägt. Nicht eindeutig einzuschätzen ist, ob weite Teile der unmittelbar Kollektivgüter betreffenden, also sachverständig durchgeführten Entscheidungen zu einer weiter gehenden Staatsausdehnung führen als deren demokratische Durchführung. Im langfristigen Mittel sind zwischen Deutschland und der angelsächsischen Welt keine allzu großen Abweichungen der Zahl öffentlich Bediensteter festzustellen. Tatsache ist freilich, dass „sachverständige“ Politik riesige Informationssammlungs- und Verarbeitungsapparate vornehmlich bürokratisch verfasster Art hervorbringt, die letztlich doch nur die politisch zu bestimmende Richtung eines Entscheidungsprozesses verstärken und beschleunigen können,351 auch wenn diese oftmals organisatorisch nicht dem öffentlichen Dienst im engeren Sinne zugerechnet werden. In solchermaßen verfassten Entscheidungsmodi ist die Neigung angelegt, dass die entsprechenden politischen Institutionen als Alibi demokratisch gewählter Politiker, namentlich der Parlamentarier fungieren, um sich selbst gegenüber dem Wähler nicht mit als unbeliebt vermuteten Entscheidungen belasten zu müssen, sondern einen exogenen Zwang zu konstruieren. Dem Ruf des Parlamentarismus ist dies vor allem in Deutschland, wo er traditionell einen schweren Stand hat, nicht förderlich. Die Amts- und Funktionsträger besagter Institutionen selbst rügen vermehrt diesen dysfunktionalen Machtzuwachs, den die (parlamentarische) Politik ihnen überlässt.352 Sie sehen sich Entscheidungen konfrontiert, denen weder ihr Auftrag noch ihr Bewältigungsinstrumentarium angemessen ist. Ein Schwinden sachverständiger Herrschaftsbegründung scheinbar deskriptiv zu konstatieren heißt freilich tatsächlich, dieses auch normativ zu postulieren. Was schwindet, ist lediglich die Akzeptanz, nicht jedoch die Existenz solcher Entscheidungsmodi, wie wohl am eindruckvollsten die Europäische Union beweist. Neben der faktischen Camouflagefunktion solcher Institutionen aktualisiert sich in ihrem Falle relativ ungeschützt die auch in einer Demokratie fortbestehende potentielle gemeinmenschliche Neigung der Herrschaftsträger, den legitimen Bereich ihrer Herrschaft auszudehnen. Darüber vermittelt, aber zum Teil auch unmittelbar bleibt das nationale Interesse als partikularisiertes Gemeinwohl 351

Downs 1968, 80 ff. Dies wird am deutlichsten von einem Gelehrten, der selbst deutscher Bundesverfassungsrichter war, E. W. Böckenförde festgestellt: „Es vollzieht sich“ – heißt es da – „ein gleitender Übergang vom parlamentarischen Gesetzgebungsstaat zum verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat.“ Böckenförde 1989, 61 f. Vom „Übergang vom parlamentarischen Gesetzgebungsstaat zum verfassungsvollziehenden Jurisdiktionsstaat“ hat Böckenförde schon früher gesprochen; cf. Böckenförde 1981 (a), 402. 352

A. Modifikation von Zwangsgewalt

433

bestehen. Vollzieht sich dies zunächst innerhalb des anzutreffenden staatlichen Herrschaftsgefüges, so führt die relative Enthemmung dieser Neigung alsbald zu faktischer Ausdehnung staatlicher Regelung und Steuerung immer weiterer gesellschaftlicher oder gar privater Felder. Sachverstand dient auch residualer Ständestaatlichkeit als moderne Argumentationshilfe, um direkte staatliche Institutionalisierung von Partikularinteressen zu bewahren. Das zweifelsohne beachtliche Potential an Sachverstand, das in „unabhängigen“ Institutionen gebunden ist, fehlt der öffentlich oder auch privat unterhaltenen zweckfreien Wissenschaft, die über die vornehmlich nichtstaatliche öffentliche Meinung wirken kann. Das britische System ist sicherlich demokratischer, vermutlich auch effizienter, solange als politisch anerkannte und mithin parlamentsförmige Politik nicht zum Erlahmen von Forschen und Diskurs führt. Das Legitimationsproblem sachverstandsbegründeter staatlicher Herrschaft beschränkt sich freilich nicht auf die fehlende oder mangelhafte demokratische Ermächtigung. Vielmehr birgt es die Gefahr eines sich von der Gesellschaft lösenden gleichsam autistischen Staates und damit nicht nur einer auf den Staat begrenzten, sondern auch auf die Gesellschaft übergreifenden Funktionsstörung.353 Erfolgversprechender als Versuche, hochpolitische Fragen weiterhin aus dem Bereich offizieller Politik herauszuhalten, ist daher eine Versachlichung derjenigen Bereiche und Institutionen, Ämter und Funktionen, die auch als politisch anerkannt sind und unter dem rubrum des Politischen firmieren. Eine Versachlichung der Politik, wie sie auch in säkularen Entwicklungszeiträumen gemessen längst als Realität zu beobachten ist, verspricht eher sachgemäße Entscheidungen über öffentliche Kollektivgüter und staatliche Zwangsgewalt als eine Auslagerung der Politik in demokratisch nicht unmittelbar und transparent legitimierte Institutionen. Die Gefahren einer solchen Verlagerung des Politischen von demjenigen Bereich, der auch unter dem Begriff der Politik firmiert, in das Feld des Sachverstandes, namentlich der Wissenschaft, ist bereits zu Zeiten der szientistischen Wende erkannt worden, teilweise als vermeintliche Entpolitisierung,354 teilweise als undemokratische Unterwanderung der freiheitlich-parlamentarischen Demokratie.355 Gerade die Vielgestaltigkeit, Ausdehnung und Kompliziertheit des modernen Staates ließen bereits Hume und Hamilton zu dem Schluss kommen, dass den 353

Hesse 1976, 492. Böckenförde 1964, 250. 355 Namentlich sind hier für die bundesdeutsche Diskussion der 1960er Jahre Kogon 1961, Bahrdt 1961 und Krauch 1961 zu nennen; historische Gesamtschau dieser Kritik an szientistischen Tendenzen: Metzler 2002, 99. 354

434

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

Staat so zu steuern, dass er im Gleichgewicht bleibt, zumindest für ein Individuum unmöglich ist.356 Genau dieses Argument mit dem sich spezialisierter und vermachteter Sachverstand rechtfertigt, lässt sich genauso gut für das parlamentarische oder demokratische Prinzip anführen. Als postulierte Norm weithin konsensfähig und als Deskription einer bereits zeitgenössisch einsetzenden Entwicklung der Wirklichkeit erweist sich dabei Habermas präsumtiv formuliertes Konzept einer „Dialektik von aufgeklärtem Wollen und selbstbewusstem Können.“:357 „Anstelle einer strikten Trennung zwischen den Funktionen des Sachverständigen und des Politikers“ solle „gerade ein kritisches Wechselverhältnis, das eine ideologisch gestützte Ausübung von Herrschaft nicht etwa nur einer unzuverlässigen Legitimationsbasis entkleidet, sondern im ganzen der wissenschaftlich abgeleiteten Diskussion zugänglich macht und dadurch substanziell verändert,“ treten. „Weder ist der Fachmann, wie es im technokratischen Modell vorgestellt wird, souverän geworden gegenüber den Politikern, die faktisch dem Sachzwang unterworfen sind und nur noch fiktiv entscheiden; noch behalten diese, wie das dezisionistische Modell unterstellt, außerhalb der zwingend rationalisierten Bereiche der Praxis ein Reservat, in dem praktische Fragen nach wie vor durch Willenskate entschieden werden müssen. Vielmehr scheint eine wechselseitige Kommunikation derart möglich und nötig zu sein, daß einerseits wissenschaftliche Experten die Entscheidung fällenden Instanzen ,beraten‘ und umgekehrt die Politiker die Wissenschaftler nach Bedürfnissen der Praxis ,beauftragen‘.“ 358

Nicht nur als sachlich angreifbar, sondern auch als demokratietheoretisch problematisch erweist sich zudem die Neigung eines von regelmäßigen Wahlen unabhängigen Sachverstandes, langfristiger zu planen und damit Freiheitsgrade künftiger Generationen zu binden. Das Tragische sachverständiger Planung besteht darin, dass solche planenden Determinationen zumeist in der Absicht oder zumindest mit der Begründung geschehen, das Interesse künftiger Generationen schützen zu wollen. Gemildert werden könnte das Defizit demokratischer Legitimation von Entscheidungsinstitutionen durch eine aktive Öffentlichkeit.359 Neben dem Apathieproblem steht dem jedoch auch die bisweilen von den Institutionen selbst geschürte Indiskutabilität bestimmter grundsätzlicher Ansichten im Wege. Denn in solchen zunächst sachlich-inhaltlichen Dogmata ist zumeist auch die institutionell-formale Macht thesauriert. Hinzu tritt, dass sachverständige Herrschaft regelmäßig auf bestimmte Arten von Sachverstand, also zumeist universitärer Disziplinen beschränkt ist: So ist zwar das Juristenmonopol geschwunden, aber zumindest in Kontinentaleuropa 356 357 358 359

Hamilton/Madison/Jay, Federalist papers 1993, 514. Habermas 1968, 130. Habermas 1968, 126 f. Dahrendorf 1967, 1120; Scharpf 1975, 88.

A. Modifikation von Zwangsgewalt

435

ein Dyopol von Jurisprudenz und Wirtschaftswissenschaften oftmals an die Stelle getreten.360 Maßstab der Selbstbegrenzung öffentlicher Wissenschaft sollte dabei die Maxime sein, „daß die Wissenschaft [. . .] Zielkonflikte nicht zu entscheiden, sondern Wege zu zeigen habe, auf denen eine Gesellschaft ein mögliches Optimum ihrer relevanten Wertungen realisieren könnte.“ 361 Relatives Desinteresse der Wähler an sachpolitischen Fragen zugunsten personalpolitischer Fragen begünstigen Abschottung und Arkanisierung einerseits und erschweren demokratische Thematisierung andererseits.362 6. Das Problem der Minderheit Die Ratio des Mehrheitsprinzips ist die Ratio der (Macht-)Politik. Dies erkennt bereits Pascal wenn er auf die Frage, „warum der Mehrheit gefolgt werde“, antwortet: „Weil sie mehr Macht hat.“ 363 Die praktisch relevanteste Anwendung des Minderheitenschutzes findet sich in den westlichen Demokratien der Gegenwart im Institut des Sozialstaates und im Prinzip der Sozialstaatlichkeit. Sen verdeutlicht besonders drastisch, welch unsoziale oder gar antisoziale Wirkung, ein unbeschränkt angewandtes Mehrheitsprinzip haben kann: Der Mehrheitsregel entspräche es, wenn in einer Gemeinschaft einer ärmeren Person unter den beiden reicheren jeweils die Hälfte des Kuchenstückes der ärmeren geteilt würde: „a majority improvement, but scarcely a great welfare-economic triumph“, lautet das schwerlich bezweifelbare Urteil Sens.364 Seine praktische Relevanz bezieht Sens Beispiel aus der Tatsachse, dass es de facto überall eine Minderheit ist, die von staatlicher Gewährung ihres Lebensunterhaltes abhängig ist.365 Auch etwaige Tendenzen, Bedürftigkeitskriterien auf größere Gruppen auszudehnen, haben der Eindeutigkeit, dass es sich bei Bedürftigen in den westlichen Ländern um eine Minderheit handelt, keinen Abbruch tun können. Aus gemäßigt sozialstaatskritischer Sicht ist mit diesem Argument der Minderheitenstatus ohnehin nicht in Frage gestellt. Sogar Libertären wäre die Frage zumindest an und für sich gleichgültig. Aber auch aus einer Sozialstaatsausbau fordernden Perspektive ist wohl 360

Luhmann 1965, 199 f.; Scharpf 1975, 89. So formuliert es Scharpf 1975, 92 am Schluss seiner eigenen Demokratietheorie. 362 Scharpf 1975, 91. 363 Pascal 1669. 364 Sen 2002, 276. Sens Beispiel lässt freilich die Frage offen, welches „Rechts“-verhältnis des Armen zu jenem zwischen den Reichen aufgeteilten Stück Kuchen besteht: Handelt es sich um unmittelbares Eigentum oder um einen Anspruch, also juristisch formuliert um ein sachenrechtliches oder ein schuldrechtliches Verhältnis. Ausgerechnet ein sachenrechtliches würde hier egalisierend wirken. 365 Die Zahl der Empfänger von „laufender Hilfe zum Lebensunterhalt“ (HLU) stieg in der Bundesrepublik Deutschland von 1,3% der damaligen Bevölkerung Jahre 1963 auf 4,9% der damaligen Bevölkerung im Jahre 1993 (Quelle: eigene Berechnung auf Grundlage absoluter Zahlen des Statistischen Bundesamtes). 361

436

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

kaum von einer verdeckten Bevölkerungsmehrheit der Bedürftigen auszugehen. Vor allem entspricht dies nicht der eigenen Einschätzung der Bevölkerungsmehrheit.366 Die Selbstverleugnung der eigenen Not veranschaulicht indes dramatisch, wie erfolgreich in demokratisch und staatlich verfassten Gesellschaften das Gefangenendilemma überwunden wird: Potentiell an Defektion interessierte Gruppen mögen sich diese Abweichung gar nicht mehr eingestehen. Die ist sicherlich nicht nur auf demokratische Staatsform, sondern auf Jahrhunderte wirkende Verstaatlichung von Gesellschaft zurückzuführen, die ein entsprechendes Ethos des „Rationalen“ entstehen lässt. Dies ist vom allgemeinen protestantischen Leistungsethos nicht zu trennen, sondern vielmehr dessen Spielart. Materielle Bedürftigkeit ist in der „OECD-Welt“ ein Problem des Minderheitenschutzes. Tatsächlich kann sich in bestimmten Zusammenhängen der Standpunkt des so genannten „Pareto-Liberalen“ als unmöglich herausstellen, also desjenigen, der seinen Nutzen maximiert, ohne die übrigen schlechter zu stellen.367 Mehrheitsgestütztes Entscheiden bringt aber nur theoretisch zumindest dem Partikularinteresse der Mehrheit dienende Erscheinungen hervor. Die sich einschleichende Suboptimalität ruft ebenso wie die staatliche Verpflichtung gegenüber der Allgemeinheit, also auch der Minderheit, immer weitere Staatsintervention hervor: Somit lässt als Mehrheitsprinzip verstandene Demokratie Staat wachsen. Möglicherweise wird auch der Problemzyklus des Staates, dessen Eigenart darin besteht, dass staatliche Problemlösung je neue Probleme schafft, wie sie nur noch der Staat lösen kann, er also eine Art irreversibler Problemkonversion vornimmt, unter den Bedingungen moderner Demokratie durch die Neigung zur Zyklizität verschärft. Akzeptanz des Mehrheitsprinzips und Unausweichlichkeit von Zyklen korrelieren offensichtlich miteinander.368 Benachteiligung von Minderheiten ist unter den Bedingungen moderner parlamentarischer Demokratien regelmäßig Folge von Einigungen konkurrierender institutionalisierter und vertretener Interessen zu Lasten Dritter nicht (hinreichend) 366 Die Selbsteinschätzung mit den heute gängigen Untersuchungsmethoden ist dabei insofern besonders subtil, als sie nicht den Personen eines repräsentativen Stichprobenraums konfrontativ die Frage stellt, wie sie sich selbst einschätzt, sondern vielmehr die Definition des notwendigen Lebensstandards zum Gegenstand der Befragung erhebt: Anhand einer Liste geben die befragten Personen an, ob bestimmte Güter und Aktivitäten ihrer Meinung nach zum Existenzminimum zu zählen sind, für Großbritannien sind als Pioniere Pantatzis/Gordon/Levitas 2006 zu nennen. Auf diese Weise lässt sich mit dem Mittel des Mehrheitsprinzips vergleichsweise objektiviert ermitteln, ob tatsächlich eine Minderheit bedürftig ist, denn zumindest der ausschlaggebende Teil wird selbst danach gefragt, wie er sich sehen möchte. Zwar hebt dies nicht die menschliche Neigung auf, sich nicht zu einer Gruppe zählen zu wollen, die bedürftig ist, aber es zwingt die Befragten zumindest sich mit ihrer Antwort eingehender zu beschäftigen, als ein momenthafter Reflex ermöglicht. 367 Sen 2002, 381. 368 Buchanan 1994a und ders. 1994b.

A. Modifikation von Zwangsgewalt

437

institutionalisierter und vertretener Interessen:369 Locus classicus sind hierfür Erwerbslose, aber unter diese Gruppe fallen etwa auch Familien mit Kindern. Aufgabe des Staates ist hier, Ausgleich zu schaffen, was einmal mehr zeigt, dass es nicht der Rechtsstaat, sondern der Staat allgemein durch seine ureigenste Definition als übergeordneter Dritter ist, der in Gegensatz zum Mehrheitsprinzip geraten kann. Auch verdeutlicht dieses Kompensationsbedürfnis deutlich, dass bereits Staatlichkeit als solcher über die Anlage, sich zum Sozialstaat zu entwickeln, hinaus sogar diejenige, zum Wohlfahrtstaat zu mutieren, immanent ist. Freilich wählt in den meisten Zusammenhängen staatlich verfasster Gesellschaften die Mehrheit zumindest nicht langfristig ihren optimalen Nutzen, wenn dies zu Lasten der Minderheit geschieht, vielmehr stellen sich dann schleichend Nash-Gleichgewichte ein.370 Die Fragwürdigkeit kurzfristiger Nutzenmaximierung des Stärkeren auch hinsichtlich dessen eigenen langfristigem Nutzen ist von Menschen zu allen Zeiten intuitiv bemerkt worden.371 Eine relativ genau umrissene Ahnung dieser Abhängigkeit aller von allen als Gesetz fortschreitender Rationalisierung bezeugt bereits das Werk Adam Smiths, namentlich in seiner „theory of moral senitments“.372 Um diese schleichende Entwicklung bewusst zu machen, bedarf es einer öffentlichen Meinung bzw. der Meinungsfreiheit überhaupt. Die Demokratie bietet, anders als Schumpeter behauptet, insofern durchaus die Chance rationaler Entscheidungsfindung durch das Mehrheitsprinzip. Die Kompliziertheit und Aufwendigkeit, einen solchen Diskurs zu installieren, erfordert wiederum zunehmend den Staat. Prominenz und Relevanz des Problems verdeutlicht nicht zuletzt die Tatsache, dass Sen der Gemeinwohlermittlung, die er in der Form von „aggregative judgements“ am ehesten für realisierbar hält, im Jahre 1998 seinen Vortrag anlässlich der Verleihung des Nobelpreises gewidmet hat. Die „social-choice“-Theorie sieht in Mehrheitsprinzip und Meinungsfreiheit die zentralen Garanten, suboptimale Zustände zu vermeiden. Paradigma Sens ist die von ihm beobachtbare Korrelation von Demokratie und Meinungsfreiheit auf der einen Seite und der Abwesenheit von Hungersnöten auf der anderen Seite.373 Offen ist freilich, ob sich auf nationaler Ebene im existentiell abgesicherten Modus moderner Sozialstaatlichkeit möglicherweise innergesellschaftlich schleichend einstellt, was international zunehmend als Realität anerkannt wird: Die so genannten suplus-Gruppen. Das bereits erwähnte Problem der „Zwei-Drittel-Gesellschaft“ fällt ebenfalls in diesen Zusammenhang. Das Schwinden von Gemein369

Korte/Fröhlich 2004, 175 und 181. Korte/Fröhlich 2004, 181. 371 Sen 2002, 79 führt als Beispiel den Brand Roms unter Kaiser Nero an. Tatsächlich stellt bereits Tacitus das Verhalten des Princeps während des Brandes als pathologisch dar: „pervaserat rumor ipso tempore flagrantis urbis inisse eum domesticam scaenam et cecinisse Troianum excidium.“, Tac. Ann. 15, 39. 372 Sen 2004, 22 und 50. 373 Cf. Erster Teil C. II. 2. c). 370

438

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

wohl als Erkenntniskategorie im zunehmend sozialwissenschaftlich informierten Diskurs kennzeichnet diese Entwicklung auf erkenntnistheoretischer wie erkenntnispraktischer Ebene.374 Besonders prekär wird die Lage der diskriminierten Minderheit bei gleich bleibender Größe des zu Verteilenden.375 In der gesellschaftlichen und politischen Praxis dürften jedoch auch hier regelmäßig diskrete Nash-Gleichgewichte vorliegen, da es nahezu immer Wachstumsmöglichkeiten, zumindest aber Freiheitszunahmen gibt, die bei Ausschließung von Gruppen auch für den Rest nicht erschlossen werden können. Es beschreibt geradezu die ratio der auf fortschreitender funktionaler Differenzierung beruhenden Modernisierungs- und Fortschrittsprozesse, eine zunehmende Zahl von Individuen in Wirtschafts- und Produktionskreisläufe einzubinden, aber auch politisch und kulturell partizipieren zu lassen. Das entscheidende politische Problem besteht darin, dass derartige Koalitionsbildungen auf Kosten eines Dritten schwer vorhersehbar sind: Sowohl Starker und Schwacher gegenüber einem schwachen Dritten als auch zwei Schwache gegenüber einem starken Dritten können wie in den anderen sieben Konstellationen, die sich allein spieltheoretisch figurieren lassen, beispielsweise stabile Koalitionen bilden.376 Der umgekehrte Fall, dass eine demokratische Regierung eine Minderheit auf Kosten der Mehrheit fördert, ist durch die Informationsasymmetrie zwischen Regierung und Wählern durchaus gegeben.377 Dies gleicht sich in praxi jedoch durch die sektorale Atomisierung des Elektorates in Minderheiten aus: Die Mitglieder der ausgebeuteten Mehrheit gehören in einem anderen Zusammenhang ein jeder ebenfalls einer ausbeutenden Minderheit an.378 Das ist der Minderheitenschutz, den die politische Klugheit gewährt. Darüber hinaus qualifiziert sich Demokratie gegenüber Mehrheitsherrschaft aber nur, wenn sie Entscheidungen herbeiführt, die möglichst mit der Minderheit einvernehmlich sind.379 Die Demokratien westlichen Typs bestätigen diese theoretische Annahme zumindest in zeitgeschichtlicher Gesamtschau nur eingeschränkt: Politische Systeme mit Verhältniswahlrecht führt zumindest in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts über Zeiträume mehrerer Jahrzehnte betrachtet in etlichen kontinentaleuropäischen Demokratien zur andauernden Regierungsbeteiligung kleiner Parteien, die sich ihrer Eigenart nach besonders herausragend durch Klientelismus auszeichneten. Dieses Problem völlig legaler, öffentlicher und mithin weithin als legitim erach374 Beispiele grundsätzlicher Kritik sind Popper l992 (II), 5 ff.; Topitsch 1969, 121 ff. und 142 ff. und ders. 1982. 375 Sen 2002, 331. 376 Poundstone 1993, 63. 377 Downs 1974, 120. 378 Downs 1974, 122. Das Argument als solches ist alt und findet sich etwa bereits bei Bäumlin 1954, 20. 379 Isensee 1988, § 57, 94.

A. Modifikation von Zwangsgewalt

439

teter systembedingt auf Dauer gestellter Minderheitenherrschaft ist wiederum vom Problem des demokratischen Elitismus zu trennen, der als gleichsam soziopolitisches Phänomen zum wahlökonomischen Problem hinzutritt. Die Minderheit sieht ein Protagonist sozialer Demokratie wie Hermann Heller gar als entscheidend für die Existenz eines Staates an, wobei er mit seiner Feststellung „mit bewusster Aktivität an der Erhaltung und Gestaltung des Staates teilnimmt.“ Denn es sei stets eine Minderheit, die politisch aktiv sei. Die Kategorie von elitären und unterpriviligierten Minderheiten durch diejenige von aktiven und passiven abzulösen ersetzt lediglich Begriffe aber nicht den Inhalt, was im Ergebnis die Theorie politischer Konflikte als Elitenkämpfe bestätigt.380 Die magna charta von Minderheiten sind im sprichwörtlichen Sinne die individuellen Freiheitsrechte. Selbst im Lande der Großen Revolution räumt noch 1820 Benjamin Constant der persönlichen Freiheit den Vorrang vor der als politische Freiheit erachteten Freiheit des Kollektivs ein „und stellt[.] damit den gesetzlichen Schutz des Einzelnen in seinen privaten Genüssen höher als die Teilung der gesellschaftlichen Macht unter alle Bürger eines Vaterlandes.“ 381 Rechtsstaatlichkeit ist jedoch nicht nur Garant wirksamen Minderheitenschutzes, sondern auch der Demokratie. Freilich beeinflusst Minderheitenschutz das generellabstrakte Seinsprinzip moderner Staatlichkeit. Überbordender Minderheitenschutz bedroht nicht nur die Geltung von Demokratie und bürgerlicher Gleichheit, sondern führt in dem Maße, in dem die Effizienz des Staates als Rationalisierungsmodus sich als Mittel von Minderheitenschutz bewährt, zu Staatsausdehnung. Denn erhöhter Aufwand staatlicher Ressourcen lässt den Staat im apparativen Sinne ebenso zunehmen, wie die mit Minderheitenschutz zwangsläufig einhergehende erhöhte Regelungsdichte immer auch schon eine in die Gesellschaft weiter vordringende Regelungstiefe mit sich bringt. Im ganz konkreten Sinne bedeutet dies staatliche Verteilungsunterwerfung zusätzlicher gesellschaftlicher Ressourcen, wenn der Minderheitenschutz zu immer neuen staatlichen Garantien führt. Je mehr jemand spricht, desto mehr verstrickt er sich: Je eingehender sich der Staat äußert, desto mehr verpflichtet er sich. Dies führt nicht nur zur Steuerung und Regulierung, sondern auch zu staatlichem Einnahmedruck. Minderheitenschutz stellt hierfür ein drastisches Beispiel dar. Das Dilemma besteht jedoch darin, dass gerade Minderheitenschutz durch seine Integrationsfunktion gemeinwohlförderliches und gesamtnutzenoptimierendes Verhalten von Minderheiten bewirkt. Minderheitenschutz ist freilich niemals konsequent möglich, da sich bei nahezu jeder Form kollektiv relevanten Handelns Interessengegensätze innerhalb des Kreises der Betroffenen einstellen. Dies kann im Bereich der allgemeinen

380 381

Heller 1983, 246. Isensee 1968, 54.

440

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

Daseinsvorsorge dazu führen, einer Minderheit die zusätzlichen Lasten einer für die Minderheit suboptimalen Kollektivgütergewährleistung aufzuerlegen, wenn die Minderheit gleichzustellen, eine solche Gewährleistung ansonsten verhindert.382 Davon zu trennen ist die Frage, ob dies auch dann zumutbar ist, wenn die Abstinenz einer Minderheit lediglich dazu führt, staatliche gegenüber privatwirtschaftlicher Kollektivgüterbereitstellung suboptimal werden zu lassen. Die Minderheit auch in diesem Falle nicht zu schützen dürfte „nec nostri saeculi“ sein.383 Insbesondere wenn unmittelbar wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen betroffen ist, obsiegt Rechtsstaatlichkeit über Demokratie. Darin zeigt sich einmal mehr, dass (staatliche) Zwangsgewalt in der Gesellschaft der Gegenwart rein instrumentell legitimiert ist. Zwang darf nur der Freiheit dienen. Die Idee, kollektive Zwangsgewalt „aus dem Prinzip der subjektiven Freiheit zu legitimieren“, geht auf Hegel zurück: Er definierte Freiheit als Gehorsam gegen Gesetze und deren Institutionen: „Indem er [sc.: der Staat] kein Mechanismus sondern das vernünftige Leben der selbstbewussten Freiheit, das System der sittlichen Welt ist, so ist die Gesinnung, so dann das Bewusstsein derselben in Grundsätzen ein wesentliches Moment im wirklichen Staat.“ 384 Das Problem der Minderheit stellt sich jedoch nicht nur als Problem politischer Entscheidungen, wie staatserfordernde Kollektivgüter zu gewährleisten sind. Untrennbar verbunden ist damit auch immer die Frage, was zu solchen Gütern überhaupt zu zählen ist und mithin die Frage nach der Definition dessen, was traditionell als Gemeinwohl, common good oder commonwealth bezeichnet wird. Demnach definiert sich das Gemeinwohl als aggregierter Mehrheitswille.385 Daraus ergeben sich zum einen inhaltliche und sachliche Probleme, die im hiesigen Zusammenhang als Problem von Wahlen noch abzuhandeln sein werden. Zum anderen ist aber überhaupt ein solches Verfahren, Gemeinwohl zu definieren, nach den Maßstäben von individueller Freiheit und Rechtsstaatlichkeit umstritten. Der Konflikt scheint sich überwiegend dahingehend aufzulösen, dass Kollektivgüter nicht nur als Folge individueller grundrechtlicher Ansprüche isoliert gegenüber staatlicher originärer Gewährleistung solcher Güter betrachtet werden, sondern zunehmend davon ausgegangen wird, individuelle Grundrechte auf Kollektivgüter umfassten nur die individuelle Einforderung prinzipiell vom Staat originär garantierter, nicht aber eingelöster Gewährleistung von Kollektivgütern. Das Problem einer kontroversen Definition, was denn staatlich originär gewährleis382

Isensee 1968, 309 mit Quellenangaben einschlägiger Judikate. So deduziert Isensee bereits 1968, 308 f. aus der Rechtsordnung, dass Wirtschaftlichkeit eben nur Form, aber niemals Zweck staatlichen Handelns sein dürfe. Individualschutz vor übermäßigen Belastungen im Rahmen öffentlicher Daseinsvorsorge gebieten freilich Grundprinzipien des Rechtsstaates und nicht des Subsidiärstaates, Isensee 1968, 310 f. 384 Hegel Grundlinien der Philosophie des Rechts § 270 § 227. Cf. Isensee 1999, 57. 385 Anderheiden 2004, 116. 383

A. Modifikation von Zwangsgewalt

441

tete Kollektivgüter seien, ist damit freilich nicht aufgehoben. In den Ländern mit Verfassungsrechtsprechung, wie der Bundesrepublik Deutschland, geschieht dies durch Ableitung aus der Verfassung, wobei Aussagen, die sich aus dem Rechtssystem vermeintlich oder tatsächlich ableiten lassen, getroffen werden, letztlich aber auch axiomatisch von einem „common sense“ ausgegangen wird: Fluglärm und ansteckende nicht tödliche Krankheiten gelten dann als kollektive Übel, ihre Abwesenheit als kollektives Gut. Mag dieses Beispiel nachvollziehbar sein, so gilt dies für deren Abwesenheit nur prima vista. Mit dieser Begründung tut sich englisches Denken schwerer, denn das Grundrecht des einen ist die Bevormundung der anderen. Mag dieses prinzipielle Bedenken drohenden Paternalismus bei Fluglärm noch überwindbar sein, so ist dies bei ansteckenden Krankheiten schon nicht mehr so eindeutig zu entscheiden: Medizinische Moden, wie sich gegenüber ansteckenden Krankheiten zu verhalten sei, haben zunehmend kurztaktiger Konjunktur,386 aber sogar jeweils aktueller Sachverstand wird zunehmend polyphoner. Auch wenn Staatshandeln faktisch gezielt zu Lasten einzelner Gruppen, insbesondere von Minderheiten erfolgen kann, so stellt insbesondere der Steuerstaat in der Demokratie ein entscheidendes Bollwerk gegen die einseitige Ausbeutung von Minderheiten dar. Zwar ist die Auswahl der Anknüpfungspunkte unmittelbar vom rechtsstaatlichen Gleichheitsprinzip abhängig. Freilich bleibt umstritten, ob andere Abgabeformen, also namentlich Gebühren, den Minderheitenschutz nicht zwangsläufig durchlöchern.387 Historisch betrachtet sind es weniger die Einkommensteuersätze als vielmehr die Steuerarten, die Standesprivilegien unter den Bedingungen des modernen Staates fortschreiben. Fortschritt ist Fortschritt in der Gleichheit der Bürger. Breite und Gleichmäßigkeit von Abgaben sind diejenigen Gerechtigkeitskriterien, an denen noch bis weit in das 20. Jahrhundert hinein sozialer Forstschritt gemessen wird.388 Die Zurückdrängung und Reform des Steuerstaates birgt daher das Risiko neuständischer sozialer Immobilität. Im Hinblick darauf, Innovations- und Wachstumsmöglichkeiten zu erschließen, würde dies retardierend wirken. Die Minderheit wird nach klassischer Rousseauscher politischer Theorie mit der Begründung verpflichtet, den Mehrheitsentscheid anzuerkennen, dass sie einen unbeachtlichen Irrtum vertreten habe. Diese Begründung führt zu eigenartigen und sonderbaren Verbindungen. Das angelsächsische Prinzip des „The winner takes it all“ scheint dies am konsequentesten zu sanktionieren: Stimmen der Minderheit haben keinerlei Erfolgswert. Freilich ist der volonté générale Rousseaus die Mehrheit, die volonté des tous, ebenso verdächtig und tatsächlich sind

386 387 388

„Früher mit Pampe gesund gepflegt“, FAZ vom 9. April 2001, 4. Dies bestreitend Schmehl 2004, 82. Ullmann 2005, 28.

442

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

deren Einzelstimmen ja auch nicht a priori minder irrtumsanfällig.389 Soll nun nicht die imaginäre volonté générale das alles rechtfertigende Herrschaftsprinzip werden, so ist nach anderen Rechtfertigungsmodellen zu suchen, die die Minderheit verpflichten, den Mehrheitswillen als geltend anzuerkennen. Die Idee der modernen Demokratie ist die individuelle Emanzipation. Demokratie ist ein Prozess der Freiheit: Daher ist sie in vielsprachigen und Vielvölkerstaaten Demokratie entweder überhaupt nicht oder nur als delegierte lokale Basisdemokratie sinnvoll.390 Beispiele für zweifelsohne zumindest effiziente, nicht demokratische Steuerung sind die KuK-Monarchie und die jugoslawische Diktatur Titos, für delegierte lokale Basisdemokratie bilden die Schweiz und defizitär funktionierend Kanada Beispiele. Doch als beständiger haben sich diejenigen Gemeinwesen herausgestellt, bei denen die „Zusammenschweißung der Nationalitäten“ nicht Ergebnis planender Handlung, sondern geradezu „unbeabsichtigte Nebenwirkung“ gewesen ist. Staatlichkeit benötigt, wenn sie ein polyethnisches, polyglottes oder polynationales Volk verfassen soll vor- oder wenigstens außerstaatlicher, also historischer oder kultureller Interpretationsmomente.391 E contrario bieten die Jugoslawienkriege der Jahre 1991 bis 1999 ein eindrucksvolles Beispiel für das Scheitern moderner territorialstaatlicher Staaten in polyglotten und polyethnischen Gemeinwesen. Dass vor solchem Scheitern auch demokratische Staatsform nicht zwangsläufig schützt, zeigt das Beispiel Irlands. Hinzutritt, dass eine Minderheit unter den Bedingungen des modernen Territorialstaates ökonomisch formuliert ungleich höhere Opportunitätskosten aufwenden muss, um politisch vertreten zu werden. Es muss eine vertretende Kraft fähig sein, hinreichend Wähler von sich zu überzeugen. Der Markt ermöglicht demgegenüber unmittelbare Vertretung,392 denn der Kaufakt ist unmittelbar „politisch“. In der Wirklichkeit einer hochgradig differenzierten Weltwirtchaft relativieren sich diese Vorteile jedoch. Nicht zuletzt das Problem der „Vertriebskette“ erschwert Marktneulingen den Zutritt, ebenso wie das Problem des Startkapitals, dessen Vergabe regelmäßig durch privatwirtschaftliche oder staatliche Kreditgeber institutionell vermachtet ist. Wenn daher behauptet wird, gegenüber der Politik sei es „relativ einfach zu überleben“, so reflektiert dies nicht die Wirklichkeit.393 Der sich der Politik annähernde Schwierigkeitsgrad manifestiert sich nicht zuletzt in der wachsenden, teilweise auch unmittelbaren Einflussnahme der Politik in die Wirschaft und umgekehrt. Das Problem der Minderheit verschärft 389

Rousseau, Du contrat social, Stuttgart 1958, 45–48; Fetscher 1968, 168 ff. Zur KuK Monarchie sind etwa die Darstellungen von Mises’ 1983, 115 ff. und Schieders 1952, 165; 168; 174 f. instruktiv. Demokratietheoretisch wird das Problem von Isensee 1999, 54 betrachtet. 391 Schieder 1952, 173. 392 Gary Becker 1993, 38. 393 Dies erklärt sich vornehmlich durch die hohen Transaktionskosten, Weingast 1989, 693. 390

A. Modifikation von Zwangsgewalt

443

sich im einen wie im anderen System durch Kartellierungsneigung einer funktional differenzierten und in kollektiven Abhängigkeiten vernetzten Welt. a) Konkurrenz zweier Rationalisierungsfunktionen: Das Spannungsfeld von demokratischer Herrschaft und individueller Freiheit Eine rationale Entscheidung ist an das Paradoxon gebunden, dass die Entscheidungsträger frei sein müssen.394 Demokratie kann nur bestehen, wenn die beherrschten Individuen bei der Wahl der Herrschenden frei und somit nach der Theorie der modernen Demokratie selbst souverän sind. Rationale Entscheidung ist also aufgrund ihrer Voraussetzung an prozedurale Freiheit gebunden: Prozedurale Freiheit führt aber, und hierin besteht das Paradoxon, nicht zwingend zu Ergebnissen, die die Freiheit der Entscheidungsträger erhöhen.395 Eine ergebnisorientierte Entscheidung ist hingegen nicht unbedingt eine solche Entscheidung, wie sie diejenigen, deren Freiheit sich vermehrt, träfen, könnten sie selbst frei entscheiden. Das Spannungsverhältnis lässt sich anscheinend nur bewältigen, wenn bestimmte Bereiche der Disposition durch die Mehrheit entzogen und individueller Entscheidung überlassen bleiben.396 Die im Zusammenhang dieser Untersuchung erhebliche Frage besteht darin, inwieweit solche prozedurale Freiheit dem Individuum zu gewähren oder Entscheidungen durch die Mehrheit zu ermitteln den Gesamtnutzen optimiert.397 Dies konkretisiert sich zu einer Frage praktischer Politik: Welche Bereiche sollen dem einzelnen, welche staatlicher demokratisch legitimierter Herrschaft überantwortet werden?398 Von der Beantwortung dieser Frage hängt aber ab, ob nur solche Kollektivgüter, die unmittelbar durch individuelle Inanspruchnahme gewährt werden können, auch gewährt werden sollen oder eben auch solche 394

Sen 2002, 50. Sen 2002, 382. 396 Einzelne Politkfelder aus der demokratischen Entscheidung herauszunehmen ist auch Quintessenz der Studie von Bredt 2006, die zumindest die deutsche rezente Forschung damit weitgehend widerspiegelt. Wobei im Falle der „unabhängigen“ Institutionen diese Exemption dem Demokratieprinzip folgt, um Gesamtnutzen zu maximieren, und nicht unmittelbar aus individueller Freiheit ausfließt. Diese ist vielmehr nur dann Begründung, wenn sie dem Gesamtnutzen dient. 397 Sen/Williams 1982; Perelli-Minetti 1977, 387–393; Grout 1980; Sen 2002, 393 und 395. 398 Die streng genommen von der Frage nach der Legitimität „unabhängiger“ Institutionen zu trennen ist, weil sie die Frage nach dem staatlichen Zugriff als solchem stellt. Da jedoch „unabhängige“ Institutionen vornehmlich dort zu finden sind, wo eben gerade individuelle Rechte eine Entscheidung veranlassen, ist diese Trennung in der Praxis nicht immer zu ziehen. Dies gilt namentlich für Verfassungsgerichtsbarkeit, Kartellund Regulierungswesen. Entstprechend ist auch ein weltweiter Trend zu erkennen, dass nichtrichterliche „unabhängige“ Instutionen strukturell an Gerichtsverfahren angelehnt prozessieren: Die Entscheidung, was politisch sein darf, ist bereits als solche immer politisch. 395

444

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

gewährt werden können, die einer gegebenenfalls auch erzwungenen oder zumindest konventionalen Kooperation der unterlegenen Minderheit bedürfen. Ein praktisches Problem liegt freilich darin begründet, dass auch Kollektivgüter, die ursprünglich ausschließlich von Freiwilligen getragen werden, diesen sehr schnell Vorteile verschaffen, die die Freiheit der Nichtteilnehmenden gefährden. Die bestmögliche Antwort auf diese Frage ist vermutlich nur aus dem kulturellen Zusammenhang der entsprechenden Nutzergruppe zu erlangen, denn individuelle Freiheit hängt in ihrer individuellen Bewertung und mithin in ihrem individuellen Freiheitsgrad von den individuellen Präferenzen ab, die maßgeblich wertegeleitet sind.399 Die freiheitsermöglichende Aufgabe des Staates läge dann darin, möglichst vielen Individuen möglichst unvorgegebene Entscheidungsmöglichkeiten zu eröffnen. Daher kann der demokratische Grundsatz der Gleichheit auch nicht auf alle Felder der Demokratie übertragen werden. Denn die moderne Demokratie ist ein institutioneller Zusammenhang, dessen raison d’être in der Emanzipation des Individuums und der Gewährung der erforderlichen individuellen Freiheit besteht. Behindert wird durch dysfunktionale Anwendung und Ausdehnung des Mehrheitsprinzips aber nicht nur die Demokratie selbst. Vielmehr verlieren die entsprechenden wissenschaftlichen Zusammenhänge insgesamt an Rationalität und Effizienz.400 Dafür werden sie freilich (relativ) entkollektiviert und reindividualisiert. Demokratie setzt einerseits Pluralismus der Interessen voraus, andererseits schafft jedoch das Erfordernis von deren Organisation und noch grundsätzlicher deren Organisierbarkeit Ungleichheit. Interessen maximal umfassende Auswahlmöglichkeit bei Wahlen wird in der Massendemokratie des modernen Territorialstaates und der funktional-differenzierten Gesellschaft zum entscheidenden Kriterium von Chancengleichheit: 401 In der Praxis wird diese Herausforderung jedoch vielfach nur bestanden werden können, wenn innerparteiliche Demokratien gestärkt werden können. b) Die existenzielle Systeminkonsequenz: Erforderlichwerden von Verfassungsschutz Das tÝloò der Demokratie kann in das Paradoxon der Selbstauflösung gelangen. Doch scheint das Problem, dass die demokratische Staatsform als solche durch den Souverän abgewählt wird, weithin auf Gesellschaften ohne nachhaltige demokratische Tradition beschränkt zu sein. Aber das demokratische Prinzip erforderte in letzter Konsequenz auch die Gegner der Demokratie zur Wahl zuzu399 400 401

Zum Unterschied zwischen individueller Freiheit und Präferenz: Sen 2002, 514 f. Schelsky 1973 (a), 73. Schelsky 1973 (a), 50; Scharpf 1975, 50.

A. Modifikation von Zwangsgewalt

445

lassen und ihnen mithin auch alle anderen demokratischen Rechte politischer Betätigung einzuräumen. Tatsächlich beschreibt es auch ein eindrucksvolles Zeugnis der Souveränität, dass in nahezu allen Demokratien westlicher Provenienz Gegner dieser Staatsverfassungsform zu Wahlen zugelassen werden.402 Bereits Bismarck weiß um jenes Paradoxon moderner Demokratie, das bis in die Gegenwart ihre selbstzerstörerische Anlage beschreibt, und nutzt es für seine demokratieverhindernde Staatspolitik: Er droht den Liberalen mit der Gewalt seiner Schönhauser Bauern.403 Das Problem des Verfassungsschutzes der Demokratie ist dabei so alt wie die Demokratie selbst.404 Die erste deutsche Demokratie sieht sich, nachdem Außenminister Walther Rathenau ermordet worden ist, genötigt, ein so genanntes „Republikschutzgesetz“ zu verabschieden, das freilich relativ wirkungslos verrauscht, da es nicht über einen eigens eingerichteten Apparat angewandt werden kann, sondern nur über die regulären Melde- und Polizeibehörden.405 Offensichtlich bedarf es eines spezifischen Verfassungsschutzes, während bei anderen Staatsformen Herrschafts- und Systemerhaltungsfunktion integral sind. Sofern ihre Gegner ohnehin nicht in der Mehrheit sind, besteht für die Gegner der Demokratie die entscheidende Existenzfrage darin, ob die Demokraten den Staat, der seine demokratische Verfassung auch „wehrhaft“ bewahrt, weiterhin als unabhängigen und arbiträren Dritten ansehen, also ihm unabhängig von der Staatsform dienen. Aber auch umgekehrt wird von den Gegnern der Demokratie Loyalität gegenüber dieser Staatsform oftmals von der Loyalität gegenüber dem Staat als solchem getrennt. Der Staat selbst nämlich als menschliche Organisationsform wird in den westlichen Demokratien der Gegenwart von nahezu allen Gegnern der Demokratie als unverzichtbar erachtet. Dieses rezeptive Auseinanderfallen von Staat und Demokratie stellt jedoch nicht nur eine Gefahr für die Demokratie dar, wofür das Schicksal der Weimarer Republik Archetypus ist. Staatsloyalität oder Staatsakzeptanz ermöglichen der demokratischen Politik, den Staat einmal mehr als Mittel der Integration zu nutzen oder doch zumindest der Widerlegung antidemokratischer Politik zu dienen. Historisch ist es gerade die in Kontinentaleuropa tief inkulturierte und zur unbezweifelten Selbstverständlichkeit gewordene arbiträre Funktion des Staates, die oftmals auch demokratieerhal402 In der Bundesrepublik Deutschland ist hierfür bekanntlich die abgestufte Trias von radikal, verfassungsfeindlich und verfassungswidrig ausschlaggebend. Diese Kategorisierungen sind den Betroffenen wiederum auch auf dem (Verwaltungs-)Rechtsweg widerspruchsfähig. 403 Dehio 1929, 279; Dehio 1931, 31. 404 Zumindest „kaum älter“ wie Bleicken 1984, 385 meint, der in diesem Zusammenhang auch allgemeiner von „Verfassungsdenken“ spricht, cf. Prolog I. 2. 405 Grünthaler 1995.

446

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

tend wirkt. Ein heteronomes Menschenbild zugrunde gelegt, ist der Demokratie freilich ihre Selbstauflösung gleichsam eingeschrieben.406 Eine nach den Maßstäben politischer Ethik zwangsläufig fragwürdige, aber aufgrund der historischen Erfahrung politischer Praxis sich eben auch zwangsläufig ergebende Frage ist diejenige, inwieweit verfassungsfeindliche Kräfte verfassungsstabilisierende Wirkung entfalten können. Es sind vornehmlich die Schicksale labiler Republiken der Zwischenkriegszeit, die hier zu Skepsis veranlassen. Dass exogene Systembedrohung systemendogene Eintracht schafft und dass Druck zusammenpresst, ist offensichtlich. Die Gefahr besteht freilich darin, dass diese systemendogene Eintracht als Solidarität der Demokraten vom Wähler als Abschotten gegenüber seinen an den Staat gerichteten Bedürfnissen aufgefasst werden oder eine solche Ignoranz sogar tatsächlich darstellen kann. Diesem Risiko steht die Chance gegenüber, dass sich die demokratischen Kräfte auf ihre systemtragende Verantwortung besinnen, Demokratie als pluralistische Staatsverfassung kompetitiv zu gestalten und den demokratischen Wettbewerb als Arbeitsteiligkeit demokratischer Kräfte zu begreifen, wenn es darum geht, auf die Bedürfnisse der Wähler einzugehen, die à la longue weder von systemtranszendierender noch von systemstabilisierender Eigenschaft sind, sondern eo ipso blinde Tatsachen darstellen. Die discordia concors demokratischen Wettbewerbs bezeichnet den wirksamsten Verfassungsschutz. Nach verfassungsschützenden Maßstäben erweist sich das Zweiparteiensystem spätestens um die Mitte des 20. Jahrhunderts als wirkungsvollstes Mittel hierzu. In Großbritannien wird nicht nur die ganz Europa überrollende Welle faschistischer und rassistischer Regime abgewendet, indem die zeitweise lokal durchaus erfolgreiche faschist party am Zweiparteiensystem scheitert. Ebenso hat im US-amerikanischen politischen System, das ebenfalls mehrheitsbildend angelegt ist, die in der Öffentlichkeit bisweilen zu ihrer Wählerzahl überproportional vertretene communist party niemals eine realistische Chance, staatliche politische Herrschaft zu erlangen. Das methodische Problem, diese historischen Tatsachen zu Erfahrungssätzen oder gar zu Wahrscheinlichkeitsaussagen umzuwandeln ist ein doppeltes: Zum einen ist das angelsächsische mehrheitsbildende Wahlrecht Teil einer über Jahrhunderte gewachsenen und seit über zweihundert Jahren funktionstüchtigen politischen Kultur zu bedenken, in deren Zusammenhang die relative Immunität gegenüber systemtranszendierenden Kräften zu begreifen ist. Zum anderen lässt sich der Anteil des Wahlrechtes an der selbstzerstörerischen Wirkung kontinentaleuropäischer Demokratien, die ihren Feinden erlagen, kontrafaktisch kaum nachweisen. Namentlich für die Weimarer Republik haben Friedrich Hermens und Helmut Unkelbach,407 der sich in den 1960er Jahren auf diesem Wege dafür stark macht, ein mehrheitsbildendes Wahlrecht in der Bundesrepublik Deutschland einzufüh406 407

Horkheimer, Gesammelte Schriften 1988–96, Bd. 6, 415. Hermens 1968; Unkelbach 1956.

A. Modifikation von Zwangsgewalt

447

ren, und Jürgen W. Falter, der sich sine ira et studio dem Wahlrechtsproblem erneut widmet,408 keine eindeutigen Ergebnisse zu Tage fördern können. Das punctum saliens liegt darin, dass ein relative Mehrheiten bildendes Wahlrecht gesellschaftliche Verfasstheit und politische Kultur selbst so nachhaltig beeinflusst, dass z. B. die Nationalsozialisten jenen Stimmenzuwachs möglicherweise gar nicht erst hätten erlangen können, den Hermens und Falter in der Weise analysieren, indem sie (wie es quantifizierendes Forschen fordert) das vorliegende Zahlenmaterial als nicht weiter quantifizierend untersuchbare Grundlage verwenden. Denn, wie unter anderem Downs gezeigt hat, ist Zuversicht ein entscheidendes Motiv der Wählerentscheidung.409 Wettbewerblichkeit und Marktförmigkeit bringen es mit sich, dass in die Wahlentscheidung Zukunftserwartungen und informationale Vergangenheitsverarbeitung einfließen, ja diese maßgeblich konstituieren.

IV. Formen von Mehrheitsherrschaft Formen eines Phänomens sind nicht immer trennscharf von seinen (ontologischen) Gründen zu unterscheiden. Im Folgenden werden nicht die zur Kategorie der Gründe gezählten raisons d’être betrachtet, auf denen Demokratie und Mehrheitsherrschaft aufbauen und vermittels derer sie sich legitimieren. Stattdessen werden als Formen diejenigen Modi operandi betrachtet, denen die konkrete (verfahrens-)technische Umsetzung von Mehrheitsherrschaft dient. Offensichtlich ist es jedoch die reine Möglichkeit des Regierungswechsels, die ausreicht, die staatliche Rationalisierungsleistung zu katalysieren. 1. Mehrheitsherrschaft und Demokratie II: Konkurrenzdemokratie oder Konkordanzdemokratie? Jede dieser beiden Formen von Demokratie setzt ein Mindestmaß an Konsens voraus, der sich nicht auf die Anerkennung der abstrakten Ordnung als solcher, sondern auch auf die Geltung der aus dieser Ordnung gemäß ihrer selbst hervorgehenden politischen Einzelentscheidungen bezieht. Oberhalb dieser Ebene, namentlich auf der Ebene der herrschaftslegitimierenden Ideen ist es jedoch gerade die Pluralität, die Demokratie zu einer discordia concors werden lässt.410 Diese Pluralität wird in ihrer praktizierten Form als Elitenpluralismus jedoch nur durch Wahlen gewährleistet. Denn diese sichern die Konkurrenz der Eliten um die Herrschaft verteilenden Wähler.411 Sicherer ist indes ein zentralisiertes, genau genommen ein dyopolistisches Elitenmodell, da die Wähler hier unmittel408 409 410 411

Falter 1991, 126 ff. Downs 1968, 262. Hättich 1967, 155. Scharpf 1975, 78.

448

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

baren Zugriff auf das gesamte Elitenpersonal nehmen können, wie sich in Zweiparteiensystemen des relative Mehrheiten bildenden Wahlrechts erweist.412 Einen solchen erkenntnistheoretischen Grenzfall bildet hierbei das Wahlrecht. Denn das relative Mehrheiten bildende Wahlrecht definiert ebenso gegenüber absoluten Mehrheiten bildendem wie gegenüber Verhältniswahlrecht a priori, was Mehrheit ist, und mithin, auf welche Gruppe von Herrschenden politische Entscheidungen gründen. Wer Mehrheit ist, wird in praxi bereits durch den Wahlakt selbst und nicht erst durch den Prozess der Politik entschieden. Diese Frage ist jedoch, gleich ob es sich um repräsentativ oder plebiszitär begründete Mehrheitsherrschaft handelt, von existentieller Relevanz. „Wahlen sind ein institutionelles Arrangement zur Erreichung politischer Entscheidungen, bei dem Individuen danach streben, durch absolut freien Wettbewerb um die Stimmen einer breiten Wählerschaft ein politisches Amt zu erhalten.“ 413

Wie bereits die Demokratietheorien von Schumpeter, Dahl, Downs und Becker zeigen,414 sind Folgen von Wahlen und faktische Beschaffenheit des gesamten politischen Systems von der Wahlrechtsfrage abhängig.415 Das Mehrheitswahlrecht personalisiert Konflikte, das Verhältniswahlrecht versachlicht sie. Entscheidungserheblich sind beim passiven Breitenwähler jedoch personelle Motive. Um Wahlen mithin zu Sachabstimmungen werden zu lassen, muss die öffentliche Meinung oder idealerweise die Politik selbst Identifikationen von Personen mit Inhalten befördern.416 Tatsächlich scheint sich nur über diesen Umweg Sachverstand unter den Bedingungen der modernen Massendemokratie zum Durchbruch bringen zu lassen. a) Wahlen als technisches Institut zur Umsetzung von Demokratie: Mehrheits- oder Verhältniswahlsystem? Wahlen sind das entscheidende Institut, das die moderne Demokratie von anderen Staatsformen unterscheidet.417 Neben Plebisziten sind sie eine der wenigen 412

Scharpf 1975, 46 und 76. In dieser Weise definiert Gary Becker 1993, 34 unter ausdrücklichem Bezug auf Schumpeters Demokratiedefinition Wahlen. 414 Dahl 2005, Downs 1968 und Gary Becker 1993. 415 Insbesondere Friedrich A. Hermens 1968 hat sich eingehend mit den möglichen Auswirkungen des Wahlrechts auf das politische System auseinandergesetzt; für die jüngere Forschung ist Falter 1991 einschlägig. Auffallend ist dabei, dass Falter zu möglichen politischen Auswirkungen des Wahlrechts nur sehr vorsichtig Stellung nimmt, Falter 1991, 126 ff.; zum Gesamtkomplex ausführlicher Jesse 1985 oder Hübner 1968, 95 ff. und 133. Zur Gleichsetzung von Demokratie und Verhältniswahl ist als klassisch auch Thoma 1929, 195 anzuführen; cf. ebenfalls zu dieser Frage: Ammermüller 1966, 4 ff.; auf Hermens’ Forderung, Mehrheitswahlrecht einzuführen, reagiert: Schäfer 1967, 139 f. 416 Scharpf 1975, 91. 417 In der rezenten Demokratietheorie wird regelmäßig Wahlen abzuhalten auch als entscheidendes Distinkt von funktionierenden und defekten Demokratien erachtet, Kai413

A. Modifikation von Zwangsgewalt

449

unmittelbaren Willensäußerungen des demokratischen Souveräns und aller Skepsis, wie sie zuletzt etwa unter einem rubrum wie demjenigen der Postdemokratie geäußert wird, wohl immer noch die wirkungsvollste. Dem Ideal, wie es etwa die deutsche Demokratietheorie staatsrechtlicher Provenienz verfolgt, zufolge geht in Wahlen der Volkswille unmittelbar in Staatswillen über.418 In der Praxis sind Wahlen jedoch weniger Funktionen positiver Willensäußerung als vielmehr nachträglicher Kontrolle.419 Hierdurch wird Demokratie, soweit sie auf Wahlen gründet, deutlich determiniert. Unter den, teilweise bis in die Moderne hinein anzutreffenden, alternativen Formen, Demokratie umzusetzen, sind basisdemokratische Grenzphänomene wie die Akklamation zu finden. „Der Hauptzweck von Wahlen in einer Demokratie ist die Auswahl einer Regierung.“, so lehrt die klassische Demokratietheorie zumal diejenige angelsächsische Provenienz.420 Doch bleibt fraglich, inwieweit eine solche scheinbar triviale Beschreibung des Hauptzwecks von Wahlen zutreffend ist: Zum einen bleibt die Frage offen, inwieweit Plebiszite nicht auch Wahlakte darstellen und zwar je nach konstitutionellen Rahmenbedingungen als Manifestation unmittelbarer Selbstregierung des Volkes. Zum anderen können auch einzelne Ämter durch Wahlen besetzt werden, die zwar als Ämter formell stets Teil der Exekutive sind, aber faktisch in der jeweiligen Verfassungsordnung auch andere Funktion haben können. Eines der wohl tragischsten Beispiele für eine um ideale Ausbalancierung aller politischen Kräfte bemühte Institution stellt das Amt des Reichspräsidenten in der Weimarer Republik dar.421 Wahlen sind also sehr viel allgemeiner als Institut demokratischer Steuerung von Staatstätigkeit zu begreifen. Sie vermögen aber unter bestimmten konstitutionellen Voraussetzungen die Gesamtnutzen maximierende Wirkung staatlichen Handelns aufzuheben. Wahlen haben darüber hinaus selbst bedürfnisweckende oder bedürfnislenkende Wirkung: Anders als Maximierungsfunktionen der unbelebten Natur verändert willentliche oder allgemeiner formuliert: volitive Maximierung Bedürfnisse. Daher sind bei Wahlhandlungen normative Wahltheorie und Wahlverhalten

litz 2004, 298: Hier werden also u. U. auch Herrschaftsformen, die sich nicht auf Wahlen stützen können, noch zu Demokratien gezählt. 418 Herzog 1971, 339 f. 419 Cf. Athen, was zeigt, dass dieser Modus der Bestellung von Trägern staatlicher Zwangsgewalt seiner Eigenart relativ unabhängig von historischen Umständen innewohnen muss: Diese Erkenntnis ist Inhalt einer ganzen Theorieschule geworden, die sich mit Schumpeter beginnend über Downs und Lipset zur ökonomieförmigen Theorie der Demokratie entwickelt hat. 420 Downs, 1968, 23. 421 Rudimentär hat sich diese Position im ebenfalls unmittelbar vom Volke gewählten Bundespräsidenten in Österreich erhalten, der zumindest formell als Oberkommandierender des Bundesheeres Inhaber eines exekutiven Amtes darstellt. Duverger, 1980, 126 kategorisiert Österreich wie auch Irland und Island daher als System parlamentarischer Praxis aber eben nicht als rein parlamentarische Praxis des Westminstertypus.

450

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

zu trennen.422 Vor allem Menüabhängigkeit und Wählerabhängigkeit, also Wahlverhalten oder Wahlberechtigung anderer, können Entscheidungen beeinflussen.423 Gerade unter den Bedingungen informationeller Unüberschaubarkeit des politischen Feldes haben Wahlen auch eine informatorische Funktion.424 Gegenstand der Wahl kann das Parlament oder auch die Exekutive direkt oder beides sein.425 Die Gegenstände von Wahlen sind in der Regel historisch und empirisch nicht abstrakt und normativ bestimmt worden. Je weiter Demoskopie und Wahlprognose voranschreiten, desto stärker beeinflussen sie selbst Wahlverhalten.426 Aber bereits originär wird Wahlverhalten durch das primäre soziale Umfeld beeinflusst.427 Wahlverhalten können, gleich unter welchem Bezugsrahmen auch immer durch das Ziel der Distinktion gegenüber anderen Personen motiviert werden. Aber auch Konventionen und andere kulturelle Artefakte können Wahlverhalten sogar gegen das eigene unmittelbare Interesse des Wählers bestimmen.428 Daher sind Wahlvorgänge und mithin auch politische Wahlen und Abstimmungen nicht durch andere Steuerungsformen ersetzbar. Im Falle demokratischer Legitimierung staatlicher Zwangsgewalt durch Wahlen bedeutet dies, dass Gemeinwohlkonkretisierung nicht nur vermittels Wahlen erfolgt, sondern unmittelbar vom Wahlvorgang selbst abhängt. Gemeinwohl wird also nicht durch die Wahl artikuliert, sondern erst erzeugt. Ob und inwieweit durch dieses Verfahren auch Gesamtnutzen optimiert wird, bleibt umstritten. Dieser gemeinwohlkonstituierende Charakter ist ein weiterer Grund, warum Wahlen in praxi nicht den Volkswillen in Staatswillen überführen, sondern anders, als die staatsrechtliche Theorie voraussetzt, erst durch die Wahl selbst die Willensbildung erfolgt. Wahlen haben daher nicht nur informierende, sondern auch konstituierende Wirkung.429 Wahlen sind zweifelsohne Herrschaftsbestellungen. Herrschaft an sich sind Wahlen freilich nur gegenüber der Minderheit und gegenüber jenen, die abgewählt werden. Diese Zwischenform von Steuerung, die Wahlen einnehmen, legt nahe, Wahlen als Steuerungsform sui generis anzusehen.

422

Sen 2002, 159. Sen 2002, 166–168. 424 Sen 2002, 170. 425 Herzog 1971, 264 ff. 426 Schon im Entstehen der Demoskopie war dieser Effekt bewusst und wurde von der Politik instrumentalisiert, Bäumlin 1954, 108. 427 Die Literatur hierzu ist längst unüberschaubar geworden: Einen internationalen Überblick mit Schwerpunkt auf deutschsprachiger rezenter Forschung bietet: Roth 1998, 54 ff. 428 Sen 2002, 167. 429 Hättich 1967, 113 f. 423

A. Modifikation von Zwangsgewalt

451

aa) Bedeutung von Wahlen für Demokratie Sind Mehrheitsprinzip und Demokratie nicht deckungsgleich, so erfährt Demokratie jedoch nicht nur durch das Ergebnis der Wahl, sondern bereits durch ihre Zugänglichkeit eine Einschränkung. Vielmehr ist Identität von Aktivbürgern und Normunterworfenen bislang aus keinem Gemeinwesen historisch überliefert.430 Gleichwohl gewährleistet der Demokratie begründende Grundsatz der Volkssouveränität, dass grundsätzlich alle Bürger Herrschaftsträger sind. Auch dies stellt einen nicht zu unterschätzenden Unterschied gegenüber nichtdemokratischen Herrschaftsformen dar. Aber der Zugang zu Wahlen ist nicht das einzige Kriterium von Demokratie, das praktisch nur in einer gegen unendlich laufenden Näherung zu verwirklichen ist:431 Als erstes, aber einziges Merkmal von insgesamt acht „definitional characteristics of polyarchy“, nennt Robert Dahl, nicht zuletzt von jenem hohen Maß an Empirie, wie sie für angelsächsisches Denken kennzeichnend und als Produkt einer alten Demokratie denkenswert ist: „1. every member of the organization performs the acts we assume to constitute an expression of preference among the scheduled alternatives, e. g., voting.“ In der Tat erweist sich die Wahlberechtigten immer wieder neu zur Wahl zu motivieren als das wahrscheinlich größte Problem fortgeschrittener Demokratien.432 Von ebenfalls acht Merkmalen demokratischer Regierungsform, die Anthony Downs aufzählt, ohne sich ersichtlich auf Dahl zu beziehen, betreffen fünf von acht Punkten unmittelbar Existenz und Bedingungen von Wahlen selbst. „1. Jeweils eine Partei (oder Koalition von Parteien) wird durch das Volk zur Ausübung der staatlichen Herrschaft gewählt. 2. Solche Wahlen werden in periodischen Zeitabständen abgehalten, deren Dauer die Partei, die an de Macht ist, nicht im Alleingang ändern kann. 3. Alle Erwachsenen, die dieser Gesellschaft ständig angehören, geistig gesund sind und die Gesetze des Landes befolgen, sind berechtigt, bei jeder solchen Wahl ihre Stimme abzugeben. 4. Jeder Wähler darf bei jeder Wahl eine und nur eine Stimme abgeben. [. . .]. 8. Bei jeder Wahl gibt es zwei oder mehrere Parteien, die um die Kontrolle des Regierungsapparates konkurrieren.“ 433 430 Bäumlin 1954, 13. Die Frage, wer als Träger des Wahlrechtes gilt, transzendiert ebenso das Recht, wie seine Definition solange noch Erweiterungspotentiale dieses Personenkreises bestehen, deren Aktualisierung nach den geschaffenen Maßstäben niemals demokratisch sein kann. 431 Dahl 2005, 73. 432 Außerdem sei die Gleichheit der Wahl entscheidend: „2. In tabulating these expressions (votes), the weight assigned to the choice is identical.“, Dahl 2005, 84. 433 Die drei übrigen sind Auflagen für die Parteien, die an der Wahl teilgenommen haben, bzw. an der Macht sind:

452

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

Auffallend ist, dass Eigenschaften, die nach beider wie nach verbreiteter Ansicht Demokratie konstituieren, von Dahl einer Ebene obrigkeitlicher Verpflichtungen zugeordnet und als Pflichten des Staates begriffen werden, während sie bei Downs ganz unmittelbar auf den Wahlakt gerichtet sind, wie er durch den Wähler im Augenblick der Entscheidung erfolgt, und sie als Bedingung des Wählers ansieht. Somit stellt Dahl auf den gleichen Zählwert der Stimmen ab, wenn er postuliert: „In tabulating these expressions (votes), the weight assigned to the choice of each individual is identical.“ Dies gründet nicht zuletzt darin, dass Dahl im eigentlichen Sinne nicht Demokratie, sondern Polyarchie anhand eines Merkmalskatalogs definieren will: Dabei unterscheidet er neben den beiden bereits erwähnten „definitional characteristic [. . .] during the voting period“ noch jene, die „during the pre-voting period“, „during the postvoting period“ und „during the interelection stage“ gegeben sein müssen.434 bb) Unmittelbare Rationalisierungswirkungen von Wahlen Kriterium rationalen Wählens ist das Nutzeneinkommen des Bürgers, das er aus staatlicher Tätigkeit erzielt und dessen Nettowert er für sich zu maximieren strebt, indem er das Parteidifferential ermittelt und danach seine Wahlentscheidung trifft.435 „5. Jede Partei (oder Koalition), die von der Mehrheit der Wähler unterstützt wird, ist berechtigt, die Regierungsgewalt bis zur nächsten Wahl zu übernehmen. 6. Die Parteien, die die Wahl verloren haben, versuchen niemals, die Siegerpartei (oder -parteien) mit Gewalt oder durch irgendein anderes ungesetzliches Mittel an der Amtsübernahme zu hindern. 7. Die Partei, die an der Macht ist, versucht niemals, die politische Tätigkeit irgendwelcher Bürger oder Parteien zu beschränken, solange diese nicht den Versuch unternehmen, die Regierung mit Gewalt zu stürzen“, Downs 1968, 23 [= Walentik/Wildenmannsche Übersetzung]. 434 Im Einzelnen enumeriert sind dies folgende zusätzliche sechs Merkmale: „3. The alternative with the greatest number of votes is declared the winning choice During the pre-voting period: 4. Any member who perceives a set of alternatives presently scheduled, can insert his preferred alternative(s) among those scheduled for voting.“ Obwohl Dahls Werk älter ist, sieht er bereits Probleme in Form von Informationsungleichheiten: „5. All individuals possess identical information about the alternatives.“ Des Weiteren benennt er folgende Punkte: „During the postvoting period: 6. Alternatives (leaders or policies) with the greatest number of votes displace any alternatives (leaders or policies) with fewer votes. 7. The orders of elected are executed. During the interelection stage: 8.1. either all interelections decicions are subordinate or executory to those arrived at during the election, i. E., elections are in a sense controlling. 8.2. Or new decisions during the interelection period are governed by the preceding seven conditions, operating however, under rather different institutional circumstances 8.3. or both.“

A. Modifikation von Zwangsgewalt

453

Der rationale Wähler kann sich jedoch genötigt sehen, statt derjenigen Partei, der seine Sympathie gehört, eine seinen Interessen ferner stehende zu wählen, um den Sieg einer ihm noch ferner stehenden Partei zu verhindern: Dieses Problem entsteht im Mehrparteiensystem praktisch nur in der Form, wie sie Verhältniswahlrecht regelmäßig hervorbringt, und zwar dann, wenn er der dem Wähler nahestehendsten Partei keine realistische Chance einräumt, die Wahl zu gewinnen bzw. die nächste Regierung zu stellen.436 In einem System mit mehr als drei Parteien kann es sogar rational sein, nicht die den eigenen Interessen zweit-, sondern drittnächste Partei zu wählen, wenn der Wähler etwa deren Alleinregierung einer Koalition dieser Partei mit ihm noch fernerstehenden Parteien als vorzugswürdig erkennt, was rein wahllogisch stets vorzugswürdig sein dürfte. Der Wähler mag natürlich aus demokratie- bzw. staatspolitischen Gründen eine Alleinregierung ablehnen. Da es sich hierbei aber um eine auf Steigerung des Gesamtnutzens gerichtete, gemeinwohlorientierte Entscheidung handelt, ist hiervon unter den Prämissen des Gefangenendilemmas nicht auszugehen. Freilich stellt auch seine rationale Entscheidung, die ihm chancenreichste, aber nicht nächststehende Partei zu wählen, einen Mechanismus dar, Individual – und Gesamtnutzen teilweise zu synchronisieren:437 Denn Wahlen wirken allgemein in dem Maße gesamtnutzenmaximierend bzw. -optimierend, in dem die Teilnehmenden rationale Wähler sind. Der rationale Wähler wird stets durch seine Wahlentscheidung zu Kompromissen veranlasst. Ein weiteres Wahlkriterium, das die Optimierung der Wahlentscheidung unsicherer macht, sind die beiden Glaubwürdigkeitskriterien von Verantwortlichkeit und Verlässlichkeit von Parteien: Verantwortlichkeit bedeutet Vorhersagbarkeit von Parteihandeln auf Basis früheren Handelns, Verlässlichkeit bedeutet Vorhersagbarkeit von Parteihandeln auf Basis ihrer Ankündigungen.438 Das Defizit von Demokratie, deren Wettbewerb sich über Wahlen operationalisiert, gegenüber demjenigen von Markt, der sich über Kauf operationalisiert, besteht darin, dass individuelle Präferenzen diskontinuierlich und nicht mit dem präferierenden Wähleranteil korrelierbar sind. „Auch dann, wenn die Wähler unterschiedliche Präferenzen haben, würde eine ideale Demokratie [. . .], immer noch den ,Willen‘ des Volkes vollkommen widerspiegeln. Nehmen wir an, die politische Entscheidung bestünde darin, einen Wert einer kontinuierlichen numerischen Variable zu wählen. [. . .] Die Präferenz eines jeden Wählers wird durch einen Wert dieser Variablen gemessen: je näher die politische Wahl die-

435

Downs 1968, 36 ff. Downs 1968, 46 und 48. Theoretisch besteht dieses Problem zwar auch im Zweiparteiensystem, das ja erst durch solche Erwägungen in Verbindung mit dem relative Mehrheit bildenden Wahlrecht zum Zwei-Parteiensystem wird. Die historische und politisch-kulturelle Wirklichkeit zeigt jedoch, dass diese beiden Parteien weiter integrieren. 437 Kelsen 1963, 10 zufolge geht darin der Sinn des gesamten Mehrheitsprinzips auf. 438 Downs 1968, 102 f. 436

454

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

sem Wert kommt, je besser ist der Wähler gestellt. [. . .] Es erscheint plausibel, den Median als den ,Willen‘ der Wählerschaft zu bezeichnen, denn er stellt einen ,demokratischen‘ Kompromiss zwischen den Präferenzen der verschiedenen Wähler dar.“ 439

Radikalität und Mehrheit sind also unproportionale Größen. Grundsätzlich sind weder mehrheits- noch Verhältniswahlrecht geeigneter, Maß und Mitte zu koordinieren. In der Praxis hat sich jedoch das Verhältniswahlrecht als begünstigender für radikale Standpunkte erwiesen. Dies ist freilich nicht unmittelbar mathematisch zu erklären, sondern nur durch die politischen Folgewirkungen: Haben radikale Parteien eher eine Möglichkeit parlamentarischer Partizipation, wird die ohnehin höhere Wahrscheinlichkeit parlamentarischer Partizipation solcher Kräfte durch Wechselwirkung mit geringerer Integrationswirkung demokratischer Parteien verstärkt. Insofern ist die vollkommene Demokratie dem vollkommenen Markt als Wettbewerbssystem gleich. Wahlen bilden dabei diejenige Operationalisierung des Entscheidungsvorgangs, die beim Markt der Kauf darstellt. Die Nutzenfunktion ergibt sich hier aus Intensität und Priorität, dort aus Preis und Leistung, die den proportionalen Anteil der Wähler bzw. der Käufer bestimmt. Wettbewerb als Optimierung zu behaupten geht davon aus, ein unabhängiges Optimum zu leugnen: Das Optimum ist immer der Wert, für den sich der Median entscheidet und nicht derjenige Wert, der das Medium des Möglichen beschreibt, sofern es ein solches überhaupt gibt, was noch nicht einmal bei einem zudem selten und auch nur einseitig gegen Null laufenden Limes der Fall ist. Schließlich kann aber auch derjenige Wert nicht Optimum sein, der den tatsächlich gewählten Durchschnittswert beträgt. Wo indes Mehrheitsentscheidungen „nicht zu einer widerspruchsfreien kollektiven Nutzenfunktion aggregiert werden können“, dort handelt es sich auf den Gesamtnutzen bezogen um den Typus eines Nullsummenspiels, da solche Konstellationen nicht nur interindividuell, sondern auch intraindividuell anzutreffen sind.440 Insofern ergibt sich aus dem Versagen des Mehrheitsprinzips nicht evident eine bessere Strategie der Entscheidungsfindung: Für den Staat, der dann seiner konstitutiven Funktion des arbiträren Dritten, den Gesamtnutzen zu optimieren, nicht mehr nachkommen kann, ist dies geradezu tragisch: Er muss Partei werden oder vor dem Problem durch Rückzug kapitulieren – was zumeist auch parteiisch ist. Relativ deutlich lässt sich vom Gefangenendilemma das „Zero-Sum-Game“ unterscheiden. Während beim Gefangenendilemma der Gesamtnutzen vom Verhalten der einzelnen Spieler abhängt, steht bei „Zero-Sum-Games“ der Gesamtnut439

Gary Becker 1993, 36. Scharpf 1975, 15 mit eingehender Berücksichtigung der Literatur, was verdeutlicht, wie lange die Entscheidungstheorie noch von der rationalen Lösbarkeit sämtlicher Probleme in diesem Sinne ausging, optimalen Gesamtnutzen ermitteln zu können. 440

A. Modifikation von Zwangsgewalt

455

zen vor dem Spiel fest und verändert sich auch nicht durch das Spiel. Gesamtnutzenerheblich ist daher, wie das Gefangenendilemma und nicht wie das „ZeroSum-Game“ bewältigt wird. Die Frage eines „Zero-Sum-Game“ ist bestenfalls dann für staatliche Rationalisierung entscheidend, wenn es ausschließlich um die Frage der Gerechtigkeit geht. Der staatliche Steuerungseffekt ist aber auch hier nicht in einer Überwindung der Konstellation, wie sie das Gefangenendilemma beschreibt, begründet: Denn Gerechtigkeit stellt im modernen Sinne von Rechtssicherheit selbst wiederum ein Kollektivgut dar. Das Dilemma der Rechtssicherheit vermögen die Partikularinteressen, wenn sie den Staat anrufen, nicht selbstständig zu lösen. Optimiert wird durch den Staat als Dritten das Kollektivgut Gerechtigkeit und nicht das bei „Zero-Sum-Games“ jeweils zu verteilende Gut. Vielmehr wird also die Verteilungsleistung als solche, also regelmäßig der Verteilungsprozess, optimiert. Wahlen sind jedoch mehr als technisches Institut zur Umsetzung von Demokratie: Ließe sich Demokratie auch weithin durch plebiszitäre und basisdemokratische Organisationsformen staatlicher Zwangsgewalt realisieren, so nehmen Träger staatlicher Zwangsgewalt zu wählen und die damit einhergehende demokratische Politik eine Kontrollfunktion und Disziplinierungsfunktion gegenüber der classe politique wahr, die jene zwingt, das Gemeinwohl zum Gegenstand, wenn auch vielleicht nicht ihres Handelns, so doch der Legitimation ihrer Politik zu machen: Bislang ist kein gemeinwohlverpflichtendes Disziplinierungsmittel bekannt, das wirksamer wäre als regelmäßig durchgeführte Wahlen. Fehlende innerparteiliche Demokratie und „Tendenz zur Selbstperpetuierung der Machtpositionen“ bleiben freilich als ständige Gefahr der Wirksamkeit von Wahlen bestehen.441 Daher sind Wahlen, um Demokratie zu konstituieren, zwar notwendig, aber allein nicht ausreichend.442 Aus der Annahme, regelmäßige Wahlen verhinderten nicht Tyrannis, also Monokratie oder zumindest Verselbständigung politischer Macht, begründet sich die Legitimierung der Gewaltenteilung im demokratischen Staat, die Staatsgewalten auch ummittelbarer demokratischer Legitimation entziehen kann, wie Madison klassisch im Federalist Paper Nr. 49 erklärt. Diese Annahme lässt sich jedoch wiederum nur zirkulär begründen:443 Da Wahlen Tyrannis nicht verhindern, muss die Staatsgewalt geteilt werden, um Tyrannis zu verhindern. Tyrannis muss verhindert werden, um Demokratie zu bewahren. Demokratie wiederum bedeutet aber, dass Staatsgewalt gewählt wird. Demnach müssen also, um Wahlen als Herrschaftsquelle zu erhalten, diese in ihrer Herrschaftswirkung eingeschränkt werden. 441 Waschkuhn 1998, 332. Fehlende innerparteiliche Demokratie gilt bereits bei Michels 1989, 74 als bedeutender Störfaktor für Demokratie als Staatsform. 442 Dahl 2005, 25. 443 Dahl 2005, 13 f.

456

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

Die Möglichkeit abgewählt zu werden, begründet, warum Demokratie im Zweifelsfalle die rationellere Form der Überantwortung staatlicher Zwangsgewalt darstellt: Zwar mag vereinzelt eine diktatorische Regierung444 tatsächlich effizienter agieren als eine Demokratie. Aber genauso wenig wie Rücksichtnahme auf Befindlichkeiten der Bevölkerung bei rationellem Gebrauch der Politik möglich sind, ist eine Absicherung gegen Korruption, Habgier, Raub, Betrug und die anderen Leiden autoritärer und totalitärer Regime möglich.445 Die in der Abwählbarkeit und Zeitlichkeit begründete Überlegenheit der Demokratie kann sich oftmals nur innerhalb sehr langer Zeiträume erweisen, indem sie an Stelle extremer Konjunkturen staatlicher Steuerung, wie sie diktatorische Regime kennzeichnet, Stetigkeit setzt. b) Politik als technischer Prozess, kollektiv bindende Entscheidungen zu treffen: Konkurrenz- oder Konsensdemokratie? Der Definitionsdiskurs, der um das Politische geführt wird, ist vermutlich so alt, wie das Politische selbst. Jedenfalls steht er bereits am Anfang der klassischen Geschichte der westlichen Kultur. Ist das Politische für den hiesigen Rahmen als dasjenige definiert, was Kollektivgüter anbetrifft, so wird Politik demgegenüber nachfolgend so verstanden, wie Niklas Luhmann in einer gegenwärtig breit akzeptierten und vermutlich klassischen Definition formuliert hat. Politik ist demnach „jede Kommunikation [. . .], die dazu dient, kollektiv bindende Entscheidungen [. . .] vorzubereiten. [. . .] Solche Aktivität setzt voraus, dass sie selbst noch keine kollektiv bindenden Wirkungen hat, aber sich [. . .] einer gewissen Selbstfestlegung aussetzt.“ Denn „Politische Kommunikation [. . .] ist nur möglich, wenn ihre ,Referenz‘ greift, wenn es also die Organisationen, auf die man sich bezieht, tatsächlich gibt.“ 446 Diese Kommunikation hat die Funktion konzilianz- und im Idealfall konsensorientiert „durch interpersonale Vergleiche [. . .] Konflikte“, also Konkurrenz „zwischen Individuen zu regeln.“ 447 aa) Politik und Demokratie Als Feld kommunikationsförmigen Konfliktes um kollektiv relevante Macht ist Gleichheit der Wähler einerseits unabdingbare Voraussetzung demokratischer Entscheidung dieser Konflikte. Eine „Gleichheit der Ansichten“ unter einer Mehrheit der Wähler muss jedoch und wird regelmäßig nicht mit einer „Gleich444 Mit der Bezeichnung einer Regierung als „diktatorisch“ ist hier im Sinne Adam Przeworskis jede Form nicht-demokratischer Regierung, sei sie autokratischer, sei sie bürokratischer Art, gemeint, Przeworski 2000, 21. 445 Fukuyama 2004, 47. 446 Luhmann 2000, 254. 447 Downs 1968, 65.

A. Modifikation von Zwangsgewalt

457

heit der Intensitäten“, mit der diese Ansichten von den Wählern vertreten werden, identisch sein.448 Parteien und Politiker von Regierung und Opposition werden sich, so lautet theoretisch der Rückschluss, vermutlich immer dann gleichstark den Ansichten der Mehrheit stark annähern und auf minimale Unterscheide ihrer Politikinhalte beschränken, wenn diese Mehrheit hinreichend passioniert ist. Die Stunde der Politik schlägt demzufolge immer dann, wenn jener Zustand eintritt, bei dem es überhaupt keine passionierten Wählergruppen gibt: Dies erscheint im theoretischen Modell als unmöglich, weil eine wenn auch noch so kleine Gruppe immer äußerst passioniert ihre Ansichten vertritt, da es um ihre Interessen geht. In der Praxis kommt es hingegen zu Annäherungen an jenes Gleichgewicht. Da modernes Staatshandeln aber oft genug Kollektivgüter betrifft, die auch vom Interesse des einzelnen hochgradig abstrahieren und ihren Nutzen nur mittelbar entfalten, ist praktisch nicht selten von relativer Apathie der Wähler auszugehen. Apathie als Entleerung der Demokratie wird zumeist in sozialen, ja sozioökonomischen Kategorien zu erklären versucht. Tatsächlich stellt sie in einer Demokratie freilich die konkrete Folge von Machtaversion und Verantwortungsscheu dar, die darin gründet, dass sich häufig Gleichgewichte einstellen können, die lediglich Pareto-optimal sind, also nur einem nutzen, ohne den anderen zu schaden.449 Unter den Bedingungen solcher Entscheidungsverweigerung zieht sich Politik dann auf die ohnehin stark ausgeprägte Autonomie ihres eigenen Mikrokosmos zurück. Dieses Verhalten der Politik ist aber weitaus stärker reagierend als gemeinhin unterstellt wird.450 De facto stellt sich Politik als ein Mechanismus kommunizierender Röhren zwischen massenmedial und entsprechend massenwirksam und -manipulativ veröffentlichter Meinung auf der einen Seite und unabänderlich stets elitärer Politik auf der anderen Seite dar, von der als weithin monopolistischem Inhaltsanbieter ein vergleichsweise geschlossener Kreis veröffentlichter Meinung abhängig ist. Libertäres Politikverständnis sieht Politik generell aufgrund ihrer individualistischen Grundannahme als subsidiär zu individueller Autonomie an. Zudem darf sie nur zusammenfassend und im weitesten Sinne addi448

Downs 1968, 65. Sen 2002, 405. 450 Bäumlin 1954, 24, hält sogar eine auf die Meinungsbildung der entscheidenden Wähler stark determinierend wirkende „richtungweisende Initiative der Regierung“ für „unerlässlich, da anderswie eine im Widerstreit der verschiedenen Einzel- und Gruppeninteressen vermittelnde Politik nicht möglich wäre.“ Mit anderen Worten: Wahlen allein sind als Herrschafts- und mithin als Entscheidungsinstitut weder jemals hinreichend arbiträr, da nur mathematische Summe verschiedener unvermittelter Einzelentscheidungen, noch hinreichend entscheidungswillig, da nicht hinreichend orientiert: Damit ist jedoch nicht nur die Eigenmacht der Politik, sondern mit ihr auch des Staates legitimiert. Dass eine „relative Unabhängigkeit der Regierenden von den politischen Parteien“ als notwendig folgt, ist evident. Der Schweizer erachtet daher eine „nichtparlamentarische Regierung“ als der „Einheit des Staates“ dienlicher denn eine parlamentarische: „Vermittlung bedingt eine schiedsrichterliche, d. h. den Parteien übergeordnete Stellung.“, Bäumlin 1954, 134. 449

458

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

tiv im Verhältnis zu den Individualwillen agieren.451 Jeder Eigenmacht des Kollektiven oder gar des Staatlichen ist sie abhold. Der sensible Punkt besteht hierbei selbstverständlich im Problem individueller Nutzenmaximierung, die aus spezifisch kollektivem Agieren und einer eben auch spezifisch kollektiv orientierten Sichtweise erwachsen kann. In der vollkommenen Demokratie ist unterdessen personal getragene Politik unmöglich, „weil politische Entscheidungen vollständig durch die Präferenzen der Wähler determiniert werden.“ 452 Nicht nur unter den Bedingungen des reinen Marktes, sondern jedes anderen vollkommenen Wettbewerbsystems wird individuelle Herrschaft unmöglich. Politik kann dort nur der Wähler betreiben. Da Gegenstand von Wahlen legitimerweise und zumeist auch rationellerweise nur Kollektivgüter sein können, verkörpert die vollkommene Demokratie Politik ohne Politiker. Ein eigenes Milieu der Politik gegenüber der Verwaltung entwickelt sich also erst durch Unterschiede zwischen dem Willen der Repräsentierten und der Repräsentierenden. Die wissenschaftliche Politikdefinition Luhmanns koinzidiert weitgehend mit dem Selbstverständnis von Politik, auch wenn sich diese, zumindest in Kontinentaleuropa primär über ihre spezifische Staatsbezogenheit und erst sekundär über das Moment des kollektiv Bindenden im Allgemeinen definiert.453 Die sich jeweils als Politisierung darstellende Ausdehnung des Politischen, als deren Gegenstände und Mittel sich sodann Staat und Recht, aber auch Gesellschaft und Demokratisierung tendenziell staatsausdehnend verbreiten, liegt letztlich darin begründet, dass seit dem Ausgang des Mittelalters der Bereich dessen, was dem Menschen verfügbar und somit „machbar“ ist, erweitert. Nur wo diese Voraussetzung besteht, kann es menschliche Macht und Kampf um dieselbe geben.454 bb) Das Ende der Politik als ewig wiederkehrender Gemeinplatz Demgegenüber wird immer wieder die Utopie, das Politische ließe sich ausschalten, als Ziel realer Staats- und Verfassungspolitik ausgegeben. Es sind stets Konzepte freiwilliger Selbstorganisation, die bald durch föderale, bald durch subsidiäre Modelle favorisiert werden. Verkannt wird dabei, dass Herrschaft unver451

Kersting (b) 2000, 48; Zintl 2000, 95. Gary Becker 1993, 37. 453 Cf. die Formulierung Willy Brandts auf dem Parteitag der SPD in Karlsruhe 1964: Staat sei die „moderne Organisation dessen, was für alle zusammen entschieden und organisiert werden muß“, Willy Brandt, Die Vorschläge der deutschen Sozialdemokraten zur Erneuerung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Parteitag der SPD in Karlsruhe 1964. Protokoll der Verhandlungen, Bonn 1964, 143. 454 Graf von Krockow 1976, 438, der in diesem Zusammenhang auch den Begriff der „Fundamentalpolitisierung“ prägte, 440. 452

A. Modifikation von Zwangsgewalt

459

meidbare Folge von Zwangsgewalt ist, die erforderlich ist, um bestimmte Kollektivgüter optimal zu gewährleisten.455 Ist zumindest das brutum factum unstrittig, dass Staatsausdehnung Bürokratiebedarf erhöht, wenn sie als Vermehrung staatlicher Aufgaben auftritt, so ist umso umstrittener, ob solcherart exogen verursachte Verwaltungszunahme staatliches Handeln entpolitisiert oder sich das Politische lediglich von der Ebene, die auch unter dem Titel des Politischen firmiert, auf die Verwaltung verlagert und somit zu einer Politisierung der Verwaltung führt: Entscheidende Probe ist die Frage der Fühlbarkeit von Verwaltung durch Politik.456 Schließlich und endlich ist die Politisierung der Gesellschaft im westlichen Kulturkreis der Neuzeit auch Ergebnis eines Zusammenwirkens staatlichen Gewaltmonopolanspruchs einerseits und namentlich städtischer Selbstbehauptung andererseits, die den politischen Raum im Wortsinne bürgerlicher Selbstverswaltung zu einem konfliktären Feld im weiteren Sinne des Begriffs „politisch“ wandelte.457 „Der ,Staat ohne Eigenschaften‘ ist aber eine Fiktion“, wie Isensee in Analogie zu Robert Musil formulierend feststellt. Der entpolitisierte Staat hat sich unter den Erfahrungen der anbrechenden Postmoderne zunehmend vom rationalen Postulat politischen Handelns zum historischen Phänomen politischen Denkens entwickelt, wie es die klassische Moderne hervorgebracht hat.458 cc) Politik und Staatsausdehnung Da die ins Massenhafte sich bemessende kollektive Relevanz des Politischen und die allgemeine funktionale Differenzierung des Gesellschaftlichen zusammenwirken, ist Politik, wenn sie mehren will, maßgeblich Delegation.459 Insofern wird die Anlage der Demokratie der Eigenart moderner Politik besonders gerecht, als sie sich als Delegation von Macht durch das souveräne Volk an Spezialisten definieren lässt. Das Argument des Entscheidens unter Ungewissheit stellt daher kein Spezifikum der Wählerherrschaft dar. Das modernen Demokratien allgemein eigene Problem der Ungleichheit informationeller Verarbeitungskapazität zwischen organisierter Politik und individuellem Wähler wird durch Verhältniswahlrecht verschärft: Dem Vorteil feiner zu differenzierender Entscheidungsfindung steht der Nachteil sinkender Entschei455 Isensee 1968, 135 bezeichnet solche Abgesänge auf das Politische gar als „moralisch motivierten Anarchimus“. 456 Diese Gretchenfrage moderner Staatsausdehnung formuliert indirekt für die als Latenzphase grundlegenden Wandels bedeutenden 1960er Jahre beispielhaft an der Bundesrepublik Deutschland Metzler 2002, 78 f. 457 Ruggiu 2005, 92 f. 458 Metzler 2002, 84. 459 Jensen 1998, 2; Fukuyama 2004, 68.

460

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

dungsqualität durch schlechter informierte Entscheidung gegenüber. Denn Entscheidungen in Wahlen und Abstimmungen stellen selbst ein öffentliches Gut dar, das der Wähler in hohem Maße von seinem Eigennutzen abhängig macht.460 Das heute vorherrschende Politikverständnis verschweigt freilich, was Jahrhunderte tradierte Erkenntnis neuzeitlicher politischer Geschichte und Ideengeschichte war: Nämlich dass Politik nicht vornehmlich kollektiv bindende Normen schaffen, sondern vielmehr kollektiv wirksame Erzwingungsmacht erhalten müsse. Dies beschreibt jene Professionalisierung von Politik wie sie die personale und verwandtschaftliche Herrschaft des Mittelalters von neuzeitlicher Politik unterscheidet: Unmittelbarer Gegenstand ist das kollektive Interesse, wie es im Staat institutionalisiert ist. Damit ist Politik jedoch selbst in all ihrer Leidenschaftlichkeit eine Funktion rationalisierter Koexistenz und wird in der Neuzeit wieder, was auch dem Altertum bereits geläufig war: Eine tÝxnh oder eine ars. c) Politische Kultur als sozialtechnische Programmiertheit? Auch außerhalb Englands und Israels, der beiden weltweit einzigen Staaten ohne ein einheitlich geschriebenes und kodifiziertes Verfassungsgesetz, wird Verfassung zunehmend in einem weiteren Sinne als Verfasstheit des Gemeinwesens verstanden, die in aller Regel auch über den staatlichen Bereich hinaus definiert wird.461 Der weltweite Erfolg der Demokratie als Staatsform droht indes zu verdecken, dass Demokratie selbst nicht nur eine theoretische Kategorie klinischer Sterilität darstellt, sondern selbst historischer Begriff und kulturelle Wirklichkeit darstellt, wie sie für den westlichen Kulturkreis kennzeichnend sind.462 Freilich sind auch innerhalb des westlichen Kulturkreises, wie bereits im Rahmen dieser Untersuchung deutlich wurde, gerade im Hinblick auf Definition und Ausdehnung von Demokratie nicht unerhebliche Unterscheide festzustellen.463 Politische Kultur erscheint als Inbegriff gewachsener Tradition und organischer Entwicklung. Ist es daher angemessen, von einem sozialtechnischen Prozess zu sprechen, dessen Ablauf als Programm bereits angelegt sein soll? „Von socialengineering“ kann hingegen in den Sozialwissenschaften „gesprochen werden, wenn über ein bestimmtes Politikziel zu entscheiden ist und geeignete Handlungsmittel zu finden sind:“ 464 Ist die Entscheidung offen, so sind jedoch oftmals gerade die Mittel zu deren Umsetzung von der gegebenen politischen Kultur abhängig, was freilich bisweilen auch wiederum den eigentlich politischen 460 461 462 463 464

Tullock 1974, 98 ff. Isensee 1988, § 57, 113. Cf. Erster Teil B. I. 1. a). Hättich 1967, 23. Scharpf 1975, 19 (Anm 27). Wollmann 1994, 303.

A. Modifikation von Zwangsgewalt

461

Entscheidungsspielraum eingrenzen kann. Wenn im hiesigen Zusammenhang politische Kultur als Programmiertheit begriffen wird, soll dies verdeutlichen, dass es sich nicht um eine planmäßige Programmierung durch dritte übergeordnete Kräfte handelt, sondern um eine historisch gewachsene, gleichsam organische Anlage, um einen Plan, der zwar Berechenbarkeit stiftet, aber selbst nicht planmäßig entstanden ist und gerade durch die rationelle Wirkung von Berechenbarkeit zusätzliche Möglichkeiten eröffnet. Politische Kultur wird hier als Zusammenwirken all jener informellen Institutionen und Konventionen verstanden, die das Konzept der Mehrheitsherrschaft in den soziopolitischen Zusammenhang von Staat und Gesellschaft inkulturieren. Eine Ausnahme stellt auch hier das Ursprungsland der modernen Demokratie, England dar: venia sit verbo. Freiheitliche und demokratische Verfasstheit bilden hier originär die politische Kultur. Politischer Kultur angelsächsischen Staats- und Demokratieverständnisses verbunden ist Fränkels Modell der dialektischen Demokratie, dass just den institutionengestützten Konflikt Demokratie als für die Demokratie konstitutiv und für im Staat effizienzsteigernd begreift.465 Die von Almond und Verba, den Vätern des „political culture“-Modells, eingeführte und von Rohe übernommene Unterscheidung, die politische Kultur in eine Sozio- und eine Deutungskultur einteilt, geht selbstverständlich weiter, als die Kultur der classe politique zu beschreiben.466 Da manche jener Phänomene aber an anderen Ort behandelt werden, einige wiederum auch außerhalb des hiesigen Untersuchungsrahmens liegen, ist dieser Abschnitt auf dasjenige beschränkt, was sich am ehesten noch mit dem Begriff der Deutungskultur erfassen lässt. Sind Staatsziele und auch konkrete Staatsaufgaben weithin weder verfassungsrechtlich noch ökonomisch programmiert,467 so ereignet sich freilich auch metarechtliche Verfassung nicht ausschließlich kontingent, sondern folgt mannigfaltigen maßgeblich historischen Determinanten. Insofern ist Staat ein Kulturprodukt: Wo er keine hinreichende Bindungskraft zu entfalten und für Identität konstitutiv zu werden vermag, bleibt er weithin nominelle Ordnungseinheit.468 Francis Fukuyama erachtet daher das „Staaten bauen“ als vorrangige Herausforderung der US-amerikanischen Politik für das 21. Jahrhundert.469

465 Zum ideenhistorischen Hintergrund Fraenkels: Alexander von Brünneck Nachwort: Leben und Werk von Ernst Fraenkel (1898–1975), in: Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, hrsg. von A. v. Brünneck, Frankfurt am Main 1991, 360–374; Buchstein 1992, 242; Noetzel 1991; Kremendahl 1977. 466 Rohe 1990, 321–346; Rohe 1994. 467 Isensee 1988, § 57, 113. 468 Isensee 1988, § 57, 68. 469 Fukuyama 2004; cf. Zweiter Teil A. [Palaver].

462

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

Implementation von Staat setzt eine vergleichsweise differenzierte politische Kultur voraus, in der symbolisches Kapital gehandelt werden kann.470 Wenn dieses stets sogleich in die bare Münze unmittelbarer Gewalt überführt werden muss, kann sich ein zentralisierender rationeller Vorgang wie Staatlichkeit mit seinem prekären Ineinander von potentieller Allgegenwart und aktueller Begrenztheit, sowie mit seinem Anspruch auf Verallgemeinerung und Allgemeingültigkeit in seiner ganzen Virtualität nicht durchsetzen. Soll staatliches Handeln nicht ausschließlich unter der Annahme definiert werden, die Akteure seien lediglich zu manipulierende Objekte, wenn auch dies in ihrem eigenen Interesse geschehe, so wird Einsicht insbesondere in die gemeinsame Vergangenheit der jeweils zugrunde liegenden Schicksalsgemeinschaft zu nehmen erforderlich. „Dies impliziert die Reflexion von Erfahrungen, also Geschichte.“ 471 Pfadabhängigkeit und Singularität sozialer Netzwerke lassen Geschichte zu einem Gegenstand kollektiven Interesses und das bedeutet unter den Bedingungen westlicher Gesellschaften regelmäßig zu Gegenstand eines öffentlichen Interesses werden.472 Politische Kultur definiert mehr als eine Kultur der Politiker: Vielmehr muss die Gesellschaft als ganze vom Prinzip demokratischen Entscheidens und der dazu erforderlichen Werte überzeugt sein und dies verinnerlicht haben. Insofern ist die Demokratisierung der Gesellschaft auch als ein Prozess politischer Kultivierung zu begreifen. Offen bleibt dabei, ob auch außerhalb des Staates Demokratie zum Entscheidungsmodus werden muss oder ob sich staatliche Demokratie lediglich auf ein entsprechend staatstragendes Bewusstsein stützen kann, das ein spezifisch demokratietragendes ist: Die Rückwirkung gesellschaftlicher DenkWahrnehmungs- und Herrschaftsmuster auf die demokratische Verfassung des politischen Feldes ist freilich evident.473 Im Hinblick auf die (keinesfalls herrschaftsfreie) Bündelung und Ordnung individueller Interessen, wie sie im Verfahren als konstituiertem kollektivem Interesse anzutreffen ist, kommt politischer Kultur im Vorfeld, aber auch im Umfeld dieser Verfahren entscheidende Bedeutung zu, was wiederum auch für sich selbst geschieht: Zur demokratischen Wahl steht nur das, was in der jeweiligen politischen Kultur für relevant und diskutabel erachtet wird.474

470 Zu den Anforderungen an eine politische Kultur, um Staat implementieren zu können, in der rezenten Literatur: Freist 2005, 26; zum Modell des symbolischen Kapitals: Bourdieu 1998. 471 Homann/Suchanek 1992, 20. 472 Herrmann-Pillath 2002, 120 spricht in diesem Zusammenhang von evolutionärer Vernunft. 473 Scharpf 1975, 70. 474 Scharpf 1975, 17.

A. Modifikation von Zwangsgewalt

463

Dies gilt in gesteigertem Maße für Demokratien mit relativem Mehrheitswahlrecht. Nicht nur ohne Beteiligung der Minderheit, sondern auch „gegen deren fundamentalen Widerspruch“ 475 zu entscheiden setzt ein hohes Maß an allseitigem Einverständnis in das bestehende System voraus.476 Aber der moderne Staat westlicher Provenienz, der in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts zum Standardmodell zu avancieren scheint, ist doch längst eine zu mächtige gesellschaftliche Größe geworden, um nicht doch auf die politische Kultur Einfluss auszuüben, ohne die er nicht leben kann, so dass sich die Frage stellt, ob zumindest deren Pflege, wenn nicht ihre Identität als demokratische Kultur schlechthin ein vom Staat gewährleistetes Kollektivgut darstellt. „In seiner Bindung an die Freiheits- und Gleichheitsgrundrechte obliegt ihm generell Verantwortung auch für die ethischen Voraussetzungen des staatlichen Lebens, das Rechtsbewusstsein und die ,politische Kultur‘, auch wenn seine Befugnisse eng bemessen sind und diese weniger Anordnung als Unterstützung, weniger Rechtsetzung als Setzung von Zeichen ermöglichen.“ 477

Demokratie belässt im Gegensatz zu autoritären Regimen neben dem Gesetzesgehorsam die Meinungsfreiheit und im Gegensatz zu totalitären fordert sie geradezu die Gesinnungsfreiheit: Verkümmert diese auch nur, schwinden die Vorteile, die die spezifische Wirksamkeit und Effizienz demokratischer Entscheidungsfindung ausmachen. Meinungs- wie Gesinnungsfreiheit als staatsbürgerliche Tugend leben von einer entsprechenden Kultur der Freiheit, wie sie originär der westlichen Welt eignet. Freiheitswahrung und Demokratieentwicklung werden maßgeblich von Institutionen getragen. Somit setzt demokratischen Wettbewerb zu wollen und als Spielregel zu erhalten Konsens über die institutionelle Struktur des Gemeinwesens voraus.478 Ihre Anlagen entscheiden als Programm des politischen Systems, ob sich entsprechende Verfahren von Demokratie und Freiheit durchsetzen und erhalten können. Verfahren allein vermögen zwar stets zu legitimieren, sind aber materiell leer: Freiheit und Demokratie sind demgegenüber mehr als nur Verfahrenskorrektheit.479 Der Zweck von Verfahren besteht vielmehr darin, Mehrheitsherrschaft und Individualfreiheit auszugleichen und zu versöhnen.480 475

Kailitz 2004, 314. In Großbritannien werden z. B. während der Zeit des Zweiten Weltkrieges keine Wahlen abgehalten, danach aber „die Rückkehr zu den vorher geltenden Bedingungen [. . .] zum gegebenen Zeitpunkt genauso umstandslos vollzogen,“ Schieren 2001, 73. 477 Isensee 1988, § 57, 164. 478 Schumpeter 1993, 36. Diese Einsicht ist im Grunde mit der These der gesamten Institutionenökonomie identisch, exemplarisch dafür seien Waschkuhn 1998, 332 f.; Sen 2003, 325 und passim; Voigt 2002 sowie Fukuyama 2004 angeführt. 479 von Krockow 1976, 465 ff. 480 Am eindringlichsten findet sich dieser Gedanke bereits bei de Tocqueville 1962, 349 f. 476

464

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

Es ist die politische Kultur, die nicht zuletzt bestimmt, ob und inwieweit die sich heute in den westlichen Ländern als Problem innersystemischer Elitismen manifestierende Verselbständigung und Selbstzweckhaftigkeit von Herrschaft über das funktional notwendige Maß hinausreicht. Schließlich und endlich ist es eine Frage der Bevölkerung selbst, wie frei oder unfrei sie sein will, ob sie eher einem individualistischen oder eher einem autoritären Menschenbild folgt. Nicht zuletzt die Frage der konfessionellen Prägung bleibt hier trotz weit vorangeschrittener Säkularisierung entscheidend. Entscheidende Triebkraft dafür, dass sich Demokratie bildet und erhält, sind auf einer funktionellen, aber nicht unbedingt auf einer Ebene bewusster Entscheidung die gesteigerten Möglichkeiten, das Gefangenendilemma zu überwinden. Gleichwohl gibt es politische Kulturen, die dies erleichtern, und solche, die dazu aus sich heraus selbständig nicht ohne weiteres in der Lage sind. „Ich bekenne mich tief überzeugt, daß das deutsche Volk die politische Demokratie niemals wird lieben können aus dem einfachen Grund, weil es die Politik selbst nicht lieben kann, und daß der vielverschrieene ,Obrigkeitsstaat‘ die dem deutschen Volk angemessene, zukömmliche und von ihm im Grunde gewollte Staatsform ist und bleibt.“ 481

Wie tief sitzend sich die Ablehnung des Politischen als „garstig Lied“ und der Demokratie als politisierender Verfassung in Deutschland noch hat erhalten können, zeigt Herbert Krügers Versuch, Weltanschauungserfülltheit, wenn sie der Demokratie denn schon einmal als Eigentümlichkeit zuerkannt werden muss, zumindest auf die Demokratie zu begrenzen:482 Was vermag anschaulicher zu verdeutlichen, wie sehr Demokratie Kulturgut und nicht Rechtsform, und von individueller Verinnerlichung statt von entpersönlichtem Vollzugsdenken abhängig ist? Angelsächsischem Staats- und Demokratieverständnis verbunden ist dagegen Fraenkels Modell der dialektischen Demokratie, das just den institutionengestützten Konflikt als für die Demokratie konstitutiv und für Staat effizienzsteigernd begreift.483 2. Formale Aspekte Mehrheitsherrschaft erweist sich nicht nur als organisatorisch vergleichsweise aufwendiger Modus der Entscheidungsfindung, sondern auch der Entscheidungsumsetzung, vor allem aber der Aufrechterhaltung von Entschiedenem. Nicht zuletzt deshalb lebt die Demokratie maßgeblich auch davon, dass die sie tragende Gesellschaft von der Demokratie nicht Heilsversprechungen und metaphysische Sinnstiftung verlangt, sondern Demokratie gerade auch als formalistische Diszi481 482 483

Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, Berlin 1922, XXXIV. Krüger 1951, 361 ff. Fraenkel 1968; Kremendahl 1977.

A. Modifikation von Zwangsgewalt

465

plin aufgefasst wird. Die demokratischen Verfahren müssen in ihrer Aufwendigkeit als immanenter Wert an sich aufgefasst werden.484 a) Das Verhältnis von Demokratie und Staat: Allgemeiner Teil Das Verhältnis von Demokratie und Staat stellt sich in der Gegenwart bisweilen als konkurrierend dar. Das eigentliche Fortschrittsproblem zumal in den so genannten Entwicklungsländern sei die fehlende Demokratisierung. Dem wird entgegengehalten, ohne Staat sei keine Demokratie möglich, Staat zu bilden also der fundamentalere Wert. In ihrer ganzen Widersprüchlichkeit sind beide Ansichten durchaus zutreffend. Entscheidend sind die historischen Voraussetzungen. Gesellschaften mit einer langen staatlichen Tradition können sich durchaus auch ohne Demokratie stabilisieren. Zutreffend ist ohne Zweifel auch, dass Demokratie ohne Formen staatlicher Organisation der Gesellschaft nicht möglich ist. Demgegenüber ist zu berücksichtigen, dass sich Gesellschaften ohne staatliche Tradition oder solche Gesellschaften, die bereits auf eine lange demokratische Tradition zurückblicken können, dauerhaft nicht durch reine Diktaturen, die ohne jegliche Beteiligung des Volkes agieren, stabilisieren oder steuern lassen. Die entscheidende Voraussetzung für den Durchbruch des demokratischen Gedankens liegt darin, dass mit dem Voranschreiten von gesellschaftlicher Aufklärung und individueller Emanzipation die Kontingenz von Staatlichkeit zunehmend bewusster wird.485 Hat der moderne Staat gegenüber der Demokratie einen zeitlichen Vorsprung, so hat die Demokratie gegenüber dem Staat normativen Vorrang erlangt. Freilich lässt sich das normative vom zeitlichen Datum sachlich niemals derart vollständig trennen, wie dies begrifflich möglich ist. Beides verschmilzt in der Dimension des Historischen, was eben mehr als nur das Statische der Vergangenheit, auch das Dynamische der Entwicklung beschreibt. Somit erscheinen Staatlichkeit und Demokratie gegenwärtig unter dem Dach angelsächsischer Weltherrschaft weitgehend als verschmolzen: Wo Demokratie defekt ist oder fehlt, funktioniert auch Staatlichkeit nur gestört oder gar nicht. Der Diktator ist zum Räuberhauptmann verkommen, sein Gemeinwesen bestenfalls ein „failed state“, der sich vornehmlich über seine Abwesenheit definiert. Ist offensichtlich, dass sich dieses 484 Cf. hierzu die Auseinandersetzung Hättichs 1967, 62 (Anm. 11) mit Sontheimer, der im formalistischen Demokratieverständnis gerade einen der Gründe für den Untergang der Demokratie von Weimar sieht, während Hättich demgegenüber gerade ein Defizit an solch formalistischer Gesinnung, das sich in überhöhten Erwartungen an die Demokratie niederschlug, als eine Ursache für deren Untergang ansieht. Beide haben, wie Hättich auch selbst einräumt, Recht. Der Weimarer Formalismus war eben die demokratische Camouflage eines antidemokratischen Denkens, das verhinderte, sich mit dem Formalen zu bescheiden und von staatlicher Zwangsgewalt nicht Sinnstiftung und Beglückung zu erwarten. 485 Isensee 1968, 44.

466

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

nicht immer derart verhielt, so bleibt schlicht offen, ob es sich zukünftig immer so verhalten wird. Wo, so ist zu fragen, liegt die Grenze, innerhalb derer eine Gesellschaft noch als staatlich verfasst gelten kann? Welcher Staatsbegriff ist noch deskriptiv und welcher bereits normativ? In neueren Lehren der internationalen Politik, vornehmlich in der besonderem praktischen Bewährungsdruck ausgesetzten US-amerikanischen Forschung,486 wird freilich wieder zunehmend der Staat als elementare Voraussetzung dafür erachtet, allgemeine Armut und Kollektivgütergewährleistung durch vorstaatliche Institutionen der vormodernen Gesellschaften zurückzudrängen.487 Das Verhältnis von Demokratie und Staat wird auf einer empirischen und einer normativen Ebene untersucht: Ohne Staat kann Demokratie nicht bestehen, aber Staat ist in letzter Konsequenz postmoderner Gesellschaften nur Mittel der Demokratie und wird nur durch sie legitimiert. Besondere Bedeutung für die operative Umsetzung der demokratischen Idee kommt den Kommunen zu. Die „demokratische Dezentralisation“ erweist sich nach 1945 als deutsche Variante des Gedankens der „grass-root-democracy“.488 Überschaubare territoriale Einheiten haben im demokratischen Staat maßgeblich durch Auftragsverwaltung für den Staat begründet eine besonders effektive und zumeist auch effiziente Vermittlungsfunktion zwischen Staat und Gesellschaft übernommen. Partizipation an Staatshandeln ist freilich vielfältig und geht über Wahlen und Volksabstimmungen hinaus. Formen der Beteiligung an Verwaltungs- oder Gesetzgebungsverfahren können entweder eine Demokratie fortgeschrittenen Stadiums, wie etwa in der Bundesrepublik Deutschland die wachsende Beteiligung von Bürgern ab den 1960er Jahren verdeutlicht,489 qualifizieren oder aber auch nicht zwangsläufig demokratischen Rechtsstaaten entspringen. Partizipation kann dann geradezu als legitimierendes Demokratiesurrogat fungieren. Im weiteren Sinne weist Partizipation an Verwaltungshandeln Verwandtschaft mit Formen der Rätedemokratie auf. Wirksamstes Instrument der Vermittlung von Individual- und Kollektivinteressen sind jedoch politische Parteien. Eine geordnete suboptimale Gleichgewichte vermeidende Demokratie kann nicht ohne Parteienstaatlichkeit auskommen. Insofern verkennt die Pejorisierung des Begriffes als solche das Erfordernis praktizierter Demokratie im modernen Flächenstaat.490 486 Francis Fukuyama, Staaten Bauen. Die neue Herausforderung internationaler Politik, Berlin 2004. Cf. A. IV. 2. a). 487 Fukuyama 2004, 138. 488 Isensee 1968, 251. Vide: Die Herrschaftsorganisation im sozialistischen deutschen Staat bezeichnete sich als „demokratischer Zentralismus“. 489 Metzler 2002, 76. 490 Bäumlin 1954, 122.

A. Modifikation von Zwangsgewalt

467

Auch moderne Steuerstaatlichkeit als zweckungebundene Finanzierung öffentlicher Gewalt ist entscheidende Voraussetzung demokratischer Herrschaft.491 Nicht der Steuerzahler, sondern der Wahlbürger entscheidet, wofür die Einnahmen verwendet werden.492 Eine stärkere Konzentration des steuerstaatlichen Prinzips auf Individual- und Gruppenverpflichtungen, die in der Praxis nur durch einen weitgehenden Wandel vom Steuer- zum Gebührenstaat umzusetzen wäre, würde einerseits die Effizienz bestehender Kollekivgütergewährleistungen steigern. Andererseits lassen sich bestimmte, namentlich sozial- aber auch kulturstaatliche Leistungen nicht nach dem Äquivalenzprinzip organisieren, die jedoch nicht nur oder noch nicht einmal Maximierungen des Gesamtnutzens, sondern auch Optimierung bewirken. Die entsprechenden nicht äquivalenzförmigen Kollektivgüter dürften einen relativen Legitimitätsverlust erleiden. Die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Demokratie, insbesondere danach, ob es einen Primat der einen oder der anderen Größe geben könne, oder es sich vielmehr um inkommensurable Größen handelt, geht bis zu einem gewissen Grade darin auf, in welchem Verhältnis beide zur Gesellschaft stehen. Faktisch ist zwar eine Verstaatlichung wie auch eine Demokratisierungstendenz moderner Gesellschaft nicht zu übersehen. Sie bilden nicht zuletzt einen der leitenden Beobachtungsgegenstände dieser Untersuchung. Gleichwohl erscheint die Macht der Gesellschaft als die bestimmende Größe der Wirklichkeit. Diese Größe findet vor, wer auf die Gesellschaft einwirken will. Die für die Gegenwart kennzeichnende Frage, ob Staat nur noch durch Demokratie zu legitimieren sei, geht in der allgemeineren zeitenthobenen Frage auf, ob Staat als Staat überhaupt legitimierbar sei, wobei diese Legimitation des Staates wiederum entscheidend von der Legitimität seiner Staatsform abhängt, die in der Verfassung des Staates ihren Ausdruck findet: „Der Staat als Staat hat nur schmale Legitimationschancen.“ 493 aa) Entstehungsgeschichtlich bedingte Hierarchie: Vom Staat zu Demokratie Es ist nicht gänzlich unumstritten, ob am Beginn der abendländischen Geschichte, als die archaischen Poleis in das Stadium der Schriftlichkeit fanden und jene Dichter wirkten, deren Epik und Lyrik unter den Namen Homers und Hesiodots kursieren, Demokratie als ursprünglich gegebenes Assoziationsprinzip menschlicher Steuerung stand und sich über sie als Verfahren Staatlichkeit herausbildete oder ob diese Staatlichkeit bereits einen gewissen Grad an Institutionalisierung und Stratifikation erreicht hatte, bevor die Demokratie aufkam. Ver491 Isensee 2004, 90, beschreibt den Steuerstaat folgendermaßen: Er sei „sowohl die Bedingung als auch die Folge [. . .] der föderativen Demokratie“. 492 Schmehl 2004, 89. 493 Isensee 1999, 27.

468

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

mutlich ist von einer Wechselwirkung auszugehen. Nach dem Ende der klassischen griechischen Ära sind aber für als zwei Jahrtausende zumindest reine Demokratien im westlichen Kulturkreis nicht mehr anzutreffen: Und als die moderne Demokratie sodann heraufzieht, ist sie repräsentativ verfasst und durch andere Steuerungsprinzipien ergänzt. Die moderne flächendeckende Massendemokratie folgt dem modernen Staat und kann ohne diesen als Voraussetzung weder entstehen noch bestehen. Die moderne Demokratie ist ihrer Anlage nach eine Verfassungsform und ein Steuerungsprinzip staatlicher Kollektivgütergewährleistung. Das fortschrittsliberale tÝloò dieser Entwicklung liegt darin, Staat allein als Form der „Selbstorganisation der Gesellschaft“ anzusehen.494 Libertäre erklären das Verhältnis von Staat und Demokratie als Eigentumsverhältnis: Durch Einführung von Demokratie werde der Staat von privatem in öffentliches Eigentum überführt.495 Es ist freilich nicht selbstverständlich, dass ein „Verwalter (nicht: Eigentümer) einer Regierung“ diese weniger effizient und rationell, vor allen Dingen aber weniger effektiv und rentierlich verwalten sollte. Auch die Privatwirtschaft kennt Bereiche, innerhalb derer Vermögensverwalter einzusetzen rational ist und darauf zu verzichten, geradezu fahrlässig wäre. Die voranschreitende funktionale Differenzierung und Unübersichtlichkeit legt dieses im Falle der Regierung ebenso nahe wie sogar das begrenzte Zeit- und Kompetenzbudget der Regierten. Auch der Monarch muss mit zunehmender Kompliziertheit immer mehr Kompetenzen seinen Beamten anvertrauen.496 Die zunehmende Eigenpersönlichkeit und Verselbstständigung des Staates ist vielmehr Ausdruck zunehmender funktionaler Differenzierung. Im angelsächsischen Raum, namentlich in den Vereinigten Staaten von Amerika fehlt freilich dieser zeitliche Entstehungsvorrang des Staates vor der Demokratie. Der Staat wandelt sich damit jedoch nicht nur als historisches Phänomen, sondern auch als sachlich gedachtes Konzept von einem Wirt zu einem Symbionten der Demokratie: Eine vorkonstituionelle Geschichte des Staates fehlt hier.497 Freilich ist die US-amerikanische Entwicklung und erst recht die Katapultierung postkolonialer Stammesgesellschaften in demokratisch verfasste Staaten ohne das ideenhistorische Erbe des Alten Europa nicht möglich: Der neutrale, zunehmend um sachliche Herrschaftsbegründung bemühte Gesetzesstaat ermöglicht die Abkehr von der Selbstverständlichkeit ständischer Herrschaft zu demokratischer Gleichheit.498 494

Hesse 1970, 8. Hoppe 2003, 71. 496 Demel 1993, 3. 497 Kern 1949, 7. Dass vor Begründung des Nationalstaates auch die Nation als relativ flexibles persönlichkeitsdefinierendes Konzept solches universales, gleichsam weltbürgerliches Freiheitsverständnis zuließ, zeigt Meinecke 1922, 175 am Beispiel von Gneisenaus. 498 Luhmann 1983, 172. 495

A. Modifikation von Zwangsgewalt

469

Gleichermaßen ist freilich allen modernen in Territorialstaaten institutionalisierten Massendemokratien gemeinsam, dass sie eine weitere Steuerungsmöglichkeit für Politik erschließen, indem massenhaftes Individualhandeln durch Wahlen und damit einhergehende politische Präferenzen öffentlich wird: Diese Steuerungsmöglichkeit muss nicht kultivierend, sie wird vielmehr zumeist adaptierend sein. Dies ändert nichts an dem Rationalisierungseffekt, den Demokratie bewirkt. Dem Individuum wird relativ mehr bekennendes oder zumindest sich bezeichnendes Verhalten abverlangt als ohne Wahlen. Die Tatsache der Anonymität der Wahl schränkt diesen Effekt keineswegs nur ein. Gerade weil sie dem Individuum ermöglicht, seine Gedanken zu äußern, nimmt ihm die Anonymität ein weiteres Stück seiner Privatheit. Das Individuum trägt Interessen in den öffentlichen Bereich, die ansonsten privat blieben. Die Demokratie ist damit wiederum Weiterentwicklung eines Prozesses von Konzentration massenhaften Verhaltens, wie sie ihren Ausgang im Konzept der Nation nahm.499 bb) Inhaltliche Hierarchie: Zur Demokratie durch Staat „Hierarchie schafft Demokratie“: Dieser auf Hans Kelsen zurückgehende Gedanke überzeugt den Hierarchieskeptiker nicht nur,500 indem jenes Diktum auf das Trefflichste veranschaulicht, dass die moderne Demokratie auf staatliche (Erzwingungs-)Apparate angewiesen ist, sondern vielmehr, indem es feststellt, dass Demokratie die einzige Legitimation staatlicher Hierarchie ist. Staatlichkeit ohne Demokratie verbleibt in modernen Gesellschaften nur residuale Akzeptanz, Staatlichkeit ohne Akzeptanz der Volkssouveränität ist gleichermaßen illegitim wie illegal. Demokratie ist das Maß aller Staatlichkeit in der westlichen Moderne und wird vom Westen nunmehr weltweit zur conditio sind qua non erhoben. Dabei ist die moderne Demokratie ihrer Herkunft nach mehr ein Kontrollmodus des ansonsten allmächtigen Staatsapparates als dessen Legitimation.501 Schränkt dies das Programm von Demokratie als einer echten aktiven Regierung durch das Volk ein, so ist gerade diese Reduktion auf das kontrollierende Moment dazu angetan, den Staat, der an sich bereits einen Rationalisierungsmodus darstellt, weiter zu rationalisieren, ohne seiner Rationalisierungsleistung Abbruch zu tun. Wahlen sollen demnach ein vom Staatsapparat unabhängiges Idealbild ermitteln, an dem das Handeln des Staates, namentlich der Exekutive gemessen und kontrolliert wird.502 Tatsächlich liegt es in der Eigenart repräsentativer Demokratie mehr denn je begründet, dass Wahlen eher die Funktion nachträglicher gleichsam abrechnender Sanktionierung aufweisen, als dass mit ihr tatsächlich Gesetzge499 500 501 502

Meinecke 1922, 8. Kelsen 1963, 74. Bäumlin 1954, 32. Luhmann 1983, 19 f.

470

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

bungs- oder andere politisch erhebliche Verfahren gekoppelt wären.503 Im Gegenteil. Die wenigsten Wahlen spitzen sich zu Plebisziten zu, die über Einzelfragen abgehalten werden, und geschieht dies dennoch, so zeugt es eher von einer Störung repräsentativer Demokratie als von ihrer Funktionstüchtigkeit. Der Demokratie kann dabei letztlich nur der Gesetzesstaat, wie er sich seit dem Absolutismus herausgebildet hat, als Vollzugsinstrument dienen.504 Diese Erkenntnis liegt auch dem Rechtspositivismus der Kelsenschen Staatslehre zugrunde. Gesetzlichkeit des Staatshandelns ist gleichsam die Kette, an die der moderne Staat vom Parlament gelegt wird. Unter den Bedingungen einer fortgeschrittenen Demokratie, namentlich unter professionalisierten und vermachteten Gesetzgebungsprozessen, die von der Macht organisierter Interessen geprägt werden, kann sogar die exekutive Planung vom Antagonisten zum Protagonisten des demokratischen Gedankens werden. Die als Agent des Gemeinwohls planende Exekutive, so lautet ein verbreiteter Entwurf von Politik, ist gegenüber einer unter Partikularinteressen gleichsam aufgeteilten Legislative rocher de bronze der Demokratie. Dies ist einerseits zutreffend, da in einer Demokratie tatsächlich die stärker artikulierbaren Partikularinteressen die Überwindung des Gefangenendilemmas hemmen oder gar hindern können. Als spezifisch demokratisches Element solchen Staatshandelns erachtet dieser Entwurf das Moment der Planung: Ein rein sachgeleitetes Entscheiden führe an „das Ende aller Krisen“ 505 und somit ersetze „liberaler Konsens jede ideologische Konfrontation“,506 lautet der Traum einer neuen Aufklärung, die in den 1960er Jahren ihren Ausgang nimmt. Die Planungszunahme wurde bereits zeitgenössisch erkannt.507 Andererseits begibt sich aber eben, wer auf rein technokratisch angelegte Steuerung zurückgreift, auch derjenigen Rationalisierungswirkungen, die von demokratischer Kontrolle und der enormen Kraft demokratischer Legitimation ausgehen können. Die Annahme, Demokratie stärke Staat, beschreibt gleichsam die große Legende der USA,508 ohne dass solche Stärkung zwangsläufig zu Staatsausdehnung führe. In Deutschland hingegen ist der demokratische Gedanke so stark verrechtlicht, als Inhalt in das formale System der Rechtsstaatsorganisation eingebunden und dadurch anderen Inhalten angeglichen, dass es zu einer gewissen Relativierung kommt.509 Es ist der Rechtsstaat, aus dem alles abgeleitet wird, sogar die gesamtgesellschaftliche Demokratisierung.510

503 504 505 506 507 508

Luhmann 1983, 246. Isensee 1968, 215 f. Metzler 2002, 76 und 96. Günther 2004, 285. Böckenförde 1972, 430. Fenske 2004, 170.

A. Modifikation von Zwangsgewalt

471

Der Gedanke der Demokratie wird künftig vor allem als Gedanke eines Wettbewerbssystems durch den regulierenden und kooperierenden Staat verwirklicht werden, was zu mittelbarem Verlust staatlicher Demokratie durch den Rückzug des Staates führen kann, aber dafür direkte, nicht unmittelbar staatsgestützte Demokratie vermehren kann.511 Die These, „dass in einem strengen Sinne in der Demokratie der Staat nicht existiert“, mag zwar Ideal bleiben, scheitert jedoch daran, dass zu jeder Herrschaftsform ein Herrschaftsapparat gehört, damit Herrschaft überhaupt stattfinden kann: Schon gibt es aber den Staat. Althusius gibt mit seiner Regel, die Mehrheit müsse über das entscheiden, was alle betreffe, also über Kollektivgüter, während Einstimmigkeit bei den Entscheidungen herrschen müsse, die den Nutzen lediglich einzelner Individuen verringere, tatsächlich en passant eine frühe Leitlinie, was demokratischer Entscheidung unterliegen darf und was nicht. Einerseits zeigt der Zuwachs an Demokratie, dass zunehmend weniger vom Gesamtnutzen zu trennen ist, und die Kollektivierung der Daseinsbedingungen zugenommen hat, andererseits wird zumindest prinzipiell klar, dass die Demokratie zu bestimmten Entscheidungsmodi erst gar nicht in Gegensatz geraten muss, ja noch nicht einmal darf. Damit ist aber ein erster Lösungsansatz gegeben. b) Das Verhältnis von Demokratie und Öffentlichkeit: Öffentlichkeit als Funktionsprinzip von Demokratie512 Es könne, so behauptet Hermann Heller, bei wirklichkeitsorientierter Betrachtung des Staates den Staat niemals als Willens-, sondern nur als Akteinheit geben.513 Die dahinter stehende Erkenntnis, dass sich prozedurale Institute bzw. Phänomene jedoch nur erhalten können, indem die sie konstituierenden Verfahren auch durchgeführt werden, und dass ihre Legitimität, nicht unbedingt ihre Legalität, von hinreichender Partizipation der Beteiligten abhängt, gilt zumal für begründete Steuerung des Staates. Demokratie kann nur durch Wahlbeteiligung aufrechterhalten werden: Sie ist also letztlich nicht nur zur inhaltlichen Umsetzung und prozeduralen Gewährleistung ihrer Entscheidungen ein staatserforderndes, sondern darüber hinaus ein unmittelbar partizipationserforderndes Gut: Demokratie wird von den Wählern aufrechterhalten. Damit ist ihr zentrales Funktionsprinzip aber dasjenige der Öffentlichkeit. 509 Isensee 1968, 257 spricht in diesem Zusammenhang von Demokratie als rechtsstaatlichem Prinzip der „Demokratizität“. 510 Isensee 1968, 257. 511 Müller/Sturm 1998, 507–534; Sturm 2004, 388. 512 Kelsen 1963, 87. 513 Heller 1983, 265.

472

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

Öffentlichkeit ist ein bis ins Verwirrende vielfältiger Begriff, zumal im deutschen Sprachgebrauch: Es kann sich um Einwirkung auf die Allgemeinheit handeln, wie dies per definitionem stets mit dem in dieser Untersuchung behandelten Problem der Kollektivgüter eignet. Es kann sich aber auch um passive „Zugänglichkeit für das Publikum (Publizität) handeln.“ 514 Diese Zugänglichkeit macht das hier zu erörternde formale Funktionsprinzip der Demokratie aus, wobei sich im Institut der Wahlen beide Arten von Öffentlichkeit überschneiden. Gegenüber dem Antonym des Privaten ist diese Semantik des Öffentlichkeitsbegriffes jedoch nicht abgrenzbar. Antonym für Publizität ist daher vielmehr Geheimhaltung, wie es das Staatsprinzip der arcana imperii absolutistischer Wohlfahrtsstaatlichkeit gerade mit der Begründung konstituiert, dass somit der öffentliche Auftrag im Sinne des Einwirkens auf die Allgemeinheit zu Gunsten von deren Wohlfahrt optimiert werde.515 Öffentlich kann jedoch auch einfach bedeuten, für Allgemeinheit bzw. Gemeinwohl relevant zu sein, also unter dem hiesigen Aspekt der Veröffentlichung formuliert kollektivgüterrelevant zu sein. Auch eine solche Form von Öffentlichkeit kann privater Trägerschaft unterliegen, wird aber eben immer Gegenstand von Politik sein.516 In Öffentlichkeit als demokratischem, zumal parlamentarisch-demokratischem Funktionsprinzip gründet auch die Eigenart dieser Staatsform als „Regierung durch Konflikt, genauer gesagt, als Mechanismus zur politischen Regelung sozialer Konflikte mit dem Ziele des kontrollierten sozialen Wandels.“ 517 Öffentlichkeit als Funktionsprinzip von Herrschaft wird zunehmend durch komplizierte, zudem häufig grenzüberschreitende Probleme erforderlich, die einerseits politischer Bewältigung bedürfen, aber andererseits nur noch in gesellschaftlichen Subsystemen außerhalb der institutionalisierten Politik zu erforschen sind, namentlich durch die Wissenschaft. Die Frage, ob die zunehmende, vielfach sogar

514

Isensee 1968, 175. Was nicht nur für den frühneuzeitlichen Absolutismus, sondern auch bereits für den römischen principatus galt, dem der Begriff entlehnt ist, Tac. ann. Zur Herkunft des Begriffs „Tacitismus“ der Renaissance der Jahre 1570 bis 1650, Stolleis 1990, 37 ff. 516 In den kontinentaleuropäischen Demokratien haben sich Privatschulen als geradezu prototypisches Beispiel herausgebildet. Sie pflegen in der Bundesrepublik in fast zyklischer Wiederkehr Diskussionsgegenstand der Landespolitik zu werden. In Frankreich waren sie bald nach dem Amtsantritt des Präsidenten Mitterand Herd bedeutender innenpolitischer Konflikte, in Spanien einer der Anlässe, die zum Bürgerkrieg führten. Dies gründet selbstverständlich im Problem der Weltanschauungsgebundenheit privater, namentlich kirchlicher Schulen. Das Kollektivgut Bildung ist, da es mögliche Präformierungen heranwachsender Wählergenerationen betrifft, selbst einer der bedeutendsten Ausgangspunkte der künftigen Gewährleistung von Kollektivgütern und damit in einer pluralistischen Gesellschaft eo ipso politisch. 517 Dahrendorf, Fällig: Reform des Bonner Systems, kein Vorschlag darf tabu sein, Die Zeit, 15.12.1967. 515

A. Modifikation von Zwangsgewalt

473

globale Differenzierung und Verflechtung der modernen condition humaine eine durch Wissenschaft zu bewältigende Folge von Politik oder eine erst durch Wissenschaft ermöglichte Voraussetzung von Politik darstellt, ist gleichermaßen unbeantwortbar wie müßig, da es sich um Wechselwirkungen handelt, die sich durch Politisierung von Wissenschaft und Verwissenschaftlichung von Politik beschleunigt seit den 1960er Jahren auch institutionell verfestigt haben. Unverzichtbares Medium, um wissenschaftliche Erkenntnis in Politik zu transformieren und politischen Wandel über politische Prozesse herbeizuführen, ist die öffentliche Diskussion.518 Historisch betrachtet erweist sich die öffentliche Meinung gar als Produkt wissenschaftlicher Kritik am vormodernen Weltbild des Mittelalters.519 Da zunehmend die Fortschritt hemmenden oder fördernden Wirk- und Bezugsgrößen auf Wissenschaft basieren und durch öffentliche Meinung transformiert werden, ist auch das Bildungswesen nicht nur für Demokratie, sondern für Fortschritt allgemein von steigender Bedeutung.520 Hierin liegt einer jener mittelbaren Zusammenhänge begründet, auf die Sen hinweist: Nicht Demokratie selbst, wohl aber Bildung wirke wachstumsfördernd. Breite Bildung aber wirkt eo ipso emanzipierend. Der traditionsreiche Konflikt, den Utilitaristen, gleich ob sie Bentham oder Mill folgen,521 mit Liberalen, gleich oft diese der Kantianischen und Rawlsianischen Gerechtigkeitstheorie anhängen, über die Frage führen, ob Freiheit Funktion von Nützlichkeit oder als Gerechtigkeit Wert an sich sei, lässt sich dahingehend bewältigen, dass Freiheit als Selbstzweck gedacht und operational angelegt werden muss, um rationalisierend und langfristig wachstumssteigernd wirken zu können.522 Trotz mit Verwissenschaftlichung einhergehender zunehmender Bedeutung von Fachsprachen, was nicht selten auch bei politisch unmittelbar relevanten Problemen sogar die Mathematik sein kann, bilden moderne Demokratien eine eigene Sprache heraus,523 die für die politischen Akteure vornehmlich legitimatorische Bedeutung hat, aber zugleich die Offenheit der Politikinhalte berücksichtigt und sich somit als Medium der öffentlichen Meinungsbildung qualifizieren will. Im hier behandelten Zusammenhang ist aber entscheidend, dass jener demokratische Jargon rationalisierend wirken kann. Er vermag die Partikularinteressen 518

Sen 2002, 289. Heller 1983, 196. 520 Heller 1983, 196. 521 Als klassische Studie zu Bentham: Gall 1963; Rezente Literatur in Auswahl: Crimmins 1990; Luik 2003; Leroy 2003; Braybrooke 2004; Lodovici 2004. 522 Waschkuhn 1998, 420. 523 Vermutlich stellt auch die Herausbildung eines spezifisch Jargons demokratischer Politik, der sich durch Instruierung und Überzeugung auszeichnet, bereits ein antikes Phänomen dar. Die Analyse antiker Rhetorik unter demokratietheoretischer Hinsicht steht jedoch noch am Anfang, cf. Yunis 1996 und Ober 1989. 519

474

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

über den öffentlichen Diskurs zumindest zu koordinieren, wenn nicht schon darüber ansatzweise zu konsensualisieren.524 Zum Teil besteht die Funktion des demokratischen Jargons darin, den Rationalisierungsgewinn, den Staat erbringt, also Gemeinwohl(-optimierung) und Bereitstellung nicht oder nicht unmittelbar marktgängiger Kollektivgüter, nicht unter den notwendig konfliktär geprägten Bedingungen von Demokratie zu zerstören. Sprache ist dasjenige Medium, das den „Prozess der Deutung, Urteilsfindung und Interpretation sozialer Phänomene spiegelt und (mehr oder weniger) transparent macht.“ 525 Da sie aber zugleich das Medium der Politik selbst ist, verschmelzen öffentliche Meinung und demokratische Politik zu einer untrennbaren Einheit, die freilich gleichsam wie siamesische Zwillinge gleichwohl eigene Bereiche bleiben. Aussprache ist für Parlament begrifflich wie sachlich konstitutiv. Da Kollektivgüter einen sprachlich oftmals schwer darstellbaren und diskutierbaren Gegenstand darstellen, aber im allgemeinen Bewusstsein mit bestimmten Werten assoziiert werden, hat demokratische Politik letztlich keine echte Alternative, um auf begriffliche Zuspitzung verzichten zu können. Weil vor allem Definitionen Realitäten schaffen, ist Macht im demokratischen Politikbetrieb in hohem Maße kommunikative Macht: Wer das sprichwörtliche „Machtwort“ äußern kann oder wer auch nur im nicht minder sprichwörtlichen Sinne „etwas zu sagen hat“, verfügt in der Demokratie über diese Macht niemals ohne sprachliche Kompetenz.526 Dies gilt für den Staat nicht derart uneingeschränkt. Hier führt in der Verwaltung wie der vom Wissen der Verwaltung regelmäßig abhängigen Ausschuss- und Fraktionsarbeit des Parlaments gerade die Spezialisierung und Verwissenschaftlichung zu Routine und Sachwissen, dessen Wert und Wirkung sich unmittelbarer und sachgerechter entfalten kann als im Raum des Publiken, das als Teil des Reiches medialer Inszenierung kolonisiert ist. Die in interna und arcana der Regierung teils bis zum existenziellen Verschmelzen eingeweihte Regierungsfraktion ist die Schleuse zu jenem Bereich, in dem niemals Sprachlosigkeit herrscht.

524 Paradigmatisch für die Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland, die jedoch nur eine allgemeine Affinität der westlichen Welt zu dieser Zeit widerspiegeln, Politik in Planung und Ideologie in Rationalität transformieren zu wollen, ist die von wirtschaftswissenschaftlich informierter Rationalität geprägte Terminologie Ludwig Erhards: Sie entfaltet gleichsam ein eigenes Pathos des Nüchternen und endet letztlich aber in einer als unpolitisch empfundenen Unverständlichkeit, die Symptom, wenn nicht gar Ursache seines Scheiterns wird, Bergsdorf 1983, 183. 525 Korte/Fröhlich 2004, 260. 526 Die Literatur zu diesem Kern demokratisch verfasster und informierter Machtpolitik ist allein für den deutschsprachigen Bereich uferlos. Die einschlägige deutschsprachige Monographie stammt von Bergsdorf 1986, deren empirisches Substrat die „Bonner Republik“ bietet, aber am Maßstab hoher Allgemeingültigkeit orientiert ist. Für viele sei als neuere Publikation, die auf die Bedeutung von Sprache im politischen Betrieb eingeht, Korte/Fröhlich 2004, 270 f. genannt.

A. Modifikation von Zwangsgewalt

475

„Die rationalitätsfördernde Debatte aller öffentlichen Angelegenheiten“ ist bereits von David Hume als prominentes Merkmal deliberativer Demokratie definiert worden.527 Diese setzt freilich wiederum polyarchische Morphologie öffentlicher Herrschaft voraus. Der Diskurs selbst wird darüber zum entscheidenden Legitimitätssignum, übergeordnete ethische Prinzipien reichen nicht aus. Entscheidend ist zu prozeduraler Legitimität geronnene Gerechtigkeit – oder einfach auch an deren Stelle getretene Fairness.528 Öffentlichkeit ist Voraussetzung und Form des „government by discussion“, das bald als Variante, bald als Teil demokratischer Entscheidungsfindung favorisiert wird.529 aa) Gesellschaftliche Gesamtdemokratisierung Während die Frage, inwieweit demokratisch legitimiertes Staatshandeln auf spezifische Weise die derart beeinflusste Gesellschaft prägt, was also ungeachtet seiner Intention ein demokratisch gesteuerter Staat mit der Gesellschaft anders und was er aus der Gesellschaft anderes macht als nichtdemokratisch gesteuerte Staaten, stellt sich gesondert die Frage, inwieweit sich Demokratie als Entscheidungsmodus auch auf nichtstaatliche Bereiche der Gesellschaft überträgt – sei es durch wiederum demokratisch legitimierte staatliche Gesetzgebung, sei es durch soziale Effekte, wie zunehmende Bedeutung von Argument und Überzeugung oder etwa beschleunigte allgemeine Differenzierung und spezifische Politisierung, Pluralisierung und Fragmentierung. In dieser Weise als Wirkung von demokratischem Staat auf Gesellschaft definierte gesamtgesellschaftliche Demokratisierung ist von staatlicher Demokratisierung der Gesellschaft zu unterscheiden. Freilich sind in praxi die Grenzen fließend,530 so dass ein Teil dieses inhaltlichen Problems bereits bei Gelegenheit der zu untersuchenden Formen von Demokratie behandelt worden ist, ein anderer Teil als Teil des Prozesses der Veröffentlichung behandelt werden wird. Die Antworten auf die Frage danach, inwieweit Demokratie sich als Entscheidungs- bzw. als Herrschaftsform auf die Gesellschaft überträgt, stellt selbstverständlich eine Teilmenge auf die Antwort derjenigen Frage dar, inwieweit Demokratie gesellschaftsformend wirkt. Staatlich betriebene und sanktionierte Demokratisierung privater Bereiche bildet gleichsam ein Ana527

Waschkuhn 1998, 503. Habermas 1994, 674. 529 Scharpf 1975, 24. „Government by discussion“ wird heute vor allem als Gegenteil einer mechanischen Selbsttätigkeit der „party-machines“ favorisiert. 530 Wie fließend diese Grenze und wie totalitär das Potential von Demokratie ist, zeigt die Demokratiedefinition von Habermas: „Demokratie arbeitet an der Selbstbestimmung der Menschheit, und erst wenn diese wirklich ist, ist jene wahr. Politische Beteiligung wird dann mit Selbstbestimmung identisch sein.“, Habermas 1973, 11. 528

476

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

logon zu der in der Bundesrepublik Deutschland entwickelten Drittwirkung der Grundrechte:531 Hiermit liegt ein heuristisches analogiefähiges Konzept vor, das von Institutionen, die aus dem Verhältnis von Staat und Bürgern bekannt sind, auf den Verkehr Privater untereinander übertragen wird. Diese geringe Unterscheidbarkeit dürfte auch der relativen Indifferenz des berühmt gewordenen Wahlslogans zugrunde liegen, der aus dem Jahre 1969 datiert, demzufolge es mehr Demokratie zu wagen gelte. Gemeint war damit seinerzeit freilich eine Demokratisierung gesellschaftlicher Steuerung, da qualitative, also materiell inhaltliche Demokratisierung von Gesellschaft dem nichttotalitären Staat ohnehin schon allein normativ niemals voll verfügbar sein kann.532 Im Kern auf Institutionen, die in welcher Weise auch immer „politische“ sind, beschränkt ist jedoch von Beginn dieser Diskussion an auch sektoral nicht völlig klar, ob und inwieweit sie die gesamte Gesellschaft umfassen sollte.533 Es liegt in der Begrenztheit von staatsbezogener Politik und mithin umgangssprachlich verkürzt von Politik schlechthin, dass sie letztlich nur den Staat demokratisieren kann. Es liegt in der verheißungsvollen Offenheit besagter Devise, dass sie in Deutschland Legitimationsidee jener in der gesamten Welt ihren Ausgang nehmenden Ausdehnung von Staatlichkeit ist, wie sie für die 1960er und 70er Jahre bereits als signifikant beschrieben worden ist. Der hinter dieser Ausdehnung des Staatlichen stehende Gedanke, die Gesellschaft als Ganze zu demokratisieren, birgt indes die Gefahr, vielmehr alles Staatliche aufzusaugen und zu einer totalen Gesellschaft zu führen. Bereits zeitgenössisch wird die Demokratisierung der Gesellschaft teils als „Wegmarke zum Totalitarismus“ gewertet,534 teils wird gerade dieser Demokratisierung der Gesellschaft ihren Lauf zu lassen als Verhütung eines politischen Vakuums gefordert, das sich ansonsten ideologisch auflade.535 Neben der unmittelbaren Ausdehnung demokratisch legitimiert zu steuernder Lebensbereiche und der mittelbaren Wirkung demokratisch legitimierter staatlicher Steuerung auf die Gesellschaft kann unter dem Begriff der Demokratisierung auch die Vertiefung bereits bestehender demokratischer Legitimation mit dem Begriff der Demokratisierung gemeint sein. Normativ kann dabei eigentlich nur diese Vertiefung oder die Ausdehnung demokratischer Steuerungsmodi auf neue Lebensbereiche gemeint sein.536 Etwaige Rückwirkungen eines demokra531 Zur Drittwirkung der Grundrechte ist die Literatur praktisch kaum noch zu überschauen. Als herausragende Stationen ihrer Erforschung seien genannt: Herzog 1971, 392; Canaris 1984 und Alexy 1986. In historischer Perspektive ist das Lüth-Urteil, BVerfGE 7, 198, aber auch die darüber im Schatten stehende Blinkfüer-Entscheidung BVerfGE 25, 256 als Geburtsstunde der Drittwirkung der Grundrechte zu nennen: Henne/Riedlinger 2004; Kübler 2000, 313 ff. 532 Brandt 1969, 3 f. 533 Dahrendorf 1967a. 534 Böckenförde 1976b, 414. 535 von Krockow 1976, 462.

A. Modifikation von Zwangsgewalt

477

tisch gesteuerten Staates auf die Gesellschaft sind zwar von den jeweils Regierenden auch beabsichtigt, stellen aber mehr eine deskriptive Feststellung der gesellschaftlichen Erheblichkeit eines demokratischen Staates dar. Zu nimmt in jedem Fall aber die Zahl der „Vermittler“ zwischen dem Willen der Regierten und der Regierenden. Demokratisierung weitet zwangsläufig den Kreis des im weitesten Sinne politischen Personals aus und wirkt somit auf die Gesellschaft politisierend.537 Dies weitet wiederum jenes Zwischenfeld aus, das Habermas als das Soziale ausmacht.538 Seit langem hochumstritten, aber zunehmend weniger erörtert ist die Frage, ob die psychologische Wirkung von Demokratisierung außerhalb des staatlichen Bereiches ähnlich rationalisierungskatalysierend wirkt, wie dies für den Bereich des Staates zu vermuten ist.539 Nicht zuletzt wird für den rationellen Massenbetrieb, wie ihn industriell und bürokratisch geprägte Bereiche des Arbeitslebens konstituieren, befürchtet, dass eine Demokratisierung hier die der Arbeitsweise inhärenten autoritären Mechanismen nicht mildert, da die Arbeitnehmer durch diese sozialisiert und auch anderweitig eher autoritär geprägt seien:540 Demokratisierung kann hier tatsächlich unmittelbar freiheitsbeschränkend wirken und zu einem „working class authoritarianism“ führen.541 Was im staatlichen Bereich oftmals als eine innere Widersprüchlichkeit von Rechtsstaat und Demokratie festgemacht werden zu können scheint, obwohl es sich hier gerade durch den Verweis auf den außerstaatlichen Bereich als Welt der Freiheit entschärfen lässt, würde sich im nichtstaatlichen Bereich womöglich in seiner ganzen Schärfe auswirken. Allein das bewegte 20. Jahrhundert veranschaulicht indes, dass selbst Demokratisierung des staatlichen Bereiches noch nicht einmal denjenigen Grad an Politisierung der Gesellschaft herbeiführt, die für ihre Demokratisierung Voraussetzung wäre. Die Gegenwart ist hingegen von einer hochgradig unpolitischen Haltung dominiert.542 Ist es also fraglich, ob Demokratie eine signifikant gesellschafts536

Schelsky 1973, 52. Schelsky 1973, 52. 538 Eine neuere instruktive Definition des Sozialen als Raum findet sich bei Brall 2006: Der Begriff sei geprägt worden, „um die Folgeprobleme der industriekapitalistischen Zerstörung agrarisch-ständischer Lebensordnungen zu bewältigen und eine neue Einheit der sich differenzierenden Gesellschaft herbeizuführen“, Brall 2006, 17. „Das Bewusstsein des Unterschiedes zwischen Sozialem und Politischem setzt sich in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts so allgemein durch, dass auch der Unterschied zwischen der kommenden sozialen Revolution, nämlich in Frankreich, konzipiert werden konnte“, ebd. 18. 539 Luhmann 1983, 90 hielt dem Diskurs zu diesem Thema, wie er in den ausgehenden 1960er Jahren geführt wurde, seine „primitive Psychologie“ vor. 540 Scharpf 1975, 41. 541 Waschkuhn 1998, 22. 542 Wie ähnlich bereits im 1985 erstmals erschienen Band „Wir amüsieren uns zu Tode“ von dem US-amerikanischen Soziologen Neil Postman beschrieben worden sind. 537

478

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

prägende, geschweige denn -infizierende Form staatlicher Verfasstheit darstellt, so bleiben doch kaum Zweifel, dass Demokratie in der ideengeschichtlichen Ausgangslage der Aufklärung, wie sie für die Moderne noch immer und für die angebrochene Postmoderne als Zeitalter der Entideologisiertheit ohnehin konstitutiv ist, gesellschaftsformendes Prinzip sine qua non ist. Die zahlreicher werdenden Grotesken und Polemiken gegenwärtiger Gesellschaftskritik verdeutlichen eine in der Demokratietheorie etablierte Richtung, die seit Jahrzehnten selbst unter Privilegierten also unter potentiellen und bis zu einem gewissen Grade auch aktuellen Eliten eine hohe Partizipationsschwelle wahrnimmt.543 Daher könne politische Apathie der Bevölkerung insgesamt nicht als kontingent erachtet werden, sondern sei als Prämisse jeglicher Partizipationstheorie im Allgemeinen und von Demokratisierungsmodellen im Besonderen zu berücksichtigen. Entscheidender Faktor von Demokratisierung im Allgemeinen, aber im Falle nichtstaatlicher Bereiche besonders akut, ist die Freiheitsfähigkeit, die den Wählenden eingeräumt wird. Diese ist regelmäßig kontextabhängig: Bei Unwissenheit, von der in nicht wenigen nichtstaatlichen Gesellschaftsbereichen in weitaus stärkerem Maße auszugehen, ist als in der „großen Politik“ fungiert Demokratie bzw. Demokratisierung auch als Mittel eliteninterner Machtkämpfe. Fürsorgerisches Handeln, das freilich von Paternalismus und Bevormundung durch das Kriterium des Einverständnisses des Klienten zu trennen ist, kann in bestimmten Zusammenhängen den Willen des zu demokratischer Wahl Ermächtigten eher umsetzen: „Don’t leave the choice to me, you know this restaurant and my tastes, you should choose what I would like to have.“ 544 Mit diesem Beispiel aus dem Alltag veranschaulicht Sen jenes Problem.545 Demgegenüber kann dem Individuum freie Meinungsäußerung zu versagen bei sachlicher Entscheidungsgleichheit als Vorenthalten prozeduraler Freiheit bevormundend und übergriffig wirken: „We may [. . .] also value [. . .] the process of choice (,I know you can express my views much better than I can, but let me speak for myslf.‘)“, so beschreibt Sen dieses Problem auf das Anschaulichste als einen „,process aspect‘ of freedom“ 546 Die damit erzeugte Atmosphäre der Unfreiheit ist insbesondere im Bereich der Symbolpolitik dafür verantwortlich, dass Individuen gegen ihr inhaltliches Interesse in einer betreffenden Angelegenheit handeln, weil die Ausübung prozeduraler Freiheit wichtiger ist. Taktisches Raffinement weiß diese Missachtung prozeduraler Freiheit entsprechend auszunutzen, um die bevormundete Person durch eine entsprechende Vorgabe auch inhaltlich in die gewünschte Richtung zu treiben. Die Vielgestaltigkeit des Lebens verwehrt 543

Scharpf 1975, 54 ff. Sen 2002, 10. 545 Sen 2002, 10. 546 Sen 2002, 10. Grundsätzlich ist dies auch in einem Rechtssystem wie dem der Bundesrepublik Deutschland anerkannt, Isensee 1988, § 57, 89. 544

A. Modifikation von Zwangsgewalt

479

jedoch, dass sich solche Zusammenhänge befriedigend typisieren und regulieren lassen. Vielmehr muss Demokratie in eine entsprechende „Lebensweise eingebettet sein, die alle Bereiche menschlichen Zusammenlebens betrifft.“ 547 Schließlich kann selbst solche Missachtung prozeduraler Freiheit rationalisierend wirken: Indem der Bevormundete zur Demonstration seiner prozeduralen Freiheit gegenüber Dritten, d. h. also zur Demonstration seiner relativen Macht eine andere Entscheidung trifft als der Bevormundende, realisiert sich Mehrdimensionalität sozialer Selektion, was zu erhöhter Flexibilität und Anpassungsfähigkeit des Gesamtsystems führt. Voraussetzung hierfür ist mindestens dreierlei: Ein hinreichendes Maß an Freiheit wie deren Bedrohung durch Ranghöhere, vor allem aber die absolute externe Entscheidungsorientierung durch den Ranghöheren. Rekurriert dessen Wahl von vornherein auf die interne machttechnische Wirkung, so ist diese Wirkung weniger wahrscheinlich. Beide Seiten müssen gegenüber der nächst höheren Einheit relativ insouverän sein, damit die Entkoppelung von Umweltanpassungsdruck und Individualentscheiden gelingen kann. Demokratisierung zusätzlicher Lebensbereiche bietet freilich die Möglichkeit, die intraindividuellen Widersprüche, die sich aus seiner Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Zusammenhängen resultiert, artikulieren und ausgleichen zu können. Der Gesamtnutzen und daraus ableitbar das Allgemeininteresse sind in hochgradig funktionell differenzierten Gesellschaft, wie sie die modernen Staaten in der westliche Welt als Bedingung vorfinden, im Individuum selbst enthalten. Demokratisierung möglichst vieler Lebensbereiche führt daher nicht nur zu größerer Selbstverpflichtung und Mündigkeit des Individuums, sondern katalysiert auch die Ermittlung des Allgemeininteresses bzw. des Gemeinwohls: Die Widersprüche des Individuums werden somit offensichtlich und eröffnen die Möglichkeit, Responsivität nicht nur einseitig als eine solche der Regierenden gegenüber den Regierten zu begreifen. Ist dafür Gewaltenteiligkeit erforderlich, wozu auch die klassische staatliche Gewaltenteilung gehört, wenn sie sich aber nicht erschöpft, so kann sich dieses Potential nur bei relativer Demokratisierung dieser Gewalten entfalten.548 Demgegenüber ist planmäßiger Demokratisierung immer weiterer Lebensbereiche, mit der seit den 1970er Jahren zunehmend das Leben in der westliche Welt überzogen wird, die Schwäche zu Eigen, dass sich zugleich zunehmend ihre politische Instrumentalisierbarkeit zeigt. Prominentestes Beispiel ist die Verselbstständigung der unternehmerischen Mitbestimmungskörperschaften, die dazu neigen, statt einer Vermittlung betrieblicher Partikularinteressen häufig ein drittes Partikularinteresse herauszubilden. Insofern zeigt sie, vor allem im Kon547

Schmidt 2000, 577. Demgegenüber betont ein politisch und strukturell konservativer Denker wie Schelsky 1973 (a), 57 f., dass gerade für diese Funktion die ausschließliche Bindung gewisser Gewalten an den Sachverstand existentiell sei. 548

480

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

trast mit den Demokratien des britischen Commonwealth, aber auch mit der alten direktdemokratisch geprägten politischen und gesellschaftlichen Kultur der Schweiz, dass solche Kultur wachsen muss, indem sich in den Gesellschaften eine Vorstellung von „Fairness“ einstellt.549 Diejenige Entwicklung, über die heute allgemein erhofft wird, Freiheit zu vergrößern, die Privatisierung und der weitgehende Rückzug des Staates aus der Kollektivgüterbereitstellung stehen bisheriger Praxis der gesamtgesellschaftlichen Demokratisierung entgegen und sind zumindest bei ihren Initiatoren in der Regel unausgesprochen darin motiviert, tatsächliche oder vermeintliche Effizienzhemmnisse durch Demokratisierungs- und Partizipationsprozesse zu überwinden. Diese Entdemokratisierung durch Entstaatlichung zeigt, dass dort, wo sich demokratische Steuerung einmal eingestellt hat, diese tatsächlich in einen mittelbaren Gegensatz zur individuellen Freiheit gerät. Aber dieser ist in doppelter Hinsicht vermittelt. Zum einen erfolgt dies durch den Staat. Sein Eingriff ist noch immer Voraussetzung für Demokratie jedweder Art. Zum anderen erfolgt dies aber insofern vermittelt, als sich diese Wirkung häufig erst bei dessen Rückzug und der darüber erfolgenden Entdemokratisierung zeigt. Freilich vermag Demokratie auch Freiheit surrogatär zu restituieren, die dem Bürger genommen worden ist, da regulär im modernen Staat keine Zwangsgewalt ausgeübt werden darf.550 Ist diese Einschränkung als solche seit dem hohen Mittelalter zunehmend zur Selbstverständlichkeit staatlich verfasster Gesellschaften geworden,551 fordert sie schon aus sich heraus, dieses Monopol möglichst abzumildern. Zumeist wird aus dieser Monopolisierung die Konsequenz einer möglichst extensiven Rechtsstaatlichkeit gezogen. Angesichts der Ubiquität des Verbotes der Zwangsgewalt lässt sich aber auch folgern, die demokratische Steuerung sei auf möglichst weite Teile der Gesellschaft auszudehnen. Auch schützt unabhängige Herrschaft institutionalisierten Sachverstandes nicht vor Populismus, da dieser sich oftmals schon über die Sprache einschleicht, zumal in ihrer Eigenart nach emotional aufgeladenen Politikfeldern wie der Staatsfinanzierung. Hier verfällt sogar Verfassungsgerichtsbarkeit in populistische und irrationale Begrifflichkeit.552 Dass Demokratie freilich primär als Gesellschafts- und nicht als Staatsform anzusehen sei, legt das Beispiel der ersten modernen Demokratie, wie sie sich in 549

Schüle 1952, 239 ff.; Bäumlin 1954, 142 f. Auf die Ausnahmefälle der Selbsthilfe ist hier nicht näher einzugehen, zumal sie durch eine restriktive Justiz ohnehin mit einem erheblichen Risiko für den behaftet ist, der sich auf Notstand beruft. 551 Isensee 1968, 160. 552 Cf. Arndt 2000, 133 und Schmehl 2004, 2, erläutern, dass sich das Bundesverfassungsgericht in diesem Zusammenhang öfter als üblich des Begriffes der „Gerechtigkeit“ bedient, ohne dass dieser definitorisch damit klarer würde. 550

A. Modifikation von Zwangsgewalt

481

den USA einrichtet, nahe. Tatsächlich stellt sich bei Tocqueville der Eindruck ein, Demokratie stelle hier eine Lebensform dar, und es sei geradezu die Aufgabe des Staates, die „ihren eigenen Neigungen und fast ohne Zwang ihren eigenen Antrieben“ überlassene Demokratie zu regulieren. Auch wenn dies durch den traditionell starken, aber nicht sonderlich breiten Staat in den USA dem heutigen Europäer befremdlich erscheinen mag, spiegelt es doch weithin bis heute auch das Selbstbild der US-Amerikaner wider.553 Gesamtgesellschaftliche Demokratisierung muss aber weithin erst die Voraussetzungen für organisatorische Veränderung des jeweiligen gesellschaftlichen Umfeldes schaffen, damit der Einzelne überhaupt partizipieren kann: Möglicherweise kann es in hochgradig funktionell differenzierten Gesellschaft noch stärker als im Bereich des Staates, der ja nur Paradigma der Moderne ist, lediglich um Modifikation von Zwangsgewalt gehen.554 bb) Veröffentlichung und Verstaatlichung: Kolonisation privater und intimer Lebenswelten durch das Politische Die Moderne stellt einen Prozess der „Veröffentlichung“ des Zwischenmenschlichen dar: Tatsächlich verlieren die Distinktive von Staat und Gesellschaft an Schärfe, so dass zu dem Bereich des Öffentlichen, der sich in England seit dem 17. und in Deutschland und Frankreich seit dem 18. Jahrhundert herausbildet, allmählich ein Bereich des Sozialen aufkommt. Dieser Vorgang ist grundsätzlich bereits von Habermas erkannt und beschrieben worden.555 Als ein auf Individualinteressen gestützter gesamtgesellschaftlicher Rationalisierungsprozess ist der Prozess der Veröffentlichung möglicherweise irreversibel. Bereits im Gedanken der Nation deutet sich eine erste auf eine solche Veröffentlichung hindeutende „Fundamentalpolitisierung“ individueller Lebensverhältnisse an. Glückseligkeit und Wohlfahrt des Einzelnen gehen in der Existenz des Staates auf.556 Damit ist nicht nur die moderne Staatsraison beschrieben, sondern zugleich die Raison der Kollektivierung des Einzelwohls grundgelegt. Wird mit Machiavelli gesprochen die virtù Leitidee, so wird das Leben einer rationalen Daseinsbewältigung untergeordnet, wie sie nur durch kollektive Systeme möglich ist, mit denen sich der Einzelne identifiziert.

553

Fukuyama 2004, 30 ff. Scharpf 1975, 68. 555 Habermas 1965. 556 Münkler 1987, 58. Politisierung bleibt ein wenn auch nicht kontinuierliches Phänomen von Modernisierung, cf. auch Nipperdey Deutsche Geschichte 1998, Bd. 1, 33; Fehrenbach 1981; dies. 1993. Aber ist diese Politisierung auf den Prozess der Verstaatlichung beschränkt, so ist für Deutschland freilich zumindest nicht von einer Diskontinuität auszugehen, Demel 1993, 128. 554

482

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

Die Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft ist freilich nur unerheblich älter als das Auftreten des Öffentlichen und institutionalisiert sich maßgeblich mit dem Entstehen von Proto- und Archetypen gewaltenteiliger Staatlichkeit. Am Anfang ihrer Verschmelzung steht also die bewusste Trennung von Staat und Gesellschaft. Diese Entwicklung manifestiert sich etwa im von Kaiserin Maria Theresia herausgegebenen Erlass über die Trennung von Justiz und Verwaltung,557 sowie in dem auf das gleiche Jahr datierenden Reskript Friedrichs des Großen über die Einrichtung „ordentlicher Justizcollegis“.558 Noch der „Altliberalismus“, welcher der dem Bürgertum Orientierung stiftenden national-konstitutionellen Bewegung diente, namentlich Historiker wie Niebuhr und Treitschke verweigerten sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts einem Staatsbegriff, der auf der Trennung von Gesellschaft und Staat beruhe.559 Ein Sozialdemokrat wie Hermann Heller sieht den Begriff der Gesellschaft gar erst „als mit der vollen Entfaltung der ,bürgerlichen Gesellschaft‘“ aufkommen.560

Der Dissens in der Forschung beschränkt sich heute darauf, ob Staat und Gesellschaft reziproke Größen darstellen561 oder ob Politik und Staat als Teilsysteme vom Rest der Gesellschaft abhängig sind.562 (1) Staatliche Reaktion auf staatlich mitverursachte Probleme: Pathologie eines Kreislaufs der Staatsausdehnung Im Schatten einer Politik des Staatsrückzugs vollzieht sich gegenwärtig eine gigantische Ausdehnung des Staates in Lebensbereiche, deren staatliche Durchdringung noch wenige Generationen zuvor unerhört gewesen ist. Es ist vor allem die Idee individueller Freiheit und Emanzipation, wodurch der genuine, protektive Entstehungsgrund des Staates eine Renaissance erfährt. Nachdem der frühmoderne Staat so mächtig geworden ist, dass Individualfreiheit als allein durch ihn selbst gefährdet erscheint, erfasst der moderne staatsgestützte Fortschritt nun mit Ehe und Familie ein Feld, auf dem der Staat nicht selten noch ähnlich von ihm unberührte Bereiche vorfindet wie an der Wende vom Mittelalter zur Neu-

557 „Damit sowohl publica als Judicialia künftighin mehrer befördert würden.“ Zit n. Emig 1935, 6. Ausschlaggebend für gewaltenteilige Staatsorganisation sind also Rationalisierungsmotive. Die Eigenlogik des Staates führt bereits zu zunehmend gewaltenteiliger Organisation. Wohl darin begründet liegen auch die frühesten belegten Sphärentrennungen, die bereits die Rezipienten des Römischen Rechts vornehmen. Die historischen Vorgänge sind im Einzelnen bei Reinhard 2002, 203 in den Zusammenhang der Staatswerdung gerückt und dargestellt. 558 Zit. nach Emig 1935, 7. 559 Riedel 1963, 62. 560 Heller 1983, 124. 561 Grawert 1999, 335 f. und 354. 562 Luhmann 1981, 23; 37 und passim, der selbstverständlich auch nicht ohne die Annahme der Reziprozität auskommt – sie wird jedoch angesichts der Vielzahl anderer Subsysteme vergleichsweise unerheblich.

A. Modifikation von Zwangsgewalt

483

zeit. Noch für Wilhelm von Humboldt kennzeichnet es den zurückhaltenden gleichsam subsidiären Staat avant la lettre, Ehe und Erziehung auszusparen.563 Im Bereich privater und intimer Lebenswelten, wie sie namentlich Ehe und Familie darstellen, zeigt sich Emanzipation als stärker motivierende Kraft denn Subsidiarität, sieht sich doch der von Politik und öffentlicher Meinung geleitete Staat zu hoheitlichem obrigkeitlichem Handeln zu Lasten von liberaler Zurückhaltung veranlasst.564 Mit solcher Art Staatsintervention bricht jedoch auch spezifisch staatliche Rationalität in einen Lebenskreis bislang eigener Rationalitätsformen ein. Während der Staat mittlerweile vorwiegend und der in seinem Gefolge hereinziehende Markt nahezu vollständig in einem Modus selbstinteressegestützter Rationalität prozessieren, ist die spezifisch familiale Rationalität von einer teils biologisch, teils traditional angelegten Form von Altruismus gekennzeichnet, der mittelbar freilich auch Selbstbezüglichkeit aufweist.565 Es ist schwierig auszumachen, inwieweit der Staat, wenn er Funktionen übernimmt, die bislang innerfamiliär gewährleistet wurden, aktiv die Familie ablöst oder vielmehr in ein Vakuum hineinstößt, was gesellschaftlicher Wandel bereits hat entstehen lassen. Subsidiarität unter den Bedingungen zunehmenden Stabilitätsschwundes wird jedoch verstärkt darauf ausgerichtet sein müssen, die familiären Akteure, also zumeist die Eltern, planmäßig und geregelt in den Zustand hineinzuversetzen, den der Staat eigentlich gerade überwinden soll, nämlich in Gefangenendilemmata, die durch Iteration Selbstorganisationskräfte stärken: Prominentes Beispiel ist ein Modell, das im Falle von Ehescheidungen dem sorgeberechtigten Elternteil das Recht einräumt, dem anderen Elternteil, sofern er seiner Unterhaltsverpflichtung nicht nachkommt, das Besuchsrecht zu verweigern. Dass dies ein unbefriedigendes Surrogat für Familie bleibt, ist selbstverständlich. Die mit diesem Modell verknüpfte Hoffnung besteht jedoch darin, zum Kindeswohl ein stabiles Verhaltensmuster der Eltern bzw. überhaupt Kooperation zu erzwingen.566 Freilich kann der Staat das Gefangenendilemma regelmäßig ohnehin nur überwinden, indem er das egoistische Partikularinteresse mit seinem eigenen Ziel, das Allgemeininteresse wahrzunehmen, synchronisiert. Dies läuft nur eben bislang indirekter und über einen aktiven Staat ab. In diesem Beispiel beschränkt sich ein aktivierender Staat darauf, unmittelbar die rein private Sphäre im Sinne des Allgemeinwohls zu beeinflussen. 563 Humboldt 2002, 147 ff.; 57 ff. Die Familie war folglich auch für den frühmodernen Staat sakrosankt, Reinhard 2002. 113. 564 Noch 1959 folgert das BVerfG „ausdrücklich unter Erwähnung des Subsidiaritätsprinzips aus Art. 6 II, III GG [. . .], der Gesetzgeber dürfe grundsätzlich nicht in den freien Ablauf ehelicher Entscheidungen eingreifen, BVerfGE 10, 59 (84 f.)“, zit. nach Isensee 1968, 283. 565 Dass es sich bei einer solchen Art von Verhaltensmodi keinesfalls um Irrationalität handelt, hat nicht zuletzt Sen eingehend theoretisch abgesichert erwiesen, Sen 2002, 227. 566 Mnookin/Kornhauser 1979, 950 ff.; Axelrod 2000, 143 f.

484

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

Staatsausdehnung ist freilich Produkt von gesellschaftlichen und lebensweltlichen Formen, die maßgeblich in der demokratischen Verfasstheit einer Gesellschaft begründet liegen. Sie ist jedoch weniger die unmittelbare Wirkung von Demokratie, sondern die mittelbare Wirkung deren konkreter Organisation, die zumindest in Europa der Politisierung Vorschub leistet, nämlich die Omnipräsenz und der von ihnen hartnäckig geleugnete Allmachtsanspruch der politischen Parteien.567 Parteipolitik droht hierbei die überkommene Rationalität von Sachpolitik abzulösen und somit tatsächlich einen Rationalisierungsrückschritt zu verursachen.568 Und es ist nicht der demokratische Gedanke als solcher, sondern vielmehr die Form des demokratisierten Rechtsstaates mit einer im Namen des Volkes agierenden Minderheit, die besonders geneigt ist, Gesellschaft in noch stärkeren Maße zu veröffentlichen, als dies dem modernen Staat jedweder anderer Form zu Eigen ist.569 Von Demokratie geht jedoch noch eine andere kollektivierende Wirkung aus, die Josef Isensee beschreibt. „Die Demokratie stellt die Einheit des Gemeinwesens her, da sie nur eine Form der Legitimität anerkennt: den Allgemeinwillen des Volkes [. . .], der den Zusammenhang zwischen der privaten Lebensform der Bürger und der politischen Lebensform der Nation herstellt.“ 570

Ist aber der Allgemeinwillen einzige „Form der Legitimität“, so ist damit entsprechend verfassten Gemeinwesen eine Neigung zu Eigen, das Kollektive zur obersten Orientierungs- und Appelationsinstanz, schließlich zum kardinalen Punkt des Bewusstseins werden zu lassen. Ursprünglichster Konkurrent des Staates darum, nichtmarktfähige Güter bereitzustellen, ist die Familie als kleinste und entscheidenste Einheit der Gesellschaft.571 Dabei werden teilweise unterschiedliche Nutzen einer Funktion oder eines Funktionenzusammenhanges entflochten und auseinander genommen. Einer optimalen Nutzenfunktion des Staates kann dann die Verschlechterung eines anderen Nutzens gegenüberstehen: Verbesserte physische Gesundheit kann etwa mit verschlechterter psychischer Gesundheit korrelieren. (2) Die Kollektivierung individuellen Daseins: Freiheitsgewinn oder Freiheitskonversion? Tatsächlich vollzieht und symptomatisiert sich die Kollektivierung, Veröffentlichung, ja Verstaatlichung bis dato familiärer Bereiche durch eine zunehmend 567 568 569 570 571

Schelsky 1973 (a), 62. Schelsky 1973 (a), 53; 62 und 65. Kelsen 1963, 16. Isensee 1968, 150. Gary Becker 1993, 97.

A. Modifikation von Zwangsgewalt

485

impermeablere Trennung von Beruf und Privatleben: Damit werden jedoch beide Bereiche zunehmend heteronom. Die Berufsarbeit wird entpersönlicht, die Familie entautarkisiert. Bedürfnisbefriedigung erfolgt zunehmend über kollektive Systeme. Hierin vollzieht sich geradezu die Manifestation von technischem Fortschritt.572 Was diese Systeme nicht befriedigen, bleibt dem Privatleben überlassen. Dabei handelt es sich um so genannte „commodities“, was hilfsweise mit dem Begriff der elementaren Güter übersetzt sei.573 Die zunehmende Kollektivierung eröffnet dem Individuum ebenso neue Freiheitsgrade, wie es ihm alte nimmt. Es ist hierbei das Erfordernis der Standardisiertheit, das dem Individuum unbekannte Freiheitsräume, erschließt:574 Indem sich Biographien standardisieren und ihre Träger (potentiell) traumatisieren, werden sie jedoch frei wählbar. Individualität und Freiheit stellen sich somit in einem ungewohnten Konflikt dar. Die Diskussion um die Bedeutung, die die Nichtarbeitszeit für die ökonomische Wohlfahrt hat,575 verfestigt nicht nur diese Trennung, sondern unterwirft auch die Nichtarbeitszeit und mithin die Befriedigung elementarer Güter wiederum der Kollektivierung, allein indem sie diesen Teil der Zeit zum Untersuchungsgegenstand erhebt. Rationalisierung, zumindest aber Ökonomisierung scheint unweigerlich Kollektivierung zu bedeuten. Je großräumiger das Gefangenendilemma überwunden werden soll, desto umfänglicher und künstlicher werden die Einheiten zur Bedürfnisbefriedigung. Wohnt zwar der Familie auch bereits rationalisierende Wirkung inne, so ist zwischen einzelnen Einheiten dieses Typs Fehde möglich und bricht auch dort aus, wo Staatlichkeit unter ein kritisches Maß sinkt. Dass funktionale Differenzierung, wie sie heute nicht nur das Leben als ganzes beherrscht, sondern längst auch innerhalb der einzelnen Lebensbereiche eingetreten ist, den Menschen seiner selbst entfremde, ahnt bereits Rousseau und konkretisiert Marx. Anders als Marx weiß Rousseau jedoch um die Unumkehrbarkeit dieser Entwicklung.576 Die Frage, ob durch zunehmende Kollektivgüterförmigkeit individueller Bedürfnisbefriedigung Freiheitsgrade erschlossen oder genommen werden, ist allein schon technisch betrachtet skeptisch einzuschätzen: Die verstärkte Einbindung von Individualinteressen in kollektive Zusammenhänge stellt sich als schwierig da. Zunehmende Kollektivierung der Versorgung und Befriedung essentieller Individualinteressen vermag nur dann dem Individuum zusätzliche Freiheit gerade zu erschließen, wenn ein nicht zurückweisbares Kollektivgut tatsächlich für jedermann einen Gewinn darstellt.577 572 573 574 575 576 577

Sutter 1994, 403. Gary Becker 1993, 100. Ryffel 1969, 19. Gary Becker 1993, 97. Dies ist eine der Lehren des dritten Kapitels von Rousseaus Emile. Blümel/Pethig/von dem Hagen 1986, 265.

486

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

(3) Psychische Wirkungen und soziale Folgen: Eigenverantwortung als notwendige Illusion? Bereits Sprache auf ihr Etymon zurückzuführen eröffnet in diesem Zusammenhang Einblicke in die seelischen Wirkungen dieser Entwicklungen: Autarkie hat im griechischen auch die Bedeutung von Zufriedenheit. Diese wird also bereits zu Beginn der klassischen abendländischen Geschichte mit relativer wirtschaftlicher Eigenständigkeit gleichgesetzt. Dass Autarkie zu verringern, auch wenn dies lediglich Nebenfolge ist, um die Individuen mit bestimmten Gütern besser zu versorgen und ihnen neue Freiheitsräume zu eröffnen, mit Unzufriedenheit einhergehen kann, erhellt also schon sprachlich. Fehlende Eigenverantwortung wird jedoch auch zum normativen Problem: Die stammesgeschichtlich angelegte und (kultur-)geschichtlich verstärkte Instinktarmut des Menschen führt – zumindest unter den Bedingungen moderner Gesellschaften – dazu, dass das Individuum für seinen Lebensunterhalt nicht mehr selbstständig aufkommen kann.578 Es ist derart vergesellschaftet und in kollektive Zusammenhänge eingebunden, dass seine Existenz eine hochgradig gesellschaftlich abgeleitete darstellt. Damit ist freilich nicht nachgewiesen, der Einzelne sei zu völliger Heteronomie verdammt. Hier ist zwischen Heterarkie und Heteronomie, also zwischen Fremdversorgung und Fremdbestimmung, zu unterscheiden. In dieser fehlenden Differenzierung dürfte mittlerweile relativ unumstritten ein Aspekt der Gründe dafür zu suchen sein, dass real existierende sozialistische Systeme des Zusammenlebens eine Entwicklungsneigung zu Passivität und Stagnation aufweisen. Das gegenwärtige Problem besteht vielmehr darin zu realisieren, dass nicht nur die Anwesenheit, sondern auch die Abwesenheit sozialer Sicherung und Fürsorge eine Form von Fremdherrschaft darstellt, weil deren Begründung, dem Einzelnen lediglich seine Freiheit zu lassen, auf eine Freiheit rekurriert, die es nicht gibt, und zwar auch nicht mehr in Gestalt jenes angenommenen anarchischen Urzustandes, wie ihn Hobbes beschreibt. Denn das derart für frei erklärte Individuum verbleibt in einer Gesellschaft, die ihm nicht die Möglichkeiten eines solchen (anthropologisch und stammesgeschichtlich betrachtet wahrscheinlich ohnehin fiktiven) Urzustandes eröffnen kann. (4) Qualitativer Wandel von Gütern nichtfamilial erbrachter Bedürfnisbefriedigung Wie sehr Kollektivierung und umfassende soziale Sicherung und Versorgung mit dem Öffentlichen identifiziert werden, veranschaulicht der Begriffsimperia578 Luhmann 1981, 9 und 28; Willke 1992, 244. Für fehlende Möglichkeit zur Selbstverantwortung aufgrund fehlender Möglichkeit zur Selbstversorgung: Kersting 2002, 25.

A. Modifikation von Zwangsgewalt

487

lismus, wie er für den englischen Begriff der „public goods“ kennzeichnend geworden ist.579 Dem Anbieterproblem bei fehlender Ausschließbarkeit von Kollektivgütern entspricht dabei das Nutzerproblem fehlender Zurückweisbarkeit von Kollektivgütern.580 Fraglich bleibt, ob sich, wie Gary Becker als ein Doyen der Wirtschaftswissenschaften impliziert, Güter dichotomisch in marktfähige und elementare Güter unterscheiden lassen. Zu vermuten ist vielmehr, dass sich die vormaligen elementaren Güter, die die Familie durch kontextuelle Einwirkung und Veränderung marktfähiger Güter erzeugt hat, ihren Charakter verändern, wenn sie aus eben diesen – funktionellen, aber auch traditionellen und individuellen – Zusammenhängen entflochten und herausgenommen werden. Denn eine solche „Kontextvariable“ anerkennt auch die Wirtschaftswissenschaft.581 In der Familie weitestmöglich die Existenzversicherung zu sehen und Staatsintervention nur ersatzweise als unterstützende Funktion heranzuziehen ist freilich nicht erst mit der Entwicklung des Subsidiaritätsprinzips bewusst konzipiert worden. Vielmehr äußert bereits 1895 der Brite Bernhard Bosanquet zu anstehenden Instituten der Sozialfürsorge. „I am also absolutely convinced that the application of this initiative to guarantee without protest the existence of all individuals brought into being, instead of leaving the responsibility to utmost possible extent on the parents and the individuals themselves, is an abuse fatal to character and ultimately destructive of social life.“ 582

Die Familie als außerstaatlichen Lebensbereich anzusehen bleibt in England auch für sozialistische Denker wie etwa Ramsay Mac Donald unantastbar.583 (5) Durch Subsidiarität begünstigte Staatsausdehnung und Veröffentlichung Subsidiarität als Gebot ökonomischer Allokation von Ressourcen führt zu einer immer weiteren Arbeitsteiligkeit nichtstaatlicher und staatlicher Akteure:584 579 Blümel/Pethig/von dem Hagen 1986, 244. Dieselben Autoren leisten dem im Folgenden selbst Vorschub, indem sie das allgemeine Kriterium der „joint consumability“ als Definiens für ihren eigenen Gebrauch des Begriffes „public good“ zugrunde legen und die fehlende Möglichkeit von „joint consumability“ als Definiens für den Begriff des „private good“ ausweisen. Der Rationalisierungsfortschritt der vergangenen zwei Jahrhunderte besteht jedoch darin, die Möglichkeiten individueller Daseinsbewältigung durch kollektive Daseinsbewältigung auszuweiten. 580 Zum Problem der Ausschließbarkeit von Kollektivgütern: cf. im Ersten Teil das Kap. B. II. 4.; zum Problem der Zurückweisbarkeit: Blümel/Pethig/von dem Hagen 1986, 249. 581 Gary Becker 1993, 145 ff. 582 Bosanquet 1895, 290. 583 Mac Donald 1910, 4. 584 Für das deutsche Staatsrecht eingehend behandelt bei Isensee 1988, § 57, 138.

488

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

Regulierungs- und Aufsichtsbedarf nimmt als normierende Rationalisierung zu, aber regulierte und beaufsichtigte Erledigung der Aufgabe selbst nimmt der Staat mit zunehmender Rationalisierung in immer geringerem Maße wahr. Durch diese Verschränkung als ratio des modernen Staates erklärt sich freilich die „Kontamination“ immer neuer Lebensbereiche durch Staatlichkeit: Die Gesellschaft und mit ihr die Individuen werden zunehmend staatsförmig und passen sich den Modi staatlichen Prozessierens an. Also begrenzt Subsidiarität als Alternative zur Intervention nicht unbedingt die Veröffentlichung der Gesellschaft. Sie vollzieht sich nur qualitativ anders, mittelbarer, aber nicht unbedingt weniger prägend. Die Ursache der Veröffentlichung muss daher eine Subsidiaritätsprinzip und Interventionismus übergeordnete Wirkgröße sein. Diese lässt sich in der rationalisierenden Wirkung von Vereinheitlichung und Standardisierung finden, die selbst als Konvention und Einsicht am naheliegendsten auf das Maß des Staates hin erfolgt: Er ist Koordinationszentrum der modernen Gesellschaft. Es ist wahrscheinlich weitaus häufiger fehlende Möglichkeit zu Koordination als mangelnder Wille zu Kooperation, der die Individualinteressen daran scheitern lässt, das Gefangenendilemma eigenständig zu überwinden. Neben der Tendenz zum Subsidiärstaat läuft eine Entwicklung des Staates weiter, von passivem Abwehrverhalten, dessen klassischer Ort der Polizeistaat ist, hin zu aktiver Gestaltung zu tendieren.585 Aber auch dort, wo der spätmoderne Subsidiärstaat sich zunehmend strenger auf das Notwendige konzentrierend zurückzieht und dem Privaten Raum lässt, im Bereich öffentlicher Wirtschaft,586 gerät diese durch den Staat in eine öffentliche Sphäre, der – oftmals am Ende einer langen Produktionskette – als Monopolauftraggeber firmiert. Damit funktioniert der Staat zwar zunehmend wirtschaftlicher. An der Verschmelzung von Öffentlichem und Privatem sowie von Staat und Gesellschaft als brutum factum ändert dies aber nichts. Vor allem scheint sich jedoch das Postulat der Subsidiarität in dem Maße zu verstärken, indem ihm sein vornehmstes Fundament, die Familie schwindet. Die Frage der persönlichen Existenzbewältigung ist soweit Gegenstand staatlicher bzw. öffentlicher Fürsorge geworden, dass sich die Frage stellt, inwieweit Selbststand und Eigenverantwortung noch für das Individuum individualrationale Orientierungsgröße oder nur noch politisches Programm sein können, um künftig wieder auch für das Individuum Richtgröße sein zu können:587 Die öffentliche Sozialfürsorge hat nicht zuletzt durch ihre Kosten ein solches Ausmaß erreicht, 585

Habermas 1965, 163. Isensee 1968, 308 beschreibt bereits die leitenden Prinzipien, die gleichsam als Prozess allgemeinen Fortschritts in immer verfeinerter Form umgesetzt werden. 587 Skeptiker sprechen schon von einem „Euphemismus der Eigenverantwortung“, Franzius 2003, 504. 586

A. Modifikation von Zwangsgewalt

489

dass sich die Individuen weithin in einem neuen durch den (Sozial-)Staat erzeugten Gefangenendilemma befinden. Nicht nur die Finanzierung von Staatsausgaben, wie sie der Sozialstaat verursacht, ist jedoch Ursache immer weiterer Staatsausdehnung und Veröffentlichung privater Lebensbereiche. Vielmehr bedingt auch das Verfahren heutiger Steuererhebung einen Eingriff in die Privatsphäre. Der sich in England bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts ankündigende und sodann im 19. Jahrhunderte nach und nach auch in Kontinentaleuropa vollziehende Wandel von den Objekt- zu den Subjektsteuern, namentlich die Einführung der Einkommensteuer führt aufgrund ihrer Progression, die ihrerseits wiederum auch als Kennzeichen mittelbarer Sozialstaatlichkeit anzusehen ist, zu Eingriffen und Einblicken in die Privatsphäre der Steuerzahler.588 Die seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zunehmende Bedeutung von Verbrauchssteuern, vor allem der Mehrwertsteuer, bietet daher auch Chancen, weil sie anonymer und abstrakter, damit freilich auch weniger auf den Einzelnen eingehend, verfährt. cc) Schwindende Arbitrarität von Staat Über diese Prozesse mittelbarer gesellschaftlicher Ambition und unmittelbaren gesellschaftlichen Engagements verliert der Staat tendenziell arbiträre Kompetenz. Vor allem der Ausbau des Sozialstaates, der in den kontinentaleuropäischen Ländern, namentlich in der Bundesrepublik Deutschend einen Schub in den 1960er Jahren erhalten hat, gefährdet anhaltend die „bloße Schiedsrichterfunktion“ von Staat, die ihrer Eigenart nach eben nicht unmaßgeblich von ihrer funktionalen Monopolstellung als der „bloßen“ Funktion des Staates lebt.589 Bereits Mosca beobachtet den Zusammenhang, dass je weniger wirtschaftlich entwickelt eine Gesellschaft sei, desto größer der Anteil des Gesamtvermögens sei, den staatliche Amts- und Funktionsträger absorbierten, was wiederum nicht nur zu einer unmittelbaren Ausdehnung des Staates, sondern auch zu einer mittelbaren Durchdringung der Gesellschaft durch denselben führe. Es werde nämlich schwieriger, wirtschaftlich unabhängig zu sein.590 Die daraus resultierende Staatsausdehnung führt in wenig entwickelten Gesellschaften dazu, dass die Kontrolle über den Staat zur nahezu ausschließlich entscheidenden gesellschaftlichen Formierungskraft wird. Aber selbst dort, wo sich der Staat tatsächlich zurückzieht, indem sich Politik in einen „vorstaatlichen Raum“ verlagert, wird über die Politik als Zwischenwirt sich scheinbar ausdehnende Privatheit vom Staatlichen infiziert. Da sich Einwir588

Spoerer 2004, 15. Metzler 2002, 59. 590 Mosca The ruling classes (Orig.titel: Elementi di scienza poltiica, dt.) 1896/1939, 143, zit. nach Diamond 1992, 481. 589

490

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

kungen durch den Staat als gesellschaftlichem „Steuerungszentrum“ kein Bereich der Gesellschaft mehr entziehen kann, kommen auch dem Schmittschen Verständnis von Staat und Gesellschaft entgegengesetzte Theorien nicht umhin, „alle Angelegenheiten“ für (potentiell) politisch zu erklären.591 Rein begrifflogisch ist aus diesem Dilemma zwar kein Ausweg zu finden, aber das Politische als das Kollektivgüterbezogene zu definieren kann aufgrund seiner Polarität, den es zum individuellen Nutzen einnimmt, den Bereich des Privaten möglicherweise wieder befestigen. Gerade weil das Politische den Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft verwischt, darf diese Unterscheidung nicht mit derjenigen von öffentlichem und Privatrecht gleichgesetzt werden.592 Dies entspricht inzwischen auch weitgehend dem Selbstverständnis kontinentaleuropäischer Politik.593 Die Politisierung des Privaten und die etwa in den USA vielfach zu beobachtende Privatisierung des Politischen ist wiederum nicht mit gegenseitiger Durchdringung von Staat und Gesellschaft identisch, wohl aber mit dieser Kategorie durch gegenseitiges Bedingtsein der Kategorien untrennbar verbunden. Das Problem der Politisierung und Verstaatlichung einer wiederum alles Staatliche aufsaugenden Gesellschaft beschreibt freilich ein Dilemma, das bereits in der die Demokratie legitimierenden Grundannahme der Volkssouveränität begründet liegt:594 Gerade weil der Staat erfolgreich das Allgemeininteresse gegenüber den Partikularinteressen behauptet, suchen die Partikularinteressen bei ihm Schutz und drohen ihn partikularrational umzuprogrammieren: Doch ein derart vergesellschaftlichter Staat wäre kein Staat mehr. Nicht zuletzt der moderne Staat und dessen spezifische hier beschriebene Verschränkung mit der Gesellschaft machen dasjenige aus, was die Eigenart des weltumspannenden Verwestlichungsprozesses kennzeichnet. Zumal verwissenschaftlichte Politik und keynesianische Staatsintervention zeigen dies an.595 Ist jede Ordnungspolitik, namentlich Staats- und Verfassungspolitik, gesellschaftliches Phänomen, weil sie das politische innerhalb des gesellschaftlichen Feldes absteckt, so ist die Vermutung verbreitet, in einer Demokratie sei dieses Feld besonders unscharf und weit abgesteckt.596 Wie aber bereits deutlich wurde, folgt jene Permeabilität einem Teil des allgemeinen Modernisierungsprozesses, der sich keinesfalls auf demokratisch verfasste Staaten und Gesellschaften beschränkt. Vielmehr ist demokratische Staatsverfassung eine Folge dieser Ent591 U. K. Preuß 1976, 363, der auch anschaulich beschreibt, wie inhaltsleer der Begriff einer solchen ubiquitären „Politisierung“ ist, u. a. 364. 592 Es ist mit Isensee just ein Jurist, der auf diese Gefahr bereits 1968 hinweist, Isensee 1968, 155. 593 Brandt 1964, 143. 594 Isensee 1968, 150. 595 Metzler 2002, 88. 596 Hättich 1967, 19.

B. Publikation von Zwangsgewalt

491

wicklung, die sodann im fortgeschrittenen Zustand freilich in Wechselwirkung mit der „Veröffentlichung“ der Gesellschaft tritt. Für die Wirklichkeit der ausgehenden Moderne und beginnenden Postmoderne sind daher wieder solche Staatslehren von stärker deskriptivem Wert, die in ihrer Zeit noch der antiken und mithin vormodernen Lehre von der Polis als allumfassender Einheit des Politischen verpflichtet waren, erneut interessant. Gemeint ist der ideenhistorische Strang, der sich in Deutschland von Luden über Dahlmann und Waitz bis hin zu Roscher erstreckt.597 Der Bezug zu Gemeinwohl und Gesamtnutzen lässt sich hierdurch vielfach unmittelbarer herstellen, weil der Staat a priori auf seinen funktionellen Charakter reduziert wird. Der „neuen Unübersichtlichkeit“ kommt dies entgegen.

B. Publikation von Zwangsgewalt: Öffentlichkeit als allgemeiner Rationalisierungskatalysator des modernen Staates und als spezifisches Enzym demokratischer Willensbildung Jürgen Habermas bezeichnet den Zwang der öffentlichen Meinung als noch „leichtfüßig“. Seitdem scheint in eben jener öffentlichen Meinung das Bewusstsein davon zu schwinden, dass es sich gleichwohl auch bei ihrem Wirkmechanismus um Zwang handelt, wahrscheinlich sogar anders, als Habermas formulierte, auch um eine Form von Herrschaft.598 „Public“ ist nach Begriff und Sache in England bereits während der Mitte des 17. Jahrhunderts anzutreffen, im 18. Jahrhundert erscheint sodann in England und Deutschland der Begriff „public opinion“. Das aus dem lateinischen opinio599 abgeleitete englische und französische Wort opinion birgt bereits in den Anfängen ihres Belegtseins in sich die Qualität kollektiver Meinung.600 Im ludovicianischen Frankreich des 17. Jahrhunderts gerät der Begriff opinion in einen für gallische clarté und römisches Erbe kennzeichnenden Gegensatz zum Begriff critique.601 In England wirken vergleichbare Begriffe eher ergänzend als gegensätzlich.602

597

Luden 1811; Dahlmann 1997; Waitz 1867; Roscher 1892. Habermas 1965, 101. 599 Lat. opinio kann bezeichnenderweise bereits im klassischen Latein eine spezielle Zukunftsorientiertheit von Meinung bedeuten, OLD 1253. 600 Eine eingehende Sprach- und Begriffsgeschichte findet sich bei Habermas 1965, 102 f. 601 Hierin wird einmal mehr das neuzeitliche Anliegen deutlich, eine übergeordnete dritte Institutionen zu finden, welche die Gesellschaft zur Optimierung ihre Gesamtnutzens zu ordnen weiß. 602 Habermas 1965, 103. 598

492

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

Begriff und Geltung fallen zumindest im preußischen Teil Deutschlands auseinander: Noch 1784 verbietet Friedrich der Große Privatpersonen öffentlich, „über Handlungen, das Verfahren, die Gesetze, Maßregeln und Anordnungen der Souveräne und Höfe, ihrer Staatsbedienten, Kollegien und Gerichtshöfe öffentliche, sogar tadelnde Urteile zu fällen oder davon Nachrichten, die ihr zukommen, bekannt zu machen oder durch den Druck zu verbreiten.“ 603 Geheimhaltung beschreibt also die Regel, Öffentlichkeit hingegen die Ausnahme. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen erweist sich nicht zuletzt darin, dass das Oxford Dictionary bereits 1781 das Wort public opinion aufnimmt.604 Schon zehn Jahre später hat sich auch in Preußen die Lage vollständig geändert: Das Allgemeine Preußische Landrecht von 1794 stellt wie das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch in Österreich von 1811 bedingt und der französische Code Civil von 1804 maßgeblich das Ergebnis einer öffentlichen Diskussion dar.605 Freilich wird hierin erneut die Distanz Kontinentaleuropas gegenüber England sichtbar, wo die public opinion funktionell weitgehend an der Stelle kodifizierten Rechts als solchem steht. Mittlerweile ist die Qualität von Politik als Kampf um die Besetzung zentraler politischer Begriffe ein allgemein zu beobachtendes Phänomen.606 Anscheinend gab es jedoch auch in Kontinentaleuropa vereinzelt bereits im 18. Jahrhundert staatlicherseits ein Interesse, die öffentliche Meinung oder zumindest deren noch vergleichsweise überschaubare Trägerschaft in den staatlichen Rationalisierungsprozess einzubeziehen. Es sind nicht nur einzelne Personen, sondern bereits Organisationen und Institutionen, die hierbei prominente Funktionen als so genannte „Clearingstellen“ erfüllen.607 Die öffentliche Meinung wird heute als unverzichtbarer Bestandteil von Demokratie konzipiert und sogar als ein Staats-(rechtliches) Organ wie etwa das Staatsvolk begriffen. Es sind einmal mehr die Schwierigkeiten des Europäischen Integrationsprozesses, die e contratio die enorme Bedeutung der öffentlichen Meinung als integrales Institut von Demokratie verdeutlichen.608 Im vorliegenden Untersuchungszusammenhang ist die öffentliche Meinung in doppelter Hinsicht relevant: Zum einen stellt sie längst einen gegenüber der Demokratie durchaus eigenständigen Steuerungsmodus von Staatlichkeit dar, was am deutlichsten, wenngleich auch vermutlich überzogen, die Physiokraten bereits im vordemokra-

603

Schöne 1924, 77. Habermas 1965, 108. 605 Habermas 1965, 88. 606 Korte/Fröhlich 2004, 271. 607 Demel 1993, 5, der als Beispiel für Preußen die Berliner Mittwochsgesellschaft anführt. 608 Tiedtke 2005, 42; Voigt 2007, 36 ff. 604

B. Publikation von Zwangsgewalt

493

tischen 18. Jahrhundert erkennen.609 Zum anderen sind aber noch weitergehende Entwicklungen zu beobachten: Die öffentliche Meinung bewirkt offensichtlich nicht nur über den Staat vermittelt, sondern auch unmittelbar, Situationen vom Typus’ des Gefangenendilemmas zu überwinden. Sie ermöglicht anscheinend selbst, Kollektivgüter bereitzustellen. Namentlich Macht und Wirksamkeit der Massenmedien sind kaum zu überschätzen. Deutlich wird dies daran, dass nicht nur bei gewaltsamen Revolutionen, die sich Ende des 20. Jahrhunderts in Osteuropa ereigneten, sondern sogar in Gebieten prekärer Staatlichkeit Rundfunkgebäude strategisch prominente Ziele waren, die in ihrer Bedeutung vielfach sogar Regierungsgebäude übertrafen. Schließlich vermag die öffentliche Meinung sogar, die grundlegende Rollenambivalenz des modernen Staatsbürgers, wie sie die Verhältnisse von Koordination und Subordination beschreibt, miteinander zu verzahnen.610

I. Öffentliche Meinung als Indikator zwingender Gesetzmäßigkeiten: Das physiokratische Ideal der opinion publique Die Andersartigkeit der englischen public opinion gegenüber der kontinentaleuropäischen öffentlichen Meinung zeigt sich auch darin, dass in Europa die Regierung des Monarchen Form und der Staat Bezugspunkt der öffentlichen Meinung bleiben: Der Monarch solle nach Maßgabe der öffentlichen Meinung Gesetze verabschieden, die sich im marktartigen Wettbewerb der Öffentlichkeit als vernünftig erwiesen. Auf diese Weise erlange auch das positive Gesetz die Qualität von selbsttätig sich einstellenden Naturgesetzen, wie sie bereits den wirtschaftlichen Markt der proto- bzw. frühindustriellen Gesellschaften bestimmen, so lautet namentlich das physiokratische Konzept, den aufgeklärten Despotismus zu einem legalen werden zu lassen. Monarchie wird als staatliches Ausführungsorgan des über die opinion publique ermittelten Gemeinwohls keinesfalls verworfen.611 Der entscheidende Unterschied besteht vielmehr darin, dass Herrschaftslegitimation durch das Programm der Physiokraten immanent wurde. Die Optimierung des Gesamtnutzens, was zeitgenössisch auch als allgemeine Wohlfahrt bezeichnet zu werden pflegt, vermutet die Aufklärung also anfänglich nicht, durch Demokratisierung der Legitimitätsgrundlage von Regierung als verfasster Herrschaft herbeizuführen, sondern vielmehr durch die Ermächtigung der öffent609 Dieser Aspekt des Phänomens der öffentlichen Meinung ist schon früh und erschöpfend erforscht worden. Einen internationalen Überblick über die entscheidenden Arbeiten, den zu geben nicht hier der Ort ist, bietet Kränke 2007, 106. 610 Kränke 2007, 106. 611 Krieger 1975.

494

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

lichen Meinung zu gewährleisten, so dass sich analog zur Marktwirtschaft naturwüchsig Optima einstellen.612 In England freilich wird die spezifische Form von Freiheit, die über die Jahrhunderte die englische Demokratie allmählich entstehen lässt, als für die Wirksamkeit von öffentlicher Meinung gleichsam selbstverständliches Minimum vorausgesetzt, wenn ein Tory wie Edmund Burke die politische Funktion der öffentlichen Meinung beschreibt. „In free countries there is often found more real public wisdom and sagacity in shops and manufactories than in the cabinets of princes in countries where none dares to have an opinion until he comes into them. Your whole importance therefore depends upon a constant, discreet use of your own reason.“ 613

Somit ist es nur konsequent, wenn die öffentliche Meinung gleichsam als unausweichliche Naturmacht erachtet wird, die nicht aktiv herrscht, sondern nicht befolgt zu werden mit der poena naturalis sanktioniert.614 Die Öffentlichkeit einer freien, also regelmäßig einer demokratisch und rechtsstaatlich verfassten Gesellschaft, besteht in der Gespaltenheit des Begriffs der Öffentlichkeit, was freilich Friktionen in der Sache anzeigt. Einerseits beschreibt sie ein Prinzip staatlichen Handelns, was sich in der Veröffentlichung von Gesetzen, aber auch von Maßnahmen und anderen Regierungsakten, wie von weiten Teilen der Legislatur615 und der Judikatur manifestiert. Öffentlichkeit als Prinzip kann Veröffentlichung darstellen, kann aber auch selbst Ort unmittelbarer Öffentlichkeit sein. In beiden Fällen bezieht sie sich freilich auf die öffentliche Meinung. Andererseits bleibt Öffentlichkeit aber Arena „Personen und Institutionen, Verbrauchsgüter und Programme“,616 für Ideen und Aktionen, aber auch für alles, was seriell und massenförmig das anonyme Publikum anspricht, häufig in der Absicht, Individuen mit bestimmten Merkmalen bzw. Merkmalskombinationen zu mobilisieren. Der unvermeidliche Bezugspunkt ist auch hier zunächst die öffentliche Meinung. Öffentlichkeit kann kritische wie manipulative Funktion haben. Öffentliche Meinung kann jedoch nicht nur als Veröffentlichung, die Informationen bekannt macht, sondern auch unmittelbar steuernd wirken: Referenzbildung von Individuen lässt sich durch Forcierung bestimmter Sollens-Ordnungen, wie etwas Mode, Anstand, „political correctness“ erzielen.

612 Eine auf das Kernland des Phyiokratismus, Frankreich, konzentrierte Studie von Muhlack 1982, 101 ff. erörtert eingehend das Paradoxon einer physiokratisch ausgerichteten Politik am Beispiel des Ministers Turgot: Ihr ist gleichsam subkutan die Überwindung jener Monarchie eingeschrieben, die zugleich ihre eigene Lebensgrundlage ist. 613 Burke 1949, 119. 614 Habermas 1965, 109. 615 (Fast) alle modernen rechtsstaatlich verfassten Parlamente veröffentlichen die Sitzungsprotokolle. 616 Habermas 1965, 257.

B. Publikation von Zwangsgewalt

495

1. Öffentliche Meinung als evolutionärer Prozess Die physiokratische Funktion der öffentlichen Meinung stellt somit eines der ersten großen Konzepte von Kultur als evolutionärem Prozess avant la lettre dar, dem auch die öffentliche Meinung letztlich nur als Mittel dient. Dieses Denken findet sodann bekanntlich seinen Höhepunkt in der Französischen Revolution, als die Vernunft zur Göttin erhoben, der Rationalismus Zivilreligion wird.617 Noch ein Wissenschaftler wie Leibniz hat diesen Mechanismus der Vernunftherrschaft als mittelbares Wirken Gottes erklärt.618 Öffentlichkeit ist nunmehr der Organisationsmodus, Geschichte zur Manifestation der sich entwickelnden Vernunft werden zu lassen, indem die individuellen Vernünftigkeiten zusammengeschaltet werden.619 Die Einsicht darein, dass Vernunft nicht nur Wettbewerb, sondern letztlich Nebeneinandersein von Teilrationalitäten darstellt, ist der Aufklärung gleichermaßen noch fremd, wie ihr Konzept der öffentlichen Meinung gleichwohl dafür bereits offen und in der Sache bis heute unübertroffen ist. Dass die öffentliche Meinung ein vielfach gefährdetes Gut darstellt und in jener Idealform, in der sie von der Aufklärung konzipiert worden ist, gar nicht auffindbar ist, beschreibt eine Einsicht, die sich erst allmählich durchsetzt. Im 19. Jahrhundert wird, wohl nicht zuletzt durch die lauter werdende soziale Frage, deutlich, dass die öffentliche Meinung ein Monopol „vornehmlich der großen Mittelklasse“ sei.620 Dem Bürgertum ist sie zentrale Größe des Gemeinwesens und mit der Nation identifiziert: „Wo der Geist der Nation einen hohen Schwung nimmt, da allein ist öffentliche Meinung und diese ist dann eine Macht, ununterbrochen und mehr aus der Tiefe wirkend als alle politischen Institutionen.“ 621 2. Ablösung von Staat durch öffentliche Meinung Die öffentliche Meinung löst in der bürgerlichen politischen Theorie des hohen 19. Jahrhunderts letztlich den Staat als arbiträre Macht ab, weil sie sich über den Partikularinteressen vermittelnd erhebt. Der Staat wird als partikular wahrgenommen, bestenfalls als die zu Selbststeuerung unfähige Gesamtheit partikularer Interessen begriffen. Proudhon erkennt das Problem der Kooperation, wendet es aber sogleich unmittelbar darauf an, die Wirksamkeit einer freien öffentlichen Meinung zu erläutern. 617 Der Begriff religion civile geht dabei auf Rousseau zurück, der dieses Konzept in Du contrat sociale prägt. 618 Leibniz 1875, § 147. 619 Koselleck 1973, 6 und 8, der 109 ff. auch auf Freimaurer und Illuminaten als Träger dieser Fortschrittsidee eingeht. 620 Bluntschli 1871, 745. 621 Dahlmann 1997 Nr. 259.

496

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

„Wie wir aus dem Zusammenwirken der Kräfte ein Ergebnis entstehen sehen, das die Summe der Kräfte, aus denen es hervorging, an Macht und Qualität übertrifft, ebenso zeugt der Konflikt der Meinungen eine Vernunft, welcher die Summe individueller Vernunft, aus deren Gegensätzen sie hervorging, an Qualität und Macht übertrifft.“ 622

Dass eine öffentliche Meinung für eine demokratisch verfasste Staatsordnung konstitutiv ist, erweisen bereits die vormodernen Demokratien: Die Publizität der Entscheidungssachen ist gleichsam das Enzym, das dem Souverän ermöglicht, wenn schon nicht einen konsistenten „rational choice“ so doch zumindest einen rationalen „social choice“ zu treffen. So wie der methodische Egoismus der „rational choice“-Theorie, so ist freilich auch das gegenwärtige Konzept des „steuernden Staates“ „krypto-normativ“.623 Tatsächlich muss aus einem derart aufwendigen Produktionsprozess wie demjenigen der Normenproduktion, also allgemein der Moral, der Produzent einen enormen Individualnutzen ziehen können, wenn die Entstehung von Moral ökonomisch zu erklären ist. Daher haben die Vorläufer der modernen Institutionenökonomik, namentlich Mancur Olson, Moral bei ihrem Versuch, kollektives Handeln logisch herzuleiten und zu erklären, Moral als handlungsdeterminierende Größe außer Acht gelassen.624 Tatsächlich kann Normenproduktion jedoch individuell nützlich sein, also eine positive Differenz zwischen Kosten und Nutzen aufweisen. Als klassischer Fall stellt sich im modernen Staat die Arbeit von Interessenorganisationen, wie etwa Verbänden oder Gewerkschaften dar. Deren Funktion lässt auch Olson ausführliche Berücksichtigung zukommen und impliziert dabei ebenfalls eine solche Ökonomie der Moral, wenn er die Ächtung von Nichtgewerkschaftsmitgliedern durch Gewerkschaftsmitglieder als rationale Konsequenz aus der Logik kollektiven Handelns postuliert. Da Olson aber in Moral – ganz dem Denken des Gefangenendilemmas verhaftet – nur ein selektives Sanktionsmittel sieht, kann er das im Beispiel des ächtenden Gewerkschafters exemplifizierte so genannte Trittbrettfahrerproblem zweiter Ordnung nicht lösen. Ein sehr viel grundsätzlicheres Problem weist das gesellschaftliche Phänomen jedoch dann auf, wenn Verhaltensweisen erklärt werden sollen, bei denen ganz offensichtlich individuelle Kosten und individueller Nutzen von Normproduktion in keinerlei Nutzen im Sinne überkommener Ökonomie zu erklären sind. Anscheinend beziehen die Akteure, die klassisch in einer solchen Situation als Akti-

622

Proudhon 1858, 431. Mayntz 2001, 18 f. Genau das gleiche Epitheton hat eine Generation zuvor bereits Jürgen Rödig gewählt, um Luhmanns Methode der funktionellen Analyse zu kritisieren, Luhmann 1983, 6. Stritt Luhmann dies seinerzeit noch vehement ab, so sind heutige deskriptiv und funktionsanalytisch geleitete Aussagen und Theorien längst in Gesetzgebung und Jurisdiktion, in Politik und Verwaltung eingezogen, worauf Mayntz’ Kritik hinweist. 624 Cf. die an Olson durch Wilkesmann geübte Kritik, Wilkesmann 1992, 51. 623

B. Publikation von Zwangsgewalt

497

visten bezeichnet zu werden pflegen, ihren Nutzen in Gestalt einer intrinsischen Befriedigung bereits aus dem Prozess der Normproduktion selbst: Ihr Nutzen berechnet sich in diesem Falle nicht aus der Differenz zwischen Kosten und Nutzen, sondern aus der Summe der zu Nutzen gewandelten Kosten und dem effektiven Nutzen der produzierten Norm.625 Nach der Logik dieses Denkens besteht das einzige Mittel, seinen Nutzen zu steigern, darin, seine Anstrengungen für das öffentliche Gut, um das es sich regelmäßig bei der Normproduktion handelt, zu steigern. Das ist letztlich aber die Diätetik der Macht. Historische Analyse ergibt nun, dass so genannten Aufbruchsphasen, in denen die Normproduktion beginnt, Enttäuschungsphasen folgen, in denen die Akteure ihren privaten Nutzen zur ausschließlichen Handlungsmaxime erheben. Olsons Theorie, Normproduktion und Normexekution als Werte an sich darzustellen, trifft also offensichtlich nur in diesen Phasen zu. Anscheinend ist die öffentliche Meinung als institutioneller Zusammenhang jedoch mit dem Staat teilweise identisch. Die Thesis dieser Untersuchung, die Fähigkeit des Staates, Kollektivgüter zu gewährleisten, könne nicht allein in seiner Kompetenz gründen zu besteuern, erfährt just durch den absolutistischen Finanzminister Necker ihre Erklärung: Die „Mehrzahl der Fremden“ verstehe „nur schwer, daß es eine unsichtbare Macht gibt, die ohne Kasse, ohne Leibwache, ohne Armee Gesetze gibt, die selbst im Schlosse des Königs [nota bene: des höfischen Absolutismus Ludwigs XVI.!] befolgt werden.“ 626 Sein Zeitgenosse Hume entwirft von der Warte der pluralistischen Gesellschaft der britischen Inseln aus Regierung sogar als allein auf Meinung gründende Gewalt. „Nichts erscheint dem überraschender, der die menschlichen Angelegenheiten mit einem philosophischen Auge betrachtet als die Leichtigkeit, mit der die vielen durch die wenigen regiert werden, und der stille Gehorsam, mit dem Menschen ihre eigenen Stimmungen und Gefühle denen ihrer Herrscher unterordnen. Wenn wir danach fragen, mit welchen Mitteln dieses Wunder erreicht wird, stellen wir fest, dass die Macht immer auf der Seite der Regierten ist; die Herrscher haben nichts, worauf sie sich stützen können, außer Meinung. Eine Regierung beruht ausschließlich auf Meinung, und diese Maxime gilt sowohl für die despotischsten und militaristischsten Regierungen, wie für die freiesten und populärsten.“ Der Sultan von Ägypten oder der römische Kaiser „müssen wenigstens ihre Mamelucken oder ihre prätorianische Garde wie Menschen durch ihre Meinung geführt haben.“ 627

Dem Herrn der neuen Zeit, Napoleon, stellt sich die öffentliche Meinung nicht anders als dem Ancien Régime dar.

625

Hirschmann 1984, 94 f.; Wilkesmann 1992, 51. Zit nach Bauer 1950, 234; cf. im Ersten Teil Kap. A. I. 5. a) ee), wo im Zusammenhang des Steuerstaates auf die Bedeutung, die bereits der ludovizianische Finanzminister Necker der öffentlichen Meinung zuschreibt, eingegangen wird. 627 Hume 1971, 19. 626

498

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

„Sie ist unsichtbar, geheimnisvoll, unwiderstehlich; nichts ist mehr in Bewegung, unsicher, unbestimmt – nichts ist stärker.“ 628

Offensichtlich hängt also nicht nur die öffentliche Meinung vom Staat ab, sondern auch umgekehrt. Da der Staat einerseits jenem Phänomen einer dem Staat gegenüberstehenden Öffentlichkeit vorangeht, die schlechthin pars pro toto im neuzeitlichen Sprachgebrauch durch die „öffentliche Meinung“ dargestellt wird, da der Staat aber andererseits offenkundig nicht nur aus seiner Kompetenz zu besteuern, seine Fähigkeit bezieht, Kollektivgüter bereitzustellen, muss er also entweder früher bereits das funktionelle Äquivalent beherrscht haben oder die institutionenökonomische Erklärung des Staates ist auf den Staat vor der Aufklärung, als bevor die „öffentliche Meinung“ entsteht, beschränkt. Somit konstituiert die staatliche Macht über die öffentliche Meinung überhaupt erst den Staat der Gegenwart oder der Staat wird gar erst durch die öffentliche Meinung ermächtigt und steht folglich zu ihr in einem instrumentellen Verhältnis. Auch in der parlamentarischen Demokratie gegenwärtiger Beschaffenheit ist die parlamentarische Opposition weitgehend darauf beschränkt, „Öffentlichkeit herzustellen“ und die Regierung unter Rechtfertigungsdruck zu setzen. Der Druck, der durch die Medien auf die Regierung ausgeübt wird, ist dabei regelmäßig stärker als derjenige, der von der Opposition unmittelbar ausgeht.629 Nicht nur erwiesen, sondern vielmehr sanktioniert wird diese faktische Teilidentität von öffentlicher Meinung und Staat durch die graduell zunehmende Korrelation zwischen Identität von Staat und öffentlichen Meinung einerseits und Legitimitätsbedürftigkeit andererseits. Kennzeichnet die Zensur autoritäre Regime, so ist die völlige Identität der Staatsmacht mit der Presse Ausweis eines totalitären Systems, weshalb der Staat oftmals im Phänotyp der Staatspartei auftritt. Demgegenüber gäbe sich indes ein Staat selbst auf, der gänzlich verzichtete, auf die öffentliche Meinung Einfluß zu nehmen.630 a) Manipulatorisches Risiko Öffentliche Meinung ihrerseits ist wiederum zu veröffentlichter Meinung manipulierbar, was auch von Karl Marx erkannt wird, der freilich noch an eine Inbesitznahme der bis dato bürgerlich okkupierten Öffentlichkeit durch das Proletariat glaubt: Habermas sieht darin den Anfang vom Ende der Öffentlichkeit als eigenständiger Kategorie, wie sie sich in Deutschland und Frankreich maßgeb628 Las Cases 1823, I, 426. Denkwürdigkeiten von Sanct-Helena, oder Tagebuch, in welchem alles, was Napoleon in einem Zeitraume von achtzehn Monaten gesprochen und gethan hat, Tag für Tag aufgezeichnet ist. Von dem Grafen von Las Cases. Aus dem Französischen übersetzt. Stuttgart; Tübingen: Cotta, 1823–1826. 629 Korte/Fröhlich 2004, 47. 630 Voigt 2007, 244.

B. Publikation von Zwangsgewalt

499

lich im 18. und in England bereits im 17. Jahrhundert konstituiert hat.631 Wie bereits in anderen Zusammenhängen deutlich geworden ist, so erweist sich auch hinsichtlich der öffentlichen Meinung das angelsächsische Denken als Avantgarde der Moderne. Die Unabhängigkeit der öffentlichen Meinung wird dort bereits im 19. Jahrhundert erheblich bezweifelt.632 b) Gegenwärtiger Diskurs Die Geschichte der öffentlichen Meinung als tatsächliche historische Entwicklung einer Idee zu beschreiben wird nicht in Zweifel gezogen und wird daher bald als Postulat, bald als Präsumtion von Wirklichkeit erachtet. Doch die Meinungen gehen über ihre Eigenart gegenwärtig auseinander: Für Habermas bleibt der öffentlich kommunizierte politische Prozess Garant „vernünftiger Resultate“.633 Da dieser gesetzmäßigkeitsartige Mechanismus als solcher für ihn ein Axiom bleibt, mag sie einmal Norm, ein anders Mal Beschreibung (politischer) Wirklichkeit, aber jedenfalls niemals als unzutreffend anzusehen sein. In der rezenten Literatur wird jedoch diese Letztgültigkeit in ihrer Unhinterfragbarkeit bezweifelt. Dass politische Prozesse unter den Bedingungen einer öffentlichkeitsgestützten deliberativen Entscheidungsgewinnung rationale Ergebnisse hervorbringen, sei nur eine heuristische Annahme. Schefczyk beschreibt diese unter nicht ganz unzweifelhaftem Rückgriff auf Habermas als „Habermasianische Präsumtion“.634 Erscheine einem externen Beobachter eine Institution als illegitim, so werde angenommen, dass diese Illegitimität tatsächlich nur eine Unvollständigkeit in der externen Wahrnehmung beschreibe.635 Der normativ wirkende Überlegenheitsanspruch wird zugunsten einer Art Phänomenologie aufgehoben. Das Vertrauen in die kognitiven und judiziellen, in die kritischen und analytischen Fähigkeiten der öffentlichen Meinung bleibt weit verbreitet und hat sie längst offen mit jener Frage beauftragt, die auch die Ausgangsfrage dieser Studie beschreibt: Welches Ausmaß von Staatstätigkeit optimiert die soziale Kooperation, so dass Gesamt- und Individualnutzen in das günstigste Ausgleichsverhältnis gelangen? Diese Frage lässt sich Claus Offe zufolge „nur durch einen Prozess und als Ergebnis eines gut informierten öffentlichen Diskurses innerhalb der Zivilgesellschaft finden.“ 636 An dieser Stelle zeigt sich einmal mehr die Selbstreferenzialität moderner Staats- und Politikwissenschaft. Es kann nicht ausbleiben, dass der Informationshaushalt des Politischen zunehmend selbst Gegenstand und 631 632 633 634 635 636

Habermas 1965, 195. Meadowcroft 1995, 161. Habermas 1996, 285. Schefczyk 2003, 208. Schefczyk 2003, 208 f. Offe 2000, 116.

500

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

Arena politischer Konflikte wird, vor allem wenn er Tatsachen betrifft, die sich unmittelbar auf staatlich gewährte Kollektivgüter beziehen. c) Öffentliche Meinung und freie Nation Schon Fichte erachtet daher die Selbständigkeit der Nation als Voraussetzung für die Herrschaft der Wissenschaft, das elitäre Ideal der Physiokraten erhält mit dem Konzept der Volkssouveränität einen (proto-)demokratischen Unterbau, ohne selbst freilich seinen elitären Charakter abzulegen.637 Über diese Einschätzung hinaus ist freilich nicht zu übersehen, dass auch die Zivilgesellschaft Produkt einer sozialen Gesamtkonstellation ist, in welcher der Staat seit Jahrhunderten anwesend ist. Als entscheidender Faktor dafür, aus der Gesellschaft eine öffentlichen Arena entstehen zu lassen, in der verschiedene Interessen miteinander wettstreiten, ist ein hoher Vernetzungsgrad der Individuen durch lebendige Assoziationen, namentlich durch Vereine und Verbände anzusehen. Dies ermöglicht auch Unterprivilegierten eine Chance auf Interessenausgleich.638 Ohne eine assoziativ dicht organisierte Gesellschaft kann der moderne Staat der Gegenwart nicht mehr seine arbiträre Funktion hinreichend störungsfrei erfüllen. Das Ideal hat zugleich eine Steigerung und eine Wiederbelebung durch das Konzept der „aktiven Öffentlichkeit“ erfahren. Diese engagiert sich für Interessen, die nicht organisiert bzw. nicht organisierbar sind.639 Tatsächlich ist seit der Aufklärung ein zunehmendes selbstloses Engagement für unvertretene Interessen zu beobachten, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass es bis zu einem gewissen Grade eine interessefreie Partizipation des Bürgertums am politischen Prozess gibt. Wahrscheinlich ist das Interesse an Partizipation mit demjenigen nach Macht verwandt oder sogar identisch.

II. Wissenschaft als Konfliktarena und Wissenschaftsförmigkeit als Begründungsmodus politischer Konflikte Wie die historische Entstehung der öffentlichen Meinung bereits deutlich werden lässt, ist es das Programm der Aufklärung, das auch die Neigung zu allgemeiner Verwissenschaftlichung des Lebens als Teil seiner Rationalisierung erklärt.640 Die Rationalisierung des öffentlichen Diskurses lässt zwar die Motive nicht rational werden, zwingt jedoch ein rationales Potential des irrational Moti637 638 639 640

Fichte 1834, 604. Diamond 1992, 483. Der Begriff stammt von Dahrendorf 1967, 1109–1122. Heller 1983, 200.

B. Publikation von Zwangsgewalt

501

vierten aufzuzeigen: Damit wird den Entscheidungsergebnissen jedoch mehr Eigendynamik eingeräumt. Zudem werden Entscheidungsmöglichkeiten gehegt und erlangen ein gewisses Maß an relativer Absehbarkeit. Die Sachentscheidungen werden zwar nicht objektiver, wohl aber rationaler und abstrakter. Da Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit grundrechtssystematisch parallele Verwandtschaft aufweisen, bildet die Wissenschaft auch von Beginn an einen Teil der öffentlichen Meinung. Dieser Beitrag ist freilich heute nicht mehr durch staatliche Freiheitsgefährdung, sondern durch private Freiheitsmüdigkeit bedroht. Somit verschwindet zumindest die Forschung zunehmend aus der öffentlichen Meinung und droht zum privatwirtschaftlichen arcanum zu werden. Wissenschaft neigt unter den Bedingungen der Moderne dazu, für dasjenige verwandt zu werden, was ihr gerades Gegenteil ausmacht: Zur Ideologisierung des Politischen, wie es totalitären Systemen zugrunde liegt. Diese Gefahr besteht auch dann, wenn Wissenschaft nicht a priori von Machtpolitik instrumentalisiert wird. Vielmehr ist im Vernunftglauben selbst die Gefahr seiner Verabsolutierung zum Totalitären bereits angelegt. So stellt schon Friedrich II., nachdem er mit dem zu ihm geflohenen Abbé Raynal gesprochen hat, ironisch fest: „J’ai cru de m’entrentenir avec la providence.“ 641 Was sich in der Skepsis des lebensklugen Hohenzollern bereits andeutet, beschleunigt sich in den beiden darauf folgenden Jahrhunderten langsam, aber vergleichsweise stetig: Die Entzauberung der Moderne, die wissenschaftliche Argumente so scheinbar unangreifbar macht, wird selbst als wissenschaftsförmiger Politik verwandt entzaubert.642 Auch die Kraft demokratischer Legitimation mag den beauftragten Politiker nicht rationaler Drapierung seiner Entscheidungen zu entheben. 1. Paradigmenwechsel der Verwissenschaftlichung Am Anfang der Politikcamouflage stehen dabei die Wissenschaften von Recht und Theologie, weshalb zurückhaltende konservative Rechtsgelehrte auch davor warnen, den Begriff der Jurisprudenz durch denjenigen der Rechtswissenschaft zu ersetzen. Es war die Soziologie, die als erste versuchte, die Kontinuität der Klassengesellschaft durch den Verfassungs- und Rechtsstaat nachzuweisen. Damit war sie jedoch als „Oppositionswissenschaft“ festgelegt.643 Vor allem davon, die erkenntnistheoretisch zutreffende Feststellung Karl Marx’, dass sich Recht nicht allein aus sich selbst heraus verstehen lasse, übernommen zu haben soll sich die Soziologie freilich bis in die Gegenwart hinein nicht erholen:644 Sie 641 642 643 644

Friedrich der Große 1846, XXV, 227. Habermas 1968, 85; Metzler 2002, 85. Der Terminus stammt von Freyer 1930, 285 ff. Heller 1983, 139.

502

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

steht im Rufe als Wissenschaft verschleierten Umstürzlertums. Da sich staatliche und in einer hochgradig staatsförmigen Gesellschaft eben auch gesellschaftliche Herrschaft nicht ohne Recht konstituieren kann, ist das Recht eher dem herrschenden Pol einer Gesellschaft zuzuordnen. Dessen außerrechtliche Betrachtung erhält jedoch selbst dann, wenn sie reinem Erkenntnisinteresse verpflichtet ist, unwillkürlich eine der Herrschaft oppositionelle Stellung. Insofern ist es nicht nur aus dem Erkenntnisgegenstand selbst heraus, sondern auch aus der zunehmenden Etablierung und Herrschaftsteilhabe der Soziologie plausibel, dass sie zunehmend von Gelehrten geprägt wird, die ihrer Ausbildung nach Juristen und Wirtschaftswissenschaftler sind. Innovativ und zugleich stabilisierend wirkt die neue politische Wissenschaft, die von den angelsächsischen Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg angestoßen als Demokratiewissenschaft auch in Deutschland implementiert wird. 2. Wissenschaftliche Pluralität und relative Zweckfreiheit als Effizienzkatalysatoren Nicht nur um Demokratie und Freiheit zu erhalten, stellt die Soziologie jedoch einen unverzichtbaren Beitrag dar. Die Existenz oder die Wiederexistenz eines Klassenstaates lässt sich insofern nicht zuletzt an demjenigen Grad an Akzeptanz oder eben an Inakzeptanz ablesen, den sozialwissenschaftliche Forschung in einer Gesellschaft genießt. Pluralität wirkt dabei doppelt effizienzsteigernd: Sie führt nicht nur zu optimierter Korrektur der Gesamtgesellschaft insbesondere staatlicher Steuerungsleistungen, sondern lässt auch die Wissenschaften selbst produktiver arbeiten. Somit begründet sich das hohe Ansehen, das die deutsche Staatsrechtslehre weltweit genießt, nicht zuletzt aus der Offenheit gegenüber anderen Wissenschaften, die sie seit den 1970er Jahren verstärkt an den Tag legt. Die Infragestellung zweckfreier Wissenschaft führt faktisch zu einer Einschränkung der öffentlichen Meinung und damit zu suboptimal rationeller Bewältigung kollektiver Aufgaben. Während Politik vergleichsweise ungehindert wissenschaftsförmig auftreten und Wissenschaft als Begründung instrumentalisieren kann, ist Wissenschaft umgekehrt anfälliger. Sie kann nicht ohne weiteres Politik werden.645 Vielmehr wird die Erkenntnis gestört und sind die Ergebnisse oftmals manipuliert.646 „Aktive Öffentlichkeit“, wie sie Dahrendorf definiert, kann sich jedoch nicht darauf beschränken, die Politik zu beeinflussen. Vielmehr wird dies vielfach so645

Schmehl 2004, 56. Entscheidungstheoretisch werden einige grundsätzliche Möglichkeiten, Wissenschaft als Kampfmittel zu verwenden, bei Sen 2002, 131 geschildert. 646

B. Publikation von Zwangsgewalt

503

gar überhaupt nur mittelbar möglich sein, indem sie die „passive Öffentlichkeit“ mobilisiert.647 Der Vorteil der Demokratie erschließt sich oftmals nur mittelbar, was die herausragende Bedeutung der Öffentlichkeit im Ganzen heraushebt: Die öffentliche Meinung ist zu entscheidenden Arenen nicht durch Betroffene organisierbarer oder organisierter Interessen geworden.648 Freilich folgen den Gesetzen des Wettbewerbes auch Wissenschaft und Künste.649 Doch Wettbewerbe marktlichen oder Wissenschaftsdogmen nicht wahrheitsverpflichteten Kriterien sind allemal verträglicher als politische.

III. Informationsasymmetrie als Demokratieproblem und Politikinstrument Informationsasymmetrie stellt ein Problem aller Wettbewerbssysteme dar und ist kein Spezifikum des Politischen.650 Die öffentliche Meinung als Ideal sieht sich aber, seit sie entstanden ist, der Deformation zur Realität der veröffentlichten Meinung ausgesetzt: Wo es keinen politischen Wettbewerb mehr gibt, gibt es auch nur noch veröffentlichte Meinung. Kann sie einerseits niemals den Informationsvorteil der Regierung gegenüber den Wählern ausgleichen, der maßgeblich den allgemeinen „gouvernementalen Aktionsvorteil“ (Bergsdorf) ausmacht, so bleibt andererseits durch die weitgehende Informationshoheit des Staates im Allgemeinen und der Regierung im Besonderen Diskretionierung von Wissen möglich. Der parlamentarische Gesetzgebungsprozess ermöglicht der Opposition freilich durch die Ausschüsse in den meisten westlichen Systemen Teilhaberechte, die zumindest ihren Informationsrückstand zum Teil aufheben.651 Der Monopolisierung erheblicher und einschlägiger Informationen vermag nur noch ein „Parlamentsstaat“ abzuhelfen, also der kontrollierte und überschaubare Aufbau einer legislativen „Gegen“-Bürokratie.652 Dass eine solche Bürokratie sodann das gleiche Risikopotential besitzt, sich zu verselbstständigen, ist evident, aber in Kauf zu nehmen. Nicht umsonst tritt das axiomatisch formulierte physiokratische Postulat einer totalen öffentlichen Meinung in einer Gesellschaft auf, deren Staat sich entscheidend über die Geheimhaltung seines Bestehens und Handelns definieren lässt.

647 648 649 650 651 652

Scharpf 1975, 92. Scharpf 1975, 92. Gary Becker 1993, 12. Weingast 1989, 701. Korte/Fröhlich 2004, 46. Weingast 1989, 700.

504

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

1. Suboptimalität durch Informationsasymmetrie Da das bereits erörterte Problem suboptimaler Budgets ebenso auf Informationsasymmetrien zwischen Regierung und Wählern beruht,653 bietet sich die gezielte Instrumentalisierung dieser Asymmetrie durch die Politik an. Eine demokratieökonomische Not lässt sich dann in partei- oder klientelpolitische Tugend umwandeln. Opfer solcher Entwicklung sind schließlich regelmäßig Gesamtnutzen und Gemeinwohl. Die unter der optimalen Größe bleibende Gesamtgröße des Budgets ist nicht gleichzusetzen mit dem regelmäßig hinzutretenden Problem von Einnahmen in Relation zu Ausgaben. Überhöhte Ausgaben sind indes ebenfalls unter anderem auch auf die Informationsasymmetrie zwischen Regierung und Bürgern zurückzuführen.654 Verstärkt wird dies durch ein psychologisches Problem, das streng genommen kein Informationsdefizit, sondern vielmehr eine für den Bürger defizitäre Informationsverarbeitung darstellt. Als Einkommensverdiener ist er sich regelmäßig Einbußen bewusster denn als Konsument.655 Damit ist nicht zuletzt zu erklären, warum kleine Lobbys gegenüber demokratisch legitimierten Regierungen Strafzölle zu ihren Gunsten durchsetzen können, die die Gesamtheit der Konsumenten eigentlich unverhältnismäßig in Mitleidenschaft zieht.656 2. Informationssymmetrie durch veröffentlichte Meinung Die als öffentliche Meinung firmierende veröffentlichte Meinung bietet den Akteuren des politischen Bereichs jedoch über die Möglichkeit der Diskretionierung hinaus zusätzlich die Möglichkeit der Manipulierung. Die Sensibilität für das Bezugsfeld von Politik und öffentlicher Meinung ist in den westlichen Ländern unterschiedlich stark ausgeprägt. Besonders deutlich wird dies in der Diskussion, die in der durch totalitäre Propaganda vielfach traumatisierten Bundesrepublik Deutschland um den Rundfunk geführt wird. Es ist an dieser Stelle nicht der Ort, die komplizierte Rechtsstruktur der „öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten“ zu diskutieren: Die Grenze von Staat und Gesellschaft zieht sich hier „mitten durch eine juristische Person hindurch.“ 657 Eine im weitesten Sinne vergleichbare Konstruktion besteht nur noch in Großbritannien. Die in diesem Balancesystem thesaurierte politische Weisheit hat sich seit der parallelen Möglichkeit privaten Rundfunks deutlich gezeigt und dazu geführt, 653 654 655 656 657

Frey/Meissner 1974, 105; Downs 1974, 108. Downs 1974, 109. Downs 1974, 121. Frey 1974, 164. Isensee 1968, 157.

B. Publikation von Zwangsgewalt

505

öffentlich-rechtlichen Rundfunk neben privatem gerade um der Vielfalt willen erhalten zu müssen,658 was ausgehend von der ursprünglichen Ausgangslage der öffentlichen Meinung im 18. Jahrhundert, aber auch von der Schlichtheit gleichgeschalteter öffentlicher Meinung im Totalitarismus eine Ironie der Geschichte darstellt. Tatsächlich erweist sich, dass eine derartige „institutionelle Gewaltenteilung“ innerhalb der Träger von Informationsproduktion effektiver ist als demokratische Kontrolle durch den souveränen Staats- oder aufgeklärten Konsumbürger.659 Bedrohungen des Informationspluralismus und mithin der Funktionstüchtigkeit öffentlicher Meinung sind vielfältig: Sie gehen nicht nur von privatwirtschaftlicher Monopolbildung oder marktverursachter „Verfälschung“ aus, sondern auch von einer Kolonisierung durch gesellschaftliche Interessen, vornehmlich, aber nicht ausschließlich durch politische Parteien. Dieses „Beutesystem der öffentlichen Informationsgewalt“ führt nicht nur zu parteipolitischer Stratifizierung und Petrifizierung entscheidender Bereiche der öffentlichen Meinung, sondern überhaupt zu unnötiger Politisierung und Emotionalisierung, die einer mündige Informationskonsumenten voraussetzenden Sachlichkeit abträglich ist.660 Bereits bestehende Politisierung reagiert in der Gegenwart mit hinzukommender Kommerzialisierung zu emotionaler Zuspitzung und polarisierender Verzerrung: Der Einfluss des Rundfunks auf zahlreiche psychosoziale Störungen wird wahrscheinlich trotz aller Sensibilisierung immer noch unterschätzt. Insbesondere die Schäden durch Behinderung sachlicher Meinungsbildung des Bürgers sind in einer Demokratie kaum zu ermessen. Zusätzlich wird dieses Dilemma kompliziert, indem einerseits die Verfechter dieser Zustände, also die Medienvertreter selbst, diese Verhältnisse gerade als Ausdruck einer Orientierung der Medien am mündigen Konsumenten erachten. Die Medien dürften nicht mehr als „das Offenhalten einer öffentlichen, politischen Diskussion“ verfolgen: Nicht mehr als nur Wirklichkeit abzubilden ist gleichsam topisch geworden. Die Kritiker dieser Verhältnisse machen sich aber andererseits auch nicht die Mündigkeit der Informationskonsumenten zu Eigen, sondern favorisieren oftmals paternalistischen Habitus, so dass sich hinter dem scheinbar grundsätzlichen Streit bisweilen nur parteipolitische Kontroversen verbergen.661 658 Krüger 1964, 47; 59 geht sogar soweit, die Beherrschung der Massenmedien unter Staatsvorbehalt zu sehen. 659 Der Terminus wird bereits vor der Einführung des „dualen Rundfunksystems“ im Hinblick auf die Gesamtheit der Medienlandschaft von Schelsky 1973, 94 f. geprägt. Zur Konsumdemokratie als Mechanismus funktionstüchtiger öffentlicher Meinung: ebd., 96. 660 Zu dem von ihm so genannten „Beutesystem öffentlicher Informationsgewalt“ Schelsky 1973 (a), 97. 661 Z. B. Schelsky 1973 (a), 93.

506

2. Teil: Katalyse staatlicher Rationalisierungsfunktion

Die Politisierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks hat einen circulus vitiosus von Demokratisierung ausgelöst: Die tatsächliche oder vermeintliche, jedenfalls als „Demokratisierung“ etikettierte Parteinahme von Informationsproduzenten zu Gunsten oppositioneller Standpunkte führt zu einer ebenfalls als „Demokratisierung“ ausgewiesenen Änderung der Proporzverhältnisse in den steuernden Gremien zu Gunsten der regierenden Mehrheit. Somit beschleunigt sich die Politisierung allgemein, vor allem aber die Kolonisierung durch die Parteien.662 Das Verschwinden von Informationsasymmetrien wertet Luhmann als entscheidendes Moment der Enthierarchisierung moderner Gesellschaften im Wohlfahrtsstaat: Statt eine Symmetrierung anzunehmen, verabschiedet er das frontale Modell gänzlich und sieht vielmehr einen Informationskreislauf Platz greifen.663 Besonders das Bezugsfeld von Gesellschaft und Individuen einerseits und Sozialstaat andererseits ist von diesem Wandel, der sich zu Zirkularität vollzieht, gekennzeichnet, da die primären Steuerungsmedien moderner Staatlichkeit, Recht und Geld, hier besonders schnell an Grenzen stoßen.664 3. Öffentlichkeit und Geheimhaltung im demokratischen Rechtsstaat der Informationsgesellschaft Es ist inzwischen fast unumstritten, dass die Bedingungen der Informationsgesellschaft die Informationsasymmetrie zugunsten der Regierenden verstärken wird, auch wenn die Frage, ob daraus ein Überwachungsstaat verschärfter sozialer Kontrolle oder ein intelligenter Staat optimierter Kollektivgütergewährleistung wird, weiterhin von der freiheitlichen Motivation der Regierenden beantwortet wird.665 In jedem Falle verliert die Gesellschaft gegenüber Staat und Regierung Autonomie. Ob dies Überwachungsstaat oder effizienten Staat fördert, ist nur eine Frage der Betrachtung, da beides nicht kontradiktorisch und noch nicht einmal konträr ist. Effizienzsteigerung und Ergebnisoptimierung einerseits, sowie Überwachung und soziale Kontrolle auf der anderen Seite erweisen sich vielmehr als kategorial disparate Größen.

662 663 664 665

Schelsky 1973 (a), 103 f. Luhmann 1981, 48. Blessing 1987, 79 und Kersting 2002, 25. Sturm 2000, 15; Sturm 2004, 378.

Epilog: Postmoderne Gewährleistungsinstitutionen öffentlicher Kollektivgüter Der Begriff der Postmoderne ist als historisches und sozialwissenschaftliches Interpretament der Literaturtheorie und Architekturtheorie entlehnt. Zentrales Programm der Postmoderne ist hierbei der Dekonstruktivismus als eine Reduktion auf ursprüngliche und einfache Muster und Formen. Im allgemeinen Sinne wird die Postmoderne als Abschied von den Leitideen der Moderne angesehen: Fortschritt und Zweckrationalität werden zugunsten von Pluralität, Zyklizität oder auch Chaos bestritten. Kennzeichnend für die Postmoderne ist gemäß JeanFrançois Lyotard das Ende der drei „Großen Erzählungen“, Aufklärung, Idealismus und Historismus. Darin, diese eben für Erzählungen zu halten, denen kein Glaube mehr geschenkt wird und die als Konstrukte entlarvt werden, manifestiert sich die Postmoderne1. Die problematische Wirkung dieses Konzeptes liegt vornehmlich darin begründet, dass es gleichsam ein Auffangkonstrukt darstellt, um die neuesten „Konsequenzen der Moderne“ (Giddens) zu ziehen und vor allem deren mannigfaltige Paradoxa zumindest ordnen zu können und mögliche Bewältigungsstrategien zu entwickeln. Insofern erweist sich der Begriff der Postmoderne als „eine eher virtuelle, noch nicht [. . .] realitätsgesättigte Antwort auf die Ambivalenzen der Moderne.“ 2 Die Politik betreffend wird Postmoderne weitgehend als in Form von Dezentralisierung und Subsidiarität, von „civil society“ und indirektem Regieren konkretisiert konzipiert.3 Dass Staat, solange er als existent erachtet wird, per definitionem nicht postmodern sein, aber sich bestens einer postmodernen Umwelt anpassen kann, ist offensichtlich. Ist die Moderne von fortschreitender funktioneller Differenzierung geprägt, so beschreibt die Ausgangssituation der Postmoderne einen Staat, der als ein über diese Entwicklung funktionsuntüchtig gewordener angenommen wird.4 Diese Funktionsuntüchtigkeit könne, so folgern die Theoretiker der Postmoderne, nur überwunden werden, wenn Teilsysteme sich gemäß ihrer Eigenrationalität weitestmöglich selbst bzw. gegenseitig kontrollieren und steuern.5 Willke bezeichnet 1 2 3 4 5

Lyotard 1986, 7 und 14. Waschkuhn 1998, 296. Waschkuhn 1998, 298. Wilke 1983, 49; Waschkuhn 1998, 393. Wachkuhn 1998, 393; Anter 2004, 83 ff.

508

Epilog

als Ort solcher Form von Selbstorganisation die „retikularen Relationen“, was teilweise verkürzend mit dem Begriff „Kreisbeziehungen“ übersetzt wird, eigentlich aber als netzartige Beziehungen zu verstehen ist.6 Mit der Autonomie gesellschaftlicher Akteure nimmt nahezu selbsttätig der Konsensualisierungsbedarf zu. An die Stelle von Administration tritt Moderation.7 Die Gefahr, darüber private Autonomie und gesellschaftliche Selbstorganisation durch staatliche Vorschriften zu hemmen, bleibt, weil sie in der Eigenart des Staates begründet liegt, solange er gesellschaftlich anwesend ist.8 Weitgehend einig sind sich die Theoretiker der Postmoderne auch darüber, dass Reflexivität und Reflektiertheit den Staat in der Postmoderne noch in deutlich höherem Maße definieren, als dies bereits für den (spät) modernen Staat kennzeichnend ist.9 Ulrich Beck postuliert gleichsam den schmalen Grat beschreitend, der zwischen Normativität und Deskriptivität verläuft, den Staat in der Postmoderne als einen Ort zu kategorisieren, der „eine Umkehrbarkeitsprämisse im Sinne der Optionssteigerung anzusetzen“ garantiert.10

I. Öffentliche Institute in einer postnationalen Konstellation?11 Den Staat sucht die Politik durch die Mittel des Staates zu überwinden und zu ersetzen. So macht das Wort von der „Weltinnenpolitik“ die Runde: Beschworen wird die Menschheit als eine Schicksalsgemeinschaft, in der in Auswärtiges und Inneres zu trennen nicht mehr angemessen sei.12 Tatsächlich erfordert eine solche introvertierte Sicht der Welt freilich Staatenpluralität: Diese beschreibt gleichsam ein „Moment der Gewaltenteilung“ innerhalb der Weltgemeinschaft. 13 Aufgeklärtem Naturrecht und moderner Demokratie eignet per definitionem ein kosmopolitisches Potential, verstehen sie sich doch als Wiederherstellung des Naturgegebenen und mithin Allgemeingültigen und führen in letzter Konsequenz 6 Willke 1983 und 1992 mit Kreisbeziehungen wird dieser Terminus übersetzt von Waschkuhn 1998, 393. 7 Korte/Fröhlich 2004, 188; Florian Becker 2005, 38 und passim. Beckers gesamte These „kooperativer und konsensualer Strukturen in der Normsetzung“ liegt diese Annahme zugrunde. 8 Isensee 1968, 171. 9 Waschkuhn 1998, 393; Beck 1993, 17 und passim. 10 Beck 1993, 17; Waschkuhn 1998, 300. 11 Der Terminus geht zurück auf Habermas 1998. 12 Dieser auf Carl Friedrich von Weizsäcker zurückgehende Begriff wird systematisch von Bartosch 1995, 238 ff. erläutert. Zum Sicherheitsproblem in der postnationalen Konstellation allgemein: Zangl/Zürn 2003, kritisch hinsichtlich der Neuartigkeit dieser Lage dazu: Hildebrand 2004, 160 f. 13 Isensee 1999, 63.

Epilog

509

zur Idee der Weltrepublik, wie sie bereits Kant und Schlegel postulieren.14 Der Staat wird dabei mittlerweile stillschweigend mit der Nation gleichgesetzt: Ein fataler Irrtum, der neben anderen Ursachen zur chronischen Fortschrittslosigkeit der Entwicklungspolitik gegenüber den afrikanischen Staaten führt. Die durch öffentliche Institute, oftmals Suborganisationen der Vereinten Nationen oder auch durch diese selbst, durchgeführte, aber regelmäßig von den Interessen einiger dahinter stehender Staaten geleitete Politik vollzieht sich in Prozessen und Problemprozeduralisierungen, wie sie in staatlichem Rahmen tradiert und eingeübt sind. Staatlichkeit bleibt als Rationalisierungsmodus auch in der Postmoderne vorherrschende Steuerungsform, um Kollektivgüter zu gewährleisten. Gleich dem Vogel Phoenix ersteht ihr Prinzip überall dort neu, wo Staaten vermeintlich oder tatsächlich Kompetenzen abtreten. Insbesondere inter- und transnationale Handlungseinheiten als dem Staat bald übergeordnete, bald ihn ersetzende Funktion anzusehen wird in England bereits erörtert als durch den Ersten Weltkrieg das Überkommene des Politischen relativiert wird: Dass es sich recht eigentlich nicht um post-, sondern vielfach um paranationale Konstellationen handelt, wird nicht zuletzt dadurch veranschaulicht, dass der theoretische, aber auch der praktische Ausbau inter- und transnationaler Interdependenz durch den Ersten Weltkrieg seinerzeit nicht sofort abgebrochen ist.15 Die bis heute den öffentlichen Diskurs national wie international beherrschende Konfrontation des Nationalen mit dem Postnationalen ist der implizierten Ausschließlichkeit der Entwicklung genauso wenig wie der Eigenart politischer Handlungsdimensionen jenseits des Staates angemessen. Der Staat als Projekt der Moderne setzt sich in die Postmoderne hinein fort. Ihn transzendierende Institutionen und Dimensionen stehen zu ihm in additivem, aber nicht zwingend exklusivem Verhältnis. Daher erkennen in England bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts Protagonisten, die internationale Kooperation und weltweit verbindliche Werte, die Kooperation als oberste Orientierungsgrößen politischer Hierarchie anerkannt wissen wollen, dass zu deren Umsetzung der Staat als Mittel erforderlich ist.16 Der ideenhistorische Hintergrund für diese Wahrnehmung dürfte nicht zuletzt darin beruhen, dass die Welt im Sinne von Publikum und Öffentlichkeit seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert als Gegenstück einer staatsfreien, nämlich im doppelten Wortsinne welt-bürgerlichen Sphäre erachtet worden ist. Daher wird Transzendierung von Staat durch andere öffentliche Gewalten, wie sie sich im inter-, trans- und supranationalen Zusammenhang zeigen, als Teil einer dem Staat konfrontativ gegenübergestellten Idee der Interventionsfreiheit angese-

14 15 16

Meinecke 1922, 78. Lindsay 1914, 136 und Burns 1915, 44; 43. Burns 1915.

510

Epilog

hen.17 Dass Regulierung durch solche Arten öffentlicher Herrschaft, wie sie im supranationalen Bereich etwa die Europäische Union darstellt, ungleich drückender und interventionsgeneigter sein können als der alte Nationalstaat überkommenen Zuschnitts, ist an der Realität der Europäischen Union mittlerweile tagtäglich zu erleben. Zwar ist die Welt als Gesamtheit der Ort wirtschaftlicher Autonomie, indem durch Globalisierung und Internationalisierung der Finanzmärkte der Staat als Regulator und Administrator des Wirtschaftssystems überwunden ist. Gleichwohl ist er als „regionale Adresse“ einer Weltgesellschaft bislang nicht durch andere Größen zu ersetzen; es sei dahingestellt, inwieweit solch andere Größen überhaupt faktisch existieren oder imaginär sind.18 Die im postnationalen Zusammenhang unvermeidbare, aber auch innerhalb des Staates durch fortschreitende funktionale Differenzierung angelegte Zunahme von Widersprüchlichkeiten öffentlicher Hoheit weicht Einheit und Einheitlichkeit des Staates auf und führt nicht nur zu einem Funktions-, sondern auch zu einem Legitimitätsdefizit.19 Obwohl der Staat auch oberhalb seiner selbst in Formationen eingebunden sein kann, die noch als Staat bezeichnet werden, soll im Folgenden eine weniger an klassischer Begrifflichkeit der Allgemeinen Staatslehre als vielmehr an den heutigen Begriffen der Wissenschaften von den internationalen Beziehungen orientierte Terminologie als Ordnungskriterium dienen.20 Besonders anfällig gegenüber Machtverlagerungen auf nichtnationalstaatliche Ebenen hat sich von jeher der Parlamentarismus erwiesen, obwohl entsprechende Institutionen größeren supra- und bisweilen auch internationalen Systemen beigegeben worden sind. Der „gouvernementale Aktionsvorteil“ scheint sich auf diesen Ebenen zu vergrößern. Demokratie wird somit zunehmend mediatisiert und lässt sich nur noch in mehrfach abgeleiteter, dem Wähler nur schwierig nachvollziehbarer Demokratizität erfassen.21 Einem sich zunehmend unklar darstellenden Elektorat stehen kaum noch Responsivität ausgesetzter Amtsträger gegenüber, deren Amtszeiten zu nationalen Wahlperioden stark und unregelmäßig verschoben sind. Aber auch Rechtsstaatlichkeit erweist sich für postnationale Prozesse als internationalisierungsempfindlich.22 In der postnationalen Konstellation relativieren sich Allgemeininteresse und Gemeinwohl, indem sie zu Partikularinteressen gegenüber dem Interesse des den Nationalstaat transzendierenden Zusam-

17

Forsthoff 1962, 391. Luhmann 1995, 34. 19 Reinhard 2002, 26. 20 Jellinek zählt fünf solcher Arten von Staatenverbindungen, die teilweise Schnittmengen mit der heutigen Begrifflichkeit aufweisen. 21 Für den europäischen Integrationsprozess werden die zahlreichen Fragen demokratischer Legitimation als Rechtsfragen bei Tiedtke 2005. 22 Die deutsche Staatsrechtslehre hat dieses Problem bereits im Frühstadium der Europäischen Integration erkannt und analysiert: Badura 1966, 70 ff. 18

Epilog

511

menhanges werden. Traditionelle Konzepte nationalstaatstranszendierenden Gemeinwohls bieten die in der christlichen Reich-Gottes-Lehre angelegte weltweite Verantwortung des Christen für das Wohl aller Mitmenschen,23 aber auch weltbürgerliche Konzepte der Aufklärung.24 Friktionen entstehen dabei aus der zu Widersprüchlichkeiten führenden Mehrfachmitgliedschaft ein und desselben Staates in unterschiedlichen organisatorischen und institutionellen Zusammenhängen sowie der Unklarheit stiftender Formelkompromisse in wenig kohärenten organisatorischen und institutionellen Zusammenhängen. Lediglich der Europäischen Union und dem Nordatlantischen Vertragsbündnis ist es gelungen, konsequente Ziele im Sinne gemeinsamer Interessen zu definieren. Dafür war vornehmlich der äußere Druck Ursache. Wirtschaftsübereinkommen wie auf den amerikanischen Kontinenten Mercosur25 und Nafta26 weisen stärker das Signum „vernünftiger Egoismen“ der nationalen Partikularinteressen auf, sind aber politisch vergleichsweise machtlos und in ihrem Bestehen prekär. 1. Internationale Institutionen und Organisationen Dass auch internationale Organisationen eine Wirkung entfalten können, die den im Gefangenendilemma zugespitzten Konflikt bewältigt und den Gesamtnutzen der in ihnen koordinierten Partikularinteressen optimiert, ist schon vergleichsweise früh durch Papst Johannes XXIII. sanktioniert worden, indem er diese Organisationen neben dem Staat als weiteren Adressaten für das Subsidiaritätsprinzip benennt.27 Nicht nur der weltumspannende missionarisch ausgerichtete christliche Glauben, sondern auch ein spezifischer „ostensibler Missionsauftrag“ der USA lässt in der politischen Vorherrschaft des Westens auch einen kulturellen Hegemonialanspruch und aufgrund der besonderen Eigenart seiner damit verbundenen Werte, namentlich Freiheit und Autonomie eine Neigung aufkommen, die von vornherein Entstehen und Ausdehnung einer internationalen Ebene begünstigen.28 Bereits Thomas Paine vertrat den Anspruch, die „Sache Amerikas“, nach Unabhängigkeit und Verwirklichung der Grundwerte von „life, liberty and the pursuit of happines“ zu streben, sei „in hohem Maße die Sache der ganzen Menschheit“ – Sätze, die nichts an Aktualität eingebüßt haben, um das gegenwärtige Welt- und Selbstbild der USA zu beschreiben. Die Diskussion über den Nutzen und Zweck internationaler Institutionen und Organisationen ist Legion. Die sich davon unterscheidende Frage nach dem tatsächlichen Grund inter23 Zur staats- und rechtsphilosphischen Operationalisierung dieses Aspekts der Reich-Gottes-Lehre: Verdroß 1963, 861 ff.; Hans Ryffel 1969, 227. 24 Zur Operationalisierung einer weltweiten Verantwortungsethik: Ryffel 1969, 227. 25 Akronym für: Mercado Commún del Cono Sur. 26 Akronym für: North American Free Trade Agreement. 27 Isensee 1968, 26. 28 Paine 1982, 61.

512

Epilog

nationaler Institutionen und Organisationen ist demgegenüber soweit vernachlässigt und verstreut, dass sie weithin beinahe ein Desiderat der Forschung darstellt. Einer der Hauptgründe dürfte im Legitimationsdefizit liegen, das imperialer Politik in einer Zeit anhaftet, da das Selbstbestimmungsrecht der Völker einen prominenten Rang unter den Missionsideen westlicher, namentlich angelsächsischer imperialer Politik, einnimmt. Hinzu treten weitere, teils sehr profane Gründe, wie die Möglichkeit der Politikfinanzierung durch dritte Staaten, wenn diese Politik durch internationale Institute und Organisationen zumindest legitimiert oder gar durch deren Apparate durchgeführt wird. Internationale Institutionen und Organisationen dienen also vornehmlich diskreter Gesamtnutzensteigerung von Staaten durch staatenindividualistische Eigennutzsteigerung in jenem hobbesianischen Urzustand, in dem die Menschheit jenseits staatlichen Verfasstseins weithin verharrt: Diesen Zustand überwinden zu wollen dient gleichsam als Begründung einer Politik, die der ratio jenes Naturzustandes folgt. Daher eignet der Organisierung und noch mehr der Institutionalisierung öffentlicher Kräfte auch im internationalen Zusammenhang eine zentralisierende Tendenz, die freilich ihrer Natur nach nicht zu Zentralismus, sondern nur zu Unitarismus führen kann. Föderale Organisationsformen wiederum können sich in der Welt souveräner Staaten hingegen auch nur schwer behaupten.29 2. Transnationale Dimensionen öffentlichen Handelns Nicht nur auswärtiges, „internationales“ Handeln des Staates, sondern auch klassische Domänen der „Innenpolitik“ sind von transnationaler Erheblichkeit. Die Wohlfahrt seiner Bürger zu gewähren aber auch die damit einhergehende Allkompetenz zwingen den Staat, seine Interessen über die eigenen Grenzen hinaus zu verfolgen. War Territorialität die Ausgangsbasis des neuzeitlichen Staates überhaupt, so scheint sich, nachdem ein halbes Jahrtausend territorialen Staats vergangen ist, nunmehr unter den Bedingungen der Postmoderne grenzüberschreitendes Handeln gerade als kennzeichnend für postmoderne Staatlichkeit zu erweisen. 3. Supranationale Institutionen und Organisationen Ursprünglich eigens geschaffen, um die Europäische Union zu bezeichnen, wird der Begriff des Supranationalen in weiten Teilen der Rechtswissenschaft gerade der Europäischen Union als Eigenschaft nicht zuerkannt. Eigene Rechtsordnung mit eigenen parlamentarischen, exekutiven und judikativen Organen sind kennzeichnend für supranationale Staatenverbünde. In der Praxis ist diese Tren29

Herzog 1971, 408.

Epilog

513

nung kaum eindeutig zu ziehen. Wird bald die abgeleitete Souveränität als Konstituens supranationaler Organisationen erachtet, so wird bald unter Hinweis auf deren Fehlen zu belegen versucht, dass es sich bei entsprechenden Vereinigungen gerade nicht um supra-, sondern nur um internationale Vereinungen handelt.30 Relative Einigkeit besteht hingegen darüber, dass supranationale Organisationen ihre, wie auch immer geartete Kompetenz, im Gegensatz zu internationalen Organisationen unmittelbar anwenden können und ihre Gesetze auch unmittelbar gelten. Bei dem wohl prominentesten möglicherweise supranationalen Verbund, der Europäischen Union, sind diese Kompetenzen aber faktisch umstritten. Es fehlt also nicht nur eine klare und abschließende Definition, sondern sogar insoweit, als diese sicher ist, eine klare und eindeutige Subsumption. Über eine eigene Organisation mit festem Mitarbeiterstab zu verfügen ist existentiell notwendig für Staatenbünde und andere Staatenverbindungen;31 ausreichend ist ein solch eigener Körper aber nicht, wie nicht wenige weithin machtlose Bürokratien in Zusammenhängen veranschaulichen, die den Staat transzendieren. Die Einsicht, eigene Interessen nunmehr in einem den eigenen Staat transzendierenden Zusammenhang wahrnehmen zu können, ist jedoch regelmäßig dem Selbstbehauptungswillen staatsbezogener Politik als solcher abgerungen: Souveränitätsverzicht des Staates zieht die classe politique dem Machtverlust des Politischen vor. Ob und inwieweit dies der Optimierung staatlicher Kollektivgütergewährleistung dient, ist schwer auszumachen: Wahrscheinlich wird diese aber durch supranationale (Rahmen-)Organisation nicht nur effizienter gestaltet, sondern bleibt überhaupt nur möglich. Im Falle von Europäischer Union und Europäischen Gemeinschaften hat die inter- bzw. supranationale Rahmenorganisation darüber hinaus den Wandel vom intervenierenden zum subsidiären Staat gefördert, namentlich vom nahezu alle Bereiche der Daseinsvorsorge umfassenden Versorgungs- und Wohlfahrtsstaat zum Daseinsvorsorge vornehmlich organisierenden Gewährleistungsstaat. Im Bereich der Finanzierung steigert sich mit dem Hinzutreten einer weiteren Ebene öffentlicher Gewalt die Unüberschaubarkeit und Verbindungslosigkeit von Einnahmen und Ausgaben. Als Mittel der Abhilfe wird das Äquivalenzprinzip empfohlen.32 Hinaufdelegierung staatlicher Souveränität ist zumeist nicht Preisgabe des Prinzips von Staatlichkeit als solcher, sondern vielmehr Resultat von dessen fortgesetzter Effizienzsteigerung. Mag der konkrete Einzelstaat darüber verlieren, der Staat als solcher wird weiter gestärkt.33

30 31 32 33

Tiedtke 2005, 48. Herzog 1971, 407. Schmehl 2004, 61. Isensee 1999, 61.

514

Epilog

II. Öffentliche Güter in einer nachstaatlichen Gesellschaft? Abgesänge auf den Staat in den verschiedensten Melodien und Variationen vorgetragen entsprechen noch einem Zeitgeschmack, der allmählich wieder schwindet. Die geistige Avantgarde hat den Staat freilich längst wiederentdeckt.34 Zu viele menschliche Bedürfnisse lässt der Markt unbefriedigt, zu wenig Sicherheit bietet eine Gesellschaft, aus der sich der Staat weitgehend zurückgezogen hat, als dass sich die Assoziationsform des modernen Staates dauerhaft überwinden ließe. Somit ist zweifelhaft geworden, was nicht wenigen ohnehin stets Utopie war: Die nachstaatliche Gesellschaft. Das Dämmern souveräner Nationalstaaten bedeutet nicht den Niedergang von Staatlichkeit als menschlicher Organisationsform.35 Denn Staat beschreibt bislang immer noch diejenige Species von Institutionensystem, die einen der höchsten Spezialisierungsgrade aufweist, um Gefangenendilemmata zumindest aufzuspüren und zu bewältigen. Diese zu bewältigen ist aber für die Überwindung übermäßiger Staatsaktivität, für die Privatisierung und Zivilgesellschaft womöglich die bedeutendsten Instrumente sein werden, unabdingbare Voraussetzung. Das Gefangenendilemma reformuliert als einer der entscheidenden Paradigmenwechsel die Frage nach dem Politischen neu: „The prisoner’s dilemma has become one of the premier philosophical and scientific issues of our time. It is tied to our very survival.“ 36 Jenseits der Kategorie von Privatem und Staatlichem bleibt jedoch jener sich tendenziell weiter ausdehnende Bereich bestehen, der einerseits aus demjenigen konstituiert wird, was Habermas als das Soziale bezeichnet, und andererseits aus dem Bereich des Öffentlichen als Weichbild des Staatlichen. Über den Markt lassen sich nicht alle Kollektivgüter bereitstellen, wieder andere nur suboptimal, wird ihre Gewährleistung mit nichtmarktwirtschaftlichen Alternativen verglichen. Gleichwohl erfordert ihre Bereitstellung nicht unbedingt Zwangsgewalt, zumindest nicht in der offenen Form, wie sie für staatliche Kollektivgütergewährleistung kennzeichnend ist. Bisweilen wirken hier auch traditionelle Mächte sozialdisziplinierend. 1. Ideal und Konzept der „civil society“ Der Begriff der „civil society“ reicht deutlich länger in die Vergangenheit zurück, als es seine noch junge Erfolgsgeschichte vermuten lässt, die gegen Ende des 20. Jahrhunderts beginnt. Das zugrunde liegende Konzept ist der gleichermaßen zeitverhaftete Gegenpol zu Hobbes und ist wie dessen Theorie des Leviathan 34 Fukuyama 2004. Einen Überblick über diese neuere Entwicklung bietet Voigt 2003, 24 f. 35 Isensee 1999, 62. 36 Poundstone 1993, 9.

Epilog

515

im naturwissenschaftsorientierten Stil dieses ersten Szientismus auch anthropologisch verankert. Bei Locke wird im Gegensatz zum Staat, der durch einen mehrheitlich beschlossenen Gesellschaftsvertrag den Naturzustand von Freiheit und Gleichberechtigtsein aufhebt, die civil society wiederum als Ausdruck eines den Staat tragenden Grundkonsenses, der anders als der Gesellschaftsvertrag tatsächlich von allen ausgehen muss, konzipiert.37 Wiederbelebt wird das Konzept der civil society maßgeblich durch das Ende der kommunistischen Weltherrschaft in den Jahren 1990 und 1991, als sich nach Jahrzehnten des Totalitarismus die Frage einer grundsätzlichen Neubegründung von Staat und Gesellschaft stellt.38 a) Civil society als Operationalisierung von Subsidiarität Somit wird civil society heute als konkrete Realisierungsform von Subsidiarität begriffen.39 Damit ist sie jedoch eine Form der kollektiven Befriedigung von Bedürfnissen in Einheiten, die je nach Zusammenhang in einer bestimmten Form überschaubar sein müssen, gefordert. Dies kann durch das Subsidiaritätsprinzip, dies kann auch durch das Äquivalenzprinzip erfolgen, weil es „eine stärkere Spezifizierung der Verantwortungsbeziehungen für bestimmte Staatsleitungen“ ermöglicht.40 Freilich ist diesem Prinzip inhärent, Staatsleistungen durch private (Eigen-)Verantwortung und mithin Staat durch Zivilgesellschaft zu ersetzen. Die civil society stellt das gelungene Gegenteil von Massenapathie dar: Ihr Ideal besteht darin, auf den Staat nicht mehr angewiesen zu sein und das Individuum als aufgeklärt und selbstständig zu postulieren.41 Diese Unabhängigkeit des Einzelnen soll sich nicht nur gegenüber dem Staat, sondern auch innergesellschaftlich behaupten können, weshalb die Einführung von Bürgergeld und Komplementärwährungen gefordert wird:42 Die Bürger sollen nicht mehr staatlich subordiniert werden, sondern sich nur noch selbst koordinieren, ohne dass dies jedoch in den Hobbesianischen Naturzustand anderer Heteronomien führt. In letzter Konsequenz wird mit dem Ideal der civil society das Ideal der Herrschaftsfreiheit erstrebt. Die neuralgische Stelle besteht freilich in dem dazu erforderlichen Funktionswandel gesellschaftlicher Institutionen wie Kirchen und Verbänden von so genannten pressure groups zu echten Agenten individueller Emanzipation.43 Ob dies gelingt, ist letztlich freilich keine Frage der Institutionen 37 38 39 40 41 42 43

Waschkuhn 1998, 211. Gellner 1995, 10. Münkler 1994, 69. Schmehl 2004, 45. Dahrendorf 1992, 80. Waschkuhn 1998, 497. Olson 1998, 109.

516

Epilog

mehr, sondern danach, wie sich die civil society unmittelbar selbst entwickeln wird.44 Sie ist eine Größe jenseits von Staat und Markt, also jenseits von Allgemein- und Partikularinteresse, und beschreibt Hoffnung und Glauben an die Einsichtsfähigkeit des Menschen, der auf einer höheren nachstaatlichen Entwicklungsstufe das Gefangenendilemma aus eigener Kraft als autonomes Subjekt überwinden kann.45 b) Civil society als historisches Phänomen Wenn die Hegelsche Aussage, Innovationen reagierten auf ein ohnehin vorhandenes Bedürfnis, statt ein solches erst zu begründen, zutrifft, dann hat mit den Möglichkeiten des weltweiten Datennetzes tatsächlich das Zeitalter der civil society bereits begonnen. Beschreibt die civil society ein Ideal, so entpuppt sie sich zugleich auch als Voraussetzung, die den westlichen Staat beginnend mit der archaischen Poliswelt der alten Griechen zu dem macht, was ihn von außereuropäischen Staaten unterscheidet, die regelmäßig unmittelbar aus Stammesgesellschaften hervorgingen und entsprechend subordinierend und repressiv waren.46 Wie stark zivilgesellschaftliches Denken durch Allgegenwart des Staates im Bewusstsein der Spätmoderne verschüttet ist, erhellt nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass ein Gelehrter wie Lorenz von Stein die bürgerliche Selbstverwaltung durch Vereine als festen Bestandteil der Verwaltung bereits im 19. Jahrhundert systematisiert hat.47 Ist die „civil society“ in den weniger entwickelten Ländern Voraussetzung, Demokratie einzurichten,48 so hat sie sich in den älteren Demokratien der nördlichen Hemisphäre zur Voraussetzung entwickelt, Demokratie im Besonderen und Staat im Allgemeinen erhalten zu können.49 Die reflexive Demokratie hat ihren Ort in der civil-society, die damit ein erhebliches Maß an gesamtgesellschaftlicher Demokratisierung voraussetzt, so dass demokratisch legitimierte staatliche Zwangsgewalt und demokratisch formierte gesellschaftliche Disziplinierung gleichsam miteinander kommunizieren.50 Als Instrument bleibt freilich 44

Fukuyama 2004, 51. Besonders deutlich wird dieses Konzept einer „fairen Gesellschaft“ bei Etzioni 1996 entworfen; die deutsche Ausgabe der angeführten Monographie trägt auch den Titel die „faire Gesellschaft“ (Originaltitel: „the Moral Dimension“). 46 El Masry 2004, 491. 47 Dem „Vereinswesen“ ist eigens ein Band seiner Verwaltungslehre gewidmet. 48 Diamond 1992, 483 f. 49 Frühe Zeugnisse aus England: Pollock 1890/1911, 7 (auch in deutscher Übersetzung als „Kurze Geschichte der Staatslehre“); Meadowcroft 1995, 229. Zur staatserhaltenden Funktion: Offe 1998/2000, 116. 50 Schmalz-Bruns 1995, 125 ff. 45

Epilog

517

auch für die „civil society“ der „aktivierende Staat“ unverzichtbar.51 Auch die civil society bleibt eine vom Staat geprägte und „veröffentlichte“ Form von Gesellschaft.52 Civil society wird auch als notwendige Anpassung an die fortschreitende funktionale Differenzierung begriffen, die wiederum von lernenden und selbst innerhalb eines Prozesses lernfähigen Assoziationen und institutionellen Zusammenhängen solche Differenzierungen anstößt. Anders als der reine Staat ermöglicht Demokratie, die in einer civil society verankert ist, von ihr getragen wird und nicht lediglich einen Zuteilungsmodus von Staatsmacht beschreibt, zieländernde Rückkopplung, so dass die Gesellschaft selbst das Gefangenendilemma überwinden kann und zunehmend weniger auf den Staat angewiesen ist, der selbst nur immer planmäßig und auf der Mikroebene vergleichsweise inflexibel handeln kann.53 Unter dem Eindruck dieser Idee wird die Geschichte des Staates neu geschrieben werden müssen als Geschichte der civil society.54 2. Nichtregierungsorganisationen („NGOs“) Nichtregierungsorganisationen als Akteure einer nachstaatlichen Welt der postnationalen Konstellation sagen in dieser Bezeichnung über ihren Antagonisten zunächst mehr aus als über sich selbst:55 Es sind eben Regierungen und nicht Staaten, die vermittels internationaler und supranationaler Institutionen auf diesen, den Nationalstaat transzendierenden Ebenen Macht ausüben. Es liegt, wie bereits dargelegt,56 in der Eigenart des Politischen, dass es sich nicht selbst abschaffen kann. Wo das Politische staats- bzw. kollektivgüterbezogen ist, wie unter den Bedingungen der westlichen Moderne, lebt daher aus dieser Unsterblichkeit menschlichen Machtstrebens heraus der Staat weiter. Nichtregierungsorganisationen als ursprünglich private Vereinigungen stellen den Versuch dar, nichtstaatlich und daher sich als nichtpolitisch definierend Kollektivgüter zu sichern, die ihrer Eigenart nach staatserfordernd sind. Damit erfüllen sie aber nicht nur das Kriterium sämtlicher Definitionen des Politischen. Mehr noch, zumeist genießen sie in den westlichen Demokratien staatliche Unterstützung. Staatlichkeit erweist sich als hochinfektiös und nicht selten auch als hochkorrumpierend. Gegenstand der Politik sind staatserfordernde Kollektivgüter und der Staat daher ihre Arena und

51

Korte/Fröhlich 2004, 131. Schefczyk 2003, 206; ferner auch: Schönherr-Mann 1996, 14 f. 53 Deutsch 1976, 518; Willke 1983, 49. 54 Gallus 2004, 21. 55 Die Gesamtzahl aller Nichtregierungsorganisationen wird auf weltweit 10 000 geschätzt, Höffe 2002, 425. 56 Cf. Epilog I. 3. 52

518

Epilog

ihr Mittel zugleich. Was staatserfordernde Kollektivgüter betrifft, ist sofort aktuell politisch und potentiell staatlich. 3. Religion als Gewährleistungsinstitut öffentlicher Kollektivgüter in der postkolonialen Welt „Die Wirtschaft ist das Schicksal“, diese bereits schon einmal grausam von den archaischen Primitivismen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft widerlegte These des von Rechtsextremisten ermordeten Walther Rathenau beschreibt, worauf die Aufmerksamkeit des öffentlichen Diskurses westlicher Gesellschaften noch immer gebannt ist: Wird der Staat oder der Markt die gesellschaftsbeherrschende Steuerungsgröße sein? Die Stimmen der Marktskeptiker, die eine neue Renaissance des Staates prognostizieren, scheinen allmählich in ihrem crescendo- die Markteuphoriker zu überstimmen.57 Neben endogenen Ursachen wie eine Börsenkrisis säkularen Ausmaßes und einer sich nicht selten als schlichter Verantwortungsrückzug des Staates allmählich entlarvende Privatisierung stellt der bereits zeitgenössisch als kriegerischer Akt erkannte Angriff auf die USA, der die Weltlage seit dem 11. September 2001 bestimmt, gleichsam das Fanal zu einer Renaissance des Staates dar – einer Renaissance, die sogar seine archaischen vorrechtsstaatlichen Anlagen wiederbelebt und vor Augen führt, dass der moderne Rechtsstaat stets prekär bleibt. Dabei aktualisiert und importiert jenes Ereignis nur einen Wettbewerb des Staates mit einer anderen gesellschaftssteuernden und -organisierenden Kraft, die sich seit dem Ende der Kolonialherrschaft mehr oder weniger schleichend zur steuernden Kraft außerhalb der westlichen Welt entwickelt hat: Der Religion. Es ist vornehmlich, aber nicht ausschließlich der atemberaubende Siegeszug des Islam, der die Frage aufwirft, ob der Staat nicht für die Mehrheit der Menschen durch die Religion als Gewährleistungsinstitut existentieller Kollektivgüter abgelöst wird, sofern der Staat dort jemals eine solche Funktion tatsächlich ohne erhebliche Störungen erfüllt hat. Von der westlichen Öffentlichkeit fast unbemerkt korreliert mit dem Schwinden der katholischen Kirche als gesellschaftssteuernder Kraft auf der nördlichen Hemisphäre ihr Zunehmen auf der südlichen. Die Fama von der sterbenden Kirche ist die gleichermaßen diskreteste wie letzte Form des Eurozentrismus. Europäisch ist auch dasjenige Institut, mit dem Kolonialismus begründet und ermöglicht wurde, das Eigenrecht der Nation, die dazu berufen sei, ihre Kultur und Eigenart gegebenenfalls auch kriegerisch zu behaupten, ohne dabei an irgendwelche Grenzen gebunden zu sein.58 Wer in einer solchen Welt nicht natio-

57 58

Statt vieler: Sturm 2004, 399. Meinecke 1922, 281 f.

Epilog

519

nal formiert ist, kann nicht bestehen und verliert seine Autonomie. Somit ist der vorstaatlichen bzw. vornationalen Größen übergeordnete Nationalstaat westlichen Zuschnitts bis heute Richtgröße namentlich afrikanischer Unabhängigkeitspolitik, worin wiederum eine strukturelle Thesaurierung von Ungleichheit gegenüber den vormaligen Kolonialmächten angelegt ist, denen die postkolonialen Ordnungen jetzt nicht mehr juristisch, sondern wirtschaftlich, organisationell und in hohem Maße auch kulturell ausgeliefert sind. Die Abhängigkeit des Staates von einer staatsorientierten Kultur ermöglicht dort, wo andere gesellschaftliche Größen, etwa familialer Art vorherrschen, Religion zum entscheidenden suprafamilialen bzw. supragentilen Gewährleistungsinstitut von Kollektivgütern werden zu lassen. So wie die (abendländische) Menschheit über zwei Jahrtausende an einen Gott geglaubt hat, der die regula aurea offenbart hatte, und somit das Gefangenendilemma unbewusst und unreflektiert bewältigen konnte, so mag sich dereinst herausstellen, dass auch der Glauben an eine metaphysische Verantwortlichkeit gesellschaftliche Rationalisierungsleistungen ermöglicht, die den Gesamtnutzen optimieren: Es kann vernünftig sein, an Gott zu glauben.

Schluss: Neun Thesen vom Staat (1) Den optimalen Gesamtnutzen als eine von Partikularinteressen unabhängige objektive Größe anzunehmen führt zu einer Eigenmacht des Staates, die als optimale Problemlösung in der Evolution kollektiver Zusammenhänge dominant werden kann. In Kontinentaleuropa hat sich dies im Verlaufe der Neuzeit zunehmend aktualisiert. Historischer Inbegriff ist das Konzept des Machtstaates und der Staatsraison. (2) Demgegenüber ist der Staat als gesamtnutzenoptimierender Mechanismus im angelsächsischen Denken stärker darauf ausgerichtet, die Partikularinteressen zur Kooperation zu bewegen. Beide Mechanismen weisen Zwischenformen auf, um Partikularinteressen mit dem Gesamtinteresse zu identifizieren. Vor allem das Konzept der Nation stellt ein solches Brückenphänomen zwischen repressiver und motivierender Sanktion dar. (3) Entscheidend ist in beiden Fällen die Möglichkeit der Zwangsgewalt, nicht unbedingt jedoch deren Anwendung. Die indirekte Relevanz wiederum kann daraus resultieren, dass sie als „Schatten der Hierarchie“ wirkt. (4) Der moderne Staat ist als Folge von Marktversagen notwendig und selbst Ergebnis eines markt(-wirtschaft-)lichen Wettbewerbs: Denn es ist der (Kapital-)Markt selbst, der ganz unmittelbar eine nicht markt(-wirtschaft-)liche Lösung als rationellste Methode anzeigt, Kollektivgüter bereitzustellen. (5) Ausdehnung kollektiver Zusammenhänge und Versorgung individueller Bedürfnisse nehmen darüber zu, dass Autarkie tendenziell durch Heterarkie ersetzt wird. Partikularbetroffenheit und Individualwirtschaften werden durch universelle Betroffenheit zunehmend ersetzt: Kollektivgüter ersetzen Individualgüter. Dies führt zu quantitativer, vor allem aber zu qualitativer Staatsausdehnung (Veröffentlichung der Gesellschaft). Relative Autonomie des Individuums vergrößert sich um den Preis relativer Autarkie. (6) Demokratie als Legitimationsmodus staatlicher Steuerung wirkt grundsätzlich auf die Rationalisierungsleistung des Staates katalysierend. Um jedoch tatsächlich gegenüber anders gesteuerten Staatsformen positiv zu saldieren, muss dieser Modus einerseits auf das Mehrheitsprinzip reduziert werden, andererseits müssen Minderheitenrechte als vordemokratische Residuen erhalten bleiben, die demokratischer Entscheidung enthoben sind. (7) Dies gilt vor allem für nicht kollektivgütererhebliche Entscheidungen, die ohnehin nicht Aufgabengegenstand des modernen, als Rationalisierungsfunk-

Schluss: Neun Thesen vom Staat

521

tion definierten Staates und des politischen Systems sein können. Daher besteht auch kein Widerspruch zwischen der Demokratie als Modus, wie Entscheidungen getroffen werden, und Rechtsstaat als Regelwerk, was staatlicher Entscheidung unterliegt. (8) Die öffentliche Meinung wirkt sowohl unmittelbar auf die staatliche Rationalisierungsfunktion als auch vermittelt über dessen majoritären Steuerungsund demokratischen Legitimationsmodus katalysierend. (9) Da die Partikularinteressen daran, das Gefangenendilemma zu überwinden, also praktisch betrachtet daran, Kollektivgüter bereitzustellen und zu optimieren, zunehmend nicht mehr durch mangelnde Kooperationsbereitschaft, sondern durch fehlende Koordinationsfähigkeit scheitern, kommt der öffentlichen Meinung auch unmittelbare Rationalisierungswirkung zu.

Literaturverzeichnis Aalders, G., Die Theorie der gemischten Verfassung im Altertum, Amsterdam 1968 Abeille, L.-P., letrre d’un négociant sur la nature du commerce des grains, (Marseille, 8. Okt. 1763) o. O. u. J.; ND in: Premiers opuscupules sur le commerce des grains: 1763–1764, Einf. und analytische Tabelle von E. Depitre, Paris 1911, 89–103 Abendroth, W., Zum Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaats im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, in: Sultan/Abendroth, Bürokratischer Verwaltungsstaat und soziale Demokratie Frankfurt a. M. 1955 Achilles, W., Landwirtschaft in der Frühen Neuzeit, München 1991 Adcock, F. E., Roman Political Ideas and Practice, University of Michigan, Ann Arbor 1959 Affeldt, W., Untersuchungen zur Königserhebung Pippins. Das Papsttum und die Begründung des karolingischen Königtums im Jahre 751, in: Frühmittelalterstudien 14, 1980, 95–187 Akzin, B., Die Struktur von Staat und Recht. Eine Analyse, in: Der Staat 3 (1964) S. 261–280 Alber, J., Hat sich der Wohlfahrtsstaat als soziale Ordnung bewährt?, Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen, Arbeitspapier 4/2001 Alexy, R., Begriff und Geltung des Rechts, 2. Auflage, Freiburg (Breisgau) 1994 – Theorie der Grundrechte, Frankfurt am Main 1986 Alpers, M., Das nachrepublikanische Finanzwesen: Fiscus und Fisci in der frühen Kaiserzeit, Berlin 1995 Althusius, J., Politik, ND Aalen 1961 – Politik. Übersetzung der dritten Auflage von H. Janssen, Berlin 2003 Amato, G., Plenary speech, in: Blindenbacher, R./Koller, A. (Hrsg.), Federalism in a changing world, Montreal 2003, 577–581 Ameling, W., Landwirtschaft und Sklaverei im klassischen Attika, in: HZ 266 (1998), 287 ff. Ammermüller, K., Das Proportionalwahlverfahren im modernen Parteienstaat, Köln 1966 Amos, M. S., Wie England regiert wird, Stuttgart 1936 Anderheiden, M., Gemeinwohl in Republik und Union, Tübingen 2006 – Ökonomik, Gemeinwohl und Verfassungsrecht, in: Bungenberg, M. et al. (Hrsg.), Recht und Ökonomik, München 2004

Literaturverzeichnis

523

Anderson, B., Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt am Main/New York 1996 Andic, S./Veverka, J., The growth of government expenditure in Germany since the unification, in: Finanzarchiv 23, 1964, 169–278 Andrewes, A., Eunomia, in: Classical Quarterly 32 (1938), 89 ff. Angenendt, A., Das Frühmittelalter, 2. Auflage, Stuttgart 1995 Angermann, E., Das Auseinandertreten von „Staat“ und „Gesellschaft“ im Denken des 18. Jahrhunderts (EA 1963), in: Böckenförde, Ernst-Wolfgang (Hrsg.), Staat und Gesellschaft, Darmstadt 1976, 109–130 Anter, A., Die Macht der Ordnung. Aspekte einer Grundkategorie des Politischen, Tübingen 2004 Anton, H. H., Artikel „Fürstenspiegel“, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 4, München 1989, Sp. 1040–1044 – Artikel „König, Königtum“, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 5, München 1991, Sp. 1298–1305 – Fürstenspiegel und Herrscherethos in der Karolingerzeit, Bonn 1968 Aquin, Thomas von, De regimine principum, Stuttgart 1990 – De regno, Toronto 1982. Aranson, P. H., The New Institutional Analysis of Politics, in: JITE 154, 1998, 744–753 Arendt, H., Macht und Gewalt, Frankfurt am Main 2005 – Vita activa oder vom tätigen Leben, Frankfurt am Main, 8. Auflage 1996 Aretin, K. O., Der Aufgeklärte Absolutismus, Köln 1974 Arndt, H.-W., Diskusionsbeitrag, in: Oldiges, M. (Hrsg.), Abgabenrechtliche Verhaltenssteuerung im Umweltrecht, Leipzig 2000, 133 Arnim, Hans Herbert von, Organisierte Unverantwortlichkeit, Berlin 2005 Arrow, K. J., A Difficulty in the Concept of Social Welfare, in: Journal of Political Economy, 58, 1950 – Social Choice and Individual Values, 2. Auflage, New York 1963 – Social Choice and Individual Values, New York 1951 – Tullock and an existence theorem, in: Public Choice 6, 1969, 105–111 – Values and collective Decisionmaking, in: Laslett, P./Runciman, W. G., Philosophy, politics and society. 3rd Ser., Oford 1967, 215–232 Assmann, A., Evolution – Tradition – Gedächtnis: Drei Modi kultureller Überlieferung, in: Siegenthaler, Hansjörg (Hrsg.), Tübingen 2005, 183–200 Assmann, J., Ma’at, Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München 1990 Augustinus, Aurelius, De civitate Dei, 4. Auflage, Paderborn 1968

524

Literaturverzeichnis

Austin, J. L., Performative und konstatierende Äußerungen, in: R. Bubner (Hrsg.), Sprache und Analyse, Göttingen 1968, 140–153 Axelrod, R., Die Evolution der Kooperation, München 2000 Bachof, Otto, Stellungnahme, in: VVDStRL 12, 125 Badura, P., Auftrag und Grenzen der Verwaltung im sozialen Rechtsstaat, in: DÖV, 21, 1968, 446–455 – Verwaltungsrecht im liberalen und sozialen Rechtsstaat, Tübingen 1996 Bahrdt, H. P., Helmut Schelskys technischer Staat. Zweifel an „nachideologischen Geschichtsmodellen“, in: Atomzeitalter 1961, 195–200 Baines, J., Origins of Egyptian kingship, in: O’Connor, David/Silverman, David (Hrsg.), Ancient Egyptian kingship, Leiden/New York/Köln 1995, 95–156 Baldus de Ubaldis, Consilia, Venedig 1575 – Consiliorvm, Vol. 3, Frankfurt am Main 1589 Ball, S., The Moral Aspects of Socialism. Fabian Tract No. 72, London 1896 Barber, B., Starke Demokratie, Hamburg 1994 Bargatzky, T., Ethnologie: Eine Einführung in die Wissenschaft von den unproduktiven Gesellschaften, Hamburg 1997 Barnard, A./Spencer, J., Encyclopedia of Social and Cultural Anthropology, London 2004 Barro, R. J., Determinants of economic growth. A cross-country empirical study, Cambridge (MA)/London 1998 Barry, B., The welfare state versus the relief of poverty, in: Ware, A./Goodin, R., Needs and Welfare, London 1990, 73–103 Bartel, H., Wörterbuch der Geschichte, Berlin 1984 Battenberg, F., Die Lichtenberg-Leiningsche Fehde von dem Kammergericht Kaiser Friedrichs III., in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 124 (1976), 105– 176 Bauer, W., Die öffentliche Meinung in der Weltgeschichte, Berlin/Leipzig 1950 Baumgartner, H. M., Freiheit und Menschenwürde als Staatsziel, in: Wellershoff, Dieter, Frieden ohne Macht, Bonn 1991, 51 ff. Bäumlin, R., Die rechtsstaatliche Demokratie, Zürich 1954 Bavaj, R., Die Ambivalenz der Moderne im Nationalsozialismus. Eine Bilanz der Forschung, München 2003 Beales, D., Joseph II. In the shadow of Maria Theresia, Cambridge 1987 Beck, U., Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung, Frankfurt am Main 1993 – Gegengifte. Die organisierte Unverantwortlichkeit, Frankfurt am Main 1986

Literaturverzeichnis

525

Becker, A./Mehr, C./Nau, H. H./Reuter, G./Stegmüller, D. (Hrsg.), Gene. Meme und Gehirne. Geist und Gesellschaft als Natur. Eine Debatte, Frankfurt am Main 2003 Becker, F., Kooperative und konsensuale Strukturen in der Normsetzung, Tübingen 2005 Becker, G., Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens, Tübingen 1993 Becker, H. J., Der Staat im Spiegel der Staatslexica. Ein Vergleich des Evangelischen Staatslexicons und des Staatslexicon der Görres-Gesellschaft, München 2001 Bellocs, H., The servile State, London 1913 Below, G. von, Der Deutsche Staat des Mittelalters, 2. Auflage, Leipzig 1925 Berg, W. et al. (Hrsg.), Regulierte Selbstregulierung als Steuerungskonzept des Gewährleistungsstaates. Ergebnisse des Symposions aus Anlaß des 60. Geburtstages von Wolfgang Hoffmann-Riem, Berlin 2001 Berger, P./Luckmann, T., Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt am Main 1989 Bergier, J.-F., The resurgence during the middle ages: the confused dynamics of the middle ages, in: Bernholz, P./Streit, M. E./Vaubel, R. (Hrsg.), Political competition, innovation and growth. A Historical Analysis, Heidelberg 1998, 127–140 Berg-Schlosser, D./Kersting, N., Warum weltweite Demokratisierung? Zur Leistungsbilanz demokratischer und autoritärer Regime, in: Hanisch, Rolf (Hrsg.), Demokratieexport in die Länder des Südens, Hamburg 1997, 93–144 Bergsdorf, W., Herrschaft und Sprache: Studie zur politischen Terminologie der Bundesrepublik Deutschland, Pfullingen 1983 Bergstraesser, A., Politik in Wissenschaft und Bildung, Freiburg (Breisgau), 1961 Berve, H., Die Tyrannis bei den Griechen, München 1967 Beyerle, K., 32. Sitzung des Verfassungsausschusses am 18.5.1919, in: Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 336 Anlagen zu den Stenografischen Berichten Nr. 391. Bericht des Verfassungsausschusses, 1920, 367 ff. – Zum Geleit, in: R. v. Keller, Freiheitsgarantien für Person und Eigentum im Mittelalter, 1933, 6 f. Birtsch, G., Der Idealtyp des aufgeklärten Herrschers, Hamburg 1987 – Zum konstitutionellen Charakter des preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794, in: Festschrift für Theodor Schieder, München 1968 – Zum konstitutionellen Charakter des preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794, in: Kluxen, W./Mommsen, W. J. (Hrsg.), Festschrift für Theodor Schieder, Politische Ideologien und nationalstaatliche Ordnung, Oldenburg 1968 Blackmore, S., The meme machine, Oxford 1999 Blackstone, W., An analysis of the law of England, Oxford, ND 1979

526

Literaturverzeichnis

Blair, Douglas H./Pollak, Robert A., Acyclic collective choice rules, in: Econometrica, July 1982, 361–379 Blänkner, R., Historizität, Institutionalität, Symbolizität. Grundbegriffliche Aspekte einer Kulturgeschichte des Politischen, in: Stollberg-Rilinger (Hrsg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? Berlin 2005 Blaschke, K., Wechselwirkungen zwischen der Reformation und dem Aufbau des Territorialstaates, in: Der Staat 9 (1970), S. 346–364 Blasius, D., Lorenz von Steins Lehre vom Königtum, der sozialen Reform und ihre politischen Grundlagen, in: Der Staat, Bd. 10, 1971, S. 33 ff. Bleek, W., Die preußische Reform. Verwaltungsqualifikation und Juristenbildung, in: Die Verwaltung, 7, 1974 – Friedrich Christoph Dahlmann, in: Bleek, W./Lietzmann, H. J. (Hrsg.), Klassiker der Politikwissenschaft. Von Aristoteles bis Easton, München 2005, 81–94 Bleek, W./Sontheimer, K., Abschied vom Berufsbeamtentum: Perspektiven einer Reform des öffentlichen Dienstes in der Bundesrepublik Deutschland, Hamburg 1973 Bleicken, J., Die athenische Demokratie, Paderborn, 2. Auflage 1994 – Verfassungsschutz im demokratischen Athen, in: Hermes 112, 1984, 383–401 – Wann begann die athenische Demokratie?, in: HZ 263(1995), 337 ff. – Zur Entstehung der Verfassungstypologie im 5. Jahrhundert v. Chr., in: Historia 28 (1979), 148 ff. Blessing, K., Die Zukunft des Sozialstaats. Grundlagen und Vorschläge für eine lokale Sozialpolitik, Opladen 1987 Blickle, P., Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten: eine Geschichte der Freiheit in Deutschland, München 2003 Blümel/Pethig/von dem Hagen, A Theory of public goods: A survey of recent issues, in: JITE 142, 1986, 241–309 Bluntschli, J. C., Allgemeine Staatslehre, Stuttgart, 6. Auflage 1886 – Staatswörterbuch in drei Bänden, ed. Löhning, Zürich 1871, Artikel: Öffentliche Meinung Böckenförde, E.-W., Der Staat als sittlicher Staat, Berlin 1978 – Der Verfassungstyp der deutschen konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert, in: ders. (Hrsg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815–1914), Königstein, 2. Auflage 1981b, 146 ff. – Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart, in: ders. (Hrsg.), Staat und Gesellschaft, Darmstadt 1976b, 395–431 – Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, Berlin 1964 – Die verfassungstheoretische Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung der individuellen Freiheit, Opladen 1973

Literaturverzeichnis

527

– Gesetz und gesetzgebende Gewalt. Von den Anfängen der deutschen Staatsrechtslehre bis zur Höhe des staatsrechtlichen Positivismus, 2. Aufl., Berlin 1981 (a) – Parlament und Regierung im modernen Staat, in: VVDStRL (1958), 37 f. – Planung zwischen Regierung und Parlament, in: Der Staat 11, 1972, 429–458 – Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, München 1989 – Lorenz von Stein als Theoretiker der Bewegung von Staat und Gesellschaft zum Sozialstaat, in: ders. (Hrsg.), Staat und Gesellschaft, Darmstadt 1976a, 131–174 Bogdanor, V., Power and the People. A Guide to Constitutional Reform, London 1997 Bohl, E. D., Der öffentlich-rechtliche Körperschaftsstatus der Religionsgemeinschaften. Verleihungsvoraussetzungen und Verfahren, Baden-Baden 2000 Böhmer, H., Kirche und Staat in England und in der Normandie im 11. und 12. Jahrhundert, Leipzig 1899 Bonus, H., Öffentliche Güter und Öffentlichkeitsgrad von Gütern, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 1980, 136, 50–81 Bornhak, C., Die verfassungsrechtliche Stellung des deutschen Kaiserthums, in: Archiv für Öffentliches Recht 8, 1893, 425 ff. – Preussische Staats- und Rechtsgeschichte, Berlin 1903 Acta Borruscia. Behördenorganisation, Denkmäler der Preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert, Bd. 16, Berlin 1982 Bosanquet, B., Government by the people, London 1910 – Social Evolution and political theory, New York 1911 – Socialism and natural selection, in: Aspects of the social life, London 1895 – The Philosophical Theory of the state, London, 4. Auflage 1899 Boudreux, E./Ekelund, Regulation as an exogenious response to market failure: A NeoSchumpeterian Response, in: JITE 143, 1987, 537–554 Bourdieu, P., Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt am Main 1998 Bouveret, M., Die Stellung des Staatsoberhauptes in der parlamentarischen Diskussion und Staatsrechtslehre von 1848 bis 1918, Frankfurt am Main 2003 Bowra, C. M., Early Greek elegists, Cambridge 1938 Bracher, K. D., Probleme der Wahlentwicklung in der Weimarer Republik, in: ders., Deutschland zwischen Demokratie und Diktatur, Bern 1964, 58 – Staatsbegriff und Demokratie in Deutschland, in: Das Deutsche Dilemma – Leidenswege der politischen Emanzipation, München 1971 Braddick, M., State formation and political culture in Elizabethan Stuart England. Micro-histories and macro-historical change, in: Asch, Ronald/Freist, Dagmar (Hrsg.), Staatsbildung als kultureller Prozeß. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, Köln 2005, 69–90 Brakensiek, S., Lokale Amtsträger in deutschen Territorien der Frühen Neuzeit. Institutionelle Grundlagen, akzeptanzorientierte Herrschaftspraxis und obrigkeitliche Iden-

528

Literaturverzeichnis

tität, in: Asch, Ronald/Freist, Dagmar (Hrsg.), Staatsbildung als kultureller Prozeß. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, Köln 2005, 49–68 Brall, N., Zum Rechtsbegriff des Sozialen, in: Rüber, H.-J., Vom Wohlfahrtstaat zur Sicherung des Existenzminimums? Berlin 2006 Brandmüller, W., Das Konzil von Konstanz 1414–1418, Paderborn 1991 Brandt, W., Die Alternative, in: Die neue Gesellschaft, Sonderheft zum 1. Mai 1969, „Zwanzig Jahre Bundesrepublik – Zehn Jahre Godesberger Programm der SPD“, 16, 1969, 3–4 – Parteitag der SPD in Karlsruhe 1964. Protokoll der Verhandlungen, Bonn 1964, 143 Braybrooke, D., Utilitarianism: restorations, repairs, renovations, variations on Bentham’s master-idea, Toronto u. a. 2004 Braybrooke, D./Lindblohm, C. E., A Strategy of decision, New York 1963 Bredt, S., Die demokratische Legitimation unabhängiger Institutionen, Tübingen 2006 Briggs, A., The welfare state in historical perpective, in: Archives Européennes de Sociologie 2, 1961, 221–258 Bringmann, K., Die Verfassungsdebatte bei Herodot 3, 80–82 und Dareios’ Aufstieg zur Königsherrschaft, in: Hermes 104 (1976), 266 ff. Brinkmann, G., Die Diskriminierung der Nicht-Juristen im allgemeinen höheren Verwaltungsdienst der Bundesrepublik Deutschland. Test einer Hypothese durch einen Gehaltsvergleich zwischen der Bundesrepublik und den USA, in: Zeitschrift für die Gesamte Staatswissenschaft 129, 1973, 150–167 – Sozialökonomische Verhaltensforschung Berlin, 1973 Brodocz, A., Behaupten und Bestreiten. Genese, Verstetigung und Verlust von Macht in institutionellen Ordnungen, in: Brodocz, André et al. (Hrsg.), Institutionelle Macht. Genese – Verstetigung – Verlust, Köln 2005 Broneer, O., Excavations at Isthmia – third campaign 1955–1956, in: Hesperia 27, 1 ff. Brünnek, A. von, Leben und Werk von Ernst Fraenkel (1898–1975), in: Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, Frankfurt am Main 1991 Brunner, H., Das gerichtliche Exemptionsrecht der Babenberger, Wien 1864 Brunner, O., Land und Herrschaft. Grundlagen der territorialen Verfassungsgeschichte Südostdeutschlands im. Mittelalter, Wien 1939 Buchanan, J., „Dimensionality, rights and choices among relevant alternatives.“ Unpublished manuscript presented at a meeting honouring Peter Bernholz, Basel April 1994b – Foundational Concerns: A criticism of public choice theory, Unpublished manuscript presented at the European choice meeting, Valencia, April 1994a – The constitution of Economic policy, in: American Economic Review 76, 1987, 243–250

Literaturverzeichnis

529

– The domain of constitutional economics, in: Constitutional Political Economy, 1, 1990, 1–18 Buchheim, H., Anmerkungen zu Machiavellis „Il Principe“, in: Der Staat 25, 1986, 207–231 – Wie der Staat existiert, in: Der Staat 27, 1988, 1–21 Buchstein, H., Politikwissenschaft und Demokratie, Baden-Baden 1992 Bülau, F., Der konstitutionelle Staat in England, Frankreich und Deutschland. Neue Jahrbücher der Geschichte und Politik, Bd. 1, 6. Jahrgang, 1843 Bundesminister für wissenschaftliche Forschung (Hrsg.), Bundesbericht Forschung II: Bericht der Bundesregierung über Stand und Zusammenhang aller Maßnahmen zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung und Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1967 Bundesministerium der Finanzen (Hrsg.) Kommission für die Finanzreform, Gutachten über die Finanzreform in der Bundesrepublik Deutschland – sogenanntes TroegerGutachten –, Bonn 1966 Bundesverfassungsgericht, Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Erscheinungsort: Tübingen – Band 6, 1957 – Band 10, 1960 – Band 15, 1964 – Band 20, 1967 – Band 31, 1972 – Band 53, 1980 – Band 65, 1984 – Band 83, 1991 – Band 102, 2001 – Band 105, 2003 Burckhardt, C. J., Richelieu: Der Aufstieg zur Macht, München, 14. Auflage 1966 Burckhardt, J., Die Kultur der Renaissance in Italien, Bd. 1, 1913 Burke, E., Burke’s Politics. Selected writings and speeches on reform, Revolution, and war. Ed. by Ross, J. S., New York 1949 – Über die Französische Revolution (dt. v. Friedrich Gentz), Stuttgart 1987 Burns, C., The morality of nations, London 1915 Buß, F. J., Vergleichendes Bundesstaatsrecht, Karlsruhe 1844 Butzer, J., Das „Dritte Reich“ im Dritten Reich. Der Topos „Drittes Reich“ in der nationalsozialistischen Ideologie und Staatslehre, in: Der Staat, 42, 2003, 600–627 Calasso, F., I glossatori e la teoria della sovranità, Mailand 1951 Canaris, C.-W., Die Feststellung von Lücken im Gesetz, Berlin, 2. Auflage 1983 – Grundrechte und Privatrecht, Archiv für civilistische Praxis 1984, 201–246 Carlson, A., Family questions, New Brunswick 1988

530

Literaturverzeichnis

Carlson, A. C., Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 Carneiro, R. L., Eine Theorie zur Entstehung des Staates, in: Eder, Klaus (Hrsg.), Die Entstehung von Klassengesellschaften, Frankfurt am Main 1973, 153–174 Cassirer, E., Freiheit und Form, Band 5, Darmstadt, 3. Auflage, 1961 Cecil, A., Conservatism, London 1912 Cecil, H., The Diseases of the House of Commons, in: Dublin Review, 144, 1909 Century dictionary 1890, Words and things [being a summary of the leading features of the „Century“ Dictionary], London 1890 Chambers, M., Themistocles and the Peireus, in: Studies presented to Sterling Ow, 1984, 43–50 Claass, H., Wenn ich Kaiser wär’, Berlin 1911 Clausen, L./Dombrowsky, W. R., „Zu Hilfe bereit . . .“. Motivationsstrukturen im Katastrophenschutz, Bonn 1987 Clausen, L./Geenen, E. M./Macamo, E., Entsetzliche soziale Prozesse, Münster 2003 Clausewitz, C. von, Vom Kriege, Reinbek 1996 Clay, J. S., The Homeric Hymns, in: Morris, I./Powell, B. (Hrsg.), A new companion to Homer, Leiden 1997, 489 ff. Cohen, D., Fehldiagnose Globalisierung. Die Neuverteilung des Wohlstandes nach der dritten industriellen Revolution, Frankfurt am Main 1998 Colomer, J., Introduction, in: ders. (Hrsg.), Political Institutions in Europe, London 1996, 1–17 Conze, W., Vorwort zur Neuausgabe von Robert Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens, Stuttgart 1957 Cornelius, F., Die Tyrannis in Athen, München 1929 Crain, R./Rosenthal, D., Structure and values, in: Local political systems, 1968, S. 217– 242 Craiutu, A., Tocqueville and the Political Thought of the French Doctrinaires (Guizot, Roxer-Collar, Rémusat), in: History of political Thought, 20, 1999, Nr. 3, 456–493 Crimmins, J. E., Secular utilitarianism: social science and the critique of religion in the thought of Jeremy Bentham, Oxford 1990 Croiset, M., Les démocraties antiques, Paris 1909 Crook, J. A., Consilivm princips, Cambridge, 1955 Czada, R., Interessensgruppen, Eigennutz und Institutionenbildung, in: Leistungen und Grenzen Politisch-Ökonomischer Theorie, Darmstadt 1992, 57–78 Dahl, R. A., A preface to democratic theory, Chicago 2005 – Pluralist Democracy in the USA. Conflict and consent, Chicago 1967 Dahlheim, W., Geschichte der römischen Kaiserzeit, München 1988

Literaturverzeichnis

531

Dahlmann, F. C., Die Politik auf den Grund und das Maß der gegebenen Zustände zurückgeführt, Frankfurt am Main 1997 Dahm, G., Untersuchen zur Verfassungs- und Staatsrechtsgeschichte der italienischen Stadt im Mittelalter, in: Idee und Ordnung des Reiches, Hamburg 1941, 74 ff. Dahrendorf, R., Aktive und passive Öffentlichkeit, in: Merkur 21 (1967), 1109–1122 – Auf der Suche nach einer neuen Ordnung. Eine Politik der Freiheit für das 21. Jahrhundert, München, 3. Auflage, 2003 – Class and class conflict in industrial society [Transl., rev., and expanded by the author], Stanford 1959 – Der moderne soziale Konflikt, Stuttgart 1992 – Die Zukunft der Bürgergesellschaft, in: Die Mitte, Opladen 1992 Daniel, U., „How bourgeois was the public sphere of the Eighteenth century? Or: Why it is important to historicize Strukturwandel der Öffentlichkeit“, in: Das Achtzehnte Jahrhundert 26, 2002, 9–17 De Jouvenel, B., Sovereignty. An inquiry into the political good, Cambridge 1957 (dt. = Über Souveränität: Auf der Suche nach dem Gemeinwohl, Neuwied 1963) De Laet, S., Portorium. Etude sur l’organisation douanière chez les Romains, surtout à l’époque du haut-empire, Brugge 1949 Debrunner, A., Lhmokratßa, in: ohne Hrsg., FS Edouard Tièche, Bern 1947, 11 ff. Dehio, L., Bismarck und die Heeresvorlagen der Konfliktszeit, in: HZ 144, 1931, 31 – Die Taktik der Opposition während des Konflikts, in: HZ 140, 1929, 279 Dehnhard, A., Dimensionen staatlichen Handelns. Staatstheorie in der Tradition Herrmann Hellers, Tübingen 1996 Delatour, S., Politische Soziologie, Stuttgart, 1959 Delbrück, H., Regierung und Volkswille, Berlin 1914 Demandt, A., Staatsformen in der Antike, in: Gallus/Jesse, Staatsformen. Modelle politischer Ordnung von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin 2005, 57–90 Demel, W., Vom aufgeklärten Reformstaat zum bürokratischen Staatsabsolutismus, München/Wien 1993 Denninger, E., Der Präventionsstaat, in: KJ, Bd. 21, 1988, S. 1–15 Deusch, F., Polizeiliche Gefahrenabwehr bei Sportgroßveranstaltungen. Darstellung anhand des Fußballsports, Berlin 2005 Deutsch, K., Politische Kybernetik, Freiburg (Breisgau), 3. Auflage 1973 – Staat, Regierung, Politik, Freiburg (Breisgau) 1976 Di Fabio, U., Das Recht der offenen Staaten, Tübingen 1998 – Der Verfassungsstaat in der Weltgesellschaft, Tübingen 2001 Dicey, A. V., Introduction to the study of the law of the constitution, London 1915/1982

532

Literaturverzeichnis

Dickson, P. G. M., Finance and Governmet under Maria-Theresia 1740–1780, 2 Bde., Oxford 1987 Diehl-Thiele, P., Partei und Staat im dritten Reich, München 1969 Doering-Manteuffel, A., Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999 Dohrn van Rossum, G., Staatsformen im Mittelalter, in: Gallus/Jesse (Hrsg.), Staatsformen. Modelle politischer Ordnung von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin 2005, 91–122 Dombrowsky, W. R., Entstehung, Ablauf und Bewältigung von Katastrophen, in: Katastrophen und ihre Bewältigung, Bd. 49, 2004, 165–183 Donisthorpe, W., Individualism: A System of Politics, London 1889 Downs, A., Öffentliche Entscheidungen als öffentliche Güter, in: Frey, Bruno S./Meißner, W., Zwei Ansätze der politischen Ökonomie, Frankfurt am Main 1974, 105–126 – Ökonomische Theorie der Demokratie, Tübingen 1968 Draht, M., Der Staat der Industriegesellschaft. Entwurf einer sozialwissenschaftlichen Staatstheorie, in: Der Staat, 5, 1966, 273–284 Dreier, R., Das kirchliche Amt, München 1972 Droege, G., Verfassung und Wirtschaft in Kurköln unter Dietrich von Moers 1414– 1463, Bonn 1957 Droysen, J. G., Artikel, in: Hallische Allgemeine Literaturzeitung 1845, 1 ff. Durkheim, E., Die Regeln der soziologischen Methode (frz. 1895), Frankfurt am Main 1999 Duval, P.-M., Gallien. Leben und Kultur in römischer Zeit, Stuttgart 1979 Duverger, M., Die politischen Regime, Hamburg 1960 Dux, G., Rechtssoziologie. Eine Einführung, Stuttgart 1978 Dyson, K., The state tradition in Western Europe, Oxford 1980 Easton, D., A framework for political analysis, Englewood Cliffs (NJ), 1965 Eck, W./Caballos, A./Fernándes, F., Das senatus consultum de Cn. Pisone patre, München 1996 Ehmke, H., Wirtschaft und Verfassung. Die Verfassungsrechtsprechung des Supreme Court zur Wirtschaftsregulierung, Karlsruhe 1961 Ehmke, Horst, „Staat“ und „Gesellschaft“ als verfassungstheoretisches Problem, in: Böckenförde, Ernst-Wolfgang (Hrsg.), Staat und Gesellschaft, Darmstadt 1976, 241– 274 Ehrenberg, V., Isonomia, in: RE Suppl. VII, Stuttgart 1940, 293 – Origins of Democracy, in: Historia 1 (1950), 515 ff. – Polis und Imperium, Zürich/Stuttgart 1965

Literaturverzeichnis

533

Eichenberger, K., Die Sorge für den inneren Frieden als primäre Staataufgabe (1977), in: Der Staat der Gegenwart, 1980, 73 ff. Eichendorff, J. von, Preußen und die Konstitutionen, in: ders., Politische und historische Schriften, Streitschriften, Band V, 1988 El Masry, I., Die Soziogenese des altägyptischen Staates in komparativer Perspektive. Ein Beitrag zur politischen Ökonomie gesellschaftlicher Herrschaft, Frankfurt am Main 2004 Eliade, M., Die Religionen und das Heilige. Elemente der Religionsgeschichte, Salzburg 1954 Elias, N./Opitz, C., Die höfische Gesellschaft, Frankfurt am Main 2002 Ellwein, T./Görlitz, A., Parlament und Verwaltung, Teil 1, Stuttgart 1967 Elster, J., Economic Order and Social Norms, in: JITE 144, 1988, 357–366 Emig, K., Deutsche Justiz und Verwaltung. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, Tübingen 1935 Endesfelder, E., Die Formierung der altägyptischen Klassengesellschaft. Probleme und Beobachtungen, Berlin 1991 Engels, F., Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, in: MEW, 21, Berlin 1981 (b), 25–173 – Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, Stuttgart 1919 – Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring), in: MEW 20, Berlin 1981 (a), 5–303 Engels, J., Rezension von: Silvio Cataldi (Hrsg.), Poleis e politeiai. Atti del Convegno Internazionale di Storia Greca. Torino, 29 maggio–31 maggio, Turin 2002 Eppler, E., Vom Gewaltmonopol zum Gewaltmarkt, Frankfurt am Main, 1. Auflage, 2002 Erhard, L., Die formierte Gesellschaft, Bonn 1966 ESCA Barnard, Alan/Spencer, J. (Hrsg.), Encyclopedia of social and cultural anthropology, London/New York 2004 Eschenburg, T., Staat und Gesellschaft in Deutschland, Stuttgart 1956 Esping-Andersen, G., The three worlds of welfare capitalism, Princeton 1998 Esser, J., Grundsatz und Norm der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, Tübingen, 4. Auflage, 1990 Etzioni, A., Die Entdeckung des Gemeinwesens, Stuttgart 1995 – Die faire Gesellschaft. Jenseits von Sozialismus und Kapitalismus, Frankfurt am Main 1996 Euchner, W., Demokratietheoretische Aspekte der politischen Ideengeschichte, in: Kress, G./Senghaas, D. (Hrsg.), Politikwissenschaft, 1969, 38–68 – Locke, in: Maier, Hans (Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens, Bd. 2, 5. Auflage, München 1987, 9–26

534

Literaturverzeichnis

Eucken, W., Grundsätze der Wirtschaftspolitik, hrsg. von Edith Eucken, Tübingen 1990 Falter, J. W., Hitlers Wähler, München 1991 – Zur Übertragbarkeit des Konzeptes der Parteiidentifikation auf deutsche Verhältnisse. Einige Ergebnisse, in: Wahlanalyse. Hypothesen, Methoden und Ergebnisse. hrsg. von M. J. Holler, München 1984, 13–34 Fama, E. F., Agency problems and the theory of the firm, Journal of Political Economy 88 (2), 288–307 Faust, J., Die Dividende der Demokratie: Politische Herrschaft und gesamtwirtschaftliche Produktivität, in: PVS 47/1 (2006), 62–83 Fehrenbach, E., Der Einfluß des Napoleonischen Frankreich auf das Rechts- und Verwaltungssystems Deutschlands, in: von Reden-Dohna, A. (Hrsg.), Deutschland und Italien im Zeitalter Napoleons, Wiesbaden 1979, 23–39 – Verfassungs- und sozialpolitische Reformen und Reformprojekte in Deutschland unter dem Einfluß des napoleonischen Frankreich, in: Berding/Ullmann (Hrsg.), Deutschland zwischen Revolution und Restauration, Königstein 1981, 65–90 – Vom ancien régime zum Wiener Kongreß, München/Wien 1993 – Wandlungen des deutschen Kaisergedankens 1871–1918, München/Wien 1969 Fenske, H., Staatsform im Zeitalter der Revolutionen, in: Staatsformen. Modelle politischer Ordnung von der Antike bis zur Gegenwart. Ein Handbuch, Köln/Wien 2004, 153–186 Ferguson, R. B., Explaining war, in: Haas, J. (Hrsg.), The anthropology of war, Cambridge 1990 Fest, J., Theodor Mommsen. Zwei Wege zur Geschichte. Eine biographische Skizze, in: FAZ 31. Juli 1982 Fetscher, I., Rousseaus politische Philosophie. Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs, Frankfurt am Main 1968 Feugères, A., Un précurseur de la Révolution. L’abbé Raynal, Angoulême 1922 Fichte, J. G., Johann Gottlieb Fichte’s nachgelassene Werke, Bd. 3, Leipzig 1834 Finer, H., Der moderne Staat, 3 Bde., Düsseldorf 1957 – Theory and practice in Modern government, New York 1949 Firth, R., Primitive Polynesian economy, London 1975 Fleiner-Gerster, T., Allgemeine Staatslehre, Berlin 1995 Flora, P./Heidenheimer, A. J., The development of welfare states in Europe and America, New Brunswick/London 1981 Fogel, M., Les cérémonies de l’information dans la France du XVIe au milieu du XVIII siècle, Paris 1989 Foley, H. P., Oral tradition and its implications, in: Morris, I./Powell, B. (Hrsg.), A new companion to Homer, Leiden 1997, 146 ff.

Literaturverzeichnis

535

Forsthoff, E., Der introvertierte Rechtsstaat und seine Verortung, in: Der Staat 2 (1963a), S. 385–398 – Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, in: VVDRStRL 12, 1954, 36 ff. – Der Rechtsstaat im Wandel, Stuttgart 1964 – Der Staat als Auftraggeber. Unter besonderer Berücksichtigung des Bauauftragwesens, Stuttgart 1963b – Der Staat der Industriegesellschaft. Dargestellt am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, München 1971 – Der totale Staat, Hamburg 1933 – Die Verwaltung als Leistungsträger, Stuttgart 1938 Foucault, M., Analytik der Macht, Frankfurt am Main 2005b – Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 2005a – Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I, Frankfurt am Main 2006 Fraenkel, E., Der Doppelstaat, Frankfurt am Main 2001 – Deutschland und die westlichen Demokratien, Frankfurt am Main, 4. Auflage 1968 Francisci, G., Arcana imperii: collana di scienza della politica, Mailand 1947, Frankfurt am Main 1974, 154–166 Frantz, C., Der Föderalismus, Mainz 1879 – „Naturlehre des Staates als Grundlage aller Staatswissenschaft“, Leipzig 1870 Frei, P., Eunomßa. Politik im Spiegel griechischer Wortbildungslehre, in: MH 38 (1981), 205 ff. Freier, H., Die Rückkehr der Götter: Von der ästhetischen Überschreitung der Wissensgrenze zur Mythologie der Moderne, Eine Untersuchung zur systematischen Rolle die Kunst in die Philosophie Kants und Schellings, Stuttgart 1976 Freist, D., in: Freist D./Asch, R., Öffentlichkeit und Herrschaftslegitimation in der Frühen Neuzeit. Deutschland und England im Vergleich, in: Asch, R./Freist, D. (Hrsg.), Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, Köln 2005, 321–351 – in: Freist, D./Asch, R., Einleitung Staatsbildung, Staatsbildung als kultureller Prozeß, in: Asch, R./Freist, D. (Hrsg.), Staatsbildung als kultureller Prozeß. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, Köln 2005, 1–47 Freud, S., Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften, Frankfurt am Main 1997 Frey, B. S., An Economic Analysis of the New Institutional Economics, in: JITE 149 (1993), 351–359 – Inflation und Verteilung. Die Sicht der ökonomische Theorie der Politik, in: Frey, B./Meißner W. (Hrsg.), Zwei Ansätze der Politischen Ökonomie. Marxismus und ökonomische Theorie der Politik, Frankfurt am Main 1974

536

Literaturverzeichnis

– Inflation und Verteilung, in: Zwei Ansätze der politischen Ökonomie Freyer, H., Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft. Logische Grundlegung eines Systems der Soziologie, Leipzig 1930 Fried, J., Wille, Freiwilligkeit und Geständnis. Zur Beurteilung des letzten Templergroßmeisters Jacques de Molay, in: Historisches Jahrbuch 105 (1985), S. 388–425 Fried, M. H., The Evolution of Political Society, New York 1967 Friedman, M., Capitalism and freedom, Chicago 1962/1998 Friedman, M./Friedman, R., Free to choose: A personal statement, London 1980 Friedman, W., Law and social change, London 1951 Friedrich, C., Demokratie: Illusionen und Chancen, in: HDSW 1959, 562 – Totalitäre Diktatur, Stuttgart 1957 Friedrich II. von Hohenzollern, König von Preußen, gen. der Große, Schriften, Bd. XXV, Berlin 1846 – Die politischen Testamente, in: Friedrich Meinecke und Hermann Oncken (Hrsg.), Klassiker der Politiker, Bd. 5, 1992, 137 Friesenhahn, E., Parlament und Regierung im modernen Staat, in: VVDStRL 16, 1958, 37 f. Frost, F. J., Themistocles’ in Athenian Politics, in: Californian Studies in Classical Antiquity 1, 1968, 105–124 Frowein, J. A., Die Verfassung der Europäischen Union aus der Sicht der Mitgliedstaaten, in: Europarecht, 30 (1995), S. 315 ff. Fuhrmann, H., „Volkssouveränität“ und „Herrschaftsvertrag“ bei Manegold von Lautenbach, in: FS für Hermann Krause, Köln 1975, 21–42 Fukuyama, F., Staaten bauen. Die neue Herausforderung internationaler Politik, Berlin 2004 Furniss, N./Tilton, T., The case for the Welfare State. From social security to social equality, Bloomington/London 1977 Furubotn, E. G./Richter, R., Neue Institutionenökonomik. Eine Einführung und kritische Würdigung, Tübingen, 3. Auflage 2003 Gall, L., Benjamin Constant: Seine politische Ideenwelt und der deutsche Vormärz, München 1963 – Bismarck. Der weiße Revolutionär, Berlin 1981 Gastil, A. et al., Freedom in the world, Westport 1986 Geertz, C., Negara: The theatre state in nineteenth-century Bali, Princeton 1980 Gehlen, A., Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Bonn 1950 – Urmensch und Spätkultur, Frankfurt am Main 1964 Gehrke, H.-J., Stasis. Untersuchung zu den inneren Kriegen in den griechischen Staaten des 4. und 5. Jahrhunderts, München 1985

Literaturverzeichnis

537

Gellner, E., Bedingungen der Freiheit, Stuttgart 1995 Geppert, D., Maggie Thatchers Roßkur – Ein Rezept für Deutschland?, Berlin 2003 Gibbon, E., The rise and fall of Roman Empire, London 1837 Giddens, A., „Entfesselte Welt. Wie die Globalisierung unser Leben verändert“, Frankfurt am Main 1999 – Konsequenzen der Moderne, Cambridge 1991 Gierke, O. von, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Band 1, Berlin 1868 – Das Wesen der menschlichen Verbände, Darmstadt 1954 – Der germanische Staatsgedanke, Berlin 1919 – Die Grundbegriffe des Staatsrechts, Tübingen 1915 Gluckman, M., Politics, law and ritual in tribal society, Oxford 1971 Goloubeva, M., The glorification of emperor Leopold I in image, spectacle and text, Mainz 2000 Gooch, G. P., Friedrich der Große, München, 9. Auflage, 1991 Goodin, R. et al., The real worlds of welfare capitalism, Cambridge 1999 Grabman, M., Studien über den Einfluß der aristotelischen Philosophie auf die mittelalterlichen Theorien über das Verhältnis von Kirche und Staat, München 1934 Gramm, C., Ersatz von Polizeikosten, in: Sacksofsky, U./Wieland, J. (Hrsg.), Vom Steuerstaat zum Gebührenstaat, 2000, 179–186 Grandner, M./Komlosy, A. (Hrsg.), Vom Weltgeist beseelt. Globalgeschichte 1700–1815, Wien 2004 Grawert, R., Gesellschaftswandel und Staatsreform in Deutschland, in: Der Staat 1999, 333–357 – Historische Entwicklungslinien des neuzeitlichen Gesetzesrechts, in: Der Staat 11, 1972, 1–25 Greaves, H., Grundlagen der politischen Theorie, Neuwied 1960 Green, P., Lectures on the principles of political obligation and other writings, Cambridge 1986 Grimm, D., Regulierte Selbstregulierung in der Tradition des Verfassungsstaates, in: Berg, W. et al., Regulierte Selbstregulierung als Steuerungskonzept des Gewährleistungsstaates. Ergebnisse des Symposion aus Anlass des 60. Geburtstages von Wolfgang Hoffmann-Riem, Berlin 2001, 9–19 Grimm, J./Grimm, W., Stichwort „Weltgeist“, in: Deutsches Wörterbuch, Bd. 28, ND München 1999, Sp. 1579–1583 Grodzins, M., Centralization and decentralization in the American fedral system, in: Goldwin (Hrsg.), A Nation of states, S. 3 ff. Gröschner, R., Transparente Verwaltung: Konturen eines Informationsverwaltungsrechts, in: VVDStRL 63, 346–376

538

Literaturverzeichnis

– Vorbehalte gegen systemtheoretische Rechtskonzeptionen, Der Staat, 41, 2001, 497– 506 Grossekettler, H., Steuerstaat versus Gebührenstaat: Vor- und Nachteile, in: Sacksofsky, U./Wieland, J. (Hrsg.), Vom Steuerstaat zum Gebührenstaat 2000, 24–45 Grout, On minimal Liberalisms in Economics, Birmingham 1980 Grünthaler, M., Parteiverbote in der Weimarer Republik, Frankfurt am Main 1995 Günther, F., Denken vom Staat her: Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre. Zwischen Dezision und Integration 1949–1970, München 2004 Gurevic, A., Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen, München, 5. Auflage, 1997 Habermas, J., Drei normative Modelle der Demokratie, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt am Main 1996, 277–292 – Verwissenschaftlichte Politik und öffentliche Meinung [EA 1963], in: ders., Technik und Wissenschaft als Ideologie, Frankfurt am Main 1968, 120–145 – Die Normalität einer Berliner Republik, Frankfurt am Main 1995 – Die postnationale Konstellation, Frankfurt am Main 1998 – Faktizität und Geltung, Darmstadt, 4. Auflage 1994 – Politische Beteiligung – ein Wert „an sich“?, in: ders., Kultur und Kritik, Frankfurt am Main 1973, 9–60 – Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied 1965 – Wissenschaft und Technik als „Ideologie“, Frankfurt am Main 1981 Halfar, B., Nicht-intendierte Handlungsfolgen, Stuttgart 1987 Hamilton, A./Madison, J./Jay, J., The federalist papers, Darmstadt 1993 Hanebeck, A., Der demokratische Bundesstaat des Grundgesetzes, Berlin 2004 Hänel, A., Die organisatorische Entwicklung der Deutschen Reichsverfassung, Leipzig 1880 Hansen, M. H., Die athenische Demokratie im Zeitalter des Demosthenes, Berlin 1995 Hardie, K., From Serfdom to Socialism, London 1907 Harris, J./Hunter, J., The New Institutional Economics and Third World development, London 1995 Harris, M., Cannibals and kings, Frankfurt am Main 1978 Harrison, S., war, warfare, in: ESCA 2004, 561 f. Hart, H. L. A., The concept of law. Oxford, 2. Ausgabe 1994 Hartmann, M., Der Mythos von den Leistungseliten. Spitzenkarrieren und soziale Herkunft in Wirtschaft, Politik, Justiz und Wissenschaft, Frankfurt am Main/New York 2002 Hartwell, R. M., Die Ursachen der industriellen Revolution, in: Braun (Hrsg.), Industrielle Revolution, Köln 1972

Literaturverzeichnis

539

Hättich, M., Demokratie als Herrschaftsordnung, Opladen 1967 Häußling, A., Mönchskonvent und Eucharistiefeier. Eine Studie über die Messe in der abendländischen Klosterliturgie des frühen Mittelalters und zur Geschichte der Meßhäufigkeit, Münster 1973 Havelock, E., The Greek Concept of Justice. From its shadow in Homer to its substance in Plato, Cambridge/London 1978 Haverkate, G., Verfassungslehre. Verfassung als Gerechtigkeitsordnung, München 1992 Hayek, F. A. von, Die Anmaßung von Wissen. Neue Freiburger Studien (hrsg. von Wolfgang Kerber), Tübingen 1996 – Die Verfassung der Freiheit, Tübingen 1993 – The constitution of Liberty, Chicago 1960 (englische OA) – Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1, München 1986 Haym, R., Wilhelm von Humboldt: Lebensbild und Charakteristik, Berlin 1856 (ND 1965) Headlam, S. D., Christian socialism, Fabian Tract No. 42, London, 2. Auflage 1892 Heckenberger, W., Aufgaben und Befugnisse der Vollzugspolizei in England und Deutschland, Berlin 1997 Hefeker, C., The Political Choice and Collapse of fixed exchange rates, in: JITE 152, 1996, 360–379 Hegel, G. W. F., Grundlinien der Philosophie des Rechts, Hamburg, 4. Auflage, 1955 Hegels, H., Arnold Clapmarius und die Publizistik über die arcana imperii im 17. Jahrhundert, Bonn 1918 Hehl, U. von, Nationalsozialistische Herrschaft, München, 2. Auflage, 2001 Heijdra, B./Lowenberg, A. D./Mallick, J., Marxism, Methodological Individualism, and the New Institutional Economics, in: JITE 144, 1988, 296–317 Heinrichs, J., Civitas ubiorum, Studien zur Geschichte der Ubier und ihres Gebietes, Stuttgart 2002 Heitsch, C., Die Ausführung der Bundesgesetze durch die Länder, Tübingen 2001 Heller, H., Rechtsstaat oder Diktatur. Recht und Staat, in: Geschichte und Gegenwart, Bd. 68, Tübingen 1930 – Staatslehre, Tübingen, 6. Auflage 1983 Hellermann, J., Örtliche Daseinsvorsorge und gemeindliche Selbstverwaltung: Zum kommunalen Bestätigungs- und Gestaltungsspielraum unter den Bedingungen europäischer und staatlicher Privatisierungs- und Deregulierungspolitik, Tübingen 2000 Helmrath, J., Das Basler Konzil 1431–1449, Köln 1987 Henke, W., Die politischen Parteien zwischen Staat und Gesellschaft, in: Böckenförde, E.-W. (Hrsg.), Staat und Gesellschaft, Darmstadt 1976, 367–394

540

Literaturverzeichnis

Henne, Th./Riedlinger, A. (Hrsg.), Das Lüth-Urteil aus (rechts-)historischer Sicht: Die Konflikte um Veit Harlan und die Grundrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts, Berlin 2005 Hennis, W., Amtsgedanke und Demokratiebegriff, in: FS Smend, Tübingen 1962 Herbert, A., The right and wrong by the compulsion of the state, London 1885 Herbert, G. R. C., 13th Earl of Pembroke, Liberty and socialism, in: National Review 1, 1883, 341 Hereth, M., Alexis de Tocqueville. Die Gefährdung der Freiheit in der Demokratie, Stuttgart 1979 – Tocqueville zur Einführung, Hamburg 1991 Hermens, F. A., Demokratie oder Anarchie? Untersuchung über die Verhältniswahl, Köln, 2. Auflage 1968 – (Hrsg.), Staat, Wirtschaft und Politik in der Weimarer Republik. Festschrift für Heinrich Brüning, Berlin 1967 – Demokratie oder Anarchie? Untersuchung über die Verhältniswahl, Köln, 2. Auflage, 1968 Hermes, G., Staatliche Infrastrukturverantwortung, Tübingen 1998 Herrmann, D., „It is emphatically, the province and duty of the judicial department, to say what the law is“. Zur Begründung der Verfassungsgerichtsbarkeit in den USA, in Brdocz et al. (Hrsg.), Institutionelle Macht. Genese – Verstetigung – Verlust, Köln 2005, 105–120 Herrmann, J./Ulrich, H., Menschwerdung. Millionen Jahre Menschheitsentwicklung – Natur- und Geisteswissenschaftliche Ergebnisse, Berlin 1991 Herrmann-Pillath, C., Evolutionsökonomik, München 2002 Hertling, G. Graf von, Recht, Staat und Gesellschaft, Kempten, 3. Auflage 1916 Herzog, R., Allgemeine Staatslehre, Stuttgart 1971 Hesse, K., Bemerkungen zur heutigen Problematik und Tragweite der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: Böckenförde, E.-W. (Hrsg.), Staat und Gesellschaft, Darmstadt 1976, 484–502 – Der Gleichheitssatz im Staatsrecht, in: AÖR 77 (1951/2), 167–224 – Der unitarische Bundesstaat, Karlsruhe 1962 – Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Karlsruhe, 4. Auflage 1970 – Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl. 1970 – Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 1999 Heubeck, A., Aus der Welt der griechischen Lineartafeln, Göttingen 1966 Hildebrand, D., Gelesen, Rez. zu Otfried Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung/Anthony Giddens, Entfesselte Welt. Wie die Globalisierung unser Leben verändert, in: Die Politische Meinung Nr. 401. April 2003, S. 47–48

Literaturverzeichnis

541

– Herbert Gruhl und die ökologische Protestbewegung, in: HPM 11, 2003, 325–332 – Landbevölkerung und Wahlverhalten. Die DNVP im ländlichen Raum Pommerns und Ostpreußens 1918–1924, Hamburg 2004 – Rez. zu Becker, A./Mehr, C./Nau, H. H., Gene. Meme und Gehirne, in: HZ (2005), 394–395 – Rez. zu Bernhard Zangl/Michael Zürn, „Frieden und Krieg. Sicherheit in der nationalen und postnationalen Konstellation“, in: HZ 279/1 (2004), S. 160 f. – Rez. zu el Masry, Ingrid, Die Soziogenese des altägyptischen Staates, in: PVS 2005/ 1, 180 – Rez. zu Fukuyama, Francis, Staaten bauen. Die neue Herausforderung internationaler Politik, in: HZ (2005), 695 – Rez. zu Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat des Grundgesetzes, in: PVS 2004/4, S. 602 f. – Rez. zu Schneider, Thomas, „Thomas Hobbes’ Leviathan. Zur Logik des politischen Körpers“, in: PVS 2004/2, S. 282 f. – Rez. zu Pauly, Walter, Grundrechtslaboratorium Weimar. Zur Entstehung des zweiten Hauptteils der Reichsverfassung vom 14. August 1919, in: HZ 280/2 (2005), S. 779 f. – Die Geschichtlichkeit des Ahistorischen. Der moderne Staat als evolutionärer kultureller Zusammenhang, in: Archiv für Kulturgeschichte 90 (2008), S. 51–78 Hilker, K., Prozessorientierte Handlungsplanung für Mehragentensysteme, Aachen 2004 Hillgruber, C., Der Körperschaftsstatus von Religionsgemeinschaften, in: NVwZ, 2001, S. 1347–1355 Hillyard, P./Percy-Smith, J., The coercive state, London 1988 Hirschmann, A. O., Abwanderung und Widerspruch, Tübingen 1984 Hobe, S., Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, Berlin 1998b – Der kooperationsoffene Staat, in: der Staat 37, 1998a, 522 ff. Hobhouse, L. T., Social evolution and political theory, London 1911/1944 ND Hobson, J. A., Charitiy as an instrument of Social Reform, in: Southplace Magazine, 14 (1909), 163 – The social problem, London 1901 Hoch, M., Zum Verhältnis von Krieg und Politik im 21. Jahrhundert: Grauzonen, Verwerfungen, Paradoxa, in: Callies, Jörg (Hrsg.), München 2001 Hockerts, H. G. (Hrsg.), Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, München 1998 – Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland. Alliierte und deutsche Sozialversicherungspolitik 1945–1957, Stuttgart 1980 Höffe, O., Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 2002

542

Literaturverzeichnis

Hoffmann, J. G., Die Lehre von den Steuern, Berlin 1840 Hoffmann-Riem, W., Modernisierung von Recht und Justiz. Eine Herausforderung des Gewährleistungsstaates, Frankfurt am Main 2001 Hofmann, Hasso, Der spätmittelalterliche Rechtsbegriff der Repräsentation in Reich und Kirche, in: Der Staat 27, 1988, 523–545 – Geschichtlichkeit und Universalitätsanspruch des Rechtsstaates, in: Der Staat, 1995, 1–32 Hölkeskamp, K.-J., Arbitrators, Lawgivers and the „Codification of Law“ in Archaic Greece. Problems and Perspektives, in: Metis 7 (1995), 49 ff. – Zum Begriff des Gesetzes im archaischen und klassischen Griechenland, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 132, 2000, 73–96 Hollerbach, A., Auflösung der rechtsstaatlichen Verfassung?, in: AöR, 85, 1960, 242– 270 Hölscher, U., Tyrtaios über die Eunomie, in: Kalcyk, H./Gulatt, B./Graber, A. (Hrsg.), Studien zur Alten Geschichte – S. Lauffer zum 70. Geburtstag am 4. August 1981 Homann, Karl/Suchanek A., Grenzen der Anwendbarkeit einer Logik des kollektiven Handelns, in: Leistungen und Grenzen Politisch-Ökonomischer Theorie, Darmstadt 1992 Homans, G., The human group, New York 1950 Hoppe, H. H., Demokratie. Der Gott, der keiner ist, Waltrop 2003 Horkheimer, M., Gesammelte Schriften, 6 Bde., Frankfurt am Main 1988/1996 Horneffer, R., Die Entstehung des Staates, Tübingen 1933 Horrocks, G., Homer’s Dialect, in: Morris, I./Powell, B. (Hrsg.), A new companion to Homer, Leiden 1997, 193 ff. Huber, E.-R., Das deutsche Reich als Wirtschaftsstaat, Wiesbaden 1934 – Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, Stuttgart 1960 Hübner, E., Wahlsysteme und ihre möglichen Wirkungen, München 1968 – Wahlsysteme und ihre möglichen Wirkungen, München, 6. Auflage, 1984 Hüglin, T. O., Johannes Althusius (1557–1638), in: Bleek, W./Lietzmann, H. J. (Hrsg.), Klassiker der Politikwissenschaft. Von Aristoteles bis Easton, München 2005, 65–80 Huizinga, J., Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden, Stuttgart 1975 Humboldt, W. von, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, Stuttgart 2002 – Wilhelm von Humboldts gesammelte Schriften, Abt 1. Werke, Bd. 1, hrsg. von A. Leitzmann, Berlin 1903 Hume, D., Essays, Moral, political and literal, Oxford 1971 Ikenberry, G. J., The state and American foreign economic policy, Ithaka 1988

Literaturverzeichnis

543

Intelmann, F. L., Chancen und Dilemma des politischen Reformismus, Baden-Baden 1996 Isensee, J., Demokratischer Rechtsstaat und staatsfreie Ethik, in: Krautscheidt, J./Marré, H. (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Band 11. Münster 1977 (a) – Der Bundesstaat. Bestand und Entwicklung, in: Badura, P./Dreier, H. (Hrsg.), FS Fünfzig Jahre Bundesverfassungsgericht. Klärung und Fortbildung des Verfassungsrechts Bd. 2, München 2001 – Die alte Frage nach der Rechtfertigung des Staates, in: Kolmer, Petra/Korten, Harald (Hrsg.), Recht – Staat – Gesellschaft: Facetten der politischen Philosophie, Freiburg (Breisgau) 1999 – Gemeinwohl und Staatsaufgaben, in: Isensee, Josef/Kirchhof, Paul, Handbuch des Staatsrechts, Band III § 57, Heidelberg 1988 [zit. nach Randnummern] – Rechtsschutz gegen Kirchenglocken, in: Rechtsvergleichung, Europarecht und Staatenintegration. Gedächtnisschrift für Léontin-Jean Constantinesco 1983, S. 301 ff. – Steuerstaat als Staatsform, in: Stöder/Thieme, FS Hans Ipsen, München 1977 (b) – Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht. Eine Studie über das Regulativ des Verhältnisses von Staat und Gesetz, München 1968 – Tabu im freiheitlichen Staat: Jenseits und Diesseits der Rationalität des Rechts, Paderborn 2003 – Verfassungsstaatliche Erwartungen an die Kirche, in: Essener Gespräche Bd. 25 (1991), 104 ff. Jacobs, G., Norm, Person, Gesellschaft. Vorüberlegungen zu einer Rechtsphilosophie, Berlin, 2. Auflage 1999 Jeand’Heur, Bernd, Der Begriff der „Staatskirche“ in seiner historischen Entwicklung. Die Interpretation von Art. 137 Abs. 1 Weimarer Reichsverfassung im Zeitpunkt seines Inkrafttretens und sein Einfluß auf die politische Einstellung erheblicher Teile des deutschen Protestantismus zum Verfassungs-„system“ von Weimar, in: Der Staat 30 (1991), 444–467 Jelcˇic´, B., Razvoj Javni Financia ú Jugoslaviji, Zagreb 1985 Jellinek, G., Allgemeine Staatslehre, Berlin, 3. Auflage 1913 Jenckes, C., Die Sprache der postmodernen Architektur, Stuttgart 1978 Jensen, M., Foundations of organizational strategy, Cambridge 1998 Jesse, E., Staatsformen und politische Systeme im Vergleich, in: Gallus/Jesse (Hrsg.), Staatsformen. Modelle politischer Ordnung von der Antike bis zur Gegenwart, Köln 2004, 329–370 – Wahlrecht zwischen Kontinuität und Reform, Düsseldorf 1985 Jesse, E./Löw, K., Wahlen in Deutschland, Berlin 1998 Jestaedt, M., in: Festschrift für Josef Isensee, Berlin 2003, 223 f. Joannis Barclaii, Argenis, Editio V, Frankfurt 1626

544

Literaturverzeichnis

Jonas, F., Probleme des Staatseingriffes bei wirtschaftlichen Strukturanpassungen, in: Der Staat, 2, 1963, 279–295 Justi, J. H. G. von, System des Finanzwesens, 1766 ND Aalen 1969 Kabinettsbeschluß der Bundesregierung, „Moderner Staat – Moderne Verwaltung“ vom 1. November 1999 Kailitz, S., Staatsformen im 20. Jahrhundert II: Demokratische Systeme, in: Gallus, A./ Jesse, E. (Hrsg.), Staatsformen. Modelle politischer Ordnung von der Antike bis zur Gegenwart, Köln 2004, 281–328 Kaiser, A., Vetopunkte der Demokratie. Eine Kritik neuerer Ansätze der Demokratietypologien und ein Alternativvorschlag, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 29, 1998, 525–541 Kaiser, J. H., Planung, 4 Bde., Baden-Baden 1984 Kaiser, Joseph H./Badura, Peter, Bewahrung und Veränderung demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen in den internationalen Gemeinschaften, in: VVDStRL 23 (1966), 1–146 (mit Aussprache) Kaldor, N., Welfare Propositions of Economics and interpersonal comparisons of utility, in: Economic Journal 49, 1939, 549–552 Kant, I., Beantwortung der Fragen über das Verhältnis der Politik zur Moral, o. O. 1794 – Metaphysik der Sitten, 1. Teil, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Hamburg 1954 (OA 1797) – Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein; gilt aber nicht für die Praxis 1793, in: Werke, Hamburg 2000 Kantorowicz, E., Die zwei Körper des Körpers, München 1990 Kappeler, P. M., Verhaltensbiologie, Berlin 2006 Katzenstein, P., Corporatism and change: Austria, Switzerland, and the politics of industry, Ithaca 1984 – Tamed Power. Germany in Europe, Ithaka (NY) 1997 Kaufmann, F.-X., Diskurse über Staatsaufgaben, in: Dieter Grimm (Hrsg.), Diskurse über Staatsaufgaben, Baden-Baden 1994, 15–41 – Elemente einer soziologischen Theorie sozialpolitischer Intervention, in: ders. (Hrsg.), Staatliche Sozialpolitik und Familie, München/Wien 1983, 49–86 – Herausforderungen des Sozialstaates, Frankfurt am Main 1997 – Schrumpfende Gesellschaft. Vom Bevölkerungsrückgang und seinen Folgen, Frankfurt am Main 2005 – Rationalität hinter dem Rücken der Akteure, in: Siegenthaler, H. (Hrsg.), Rationalität im Prozess kultureller Evolution, Tübingen 2005, 93–129 Keane, J., Thomas Paine. Ein Leben für die Menschenrechte, Hildesheim 1998 Keesing, R. M./Keesing, F. M., New perspectives in Cultural Anthropology, New York 1971

Literaturverzeichnis

545

Keller, R. v., Freiheitsgarantien für Person und Eigentum im Mittelalter, 1933 Kelsen, H., Allgemeine Staatslehre, Aalen, ND, 1993 – Vom Wesen und Wert der Demokratie, Aalen, ND, 1963 Kern, E., Moderner Staat und Staatsbegriff. Ursprung und Entwicklung, Hamburg 1949 Kersting, W., Gerechtigkeitsprobleme sozialstaatlicher Gesundheitsversorgung, in: Kersting, W. (Hrsg.), Politische Philosophie des Sozialstaats, Weilerswist 2000, S. 467– 507 – Kritik der Gleichheit. Über die Grenzen der Gerechtigkeit und der Moral, Weilerswist 2002 – Probleme der politischen Philosophie des Sozialstaats, in: Kersting, W. (Hrsg.), Politische Philosophie des Sozialstaats, Weilerswist 2000 (b) 17–92 Kettering, S., The decline of great Noble Clientage during the reign of Louis XIV, in: Canadian Journal of History 24 (1989), 157–177 Keupp, I., Die sogenannte Zabernaffäre von 1913/14 im Spiegel ausgewählter Zeitungen und Zeitschriften des „Altreichs“, München 1991 Key, V. O., Public opinion and American democracy, New York 1961 Kielmansegg, P. Graf, Die Kehrseite der Wettbewerbsdemokratie: Das Beispiel Umweltschutz, in: ders., Nachdenken über Demokratie. Aufsätze aus einem unruhigen Jahrzehnt, Stuttgart, 2. Aufl. 1981 – „Die Quadratur des Zirkels“, in: Ulrich Matz (Hrsg.), Aktuelle Herausforderungen der repräsentativen Demokratie, Hamburg, 2. Aufl. 1985 Kiewiet, D. R./MacCubbins, M. D., Parties, Committees and Policymaking in the U.S. Congress: A comment on the role of transaction costs as determinants of the governance structure of political institutions, in: JITE, 1989, 676–685 – Presidential influence on congressional appropriations decisions: American Journal for Political Science, 32, 1988, 713–736 Kirchgässner, G., Homo oeconomicus, 2. Aufl. 2000 Kirchheimer, O., Der Wandel des westeuropäischen Parteiensystems, in: PVS 6, 1965, 20–41 Kirchhof, P., § 88 Staatliche Einnahmen, in: Isensee, Josef/Kirchhof, Paul (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band 4, Finanzverfassung – bundesstaatliche Ordnung, Heidelberg 1990, 87–233 [zit. nach Randnummern] – Der demokratische Rechtsstaat – die Staatsform der Zugehörigen, in: Isensee, Josef/ Kirchhof, Paul (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band 9, Heidelberg 1997, 957–1064 [zit. nach Randnummern] – Der sanfte Verlust der Freiheit, Paderborn 2004a – Der Staat als Gegner und Garant der Freiheit, Paderborn 2004b Kisker, G., Neuordnung des Bundesstaatlichen Kompetenzgefüges und Bund-LänderPlanung, in: Der Staat, 1975, 169 ff.

546

Literaturverzeichnis

Klein, H., Zum Begriff der öffentlichen Aufgabe, in: DÖV 1965, 755 ff. Kloepfer, M., Die lenkende Gebühr, in: AöR 97, 1972, 232–275 Kluge, F., Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin/New York, 22. Auflage 1989 Kluxen, K., Das Problem der parlamentarischen Opposition, Freiburg (Breisgau) 1956 Kobach, K. W., The Referendum: Direct Democracy in Switzerland, Aldershot u. a. 1993 Kogon, E., Demokratischer Staat und moderne Technik. Eine erste Antwort an Helmut Schelsky, in: Atomzeitalter 1961, 147–151 Kolmer, P., Recht-Staat-Gesellschaft; Facetten der politischen Philosophie, Freiburg (Breisgau) 1999 Kolmer, P./Korten, H., Die alte Frage nach der Rechtfertigung des Staates, Freiburg (Breisgau) 1999 König, S., Zur Begründung der Menschenrechte: Hobbes – Locke – Kant, Freiburg (Breisgau) 1994 Korioth, S., Integration und Bundesstaat, Berlin 1990 Korsch, K., Die Entwicklung der politischen Ökonomie, in: Frey, B./Meißner, W. (Hrsg.), Zwei Ansätze der politischen Ökonomie. Marxismus und ökonomische Theorie der Politik, Frankfurt am Main 1974, 11–22 Korte, K.-R./Fröhlich, M., Politik und Regieren in Deutschland, Strukturen, Prozesse, Entscheidungen, Paderborn 2004 Koselleck, R., Kritik und Krise, 8. Auflage, Frankfurt am Main 1973 Kränke, U., Selbstbestimmung. Zur gesellschaftlichen Konstruktion einer normativen Leitidee, Weilerswist 2007 Kratzmann, H., Über Anmassung und Ohnmacht des Staates im Geldwesen, in: Der Staat 35, 1996, 221–249 Krauch, H., Wider den technischen Staat, in: Atomzeitalter 1961, 201–203 Krauß, R. von, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in seiner Bedeutung für die Notwendigkeit des Mittels im Verwaltungsrecht, Hamburg 1955 Kraussberger, M., Die Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch Private, Berlin 1971 Kremendahl, H., Pluralismustheorie in Deutschland, Leverkusen 1977 Kriele, M., Einführung in die Staatslehre. Die geschichtlichen Legitimitätsgrundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, Opladen 2003 – Gesetzprüfende Vernunft und Bedingungen rechtlichen Fortschritts, in: Der Staat 6, 1967, 45–60 Krippendorf, E., Staat und Krieg. Die historische Logik politischer Unvernunft, Frankfurt am Main 1985 Krockow, C. Graf von, Herrschaft und Freiheit, Stuttgart 1977

Literaturverzeichnis

547

– Staat, Gesellschaft, Freiheitswahrung (EA 1972), in: Böckenförde, Ernst-Wolfgang (Hrsg.), Staat und Gesellschaft, Darmstadt 1976, 432–483 Krüger, F., Der Regierungsakt vor den Gerichten, Berlin 1920 Krüger, H., Allgemeine Staatslehre, Freiburg (Breisgau) 1971 – Allgemeine Staatslehre, Stuttgart 1964 – Die „Lebensluft“ des öffentlichen Dienstes, in: Walter Leisner (Hrsg.), Das Berufsbeamtentum im demokratischen Staat, 1975 – Staatsverfassung und Wirtschaftsverfassung, in: DVBl 66 (1951), 361–368 Kübler, F., Lüth – eine sanfte Revolution, in: Kritische Justiz. Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft. Jahrgang 2000, S. 313–322. Kühnhardt, L, Die Universalität der Menschenrechte, München 1987 Kukk, A., Verfassungsgeschichtliche Aspekte zum Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), Stuttgart 2000 Kunisch, J., Absolutismus, Göttingen, 2. Auflage 1999 – Der kleine Krieg. Studien zum Heerwesen des Absolutismus, Frankfurt am Main 1973 – Staatsverfassung und Machtpolitik; zur Genese von Staatenkonflikten im Zeitalter des Absolutismus, Berlin 1979 Kupchan, C. A., The End of the American Era. US foreign policy and the geopolitics of the twenty-first century, o. O. 2002 Küppers, G., Selbstorganisation, Stuttgart 1997 Kuran, T., Cognitive Limitations and Preference Evolution, in: JITE 147, 1991, 241– 273 Kymlicka, W., Politische Philosophie, Frankfurt am Main 1996 Laband, P., Das Budgetrecht nach den Bestimmungen der Preußischen Verfassungs-Urkunde unter Berücksichtigung der Verfassung des Norddeutschen Bunds, in: Zeitschrift für Gesetzgebung und Rechtspflege in Preußen, Bd. 4, 1870, 625 ff. – Deutsches Staatsrecht, Band 1, Berlin 1912 Labarbe, J., La loi navale de Thémistocle, o. O. 1956 Ladeur, K.-H., Die Regulierung von Selbstregulierung und die Herausbildung einer „Logik der Netzwerke“. Rechtliche Steuerung und die beschleunigte Selbsttransformation der postmodernen Gesellschaft, in: Berg, Wilfried et al. (Hrsg.), Regulierte Selbstregulierung als Steuerungskonzept des Gewährleistungsstaates. Ergebnisse des Symposion aus Anlass des 60. Geburtstages von Wolfgang Hoffmann-Riem, Berlin 2001, 59–77 Landes, D., Der entfesselte Prometheus, Köln 1973 Landshut, S., Tocqueville. Das Zeitalter der Gleichheit, Stuttgart 1954 Lankheit, K. A., Preußen und die Frage der europäischen Abrüstung 1867–1870, Freiburg (Breisgau), 1. Auflage, 1993

548

Literaturverzeichnis

Larenz, K., Methodenlehre der Rechtswissenschaft, Berlin, 3. Auflage, 1995 Larsen, J. A. O., Cleisthenes and the development of the Theory of Democracy at Athens, in: Essays in Political Theory presented to G. H. Sabine, Ithaca 1948 – The judgement of antiquity on Democracy, in: Classical Philology 49 (1954), 2 ff. Lee, W. R., Tax structure and economic growth in Germany (1750–1850), in: Journal of European Economic history 4, 1975, 153–178 Leibholz, G., Das Wesen der Repräsentation, Berlin 1929 – Strukturprobleme der modernen Demokratie, Karlsruhe 1967 Leibniz, G. W., Theodizee, Berlin 1875 Leisner, W., Antigeschichtlichkeit des Öffentlichen Rechts. Zum Problem des evolutionistischen Denkens im Recht, in: Der Staat 7, 1968, 136–163 – Imperium in fieri, zur Evolutionsgebundenheit öffentlichen Rechts, in: Der Staat 8, 1969, 273–302 – Werbefernsehen und Öffentliches Recht, Berlin 1967 – Napoleons Staatsgedanken auf St. Helena, Berlin 2006 Lenz, G., Zur Lehre von der Staatsräson, in: AÖR Neue Folge 9, 1925, 261 ff. Lepsius, O., Steuerungsdiskussion, Systemtheorie und Parlamentarismuskritik, Tübingen, 1999 Leroy, M.-L., Félicité publique et droits de l’individu dans l’utilitarisme de Jeremy Bentham, Lille 2003 (Université de Franche-Comte, Diss.) Lesky, A., Geschichte der Griechischen Literatur, Bern/München 1971 Lhotta, R., Der „lästige“ Föderalismus, in: Männle, Ursula (Hrsg.), Föderalismus zwischen Konsens und Konkurrenz, Baden-Baden 1998, 79 ff. – Jahrbuch des Föderalismus, Bd. 2, München 2001 Liddle, H. G./Scott, R./Jones, H. S., A Greek-English Lexikon, 2 Bde., Oxford 1940 Liebenam, W., Die Legati in den römischen Provinzen von Augustus bis Diokletian, Leipzig 1888 Lijphart, A., Patterns of Democracy. Government Forms and performance in Thirty-Six Countries, New Haven/London 1999 LIMC Lexikon Iconographicum Mythologiae Classicae, Bd. 7, 1, München 1994 Lindblohm, C. E., Intelligence of democracy, New York 1965 – Pluralist Democracy Contexts, in: 24 public Administration Review Dahl, 1964 Lindsay, A. D., State in recent political theory, political quarterly 1, 1914 Linhardt, R., Die Sozialprinzipien des Hl. Thomas von Aquin, Berlin 1932 Lipset, S. M., Some social requisites of democracy: Economic Development and Political legitimacy, in: American political Science Review 53, 1959, 69–105 – Soziologie der Demokratie, Neuwied/Berlin 1962

Literaturverzeichnis

549

Lipsius, J., „Politicorum seu civilis doctrinae libri sex“, Politicorum sive civilis doctrinae libri sex, Frankfurt am Main 1704 – „Politicorum seu civilis doctrinae libri Sex“, Hildesheim, ND, 2002 Listh, J., Zur Lehre von der societas perfecta. Kirche und Staat in der neueren katholischen Kirchenrechtswissenschaft, München 1978 Locke, J., Über den wahren Ursprung, die Reichweite und den Zweck der staatlichen Regierung, in: Zwei Abhandlungen über die Regierung, übersetzt von Hans Jörn Hoffmann, hrsg. und eingeleitet von Walter Euchner, Frankfurt am Main 1998 Lodovici, S., L’utilità del bene. Jeremy Bentham, l’utilitarismo e il consequenzialismo, Mailand 2004 Loewenstein, K., Volk und Parlament nach der Staatstheorie der französischen Nationalversammlung von 1789. Studien zur Dogmengeschichte der unmittelbaren Volksgesetzgebung, München 1922 Loschelder, W., Vom besonderen Gewaltverhältnis zur öffentlich-rechtlichen Sonderbindung, Köln 1982 Loughlin, M./Scott, C., The regulatory state, in: Dunleavy, P./Gamble, A. (Hrsg.), Developments in British Politics, Bd. 5, Basingstoke 1997 Löwer, W., Energieversorgung zwischen Staat, Gemeinde und Wirtschaft, Köln 1989 Luden, H., Handbuch der Staatsweisheit oder der Politik, Jena 1811 Luhmann, N., Das Gedächtnis der Politik, in ZfP 42, 1995, 101–121 – Die Gesellschaft der Gesellschaft, Darmstadt 1970 – Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt am Main 2000 – Legitimation durch Verfahren, Frankfurt am Main 1983 – Politische Planung, in: Jahrbuch für Sozialwissenschaft 17, 1965, 275–296 – Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, München 1981 – Staat und Politik. Zur Semantik der Selbstbeschreibung politischer Systeme, in: Bermbach, Udo (Hrsg.), Politische Theoriengeschichte, Opladen 1984, 99–124 Luik, S., Die Rezeption Jeremy Benthams in der deutschen Rechtswissenschaft, Köln 2003 Luthard, W., Direkte Demokratie. Ein Vergleich in Westeuropa, Baden-Baden 1994 Luttwak, E., Strategie. Die Logik von Krieg und Frieden, Lüneburg 2003 Lyotard, J.-F., Das postmoderne Wissen, Köln 1986 Mac Donald, J. R., Socialism and government, London 1910 – Socialism and government, London 1910 – Socialism and Society, London, 2. Auflage 1905 – Syndicalism, London 1912 Mac Donald, J. R./Hardie, K., The liberal collapse: The independent labour party’s programm, in: Nineteenth Century, 45, 1899, 33 ff.

550

Literaturverzeichnis

Mac Gowan, F./Wallace, H., Towards a European Regulatory State, in: Journal of European Public Policy 1996/3, 560 ff. Mac Kinney, L., The concept of Greek medicine, in: Mau, J./Schmidt, G. (Hrsg.), Isonomia – Studien zur Gleichheitsvorstellung im griechischen Denken, Berlin 1964, 79 ff. Mac Rae, K. D., Consocietional Democracy, Toronto 1974 Machiavelli, N., Der Fürst, aus dem Italienischen von Friedrich von Oppeln-Bronikowski, Frankfurt am Main 1990 – Discorsi: Gedanken über Politik und Staatsführung, Stuttgart, 2. Auflage 1977 MacIver, R. M., Society and state, in: Philosophical review, 20, 1911 Magen, S., Körperschaftsstatus und Religionsfreiheit, Tübingen 2004 Maier, F. G., Megaorganisation in Antiquity: The Roman Empire, in: JITE 151, 1995, 705–713 Maier, H., Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, München 1986 – Rousseau, in: ders./Raschl, Heinz/Denzer, Horst (Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens, 2. Bd., München 1987 Mann, T., Betrachtungen eines Unpolitischen, Berlin 1922 Männle, U., Föderalismus zwischen Konsens und Konkurrenz, Baden-Baden, 1. Auflage 1998 Manville, P. B., The evolution of Athenian citizenship: Individual and society in the archaic age, New Haven 1980 (= Mikrofilm-Diss.) – The origins of citizenship in ancient Athens, Princeton 1990 Maravall, J. A., Vom Lehnswesen zur ständischen Herrschaft. Das politische Denken Alfons des Weisen (König Kastiliens, gewählter römischer König), Der Staat, 4, 1965, 307–394 Marsilius von Padua, Defensor pacis, ed. Scholz, R. (= MGH, Fontes iuris germanicic antiqui), Hannover 1932/33 – Defensor pacis, hrsg. und übersetzt von Kusch, Horst/Kunzmann, W., Berlin 1958 Martens/Häberle, P., in: VVDStRL 30, 1972, 7 ff., 43 ff. Martin, J., Von Kleisthenes zu Ephialtes. Zur Entstehung der athenischen Demokratie, in: Chiron 4 (1974), 5 ff. Marx, K., Das Kapital Bde. I–III, Berlin 1977–79 (= MEW 23–25) – Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie, in: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1974, 1–31 Marx, K./Engels, F., Das Kommunistische Manifest, Bd. 1, Berlin 1958 Matz, U., Aporien individualistischer Gemeinwohlkonzepte, in: Anton Rauscher (Hrsg.), Selbstinteresse und Gemeinwohl, 1985, 321 ff. – Thomas von Aquin, in: Maier, H./Rausch, H./Denzer, H. (Hrsg.). Klassiker des politischen Denkens. Bd. 1., München 1986, 119 ff.

Literaturverzeichnis

551

Maunz, T., Salazar et son œuvre, o. O. 1956 Maus, I., Basisdemokratische Aktivitäten und rechtsstaatliche Verfassung, Der orientierungslose Leviathan, in: Keuder, T. (Hrsg.), Marburg 1992, 99–116 – Zur Aufklärung der Demokratietheorie. Rechts- und demokratietheoretische Überlegungen im Anschluß an Kant, Frankfurt am Main, 2. Auflage 1994 Mayer, T., Die Ausbildung der Grundlagen des modernen deutschen Staates im hohen Mittelalter, in: HZ 159, 1939, 457 ff. Mayntz, R., Zur Selektivität der Steuerungstheoretischen Perspektive, in: Bull, H. P./ Görlitz, H. P. (Hrsg.), Politische Steuerung in Theorie und Praxis, Baden-Baden 2001 McGowen, F./Wallace, H., Towards a European Regulatory state, in: Journal of European Public Policy 1996, 560 ff. McKechnie, W. S., The state and the individual, Glasgow 1896 Meadowcroft, J., Conzeptualizing the state. Innovation and Dispute in British political thought 1880–1914, Oxford 1995 Meier, C., Athen. Ein Beginn der Weltgeschichte, Berlin 1993 – Der Wandel der politisch-sozialen Begriffswelt im 5. Jahrhundert v. Chr., in: Archiv für Begriffsgeschichte 21 (1977), 7 ff. – Die Entstehung des Begriffes „Demokratie“, in: PVS 10, 1969, 535 ff. – Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Berlin, 3. Auflage, 1980 – Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt am Main 1980 – Drei Bemerkungen zur Vor- und Frühgeschichte des Begriffs Demokratie, in: Sieber, M. (Hrsg.), Discordia concors – Festgabe für Edgar Bonjour zu seinem siebzigsten Geburtstag am 21. August 1968, Basel/Stuttgart 1968, 3 ff. – Res publica amissa, Frankfurt am Main 1966 Meier, C./Veyne, P., Kannten die Griechen die Demokratie?, Berlin, NA 1990 Meier, U., Mensch und Bürger. Die Stadt im Denken spätmittelalterlicher Theologen, Philosophen und Juristen, München 1994 Meinecke, F., Die Idee der Staatsraison, München, Werkausgabe 1957 – Weltbürgertum und Nationalstaat, München 1922 Melville, G./Vorländer, H., Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen, Köln/Wien 2002 Metzler, G., Am Ende aller Krisen? Politisches Denken und Handeln in der Bundesrepublik der sechziger Jahre, in: HZ 275, S. 57–103 Meyer, N., Die Einbeziehung politischer Zielsetzungen bei der öffentlichen Beschaffung. Zur Zulässigkeit der Verwendung so genannter „beschaffungsfremder Kriterien“ unter besonderer Berücksichtigung der Tariftreueerklärungen, Berlin 2002

552

Literaturverzeichnis

Meyer-Teschendorf, K., Der Körperschaftsstatus der Kirchen. Zur Systemadäquanz des Art. 137 WRV im pluralistischen Gemeinwesen des Grundgesetzes, AÖR 103, 1978, 289–333 Michels, R., Zur Soziologie des Parteiwesens. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, Stuttgart 1989 Milbrath, L. W., The Washington Lobbyists, Westport (Conn.) 1977 Milbrath, L. W./Goel, M. L., Political Participation: How and why people get involved in politics, Washington 1982 Mill, J. S., On Liberty, Cambridge 1969 – Principles of Political Economy, Collected works, Bd. 2, Toronto 1965 Millar, F., The Emperor in the Roman World (31BC-AD 337), London 1992 Mirbt, C., Die Publizistik im Zeitalter Gregors VII., Leipzig 1894 Mises, L. von, Nation, state and economy, New York 1983 Mitchell, B. M., Herodotus and Samos, in: JHS 95 (1975), 75 ff. Mnookin, R. H./Kornhauser, L., Bargaining in the shadow of the law, in: Yale Law Review, 88, 950–997 Mohl, R. von, Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates, Tübingen 1866 – Enzyklopedie der Staatswissenschaften, Tübingen 1872 Molitor, B., Wirtschaftspolitik, München/Wien 1995 Möller, H., Aufklärung in Preußen. Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai, Berlin 1974 – Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1986 Mommsen, T., Römisches Staatsrecht: Handbuch der römischen Alterthümer von Joachim Marquardt und Theodor Mommsen, Bde. 1–3, Leipzig, 3. Aufl. 1887 Mommsen, W., Die Entstehung des Wohlfahrtsstaates in Großbritannien und Deutschland 1850–1950, Stuttgart 1982 Montague, C., Limits of individual Liberty: An Essay, London 1885 Montesquieu, C. L., Secondat de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, neu übertragen und hrsg. von Forsthoff, E., Tübingen 1951 Moraw, P., Organisation und Funktion von Verwaltung im ausgehenden Mittelalter (ca. 1350–1500), in: Kurt Jeserich u. a. (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches, 1983, S. 21–65 – Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung, Berlin 1985 Moser, J. J., Von der Deutschen Reichs Stände Landen, Frankfurt am Main 1769 Muhlack, U., Physiokratie und Absolutismus in Frankreich und Deutschland, in: Zeitschrift für Historische Forschung 9, 1982, 15–46

Literaturverzeichnis

553

Müller, A. H., Die Elemente der Staatskunst; 1808–1809, Berlin 1968 Müller, F., Normstruktur und Normativität, Berlin 1966 Müller, H., Die Franzosen, Frankreich und das Basler Konzil (1431–1449), 2 Teile, Paderborn 1990 Münch, R., Basale Soziologie: Soziologie der Politik, Opladen 1982 – Risikopolitik, Frankfurt am Main 1996 Münkler, H., Der Neue Golfkrieg, Reinbek 2003 – Die kritische Theorie der Frankfurter Schule, in: Graf Ballestrem, K./Ottmann, H. (Hrsg.), Politische Philosophie des 20. Jahrhunderts, München/Wien 1990, 179–210 – Die Neuen Kriege, Reinbek 2002 – Gewalt und Ordnung; Das Bild des Kriegers im politischen Denken, Frankfurt am Main 1992 – Im Namen des Staates. Die Begründung der Staatsraison in der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1987 – Subsidiarität, Zivilgesellschaft und Bürgertugend, in: Riklin, A./Batliner, G. (Hrsg.), Subsidiarität, Vaduz 1994, 63–80 Murray, C., Losing ground, New York 1984 Murswiek, D., Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, Berlin 1985 Musgrave, R. A., The theory of public finance, New York 1959 Musgrave, R. A./Musgrave, P. B./Kullmer, L., Die öffentlichen Finanzen in Theorie und Praxis, Tübingen, 6. Auflage, 1994 Nagy, G., On the symbolism of apportionning meat in archaic greek elegiac poetry, in: L’Uomo 9, (1985), 45 ff. Nakategawa, Y., Isegoria in Herodotus, in: Historia 37 (1988), 257 ff. Naumann, F., Demokratie und Kaisertum, Berlin, 4. Auflage, 1905 Nell-Breuning, O./Prinz, F., Hilfreicher Beistand (Das Subsidiaritätsprinzip), München 1961 Neumann, V., Freiheitsgefährdung im kooperativen Sozialstaat; Rechtsgrundlagen und Rechtsformen der Finanzierung der freien Wohlfahrtspflege, Köln 1992 Nida-Rümelin, J., „Innovation in Wissenschaft und Kunst“, in: Alles nur Theater? Beiträge zur Debatte über Kulturstaat und Bürgergesellschaft, Köln 2004, 167–179 Nietzsche, F., Also sprach Zarathustra. Erster Teil, 2005 Nipperdey, T., Deutsche Geschichte, München 1998 Nitschke, A./Ritter, G. A./Peukert, D. J. A./vom Bruch, R. (Hrsg.), Jahrhundertwende. Der Aufbruch in die Moderne 1880–1930, 2 Bde., Reinbek 1990 Nitz, G., Private und öffentliche Sicherheit, Berlin 2000

554

Literaturverzeichnis

Noetzel, T./Fraenkel, E., Regulative Ideen und politische Ordnung, in: Rupp, H.-K./ Noetzel, T. (Hrsg.), Macht, Freiheit, Demokratie. Anfänge der Politikwissenschaft. Biographische Annäherungen, Marburg 1991, 33–44 Nolte, H., Radikalisierung von Macht und Gegenmacht. Staatswerdung und Rivalitäten, in: Grandner, M./Komlosy, A., Vom Weltgeist beseelt. Globalgeschichte 1700–1815, Wien 2004, 45–72 Konstituierender Reichstag des Norddeutschen Bundes, Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes North, D. C., Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung, Tübingen 1998 – The New Institutional Economics, in: JITE 142, 1986, 230–237 Novalis (= Friedrich von Hardenberg), Schriften, Teil 2, hrsg. von E. Heilborn, Berlin 1901 Nozick, R., State, Anarchy and Utopia, Cambridge (MA)/Oxford 1999 Ober, J., Mass and elite in democratic Athens, Princton 1989 Oestreich, G., Friedrich-Wilhelm I., Berlin 1977 – Justus Lipsius als Theoretiker des neuzeitlichen Machtstaates, in: HZ, Bd. 181 (1956), 31–78 – Ständetum und Staatsbildung in Deutschland, in: Der Staat 6, 1967, 61–73 – Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, in: Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze. Berlin 1969, 187 ff. Oevermann, U., ,Ein Modell der Struktur von Religiosität. Zugleich ein Strukturmodell von Lebenspraxis und von sozialer Zeit.‘, in: Wohlrab-Sahr, M., Frankfurt am Main 1995 Oexle, O. G., ,1933‘. Zur ,longue durée‘ mentaler Strukturen, in: Siegenthaler, H. (Hrsg.), Rationalität im Prozess kultureller Evolution. Rationalitätsunterstellungen als eine Bedingung der Möglichkeit substantieller Rationalität des Handelns, Tübingen 2005, 235–266 Offe, C., Die Staatstheorie auf der Suche nach ihrem Gegenstand, in: Ellwein, T. et al. (Hrsg.), Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft Bd. 1, 1987, 89–101 – Staat, Markt und Gesellschaft. Gestaltungsoptionen im Spannungsfeld dreier politischer Ordnungsprinzipien, in: Ulrich, P. (Hrsg.), Die Wirtschaft in der Gesellschaft, Bern 2000, 105–129 – Strukturprobleme des kapitalistischen Staates, Frankfurt am Main 1972 – Vollbeschäftigung? Zur Kritik einer falsch gestellten Frage, in: Bentele, K. et al. (Hrsg.), Die Reformfähigkeit von Industriegesellschaften, Frankfurt am Main/New York 1995, 240–249 OLD Oxford Latin Dictionary, Oxford 1996 Olson, M., Aufstieg und Niedergang der Nationen, München 1985 – Die Logik des kollektiven Handelns, Tübingen 1998

Literaturverzeichnis

555

Onori, S. M., Fonti canonistiche dell’idea moderna dello stato, Mailand 1951 Opp, J., Spontaneous order and Tit for tat. Some hypotheses and an Empirical Test, in: JITE, 164, 1988, 374–385 Ossenbühl, F., Daseinsvorsorge und Verwaltungsprivatrecht, in: DÖV, 24, 1971, 513– 524 – Die Erfüllung von Verwaltungsaufgaben durch Private, in: VVDSTRL 29 (1971), 137 ff. – Rundfunk zwischen nationalem Verfassungsrecht und europäischem Gemeinschaftsrecht, Frankfurt am Main 1969 Ostwald, M., From popular sovereignty to the sovereignty of law. Law, society and politics in 5th century Athens, Berkeley 1986 – Nomos and the Beginnings of the Athenian Democracy, Oxford 1969 Oweiss, I. M., Petro-money: Problems and Prospects, in: Wiegand, G. C. (Hrsg.), Inflation and Monetary Crisis, Washington (D.C.) 1975, 84–85 – The Dynamics of Arab-United States Economic Relations in the 1970s, Washington (D.C.) 1980 Paine, T., Common sense, übersetzt und hrsg. v. Lothar Meinzer, Stuttgart 1982 Pantazis, C./Gordon, D./Levitas, R., Poverty and social exclusion in Britain, 2006 Kundgebung der Reichsregierung von Papen vom 4. Juni 1932, abgedruckt in: ErnstRudolf Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 3, Stuttgart/Berlin 1966, 468 f. Pappermann, E., Preußisches Allgemeines Landrecht, Paderborn 1972 Parson, T., Theorie sozialer Systeme, Opladen 1976 Pauly, W., Grundrechtslaboratorium Weimar. Zur Entstehung des zweiten Hauptteils der Reichsverfassung vom 14. August 1919 Peacock, A. W., The Groth of public expenditure in the United Kingdom, Princeton 1961 Pecˇar, A., Das Hofzeremoniell als Herrschaftstechnik?, in: Asch, R./Freist, D. (Hrsg.), Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, Köln 2005, 381–404 – Ökonomie der Ehre, Darmstadt 2003 Perelli-Minetti, C. R., „Nozick on Sen: A Misunderstanding“, in: Theory and decision, Bd. 8, 1977, 387–393 Pernice, I., Carl Schmitt, Rudolf Smendt und die Europäische Integration, in: AÖR 120 (1995), 100 Peters, H., Öffentliche und staatliche Aufgaben, in: FS für Hans Carl Nipperdey, Band II, 1965, 877 ff. Petzold, K. E., Zur Entstehungsphase der athenischen Demokratie, in: Rivista die Istoria e di Filologia Classica 118, 1990, 145–47

556

Literaturverzeichnis

Peukert, D. J. L., Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt am Main 1987 Pflaum, H. G., Les Procurateurs équestres sous le Haut-Empire Romain, Paris 1950 Piccolomini, E. S., De ortu et auctoritate imperii Romani, o. O. 1446 Pirson, D., Das kircheneigene Dienstrecht. Handbuch des Staatskirchenrechts, Bd. 2, § 64, Berlin 1994, 848 ff. Pleßner, H., Die verspätete Nation, Stuttgart, 3. Auflage, 1959 Pöcker, M., Das Parlamentsgesetz im sachlich-inhaltlichen Steuerungs- und Legitimationsverbund, in: Der Staat 41, 2002, 616–635 Podelcki, A. J., The life of Themistocles, o. O. 1975 – The political significance of the Athenian „Tyrannicide“-cult, in: Historia 15 (1966), 129 ff. Pollock, F., An introduction to the history of the science of politics, London 1890 (rev. 1911) Popp, R., Wo Ich war, soll Wir werden. Die politische Bilderwelt im Kommunitarismus, in: perspektiven ds, 12, 1995, H. 1, 53–59 Popper, K. R., Alles Leben ist Problemlösen, München/Zürich 1994 – Das Elend des Historizismus, Tübingen, 6. Auflage 1987 – Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 2 Bde. (I und II), Tübingen, 7. Auflage 1992 Postman, N., Wir amüsieren uns zu Tode, Frankfurt am Main 2003 Poundstone, W., Prisoner’s dilemma: John von Neumann, Game theory, and the puzzle of the bomb, NewYork 1993 Prätorius, R., Der verhandelnde und befehlende Staat, in: Gerlach/Nitschke (Hrsg.), Metamorphosen des Leviathan? Staatsaufgaben im Umbruch, Opladen 2000, 70 ff. Preedy, K., Die Bindung Privater an die Europäischen Grundfreiheiten, Berlin 2005 Preuß, H., Gemeinde, Staat, Reich, ND Aalen 1964 – Über Organpersönlichkeit, in: Schmoller, Gustav (Hrsg.), Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, Bd. 26, Leipzig 1902, 557 ff. Preuß, U. K., Der Staat als bewußt produziertes Handlungszentrum, in: Böckenförde, E.-W. (Hrsg.), Staat und Gesellschaft, Darmstadt 1976, 330–366 – Die Weimarer Republik – ein Laboratorium für neues verfassungsrechtliches Denken, in: Göbel, Andreas et al. (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen, Berlin 1995, 177–187 Proudhon, P. J., „Qu’est-ce que la propriété?“, Paris 1840 – Contradictions économiques, Paris 1846 – Die Gerechtigkeit in der Revolution und in der Kirche: Neue Principien praktischer Philosophie, übersetzt von Ludwig Pfau, Hamburg 1860

Literaturverzeichnis

557

– Die Gerechtigkeit. 2. Teil, Hamburg 1858 Przeworski, A. et al., Democracy and Development. Political Institutions and Wellbeing in the world, Cambridge/New York 2000 Quartaer, D., The Ottoman Empire, 1700–1922, Cambridge 2000 Raaflaub, K. A., Die Entdeckung der Freiheit. Zur historischen Semantik und Gesellschaftsgeschichte eines politischen Grundbegriffes der Griechen, 1985 – Die Anfänge des politischen Denkens bei den Griechen, in: Fetscher, I./Münkler, H. (Hrsg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 1 (Frühe Hochkulturen und europäische Antike), Frankfurt am Main 1988, 186 ff. – Die Entdeckung der Freiheit. Zur historischen Semantik und Gesellschaftsgeschichte eines politischen Grundbegriffes der Griechen, München 1985 Ranke, L. von, Frankreich und Deutschland, Leipzig 1909 Rauh, M., Verwaltung, Stände und Finanzen. Studien zu Staatsaufbau und Staatsentwicklung Bayerns unter dem späten Absolutismus, München 1988 Rawls, J., Das Völkerrecht, in: Stephen Shute/Susan Hurley, Die Idee der Menschenrechte, Frankfurt am Main 1996, 53–103 Rebentisch, D., Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg. Verfassungsentwicklung und Verwaltungspolitik; 1939–1945, Wiesbaden 1989 Recktenwald, H. C., Umfang und Struktur der öffentlichen Ausgaben in säkularer Entwicklung, in: Handbuch der Finanzwissenschaften, Tübingen, 3. Aufl. 1977 Reimer, F., Nachhaltigkeit durch Wahlrecht?, in: ZParl, Juni 2004, S. 322 ff. – Verfassungsprinzipien: ein Normtyp im Grundgesetz, Berlin 2001 – Vertrauensfrage und Bundestagsauflösung bei parlamentarischer Anscheinsgefahr, in: JUS 45/8 (2005), 680–683 Reinhard, W., Einführung: Moderne Staatsbildung – eine ansteckende Krankheit?, in: Reinhard, W. (Hrsg.), Verstaatlichung der Welt? Europäische Staatsmodelle und außereuropäische Prozesse, München 1999, VII–XIV – Geschichte der Staatsgewalt und europäische Expansion, in: Reinhard, W. (Hrsg.), Verstaatlichung der Welt? Europäische Staatsmodelle und außereuropäische Machtprozesse, München 1999 – Geschichte der Staatsgewalt: Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München, 3. Auflage 2002 Renan, E., Was ist eine Nation?, Wien/Bozen, 1. Auflage 1995 Rendtorff, T., Kritische Erwägungen zum Subsidiaritätsprinzip, in: Der Staat 1, 1962, 405–430 Riedel, M., Der Staatsbegriff der deutschen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts in seinem Verhältnis zur klassisch-politischen Philosophie, in: Der Staat 2, 1963, 41–63 Rilinger, R., Die Interpretation des späten Imperium Romanum als „Zwangsstaat“. Friedrich Vittinghoff zum 75. Geburtstag, in: GWU, 1985, 321–340

558

Literaturverzeichnis

Rimlinger, G. U., Welfare Policy and Industrialization in Europe, America and Russia, New York 1971 Ritter, G. A., Der Sozialstaat: Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München, 2. Auflage 1991 Robbers, G., Sicherheit als Menschenrecht, Baden-Baden, 1. Auflage 1987 Rodolico, Die Stadtverfassung der Signorie unter der Herrschaft des Taddäus Populus in Bologna 1898 Roellecke, G., Art. 20, Rn. 160, in: Umbach, Dieter, Heidelberger Kommentar, 2. Auflage Rogers, E., Ursprünge des Staates und der Zivilisation: der Prozeß der kulturellen Evolution, Frankfurt a. M. 1977 Rohe, K., Politik: Begriffe und Wirklichkeiten, Stuttgart 1994 – Politische Kultur und ihre Analyse. Probleme und Perspektiven der Politischen Kulturforschung, in: HZ 250 (1990), 321–346 Rorty, R., Der Vorrang der Demokratie vor der Philosophie. Drei philosophische Essays, Stuttgart 1988 Roscher, W., Politik. Geschichtliche Naturlehre der Monarchie, Aristokratie und Demokratie, Stuttgart 1892 Rose-Ackermann, S., Corruption. A study in Political Economy, New York 1979 Roselli, A., Monarchie sive de potestate imperatoris et papae, o. O. 1442 Rosen, K., Marc Aurel und das Ideal des Civilis Princeps, in: Stimuli. Exegese und ihre Hermeneutik in Antike und Christentum, Festschrift für Ernst Dassmann, Münster (Westf.) 1996, 154–160 Roth, D., Empirische Wahlforschung. Ursprung, Theorien, Instrumente und Methoden, Opladen 1998 Roth, K., Genealogie des Staates. Prämissen neuzeitlichen Politikdenkens, Berlin 2003 Rothermund, D., Seehandel und Kolonialherrschaft, in: Grandner, M./Komlosy, A. (Hrsg.), Vom Weltgeist beseelt. Globalgeschichte 1700–1815, Wien 2004, 25–44 Rousseau, J.-J., Du contrat social, Paris 1964 – Preisschriften und Erziehungsplan, hrsg. von Hermann Röhrs, Bad Heilbrunn, 2. Auflage 1976 Rowlands, G., The Dynastic State and Army, Cambridge 2002 Rüb, F. W., Hybride Regime – Politikwissenschaftliches Chamäleon oder neuer Regimetypus? Begriffliche und konzeptionelle Überlegungen zum neuen Pessimismus in der Terminologie, in: Bendel, P./Croissant, A./Rüb, F., Zwischen Demokratie und Diktatur. Zur Konzeption und Empirie demokratischer Grauzonen, Opladen 2002 Ruge, R., Die Gewährleistungsverantwortung des Staates und der Regulatory State. Zur veränderten Rolle des Staates nach der Deregulierung der Stromwirtschaft in Deutschland, Großbritannien und der EU, Berlin 2004

Literaturverzeichnis

559

Ruggiu, F.-J., Der Gemeinschaft dienen? Politisches Engagement in englischen und französischen Provinzstädten im 18. Jahrhundert, in: Asch, Ronald/Freist, Dagmar (Hrsg.), Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, Köln 2005, 91–115 Rumpf, H., Der internationale Schutz der Menschenrechte und das Interventionsverbot, Baden-Baden 1981 Ryffel, H., Grundprobleme der Rechts- und Staatsphilosophie, Neuwied 1969 Saage, R., Otto Kirchheimers Analyse des nationalsozialistischen Herrschaftssystems 1935–1941, in: Luthardt, W./Söllner, A. (Hrsg.), Verfassungsstaat, Souveränität, Pluralismus, Opladen 1989, 77–91 Sabatier, G., Ikonographische Programme und Legitimation der königlichen Autorität in Frankreich im 17. Jahrhundert, in: Asch, R./Freist, D. (Hrsg.), Staatsbildung als kultureller Prozeß. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, Köln 2005, 255–290 Sachße, C./Tennstedt, F., Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Vom Spätmittelalter bis zum 1. Weltkrieg. Stuttgart et al. 1980 Sacksofsky, U., Verfolgung ökologischer und anderer öffentlicher Zwecke durch Instrumente des Abgabenrechts, NJW 2000, 2619–2626 Sahlins, M. D., Die segmentäre Lineage. Zur Organisation räuberischer Expansion, München 2004 Saladin, P., Verantwortung als Staatsprinzip. Ein neuer Schlüssel zur Lehre vom modernen Rechtsstaat, Bern/Stuttgart 1984 Salzer, E., Über die Anfänge der Signorie in Oberitalien, 1900 Samuel, H., Liberalism, London 1902 Samuelson, P. A., The pure theory of public expenditure, in: Review of Economics and statistics 36 (Nov. 1954), 387 ff. Samuelson, P. A./Nordhaus, W. D., Volkswirtschaftslehre, Landsberg 2005 Sanden, J., Die Weiterentwicklung der föderalen Strukturen der Bundesrepublik Deutschland. Staatsrechtliche Studie zu einem postmodernen Ansatz der Bundesstaatsreform, Berlin 2005 Schaefer, H., Besonderheit und Begriff der attischen Demokratie im 5. Jahrhundert, in: Synopsis, Festgabe für Alfred Weber, o. O. 1948 Schäfer, D., Deutsches Nationalbewußtsein im Lichte der Geschichte, Jena 1884 Schäfer, F., Zur Frage des Wahlrechts in der Weimarer Republik, in: Schieder, T./Hermens, F. A., Deutsches Nationalbewußtsein im Licht der Geschichte, Berlin 1967, 139 ff. Schäffle, A., Die Steuern, Band 1, Leipzig 1895 Scharpf, F. W., Demokratietheorie zwischen Utopie und Anpassung, Bad Homburg, 2. Auflage 1975 Schefczyk, M., Umverteilung als Legitimationsproblem, Freiburg (Breisgau) 2003

560

Literaturverzeichnis

Schelsky, H., Systemüberwindung. Demokratisierung. Gewaltenteilung. Grundsatzkonflikte der Bundesrepublik, München 1973a – Zur soziologischen Theorie der Institution, in: ders. (Hrsg.), Zur Theorie der Institution, Düsseldorf, 2. Auflage 1973b, 9–26 Scheuner, U., Der Bereich der Regierung, Göttingen 1952 – Struktur und Aufgabe des Staates, Göttingen 1962 Schieder, T., Friedrich der Große. Ein Königtum der Widersprüche, Frankfurt am Main/ Berlin/Wien 1983 – Nationalstaat und Nationalitätenproblem, in: Zeitschrift für Ostforschung 1, 1952, 161–181 Schieffer, R., Der ottonische Reichsepiskopat zwischen Königtum und Adel, in: Frühmittelalterstudien, 1989, 291–301 Schieren, S., Die stille Revolution. Der Wandel der britischen Demokratie unter dem Einfluss der europäischen Integration, Darmstadt 2001 Schieren, S./Hildebrand, D., Zur Privatisierung kommunaler Daseinsvorsorge, in: Recht und Politik 3/2003, S. 149–155 Schimanck, U., Theorie der modernen Gesellschaft nach Luhmann – eine Bilanz in Stichworten, in: Beobachter der Moderne. Beiträge zu Niklas Luhmanns „Die Gesellschaft der Gesellschaft“, hrsg. von Gigel, J./Schimanck, U., Frankfurt am Main 2001, 261–298 Schindler, D., Über die Bildung des Staatswillens in der Demokratie. Eine staatsrechtliche Studie, Zürich 1921 Schindler, N., Widerspenstige Leute. Studien zur Volkskultur in der frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1992 Schinkel, H., Polizei und Stadtverfassung im frühen 19. Jahrhundert, in: Der Staat 3, 1964, 315–334 Schlaich, K., Von der Notwendigkeit des Staates – Das wissenschaftliche Werk Ulrich Scheuners, in: Der Staat 21, 1982, 1–24 Schlenke, M., England und das friderizianische Preußen 1740–1763, Freiburg (Breisgau) 1963 Schlothauer, R., Zur Krise der Verfassungsgerichtsbarkeit, Frankfurt am Main 1979 Schlözer, A. L., Allgemeines Staatsrecht und Staatsverfassungs-Lehre, Göttingen 1793 Schlumbohm, J., Gesetze, die nicht durchgesetzt werden – ein Strukturmerkmal des frühneuzeitlichen Staates?, in: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), 647–663 Schlüter, W., Das obiter dictum, München 1973 Schmalz-Bruns, R., Reflexive Demokratie, Baden-Baden 1995 Schmehl, A., Das Äquivalenzprinzip im Recht der Staatsfinanzierung, Tübingen 2004 Schmid, G./Treiber, H., Bürokratie und Politik. Zur Struktur und Funktion der Ministerialbürokratie in der Bundesrepublik Deutschland, München 1975

Literaturverzeichnis

561

Schmidt, E., Die Justizpolitik Friedrichs des Großen, in: Heidelberger Jahrbücher 6, 1962, 95–110 Schmidt, M., Eunomßa, in: Lexikon des frühgriechischen Epos Göttingen 1987, 788 f. Schmidt, M. G., Demokratietheorien. Eine Einleitung, Opladen 2000 – Ist die Demokratie wirklich die beste Staatsverfassung?, in: Österreichische Zeitschrift für Politik, 28, 1999, 187–200 Schmidt, R., Allgemeine Staatslehre, Band l, Berlin 1901 Schmidt-Aßmann, E., Regulierte Selbstregulierung als Element verwaltungsrechtlicher Systembildung, in: Berg, Wilfried et al., Regulierte Selbstregulierung als Steuerungskonzept des Gewährleistungsstaates. Ergebnisse des Symposion aus Anlass des 60. Geburtstages von Wolfgang Hoffmann-Riem, Berlin 2001, 253–271 Schmitt, C., Der Begriff des Politischen, Berlin 1963 – Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, Berlin 1938 – Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Berlin, 2. Auflage 1974 – Legalität und Legitimität, München/Leipzig 1932 – Politische Theologie, Berlin, 3. Auflage 1979 – Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles, 1923–1939, Berlin 1988 – Theorie des Partisanen, Berlin, 3. Auflage 1995 – Verfassungslehre, Berlin 1928 – Volksentscheid und Volksbegehren, Berlin/Leipzig 1927 Schmitt, E., Machiavelli, in: Klassiker des politischen Denkens, München 1986 Schmitt Glaeser, W., § 31 Die grundrechtliche Freiheit des Bürgers zur Mitwirkung an der Willensbildung, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 3, Erste Auflage 1987, 49–71 Schmoller, G., Entstehung, Wesen und Bedeutung der neueren Armenpflege, in: Sitzungsberichte der königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1902, XXXIX, 915–925 Schnabel, F., Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 2, Freiburg (Breisgau), 2. Aufl. 1949 Schneider, H., Gerichtsfreie Hoheitsakte, Tübingen 1951 – Verträge zwischen Gliedstaaten und Bundesstaat, in: VVDStRL 19, 1961, 1–85 Schneider, T., Thomas Hobbes’ Leviathan. Zur Logik des politischen Körpers, Springe, 1. Auflage 2003 Scholz, J. T., Cooperation, regulatory compliance, and the enforcement dilemma, Paper presented at the annual meeting of the American Political science Association Sept. 1–4, Chicago 1983 Scholz-Reiter, B., Prozessorientierte Fertigung, Berlin, 1. Auflage 2003

562

Literaturverzeichnis

Schönberger, C., Das Parlament im Anstaltsstaat: Zur Theorie parlamentarischer Repräsentation in der Staatsrechtlehre des Kaiserreichs (1871–1918), München 1997 Schönherr-Mann, H.-M., Postmoderne Theorien des Politischen, München 1996 Schorn-Schütte, L., Staatsformen in der frühen Neuzeit, in: Gallus, A./Jesse, E. (Hrsg.), Staatsformen, Modelle politischer Ordnung von der Antike bis zur Gegenwart, Köln 2004 Schott, H., Die formierte Gesellschaft und das deutsche Gemeinschaftswerk, Bonn 1982 Schremmer, E., Einfach und gerecht? Die erste deutsche Einkommensteuer von 1874/78 in Sachsen als Lösung eines Reformstaus in dem frühindustrialisierten Lande, Scripta mercaturae. 35, nr. 2, 2001, 38–64 – Föderativer Staatsverbund, öffentliche Finanzen und Industrialisierung in Deutschland, in: Kiesewetter, H./Fremdling, R. (Hrsg.), Staat, Region und Industrialisierung, Ostfildern 1985, 3–65 – Zusammenhänge zwischen Katastersteuersystem, Wirtschaftswachstum und Wirtschaftsstruktur im 19. Jahrhundert. Das Beispiel Württemberg 1821–1871/1903, in: Wirtschaftliche und soziale Strukturen im säkularen Wandel. FS Wilhelm Abel, Hannover 1974, 679–706 Schroeder, W./Esser, J., Modell Deutschland. Von der konzertierten Aktion zum Bündnis für Arbeit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 37, 1999, 3–12 Schui, H., Die politische Ökonomie des Wohlfahrtsstaates und der Neoliberalismus, in: Klages, J./Strutynski, P. (Hrsg.), Kapitalismus am Ende des Zwanzigsten Jahrhunderts, Hamburg 1997, 9–25 Schüle, A., Demokratie als politische Form, in: FS Smend, Göttingen 1952 Schuller, W., Rez. zu Christian Meier: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, in: Gnomon 53 (1981), 769 ff. Schultz, T. W., In Menschen investieren. Die Ökonomik der Bevölkerungsqualität, Tübingen 1986 Schulz, E., Die Reden im Herodot, Greifswald 1933 (= Diss. phil.) Schulze, H., Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 2004 Schulze, W., Gerhard Oestreichs Begriff „Sozialdisziplinierung in der Frühen Neuzeit“, in: Zeitschrift für Historische Forschung 14, 1987, 265–302 Schumann, J., Die andere Sonne. Kaiserbild und Medienstrategien im Zeitalter Leopolds I, Berlin 2003 Schumpeter, J., Die Krise des Steuerstaates, Graz 1918 – Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, München 1993 Schuppert, G. F., Das Konzept der regulierten Selbstregulierung als Bestandteil einer als Regelungswissenschaft verstandenen Rechtswissenschaft, in: Berg, Wilfried et al. (Hrsg.), Regulierte Selbstregulierung als Steuerungskonzept des Gewährleistungsstaates. Ergebnisse des Symposion aus Anlass des 60. Geburtstages von Wolfgang Hoffmann-Riem, Berlin 2001, 201–252

Literaturverzeichnis

563

Sealey, R., Essays in Greek Politics, New York 1967 – The origins of Demokratia, in: California Studies in Classical Antiquity 6 (1973) Seedorf, S., Die Wirkung der Grundrechte im Privatrecht in Südafrika, Baden-Baden 2005 Seemann, K., Entzaubertes Kanzleramt. Denkwürdigkeiten eines Personalratsvorsitzenden, Landshut 1975 Sellin, V., Friedrich der Große, in: FS Conze, Stuttgart 1976 Sen, A., Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, München 2003 – Personal utilities and public judgements: or what’s wrong with welfare economics, in: Economic Journal, 1979, 537–558 – Rationality and Freedom, Cambridge (MA)/London 2002 – Social choice theory, in: Arrow, K. J./Intriligator, M. (Hrsg.), Handbook of mathematical economics, Bd. 3, Amsterdam 1986, 1073–1081 Sen, A./Williams (Hrsg.), Utilitarianism and beyond, Cambridge 1982 Service, E. R., Ursprünge des Staates und der Zivilisation. Der Prozeß der kulturellen Evolution, Frankfurt am Main 1977 Seydel, M. von, Commentar zur Verfassungsurkunde für das deutsche Reich, Würzburg, 1879 – Bundesstaat, Würzburg 1873 Shipley, G., A History of Samos 800-188 BC, Oxford 1987 Siegenthaler, H., Kulturelle Evolution, Tradition und Rationalität, in: Siegenthaler, H. (Hrsg.), Rationalität im Prozess kultureller Evolution. Rationalitätsunterstellungen als eine Bedingung der Möglichkeit substantieller Rationalität des Handelns, Tübingen 2005, 3–29 Simitis, S., Die faktischen Vertragsverhältnisse, Frankfurt am Main 1958 Simons, H., A positive program for Laissez-faire: Some proposals for a liberal economy, in: Economic Policy for a free society, Chicago 1948 Sinclair, T. A., A history of Greek political thought, London 1951 Singhammer, J., Das allgemeine Wahlrecht in der Diskussion, in: Jesse, E./Löw, K. (Hrsg.), Wahlen in Deutschland, Berlin 1998 Sinn, W., A Theory of the Welfare State, NBER working paper #4856# [Bestandteil der Angabe] 1984 Skinner, Q., The foundations of modern political thought, 2 Bde., Cambridge 1978 Sklar, R. L., Developmental democracy, in: Comparative Studies in Society and History, 29, 1987, 686–714 Skocpol, T./Ikenberry, J., The political formation of the American welfare state in Historical and Comparative perspective, in: Comparative social research, vol. 6, Greenwich (Conn.) 1983

564

Literaturverzeichnis

Smend, R., Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht, Berlin 1933 – Integration, in: Evangelisches Staatslexikon, Stuttgart 1966 – Staat und Politik, in: Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, Berlin, 3. Auflage 1994 – Verfassung und Verfassungsrecht, Leipzig 1928 Smid, S., Recht und Staat als „Maschine“. Zur Bedeutung einer Metapher, in: Der Staat 27, 1988, 325–350 Smith, A., An inquiry into the nature, 1776, ND Oxford 1976 – The theory of moral sentiments, Rev. ed. London 1790, ND Oxford 1975, Sohm, R., Fränkische Reichs- und Gerichtsverfassung, Weimar 1871 – Institutionen des Römischen Rechts, 11. Auflage 1903 Sorrel, J., L’Europe et la revolution française 1897 Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Karlsruhe 1964, Protokoll der Verhandlungen, Bonn 1964 Spencer, H., Die Principien der Ethik, Stuttgart, 2. Auflage 1902 – Man versus the State, London 1884/1909 – The principles of ethics, 2 Bde., London 1876–1896 – The principles of ethics, 2 Bde., London 1892/93 Spencer, J., violence, in: ESCA – Encyclopedia of social and cultural anthropology, London 2004, 559–560 Spoerer, M., Steuerlast, Steuerinzidenz und Steuerwettbewerb. Verteilungswirkungen der Besteuerung in Preußen und Württemberg (1815–1913), Berlin 2004 Staff, I., Die Wahrung staatlicher Ordnung. Ein Beitrag zum technologischen Staat und seinen rechten Propheten Carl Schmitt und Ernst Forsthoff, in: Leviathan 1987, 141 ff. Stahl, F. J., Die Philosophie des Rechts, Bd. 2: Die Staatslehre und die Principien des Staatsrechtes, Heidelberg, 2. Auflage 1846 Stahl, M., Adel in archaischer und klassischer Zeit, Stuttgart 1989 – Solon F3 D, in: Gymnasium 99 (1992), 385 ff. Starck, C., Frieden als Staatsziel, in: FS Karl Carstens, 1984, 867 ff. Starr, C. G., A history of the ancient world, New York 1974 Stein, K. Reichsfreiherr vom und zum, Briefe und amtliche Schriften, Bd. 2, Teil 2, Das Reformministerium: (1807–1808) neu bearb. von Peter G. Thielen – Gesammelte Schriften XII, 83 Stein, L. von, Gegenwart und Zukunft der Rechts- und Staatswissenschaften Deutschlands, ND in: Forsthoff, E. (Hrsg.), Lorenz von Stein, Gesellschaft – Staat – Recht, Frankfurt am Main 1972, 147–494 – Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich, Leipzig 1850

Literaturverzeichnis

565

– Gesellschaftslehre, Stuttgart/Augsburg 1856 – Handbuch der Verwaltungslehre, Stuttgart 2000 Steinberger, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, VVD StRL 50, 1991, 9 ff. Stenkewitz, K., Immer feste druff: Zabernaffaire 1913, München 1962 Sternberger, D., Das allgemeine Beste, in: ders., „Ich wünschte, ein Bürger zu sein“, Neun Versuche über den Staat, Frankfurt am Main 1970 Stober, R., Staatliches Gewaltmonopol und privates Sicherheitsgewerbe. Plädoyer für eine Police-Private-Partnership, in: NJW 50 (1997), 889–896 Stoll, P. T., Sicherheit als Aufgabe von Staat und Gesellschaft. Verfassungsordnung, Umwelt und Technikrecht im Umgang mit Unsicherheit und Risiko, Tübingen 2003 Stollberg-Rilinger, B., Der Staat als Maschine: zur politischen Metaphorik des absoluten Fürstenstaates, Berlin 1986 – Höfische Öffentlichkeit. Zur zeremoniellen Selbstdarstellung des brandenburgischen Hofes vor dem europäischen Publikum, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 7, 1997, 146–176 – Vormoderne politische Verfahren, Berlin 2001 Stolleis, M., Arcana imperii und Ratio status, Göttingen 1980 – Das Auge des Gesetzes. Geschichte einer Metapher, Berlin 2004 – Die Entstehung des Interventionsstaates und das öffentliche Recht, Berlin 1999 – Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischem Recht, Hamburg 1974 – Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2, München 1999 – Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit, Berlin 1990 Strakosch, H., Privatrechtskodifikation und Staatsbildung in Österreich (1753–1811), Wien 1976 – State Absolutism and the rule of law. The struggle for the codification of civil law in Austria 1753–1811, Sydney 1967 Streit, M., Economic Order, Private Law and Public Policy. The Freiburg School of Law and Economics in Perspective, in: JITE 148, 1992, 675–704 Struve, T., Die Entwicklung der organologischen Staatsauffassung im Mittelalter, Stuttgart 1978 – Die Stellung des Königtums in der politischen Theorie der Salierzeit, in: Weinfurter, S. (Hrsg.), Die Salier und das Reich, Bd. 3, Sigmaringen 1992, 217–244 – Regnum und Sacerdotium, in: Fetscher, I./Münkler, H. (Hrsg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 2, Mittelalter: Von den Anfängen bis zur Reformation, München 1993, 189–242 Sturm, R., Perspektiven des Staates im 21. Jahrhundert, in: Gallus, A./Jesse, E. (Hrsg.), Staatsformen. Modelle politischer Ordnung von der Antike bis zur Gegenwart, Köln/Weimar/Wien 2004, 371–399

566

Literaturverzeichnis

– The Information Society and its regional Dimension, in: The Information Society and the Regions in Europe, Baden-Baden 2000 Sturm, R./Müller, M. M., Öffentliche Daseinsvorsorge im deutsch-britischen Vergleich. Konvergenz oder Divergenz, in: Schader-Stiftung (Hrsg.), Die Zukunft der Daseinsvorsorge. Öffentliche Unternehmen im Wettbewerb, Darmstadt 2001, 125–129 Stürmer, M., Bismarckstaat und Cäsarismus, in: Der Staat 12, 1973, 467–498 Stürner, W., Die Konstitutionen Friedrichs II. für das Königreich Sizilien, Hannover 1996 Sugden, R., Austrian prescriptive economics, Caldwell, B./Boehm, S. (Hrsg.), Austrian economics. Tensions and new directions, Boston 1992, 207–214 – Rights. Why do they matter, and to whom?, in: Constitutional Political Economy 1993, 127–152 Sutter, D., The discovery of knowledge and constitutional systems: A New perspective on the Provision of Public Goods, in: JITE 150, 1994, 401–410 Suzumura, K., Rational Choice, collective decisions and social welfare, Cambridge 1983 Switek, N., „Das Wort hat der Herr Bundeskanzler“, o. O. 2002 Tantras, G., Akteneinsicht und Geheimhaltung im Verwaltungsrecht, Berlin 1998 Tarkiainen, T., Die athenische Demokratie, München 1972 Tenbruck, F. K., Zu einer Theorie der Planung in Wissenschaft und Praxis, in: FS zum zwanzigjährigen Bestehen des Westdeutschen Verlages, Opladen 1967, 109–135 Thatcher, M., Downing Street No. 10. Die Erinnerungen, Düsseldorf 1993 Thiel, J. F., Grundbegriffe der Ethnologie, St. Augustin, 3. Auflage 1980 ThLL – Thesaurus linguae Latinae, Editus auctoritate et consilio academiarum quinque Germanicarum Berolinensis, Gottingensis, Lipsiensis, Monacensis, Vindobonensi, Leipzig 1886 ff. Thoma, R., Das Reich als Demokratie, in: Anschütz, G./Thoma, R., Kommentar zur Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1929, Bd. 1, 195 ff. Thorbecke, W., Free trade versus managed trade: A constitutional political economy perspective, in: JITE 151, 1995, 373–389 Tiedtke, A., Demokratie in der Europäischen Union. Eine Untersuchung der demokratischen Legitimation des europäischen Integrationsprozesses vom Vertrag von Amsterdam bis zum Entwurf einer Europäischen Verfassung, Berlin 2005 de Tocqueville, A., Über die Demokratie in Amerika, Stuttgart 1962 Tomasello, M., Die kognitive Disposition des Menschen zur Kultur, in: Siegenthaler, Hansjörg (Hrsg.), Rationalität im Prozess kultureller Evolution. Rationalitätsunterstellungen als eine Bedingung der Möglichkeit substantieller Rationalität des Handelns, Tübingen 2005, 201–231 Tönnies, F., Gemeinschaft und Staat: Grundbegriff der reinen Soziologie, Darmstadt, 8. Auflage 1935

Literaturverzeichnis

567

Topitsch, E., Die Sozialphilosophie Hegels als Heilslehre und Herrschaftsideologie, München 1982 – Mythos, Philosophie, Politik, Freiburg (Breisgau) 1969 Torquemada, J., Summa de ecclesia, 1449 Treitschke, H. von, Das constitutionelle Königthum in Deutschland, in: ders., Historische und politische Aufsätze, Teil 1, Leipzig 1870, 745 ff. Treutner, E., Kooperativer Rechtsstaat. Das Beispiel Sozialverwaltung, Baden-Baden 1998 – Kooperativer Rechtsstaat. Das Beispiel Sozialverwaltung, Baden-Baden 1998 Tsebelis, G., Decision making in political Systems: vetoplayers in presidentialims, parlamentarism, multi-cameralism and multi-partyism, in: British Journal of political Science, 25 (1995), 305 f. – Veto Players: How Political Institutions work, Princeton 2002 Tullock, G., Staat, politische Entscheidungen, Budget, in: Zwei Ansätze der politischen Ökonomie, Frankfurt am Main 1974 Turasiewicz, R., Zur griechischen politischen Terminologie: Zusammensetzungen von Nómos als politische Termini, in: E. Kluwe (Hrsg.), Kultur und Fortschritt in der Blütezeit der griechischen Polis, Berlin 1985, 77 ff. Turner, G., The case of state pensions in old age, Fabian tract no. 73, 1897 Uhle, A., Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität, Tübingen 2005 Ullmann, H.-P., Der deutsche Steuerstaat, München 2005 – in: Weis, E. (Hrsg.), Reformen im rheinbündischen Deutschland, München 1984. Zur Finanzpolitik des Großherzogtums Baden in der Rheinbundzeit: Die Finanzreform von 1808, in: Reformen im rheinbündischen Deutschland, hrsg. von E. Weis, München 1984, S. 99–120 – Staatsschulden und Reformpolitik. Die Entstehung moderner öffentlicher Schulden in Bayern und Baden 1780–1820, Bde., Göttingen 1986 Ungern-Sternberg, J., Innovation in Early Greece: The Political Sphere, in: Bernholz, Peter et al. (Hrsg.), Political Competition, Innovation and Growth. A Historical Analysis, Berlin/New York 1998, 85–107 Unkelbach, H., Grundlagen der Wahlsystematik, Göttingen 1956 Unruh, C. von, Spannungen zwischen Staats- und Selbstverwaltung im Rechtsstaat, Der Staat 4, 1965, 441–468 U.S. Department of Commerce, FT 990, Washington (D.C.) 1983 Utz, A. F., Formen und Grenzen des Subsidiaritätsprinzips, Heidelberg 1956 Valeska, H., Volksheim, Berlin 1999 van der Veen, Organisation, Ordnung und Gerechtigkeit. in: Utz, A. F., Das Subsidiaritätsprinzip, Sammlung Politeia II, Heidelberg 1953, 45 ff.

568

Literaturverzeichnis

van Parijs, P., Ein Grundeinkommen für alle? Geschichte und Zukunft eines radikalen Vorschlags, Frankfurt am Main 2005 Verdroß, A., Das bonum commune humanitatis in der christlichen Rechtsphilosophie, Wien 1963 Verpaalen, A. P., Der Begriff des Gemeinwohls bei Thomas von Aquin, Frankfurt am Main 1954 Vesting, T., Subjektive Freiheitsrechte als Elemente von Selbstorganisations- und Selbstregulierungsprozessen in der liberalen Gesellschaft. Dargestellt am Beispiel der Bedeutung der Intellectual Property Rights in der neuen Netzwerkökonomie, in: Berg, Wilfried et al., Regulierte Selbstregulierung als Steuerungskonzept des Gewährleistungsstaates. Ergebnisse des Symposions aus Anlass des 60. Geburtstages von Wolfgang Hoffmann-Riem, Berlin 2001, 21–57 Viveiros de Castro, E., Society, in: ESCA – Encyclopedia of social and cultural anthropology, London 2004, 514–522 Vlastos, G., Isonomia, in: American Journal of Philology 74 (1953), 331 ff. – \Isonomßa PolitikÞ, in: Mau, J./Schmidt, E. G. (Hrsg.), Isonomia – Studien zur Gleichheitsvorstellung im griechischen Denken, Berlin 1964, 1 ff. Vogel, K., § 87 Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in: Isensee, Josef/ Kirchhof, Paul (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band 4, Heidelberg, 1. Auflage 1988, 43–86 [zit. nach Randnummern] – § 27 Der Finanz- und Steuerstaat, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, in: Isensee, Josef/Kirchhof, Paul (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band 1, Heidelberg, 1. Auflage 1988, 1151–1186 [zit. nach Randnummern] Vogt, E., Biographische Forschungen zu Homer, in: Latacz, J. (Hrsg.), Zweihundert Jahre Homer-Forschung – Rückblick und Ausblick, 365 ff., Stuttgart/Leipzig 1991 Voigt, R., Den Staat denken. Der Leviathan im Zeichen der Krise, Baden-Baden 2007 Voigt, S., Institutionenökonomik, Berlin 2002 Vollmer, F., Inscriptiones Bavariae Romanae, München 1915 Vorländer, H., Demokratie. Geschichte, Formen, Theorien, München 2003 Voßkuhle, A., Der Dienstleistungsstaat. Über Nutzen und Gefahren von Staatsleitbildern, in: Der Staat 39, 2000, 496–523 Wacher, J. S., The Roman Empire, London 1987 Wagner, A., Allgemeine oder theoretische Volkswirtschaftslehre, Bd. I, Leipzig/Heidelberg, 2. Auflage 1879 – Die Ordnung des österreichischen Staatshaushaltes, mit besonderer Rücksicht auf den Ausgabe-Etat und die Staatsschuld, Wien 1863 Waitz, G., Grundzüge der Politik, Kiel 1862 Wallrabenstein, A., Das Verfassungsrecht der Staatsangehörigkeit, Gießen, 1. Auflage 1999

Literaturverzeichnis

569

Walser, G., Die römischen Straßen und Meilensteine, in: Raetien. Limesmuseum Aalen 29, Stuttgart 1983 Walter, U., An der Polis teilhaben. Bürgerstaat und Zugehörigkeit im archaischen Griechenland, Stuttgart 1993 – Bürgersein im Bürgerstaat. Politische Selbstorganisation der Griechen als Erbe an die Gegenwart, in: GPD 22 (1994), S. 244–251 Walter, W., Die sozialistische Definition der Demokratie, Freiburg (CH) 1962 Walz, R., Der Begriff der Kultur in der Systemtheorie, in: Stollberg-Rilinger, Barbara (Hrsg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen, Berlin 2005, 97–114 Waschkuhn, A., Demokratietheorien – Politiktheoretische und ideengeschichtliche Grundzüge, München 1998 – Grenzen des politisch-ökonomischen Ansatzes Olson aus system-theoretischer Sicht, in: Leistungen und Grenzen Politisch-Ökonomischer Theorie, Darmstadt 1992 – Partizipation und Vertrauen. Grundlagen von Demokratie und politischer Praxis, Opladen 1984 Webb, S., Industrial democracy, Bd. 2, London 1897 Weber, H., Paper Bullets. Print and Kingship under Charles II., Lexington (Kent.) 1996 Weber, M., Wirtschaft und Gesellschaft (1922), Tübingen, 5. Auflage 1985 – Die Protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus, Weinheim, 2. Auflage 1996 – Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen Konfuzianismus und Taoismus, Tübingen 1920 – Politik als Beruf, Tübingen 1968 – Wirtschaftsgeschichte, München 1923 Weinacht, P.-L., Staat. Studien zur Bedeutungsgeschichte des Wortes von den Anfängen bis ins 19. Jahrhunderts, Berlin 1968 Weingast, B., The congressional-bureaucratic system. A Principal-Agent perspective, in: Public choice 44, 1984, 147–192 Weingast, B./Moran, M., Bureaucratic discretion or congressional Control. Regultating policymaking by the federal trade commissions, in: Journal of Political Economy, 1983, 765–800 Weingast, B. A., The Political Institutions of Representative Government: Legislatures, in: JITE 145, 1989, 693–703 Weis, E., Geschichtsschreibung und Staatsauffassung in der französischen Encyclopédie, München 1956 – Montegelas, Bd. 1, München, 2. Auflage 1988 Weiß, U., Das philosophische System von Thomas Hobbes, Stuttgart-Bad Cannstadt 1980

570

Literaturverzeichnis

Welcker, K. T., Erstes Buch, in: Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe, 1813, ND Aalen 1964 Welzel, H., Die Entstehung des modernen Rechtsbegriffs, in: Der Staat 8, 1969, 441– 448 Wendland, What has government done to our families?, in: Essays in political economy 13, Auburn 1991 Wendland, H., Deutsches Kaisertum, in: ders. (Hrsg.), Deutschland, Deutschland über alles, Leipzig 1886, 280 ff. Weralski, M., Finanse publiszne i pravo finansowe, Warschau 1984 Westphal, S., Stabilisierung durch Recht. Reichsgerichte als Schiedsstelle territorialer Konflikte, in: Freist/Asch (Hrsg.), Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, 235–254 Wetzel, H., Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, Göttingen, 4. Auflage 1962 Wicksell, K., Finanztheoretische Untersuchungen: Nebst Darstellung und Kritik des Steuerwesens Schwedens, dt. EA 1896, Aalen ND 1969 Widmaier, J. A., Joseph A. Schumpeter, in: Bleek, W./Lietzmann, H. J. (Hrsg.), Klassiker der Politikwissenschaft. Von Aristoteles bis Easton, München 2005, 137–150 Wilamowitz-Moellendorf, U. von, Aristoteles und Athen, Bd. 2, Berlin 1893 – Der Glaube der Hellenen, Bd. 1, Berlin 1931 Wilhelm, W., Die sozialistische Definition der Demokratie, München 2000 Wilkesmann, U., Gruppen und Sozialintegration, in: Leistungen und Grenzen PolitischÖkonomischer Theorie, Darmstadt 1992 Williamson, G. G./Lindert, P. (Hrsg.), American Inequalitiy: A macroeconomic history, New York 1980 Willke, H., Entzauberung des Staates, Königstein/Taunus 1983 – Heterotopia, Frankfurt am Main 2003 – Ironie des Staates. Grundlinien einer Staatstheorie polyzentrischer Gesellschaft, Frankfurt am Main 1992 – Wissensbasierung und Wissensmanagement als Elemente reflektierter Modernität sozialer Systeme, Frankfurt am Main/New York 1996, 191–209 Willoweit, D., § 5 Die Entwicklung und Verwaltung der spätmittelalterlichen Landesherrschaft, in: Jeserich, K./Pohl, H./von Unruh, C. (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1, 66–142 Wilson, R. K., The province of the state, London 1911 Winkler, H., Der lange Weg nach Westen. Erster Band: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, München 2000 Winter, G., Die Reorganisation des Preußischen Staates unter Stein und Hardenberg, Bd. 1, Leipzig 1983 Wolf, E., Griechisches Rechtsdenken, Bd. 3, 2, Frankfurt am Main 1956

Literaturverzeichnis

571

Woll, A., Wohlfahrtsökonomik – Von hohem didaktischen, aber geringem praktischen Wert, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 142 (1986), S. 760 ff. Wollmann, H., Lexikon der Politik, Bd. 2, in: Nohlen, D., Lexikon der Politik, Band 2, Politikwissenschaftliche Methoden, München 1994 Wollstein, G., Theobald von Bethmann Hollweg. Letzter Erbe Bismarcks, erstes Opfer der Dolchstoßlegende, Göttingen/Zürich 1995 Woodmann, A. J./Martin, D. H., The annals of Tacitus, book 3, Cambridge 1996 Wunder, B., Die Entstehung des modernen Staates und des Berufsbeamtentums in Deutschland im frühen 19. Jahrhundert, in: Leviathan 2, 1974 Wyduckel, D., Einleitung: Recht, Politik und Religion vor den Herausforderungen der Frühen Moderne, in: Carney, F./Schilling, H./Wyduckel, D. (Hrsg.), Jurisprudenz, Politische Theorie und Politische Theologie. Beiträge des Herborner Symposions zum 400. Jahrestag der Politica des Johannes Althusius 1603–2003, Berlin 2003 Yunis, H., Taming democracy: modells of political rhetoric in classical Athens, Ithaca (NY) 1996 Zangl, B./Zürn, M., Frieden und Krieg, Sicherheit in der nationalen und postnationalen Konstellation, Frankfurt am Main 2003 Zintl, R., Die libertäre Sozialstaatskritik bei von Hayek, Buchanan und Nozick, in: Kersting, W. (Hrsg.), Politische Philosophie des Sozialstaats. Weilerwist 2000, 95–119

Sachregister Die Begriffe Staat und Demokratie sind ausdrücklich nicht berücksichtigt. Absolutismus 43, 60, 120, 139, 158, 160, 161–165, 169, 182, 187 f., 193, 210 f., 224, 260, 273, 281, 384, 429, 470, 472, 497 Allkompetenz des Staates 54, 62, 100, 106, 114, 129, 131, 133, 153, 177, 183, 203, 269, 512 Allmacht des Staates 55, 129, 131–134, 175, 261, 263–265, 268 f., 322, 344, 469, 484 Altruismus 24, 59, 83, 196, 230, 328, 417 f., 483 Amt, Amtsträger 54, 67 f., 70, 72, 80, 82, 84, 94, 11, 120, 162, 201, 265, 323, 332, 340, 345, 367, 388, 423, 432 f., 448 f., 452, 468, 472, 489, 510 Anarchie 20, 59, 102, 11, 175, 189, 205, 268, 425, 459, 486 Anthropologie, anthropologische Konstanten 27, 56–58, 67, 80, 87, 103 f., 108, 113, 121, 142, 204, 227 f., 252 f., 271, 282, 310, 325, 356, 397, 406, 420, 486, 515 Antike, Altertum, Alte Geschichte 54– 56, 62–65, 67–71, 77, 79 f., 83 f., 86, 88–98, 126, 159, 182, 201, 211, 225, 239, 271, 336, 359, 391 f., 413, 421, 460, 473, 491 Arbeiter, Arbeiterstaat 248, 259, 344 f. Athen 63–67, 69–71, 73–75, 77–82, 96, 101, 210 f., 273, 359, 387, 413, 449 Atlantische Revolutionen 70, 225, 285, 368, 390, 394 f., 400, 424 Beamte, Beamtenstaat siehe Amt, Amtsträger

Bevölkerung, Bevölkerungspolitik 76, 82, 89, 132, 155 f., 167, 180, 186, 190, 200 f., 205, 216, 233, 235, 256, 261, 301, 319, 339–341, 354, 357, 369, 375, 377, 413, 435 f., 456, 464, 478 Bürger, Bürgertum 24 f., 49, 54, 63, 66, 69 f., 72–76, 80, 82, 90, 93, 95, 102, 126–128, 132 f., 136 f., 139, 143, 152, 153, 164, 169, 176, 183–185, 192, 198, 200 f., 206, 212, 214 f., 222 f., 226, 229, 232–234, 236–238, 246 f., 249, 257, 260, 265 f., 268, 271–274, 276, 279–282, 286–288, 290, 298, 300 f., 304, 322, 335, 339, 346 f., 352, 364, 370, 372, 378 f., 387, 393, 397–403, 407, 412 f., 415–417, 439, 441, 451 f., 459, 463, 476, 480, 484, 493, 500, 504 f., 509, 512, 515 f. Bürgerliche Gesellschaft 34, 36, 54, 67, 82, 102, 109, 112, 133, 136, 139, 150, 153, 159, 163 f., 169, 184, 198, 206, 222 f., 226, 229, 232–234, 258, 273, 277, 279–281, 285–288, 295, 297, 313, 325, 330, 339, 344, 346–355, 357, 372, 390, 393–402, 412, 463, 482, 492, 495, 498, 505, 509, 511, 515 f. Christentum 23, 82, 97, 116, 126, 212, 258, 406, 511 Civil society 284, 369, 401, 507, 514– 517 Daseinsbewältigung, Lebensbewältigung 54, 103, 127, 291, 351, 358, 481, 487 Daseinsvorsorge 152, 242–244, 287, 313, 319 f., 325, 342, 346, 381, 440, 513 Diktatur 92, 170, 239, 302, 354, 369, 380, 394, 405, 414, 442, 465

Sachregister Elite, 60, 75 f., 162, 204, 224, 259, 274, 322–326, 328 f., 352, 372, 377, 389, 407, 412, 414, 429, 439, 447 f., 457, 464, 478, 500 Elitismus 322–326, 328 f., 439, 464 England 26 f., 90, 95, 107, 118, 122, 133–135, 138 f., 141, 148 f., 160–165, 169, 180, 184, 196, 198, 216, 219 f., 222, 229, 232 f., 235, 245, 261, 266, 268 f., 275–277, 286 f., 294, 297, 301, 305, 307, 309 f., 313, 317 f., 323, 332, 336, 339, 341–343, 346, 352–354, 357, 359 f., 366, 370, 390 f., 394, 396, 401, 427, 431, 441, 460 f., 481, 487, 489, 491–494, 499, 509, 516 Evolution 26, 32, 36–39, 50, 56–58, 93, 124, 128, 143, 153, 170, 199, 209, 230, 232, 251, 253, 262, 292, 324, 362, 371, 377, 381, 384, 462, 495, 520 Exekutive siehe Regierung Finanzstaat, Finanzen 87 f., 135, 171– 184, 188 f., 192–194, 196–201, 205, 207, 259, 265 f., 286, 294, 296, 378, 467, 480, 489, 513 Föderalismus, Bundesstaat 70, 99, 118, 121, 132, 141, 143, 183, 200, 236, 289, 295, 331, 420, 458, 467, 512 Frankreich 22, 46, 98, 126 f., 139, 140, 147, 158–161, 163, 165, 180, 182, 194 f., 207, 220, 224, 226, 231, 233, 235, 273, 275 f., 282, 339, 381, 393– 396, 398, 403, 405 429, 431, 472, 477, 481, 491 f., 494 f., 498 Freiheit 19, 30, 49, 67, 75 f., 82, 104, 115, 127, 130, 132, 135, 150–152, 157, 160, 162, 166, 170, 180, 190, 192, 198 f., 207, 210, 213, 221, 226, 228, 236, 242–245, 247–249, 254, 258, 264–272, 274, 276–278, 280–283, 285 f., 292 f., 296, 299, 301, 306 f., 313, 318–321, 324, 327, 331, 335, 338, 344, 346–348, 350, 360 f., 364, 369, 371 f., 375, 383–386, 389, 391–396, 398 f., 410 f., 414, 419, 421–427, 433 f., 437–440, 442–444, 461, 463,

573

468, 473, 477–480, 482, 484–486, 494, 501 f., 506, 509, 511, 515 Frieden 61, 100, 106, 109, 132, 161, 168, 211, 213, 217, 232, 246, 256, 260, 263, 268, 286, 302, 307, 309, 362, 413 Führer 69, 112, 265, 313, 345, 348 f. Führerstaat 112, 311, 345–350 Fürstenstaat 120, 126, 132, 153, 158, 160, 165 f., 170, 193, 274 f., 427 Gebühren, Gebührenstaat 87 f., 151 f., 184, 196, 198–200, 207, 264, 441, 467 Gefangenendilemma 19, 21, 23–25, 27, 29, 31, 33, 37, 46 f., 49 f., 50, 59–61, 64–66, 68, 89, 102, 104, 113, 115, 122, 125, 129–131, 133, 143 f., 147, 154, 165, 167–169, 173 f., 176, 179, 193, 195, 197, 207, 214 f., 227–230, 232, 235, 240, 243, 250–252, 259, 216, 267, 271, 278, 282, 289, 293–295, 307, 323, 328 f., 332, 336, 358, 360, 364, 366, 381, 385 f., 389–391, 394 f., 401, 405 f., 409, 413–415, 417 f., 421, 436, 453–455, 464, 470, 483, 485, 488 f., 493, 496, 511, 514, 516 f., 519, 521 Geheimnis, Geheimhaltung, arcana 64, 84, 86, 154 f., 163 f., 298, 325, 359, 402 f., 435, 472, 474, 492, 498, 501, 506 Gemeinwohl 20, 24, 26, 49 f., 60, 94, 103, 121–123, 126 f., 129, 136, 145, 149, 155, 159, 162, 179, 183 f., 192 f., 196 f., 209, 211, 214–216, 218 f., 221, 226, 231, 240, 245, 250, 266 f., 270 f., 274, 283, 285, 296 f., 299, 304, 316, 319, 331–333, 335, 338, 340, 346, 350, 380–382, 394–396, 398, 405, 407–410, 414, 419 f., 432, 437, 439 f., 445, 453, 455, 470, 472, 474, 479, 483, 491, 493, 504, 510 f. Gerichte siehe Justiz Gesetz (juristisch), Gesetzesstaat 21, 23, 50, 66, 72, 78, 80, 95, 101, 138, 147– 149, 153, 162, 165–169, 174, 178, 180 f., 188, 190, 211, 220, 226, 273, 275, 278–282, 285, 298, 314, 317, 327,

574

Sachregister

329, 341 f., 348, 350, 354, 360, 364, 372, 393, 402, 417, 418, 421, 428, 432, 439 f., 445, 451 f., 460, 463, 466, 468– 470, 478, 492–494, 496 f., 503, 513 Gewährleistungsstaat 37, 286, 293, 316 f., 513 Gewalt 19 f., 25, 27, 55, 59 f., 67, 71 f., 75, 80, 82, 85 f., 95 f., 98, 100 f., 104 f., 111 f., 118 f., 125, 127 f., 132 f., 140 f., 145 f., 151 f., 158, 184 f., 187, 191, 197, 200, 205, 210, 212, 214, 217, 220 f., 223 f., 228, 232, 234, 236, 242, 248 f., 258 f., 262 f., 269, 272, 274 f., 277, 280, 288, 295, 308, 310, 313, 3119, 321, 323, 326, 333, 336, 338, 340 f., 345 f., 349 f., 358 f., 362 f., 367 f., 379, 388 f., 394, 397, 399, 404 f., 408 f., 413, 415, 421, 433, 440, 445, 449 f., 452, 455 f., 459, 462, 465, 467, 479 f., 491, 497, 505, 513 f., 520 Gewaltenteilung 53, 101, 118, 120 f., 138, 147, 188, 216, 277, 326, 328, 331, 333, 388, 390, 413, 420, 455, 479, 482, 505, 508 Gleichheit 24, 65, 70, 72, 74, 76, 78, 101, 139, 181, 183, 186 f., 206, 210, 225, 239, 247, 254, 259 f., 278, 280 f., 294, 303, 306 f., 317, 321, 323, 354, 356, 387, 389, 395, 398, 406, 421 f., 439, 441, 444, 451 f., 456, 459, 463, 468, 478, 519 Großbritannien 130, 173, 260, 273, 286, 328, 335, 380, 398, 403, 429, 436, 446, 463, 504 Herrschaft 41, 48, 54 f., 61, 63 f., 68 f., 85 f., 96 f., 106, 108, 113, 117 f., 125 f., 132 f., 136 f., 144 f., 153, 156, 158 f., 170, 181 f., 185, 188, 204 f., 210, 212 f., 216, 218 f., 222, 224, 226, 232 f., 242, 254, 265, 274 f., 281 f., 295 f., 299, 307, 314, 323 f., 328 f., 331 f., 338 f., 344 f., 352 f., 357, 359, 362 f., 372, 374, 377, 383, 385, 387 f., 400 f., 409, 411 f., 420, 422 f., 427 f., 438 f., 442 f., 445 f., 455, 457 f.,

471 f., 475, 480, 486, 491, 493, 495, 500, 502, 510 f., 515, 518 Idee, Ideengeschichte 21, 23 f., 27, 33, 38 f., 45 f., 54, 65, 67, 69 f., 74 f., 77, 85, 104, 112, 114, 133, 151, 165, 169, 183 f., 205, 215, 219 f., 224 f., 231, 234, 244, 264, 268, 273, 277, 280, 282, 285, 333, 336 f., 345 f., 379 f., 385, 387 f., 393, 396 f., 400, 402, 408, 411, 427 f., 440, 442, 447, 460 f., 466, 468, 476, 478, 481 f., 491, 494 f., 499, 507, 509, 512, 517 Identitäre Demokratie 404 Industriestaat 249, 307 f., 311 Information 41, 44, 64, 113, 131, 134, 153 f., 158, 165, 209, 244, 255, 259, 264, 289, 294 f., 318, 358, 365, 378 f., 415, 417, 421, 432, 438, 447, 450, 452, 459, 494, 499, 503 f. Institution, Institutionenökonomik 20, 24, 29 f., 33, 35 f., 40 f., 44, 47 f., 55 f., 59, 61 f., 67, 72, 80, 87, 89, 91, 94 f., 104 f., 107 f., 118 f., 121, 126 f., 133 f., 140, 143, 145, 147, 153, 156, 158, 160 f., 163, 168, 170, 177 f., 182, 210, 216 f., 225, 227, 229 f., 236, 238, 245 f., 248, 250 f., 258, 262, 265, 269, 277 f., 281, 283 f., 288, 290 f., 298, 304, 319, 321, 324 f., 337 f., 341, 343 f., 347, 349, 354, 358, 361 f., 376 f., 383, 390, 397 f., 401, 404 f., 410, 414, 416, 420, 429 f., 436 f., 440, 442 f., 448 f., 452, 460 f., 463 f., 466 f., 469, 472 f., 476, 480, 482, 491 f., 494 f., 505, 507, 509 f., 514 f., 517 Integration 20, 30, 45, 117 f., 146, 216, 220 f., 235 f., 239, 258 f., 289, 313, 324, 330, 342 f., 389, 408, 416, 420, 439, 445, 454, 492, 510 Israel 273, 398, 460 Italien 101, 119, 171, 212, 282, 332, 347 Justiz, Justizstaat 66, 85, 100 f., 118, 137 f., 148, 152, 172, 197, 257, 281,

Sachregister 284–286, 320, 327, 341–343, 368, 443, 480, 482, 492 Kirche 54, 97 f., 101, 103, 114, 126, 151, 171, 231, 290, 297, 303, 330, 332, 354, 361, 383, 409 f., 418, 515, 518 Klassenstaat 240, 350 f., 354 f., 394, 502 Kollektivgüter 22, 24, 27, 32 f., 36, 49, 51 f., 55, 62 f., 69, 71, 82, 84 f., 90, 94, 96 f., 100 f., 110, 123, 136 f., 148, 156, 162, 174, 184, 186 f., 191 f., 195 f., 198, 200, 233, 235, 243, 247 f., 251, 168, 274, 282 f., 287 f., 306, 309, 311, 313, 317 f., 325, 330, 342, 358, 360, 363 f., 371, 380 f., 384, 386, 401, 410, 416 f., 420, 426, 432 f., 440 f., 443 f., 456 f., 466 f., 471 f., 474, 480, 485, 487, 490, 493, 497 f., 500, 506 f., 509, 513 f., 517 f. Kommunismus, Marxismus 59, 112, 189, 218, 243, 294, 295, 300, 305, 344, 345, 347, 350 f., 353, 355 f., 365, 387, 394, 405, 515 Konkordanzdemokratie 222, 447 Konkurrenz 55, 60, 82, 111, 121, 146, 162, 191, 222, 245, 312, 326, 329, 333, 341, 356, 369, 381, 387, 407, 443, 447, 456 Konkurrenzdemokratie 222, 447 Konsens, Konsensdemokratie 57, 112, 207, 222, 300, 305, 329, 341, 376, 386, 434, 447, 456, 463, 470, 474, 508, 515 Konziliarismus 100, 422 Koordination 32, 55, 97, 113, 116, 118, 143, 200, 205, 209, 227, 251, 258, 269, 285, 295, 393, 408, 488, 493, 521 Krieg 23, 43, 58, 64 f., 68, 77, 79, 90, 96, 107, 116, 118, 127, 133, 147, 157, 159, 161 f., 168, 177 f., 180, 189, 194, 201 f., 212 f., 217 f., 222, 226, 232, 260 f., 272, 287, 292, 294, 297, 300, 308, 312, 336, 343, 347 f., 352, 354, 364, 371, 403, 405 f., 430, 442, 446, 463, 472, 502, 509, 518 Kultur 22, 26 f., 33, 35, 38, 55 f., 62, 81, 85 f., 88, 97, 103 f., 108, 110, 117,

122, 128, 132 f., 137, 164, 193, 219, 222, 231, 235, 247, 280, 288, 308, 312, 316, 338, 353, 362, 371 f., 380, 385, 391, 408, 410 f., 446 f., 456, 459 f., 468, 480, 518 f. Kulturstaat 288, 467

575 203, 296, 366, 428, 495,

Lebensbewältigung, siehe auch Daseinsbewältigung 54, 103, 127, 291, 351, 358, 481, 487 Legislative 126, 147, 259, 282, 318, 326, 389 f., 420 f., 470, 503 Liberalismus 150 f., 185, 192, 225, 238, 257, 260, 272, 300, 344, 354, 402, 482 Macht, Machtstaat 20, 25 f., 44, 54 f., 59, 67, 71 f., 74, 77, 82 f., 91, 93 f., 97 f., 105 f., 108, 111 f., 114, 116, 120 f., 126, 129, 131 f., 138, 140, 143, 147 f., 152 f., 158 f., 161 f., 166 f., 169, 172 f., 188, 195, 197, 202, 205 f., 208 f., 220 f., 225, 230 f., 233 f., 236, 248, 258 f., 261, 263 f., 276 f., 283 f., 290 f., 293 f., 303, 308, 313, 317 f., 320 f., 329, 332, 338 f., 343 f., 349 f., 353 f., 359, 365 f., 389, 396, 402, 404, 407 f., 410 f., 416, 418 f., 428 f., 432, 434 f., 439, 451 f., 455 f., 467, 470, 474, 478 f., 484, 493 f., 501, 510, 513 f., 517, 519 f. Masse 66, 74 f., 83, 85, 130, 206, 217, 221, 224, 249, 257, 263, 308, 312, 345, 347, 351 f., 356, 371, 375, 378, 393 f., 411, 425, 444, 448, 459, 468 f., 477, 493, 505, 515 Mehrheit, Mehrheitsprinzip 69 f., 73, 79, 82, 137, 218, 226 f., 256, 259 f., 293, 326 f., 329, 345 f., 362 f., 367, 370 f., 380 f., 397, 402, 404 f., 410, 416, 419 f., 422 f., 427 f., 435 f., 440 f., 451 f., 461, 463 f., 471, 506, 518, 520 Mensch, species 23, 37, 29, 36, 39, 47, 71, 74, 80 f., 84, 103 f., 110, 113, 124, 127, 129, 132, 135, 146, 154, 175, 185, 190, 192, 205, 208 f., 121, 224 f., 227, 230, 236, 246 f., 253 f., 270 f., 280 f.,

576

Sachregister

298, 307, 324, 328, 356, 360, 363, 376, 384, 386, 389, 395 f., 398, 406, 415, 418, 422 f., 428, 437, 446, 458, 464, 475, 485 f., 497, 508, 511 f., 516, 518 f. Militärstaat 201, 203, 205 f., 210, 223 Minderheit 73, 130, 227, 326, 364, 366, 378, 380, 389 f., 405, 416, 419 f., 422, 424 f., 435 f., 444, 450, 463, 484, 520 Mittelalter 41, 54, 56, 92, 96 f., 107, 114 f., 122, 130 f., 139 f., 143 f., 159, 166, 171, 174, 182, 202 f., 206, 212, 217, 225, 236 f., 240, 254, 269, 278, 282, 289, 313, 332, 335, 338, 362, 391, 398, 412, 458, 460, 473, 480, 482 Moderne 19 f., 23, 25, 27, 30, 34 f., 42 f., 47 f., 51 f., 60, 62 f., 68 f., 74, 81, 83, 86 f., 95 f., 103, 106 f., 124 f., 135 f., 139, 141 f., 149 f., 163, 167 f., 181 f., 188, 193 f., 199, 201 f., 205 f., 209 f., 213 f., 217 f., 220 f., 225, 229 f., 232 f., 242 f., 246 f., 252 f., 257 f., 267 f., 273 f., 277, 280 f., 287, 290 f., 294 f., 302, 304, 307 f., 319, 322 f., 326, 329, 331 f., 338 f., 343, 346 f., 349 f., 352 f., 358 f., 362, 364, 367 f., 372, 383 f., 388, 390 f., 400 f., 407, 411 f., 415 f., 420 f., 423, 425, 427, 429, 433, 436 f., 439, 441 f., 448 f., 455, 457 f., 461, 463, 465 f., 473, 478 f., 488, 490 f., 493 f., 496, 499 f., 506 f., 512, 514, 516 f., 520 Nation, Nationalstaat 20, 48, 57 f., 69, 89, 96, 98, 108, 123, 126 f., 133, 140, 142 f., 152, 158 f., 168, 180, 183, 204, 207 f., 213, 217, 219 f., 224 f., 248, 253, 261, 264, 275, 287, 289, 291, 302, 309, 347, 352 f., 359, 371 f., 375, 394, 399 f., 409, 415, 420 f., 432, 437, 442, 450, 466, 468 f., 481 f., 484, 493, 495, 500, 508 f., 518 f. Nationalsozialismus 96, 112, 156, 236, 242, 265, 280, 345 f., 350, 394, 405, 447, 518 Natur 38, 57, 60 f., 68, 76, 94, 104, 107, 113 f., 116, 120, 127, 131 f., 142, 147,

154, 161, 167, 194, 199, 203, 217, 235, 241, 154, 262, 268 f., 272, 282, 284 f., 297 f., 308, 310, 334, 346, 355 f., 368, 390 f., 396, 399 f., 406, 428, 449, 493 f., 508, 512, 515 Neuzeit, Neuere Geschichte 25, 34, 41, 43, 54 f., 67, 78, 81, 84, 88, 91, 94, 100 f., 110, 114, 116 f., 119, 126, 131, 141, 144 f., 147, 167, 170 f., 174, 182, 189, 201 f., 206, 209 f., 217, 222, 232 f., 237 f., 247, 262, 269, 291, 398 f., 313, 332, 348, 358, 371, 382, 387, 390 f., 397, 403, 422, 427, 429, 459 f., 472, 491, 498, 512, 520 Nichtregierungsorganisation, NGO 517 Norm 23, 40, 44, 52, 55, 60, 66, 101, 116, 121, 128, 134, 14, 147 f., 153 f., 167, 180, 183 f., 239, 241, 252 f., 267, 274, 285, 287, 303, 316, 320, 326, 340, 364, 393, 434, 451, 460, 496 f., 499, 508 Obrigkeit, Obrigkeitsstaat 136 f., 143, 150 f., 153, 160, 163 f., 166, 168, 179, 188, 205, 220 f., 223, 225, 233, 242, 247, 264, 267, 276, 278, 284, 323, 338 f., 346 f., 368, 395 f., 452, 464, 483 Öffentliche Meinung, opinion publique 64, 66, 112, 139, 154, 165, 241, 246, 256, 357 f., 362, 419, 433, 448, 473 f., 492 f., 500, 503 f., 521 Öffentlichkeit 22, 28, 30, 32 f., 40, 49, 64, 122, 136, 139, 163 f., 190, 232, 258, 266, 278, 281, 285, 308, 320, 334, 358, 365, 382, 434, 446, 471 f., 475, 491 f., 498 f., 502 f., 506, 509, 518 Opposition 123, 419 f., 457, 498, 501 f., 506 Ordnung 23, 30, 25, 37, 41, 43, 49 f., 55, 57, 62, 68, 70 f., 80, 88, 92 f., 98 f., 106 f., 109, 111, 118, 127 f., 133, 137, 140, 145, 150 f., 153, 155, 161, 166, 168, 170, 177, 185, 192 f., 197, 202, 204, 211, 217, 222, 225, 227, 231, 234, 238 f., 243, 245, 256, 261, 264, 272 f., 283, 286 f., 300, 304 f., 313, 317, 321,

Sachregister 324, 327 f., 336, 339, 343, 347 f., 353 f., 357, 363 f., 374, 376, 383, 385, 387 f., 395 f., 401, 404 f., 411 f., 415, 427, 440, 447, 449, 461 f., 477, 490, 494, 496, 510, 512, 519 Parlament, Parlamentarische Demokratie, Parlamentarismus 80, 84, 118, 133 f., 137 f., 148, 161, 164, 169, 171 f., 181, 188, 219, 233, 236, 259, 266, 272, 275 f., 284 f., 304, 317 f., 324, 329, 331, 334, 341, 343, 347, 368, 370, 379, 398, 402, 408, 415 f., 418, 420 f., 429, 431 f., 436, 449 f., 454, 457, 470, 472, 474, 494, 498, 503, 510, 512 Parteien, Parteienstaat 124, 131 f., 197, 213, 265, 271, 312, 323, 325, 327, 329 f., 334, 337, 351, 371, 395, 419, 429, 438, 446, 448, 451 f., 457, 466, 484, 505 f. Partikularinteressen 22, 47, 60, 71, 83, 91, 96, 116, 136, 151, 154, 162, 168, 184, 197, 208, 214 f., 241, 263, 266 f., 271, 283, 291, 296, 303 f., 321 f., 332, 335, 341, 352, 355, 365, 382, 386, 409, 433, 436, 455, 470, 473, 479, 483, 490, 495, 510 f., 516, 520 f. Partizipation 69, 75, 77, 80, 100 f., 121, 210, 225, 232, 259, 306, 325, 363, 369, 377, 383 f., 388, 407, 410 f., 414, 424, 426, 454, 466, 471, 478, 480, 500 Physiokratie, Physiokratismus, Physiokraten 113, 116, 354, 492 f., 500 Politik 25 f., 31, 34 f., 38 f., 42, 45, 47, 52, 54, 61 f., 66, 68, 70, 74, 76, 79 f., 83, 86 f., 100, 103, 105 f., 109 f., 114, 116 f., 119 f., 125 f., 132 f., 138, 150, 155 f., 161 f., 168 f., 172, 176, 179, 181 f., 186 f., 189, 192 f., 200, 203 f., 206, 209, 211, 217 f., 221, 224, 226, 231, 234, 238, 241, 243 f., 257 f., 260, 262, 265, 267, 280, 284, 289, 291 f., 296 f., 299 f., 308 f., 319 f., 325, 329, 331, 336 f., 343, 345, 351 f., 358, 365 f., 369 f., 374, 379, 381, 386, 394 f., 398, 403 f., 407, 409, 411, 415, 417, 419 f., 428, 430 f., 442 f., 445,

577

448, 450, 455 f., 462, 464, 466, 469 f., 472 f., 476, 478, 480, 482 f., 489 f., 492, 494, 496, 499, 501 f., 512 f., 517, 519 Politische Kultur 56, 117, 137, 222, 280, 362, 371, 408, 411, 413, 446 f., 460 f., 480 Polizei, Polizeistaat 21, 27, 37, 135, 139, 141 f., 149 f., 172, 195, 208 f., 211, 216, 261, 266 f., 310, 395, 445, 488 Polyarchie 349, 403, 407, 452 Postmoderne 21, 131, 133, 144, 221, 271, 314, 403, 459, 466, 478, 492, 507 f., 512 Preußen 84, 143, 153, 194, 219 f., 234, 272, 275, 281, 332, 334, 338 f., 395, 492 Principatus, Prinzipat 54, 81, 83 f., 209, 432 Rationalisierung 30, 32, 36, 38, 53, 56, 63, 71, 81 f., 93 f., 101, 103 f., 108 f., 113 f., 120 f., 123, 125, 127 f., 140, 144, 150, 157, 159 f., 164, 166 f., 170, 172 f., 175, 178, 181, 193, 195, 197 f., 203, 205, 207, 213, 221 f., 228, 235, 238, 240, 247, 250, 283 f., 290 f., 293 f., 300, 303, 309, 315, 318, 325, 332, 344, 348, 355 f., 358 f., 361 f., 365, 367, 371, 376 f., 383, 387 f., 419, 423, 437, 439, 443, 447, 452, 454 f., 469 f., 474, 477, 481 f., 484 f., 487 f., 491 f., 500, 509, 511, 516, 519 f. Rationalität 32 f., 43, 47, 98, 102, 110, 114, 116 f., 120 f., 124 f., 148, 168 f., 176, 195, 214, 219, 231, 236, 246, 252, 285, 326, 344, 350, 367, 369 f., 377, 389, 407, 430, 444, 474, 483 f., 495, 507 Rechtsprechung siehe Justiz Rechtsstaat 37, 120, 130, 137, 151, 157, 169, 176, 179, 193, 199, 211, 214, 219, 226, 243, 248, 255 f., 268, 270, 273, 279 f., 284 f., 299, 326, 341, 346, 348 f., 353 f., 376, 384, 394 f., 402, 423, 437, 470, 477, 501, 506, 518, 521

578

Sachregister

Regierung, Exekutive 42, 67, 79, 101 f., 120, 123 f., 132, 137 f., 147 f., 150, 152, 157, 160–163, 167 f., 175, 186, 193, 195, 205, 215 f., 218, 220, 223, 234, 252, 259 f., 266, 268, 270, 274, 276 f., 285, 320, 323 f., 326, 336 f., 343, 347 f., 363 f., 370, 375, 378 f., 384, 388–390, 392, 395, 397, 401, 403–406, 409, 411–416, 418–420, 431, 438, 447, 449–453, 456 f., 468–470, 472, 474, 477, 479, 493 f., 497 f., 503 f., 506 f., 512, 517

Schutz, Schutzstaat 49, 80, 89, 100, 151, 154, 168, 172, 179, 195, 201, 209, 212, 223, 264, 271, 282, 286 f., 296, 307 f., 312, 315, 321, 327, 360, 367, 386, 389 f., 405 f., 417, 425, 435 f., 438 f., 444 f., 490

Regulierung, Regulierungsstaat 25, 85, 91, 94, 140, 153, 164, 170, 191, 234 f., 242, 254, 258, 278, 283, 286 f., 290, 295 f., 309 f., 316 f., 342, 374, 439, 443, 488, 510

Sozialstaat 37, 53, 83, 114, 143, 183, 186 f., 197, 200, 237 f., 243, 247 f., 252 f., 264, 272, 280, 298 f., 303, 305, 314, 321, 323, 353, 369, 376, 395, 401, 427, 435, 489, 506

Religion 97, 99, 113, 126 f., 173, 230, 297, 409 f., 423, 428, 495, 518 f. Republik, Republikanismus 70, 83 f., 87, 100, 119, 142, 174, 190, 194, 196 f., 199, 209, 224, 226, 229, 240, 243, 245, 255, 257, 261, 269, 274, 278, 282, 289, 292, 297, 305, 311, 315, 318, 323, 327, 330, 335 f., 339, 343, 347, 349 f., 378, 392, 398, 407, 409 f., 412 f., 417, 419, 435, 441, 445 f., 449, 459, 466, 472, 474, 476, 478, 488, 504, 509 Revolution 58, 61, 70, 127, 133, 159 f., 162, 170, 178, 185, 194, 207, 210, 220 f., 224 f., 233, 235, 245, 282, 306, 352, 354, 357, 368, 387, 390, 393 f., 398, 400, 405, 411, 424 f., 439, 477, 493, 495 Risiko, Risikostaat 152, 186, 198, 205, 242, 257, 263, 288, 307 f., 310, 313, 378, 400, 404, 407, 409, 441, 446, 480, 498, 503 Rom, Römisches Reich, imperium Romanum 62, 64, 70, 81 ff., 85 f., 89 f., 93, 95, 100, 102, 174, 209, 220, 346, 437 Säkularisierung 102, 113, 127 f., 159, 398, 427 Schulden, Schuldenstaat 171, 188 f., 194, 196, 291 f., 302

Sicherheit 27, 51, 64, 82 f., 87 f., 90, 100, 114, 127, 151 f., 159, 166, 168, 185, 191, 201, 205, 207 f., 215 f., 221, 228, 231, 253, 255 f., 259, 264, 283, 286, 301, 307, 313 f., 317, 320, 351, 361, 367, 396, 417, 455, 508, 514 175, 245, 288, 326, 437,

Spiel, Spieltheorie 23, 28 f., 35, 39, 47, 83, 87, 91, 130 f., 136, 143, 145, 148, 152, 154, 165, 170, 173, 176, 178 f., 193, 227 f., 242, 250 f., 259, 285, 293, 295, 322, 324, 327, 333, 335, 339, 342, 365, 386 f., 402, 418, 420 f., 423 f., 436, 438, 454 f., 461, 463 Staatsausdehnung 19 f., 31, 114 f., 134, 140, 149, 179 f., 184, 188, 199 f., 247, 249, 255 f., 274, 286, 291 f., 391, 393, 432, 439, 455, 470, 482, 484, 487, 489, 520

120, 194, 288, 458,

Staatslehre 21, 44, 48 f., 101, 103, 110, 133, 147, 211, 265, 393, 470, 491, 510, 516 Staatsraison 85, 148, 155, 168 f., 205, 210 f., 229, 396, 481, 520 Staatsrecht 31, 40, 47, 51 135, 166, 183, 193, 197, 256, 261, 276, 315, 318, 368, 379, 385, 390, 396, 502, 510

f., 95, 238 f., 348 f., 449 f.,

105, 245, 353, 487,

Ständestaat 133, 158, 163, 203, 206, 351, 414, 433 Steuer, Steuerstaat 24 f., 27, 85–87, 94, 97, 106, 110, 133, 146, 148, 155, 169, 171 f., 174 f., 192 f., 206 f., 215, 219, 230, 232, 241, 247, 272, 295, 298 f.,

Sachregister 301, 340, 344, 351 f., 379, 441 f., 48, 497 Subordination 98, 143, 200, 217, 493 Subsidiarität 31, 99, 131, 143, 200 f., 241, 243, 270, 286, 288, 483, 487 f., 507, 511, 515

467, 393, 175, 298,

Territorialstaat, Territorium 37, 41, 63, 69, 98, 132 f., 139, 141, 143, 148, 150 f., 155, 182, 201, 205, 212, 232, 332, 396, 415, 442, 444, 469 Totalitarismus 68, 88, 91, 92, 112, 115 f., 126 f., 133, 137, 142, 168, 195, 205, 212 f., 236, 239, 243, 253, 263, 265, 279, 292, 322, 343 f., 347 f., 355, 364, 368 f., 392 f., 395 f., 400, 402 f., 411 f., 424, 456, 463, 475 f., 498, 501, 504 f., 515 Umweltschutz, Umweltstaat 246, 307 f., 310 f., 315 USA 35, 68, 131, 138, 178, 183, 185, 194, 209 f., 261, 276, 289, 306, 308, 319, 331, 360, 373, 377, 401, 403, 406, 412, 429, 470, 481, 490, 511, 518 Verfassung, Verfassungsstaat 48, 51, 65, 67 f., 80, 95, 105 f., 118, 127 f., 131, 134, 137 f., 151, 158 f., 167, 173, 183, 190, 199, 209, 212, 219, 223, 225, 229, 255, 265, 268 f., 282, 284 f., 290, 306, 313, 318, 326 f., 335, 343, 345 f., 352 f., 362, 365, 367, 372 f., 375 f., 385, 391 f., 394, 397 f., 406, 410, 413 f., 418 f., 421, 431 f., 441, 443, 449, 458, 460 f., 464, 467 f., 480, 490, 501 Veröffentlichung 32, 79, 110, 115, 149 f., 155 f., 207, 232, 235, 241, 245, 251, 256, 258, 273, 309, 334, 356, 404, 472, 475, 481, 484, 487 f., 491, 494, 520 Versorgung, Versorgungsstaat 24, 82, 187, 193, 198, 237 f., 261, 263, 279, 284, 287, 291, 301, 319, 375 f., 419, 485 f., 513, 520

579

Verteilung, Verteilerstaat 24, 76, 81, 87, 110, 143, 145, 168 f., 176, 186 f., 201, 207, 217 f., 250, 254, 257, 260, 261, 262, 277, 283, 298 f., 303, 305 f., 328, 344, 424, 429, 431, 439, 455 Vertrag, Vertragsdenken, Vertragstheorie 132, 231, 274 f., 307, 390 f., 394 f., 397, 405 Volk 57, 73 f., 83, 95, 102, 128, 132, 137, 201, 234, 274, 319, 326, 333, 335 f., 348, 379, 382, 384, 387, 392 f., 398 f., 402, 404, 417, 421, 424, 442, 451, 459, 464, 469 Volkssouveränität 69, 101 f., 148, 372, 297, 399 f., 413, 415, 469, 490, 500 Vormoderne 54 f., 69, 116, 122, 129 f., 168, 170, 177, 202, 230, 240, 247, 254, 274, 334, 338, 352, 354 Vorsorge, Vorsorgestaat 238 f., 241 f., 244, 250, 278 f., 288, 310 f. Wahlen 29, 145, 176, 218, 237, 329, 364, 367, 370, 375, 378, 393, 399, 403, 407, 410, 415, 419, 429, 434, 440, 444 f., 447 f., 457 f., 460, 463, 466, 469 f., 472 Wissenschaft 21, 28, 32, 39, 41, 42, 43, 51, 97, 123, 128, 134, 155, 229, 258, 262, 325, 352, 373, 429, 433–435, 472 f., 500, 501, 502, 503 Wohlfahrt, Wohlfahrtsstaat 109, 127, 151, 159, 237, 245, 247 f., 260 f., 263, 264, 298, 302, 322, 358, 361, 364, 396, 472, 481, 485, 506, 512, 513

126, 250, 330, 493,

Zentralisierung 54, 62, 80, 109, 139, 140, 145, 157, 338, 359, 427 Zwang, Zwangsgewalt 24, 55, 64, 81, 85, 104, 105, 107, 112, 125, 128, 135, 178, 187, 200, 223, 224, 228, 232, 248 f., 272, 345, 358 f., 362 f., 367 f., 388 f., 397, 410, 413, 433, 440, 449 f., 455 f., 459, 465, 480 f., 491, 514, 516, 520