Gesichter des Einzigen: Max Stirner und die Anatomie moderner Individualität [1 ed.] 9783428528851, 9783428128853

"Mir geht nichts über Mich!", lautet das "egoistische" Credo der Titelfigur in Max Stirners (1806 -

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Gesichter des Einzigen: Max Stirner und die Anatomie moderner Individualität [1 ed.]
 9783428528851, 9783428128853

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Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 158

Gesichter des Einzigen Max Stirner und die Anatomie moderner Individualität

Von

Alexander Stulpe

a Duncker & Humblot · Berlin

ALEXANDER STULPE

Gesichter des Einzigen

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 158

Gesichter des Einzigen Max Stirner und die Anatomie moderner Individualität

Von

Alexander Stulpe

a Duncker & Humblot · Berlin

Der Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin hat diese Arbeit im Jahre 2007 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2010 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 978-3-428-12885-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für Hanna und Arthur und für meine Eltern

Maybe I will never be All the things that I want to be But now is not the time to cry Now’s the time to find out why I think you’re the same as me We see things they’ll never see You and I are gonna live forever Oasis

Vorwort Nachdem ich einige Jahre mit der Abfassung der vorliegenden Schrift verbracht habe, freue ich mich, ihr nun anlässlich der Veröffentlichung ein paar Worte des Dankes vorauszuschicken für die Unterstützung, die ich erfahren habe, für Gelegenheiten, meine Überlegungen zu erläutern und so deren Plausibilität zu prüfen – als Lehrender und Lernender am Fachbereich Politikund Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin, der diese Arbeit 2007 als Dissertation angenommen hat, aber auch in vielen Gesprächen bei einer Tasse Tee oder einem gepflegten Bier – und für den dabei empfangenen Zuspruch und die Ermunterungen, möglichst bald alles in nachlesbarer Form vorzulegen. Hier ist es also, und ich danke: Prof. Dr. Arnhelm Neusüss und Prof. Dr. Gerhard Göhler für ihr geduldiges Vertrauen und die Worte, mit denen sie diese Studie gewürdigt haben, für ihre Anregungen und die ordentliche Ausbildung; den anderen Mitgliedern der Promotionskommission, PD Dr. Klaus Roth, Prof. Dr. Jürgen Bergmann und Prof. Dr. Bernd Ladwig, für eine Disputation, an die ich mich gerne erinnere, für inspirierende Momente davor und die gute Zusammenarbeit seitdem; Dr. Sascha Herms, Jens-Uwe Plank, Markus Hermanni, Thorsten Metter, Dr. David Strecker, Dr. Ulf Heinsohn, Peter Fischbach, Dr. Janoscha Kreppner, Ante Vukadin und Andi Hudl für ihre freundschaftliche Unterstützung und ihr motivierendes Interesse, Space Hall und dem Karrera Klub für die Musik; der Verlagsbuchhandlung Duncker & Humblot und insbesondere Herrn Lars Hartmann für das schöne Erscheinungsbild, das mein Text nun gewonnen hat; meinem Kollegen und guten Freund Dr. Gerd Harders, der neben vielen anderen Verpflichtungen und Projekten die Zeit gefunden hat, in einer entscheidenden Phase mein gesamtes Manuskript zu lesen und mit mir zu diskutieren, und dem ich wertvolle Hinweise verdanke, nicht zuletzt bezüglich der Abgabereife meiner Arbeit; Dr. Jörg Gölz, Ingrid Gölz und Greta Gölz für anregende Gespräche und die familiäre Geselligkeit in Berlin und Brandenburg, Ligurien und London; meinen Eltern Marie-Luise und Werner Stulpe, die mich von Anbeginn an in jeder Hinsicht unterstützt und immer wieder ermutigt haben, das vorliegende Werk, dessen tatsächlicher Zeitbedarf alle Erwartungen übertroffen hat, zu einem guten Ende zu bringen; meiner Freundin Hanna Gölz und unserem Sohn Arthur Stulpe, die mir den Rückhalt, die Kraft und die Zuversicht geben, ohne die ich dieses Buch nicht hätte schreiben können – mit ihnen zusammen freue ich mich über den Abschluss einer Arbeit, die uns lange begleitet hat. Weihnachten 2009

Alexander Stulpe

Inhaltsverzeichnis I.

Stirners Einziger und seine Rezeptionsgeschichte, der Einzige der Gesellschaft und das moderne Individuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Einzige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Stirner-Rezeptionsgeschichte – Grundzüge und Verlauf . . . . . . . . . 3. Wissenssoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Exklusionsindividualität, Individualitätssemantik, Interpretationsschemata, Individualidentitätsangebote: das Exemplarische und Symptomatische am Einzigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Geschichte und Gegenwart des Einzigen: die ‚Anatomie moderner Individualität‘ und ihr Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17 18 23 28

35 45

II.

Paradise Lost . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 1. Fragmente der Großen Erzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 2. Drei Kränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 a) Die kosmologische Kränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 b) Die biologische Kränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 c) Die psychologische Kränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 3. Der Narzißmus und das moderne Individuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 a) Kompensation, Regression und Realismus, entwicklungsgeschichtlich betrachtet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 b) Implikationen des biogenetischen Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . 92 c) Narzißtische Zustände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 d) Ideale und Wünsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 e) Moderner narzißtischer Kränkungsdruck als individuelle Last . . . . 114 4. Kränkung und Entzauberung: Ansichten der Moderne . . . . . . . . . . . . . . 119

III.

Narzißmus und Charisma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Narzißtische Kränkung, individualitätssemantischer Eskapismus und der All-Einzige als Charismatiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Soziale Phänomenologie und ideologische Affinitäten der Inflationsheiligen-Szene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Selbstdarstellungen und Machenschaften leibhaftiger All-Einziger: Haeusser und Konsorten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zeitgenössische Beobachtungen: klassische Charisma-Soziologie und Massenpsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Charisma in Webers Herrschafts- und Religionssoziologie . . . . . . . b) Der Narzißmus des Führers und das Begehren der Masse bei Freud . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

130 130 134 139 149 149 166

12

Inhaltsverzeichnis 3. Psychoanalytische Narzißmustheorie und Sozialpsychologie des Charismas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Größen-Selbst, Selbst-Objekte und narzißtische Übertragungen: Heinz Kohuts Theorie des Narzißmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Charismatische Herrschaft als narzißtische Pathologie: Stefan Breuers Sozialpsychologie der Sekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Soziale Konstruktion von Charisma: charismatische und charismatifikatorische Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kommunikationstheoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Annahme, Ablehnung und Erfolgsmedien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Wahrnehmung und Adresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Charismatische Kommunikation und Sektenform . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die charismatifikatorische Kommunikation und ihre vier strategischen Typen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Leben und Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Wirkung als Erlebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Inszenierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IV.

Der Wahnsinn, die Genialität und das Böse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Einzige in der Nervenheilanstalt: Ernst Schultzes „Stirner’sche Ideen in einem paranoischen Wahnsystem“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Stirners Bekanntheit und ihre Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Eine leibhaftige Einzige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Philosophie der Einzigkeit als Wahn und die Grammatik narzißtischer Pathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) All-einzige Selbstexemption vs. je-einzige Sozialreflexivität und die Paranoia als psychiatrisches Individualidentitätsangebot . . . . . . e) Askriptive Stirner-Deutung und Einzigkeit als Beobachtungsschema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Metaphysische Innenansichten, soziale Erfolgsaussichten und Extremismus des All-Einzigen nach Oskar Panizza . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Stirner und andere geniale Paranoiker: der infektiöse Wahn als Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Geniale Inspiration, psychotische Halluzination und gesunde Wahrnehmung aus psychopathologischer und psychopathischer Perspektive: Außen- und Innenansicht des Einzigen . . . . . . . . . . . . . c) Die solipsistische Metaphysik illusionistisch-dämonistischer All-Einzigkeit und ihre narzißtisch-kränkungsregressiven Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Der all-einzige Individualist als grandioses Individualidentitätsangebot: Idealisten, Helden, Heilige, Märtyrer und die Lizenz zum Töten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Böse und die all-einzige Struktur der Antisozialität . . . . . . . . . . . . .

178 178 191 199 199 200 201 203 205 215 221 228 236 245 260 260 267 269 271 283 289 293 296

304

313

325 342

Inhaltsverzeichnis

13

a) Josef Clemens Kreibig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 b) Eduard von Hartmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 V.

Der Einzige, der Anarchismus und die Gewalt: soziale Phänomenologie der Antisozialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Terrorismus und Anarchismus: zeitgenössische Evidenzen . . . . . . . . . . a) Ravachol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vaillant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Henry . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Georg Adlers Bestandsaufnahme: Anarchismus und individualistische Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Individualismus, Anarchismus und die ‚Propaganda der Tat‘ . . . . . b) Stirners ‚antimoralischer Anarchismus‘ und die anarchistische Gewalttradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Terrorismus, Individualismus, Gewaltverherrlichung und Décadence im Fin de siècle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Psychopathologie anarchistischer Antisozialität . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Konjunkturen, Konstruktionen und Konturierungen des Anarchismus und seiner Antisozialität im wissenschaftlichen Diskurs der Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ernst Zenker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) ‚Freiheit statt Sozialismus‘: das individualistische Ideal . . . . . bb) Idealismus, Individualismus, Zivilisation vs. Nihilismus, Terrorismus, Barbarei: Stirner vs. Bakunin . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Germanen, Romanen und die Propaganda der Tat . . . . . . . . . . . dd) Antisozialer Individualismus: die Pathologie des Antisemitismus und die All-Einzigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Revolutionäre Rivalitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Peter Kropotkin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Antisoziale und konterrevolutionäre Implikationen von Stirners Individualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Punktuelle Allianzen und doppelte Frontstellung des anarchistischen Kommunismus: gegen autoritären Kommunismus und Individualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Georg Plechanow . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Historisch-politische Kontexte: der Marxismus in Rußland und die Zweite Internationale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ideologie und Wahrheit, Utopismus und Wissenschaft, Anarchismus und Sozialismus: das ideologiekritische Paradigma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Das individualistische Prinzip und die Praxis des Anarchismus: Antisozialität des Einzigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Stirners ideologiegeschichtliche Bedeutung, seine Epigonen und der soziale Standort des Anarchismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Gefahren des Anarchismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

356 356 360 361 363 372 373 378 385 397

401 409 409 413 416 420 427 427 429

433 436 437

443 445 448 453

14

Inhaltsverzeichnis ff) Der Einzige als Denunziationsschema: Stirner und der Anarchismus als ideologiekritische Medien marxistischer Polemik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 gg) Der Anarchismus als Dekadenz-Symptom der untergangsgeweihten bürgerlichen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463

VI.

Außenseiter, Aristokraten, Avantgardisten und andere Individualisten – Stirner und Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Individualistische Panoramen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Antibürgerlicher Individualismus als Alternativkultur und Kulturkritik: Boheme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Selbstverständnis und soziale Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Selbstbeschreibungen und Distinktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Julius Hart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Bruno Wille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Erich Mühsam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Individualität als Devianz, Individualisierung durch Diskriminierung: der kulturzersetzende Individualist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Affinitäten des Individualismus – Variationen des Nonkonformismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Karl Joël . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Stanislaw Przybyszewski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) John Henry Mackay . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Abnormität als Individualität – Individualität als Abnormität . . . . . aa) Richard Freiherr von Krafft-Ebing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Hans Brennert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Helene Stöcker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Eduard von Hartmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Stirner und Nietzsche im Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Nietzsches Stirner-Kenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gegensätze und Übereinstimmungen aus Sicht von Befürwortern und Gegnern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Georg Simmel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Aristokratisches Ethos gegen Immoralität . . . . . . . . . . . . . . . (2) Formen des Individualismus und ihre Soziologie . . . . . . . . bb) Anselm Ruest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Aristokratische Voraussetzungen und Implikationen . . . . . (2) Ethische Maßstäbe und Divergenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Robert Schellwien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Benedict Lachmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Hermann Türck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Rudolf Steiner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Typologie des normativen Individualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

470 470 485 486 491 492 500 510 515 515 522 525 536 541 544 550 554 558 570 576 581 584 584 591 605 607 612 619 623 630 641 652

Inhaltsverzeichnis a) Universalistischer Individualismus: zwischen Objektivismus und Relativismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Partikularistischer Individualismus: vier typologische Ausprägungen und ihre Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Aristokratischer Individualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Elitaristischer Individualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Nonkonformistischer Individualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Avantgardistischer Individualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Relationen, Mischungen, Schlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Der Egoismus des Einzigen und sein Verein: soziale Bewegung, politisches Projekt, Ideologie und Gesellschaftsdiagnose vor und zwischen den Weltkriegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die je-einzige Struktur der sozialen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Karl Löwith . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Antibürgerliches Sozialmodell und revolutionäre Bewegung vor dem Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anarchismus als utopistische Sozialtheorie und soziale Bewegung aa) Rudolf Stammler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Paul Eltzbacher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Georg Adler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Integrationstheoretischer Gehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Subproletarische Ideologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Max Adler und die marxistische Ideologiekritik . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Franz Mehring . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Eugen Dietzgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Max Adler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Psychologische Ideologiekritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Anarchismus – Sozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Sozialdemokratische Intention und Organisation . . . . . . . . 3. Die ‚Verbürgerlichung‘ des Einzigen zwischen den Weltkriegen . . . . . a) Der zeitgemäße Einzige als Totalitarismuskritiker und Feind der neuen Bürgerfeinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Max Nettlau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Hans Sveistrup . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Anti-atomistische Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Anti-organizistische Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Philosophische und psychologische Affinitäten . . . . . . . . . b) Nach dem Untergang des bürgerlichen Individualismus . . . . . . . . . . aa) Kurt Adolf Mautz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Antiintellektualistische Lebensphilosophie und individualistische Ethik der Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Individualismus als Krisensymptom des bürgerlichen Bewußtseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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656 659 664 666 667 670 672

677 677 681 688 689 690 697 699 705 708 716 717 720 726 736 742 746 754 756 759 774 774 779 785 795 796 798 804

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Inhaltsverzeichnis bb) Meyers Lexikon 1936/39 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Max Horkheimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) „Egoismus und Freiheitsbewegung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) ‚Flaschenpost‘ und innerweltliche Transzendenz . . . . . . . . dd) Hans Mayer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Kritische Theorie vs. dualistische Sozialethik . . . . . . . . . . . (2) Ideologie der Mittelschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

810 820 822 824 838 839 847

VIII. Nachhuten der Avantgarden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vergangenheitsbewältigung und Kalter Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Guntolf Herzberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Alfred Schaefer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Hans G. Helms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Günther Anders . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Nach dem Ende der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Hans Magnus Enzensberger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der „Tanz ums goldene Selbst“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der letzte Individualisierungsschub des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . a) Hans Heinz Holz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Ideologische Beschränktheit und politische Folgen der Abenteuerlichen Rebellion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Der Einzige als Strukturmodell kleinbürgerlichen Bewußtseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Der Einzige als 68er . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Einzige der modernen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Semantische Selbstverständlichkeit und massenmediale Ubiquität . . b) Individualidentitätsangebote und psychische Systeme . . . . . . . . . . . . c) Rück- und Aussichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

856 858 860 863 867 873 882 885 892 902 906

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Stirners Einziger und seine Rezeptionsgeschichte, der Einzige der Gesellschaft und das moderne Individuum Wer die Tiefen des europäischen Gedankenganges von 1830–48 kennt, ist auf das meiste vorbereitet, was heute in der ganzen Welt laut wird. [. . .] Was heute explodiert, wurde vor 1848 präpariert. Das Feuer, das heute brennt, wurde damals gelegt. Es gibt gewisse Uran-Bergwerke der Geistesgeschichte. [. . .] Der arme Max gehört durchaus dazu. Carl Schmitt 19471 Ich schreibe, weil Ich meinen Gedanken ein Dasein in der Welt verschaffen will, und sähe Ich auch voraus, daß diese Gedanken Euch um eure Ruhe und euren Frieden brächten, sähe Ich auch die blutigsten Kriege und den Untergang vieler Generationen aus dieser Gedankensaat aufkeimen: – Ich streute sie dennoch aus. Macht damit, was Ihr wollt und könnt, das ist eure Sache und kümmert Mich nicht. Max Stirner 18442

Max Stirner wurde vor zweihundert Jahren, am 25. Oktober 1806, als Johann Caspar Schmidt in Bayreuth geboren. Er starb am 25. Juni 1856 in Berlin. In den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts wurde Max Stirner rezeptionsgeschichtlich ‚wiedergeboren‘: als Autor seines bereits 1844 veröffentlichten Hauptwerkes Der Einzige und sein Eigentum – nach Einschätzung Carl Schmitts der „schönste[], jedenfalls deutscheste[] Buchtitel der ganzen deutschen Literatur“3. Mit der sogenannten „Stirner-Renaissance“4 setzte eine einige Jahrzehnte währende Phase der verstärkten Beschäftigung und intensiven interpretatorischen Auseinandersetzung mit dem Autor des Einzi1

Schmitt (1950), S. 81. Stirner, EE, S. 331 – H. i. O. 3 Schmitt (1950), S. 81. 4 Helms (1966), S. 295, vgl. S. 296 ff. Helms bezieht sich auf Egon Friedell, der das Wort in seiner Kulturgeschichte der Neuzeit verwendete; vgl. Friedell (1927– 31), S. 1073. Die Metaphorik des ‚wiedergeborenen‘ und ‚wiederentdeckten‘ Stirner war aber bereits in den 1890er Jahren geläufig. 2

18

I. Stirners Einziger und seine Rezeptionsgeschichte

gen und seiner Figur des Einzigen ein.5 Mittlerweile sind Stirner und sein Buch, in dem der Junghegelianer einen Standpunkt entwickelt und vertritt, den er als ‚Egoismus‘ bezeichnet, weitgehend vergessen. Die vorliegende Arbeit trägt den Titel Gesichter des Einzigen. Max Stirner und die Anatomie moderner Individualität. Ihr Thema ist der Einzige, Stirners Titelfigur, in seinen mannigfaltigen Deutungen und Bedeutungen (1.). Ihr Untersuchungsgegenstand ist die Rezeptionsgeschichte Stirners, insbesondere die darin artikulierten unterschiedlichen Interpretationen des Einzigen in und seit jener ‚Stirner-Renaissance‘ im Ende des 19. Jahrhunderts (2.). Die hierbei zur Anwendung kommende theoretische Perspektive ist wissenssoziologisch, im Anschluß an die operativ-konstruktivistische Wissenssoziologie Niklas Luhmanns und dessen kommunikationstheoretisch-evolutionistische Systemtheorie der modernen Gesellschaft (3.). Dieser Sichtweise verdanken sich die noch näher zu erläuternden erkenntnisleitenden Thesen zur Exemplarizität und Symptomatizität der Rezeptionsgeschichte Stirners für die gesellschaftliche Konstruktion des modernen Individuums (4.). Der Erkenntnisanspruch der vorliegenden Untersuchung ist daher sozialwissenschaftlich und modernitätsdiagnostisch: Es geht hierbei, plakativ formuliert, nicht um das, was sich Stirner beim Einzigen gedacht hat, sondern um das, was sich die moderne Gesellschaft aus dem Einzigen gemacht hat – und aus Stirner –, und zwar im Interesse nicht an Stirner, sondern an der modernen Gesellschaft und ihrem Individuum. Darauf zielt die ‚Anatomie moderner Individualität‘ im Titel, und daran orientieren sich die Auswahl der zu untersuchenden Texte und der Aufbau dieser Studie (5.).

1. Der Einzige Der Einzige ist zunächst die junghegelianische Figur, die Stirner in seinem Text von 1844 theoretisch entwickelt. Als der Einzige kann aber ebenso jede einzelne rezeptionsgeschichtliche Spezifikation und Aktualisierung dieser Figur verstanden werden, die in den verschiedenen Interpretationen Stirners vorgelegt wird. Und als der Einzige kann schließlich auch die Gesamtheit dieser Interpretationen gelten, die in ihrer je internen Plausibilität, aber gegenseitigen Widersprüchlichkeit unterschiedliche Aspekte dieser Figur beleuchten. Dieser ‚Gesamt-Einzige‘ läßt sich als der Einzige der modernen Gesellschaft bezeichnen, und in dieser Bedeutung ist im Einzigen das moderne Individuum zu erkennen. Thema der vorliegenden Untersuchung ist dieser Einzige der modernen Gesellschaft in seinem Facetten5 Ist im Folgenden vom Einzigen die Rede, so ist damit Stirners Buch gemeint, während ‚der Einzige‘ sich auf die darin entwickelte Figur bezieht.

1. Der Einzige

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reichtum. Dieser Facettenreichtum bietet sich dar in der Vielgestaltigkeit des Einzigen in seinen Stirner-rezeptionsgeschichtlichen Interpretationen. Der Einzige erscheint hier beispielsweise als Anarchist, Übermensch, Psychopath, Sozialist, Kleinbürger, Intellektueller, Faschist, Genie, Paranoiker, Bohemien, Satanist, Existentialist, Individualist, Terrorist, Mittelständler, Totalitarismus-Kritiker, Solipsist, Prophet, Nihilist, Metaphysiker, und all dies in je unterschiedlichen Bedeutungen, Bewertungen und Kombinationen. So heterogen und widersprüchlich das Gesamtbild auch ist, kann sich gleichwohl praktisch jede einzelne dieser Deutungen des Einzigen auf die Evidenzen des Stirnerschen Textes berufen und sich als intern kohärente Interpretation präsentieren. Welche dieser jeweiligen ‚wahren‘ Interpretationen des ‚eigentlichen‘ Einzigen die angemessenste ist, also wer oder was der ‚wahre‘ Einzige Stirners ist, ist hier nicht weiter zu verhandeln. In wissenssoziologischer Perspektive interessiert nicht, was Stirner mit dem Einzigen gemeint hatte, sondern wie er verstanden wurde und worin die Relevanz des Einzigen gesehen wurde, als Stirner in der Stirner-Renaissance als ein aktueller Autor wiederentdeckt wurde. Denn in diesen Deutungen hatte der Einzige gesellschaftliche Bedeutung, in Gestalt dieser Interpretationen traf der Einzige gleichsam den ‚Nerv der Zeit‘. In modernitätsdiagnostischer Hinsicht ist dies das Interessante am Einzigen: daß die Gesellschaft sich etwas aus ihm gemacht hat und was die Gesellschaft sich aus ihm gemacht hat, weil dies etwas über die Gesellschaft aussagt. Dafür ist die Frage unerheblich, ob und inwieweit diese Interpretationen auch die Intentionen des längst verstorbenen Stirner trafen.6 Thema der vorliegenden Studie ist somit, bildlich gesprochen, der Einzige im Spiegel der Stirner-Rezeptionsgeschichte als Spiegel der modernen Gesellschaft. Bevor dies theoretisch präzisiert wird, ist zunächst der Einzige in Stirners Text von 1844 kurz in einigen Aspekten zu charakterisieren, damit deutlich wird, worauf sich Stirners Interpreten bezogen und auf welche Text-Evidenzen sie sich berufen konnten, wenn sie ihre jeweilige Version des Einzigen vorlegten. Es geht also in den folgenden Absätzen nur um eine knappe Vorstellung des Einzigen anhand zentraler Begriffe und Konzeptionen, an der deutlich werden sollte, wie interpretierbar und auch interpretationsbedürftig diese Figur aus Stirners Text ist. Im Hinblick auf diese Interpretierbarkeit ist auch zu bedenken, wie Stirners Text von 1844 jenseits seines junghegelianischen Entstehungskontextes verstanden werden konnte, 6 Es sei denn, man möchte zeigen, daß das, was sich die Gesellschaft aus dem Einzigen gemacht hat, ‚falsch‘ ist, um dem eine eigene, ‚richtige‘ Interpretation des Einzigen gegenüberzustellen. Dies ist aber nicht die Absicht der vorliegenden Untersuchung.

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I. Stirners Einziger und seine Rezeptionsgeschichte

vor dem Hintergrund eines gegenüber dem Vormärz veränderten historischen ‚Erfahrungsraumes und Erwartungshorizontes‘7, der den Interpreten des späten 19. und des 20. Jahrhunderts zeitgenössische Evidenzen und semantische Konzepte zur Deutung des Einzigen bereitstellte, über die der Autor Stirner und seine Zeitgenossen noch nicht verfügten. Der Einzige ist – in Stirners Terminologie – der selbstbewußte ‚Egoist‘, nämlich das ‚leibhaftige Ich‘, das sich selbst als die einzige Wirklichkeit im Gegensatz zu allem Überindividuellem weiß.8 Allgemeinheiten, wie Wahrheit, Moral, Freiheit, Recht, Staat, Nation, Gesellschaft, Volk, Gott, Geist, Menschheit, sind Abstraktionen von dieser einzigen Wirklichkeit.9 Sie haben daher für den Einzigen keine Verbindlichkeit. Dementsprechend lautet das Credo seines Egoismus: „Mir geht nichts über Mich!“ (S. 5). Denn „Ich bin [. . .] das schöpferische Nichts, das Nichts, aus welchem Ich selbst als Schöpfer Alles schaffe.“ (S. 5) Damit tritt der Einzige die Nachfolge aller vormals als ‚heilig‘ verehrten ‚höchsten Wesen‘ an und schreibt sich selbst ‚Vollkommenheit‘ zu.10 Stirners Einziger nimmt die Stelle Gottes ein, die Feuerbach im Wesen des Christentums (1841) dem Menschen zuerkannt hatte. Für den Einzigen ist auch ‚der Mensch‘ des religionskritischen Humanismus noch ein Selbstentfremdungsprodukt.11 Alle überindividuellen Entitäten, Ideen und Wesenheiten – Menschheit, Familie, Freiheit, Vernunft, Geist usw. – sind nichts als Produkte und Projektionen des empirischen Ichs, die nur insoweit Macht über dieses haben, als es sie – als ‚fixe Ideen‘ – für wirklich hält; ein Individuum, das an diesen ‚gespensterhaften Spuk‘ glaubt, ist ein ‚Besessener‘, der Gegentypus zum Einzigen.12 Der Besessene unterwirft sich Objekten, die er als ‚heilig‘ verehrt, und wird so zum Sklaven seiner eigenen Geschöpfe; er macht sie zu seinen ‚Götzen‘ und ‚Heiligtümern‘.13 Die historische Vollendung der Besessenheit ist der von Stirner so genannte ‚Liberalis7

Vgl. Koselleck (1976). Vgl. z. B. Stirner, EE, S. 39, 58 f., 127, 181 f., 190 f., 198 f., 348. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben in den folgenden Absätzen dieses Abschnitts beziehen sich ebenfalls auf Stirners Buch. – Diese und die im Folgenden dargestellten Leitmotive und Grundbegriffe durchziehen in verschiedenen Variationen und Konstellationen praktisch Stirners gesamtes Buch und werden deswegen hier nur anhand beispielhafter Belegstellen nachgewiesen. Weitere Nachweise zu bestimmten Stirnerschen Konzepten werden im Verlaufe dieser Arbeit anläßlich der Darstellung und Analyse entsprechender rezeptionsgeschichtlicher Stirner-Interpretationen gegeben. 9 Vgl. z. B. Stirner, EE, S. 45 f., 153 f., 237 f., 381 f. 10 Vgl. z. B. Stirner, EE, S. 40 f., 170, 198, 237, 378 f., 412. 11 Vgl. z. B. Stirner, EE, S. 34 f., 41 f., 136 ff., 200, 202 f., 408. 12 Vgl. z. B. Stirner, EE, S. 42 ff., 46 ff., 66 ff., 374 ff. 13 Vgl. z. B. Stirner, EE, S. 36 ff., 178, 230, 310 f., 327 f., 361, 378 ff. 8

1. Der Einzige

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mus‘, der das Individuum ‚heiligen Ideen‘ wie der Menschheit und der Freiheit opfert.14 Unter ‚Liberalismus‘ versteht Stirner nicht nur den bürgerlichen Liberalismus des Vormärz (‚politischer Liberalismus‘) (vgl. S. 107 ff.), sondern auch den zeitgenössischen ‚Kommunismus‘ (‚sozialer Liberalismus‘) (vgl. S. 127 ff.) und den feuerbachianischen Junghegelianismus (‚humaner oder kritischer Liberalismus‘) (vgl. S. 136 ff.). Zu den Götzen und Heiligtümern des politischen Liberalismus gehören der Staat, das Recht, die Nation und die Moral, zu denjenigen des sozialen Liberalismus die Gesellschaft, die Arbeit und die Revolution, zu denjenigen des humanen Liberalismus der Mensch als Gattungswesen und Ideal, die Kritik und der atheistische Glaube; der ‚Todfeind‘ des Liberalismus wie der Besessenheit schlechthin aber ist der Egoismus, den der Einzige ihnen entgegensetzt.15 Der Einzige ist „der unversöhnliche Feind jeder Allgemeinheit, jedes Bandes, d. h. jeder Fessel“ (S. 237 – H. i. O.), „jeder höheren Macht“ (S. 202) und damit auch „der Todfeind des Staates“ (S. 284). „Nichts ist ihm heilig!“ (S. 202). Er ist ‚Verbrecher‘, ‚Teufel‘ und ‚Unmensch‘.16 Er ‚entheiligt‘ das Heilige, ‚richtet sich empor‘ und ‚erniedrigt‘ alles, was ihn unterwerfen und beherrschen will; in dieser ‚Empörung‘ behauptet er sich als Einziger.17 Darin zerstört er das ‚Fremde‘ und macht sich die Welt und sich selbst zu seinem ‚Eigentum‘.18 Das Mittel hierzu ist seine ‚Macht‘, die er deswegen stets zu vergrößern bestrebt ist (vgl. S. 204 ff.). Der Einzige beansprucht ein Recht auf alles, was in seiner Macht steht, denn was Recht ist, ist nur eine Frage von Macht und Gewalt.19 Seine Macht gibt ihm Eigentum, ist sein Eigentum, er ist mit ihr identisch, und macht sich mit ihr zu einem ‚gewaltigen‘ und ‚allmächtigen Ich‘ (vgl. S. 181, 203, 307). Durch Entheiligung, Empörung und Aneignung überwindet er die Besessenheit und kommt, indem er keiner höheren Macht und keinem Menschen mehr dient, zum Bewußtsein seiner Einzigkeit.20 Mit dem Auftritt des Einzigen und seines Egoismus endet daher die bisherige Geschichte der Selbstentfremdung.21 Der Einzige widmet sich ausschließlich seinem ‚Selbstgenuß‘, indem er die ‚Welt‘ und sein ‚Leben‘ ‚verzehrt‘ und ‚verbraucht‘ (vgl. S. 180, 358 ff.). 14

Vgl. Vgl. 345 ff. 16 Vgl. 375 f. 17 Vgl. 18 Vgl. 19 Vgl. 20 Vgl. 21 Vgl. 15

z. B. Stirner, EE, S. 47, 105 ff., 135 f., 140 f., 150 f., 158, 192, 364. z. B. Stirner, EE, S. 31 f., 106 ff., 140 f., 154 f., 186, 267 ff., 277 f., z. B. Stirner, EE, S. 136, 154, 166, 178, 195, 216, 219, 222 ff., 267, z. B. z. B. z. B. z. B. z. B.

Stirner, Stirner, Stirner, Stirner, Stirner,

EE, EE, EE, EE, EE,

S. S. S. S. S.

106, 202, 282, 287, 311, 313 ff., 354 ff. 40, 77 f., 192, 309, 353. 207 f., 211, 225, 229 ff., 284. 4 f., 274 f., 284 f., 405 f., 412. 9 ff., 15, 71 ff., 170, 198, 239, 271, 360, 407 ff.

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I. Stirners Einziger und seine Rezeptionsgeschichte

Er genießt sich selbst, kennt keine moralischen Pflichten, keine sittlichen Ziele und Ideale, nach denen zu handeln er sich ‚berufen‘ fühlte, und er ist dabei ‚weder gut noch böse‘, weil Moral für ihn keinen Sinn macht.22 So behält er sich auch vor, gegebenenfalls ‚über Leben und Tod‘ zu entscheiden, und zwar in bezug auf sich selbst wie auch auf Andere (vgl. S. 356 f., 362 f.): „Ich aber bin durch Mich berechtigt zu morden, wenn Ich Mir’s selbst nicht verbiete, wenn Ich selbst Mich nicht vorm Morde als vor einem ‚Unrecht‘ fürchte.“ (S. 208) Nach dem Wegfall aller höheren Macht weiß der Einzige sich im Verhältnis zu den Andern im Zustand des ‚Krieges Aller gegen Alle‘ (vgl. S. 286, 288). Seinen gesamten sozialen ‚Verkehr‘, der ebenfalls zu seinem Selbstgenuß gehört, regelt er nach Maßgabe seines Egoismus: Er vereint sich mit Anderen, wenn es ihm nützt, zu einem ‚Verein von Egoisten‘, den er nach dem gleichen Kalkül wieder auflöst oder verläßt.23 Er geht Freundschafts- und Liebesbeziehungen ein, weil und solange er sich darin genießt und er ein emotionales Interesse an anderen Personen hat und ihn dies ‚glücklich macht‘.24 „Ich liebe, weil Mir das Lieben natürlich ist, weil Mir’s gefällt.“ (S. 324) Im Gegensatz zur ‚Heuchelei‘ und zum ‚uneingestandenen‘, ‚verdeckten‘ und ‚unbewußten‘ Egoismus des Besessenen, der seinen Egoismus unter dem Schutz und Vorwand von heiligen Ideen auslebt, die ‚wirklichen Menschen‘ verachtet und Grausamkeiten begeht, ist der Egoismus des Einzigen ein selbstbewußter Egoismus, zu dem der Einzige sich aufrichtig bekennt – auch wenn es ihm nicht immer opportun erscheint, aufrichtig zu sein – und der ihn nicht daran hindert, ‚mit jedem fühlenden Wesen Mitgefühl‘ zu empfinden.25 Und doch hat der Einzige „nichts Gemeinsames mehr mit dem Andern“ (S. 229), schon gar nicht mit der ‚Masse‘, der ‚Herde‘ und dem ‚Pöbel‘.26 Er ist als Ich „das alleinige Ich“ (S. 406). Deswegen ist der Einzige ‚unaussprechlich‘ und ‚der Einzige‘ nur ein ‚Name‘ für etwas, das sich in der Gemeinsamkeit von Sprache und der Allgemeinheit des Begrifflichen nicht erfassen läßt.27 – Die rezeptionsgeschichtlichen Interpretationen dieses Textes geben diesem unaussprechlichen und begrifflich unfaßbaren Einzigen neue Namen und versuchen, ihn begrifflich genauer zu bestimmen.

22 Vgl. 411 f. 23 Vgl. 24 Vgl. 25 Vgl. 26 Vgl. 27 Vgl.

z. B. Stirner, EE, S. 5, 59 f., 88, 268, 360 f., 366 f., 368 f., 376, 404, z. B. z. B. z. B. z. B. z. B.

Stirner, Stirner, Stirner, Stirner, Stirner,

EE, EE, EE, EE, EE,

S. S. S. S. S.

196, 231 ff., 241, 246, 262, 287, 306, 342 ff., 357 f. 45, 66 f., 153, 324 ff. 39, 48 ff., 56 ff., 81 f., 182, 321, 332, 324 f., 339 f. 155 f., 160 f., 245, 286 f. 164, 201, 348, 400, 412.

2. Die Stirner-Rezeptionsgeschichte

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2. Die Stirner-Rezeptionsgeschichte – Grundzüge und Verlauf Stirners Buch Der Einzige und Sein Eigentum wurde im Oktober 1844 bei Otto Wigand in Leipzig, mit der Jahresangabe 1845, erstveröffentlicht.28 Es fand kurzzeitig eine gewisse Beachtung durch die Zensurbehörden, in einigen zeitgenössischen Rezensionen und insbesondere von Seiten der junghegelianischen Kollegen, die typischerweise Stirners Kritik an ihren Positionen mal mehr, mal weniger wohlwollend mit der Gegenkritik quittierten, der ideenfeindliche Einzige sei selbst eine Idee und insofern – bei allen mitunter zugestandenen Verdiensten – ein Selbstwiderspruch, und überdies sei der von diesem propagierte Egoismus ethisch und politisch fragwürdig.29 Auch Marx und Engels widmeten Stirner in ihrer historischmaterialistischen ‚Selbstverständigungsschrift‘, der Deutschen Ideologie,30 eine mehrere hundert Seiten umfassende Polemik.31 Für sie waren damit sowohl Stirner und das von ihm aufgeworfene Problem als auch der Junghegelianismus im ganzen theoretisch erledigt. Das Programm des Historischen Materialismus war gegründet, und die Deutsche Ideologie selbst wurde, nach Marx’ bekanntem Diktum, der „nagenden Kritik der Mäuse“ überlassen.32 Und auch sonst schwand das Interesse am Einzigen und seinem Au28

Vgl. Helms (1966), S. 510. Vgl. Feuerbach (1845); Heß (1845a); Bauer (1845); Ruge (1848). Weitere Beispiele finden sich in Fleming [Hg.] (2001a). Vgl. auch Fleming (2001b); Helms (1966), S. 537 ff. – Stirner (1845) hat in einer Replik gegenüber seinen Kritikern nochmals betont, daß der Einzige eben gerade keine Idee, keine Abstraktion, kein Prinzip usw. sei, sondern eben bloß ein ‚Name‘ für etwas in seiner konkreten Wirklichkeit begrifflich nicht Faßbares. 30 Marx/Engels (1845/46); vgl. Marx (1859), S. 14. 31 Offenbar war Marx hierbei die treibende Kraft, vgl. Engels (1844) u. (1845b) sowie Heß (1845b). 32 Marx (1859), S. 14. – Engels sprach sich anläßlich einer entsprechenden Anfrage John Henry Mackays noch kurz vor seinem Tod gegen die Weitergabe oder Veröffentlichung des in seinen Augen stark überarbeitungsbedürftigen, ‚sehr zerrissenen und fragmentarischen‘ Manuskripts aus (vgl. Engels (1891), S. 42). Erste Exzerpte aus der Stirner-Polemik wurden dann zwar 1903/04 sowie kurz vor und nach dem Ersten Weltkrieg herausgegeben, aber in Gänze, also sowohl die Auseinandersetzung mit Stirner als auch den systematisch und theorieprogrammatisch entscheidenden Feuerbach-Abschnitt umfassend, wurde die Deutsche Ideologie erstmals 1932 im Rahmen der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) veröffentlicht und von da an regelmäßig neu aufgelegt (vgl. Helms (1966), S. 552 f., 561 f., 571, 581). In den folgenden Jahrzehnten konnte sie die Grundlage für Debatten um die Bedeutung der Stirnerschen Provokation für die Gründung des Historischen Materialismus bilden. Die von marxistischen und marxismuskritischen Wissenschaftlern verhandelte Frage, ob Stirner mit seiner Feuerbach-Kritik eine Art ‚Scharnier‘-Funktion zwischen Feuerbachianismus und Historischem Materialismus zukommt und Marx und 29

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I. Stirners Einziger und seine Rezeptionsgeschichte

tor bald nach der Erstveröffentlichung des Buches. Stirner wird in den folgenden Jahrzehnten gelegentlich noch in philosophiegeschichtlichen Abhandlungen als typischer Junghegelianer erwähnt, dessen Figur des Einzigen als ‚extreme‘, subjektivistische Zuspitzung des junghegelianischen Projektes einer ‚Verwirklichung der Philosophie‘ zu verstehen ist.33 Erst 1882 erscheint Der Einzige und Sein Eigentum in zweiter Auflage, ebenfalls bei Engels ihm mehr verdanken, als sie zugeben, oder ob Stirner, als absurde Zuspitzung des Junghegelianismus, allenfalls eine ‚katalysatorische‘ Funktion in der Gründung des Historischen Materialismus hatte, wurde so zu einem philologischen Nebenschauplatz im Kalten Krieg (siehe unten, VIII. 1.). Einige heutige Stirner-Sympathisanten werten den Umgang mit Stirner in der Deutschen Ideologie und die Entscheidung der Gründerväter des Historischen Materialismus, diese unveröffentlicht zu lassen, als Paradebeispiel für die ‚Verdrängung‘ und ‚Verfälschung‘ des ‚unbequemen‘ Autors, den seine Gegner argumentativ nicht widerlegen konnten; vgl. z. B. Laska (1993) u. (2000); Fleming (2001b); Henning (1996). Die mit Scharnier-, Katalysator- und Verdrängungsthese aufgeworfene Fragestellung nach dem Stirner bzw. Marx und Engels zuzuschreibenden ideengeschichtlichen und theoretischen Rang, nach den präsumtiven Motiven Letzterer im Umgang mit Stirner und nach dessen ‚unverfälschter‘ Botschaft braucht hier nicht weiter verfolgt zu werden. 33 Vgl. z. B. Erdmann (1866), S. 719 ff.; Lange (1866), S. 528 f. – Der junghegelianische Projekttitel, dem sich zumindest bis zu den Feuerbachthesen (1845) und der Deutschen Ideologie (1845/46) auch Marx und Engels noch verpflichtet wußten, läßt sich schematisch in den drei Sinndimensionen (vgl. Luhmann (1996a), S. 112 ff.; (1997a), S. 1136 ff.) jener ‚Verwirklichung‘ rekonstruieren, verstanden als Kritik an und Überwindung von Hegels endgeschichtlichem System des Absoluten Idealismus: Sachdimensional beanspruchte man, den Abstraktionen des Begriffs und dem philosophisch-theologischen Konzept des Weltgeistes bei Hegel das sinnlich-materielle, physisch-konkrete Sein der menschlichen Wirklichkeit entgegenzusetzen. Sozialdimensional machte man gegen die monologische Reifikation der Dialektik im sozialtranszendenten philosophischen System Hegels ein dialogisch-dynamisches Verständnis von Dialektik geltend, die durch die kritische und politische Praxis in gesellschaftliche Wirksamkeit übergeht. Zeitdimensional bestritt man die Hegelsche Behauptung, mit dessen Philosophie sei, weil sich in dieser der Selbsterkenntnisprozeß des Weltgeistes vollende, zugleich die Weltgeschichte beendet; vielmehr war aus junghegelianischer Sicht mit Hegels spekulativem System die Philosophie vollendet, während danach das Wirklich-Werden des menschheitlichen Entwicklungszieles noch aussteht – und im skizzierten Sinne, als Verwirklichung der Philosophie in der Kritik und Praxis der junghegelianischen Intellektuellen vorangetrieben werden muß. In dieses Schema läßt sich Stirner ebenso eintragen wie Feuerbach, oder auch Arnold Ruge oder der junge Marx, und zwar nicht zuletzt deswegen, weil die streitbaren Junghegelianer nicht nur Hegel, sondern sich auch gegenseitig innerhalb dieses Schemas kritisieren konnten und einander beispielsweise vorwerfen konnten, in abstrakten oder religiösen Vorstellungen befangen zu sein, die Praxis zu vernachlässigen oder die historische Zielbestimmung zu verfehlen. Vgl. z. B. Feuerbach (1839) u. (1843); Ruge (1843); Marx (1843) u. (1844a). Zum Junghegelianismus vgl. Löwith (1941) u. (1962a); Stuke (1963); Mader (1975); Pepperle/Pepperle (1985); Eßbach (1988); Walter (1995); Pleger (1996); Stulpe (1998). Vgl. auch Mayer (1913); Riedel (1975), S. 390 ff.; Röttgers (1982), S. 668 ff.

2. Die Stirner-Rezeptionsgeschichte

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Otto Wigand in Leipzig. 1893 erscheint dann, ebenfalls in Leipzig, bei Reclam, Stirners Buch in dritter Auflage. Diese Reclam-Ausgabe des Einzigen von 1893 (oft mit dem Jahr 1892 zitiert) fällt in die Anfangszeit der Stirner-rezeptionsgeschichtlichen Hochphase. Die erst rückblickend so genannte ‚Stirner-Renaissance‘34 wurde bereits in den 1890er Jahren als eine solche ‚Wiedergeburt‘ und ‚Wiederentdeckung‘, als plötzliches Bekanntwerden eines zuvor lange vernachlässigten Denkers wahrgenommen. Um die Jahrhundertwende erhält Stirner neben Nietzsche den Titel eines ‚Modephilosophen‘. Eduard v. Hartmann, der Nietzsche des Stirner-Plagiats beschuldigt, und John Henry Mackay streiten um das Verdienst, Stirner ‚wiederentdeckt‘ zu haben, während der seinerzeit in Berlin ansässige polnische Décadence-Satanist Stanislaw Przybyszewski dagegen den schwedischen Dichter Ola Hansson als den wahren Entdecker Stirners – und auch Nietzsches – ins Spiel bringt (siehe unten, VI. 3.). Oskar Panizza bezeichnet Stirner 1895 als ‚Lazarus unter den Philosophen‘, der nach jahrzehntelanger Vergessenheit gleichsam ‚von den Toten auferstanden‘ ist bzw. ‚wiedererweckt‘ wurde (siehe unten, IV. 2.). Stirner gilt insgesamt als ein jahrzehntelang praktisch unbeachtet gebliebener Autor, dessen Brisanz und Aktualität jetzt schlagartig erkannt wird. Das Jahr 1906, Stirners hundertstes Geburts- und fünfzigstes Todesjahr, wird von Stirnerianern zum ‚Stirner-Jahr‘ ausgerufen, und auch in den Folgejahren ebbt die Welle von einschlägigen Veröffentlichungen nicht ab.35 Zur Zeit der Stirner-Renaissance, von den 1890er Jahren bis zum Ersten Weltkrieg, war Stirners Einziger, ähnlich wie der in wahlverwandtschaftliche Nähe gerückte ‚Übermensch‘ Nietzsches, eine Lieblingsfigur des Zeitgeistes, im Guten wie im Schlechten: als Symbol und Synonym dessen, was sich in diffuser Weise als ‚individualistische‘ Zeittendenz darstellte und, je nach eingenommener Perspektive, mit Emanzipation und kultureller Erneuerung oder Exzessen und sittlichem Verfall, jedenfalls mit der Infragestellung der bürgerlichen Ordnung verbunden wurde und dementsprechend Anlaß für die unterschiedlichsten Befürchtungen und Hoffnungen war. Sich zu Stirner zu äußern, fühlten sich viele bemüßigt, darunter die Stirner-Sympathisanten Bruno Wille und Rudolf Steiner oder auch – dem Einzigen distanziert gegenüberstehend – in Profession und weltanschaulicher Orientierung so unterschiedliche Beobachter wie der soziologische Gründervater Georg Simmel, der Anarchist Kropotkin und die Marxisten Plechanow und Mehring. Sozialphänomenologisch wurde der Einzige ebenso mit der – ihrerseits unterschiedlich bewerteten – Nietzsche-Begeisterung wie mit den ‚tat-propagandistischen‘ Terroranschlägen anarchistischer Attentäter in Ver34 35

Vgl. Helms (1966), S. 295 ff. u. Friedell (1927–31), S. 1073. Vgl. Helms (1966), S. 326 ff., 553 ff.

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I. Stirners Einziger und seine Rezeptionsgeschichte

bindung gebracht, mit Kriminalität, seelischer ‚Entartung‘ und Psychopathie, Ausschweifung und ‚irrespektablen‘ Lebensformen ebenso wie mit dem demonstrativen Nonkonformismus der Boheme, der Kulturkritik und den Programmatiken ästhetischer und weltanschaulicher Avantgarden. Gemeinsam schien all dem das – selbst vielfältig gedeutete – ‚individualistische‘ Moment, wobei man sich deswegen aber keineswegs schon einig war, was alles zum Individualismus gehörte, was darunter zu verstehen und wie der Individualismus als Weltanschauung und epochentypisches Bewußtseinssyndrom zu bewerten ist. Ebenso blieb heftig umstritten, worin genau die Brisanz und Aktualität Stirners besteht, also wer der Einzige ist – und auch, wie er normativ einzuschätzen ist. Typisch sind hierfür nicht nur die verschiedenen, oft gegensätzlichen Auskünfte zum Verhältnis Stirners zu Nietzsche und zu deren Individualismen (siehe unten, VI. 4.) und zum Stirnerschen Anarchismus – ‚individualistisch‘, ‚metaphysisch‘, ‚elitär‘, ‚gewaltverherrlichend‘, ‚idealistisch‘, ‚antimoralisch‘ usw. (siehe unten, V. und VII. 2.) –, sondern auch die Thematisierung des Einzigen im Genie-Diskurs der Jahrhundertwende. Für Hermann Türck ist der Einzige der Gegentypus zum Genie, ein ‚gefährlicher Psychopath‘, so wie Nietzsche; Rudolf Steiner behauptet das Gegenteil und nimmt den Stirnerschen Egoismus für seine eigene Philosophie der Freiheit in Anspruch (siehe unten, VI. 4.). Und für Oskar Panizza ist der Einzige beides, ‚Genie‘ und ‚Psychopath‘, und als solcher zugleich ‚Idealist‘ und ‚Anarchist‘, während den Psychiater Ernst Schultze der Einzige an einen ‚klinischen Fall von Paranoia‘ erinnert – und andere Beobachter an ‚das Böse‘ schlechthin (siehe unten, IV.). Nach dem Ersten Weltkrieg betont Benito Mussolini die „Aktualität“ Stirners, in dessen Einzigem er die „Elementarkräfte des Individuums“ wirken sieht,36 und zur gleichen Zeit präsentieren in der Weimarer Republik bis zu deren Untergang prophetisch und messianisch ambitionierte, leibhaftige Einzige als ‚Bewußtseinsrevolutionäre‘ ihre Variante des Stirnerianismus und werben – mitunter mit bemerkenswerten Erfolgen – um Gefolgschaft, so wie beispielsweise der ‚Inflationsheilige‘ Louis Haeusser oder die nicht minder schillernde Figur des ‚Oberdada‘ Johannes Baader (siehe unten, III. 1.). Dessen dadaistische Kollegen lassen sich, darin die künstlerische Avantgarde der Jahrhundertwende beerbend, ebenso von Stirner inspirieren37 wie die unzähligen Grüppchen, die, ebenfalls darin Traditionen der Jahrhundertwende fortsetzend, lebensreformerisch und völkisch, individualanarchistisch und freiwirtschaftlich bewegt in Landkommunen, Werkbünden und anderen, allesamt wenig resonanzträchtigen Sozialexperimenten Alternativen zur in der Weimarer Zivilisation verkörperten Moderne er36 37

Mussolini (1919), S. 80. Vgl. Lehner (1988); Machinek (1986); Kreuzer (2000).

2. Die Stirner-Rezeptionsgeschichte

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proben.38 Der Einzige diffundiert an diesen Rändern der subkulturellen Unübersichtlichkeit Weimars, gleichwohl bleibt er weiterhin diskursiv präsent. Anders als vor dem Weltkrieg bietet er aber in der Zwischenkriegszeit insgesamt keinen Anlaß zur Aufregung mehr. Mit dem Einzigen als locus classicus des Anarchismus und Individualismus sind Stirner und der Einzige jetzt diskursiv etabliert: Der Einzige kommt nicht mehr als Gegner, sondern als Angehöriger der von ihren neuen Feinden von Links und Rechts als ‚individualistisch‘ diffamierten, bekämpften und schließlich überwundenen ‚bürgerlichen Gesellschaft‘ in den Blick. Und Stirner wird zugleich als Vorläufer rezenter philosophiegeschichtlicher Entwicklungen – etwa des Pragmatismus und Existentialismus – und als Diagnostiker der gegenwärtigen, modernen Gesellschaft ernstgenommen und gegen deren Feinde in Stellung gebracht (siehe unten, VII. 3.). Nach dieser rezeptionsgeschichtlichen Hochphase wird es wieder stiller um Stirner. In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wird er, nach dem Zweiten Weltkrieg und vor dem Hintergrund des Kalten Krieges, von einigen Autoren im Lichte der zeitgeschichtlichen Erfahrungen nochmals in Erinnerung gerufen. Bei diesen Interpretationen spielen verstärkt geistes- und wirkungsgeschichtliche Betrachtungen eine Rolle, insbesondere auch die Frage nach dem Verhältnis von Marx und Engels zu Stirner, sowohl in bezug auf den Junghegelianismus als auch auf die in diesem präsumtiv wurzelnden, bis in die Gegenwart reichenden philosophischen und ideologischen Traditionslinien,39 wobei gerade die Einschätzungen letzterer von den ideologischen und politischen Auseinandersetzungen zu Zeiten des Ost-West-Konflikts gefärbt sind. Mal erscheint der Einzige als Wegbereiter des Faschismus und der ‚latent faschistischen Mittelstandsideologie der BRD‘, dann aber auch als vorausschauender Kritiker des Totalitarismus jeglicher Couleur. Er wird als Prototyp des ‚bürgerlichen Rebellen‘ erkannt, und damit als Vorläufer der 68er-Revolte, und zugleich festigt sich sein Status als geistesgeschichtliche Quelle des Existentialismus (siehe unten, VIII. 1. und 3.). 38 Vgl. Linse (1983); Senft (1992) u. (1996); Helms (1966); Hepp (1992); Engert (1986); Schulze (1983). 39 Diesbezüglich bemerkt beispielsweise Hans-Martin Saß im Rahmen einer 1973 in Bielefeld abgehaltenen, internationalen Feuerbach-Tagung über den Berliner Junghegelianismus „der Zeit zwischen 1841 [. . .] und 1845 [. . .]: alle Spielarten überhaupt möglicher kritischer Theorie, alle Spielarten von Anarchismus und Existenzialismus sind ja doch einfach in Berlin durchgespielt worden, und alles, was später kam – um jetzt meinerseits eine These zu überspitzen –: alles, was später kam, sind Neuauflagen: Adorno, Marcuse, Habermas und Heidegger; sie sind nicht nur historisch später, sie sind auch weniger originell, zugegeben in manchem gründlicher, im Grundsätzlichen schon lange durchgespielt in jenen Jahren in den zwei, drei Stammlokalen, die man in Berlin hatte“ (Saß, zit. n. Lipp (1975), S. 146; vgl. hierzu Habermas (1988a), S. 67).

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I. Stirners Einziger und seine Rezeptionsgeschichte

Spätestens seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts gerät Stirner, von wenigen, weitgehend unbemerkten stirnerianischen Publikationen, einigen fachwissenschaftlichen Monographien und Handbuchartikeln abgesehen,40 vollends in Vergessenheit. Allerdings ist Stirner heute vermutlich aus anderen Gründen vergessen, als in der Zeit vor seiner Wiederentdeckung in der Stirner-Renaissance: nicht deswegen, weil der Einzige zu absurd, realitätsfern oder sonstwie irrelevant wäre, sondern im Gegenteil, weil der Einzige mittlerweile in gewisser Weise allgegenwärtig und zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Dieser Leitgedanke begründet aus der im folgenden Abschnitt genauer zu erläuternden wissenssoziologischen Perspektive die Relevanz der in der Stirner-rezeptionsgeschichtlichen Hochphase artikulierten Deutungen des Einzigen, und zwar im Interesse nicht nur an der historischen Semantik, sondern auch am gegenwärtigen Selbstverständnis der modernen Gesellschaft und ihres Individuums. Diese Deutungen sind daher der Gegenstand der vorliegenden Untersuchung, vor allem die Beiträge der Stirner-Renaissance, aber auch diejenigen Interpretationen, die in der Zwischenkriegszeit das Bild des Einzigen um zusätzliche Facetten erweitern, und schließlich die letzten Ausläufer der Stirner-Rezeptionsgeschichte, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Lichte der rezenten historischen Erfahrungen und zeitgenössischen Entwicklungen noch einige Aspekte des Einzigen beleuchten, die zugleich dessen heutiges Selbstverständlichgewordensein verständlich machen.

3. Wissenssoziologie Wissenssoziologie41 geht allgemein davon aus, daß ‚Wissen‘, verstanden als Gesamtheit aller Arten und Formen von Weltdeutungen, Sinnangeboten, Realitätsbeschreibungen, inklusive der Wissenssoziologie selbst, in seiner Entstehung und Geltung sozial bedingt ist. Dabei müssen Entstehungs- und Geltungszusammenhang des Wissens nicht identisch sein.42 Was in der wissenssoziologischen Tradition jeweils unter ‚sozial‘ verstanden wird und wie die gesellschaftlichen Kontexte der Entstehung und Geltung von Wissen näher bezeichnet werden, variiert mit der jeweiligen Gesellschaftskonzeption, 40 Vgl. z. B. die Beiträge in Knoblauch/Petersen [Hg.] (1996); vgl. Linares (1995) und Schulte (2001). 41 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Luhmann (1992a); (1993a); (1993b); (1994b), bes. S. 68 ff., 469 ff.; (1997a), bes. S. 866 ff.; (1999), bes. S. 151 ff. Vgl. Neusüss (1986b) u. (1997); Mannheim (1926); (1928a); (1928b) u. (1929). Vgl. auch die Beiträge in Meja/Stehr [Hg.] (1982a). 42 Die Geltung einer Realitätsdeutung ist nicht an deren sozialen Entstehungskontext gebunden, sie kann diesen transzendieren, aber auch die Geltungskriterien sind sozial bedingt (vgl. Mannheim (1929), S. 243).

3. Wissenssoziologie

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aber in jedem Fall bedeutet das wissenssoziologische Kerntheorem von der sozialen Bedingtheit des Wissens, daß eine bestimmte Wissensform in spezifischer Weise durch ihren sozialen Bedingungszusammenhang geprägt ist. Die klassische Wissenssoziologie Karl Mannheims spricht diesbezüglich etwa von der ‚standortgebundenen Aspektstruktur‘, der ‚Sichtpartikularität‘ und der ‚Seinsverbundenheit des Wissens‘, von der ‚Seinsrelativität des Erkennens‘, von ‚partikularen Denkstandorten‘ und ‚Denkstilen‘.43 Der Historische Materialismus von Marx und Engels, den Mannheim der wissenssoziologischen Tradition zurechnet,44 brachte jenes Kerntheorem – mit anderen Konsequenzen als Mannheim – auf die bekannte Formel: „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“45 Das wissenssoziologische Theorem von der sozialen Bedingtheit des Wissens gestattet prinzipiell zwei Erkenntnisrichtungen bei der Beobachtung spezifischer Wissensformen: Einerseits läßt sich vom sozialen Bedingungszusammenhang auf das Wissen schließen; das Wissen wird dann in seiner perspektivischen Besonderheit und Relativität erkennbar. Von dieser Sichtweise profitieren insbesondere ideologiekritische Betrachtungen. Andererseits läßt sich vom Wissen auf seinen sozialen Bedingungszusammenhang schließen; das Wissen wird dann als spezifischer Ausdruck seines sozialen Bedingungszusammenhanges verstanden. Und man kann dadurch dann diesen sozialen Bedingungszusammenhang gleichsam indirekt erkennen, nämlich als das, was sich im Wissen ausdrückt. Diese Erkenntnisrichtung der Wissenssoziologie ist vor allem dann von Bedeutung, wenn man davon ausgehen muß, daß sich der soziale Bedingungszusammenhang des Wissens nicht mehr eindeutig erkennen läßt, so daß ein ‚soziales Sein‘ an sich der Beobachtung unerreichbar ist und verborgen bleibt.46 Man kann dann das Wissen als Manifestation von Latenzen beobachten und daraus soziologische Einsichten beziehen, in ähnlicher Weise wie nach Freuds Traumdeutung die psychoanalytische Beobachtung des Traumes, als einer Manifestation latenter Inhalte, Aufschluß über das Unbewußte ermöglicht.47 Niklas Luhmanns operativ-konstruktivistische Wissenssoziologie beobachtet den sozialen Bedingungszusammenhang des Wissens anhand der Leitunterscheidung von ‚Gesellschaftsstruktur und Semantik‘.48 Ausgehend 43

Vgl. Mannheim (1929), S. 227 ff.; (1928b), S. 349 ff. Vgl. Mannheim (1929), S. 68 ff., 108 ff., 266 f. 45 Marx (1859), S. 13; vgl. Marx/Engels (1845/46), S. 26 f. 46 Vgl. z. B. Luhmann (1997a), S. 885 f.; (1990b). 47 Vgl. Freud (1900); vgl. auch Freud (1910), S. 131. 48 Vgl. hierzu und zum Folgenden generell: Luhmann (1990e); (1991d); (1993b); (1993c); (1996a); (1997a); (1999). 44

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I. Stirners Einziger und seine Rezeptionsgeschichte

von der Beschreibung der Gesellschaft als des umfassenden, sich in seinen Operationen selbst beobachtenden und damit seine eigene Realität konstruierenden Kommunikationssystems, reflektiert sie sich als soziologische Form gesellschaftlicher Selbstbeschreibung: Da in der Umwelt des Gesellschaftssystems zwar psychische, organische und andere Vorgänge stattfinden, aber keine Kommunikation, läßt sich die Gesellschaft kommunikativ nicht von außen beobachten, so daß auch die Wissenssoziologie die Gesellschaft und deren Realitätskonstruktion nur in der Gesellschaft und nur als Beitrag zur gesellschaftlichen Realitätskonstruktion beobachten kann. Ein ontologisch verstandenes ‚soziales Sein‘ bleibt somit unerkennbar und die Gesellschaft als Ganzes sich selbst intransparent, was allerdings nicht bedeutet, daß sie sich nicht in ihren Beobachtungen und Selbstbeobachtungen, Beschreibungen und Selbstbeschreibungen permanent über die Realität und sich selbst informiert und in ihren Operationen daran orientiert.49 Aus diesem Grunde kommt der Wissenssoziologie in dieser Perspektive eine herausgehobene Bedeutung – gewissermaßen die einer via regia – zum gesellschaftstheoretischen Verständnis der sozialen Realität zu, denn eine Erfassung des gesellschaftlichen Ganzen ist weder von außen, noch von irgendeinem privilegierten Standort in der Gesellschaft möglich. In der Wiederbeschreibung gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen und allgemein in der Beobachtung gesellschaftlichen Wissens kann die Wissenssoziologie die Gesellschaft in Aspekten der von dieser selbst konstruierten Realität erkennen und dies gesellschaftstheoretisch fruchtbar machen; sie kann überhaupt nur dadurch etwas über die von ihr zu erfassende Realität erfahren.50 Dabei bleibt sie – auch wenn sie gesellschaftliche Selbstbeschreibungen aus einem diesen gegenüber veränderten Blickwinkel, aus ‚inkongruenter Perspektive‘, wiederbeschreibt – als wissenssoziologische und gesellschaftstheoretische Beobachtung selbst eine Form gesellschaftlicher Selbstbeschreibung und gesellschaftlichen Wissens51 und unterliegt dementsprechend prinzipiell den gleichen Limitationen und Bewährungsbedingungen wie jede andere Beobachtung auch.52 Dies reflektiert sich auch in dem au49

Vgl. Luhmann (1997a), S. 866 ff. Vgl. Luhmann (1993b I), S. 68 ff.; (1999), S. 173 ff. 51 Vgl. Luhmann (1997a), S. 33 ff., 88 f., 876 ff. 52 ‚Beobachten‘ heißt ‚unterscheiden und bezeichnen‘: Ein Beobachter unterscheidet etwas von etwas (bzw. allem) anderen und markiert es als Objekt seiner Beobachtung (vgl. Luhmann (1994b), S. 124). Diejenigen Beobachtungen, die eine Beobachtung zum Gegenstand haben, heißen ‚Beobachtung zweiter Ordnung‘, und zwar unabhängig davon, ob die beobachtete Beobachtung selbst ebenfalls eine Beobachtung oder ein sonstiges Objekt zum Gegenstand hat. Der epistemologische Vorteil der Beobachtung zweiter Ordnung besteht darin, daß in ihr erkennbar ist, wie der beobachtete Beobachter beobachtet, d. h. welchen von ihm verwendeten Unterscheidungen sich seine Beobachtung verdankt – und was er aufgrund dieser Un50

3. Wissenssoziologie

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tologischen Design der wissenssoziologischen Leitdifferenz ‚Gesellschaftsstruktur vs. Semantik‘, die, wie Luhmann betont, „selbst eine semantische Unterscheidung“ ist.53 Die begriffliche Unterscheidung von ‚Gesellschaftsstruktur‘ und ‚Semantik‘ ist derjenigen von ‚Operation‘ und ‚Beobachtung‘ nachgebildet.54 So wie eine Einzelkommunikation als ‚Operation‘ und als ‚Beobachtung‘, ist das Kommunikationssystem Gesellschaft sowohl unter dem Aspekt der ‚Gesellschaftsstruktur‘ als auch unter demjenigen der ‚Semantik‘ beschreibbar. Das Begriffspaar ‚Gesellschaftsstruktur und Semantik‘ bezeichnet die gegenüber dem kommunikativen Einzelereignis relativ dauerhafteren Bedingungen, die einerseits die gesellschaftlichen Beobachtungsoperationen ermöglichen und strukturieren, andererseits in diesen erst realisiert werden. Insofern bezeichnen beide Begriffe gesellschaftliche Strukturen, die zuterscheidungen nicht sieht. Der Beobachter zweiter Ordnung hat also die Chance, die Latenzen des Beobachters erster Ordnung zu sehen und zu erkennen, daß das, was diesem als natürlich und notwendig erscheint, artifiziell und kontingent – ein Konstrukt der Beobachtung – ist. Im autologischen Rückschluß auf sich selbst kann der Beobachter zweiter Ordnung dann erkennen, daß er, ebenso wie der von ihm beobachtete Beobachter, auch ein Beobachter erster Ordnung ist, der mithilfe von Unterscheidungen beobachtet, die Anderes als das beobachtete Objekt ausblenden, nämlich den Beobachter selbst bzw. die von ihm verwendete Unterscheidung und die Welt im übrigen (den ‚unmarked space‘), daß er also selbst auch mit Latenzen operiert; vgl. Luhmann (1997a) S. 879 ff., 1109 ff.; vgl. auch Luhmann (1990a); (1990d); (1991c). Ein Beobachter zweiter Ordnung, der aufgrund der Beobachtung eines anderen Beobachters die Kontingenz und operativen Latenzen (bzw. ‚blinden Flecken‘) jeder und somit auch der eigenen Beobachtung reflektiert, nimmt damit eine „Position dritter Ordnung“ ein (Luhmann (1997a), S. 1117, vgl. S. 1118 ff.). ‚Beobachtung dritter Ordnung‘ bezeichnet also eine auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung mögliche Reflexionsfigur (vgl. Neusüss (1997), S. 15 ff.). Eine „Beschreibung dritter Ordnung“ (Luhmann (1997a), S. 1121) – Beschreibungen sind textförmige Beobachtungen – wie Luhmanns operativ-konstruktivistische, kommunikationstheoretisch-evolutionistische Systemtheorie der modernen Gesellschaft kann daher gegenüber solchen Realitätsbeschreibungen, die für sich einen privilegierten Wahrheitszugang beanspruchen, einen Reflexionsvorsprung geltend machen, aber deswegen gerade nicht für sich selbst die adäquate Beschreibung des ‚sozialen Seins‘ monopolisieren (vgl. Luhmann (1996a), S. 659 f.). Sie wählt ihre beobachtungleitenden Unterscheidungen und Begriffe ihren Beschreibungs- und Reflexionserfordernissen gemäß und setzt sich als semantisches Angebot, das sich als gesellschaftliche Selbstbeschreibung auch wissenssoziologisch im Hinblick auf seine soziokulturell-evolutiven Möglichkeitsbedingungen thematisiert, der kommunikativen Beobachtung aus. Als solches hat es sich bezüglich seiner Angemessenheit in der Realität der rekursiv vernetzten Beobachtungsoperationen – also im Austesten des kommunikativen Widerstandes – evolutionär zu bewähren (vgl. Luhmann (1997a), S. 536 ff., 1094 f., 1132 ff.). 53 Luhmann (1990e), S. 11. 54 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Luhmann (1990e); (1993b I), S. 9 ff.; (1994b), S. 106 ff.; (1996a), S. 224 f., 382 ff.; (1997a), S. 536 ff., 887 ff.

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I. Stirners Einziger und seine Rezeptionsgeschichte

gleich Ergebnis und Ausgangspunkt kommunikativer Konstruktionsprozesse sind. ‚Semantik‘ bezeichnet dabei die Kommunikation orientierenden Sinnstrukturen der Gesellschaft: die vorläufig evolutionär bewährten „Sinnvorgaben“,55 die gesellschaftlich „als bewahrenswert anerkannt und für Wiederholung bereitgehalten werden“,56 also den kommunikativ „relativ situationsunabhängig verfügbaren Sinn“,57 der in Beobachtungen und Beschreibungen realisiert und durch Wiederverwendung, insbesondere auch durch textförmige Speicherung, stabilisiert wird. Die Beobachtung von Semantik – in Gestalt von Ideen, Begriffen, Themen und anderen kulturellen Formen – bezieht sich daher typischerweise auf Texte. Als gesellschaftlicher Sinnvorrat, der in Weltdeutungen, Realitätsbeschreibungen und anderen kommunikativen Sinnangeboten artikuliert wird, entspricht Semantik dem, was in der wissenssoziologischen Tradition als ‚Wissen‘ bezeichnet wird. Diejenigen Strukturen, durch die Kommunikation – also die gesellschaftliche Verwendung von Sinn, die Aktualisierung von Semantik – operativ ermöglicht und koordiniert wird, werden als ‚Gesellschaftsstruktur‘ oder ‚Sozialstruktur‘ bezeichnet und in der Terminologie der Gesellschaftstheorie beschrieben. In deren Semantik ist unter ‚Gesellschaftsstruktur‘ „vor allem die Form der Systemdifferenzierung des Gesellschaftssystems und, davon abhängig, die Komplexität des Bezugsrahmens gesellschaftlichen Erlebens und Handelns“ zu verstehen.58 ‚Gesellschaftsstruktur‘ ist also nicht das soziologischer Erkenntnis unmittelbar zugängliche ‚soziale Sein‘ des Historischen Materialismus, sondern ein semantisches Konstrukt der Gesellschaftstheorie, das diese als ein solches reflektiert und zur wissenssoziologischen Beobachtung des sozialen Bedingungszusammenhanges verwendet. Unter dieser theoretischen Voraussetzung lassen sich die sozialstrukturellen und semantischen Aspekte gesellschaftlicher Realitätskonstruktion in ihren Wechselwirkungen aufeinander beziehen und als soziokulturelle Evolution beschreiben.59 Dabei kommt der Semantik gegenüber der Gesellschaftsstruktur regelmäßig eine registrative und reflektorische Bedeutung zu, weil sie sich in Kommunikationen aktualisiert, deren operativer Vollzug durch die Gesellschaftsstruktur bedingt ist, und letztere selbst ein Aspekt der deutungsbedürftigen Realität ist. Zugleich evoluiert die Semantik aber nach eigenen, nicht unmittelbar sozialstrukturell vorgegebenen Bedingungen. Dies hat einerseits zur Folge, daß Veränderungen der Gesellschaftsstruktur sich typischerweise semantisch erst mit zeitlicher Verzögerung nie55

Luhmann (1997a), S. 887. Luhmann (1994b), S. 107. 57 Luhmann (1993b), S. 19. 58 Luhmann (1993b I), S. 21; vgl. (1990e), S. 42. 59 Vgl. hierzu und zum Folgenden insbesondere Luhmann (1993b I), S. 7 ff., 44 ff.; (1997a), S. 536 ff., 888 ff., 1044 f., 1142; (1999), S. 103. 56

3. Wissenssoziologie

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derschlagen, mitunter aber auch semantisch begleitet, verstärkt oder sogar vorweggenommen werden können. Luhmann spricht diesbezüglich etwa von ‚transitorischen Semantiken‘, ‚Überleitungs-‘, ‚Übergangs-‘ und ‚Auffangsemantiken‘, von semantischen ‚survivals‘, von ‚Ersatzsemantiken‘, ‚Durchsetzungssemantiken‘ und ‚preadaptive advances‘.60 Andererseits bedeutet dies, daß sich wissenssoziologisch eine semantische Eigenevolution beobachten läßt, die innerhalb eines Kontingenzspielraums, den die Gesellschaftsstruktur für plausible und insofern kommunikativ anschlußfähige Beobachtungen und Beschreibungen der Realität zuläßt, mit unterschiedlichen Formen experimentiert, diese nach eigenen Kriterien mit Plausibilität versorgt und die auf diese Art zur Konstruktion der gesellschaftlichen Realität beiträgt. Das gilt in besonderem Maße für die moderne Gesellschaft, die aufgrund ihrer ‚Polykontexturalität‘ – der durch die primär funktionale Differenzierungsform bedingten Abwesenheit einer sozialstrukturell ausgezeichneten Beobachterposition für konkurrenzfrei wahre, gesamtgesellschaftlich verbindliche Welterkenntnis – eine Vielzahl divergenter, sich wechselseitig und die Welt im übrigen unterschiedlich beobachtender Realitätsbeschreibungen zuläßt und nicht in der Lage ist, auf der Ebene ihrer Gesellschaftsstruktur bestimmte dieser Beschreibungen zu privilegieren.61 Auf der Ebene der Semantik hat dies zugleich – und in einem wechselseitigen Steigerungsverhältnis – eine Verstärkung des Orientierungsbedarfs und eine Multiplikation und Diversifizierung von entsprechenden Deutungs- und Reflexionsangeboten zur Folge. Diese müssen, um kommunikativ überhaupt anschlußfähig zu sein, in ihren Realitätsbeschreibungen der modernen Gesellschaftsstruktur gerecht werden, aber darüber hinaus sind sie für die Beglaubigung ihrer Geltungsansprüche auf Plausibilitätsressourcen angewiesen, die die Semantik selbst zur Verfügung stellt.62 Das gilt etwa, wie im Verlaufe der vorliegenden Studie exemplarisch dargelegt wird, für die individualitätssemantische Interpretation und Reflexion der exklusionsindividuellen Sozialstruktur.63 Und das gilt auch für die wissenssoziologische Beschreibung des sozialen Bedingungszusammenhangs von Wissen, deren transitorisch-semantische Variante in der Tradition des Historischen Materialismus mit der Leitunterscheidung ‚gesellschaftliches Sein vs. Bewußtsein‘ mittlerweile deswegen an Plausibilität eingebüßt hat, weil die moderne Gesellschaft spätestens seit ihrer semantischen Selbstreflexion als ‚Postmoderne‘ annimmt, daß sie die Erkennbarkeit eines solchen ‚Seins‘ sozial60 Vgl. z. B. Luhmann (1990d), S. 233; (1991c), S. 114; (1993b I), S. 49, 83; (1997a), S. 512 f., 556, 659 ff., 707, 796, 890 f., 980 ff., 1033, 1045, 1055 f. 61 Vgl. Luhmann (1990b), S. 47 ff.; (1990c), S. 92 f.; (1994a), S. 6; (1994b), S. 627 ff., 666 f.; (1997a), S. 36 f., 88 f. 62 Vgl. Luhmann (1993b I), S. 45 ff. 63 Vgl. Luhmann (1993b III), S. 158 ff., 186 ff.

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I. Stirners Einziger und seine Rezeptionsgeschichte

strukturell nicht garantieren kann – zumindest im Bereich ihrer wissenschaftlichen Selbstbeschreibung.64 In der skizzierten theoretischen Perspektive kann die wissenssoziologische Beobachtung von Semantik daher unter drei Gesichtspunkten erfolgen: Erstens kann man Semantik beobachten, um auf die unmittelbar unbeobachtbare Gesellschaftsstruktur zu schließen, indem man semantische Formen als Ausdruck von gesellschaftsstrukturell bedingten semantischen Registratur- und Reflexionsbedürfnissen deutet. Derartige Semantikbeobachtungen können dann gesellschaftstheoretische Sozialstrukturbeschreibungen orientieren, validieren und zum Anlaß für Theoriedesign genommen werden. Zweitens kann man von einer gesellschaftstheoretischen Beschreibung der Gesellschaftsstruktur ausgehen und diese als Schema verwenden, um daran die Beobachtung von Semantik zu organisieren. D. h. man beobachtet, welche Semantiken in welcher Form bestimmte gesellschaftsstrukturelle Merkmale beschreiben und reflektieren. Drittens kann man Semantik als einen Aspekt der soziokulturellen Evolution beobachten, in der die Gesellschaft ihre eigene Realität konstruiert. Man beobachtet dann die semantische Konstruktion von Realität, und zwar im Hinblick auf Aspekte der semantischen Eigenevolution, auf Wechselbeziehungen zwischen unterschiedlichen semantischen Strukturen, Ebenen, Feldern, Formen und Figuren.65 Für die in der vorliegenden Studie durchgeführte wissenssoziologische Semantikbeobachtung sind vor allem die zweite und die dritte dieser Überlegungen von Bedeutung. Im Verständnis der Sozialstruktur der modernen Gesellschaft schließt sie dabei an deren gesellschaftstheoretische Beschreibung in der kommunikationstheoretisch-evolutionistischen Systemtheorie Luhmanns an.66

64

Vgl. Luhmann (1990e), S. 41 ff.; (1997a), S. 1143 ff.; (1999), S. 173 f. Luhmann benutzt nicht nur das Adjektiv ‚semantisch‘ in diesen und vergleichbaren Fügungen – z. B. ‚tieferliegende semantische Strukturen‘ –, sondern verwendet auch das Substantiv ‚Semantik‘ mit bestimmtem und unbestimmtem Artikel, im Singular und im Plural und spricht beispielsweise auch von ‚gepflegter Semantik‘, ‚Grundsemantik‘, ‚Sondersemantiken‘, ‚Zusatzsemantiken‘, um intrasemantische Differenzierungen und Wechselbeziehungen zu charakterisieren; vgl. z. B. Luhmann (1993b I), S. 14, 18 ff., 32, 40 f., 46 f.; (1994a), S. 7; (1997a), S. 887 ff., 948; (1999), S. 107. 66 Ein eigenständiger theoretischer Entwurf zur Beschreibung der modernen Gesellschaftsstruktur im Sinne des ersten oben genannten Gesichtspunkts erübrigt sich daher. Allerdings werden unten (siehe insbesondere III. 4.) einige Ergänzungen zur Beschreibung bestimmter Aspekte der Sozialstruktur vorgenommen, die sich als eigenständiges Theoriedesign verstehen, dabei aber Kompatibilität mit Luhmanns sozialtheoretischen Vorgaben beanspruchen. 65

4. Das Exemplarische und Symptomatische am Einzigen

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4. Exklusionsindividualität, Individualitätssemantik, Interpretationsschemata, Individualidentitätsangebote: das Exemplarische und Symptomatische am Einzigen Generell kann in der beschriebenen wissenssoziologischen Perspektive das in der Stirner-Renaissance entflammende Interesse am Einzigen als Ausdruck eines sozialstrukturell bedingten Registratur- und Reflexionsbedarfs in der modernen Gesellschaft betrachtet werden, der zu dieser Zeit in besonderem Maße semantisch virulent wurde. Der oben skizzierte Verlauf der Stirner-Rezeptionsgeschichte insgesamt kann in dieser Sicht als symptomatisch für bestimmte semantische Reflexionserfordernisse gelten, aufgrund derer sich die moderne Gesellschaft ‚etwas aus dem Einzigen gemacht‘ hat. In wissenssoziologischer Perspektive läßt sich sowohl die Metapher vom ‚Nerv der Zeit‘, den Stirner in seiner Renaissance traf, begrifflich präzisieren als auch theoretisch erklären, wieso Stirners Buch davor wenig Beachtung fand und wieso Stirner heute wieder weitgehend vergessen ist. Unter den beiden zuletzt dargelegten Gesichtpunkten wissenssoziologischer Semantik-Beobachtung lassen sich diesbezüglich die erkenntnisleitenden Thesen zur in der vorliegenden Arbeit vorgenommenen Darstellung und Analyse der Stirner-rezeptionsgeschichtlichen Interpretationen des Einzigen erläutern. Unter dem Gesichtspunkt einer Wissenssoziologie, die ihre Semantikbeobachtung an einer gesellschaftstheoretischen Beschreibung der Sozialstruktur orientiert, läßt sich der Einzige als semantisches Korrelat der sozialstrukturellen „Exklusionsindividualität“67 deuten, also der Art, wie die moderne Gesellschaft – im Unterschied zu vormodernen Gesellschaften – das gesellschaftliche Vorkommen von Individuen, z. B. als Personen, Akteure, Menschen usw. regelt.68 Weil die moderne Gesellschaft aus „strukturellen Gründen [. . .] auf eine gesellschaftseinheitliche Regelung von Inklusion verzichten“ muß,69 kann das moderne „Individuum [. . .] nicht mehr durch Inklusion, sondern nur noch durch Exklusion definiert werden“.70 Der Primat funktionaler Differenzierung hat zur Folge, daß auf der Ebene des Gesellschaftssystems „die konkreten Individuen nicht mehr konkret placiert wer67

Luhmann (1993b III), S. 160; vgl. (1997a), S. 624 ff. Vgl. hierzu und zum Folgenden: Luhmann (1985); (1987a); (1987c); (1991b); (1993b III), S. 149 ff.; (1994d); (1995a); (1995c); (1996a), S. 346 ff.; (1997a), S. 618 ff., 1016 ff., 1066 f., 1075 f.; (1997b). 69 Luhmann (1995c), S. 246. – „Inklusion muß man [. . .] als eine Form begreifen, deren Innenseite (Inklusion) als Chance der sozialen Berücksichtigung von Personen bezeichnet ist und deren Außenseite unbezeichnet bleibt. Also gibt es Inklusion nur, wenn Exklusion möglich ist.“ (Luhmann (1997a), S. 620 f.). 70 Luhmann (1993b III), S. 158. 68

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I. Stirners Einziger und seine Rezeptionsgeschichte

den können. Sie müssen an allen Funktionssystemen teilnehmen können, je nachdem, in welchen Funktionsbereich und unter welchem Code ihre Kommunikation eingebracht wird. [. . .] Individuen [. . .] wechseln entsprechend ihre Kopplungen mit Funktionssystemen von Moment zu Moment. Die Gesellschaft bietet ihnen folglich keinen sozialen Status mehr, der zugleich das definiert, was der Einzelne nach Herkunft und Qualität ‚ist‘.“71 Dadurch, daß die moderne Gesellschaft ihren Individuen keinen festen sozialen Ort zuweist, sind sie also prinzipiell für die Belange der Funktionssysteme verfügbar – je temporär in diesen inkludierbar –, und in dieser Hinsicht alle frei und gleich, wie dies prominent in der neuhumanistischen Semantik des Menschen und seiner Rechte artikuliert wird. Dadurch sind sie aber auch in ihrer Identität sozialstrukturell unterdeterminiert. Dies unterscheidet die moderne Exklusionsindividualität in semantisch folgenreicher Weise von der vormodernen, gesellschaftlich inklusiven Identitätsbestimmung, die typischerweise durch Schichtzugehörigkeit qua Geburt geregelt wurde, so daß die Inklusion in ein gesellschaftliches Teilsystem, beispielsweise den Adel, mit komplementärer Exklusion aus allen anderen Teilsystemen, zugleich definierte, wer der Einzelne ist, welche Handlungsspielräume er hat und was man von ihm erwarten kann. Diese Fragen werden in der Moderne zum Problem; die moderne Gesellschaftsstruktur enthält auf sie nur negative Antworten und überläßt – indem sie auf das rekursive Selbst- und Fremdbeobachten der von ihr freigesetzten Individuen verweist – die Problembehandlung der Semantik. Neben semantischen Formen, die einerseits die temporäre und kontextspezifische, funktionssystemische Inklusion in (Sozial-)Rollen und andererseits die allgemeine Inklusionsfähigkeit von Individuen als Menschen bzw. Personen artikulieren, bringt die moderne Gesellschaft daher eine ‚Individualitätssemantik‘ hervor, die zwar durch den Registratur- und Reflexionsbedarf ihrer exklusionsindividuellen Sozialstruktur bedingt ist, aber innerhalb des von letzterer bestimmten Kontingenzspielraumes eigenevoluiert.72 Die Individualitätssemantik, die die moderne Gesellschaft infolge ihrer exklusionsindividuellen Sozialstruktur für die und in der Beobachtung von Individuen bezüglich ihrer Individualität ausbildet, umfaßt ebenso literarische Genres (Romane, Tagebücher) wie wissenschaftliche Disziplinen (z. B. die Psychoanalyse), ethische Reflexionsformen und weltanschauliche Angebote (‚Individualismus‘), aber beispielsweise auch sozialtypologische Individualitätskonstrukte (wie sie etwa in den Massenmedien beobachtbar sind). In ihrer Spezialisierung auf die Beobachtung der Individualität von Individuen 71

Luhmann (1997a), S. 625. Vgl. hierzu und zum Folgenden insbesondere Luhmann (1985), S. 96 ff.; (1987a), S. 131 ff.; (1987c), S. 153 f.; (1993b III), S. 186 ff., 213 ff.; (1995a), S. 7 ff.; (1996a), S. 361 f., 429 ff.; (1997a), S. 1025 ff., 1066 ff. 72

4. Das Exemplarische und Symptomatische am Einzigen

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thematisiert die Individualitätssemantik das, was etwa die Semantik der Menschenrechte in ihrer Betonung der Gleichheit bei der Bestimmung des modernen Individuums offen läßt. Dieser letztgenannte Aspekt verdeutlicht auch, neben der angedeuteten Varietät individualitätssemantischer Formen und ihrer Wechselbeziehungen, in welchem Maße die semantische Evolution sich in ihrem Verlauf selbst inspiriert, diversifiziert und modifiziert, indem sie ihre eigenen Evidenzen, Reflexionsnötigungen und Plausibilitätskriterien hervorbringt. Am Verhältnis zur Menschenrechtssemantik wird zudem deutlich, daß Individualitätssemantik per se weder gegen, noch für die ‚Ideen von 1789‘ gebildet ist. Die Idee individueller Selbstverwirklichung beispielsweise ist dementsprechend, für sich genommen, in politisch-ideologischer Hinsicht weder ‚progressiv‘ noch ‚konservativ‘ – aber, als individualitätssemantische Form, also aus wissenssoziologischer Perspektive: immer modern. ‚Individualismus‘ kann sich daher, als weltanschauliche Form von Individualitätssemantik, in seinen vielfältigen Ausprägungen einerseits politisch indifferent geben – was nicht ausschließt, daß dies als politisch relevant beobachtet wird – und andererseits mit unterschiedlichen, auch ihrem programmatischen Selbstverständnis nach entgegengesetzten politischen Ideologien verbinden, die ja ihrerseits spezifisch moderne Formen sind. Im Sinne dieser Überlegungen wird der Einzige in der vorliegenden Arbeit wissenssoziologisch unter dem Aspekt einer Individualitätssemantik beobachtet. Wie oben zunächst kursorisch veranschaulicht, läßt sich die semantische Figur des Einzigen, inklusive ihrer rezeptionsgeschichtlichen Ausdeutungen, im Hinblick auf die moderne, exklusionsindividuelle Gesellschaftsstruktur als Artikulation und Problematisierung dessen deuten, worin die Identität eines Individuums besteht: die individuelle Identität im Unterschied sowohl zur allgemeinen Personalität als Mensch als auch im Unterschied zu temporär eingenommenen, kontext-spezifischen Sozialrollen – z. B. als Arbeitnehmer, Staatsbürger oder Wissenschaftler – und schließlich im Unterschied zu allen anderen Individuen. Diese Identität eines Individuums wird semantisch als seine Individualität konstruiert,73 und die Figur 73 Es geht hierbei um einen Begriff von Individualität, der eben als solcher antonym konturiert wird, in diesem Fall also durch seinen Gegenbegriff ‚Personalität‘; und bei dem Begriffspaar bzw. der Unterscheidung ‚Individualität vs. Personalität‘ handelt es sich um semantische Formen, die in der hier eingenommenen wissenssoziologischen Perspektive auf die beiden Seiten sozialstruktureller Exklusionsindividualität bezogen sind. Dieser Begriff ‚Individualität‘ bezeichnet und reflektiert also als semantisches Konstrukt lediglich eine Seite, also einen spezifischen Aspekt der sozialstrukturellen Exklusionsindividualität. Der Einzige in seiner Deutungsvielfalt reflektiert diesen Aspekt der Exklusionsindividualität, aber er geht auch darüber hinaus, und das Gleiche gilt auch für die Individualitätssemantik generell: Beide sind wissenssoziologisch nicht auf jenen Begriff von Individualität zu reduzieren. Erst recht gilt das für die Individualität bzw. Identität empirischer Individuen: Jenseits

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I. Stirners Einziger und seine Rezeptionsgeschichte

des Einzigen, der von Stirner als das leibhaftige, begrifflich nicht faßbare und insofern unaussprechliche Ich charakterisiert wird, das sich weder auf ein Allgemeines, noch auf diese oder jene seiner Eigenschaften reduzieren läßt und mit keinem Anderen etwas gemeinsam hat,74 ist als eine Variante erkennbar, die semantische Grundstruktur dieser Individualität zu beschreiben. Stirners Text von 1844 kann aufgrund dieser und weiterer in ihm enthaltener Konzeptionen, Begriffe und Unterscheidungen – z. B. Individuum vs. Mensch, Egoismus vs. Liberalismus, Ich vs. Nichts, Einziger vs. Besessener, Eigentum vs. Heiliges, Verein vs. Gesellschaft, Macht vs. Recht usw. – gewissermaßen als individualitätssemantisches Potential begriffen werden, das rezeptionsgeschichtlich, in den Interpretationen des Einzigen, verwirklicht wurde. Dies läßt sich anhand der Struktur des Einzigen in den drei Sinndimensionen, also der Sach-, der Zeit- und der Sozialdimension,75 verdeutlichen. In welcher seiner vielen Gestalten der Einzige erscheint und als Individuum profiliert wird, hängt sachdimensional, also bezüglich der Formbestimmung, davon ab, wie sein jeweiliger Interpret beispielsweise das ‚Heilige‘ oder die ‚Besessenen‘ deutet und aktualisiert, gegen die sein jeweiliger Einziger sich abgrenzt oder ‚empört‘: z. B. als Anarchist gegen den Staat, als Bohemien gegen die bürgerliche Respektabilität, als Krimineller gegen das Recht, als aristokratischer Individualist gegen die Masse, als Sozialist gegen die Bourgeoisie usw. Die anti-typische Form in der Sachdimension des Einzigen, also seine Identifikation durch Negation seines Gegensatzes, läßt es einerseits zu, den Einzigen durch die Angabe immer weiterer neuer Formen von Besessenheiten, gegen die seine Empörung sich richtet, zu profilieren – durch Konventionsbrüche, Tabuverletzungen, Nonkonformismen, Rebellion und subtilere Distinktionen –, andererseits ist dieser Struktur damit auch eine Tendenz zur Inflationierung eingeschrieben. Beides zusammen führt dazu, daß es semantisch immer leichter wird, neue, aktuelle Varianten von Einzigkeit zu konstruieren, und zugleich immer schwieriger, dafür Aufmerksamkeit zu erzeugen. Auch in dieser Dynamik wird die indiwissenssoziologischer Überlegungen darf vermutet werden, daß für das Identitätsverständnis und individuelle Selbstverhältnis der psychischen Systeme empirischer Individuen auch das von jenem strikten, semantischen Individualitätsbegriff Ausgeschlossene unabdingbar ist: das Selbstverständnis als Person und Mensch (möglicherweise auch als Angehörige von sozialen, z. B. religiös, ethnisch oder politisch definierten Großgruppen); die Fähigkeit, sich in zeitlicher Abfolge in unterschiedlichen Kontexten eingenommene Rollen – z. B. im Beruf, in der Familie, als Vereins- oder Parteimitglied – als Teil der eigenen, in sich kohärenten Identität zuzurechnen; und schließlich auch das Bewußtsein und Gefühl, mit anderen Individuen Vorlieben, Wertorientierungen, Überzeugungen, Weltsichten usw. zu teilen. 74 Vgl. z. B. Stirner, EE, S. 139, 164, 190 f., 200 f., 227, 228 f., 348, 400, 411 f. 75 Vgl. Luhmann (1993b I), S. 35 ff.; (1996a), S. 112 ff.

4. Das Exemplarische und Symptomatische am Einzigen

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vidualitätssemantische Bedeutung der Grundstruktur des Einzigen und ihrer rezeptionsgeschichtlichen Auslegungen ersichtlich. In jedem Fall garantiert bereits die sachdimensionale Form des Einzigen ein breites Interpretationsspektrum. Zeitdimensional wird die Modernität des Einzigen in Differenz zur Vergangenheit und mit Blick auf die Zukunft reflektiert. Dabei legt die Konzeption vom Einzigen, der weltgeschichtlich die Nachfolge aller vormals als ‚heilig‘ verehrten ‚höchsten Wesen‘ – Gottes und aller Ideen, inklusive der Wahrheit und der Menschheit – antritt und damit die ‚Besessenheit‘ – die Selbstentfremdung in Religion, Hegelscher Philosophie und junghegelianischem Humanismus – überwindet, zunächst eine typisch junghegelianische Auslegung nahe, der zufolge der Einzige als geschichtsteleologische Überbietung Hegels und der anderen Junghegelianer erscheint. Der Einzige wäre demnach das Ziel und die Vollendung der Weltgeschichte, und alles Vorangegangene – zuletzt die ‚Liberalismen‘ der übrigen Junghegelianer – lediglich Stufen auf diesem historisch notwendigen Weg zu dieser einzigen Wirklichkeit. Sinnfällig wird dies in der Konzeption dreier historischer Zeitalter bei Stirner – ‚die Alten‘, ‚die Neuen‘ (inklusive der ‚Freien‘), ‚der Einzige‘ –, deren Abfolge sich im Entwicklungsgang eines ‚Menschenlebens‘ – ‚Knabe‘, ‚Jüngling‘, ‚Mann‘ – wiederholt.76 Diese teleologische Sichtweise bietet zwei Deutungsmöglichkeiten: einerseits eine am Vorbild Hegels orientierte endgeschichtliche, in der die Weltgeschichte mit dem Einzigen in der Gegenwart zur Vollendung kommt und somit von der Zukunft keine wesentliche Entwicklung mehr zu erwarten ist; und andererseits eine stärker an die Entwürfe der anderen Junghegelianer erinnernde, antizipativ-projektorische, die jene Vollendung in die Zukunft verlegt und die Gegenwart mit dem Auftreten des Einzigen als weltgeschichtlichen Wendepunkt versteht, mit dem ein neues Zeitalter – ein ‚Drittes Reich‘,77 wie manche Interpreten meinten – anbricht und somit der Siegeszug des Einzigen, die Verwirklichung von Einzigkeit, in der Gegenwart zwar beginnt, aber keineswegs abgeschlossen ist. Stirners Text bietet für beide Lesarten Evidenzen, für die erste beispielsweise dort, wo der leibhaftig gegenwärtige Einzige und sein Egoismus den Zukunftsprojekten und Fortschrittserwartungen der Liberalismen und den eschatologischen Erwartungen des Christentums entgegengesetzt wird,78 für die zweite etwa dort, wo Stirner selbst als weltanschaulicher Projekteur zur Verwirklichung seiner Botschaft aufruft: „[S]uchet Euch selbst, werdet Egoisten, werde jeder von Euch ein allmäch76 77

Vgl. Stirner, EE, S. 9 ff., 15 ff., 26 ff., 71 ff., 106 ff. Für solche Fälle chiliastischer Deutungen siehe unten, III. 4. c) und VI. 4. b)

ee). 78

Vgl. z. B. Stirner, EE, S. 132 f., 139, 144 f., 410 f.

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I. Stirners Einziger und seine Rezeptionsgeschichte

tiges Ich.“79 Appellative Passagen wie diese sind außerdem die Grundlage für eine weitere Auslegungsweise, in der die geschichtsteleologische Sicht normativistisch gewendet wird. Der Einzige erscheint dann als ethisches Ideal und normative Zielvorstellung, ohne daß dies notwendig an geschichtsphilosophische Voraussetzungen gebunden ist. Diese Auslegungsweise wird in der Stirner-Renaissance in vielen verschiedenen Varianten kultiviert.80 In ihrer nicht-historizistischen Anlage wird sie zusätzlich von einer semantischen Entwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begünstigt, dem Siegeszug der Darwinschen Evolutionstheorie, durch die generell der Kontingenzspielraum der Stirner-Interpretation erweitert wurde. Die Frage nach der historischen Entstehung des Einzigen konnte nun, ohne Rückgriff auf geschichtsteleologische Vorstellungen, auch evolutionistisch beantwortet werden. Der Einzige erscheint dann als das vorläufige und kontingente Ergebnis zielloser Entwicklungsprozesse, als Reflexion dieser Ziellosigkeit und Ausgangspunkt willentlich vollzogener Weltgestaltung, die im Angesicht einer unbekannten Zukunft ohne geschichtsphilosophische oder progressistische Hintergrundgewißheiten auskommen muß.81 Auch bezüglich des Verhältnisses zwischen dem Einzigen und dem sozialen Anderen, also in der Sozialdimension, bot Stirners Text von 1844 seinen rezeptionsgeschichtlichen Interpreten einen breiten Deutungsspielraum. Dessen Grundstruktur läßt sich anhand der Unterscheidung zweier prinzipieller Schemata in der Interpretation der sozialdimensionalen Ego-AlterRelation bestimmen. Der Einzige kann entweder nur auf einer oder auf beiden Seiten der Ego-Alter-Unterscheidung verortet werden. Im ersten Fall sieht der Einzige sich keinem anderen Einzigen gegenüber, ist also als Einziger allein, der einzige oder alleinige Einzige – im Extremfall sogar als Individuum allein in der Welt oder mit dieser identisch, also ‚all-einig‘ –, der typischerweise mit anderen Individuen zu tun hat, die keine Einzigen, ihm deswegen unterlegen und minderwertig sind. Nach diesem Schema ist die Ego-Alter-Relation asymmetrisch strukturiert. Im zweiten, bezüglich der Einzigkeit sozialdimensional symmetrisch strukturierten Fall dagegen sieht sich der Einzige anderen Einzigen gegenüber, von denen er weiß, daß sie um diese Symmetrie wissen. Einzige kommen nach diesem Schema als Pluralität von Individuen vor, von denen ein jedes weiß, daß ein jedes andere je für sich um seine Einzigkeit und um diejenige der anderen weiß; dies kann entweder für Teile der Menschheit, also Gruppen von Einzigen, oder für die gesamte Menschheit, also jedes Individuum in der Welt, gelten. 79

Stirner, EE, S. 181 – H. i. O. Diese stehen dann wiederum vor der Aufgabe, mit den dezidiert antiteleologischen und antinormativistischen Aussagen in Stirners Text umzugehen (vgl. z. B. Stirner, EE, S. 268, 359 f., 368). Siehe hierzu insbesondere unten, VI. 5. 81 Vgl. auch Stirner, EE, S. 139. 80

4. Das Exemplarische und Symptomatische am Einzigen

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Beide Schemata, das sozialdimensional asymmetrische wie das symmetrische, lassen also verschiedene Variationen zu – und darüber hinaus eine Fülle konkreter interpretatorischer Ausgestaltungen –, sind aber bezüglich der Verortung des Einzigen auf der Ebene der sozialdimensionalen Ego-Alter-Relation klar voneinander zu unterscheiden. Das erste, sozialdimensional asymmetrische Schema wird in der vorliegenden Studie als ‚All-Einzigkeit‘ bezeichnet, das zweite, sozialdimensional symmetrische als ‚Je-Einzigkeit‘. Rezeptionsgeschichtliche Interpreten, die dem all-einzigen Schema folgen, finden dafür in Stirners Text von 1844 ebenso Anhaltspunkte wie diejenigen, die in ihren Interpretationen dem je-einzigen Schema folgen. All-einzige Deutungen konnten zur Beglaubigung ihres Interpretationsschemas beispielsweise selektiv auf die ‚Unaussprechlichkeit‘ des Einzigen und dessen Charakterisierung als ‚allmächtiges‘ und ‚alleiniges Ich‘ verweisen, um dann im Lichte der All-Einzigkeit alle weiteren Aussagen des Textes auszulegen. Und je-einzige Deutungen konnten sich zur Beglaubigung ihres Interpretationsschemas beispielsweise auf die Figur des ‚Vereins von Egoisten‘ oder auf den – seit der Stirner-Renaissance sowohl (sozial)darwinistisch als ‚Kampf ums Dasein‘ als auch marxistisch als ‚Klassenkampf‘ gedeuteten – ‚Krieg Aller gegen Alle‘ berufen und diese Evidenz der JeEinzigkeit dann auch auf diesbezüglich ambivalentere Passagen beziehen.82 Die Entscheidung der Interpreten für entweder das all-einzige oder das jeeinzige Interpretationsschema in der Sozialdimension läßt zwar, bedingt durch den dann weiterhin vorhandenen Deutungsspielraum in der Zeit- und vor allem der Sachdimension, immer noch ein gewisses interpretatorisches Variationsspektrum zu, prägt aber in grundsätzlicher Weise das Bild des jeweils präsentierten Einzigen. Die Unterscheidung ‚All-Einzigkeit vs. Je-Einzigkeit‘ fungiert daher in der vorliegenden Untersuchung als Leitdifferenz bei der Darstellung und Analyse des Stirner-rezeptionsgeschichtlichen Materials und dient typologisch zur Bezeichnung spezifischer Interpretationen und bestimmter, darin sichtbar werdender Aspekte des Einzigen. Insgesamt ist die zuletzt rekonstruierte sinndimensionale Struktur des Einzigen als die text-evidentielle Basis für die interpretatorische Vielfalt, also als ein Kontingenzspielraum für Interpretationen des Einzigen zu verstehen. Ein zweiter Kontingenzspielraum ist jenseits der Textebene zu sehen, in den semantischen Strukturen, die die jeweiligen Interpretationen des Einzigen mit Plausibilität versorgen. Dies betrifft, im Anschluß an die oben angeführten Überlegungen zur wissenssoziologischen Semantikbeobachtung, den im engeren Sinne individualitätskonstruktiven, nämlich das Individuum als Teil der gesellschaftlichen Realität konstruierenden Aspekt der Stirner-Rezeptionsgeschichte. 82

412.

Vgl. z. B. Stirner, EE, S. 5, 166, 181, 196, 201, 227 ff., 286 ff., 343 ff., 406,

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I. Stirners Einziger und seine Rezeptionsgeschichte

Unter dem Gesichtspunkt einer wissenssoziologischen Beobachtung gesellschaftlicher Realitätskonstruktion wird die Semantik des Einzigen in der vorliegenden Arbeit als ein exemplarischer Aspekt der semantischen Konstruktion moderner Individualität beobachtet. In dieser Perspektive artikulieren die in der Stirner-rezeptionsgeschichtlichen Hochphase vorgelegten Deutungen des Einzigen Individualitätssemantik in Form exemplarischer Individualitätskonstrukte. Solche semantischen Konstrukte fungieren kommunikativ als Individualidentitätsangebote, an denen die moderne Gesellschaft ihre Erwartungen an Individuen orientiert. Der Begriff ‚Individualidentitätsangebot‘ wurde gebildet, um zu markieren, daß sich diese semantischen Konstrukte, erstens, auf Individuen, nicht auf Kollektiventitäten beziehen – womit nicht ausgeschlossen ist, daß kollektive Identitätsmerkmale, z. B. Nationalität, individualitätsbestimmende Relevanz haben können. Sie beziehen sich, zweitens, auf Identitäten, also das, was ein Individuum als Individuum ausmacht, nicht bloß auf (z. B. funktionssystemische) Sozialrollen – was nicht ausschließt, daß bestimmte Sozialrollen, z. B. die des Künstlers, zu Identitäten stilisiert oder als maßgeblicher Bestandteil von Identitäten behandelt werden. Und es handelt sich hierbei, drittens, um semantische Angebote, die angenommen oder auch abgelehnt werden können, Deutungsangebote, die im kommunikativen Umgang mit Individuen Orientierung versprechen. Die Erwartungen, die durch Individualidentitätsangebote koordiniert werden, sind zwar mitunter auch, aber nicht generell normativer Art. Es handelt sich hierbei also nicht notwendig um ethische Konzeptionen des Guten, sondern um sozialphänomenologische Typenbildungen, die einem umfassenderen Deutungskontext eingeschrieben sind, der beispielsweise psychologischer, soziologischer, modernitätsdiagnostischer, politischideologischer und sonstiger weltanschaulicher, unter anderem auch moralisch-ethischer Art sein kann. Durch diese strukturelle Konfiguration aus sozialphänomenologischem Typus und Deutungskontext aggregieren Individualidentitätsangebote die gesellschaftlichen Erfahrungen mit empirischen Individuen in ihrer konkreten sozialen Vielgestaltigkeit zu allgemeineren Erwartungen für den Umgang mit Individuen; das Individuelle wird – komplexitätsreduktiv – typisiert und berechenbar gemacht. Als Individualidentitätsangebote sollen also typisierende und deutende individualitätssemantische Formen bezeichnet werden, die im kommunikativen Bezug auf Individuen verwendet werden. An ihnen kann man sehen, womit man rechnen muß, wenn man es mit Individuen zu tun hat, wobei ‚man‘ sich hier wissenssoziologisch auf die Gesellschaft, also auf Kommunikation, und nicht auf psychische Systeme und deren Bewußtsein bezieht. Angesichts der co-evolutionären und interpenetrativen Relationen und der strukturellen Kopplungen zwischen sozialen und psychischen Systemen kann allerdings davon ausgegangen werden, daß Individualidentitätsange-

4. Das Exemplarische und Symptomatische am Einzigen

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bote auch für psychische Systeme eine Orientierungsleistung erbringen.83 Einige Gedanken zu psychischen Systemen und ihrem Verhältnis zu Individualidentitätsangeboten werden im Verlaufe dieser Arbeit formuliert. Da die Untersuchung psychischer Systeme und ihrer Beziehungen zu gesellschaftlich kursierenden Identitätskonstrukten aber disziplinär in den Zuständigkeitsbereich der Psychologie bzw. Sozialpsychologie fällt, beschränkt sich die vorliegende, wissenssoziologisch angelegte Studie diesbezüglich auf wenige Hinweise, die gewissermaßen interdisziplinäre Anschlußstellen in theoretischer und forschungspragmatischer Hinsicht verdeutlichen.84 Das Thema dieser Untersuchung bleibt die soziale, nicht die psychische Seite moderner Individualitätskonstruktion. Individualidentitätsangebote werden dementsprechend wissenssoziologisch als evolutionär bewährte semantische Formen beobachtet, in die einerseits Evidenzen des historischen Erfahrungsraumes eingehen, auf die sie sich sozialphänomenologisch beziehen, beispielsweise die Aktivitäten von empirischen Individuen, und die andererseits auf semantische Voraussetzungen verweisen, denen sie ihre Plausibilität verdanken. Hierzu gehören – neben dem terminologischen und theoretischen Instrumentarium zeitgenössischer wissenschaftlicher Diskurse, etablierten gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen und gängigen Gegenwartsdiagnosen – insbesondere auch die tieferen semantischen Schichten, in denen die Moderne ihre soziokulturelle Evolution reflektiert und ihr Selbstverständnis artikuliert, etwa, wenn sie sich ‚nach dem Tod Gottes‘ als ein ‚entzauberter‘, ‚transzendental obdachloser‘ und ‚unbehaglicher‘ Ort versteht (siehe unten, II. 4.). Die in den Deutungen des Einzigen artikulierten Individualidentitätsangebote nehmen solche und andere Semantiken in unterschiedlicher Weise auf, einerseits als Plausibilitätsressourcen, die als selbstverständlich vorausgesetzt werden, andererseits, weil sie regelmäßig darauf zielen, die Aktualität des Einzigen darzulegen, d. h. seine Bedeutung für die gegenwärtige moderne Welt zu begründen. In ihnen werden daher auch immer Modernitätserfahrungen verarbeitet; die Modernität der modernen Gesellschaft reflektiert sich also auch auf der Ebene ihrer Individualidentitätsangebote. Gemessen an der seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert massiv an Bedeutung gewinnenden und insofern für den Untersuchungszeitraum der Stirner-rezeptionsgeschichtlichen Hochphase relevanten Modernitätserfahrung, die sich metaphorisch in den genannten diagnostischen Formeln wie ‚Entzauberung‘, ‚Tod Gottes‘ – oder auch ‚Nihilismus‘ – artikuliert, lassen sich die in den Deutungen des Einzigen beobachtbaren Individualidentitätsangebote typologisch zwei Hauptvarianten der Modernitätsverarbeitung zuordnen: Einer ‚eskapistischen‘ und einer ‚realistischen‘, wobei die eskapisti83 84

Vgl. Luhmann (1996a), S. 289 ff., 367 ff. Siehe unten, III. und VIII. 4.

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I. Stirners Einziger und seine Rezeptionsgeschichte

sche, wissenssoziologisch betrachtet, nicht weniger modern ist als die realistische. Daß der Einzige beispielsweise die Existenz des Heiligen bzw. höchster Wesen über sich negiert, kann entweder die eskapistische Bedeutung einer Selbstvergöttlichung oder die realistische Bedeutung der Akzeptanz einer entgöttlichten Welt annehmen. Die eskapistischen Individualidentitätsangebote weisen systematisch wie empirisch eine Nähe zu dem sozialdimensional asymmetrischen Stirner-Interpretationsschema der All-Einzigkeit auf. Entsprechendes gilt für das Verhältnis der realistischen Individualidentitätsangebote zum sozialdimensional symmetrischen StirnerInterpretationsschema der Je-Einzigkeit. Die individualitätssemantische Struktur des Einzigen – die, wie oben gezeigt, als Registratur und Reflexion sozialstruktureller Exklusionsindividualität fungiert – bietet also einen breiten Kontingenzspielraum für die soziale Konstruktion moderner Individualität in Form von Individualidentitätsangeboten, die in ihrer konkreten Gestaltung, aufgrund ihres Bedarfs an sozialphänomenologischer Evidenzbildung und semantischen Plausibilitätsressourcen, durch den historischen Erfahrungsraum und durch die semantisch-eigenevolutiven Prozesse bedingt sind, in denen die moderne Gesellschaft ihre Modernität reflektiert und konstruiert. Die rezeptionsgeschichtlichen Interpretationen des Einzigen spiegeln dementsprechend ihren jeweiligen historischen Kontext und vor allem die semantischen Voraussetzungen wider, durch die sie geprägt sind, nämlich die Art, wie moderne Individualität zum Thema gemacht und problematisiert wurde. Deswegen ist der Einzige bezüglich seiner Interpretationen exemplarisch für die semantische Konstruktion moderner Individualität, und bezüglich des ihm rezeptionsgeschichtlich entgegengebrachten Interesses ist er symptomatisch für die Aufmerksamkeit und Problematisierungsbereitschaft, die dem modernen Individuum in verschiedenen Phasen der soziokulturellen Evolution zuteil wurde. Die verschiedenen Deutungen des Einzigen lassen sich aufgrund dieser wissenssoziologischen Überlegungen als ein exemplarischer Ausschnitt aus dem Spektrum moderner Individualidentitätsangebote beobachten. Darauf zielt die erkenntnisleitende These von der individualitätssemantischen Exemplarizität des Einzigen, während diejenige von der Symptomatizität des Einzigen sich auf den konjunkturellen Verlauf der Stirner-Rezeptionsgeschichte bezieht. Beides zusammen ermöglicht den Schluß auf die These von der heutigen Selbstverständlichkeit des Einzigen als des Einzigen der modernen Gesellschaft.

5. Geschichte und Gegenwart des Einzigen

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5. Geschichte und Gegenwart des Einzigen: die ‚Anatomie moderner Individualität‘ und ihr Aufbau Stirner ist heute vergessen, weil der Einzige selbstverständlich geworden ist. Der Einzige ist in seiner Stirner-rezeptionsgeschichtlich interpretatorisch entfalteten Vielgestaltigkeit in das semantische Selbstverständnis der modernen Gesellschaft eingegangen, nämlich in Form von Individualidentitätsangeboten, auf die kommunikativ zugegriffen wird, wenn Individuen in ihrer Individualität thematisiert werden. Diese Selbstverständlichkeit des Einzigen läßt sich an heute geläufigen Individualidentitätsangeboten ablesen, die exemplarisch bereits in der Stirner-Rezeptionsgeschichte artikuliert wurden und mittlerweile zum individualitätssemantischen Standardrepertoire der modernen Gesellschaft gehören. Insofern kann diese These erst im Durchgang durch die historischen Interpretationen des Einzigen plausibilisiert und vor diesem Hintergrund illustriert und theoretisch spezifiziert werden. Ihr Grundgedanke läßt sich aufgrund der skizzierten wissenssoziologischen Überlegungen zur soziokulturellen Symptomatizität der StirnerRezeptionsgeschichte erläutern. Die auffälligen konjunkturellen Schwankungen in deren Verlauf erscheinen demnach als symptomatisch für Tendenzen in der soziokulturellen Evolution, die eine Veränderung des auf das moderne Individuum bezogenen semantischen Problematisierungsbedarfs zeitigten. In dieser Sicht fand Stirner, als er seinen Einzigen in der Mitte des 19. Jahrhunderts vorstellte, vergleichsweise wenig Resonanz, weil es zur gleichen Zeit noch plausiblere und attraktivere semantische Angebote zur Registratur und Reflexion der Exklusionsindividualität gab. Mit Blick auf den junghegelianischen Entstehungskontext des Einzigen und auch an die später in dessen Rezeptionsgeschichte geführten Debatten ist hierbei nicht zuletzt an den Historischen Materialismus von Marx und Engels zu denken, der in seiner geschichtsteleologisch beglaubigten, wissenschaftlichen Beschreibung der historisch-sozialen Wirklichkeit das Problem des Individuums und seiner Entfremdung gleich mit löste: sowohl in der soziologischen Beschreibung als auch im politischen Projekt der Herbeiführung einer „Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“85 Die Stirner-Renaissance im Fin de siècle und die daran anschließende rezeptionsgeschichtliche Hochkonjunktur Stirners ist dagegen Ausdruck eines veränderten Problembewußtseins und erhöhten Reflexionsbedarfs bezüglich des Individuums, der semantisch durch eine sich im Lichte der fortschreitenden Erosion überkommener Gewißheiten verändernde Sicht auf die politische, moralische und kulturelle Ordnung der modernen Gesellschaft und deren Entwicklungsaussichten geprägt ist. 85

Marx/Engels (1848), S. 51.

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I. Stirners Einziger und seine Rezeptionsgeschichte

Zeitgleich ist dies in ebenfalls symptomatischer und exemplarischer Weise auch in den Leitthemen der soziologischen Klassik, prominent etwa bei Georg Simmel und Max Weber,86 und in den programmatischen Thematisierungen von Modernität in der ästhetischen Reflexion der Kunst beobachtbar.87 Stirners Einziger wurde – neben anderen semantischen Angeboten – ein Medium der semantischen Reflexion und Konstruktion von Individualität in einer modernen Gesellschaft, der in ihren Selbstbeschreibungen ihre Modernität in vielfältiger Weise zum Problem und deswegen mitunter auch ihre eigene Überwindung zum Anliegen wurde. Im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat das am Einzigen verhandelte Problem des modernen Individuums seine Brisanz verloren – und deswegen konnte Stirner vergessen werden –, aber nicht seine Relevanz. Die moderne Gesellschaft hat sich mittlerweile lediglich daran gewöhnt, daß sie es mit Individuen zu tun hat, wie sie in den mit den Interpretationen des Einzigen gegebenen Individualidentitätsangeboten beschrieben werden: mit nonkonformistischen Selbstverwirklichern, tabubrechenden Provokateuren, distinktionsbewußten Individualisten, pragmatischen Hedonisten, mit auf- und abgeklärten Ironikern und anderen sozial angepaßten, postheroischen Charakteren; aber auch mit paranoiden Fanatikern, grandiosen Egomanen, terroristischen Selbstmordattentätern, mit mörderischen Psychopathen und anderen antisozialen Persönlichkeiten. Wenn die moderne Gesellschaft, insbesondere in ihrer massenmedialen Realitätskonstruktion, Individuen thematisiert, rechnet sie daher routinemäßig auch mit dem Einzigen. Aber dafür muß sie Stirner und sein Buch nicht kennen. Der Einzige bzw. das, als was sich der Einzige rezeptionsgeschichtlich erwiesen hat, ist eine Trivialität, ein Gemeinplatz. Und um einen Gemeinplatz zu nutzen, muß man dessen Autor nicht kennen.88 Der Einzige ist selbstverständlich geworden, als Einziger der modernen Gesellschaft. Das bedeutet nicht, daß die moderne Gesellschaft die Gesellschaft des Einzigen wäre. Vielmehr ist der so verstandene Einzige ein 86

Vgl. Landmann (1976); Dahme/Rammstedt (1983); Bickel u. a. (1987); Luhmann (1993b III), S. 149 ff.; Neusüss (1997), S. 12 ff.; Schroer (2001), S. 327 ff.; vgl. auch Bickel (2002); Müller (2002); Nedelmann (2002). 87 Vgl. Gumbrecht (1978), S. 120 ff.; Sandor (1982), S. 340 ff.; Grimminger (1995). 88 Und da Gemeinplätze nichts Originelles sind, besteht auch für gewöhnlich kein Anlaß, hierfür eine Autorschaft anzugeben. Daß, wie in der Süddeutschen Zeitung vom 9. Oktober 2001, also einen Monat nach den Terroranschlägen von Washington und New York, Osama Bin Laden explizit als ein „Stirnerscher Einziger“ bezeichnet wird, der bereit ist, „die böse Sache als die seine zu vertreten“ (Raulff (2001), S. 17), ist eine Ausnahme. Allerdings eine symptomatische: Einige Einzige fallen eben mehr auf als andere Einzige. – Siehe auch unten, VIII. 2. b).

5. Geschichte und Gegenwart des Einzigen

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Aspekt der modernen Gesellschaft. Diese Situation ist nicht Stirner oder seinen rezeptionsgeschichtlichen Interpreten als Erfolg zuzuschreiben, sondern als Ergebnis soziokultureller Evolution zu begreifen. Aber da Stirner bzw. der Einzige faktisch in diesen individualitätskonstruktiven Aspekt der modernen soziokulturellen Evolution verwickelt war und die rezeptionsgeschichtlichen Deutungen des Einzigen als exemplarisch für moderne Individualidentitätsangebote gelten können, ist die Analyse dieser Deutungen aufschlußreich zum soziologischen Verständnis des modernen Individuums. Das ist mit ‚Anatomie moderner Individualität‘ gemeint.89 Der Aufbau der Studie und die Auswahl der zu behandelnden Stirner-rezeptionsgeschichtlichen Beiträge folgen diesem Erkenntnisinteresse und den dargestellten erkenntnisleitenden Thesen. Die Stirner-Rezeptionsgeschichte soll unter dem Aspekt exemplarischer gesellschaftlicher Auseinandersetzungen mit moderner Individualität in einem breiten Spektrum von unterschiedlichen Individualidentitätsangeboten beobachtet werden. Deshalb werden einerseits Texte analysiert, die für den Stirner-rezeptionsgeschichtlichen Diskurs typische Deutungen des Einzigen präsentieren, insofern auch stellvertretend für die Beiträge weiterer Interpreten herangezogen werden und häufig als Referenz innerhalb des Diskurses zitiert werden. Andererseits werden, um die Breite des Stirner-rezeptionsgeschichtlichen Interpretationsspektrums zu durchmessen, insbesondere auch extreme Positionen in der Deutung des Einzigen behandelt, die innerhalb des Diskurses entsprechend kontrovers behandelt wurden, aber als solche zur zeitgenössischen Wahrnehmung des Einzigen beitrugen. Da die meisten Interpretationen des Einzigen in ihrer Heterogenität und Vielfalt prinzipiell bereits in der Zeit der Stirner-Renaissance bis zum Ersten Weltkrieg artikuliert wurden und da die moderne Gesellschaft damals bezüglich Stirners und seines Einzigen bereits ihr höchstes Erregungsniveau erreichte, stammt der größte Teil des in dieser Studie untersuchten Textmaterials aus diesem Zeitraum. Darüber hinaus werden spätere Interpretationen, sowohl aus der Zwischenkriegszeit als auch aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, herangezogen, die das Interpretationsspektrum des Einzigen grundsätzlich erweitern und an denen, in diachroner Perspektive, historisch und seman89 Metaphorisch geht es dabei darum, am ‚toten‘, nämlich historischen Textmaterial Schichten und Funktionszusammenhänge zu ‚präparieren‘, also semantische Strukturen zu analysieren, um damit etwas zur Erkenntnis der ‚lebendigen‘ Gegenwart beizutragen; und zwar als ‚Grundlagenforschung‘ auch für andere, sub- und interdisziplinäre Fragestellungen. Dabei ist die anatomische Perspektive keine therapeutische: sie ist selbst normativ enthaltsam, aber gleichwohl auch normativ anschlußfähig. Und sie präsentiert immer nur Ausschnitte, ‚Quer-‘ und ‚Längsschnitte‘, die nur spezifische Aspekte der ‚lebendigen‘ Totalität erkennen lassen – aber immerhin: relevante Aspekte.

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I. Stirners Einziger und seine Rezeptionsgeschichte

tisch-evolutionär bedingte Veränderungen im Bild des Einzigen sichtbar werden, die Rückschlüsse auf Entwicklungstendenzen in der semantischen Konstruktion des modernen Individuums zulassen. Prinzipiell wird dementsprechend bei der Auswahl des dargestellten rezeptionsgeschichtlichen Textmaterials Stirner-Interpretationen mit im weiteren Sinne gegenwartsdiagnostischen, weltanschaulichen und anderen zeitgeschichtlich aktuellen und modernitätsdiagnostisch relevanten Bezügen der Vorzug gegenüber etwa philosophiegeschichtlichen Abhandlungen gegeben. Die diachrone Vergleichsperspektive wird zudem durch die von der Stirner-Renaissance bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts beobachtbare Einheit des Stirner-rezeptionsgeschichtlichen Diskurses gewährleistet, die sich sowohl im expliziten Bezug seiner einzelnen Beiträge auf Stirner und den Einzigen90 als auch in der gegenseitigen Bezugnahme der Interpreten aufeinander und der Fortführung bestimmter Thematisierungsstränge konstituiert. Diese diskursive Vernetzung rechtfertigt auch die Konzentration der Untersuchung auf Texte aus dem deutschen Sprachraum, innerhalb dessen sich die meisten Referenzen bewegen. Zwar wird in einigen dieser Beiträge, insbesondere im wissenschaftlichen Anarchismus-Diskurs, auch auf beispielsweise englische und französische Publikationen verwiesen, und auch etwa bezüglich der hierin als Evidenzen für das Handeln zeitgenössischer Einziger fungierenden anarchistischen Attentate wurde über die Grenzen des deutschen Sprachraums hinausgeblickt. Aber somit schlägt sich auch dies im deutschsprachigen Diskurs nieder und findet Berücksichtigung. Das illustriert zugleich die dieser Arbeit modernitätstheoretisch zugrundeliegende Annahme einer exemplarischen Bedeutung des Stirner-rezeptionsgeschichtlichen Diskurses für die Individualitätssemantik der modernen Gesellschaft insgesamt, auch wenn davon auszugehen ist, daß dieser Individualitätsdiskurs hier in einer möglicherweise spezifisch deutschen Ausprägung zu beobachten ist, die sich aus spezifischen kulturellen Traditionen speist und auch vor dem Hintergrund bestimmter nationalgeschichtlicher Entwicklungen zu verstehen ist. Eine an diese Vermutung anknüpfende Sonderwegsthese ist allerdings in der vorliegenden Untersuchung weder intendiert noch zu belegen.91 90 Bloß implizite Bezüge auf den Einzigen, etwa in literarischen Texten, oder mittelbare Rezeptionszusammenhänge wurden deswegen hier nicht weiter verfolgt; dies würde eine eigenständige Untersuchung erfordern, erübrigt sich aber für die vorliegende Studie aufgrund ihrer wissenssoziologisch an semantischer Exemplarizität orientierten Anlage. 91 Hierzu bedürfte es einer durch die systematische Hinzuziehung weiterer ‚nationaler‘ Stirner-Rezeptionsgeschichten gewonnenen vergleichenden Perspektive. Auf der Ebene der wissenssoziologischen Beobachtung moderner Individualidentitätsangebote dürfte dies im Ergebnis allerdings wenig ändern. Denn die meisten Themen, Perspektiven und Phänomene, die den hier beobachteten rezeptionsgeschichtlichen Zusammenhang prägen, lassen sich in ihrer Relevanz für die Entwicklung des mo-

5. Geschichte und Gegenwart des Einzigen

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Dem generell modernitätsdiagnostischen Interesse entspricht der Aufbau der Studie. Im folgenden, zweiten Kapitel wird ein Modernitätsverständnis entwickelt, das einerseits der aufklärungstheoretischen Reflexion der hier eingenommenen Perspektive dient und andererseits den Ausgangspunkt für die Unterscheidung von realistischen und eskapistischen Verarbeitungsweisen der Modernitätserfahrung bildet. Im Zentrum steht hierbei Sigmund Freuds Diktum von den Kränkungen des menschlichen Narzißmus, dessen theoretischer Kontext ausführlich und unter besonderer Berücksichtigung seiner individualitätssemantischen Voraussetzungen und Konsequenzen dargestellt wird. Dieses und verwandte modernitätssemantische Angebote, wie sie sich etwa in Max Webers Entzauberungsmetapher verdichten, bilden den zeitgenössischen Hintergrund der Stirner-rezeptionsgeschichtlichen Hochphase und fungieren deshalb im Hinblick auf die Interpretationen des Einzigen und die darin artikulierten Individualidentitätsangebote als Folie einer realistischen Modernitätsdiagnose. Unter dieser Voraussetzung wird im dritten Kapitel der Eskapismus all-einziger Individualidentitätsangebote – illustriert anhand all-einziger Propheten- und Führergestalten der Zwischenkriegszeit – am Typus des Charismatikers untersucht, und zwar zunächst in der theoretischen Perspektive der Weberschen Charisma-Soziologie und der psychoanalytischen Narzißmuspsychologie, deren Einsichten dann für die wissenssoziologische Beobachtung kommunikationstheoretisch rekonstruiert werden. Diese charisma- und narzißmustheoretischen Überlegungen stellen systematisch die Verbindung des zuvor dargestellten, realistischen Modernitätsverständnisses mit dem Eskapismus der All-Einzigkeit her und dienen der Analyse der soziokulturellen Erfolgsbedingungen und semantischen Struktur von im weiteren Verlauf der Studie untersuchten all-einzigen Stirner-Interpretationen. Die folgenden vier Kapitel behandeln dann ausführlich konkrete Interpretationen des Einzigen aus der Hochphase der Stirner-Rezeptionsgeschichte, wobei die ersten drei dieser Kapitel ausschließlich der Zeit der StirnerRenaissance bis zum Ersten Weltkrieg gewidmet sind. Die Gliederung dieser vier Kapitel und die Darstellung der darin behandelten Texte erfolgen unter dem Gesichtspunkt bestimmter Leitthemen innerhalb der StirnerRezeptionsgeschichte und unter Berücksichtigung der hierbei je relevanten historisch-diskursiven Kontexte. Insofern sind diese Kapitel auch ideenund ideologiegeschichtliche Teiluntersuchungen der Stirner-Rezeptionsgeschichte, über deren jeweilige inhaltliche und autorenbezogene Schwerdernen Selbstverständnisses nicht auf ‚nationale‘ historische Erfahrungsräume oder Kulturen beschränken. Das gilt, wie schon erwähnt, für den Anarchismus, aber auch etwa für den Marxismus, den Existentialismus und den Pragmatismus, für die Erfahrungen der Weltkriege und des Totalitarismus, und nicht zuletzt für die bohemischen Subkulturen der Jahrhundertwende und die Studentenrevolte der 1960er Jahre.

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I. Stirners Einziger und seine Rezeptionsgeschichte

punkte die Kapitelüberschriften sowie Abschnitts- bzw. Unterabschnittstitel informieren. Zugleich fungiert als übergeordnetes Gliederungsprinzip für die Kapitelaufteilung dieses historisch-empirischen Teils die interpretationsschematische Leitdifferenz ‚All-Einzigkeit vs. Je-Einzigkeit‘, so daß sich auch in den im engeren Sinne hermeneutisch argumentierenden und textanalytischen Passagen die wissenssoziologische und modernitätsdiagnostische Anlage dieser Arbeit bewährt. Das vierte Kapitel leuchtet in diesem Sinne strukturelle Aspekte und antisoziale Implikationen all-einziger Individualidentitätsangebote im individualitätssemantischen Extrembereich aus. Daran anschließend widmet sich das fünfte Kapitel der sozialen Phänomenologie dieser Antisozialität in ihren zeitgenössischen Ausdrucksformen, ihrer Problematisierung und Deutung im wissenschaftlichen Diskurs über den Anarchismus. Das sechste Kapitel behandelt die Thematisierung Stirners im Zusammenhang mit Nietzsche im Kontext des Individualismusdiskurses der Jahrhundertwende und die darin artikulierten, regelmäßig normativ geprägten Konzeptionen von Je-Einzigkeit, die in den Individualidentitätsangeboten kulturell oppositioneller und moralisch devianter Lebensstile ihre sozialphänomenologischen Evidenzen und Resonanzräume fanden. Das siebente Kapitel ergänzt das Spektrum je-einziger Individualidentitätsangebote jenseits des reinen Individualismus im Hinblick auf verschiedene weltanschauliche und sozialdiagnostische Ausgestaltungen der sozialen Welt der Je-Einzigkeit und verfolgt dies über die Stirner-Renaissance hinaus in die Zwischenkriegszeit, in der sich ein auf die Etablierung des Einzigen vorausweisender Bedeutungswandel je-einziger Individualidentitätsangebote abzeichnet, der unter dem Stichwort einer ‚Verbürgerlichung des Einzigen‘ behandelt wird. Im letzten, achten Kapitel wird zunächst die Stirner-rezeptionsgeschichtliche Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg resümiert, die vor dem Hintergrund des in den 60er und 70er Jahren einsetzenden Individualisierungsschubes ausläuft und schließlich, wie anhand gängiger Individualidentitätsangebote aus dem späten 20. und frühen 21. Jahrhundert illustriert wird, in die Stirner-vergessene Selbstverständlichkeit des Einzigen mündet. Nach der wissenssoziologischen Rekapitulation der in dieser Untersuchung erzählten Geschichte des Einzigen wird dann abschließend das hiermit unterbreitete Deutungsangebot in seiner modernitätsdiagnostischen Bedeutung spezifiziert und im Lichte seines Erkenntnisanspruchs ausgewertet. Dieser Erkenntnisanspruch ist dreistufig: Die vorliegende Untersuchung ist, erstens, eine ideen- und ideologiegeschichtliche Studie zur Rezeptionsgeschichte eines ‚vergessenen Klassikers‘ und zum Individualismus in seinen vielfältigen Ausprägungen, zu denen nicht zuletzt auch der Anarchismus gehört. Zweitens, und das ist das zentrale Anliegen, versteht sie sich als Beitrag zur Konstruktionsgeschichte des modernen Individuums und sei-

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ner Individualität im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, also im historischen Kontext der im Hinblick auf ihre zeitgenössische, etwa soziologische und ästhetische Reflexion rückblickend als ‚klassisch‘ geltenden Phase der Moderne. Und wenn im analytischen Durchgang durch das historisch-semantische Textmaterial und im Blick auf das Schicksal des Einzigen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die These von der heutigen Selbstverständlichkeit des Einzigen einleuchtet, dann ist auch das dritte, weitestgehende Erkenntnisziel einer auch gegenwartsdiagnostisch instruktiven Modernitätsbeobachtung erreicht.

II. Paradise Lost Das Leben zerfällt in zwei Teile: Das Schreckliche und das Unglückliche. Das Schreckliche, das sind die unheilbaren Krankheiten, Blindheit, Verkrüppelung. Und das Unglückliche, das umfaßt alles andere. Du kannst also von Glück sagen, wenn Du unglücklich bist. Woody Allen1 This fragile life really worries me. Newtown Neurotics2

1. Fragmente der Großen Erzählung Die evolutionistisch-konstruktivistische Wissenssoziologie, deren Perspektive in der vorliegenden Studie sozialtheoretisch zur Anwendung kommt, versteht sich als ‚Soziologische Aufklärung‘. Als solche verspricht sie, durch die Beleuchtung bestimmter Aspekte der Moderne einen Erkenntnisgewinn zu bewirken, der zu einer Erhellung des modernen Selbstverständnisses beiträgt. Damit verortet sie sich reflexiv in jener Tradition der Latenzbeobachtung, mit der sich die moderne Gesellschaft seit bald zwei Jahrhunderten durch zunächst ideologiekritische, dann psychoanalytische und wissenssoziologische Wiederbeschreibungen ihrer selbst verblüfft und über sich selbst informiert hat, und die sie schließlich in den semantischen Fundus ihrer Selbstverständnisse und Selbstverständlichkeiten aufgenommen hat. Die evolutionistisch-konstruktivistische Wissenssoziologie erkennt in dieser spezifisch modernen Tradition den semantischen Ausdruck und die Reflexion sozialstruktureller Bedingungen, die gesellschaftstheoretisch als durch den funktionalen Differenzierungsprimat bedingte ‚Polykontexturalität‘ beschreibbar sind. Und sie erkennt darin den reflexiv kultivierten Niederschlag moderner Beobachtungsroutinen, die mittlerweile gewohnheitsmäßig von dem in der Beobachtung zweiter Ordnung zugänglichen Wissen um die Perspektivität, die standortspezifischen Latenzen und die Intransparenzen von Weltbeschreibungen ausgehen können. Auf diesen wissenssoziologisch be1 2

Als Alvy Singer in „Der Stadtneurotiker“ (1977). „This Fragile Life“ (1985).

1. Fragmente der Großen Erzählung

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schreibbaren Zusammenhängen beruht die Plausibilität dieser modernen semantischen Tradition der Latenzbeobachtung, und auch ihr spezifischer Erkenntniswert in einer Gesellschaft, die sich in ihrer ‚hyperkomplexen‘ Struktur und aufgrund der in jeder Beobachtung bzw. Beschreibung operativ erzeugten Latenzen insgesamt immer intransparent bleiben muß, die also, um sich über sich selbst und ihre Welt zu informieren, immer darauf angewiesen bleibt, sich selbst in ihren eigenen Beobachtungen zu beobachten, Selbstund Wieder-Beschreibungen anzufertigen, die sich dann in der Realitätsprüfung rekursiver Kommunikationen evolutionär bewähren können. Diesen Zusammenhängen verdankt die Latenzbeobachtung auch ihre anfängliche Faszination, die mit ihrer heroischen Applikation ‚inkongruenter Perspektiven‘ verbunden war. Man konnte – und hierfür stehen prominent die Namen Marx, Nietzsche, Freud – das gesellschaftliche Selbstverständnis mit ungewohnten, diesem zuwiderlaufenden Beschreibungen konfrontieren, Selbstverständlichkeiten in Frage stellen und unter Berufung auf die aus der inkongruenten Perspektive gewonnenen Erkenntnisse dementieren, vormalige Wahrheiten auf systematische Bewußtseins-Täuschungen zurückführen, als Illusionen durchschaubar machen – und die damit verbundenen Irritationen und daraus resultierenden Irritabilitäten schließlich als ‚Aufklärung‘ in das Selbstverständnis der modernen Gesellschaft aufnehmen.3 Vom heroischen Gestus, mit dem diese Aufklärung einst aufgetreten war, ist mittlerweile wenig übrig. In vielfachen Brechungen durch rivalisierende Perspektiven und Projektentwürfe, durch Fremdbeobachtungen und durch Reflexionen, in denen sich die Aufklärung über sich selbst aufklärte, aufklären ließ oder bezüglich ihrer Ambitionen und Hoffnungen schlicht in ihre Schranken gewiesen wurde, ist ihr anfängliches Pathos der Ironie gewichen: dem Wissen um die Kontingenz aller, und so auch der eigenen Überzeugungen und Standpunkte.4 Aber auch dieses Wissen ist noch keine Selbstverständlichkeit; mag auch „Kontingenz“ zum „Midas-Gold der Mo3 Vgl. Luhmann (1990c), S. 92 f.; (1991a), S. 55 f.; (1994a), S. 5 ff.; (1994b), S. 89 ff., 501 ff., 627 ff., 666 ff., 710 ff.; (1997a), S. 33 ff., 42 f., 766 ff., 800 ff., 876 ff., 886 ff., 1109 ff., 1141 f.; (1999), S. 159 f., 167 f., 174 ff.; vgl. auch Luhmann (1990d); (1991d); (1993c); sowie generell Luhmann (1993a) und (1993b). – Mit dem skizzierten Gedankengang wird für die evolutionistisch-konstruktivistische Wissenssoziologie das geleistet, was Luhmann als epistemologische Konsequenz der Beobachtung zweiter Ordnung fordert, nämlich von einer „Position dritter Ordnung“ (Luhmann (1997a), S. 1117, vgl. S. 1132) autologisch auf die Kontingenz der eigenen Beobachtung rückzuschließen und auf die eigenen perspektivischen Möglichkeitsbedingungen zu reflektieren: die eigenen soziokulturell-evolutiven Plausibilitätsvoraussetzungen, die eigene Position in der Gesellschaftsbeschreibung und die operativen Latenzen bzw. blinden Flecken, die die eigene Beobachtung ermöglichen (vgl. Luhmann (1997a), S. 187 f. 1110 ff., 1117 ff., 1141 f.). 4 Vgl. Rorty (1992).

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II. Paradise Lost

derne“ geronnen sein,5 im Selbstverständnis der modernen Gesellschaft bleiben der Wert dieses Goldes und die Konsequenzen seiner Geltung umstritten – und mitunter blutig umkämpft. Somit ist die Aufklärung nicht am Ende. Sie ist mittlerweile nur nüchterner – und ernüchtert bezüglich ihrer Reichweite. Dies ist zumindest die Auskunft der ‚Soziologischen Aufklärung‘ Luhmanns als einer von vielen möglichen Gestalten dieses ironischen Wissens.6 Mit seinem reflexiven Erkenntnisanspruch steht dieses Wissen in der Kontinuität der historischen Aufklärung. Es bricht aber mit deren spezifischem Selbstverständnis als Projekt, mittels dessen die Aufklärung sich Lyotard zufolge als „große Erzählung“ entworfen hatte, die ihre Legitimität und Legitimationskraft „in einer einzulösenden Zukunft, das heißt in einer noch zu verwirklichenden Idee“ beglaubigt hatte.7 Im Zentrum dieser großen Erzählung stand der Glaube an den menschheitlichen Fortschritt, etwa als „progressive Emanzipation von Vernunft und Freiheit, progressive oder katastrophische Emanzipation der Arbeit [. . .], Bereicherung der gesamten Menschheit durch den Fortschritt der kapitalistischen Techno-Wissenschaft“.8 Unter der Condition postmoderne aber hat „[d]ie große Erzählung [. . .] ihre Glaubwürdigkeit verloren“.9 Es fehlt die eine, allumfassende und verbindliche Perspektive auf die Geschichte der Menschheit, auf ihre Zukunft und auf die Gegenwart der modernen Gesellschaft; oder besser: sie ist nicht zu haben. Dies ist freilich eine Erkenntnis, über die die Moderne sich von Anbeginn in ihrer romantischen Selbstreflexion aufgeklärt hat – auch wenn seitdem weiter an der großen Erzählung gearbeitet wurde. Und die Erzählung vom Ende der Großen Erzählung ist nur eine von vielen Möglichkeiten, dies zu reflektieren.10 Der ironische Beobachtungsmodus der Soziologischen Aufklärung ist eine andere. So ist die Große Erzählung in Fragmente zerfallen, die davon erzählen, wie es dazu kommen konnte und was vorläufig dabei herausgekommen ist; ohne, daß diese sich wieder zu einer Metaerzählung (métarécit)11 zusammenfügen ließen. Daher verzichtet die Aufklärung in ihrer romantischen Selbstreflexion, die noch die Selbstbeschreibungsformeln der ‚Postmoderne‘ als spezifisch modern ausweist,12 zwar auf das Projekt, als welches sich die historische Aufklärung beglaubigt hatte, nicht aber auf die Erzählung. Die Pluralität ihrer Erzählungen reflektiert so 5

Luhmann (1991c), S. 94. Vgl. Luhmann (1995a), S. 8. 7 Lyotard (1984), S. 49; vgl. Lyotard (1982). 8 Lyotard (1984), S. 49. 9 Lyotard (1982), S. 112. 10 Vgl. Luhmann (1997a), S. 1144. 11 Vgl. Lyotard (1982), S. 14. 12 Vgl. Luhmann (1997a), S. 1143 ff. 6

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zugleich den fragmentierten Charakter der Moderne und spiegelt die Perspektivität eines jeden der sie beschreibenden Fragmente wider, einschließlich derjenigen, die diesen Fragmentcharakter thematisieren. Im Wissen um die Möglichkeit einer anderen als der je eingenommenen narrativen Perspektive und in der Artikulation dieses Kontingenzbewußtseins – etwa in der Form des Fragments – reflektiert sich die Aufklärung als ironisches Wissen.13 Denn wenn auch die Große Erzählung der historischen Aufklärung selbst nicht bruchlos weitererzählt werden kann, so läßt sich doch immerhin noch von dieser und anderen Erzählungen erzählen, um so im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung Aufklärung über das Gewordensein von modernen Selbstverständnissen und Selbstverständlichkeiten zu erzielen. Die alte Sicherheit des Dämmerungsfluges, in dem die Hegelsche Eule der Minerva Grau in Grau erkannte, steht dabei allerdings nicht mehr zur Verfügung: weder im Hinblick auf die Behauptung, es sei in irgendeiner Hinsicht zu Ende, noch im Hinblick auf den Weg, der zur gegenwärtigen Situation geführt hat.14 Es lassen sich immer nur Teilstücke dieses Weges 13 Beschreibt man die Moderne im Sinne der konstruktivistisch-evolutionistischen Wissenssoziologie im Hinblick auf ihre sozialstrukturellen Beobachtungsbedingungen als Polykontexturalität, dann läßt sich der Kontingenzspielraum ihrer Beschreibungen formelhaft in einem Satz ausdrücken, der diesen Kontingenzspielraum in zwei Richtungen begrenzt: Die Realität der Gesellschaft ist sozial konstruiert. Das heißt einerseits, daß sie – im Unterschied zu ontologischen Vorstellungen eines beobachterunabhängigen, eindeutig wahr oder falsch beschreibbaren Seins – sozial konstruiert ist. Aber andererseits – und das ist die entscheidende Abgrenzung zu relativistischen (und auch solipsistischen) Positionen – ist sie sozial konstruiert, d. h. ihre Beschreibung ist nicht beliebig. Realität ist Widerständigkeit gegen Beliebigkeit. Im Falle sozialer Systeme konstituiert sie sich im Widerstand von Kommunikation gegen Kommunikation (vgl. z. B. Luhmann (1997a), S. 33, 538 f.). Das schließt unter polykontexturalen Beobachtungsverhältnissen nicht aus, daß gegensätzliche Beschreibungen der Realität sozial akzeptiert werden; aber es schließt genauso den Fall ein, daß bestimmte Realitätsbeschreibungen beispielsweise als individuelle Wahnvorstellung behandelbar sind. 14 „Hegels Roman der Liebe zwischen Weltgeschichte und Philosophie“ (Luhmann (1997a), S. 1081) lieferte das Vorbild für alle modernen Endgeschichtlichkeitskonstruktionen, bis hin zum Befund vom ‚Ende der großen Erzählungen‘ und darüber hinaus. Mit ihren Projektambitionen hatte sich die Aufklärung seinerzeit daraufhin in junghegelianischer und dann vor allem in historisch-materialistischer Gestalt dagegen gewehrt, sich in Hegels Endgeschichtlichkeit zur Ruhe zu setzen, und griff diese dialektisch am philosophischen System des Absoluten Idealismus an; das bloß spekulative System galt es praktisch zu überwinden, in zukunftgestaltendem Zugriff auf die Wirklichkeit. In anderer Stoßrichtung hatte zuvor bereits die Frühromantik am philosophischen System des Deutschen Idealismus, namentlich desjenigen Kants und Fichtes, Anstoß genommen und dessen Absolutismus das Fragment als die dem Weltzustand angemessenere Form entgegengestellt; die Fragmentästhetik reflektiert die perspektivische Pluralität und vielfältige Zersplitterung der Moderne; vgl. Stulpe (2001), bes. S. 30 ff., 72 ff.

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beleuchten und daran Aspekte der Gegenwart erkennen. Und aus dieser Perspektive handelt es sich weder um eine Gegenwart, die für sich beanspruchen kann, die Entwicklungen der Vergangenheit unwiderruflich zu vollenden, noch um eine solche, die sich im Namen einer projektierten Zukunft zu einem bloß transitorischen Stadium degradieren ließe. Den zentralen Stellenwert des selbstreflexiven Beobachtungsmodus der Ironie – in der von Friedrich Schlegel, Novalis und anderen geprägten Bedeutung der Kontingenzreflexion15 – in der Theorie Luhmanns unterstreicht auch deren Charakterisierung als „soziologische Romantik“,16 die in beobachtende Distanz geht zur eindeutig wegweisenden und interventionswilligen Haltung einer Aufklärung, die sich ihrer eigenen Überlegenheit gegenüber allen Vorurteilen und Obskurantismen in einer naiven Weise gewiß ist. Luhmann selbst betont an vielen Stellen diesen Traditionszusammenhang seiner operativ-konstruktivistischen Gesellschaftstheorie mit der Romantik.17 Daß er sein soziologisches Programm unter dem Titel einer Soziologischen Aufklärung laufen läßt, steht im Einklang mit der Erkenntnis, daß auch die historische Romantik nicht als die obskurantistische Gegenaufklärung auftrat, als die sie von ihren Gegnern denunziert wurde, sondern als Reflexionsform einer bis dato naiv-rationalistischen Aufklärung.18 Als spezifisch Soziologische Aufklärung läßt sich Luhmanns Theorie als „dritte Gründung der Gesellschaftstheorie“19 verstehen, von der aus sich die Geschichte der Soziologie als ein ent-täuschender Selbsternüchterungsprozeß erzählen läßt, der mit einem utopistisch-projekthaften Aufklärungsoptimismus begonnen hatte. Die Rede von der dritten gesellschaftstheoretischen Gründung stellt Luhmanns Soziologische Aufklärung in einen semantisch-evolutionären Traditionszusammenhang, der mit der „erste[n] Gründung“ der Gesellschaftstheorie im Historischen Materialismus von Marx und Engels seinen Anfang 15

Vgl. Oesterreich (1994). Fritscher (1996). 17 Vgl. z. B. Luhmann (1987a), S. 128; (1990c), S. 92; (1990d), S. 230; (1990e), S. 49; (1994b), S. 106; (1995b), S. 489; (1999), S. 164 f. 18 Als semantische Formation gehört die Romantik in den spezifischen Kontext, in dem die Gesellschaft sich als ‚Moderne‘ beschreibt, als ‚neue Zeit‘, die um ihre ‚Neuheit‘ weiß (vgl. Koselleck (1977) u. Habermas (1988), S. 13 ff.), also als reflexive Neuzeit. Die historische Romantik wird dementsprechend auch modernitätstheoretisch als „Selbstkritik der neuzeitlichen Aufklärung“ bezeichnet (Vietta (1983), S. 21). Mit ihr tritt die Neuzeit in jenes reflexive Stadium, als das sie sich im Begriff der Moderne versteht, so daß die Moderne sich auch formtheoretisch als Einheit der Differenz von Romantik und Aufklärung beschreiben läßt, die sich jeweils auf einer der beiden Seiten dieser Unterscheidung eintragen, also ‚romantisch‘ oder ‚aufklärerisch‘ beobachten läßt; vgl. Fritscher (1996). 19 Neusüss (1997). 16

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nahm.20 Die zweite gesellschaftstheoretische Gründungsphase fand dieser Sichtweise zufolge in der soziologischen Klassik statt, gekennzeichnet durch Namen wie Durkheim, Tönnies, Simmel, Weber. Mit diesen beiden soziologiegeschichtlichen Etappen läßt sich ein Reflexionsschub verzeichnen, der sich auf die Limitationen soziologischer Erkenntnisse bezieht; dieser betrifft sowohl deren epistemologischen Status als auch deren praktische Anwendung im Hinblick auf gesellschaftliche Einwirkungschancen. Von der geschichtstheoretischen Gewißheit und epistemologischen Sicherheit der ersten, „prozeßteleologische[n] Gründung“ der Gesellschaftstheorie ist in der Phase ihrer „zweiten Gründung“ wenig übrig geblieben.21 In ihr ist die vormalige Sicherheit einer entwicklungsgeschichtlich notwendigen Bewegung hin zur Gesellschaft der Freien und Gleichen einer kulturpessimistischen Skepsis gewichen. Nur die intellektuelle Hoffnung, daß soziologische Einsichten, etwa in kulturkritischer Form, als Handlungsanweisungen noch dazu beitragen könnten, das Wohl der modernen Gesellschaft und der in ihr lebenden Individuen zu fördern, lebt in dieser handlungstheoretischen, „akteursorientierte[n]“ Gründung noch fort.22 Dieser soziologische Ent-Täuschungsprozeß setzt sich beispielhaft etwa in der klassischen Wissenssoziologie Karl Mannheims fort, und er findet in der dritten, systemtheoretischen und „kommunikationsbeobachtende[n]“ Gründung der Gesellschaftstheorie seinen vorläufigen Abschluß.23 Indem diese die moderne Gesellschaft als Kommunikationssystem beschreibt, in dem Menschen und deren Handlungen nur noch als kommunikative Konstrukte vorkommen – und als Organismen und psychische Systeme in dessen Umwelt verbannt sind –, das über keine Position verfügt, von der aus es politisch steuernd auf sich selbst einwirken könnte oder die einen privilegierten Erkenntniszugang ermöglichte, konfrontiert sie die in der Moderne erwachsenen Erwartungen und Hoffnungen auf eine Verbesserung der menschlichen Verhältnisse mit Zumutungen, die eine weitere narrative Einordnung nahelegen: In Anlehnung und Fortführung des Freudschen Diktums von den drei Kränkungen, die der menschlichen Eigenliebe im Verlaufe des kulturhistorischen Prozesses seitens der Wissenschaft zugefügt wurden,24 imponiert Luhmanns Soziologische Aufklärung auch als „vierte Kränkung“.25 Als ‚vierte Kränkung‘ gewinnt Luhmanns soziologische Beschreibung der modernen Gesellschaft Profil im Kontrast zur – und in der Ent-täu20

Neusüss (1997), S. 12. Neusüss (1997), S. 12 f. 22 Neusüss (1997), S. 15. 23 Neusüss (1997), S. 19 f. 24 Vgl. Freud (1917a) und (1915–17), S. 226; vgl. auch Freud (1925b), S. 233. 25 Neusüss (1992), bes. S. 78 ff.; vgl. auch Fuchs (1997b), S. 147; Schroer (2001), S. 226. 21

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schung der – ‚utopischen Intention‘, die mit dem bewußten Zugriff auf das gesellschaftliche Ganze und seiner vernünftigen Neuordnung durch den Menschen und zu dessen Wohl seit der frühen Neuzeit auf die Utopie als ein in ihrer Verwirklichung die Mißstände der Gegenwart überwindendes Projekt zielte.26 Geboren aus der neuzeitlichen Aufklärung, behauptete das utopische Projekt deren Optimismus auch und gerade gegen die spezifisch moderne Reflexion der Aufklärung bezüglich ihrer Kehrseiten seit der Romantik. Je unbehaglicher die Moderne in ihren materiellen und ideellen Verelendungstendenzen erschien und je deutlicher darauf hingewiesen wurde, desto mehr sah sich der utopistische Strang der Aufklärung veranlaßt, auf deren vollständige Erfüllung zu drängen in der Erwartung, daß damit alle negativen Erscheinungen der Moderne als bloß vorläufige überwunden würden. In diesem Sinne wurde die utopische Intention immer mehr zu einer Abwehr der Enttäuschungen und Ernüchterungen des Modernisierungsprozesses, die das „Heil in der Flucht“27 und darin die Unschuld des naiven neuzeitlichen Aufklärungsoptimismus vor den Zumutungen der modernen Realität und ihrer Reflexion zu bewahren suchte. Im Zentrum dieser spezifisch utopistischen Enttäuschungs-Abwehr steht die Bewahrung des Glaubens an die Machbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse, als Gestaltbarkeit der Gesellschaft zum Guten. Die negativen Erscheinungen der Moderne werden ursächlich einer gesellschaftlichen Gegenwart zugerechnet, die nach Maßgabe des utopischen Projektes noch defizient und daher von diesem zu überwinden ist – in aller Regel gegen den Widerstand von Feinden des utopischen Projektes, also Feinden der Menschheit und ihrer Zukunft. Bei der Frage bzw. dem Kampf darum, wie die Gesellschaft einzurichten ist, geht es daher ums Ganze: ums Ganze der Gesellschaft, um das Schicksal der gesamten Menschheit und das Glück eines jeden ihrer Angehörigen. Jene ‚vierte Kränkung‘ in Form der ‚dritten Gründung der Gesellschaftstheorie‘ erscheint so als die gleichsam wissenschaftlich nachgereichte Desillusionierung aller Hoffnungen auf die vernünftige und bewußte Machbarkeit der menschlichen Verhältnisse, die theoretische Erklärung und Bilanzierung der Verflüchtigung utopischer Heilserwartungen, nachdem diese sich in den hybriden Phantasmagorien utopistischer Intentionalität in der genozidalen Gestalt der Totalitarismen des zwanzigsten Jahrhundert bereits selbst diskreditiert hatten. Spätestens hier ging die Unschuld verloren, die dem optimistischen Aufklärungsparadigma in Kants berühmter Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? von 1784 anhaftete: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines 26 27

Vgl. Neusüss (1992); Neusüss (1968), S. 30 ff. Neusüss (1992); vgl. Neusüss (1985).

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anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“28 Daß die in der Französischen Revolution von 1789 kultisch verehrte menschliche Vernunft, die auf das Projekt Aufklärung verpflichten und seinen Erfolg garantieren sollte, ihre Grenzen hatte, konnte man freilich schon vor dem utopistischen Gewaltakt von 1917 wissen. Neben allen diesbezüglichen Auskünften etwa bei Nietzsche waren die technologisch potenzierten Zerstörungsorgien, in denen sich die nach eigener Einschätzung zivilisatorisch und kulturell höchstentwickelten Völker seit 1914 gegenseitig abschlachteten der historisch eindringlichste Beleg. Und die der vierten, soziologischen Kränkung vorangehende dritte Kränkung durch die Psychoanalyse brachte jene Grenzen der menschlichen Vernunft wissenschaftlich auf den Begriff des Unbewußten und der Triebstruktur und erklärte damit die Autonomie und Selbsttransparenz zur Illusion, in der sich das menschliche Selbstbewußtsein seit der Aufklärung gefallen hatte. Wer trotz allem noch an dem aufklärerisch-utopistischen Projekt festhalten wollte, mußte derartige Einwände und Evidenzen entkräften, die den Verdacht einer konstitutiven Irrationalität der menschlichen Natur nährten – oder sie schlicht ignorieren. Nur einem, alles in allem, vernünftigen Wesen war zuzutrauen, daß es seine gesellschaftlichen Verhältnisse vernünftig einrichten würde, d. h. zum Wohle seiner selbst als Einzelsubjekt wie als Gattung. Für das utopische Projekt einer harmonischen und selbstbestimmten Gemeinschaft, von deren steigendem Wohlstand jeder Einzelne profitieren würde, bzw. einer Gesellschaft der Freien und Gleichen, die ein Wachstum an Lebensqualität und das Glück der Einzelnen garantiert, mußte unterstellt werden, daß die Menschheit die Fähigkeit dazu besitzt zu erkennen, daß dieses Projektziel in ihrem wohlverstandenen Interesse liegt; und daß sie in der Lage ist, diese Erkenntnis in selbstbestimmtem Handeln kollektiv umzusetzen. Kurz: der Mensch mußte Vernunft besitzen und konsequent danach handeln. Psychologische Einsichten, die diese Vernunftwesenheit dementierten – und auch die Evidenzen, auf die sie sich beriefen –, mußten also entkräftet oder zumindest entschärft werden. Nur mit dem Glauben an die menschliche Vernunft blieb noch die Hoffnung auf deren soziale Verwirklichung als Selbstrettung menschlicher Eigenliebe. Als Ausweg bot sich der soziologisch-ideologiekritisch geführte Nachweis, daß die vernunftwidrigen, aggressiven und destruktiven Aspekte der vermeintlichen menschlichen Triebnatur sozial, durch die entfremdeten und repressiven Verhält28

Kant (1784), S. 9 – H. i. O.

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nisse der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft bedingt sind und deshalb einerseits mit der Überwindung letzterer aufhören würden, das menschliche Zusammenleben und Selbstbild pathologisch zu verzerren, was andererseits die Dringlichkeit dieser Überwindung und die Kritikbedürftigkeit der Gegenwart nochmals unterstreicht.29 So ließen sich eine zeitlang die Konsequenzen aus der ‚dritten Kränkung‘ für den utopistisch intendierten Aufklärungsoptimismus noch vermeiden. Für ihn waren im Menschen immer noch ausreichende Spuren der Vernunft vorhanden, um die gesellschaftlichen Verhältnisse in einer Richtung zu gestalten, die dieser Vernunft zu voller Entfaltung verhelfen würde. In der vierten Kränkung wird allerdings die Möglichkeit einer derartigen – soziologisch betriebenen – Flucht des Utopismus vor der Psychologie selbst soziologisch unterlaufen; damit wird der vorerst letzte Ausweg verstellt.30 „Das Heil, in die Flucht geschlagen und gesucht darin, hat in ihr sich verflüchtigt! Und zwar, indem die utopische Intention, das Bewußtsein 29 Beispielhaft hierfür sind die Versuche der Frankfurter Schule, Freud für die Analyse und Kritik der modernen Gesellschaft historisch-materialistisch fruchtbar zu machen und sich dabei seiner in der pessimistischen Anthropologie des Todestriebes kulminierenden anti-utopistischen Implikationen zu entledigen. – In einer rustikaleren Variante der soziologischen Abwehr anti-utopistischer Erkenntnisse konnte man die psychologische Botschaft oder den Botschafter selbst ideologiekritisch im Aufweis historisch-sozialer Bedingtheit unschädlich machen, um die menschliche Vernunft und ihr Projekt vor ihrer ‚Zerstörung‘ durch den ‚Irrationalismus‘ zu retten (vgl. Lukács (1954 I), S. 206). So ließ sich der anthropologische Irrationalitätsverdacht selbst als schlicht irrational denunzieren, als Ausdruck irrationaler gesellschaftlicher Verhältnisse, die daher nur umso mehr der revolutionären Überwindung bedürfen, in Richtung auf die sich selbst bewußt und planvoll vernünftig steuernde Gesellschaft der Freien und Gleichen – auch unter Inkaufnahme einer als vorübergehend gedachten (Erziehungs-)Diktatur. Prominentes Beispiel hierfür ist Georg Lukács’ Kampf gegen die Zerstörung der Vernunft (1954). Nicht nur die Destruktivität des Ersten Weltkrieges war also, wie Lenin bereits nachgewiesen hatte, eine notwendige Erscheinung des ‚Imperialismus‘, mithin des ‚höchsten Stadiums des Kapitalismus‘ (vgl. Lenin (1917), S. 648 f., 728 ff., 764 ff.) – auch der ‚Irrationalismus‘ z. B. Nietzsches war ideologischer Ausdruck des Imperialismus (vgl. Lukács (1954 II), S. 7 ff.). 30 Das schließt nicht aus, daß neue Wege gesucht werden. Gegenwärtig deutet vieles darauf hin, daß in einer Art Renaissance des naiv-naturwissenschaftlichen Fortschrittsglaubens nach ihren großen sozialexperimentellen Blamagen im 20. Jahrhundert die utopische Intention ihren Ort in der Apotheose der Genetik findet. Die Entschlüsselung des ‚genetischen Codes‘ verheißt Allwissenheit und Omnipotenz, deren soziobiologische und gentechnologische Anwendung noch einmal die Hybris gottgleichen Schöpfertums heraufbeschwört, bis hin zur Revision der fundamentalen Kränkung menschlicher Existenz im Versprechen individueller Unsterblichkeit. Die Ironie besteht darin, daß dieser phantasmagorische Backlash ausgerechnet unter Berufung auf diejenige wissenschaftliche Disziplin erfolgt, die in Gestalt der Evolutionstheorie die zweite Kränkung zu verantworten hatte, nämlich die Biologie.

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noch ihrer Feinde okkupierend, als Semantik der Machbarkeit die Welt zu Folgen revolutionierte, vor deren irreversibler Unübersichtlichkeit sie sich schließlich heillos blamiert. Das ist die vierte, die soziologische Kränkung, worin, nicht länger verdrängbar, auch die dritte wiederkehrt. [. . .] Soziologische Aufklärung [. . .] ist der Ausgang aus mißverstandener Mündigkeit. Und – darin vollendet sich die Kränkungssequenz des utopischen Zeitalters wie zum Trost –: selbst verschuldet war nicht einmal dieses Mißverständnis. Weder durch den Fleiß seiner Bürger noch durch den Mut seiner Helden.“31 Die soziologische Kränkung klärt darüber auf, daß es auf die Vernunft, den Menschen und sein daran zu orientierendes Handeln gar nicht ankommt, soweit es um die Gesellschaft als ganze geht. In der Umwelt der Gesellschaft stehend, hat, was sich im Kopf des Menschen abspielt und sein Handeln motivieren mag – ob Vernunft, Trieb oder Leidenschaft – keine Einwirkungsmöglichkeiten auf diese in ihrer unübersichtlichen Komplexität als Kommunikationssystem, das sich selbst nicht transparent ist und sich selbst nicht planvoll zu steuern vermag. Auch wenn die Gesellschaft ihre prinzipielle Indifferenz gegen die mit Organismen und neurophysiologischen Systemen in ihrer Umwelt gekoppelten psychischen Systeme selektiv aufgibt, indem sie diese z. B. als Menschen mit Rechten oder Individuen mit Glücksansprüchen thematisiert, heißt das nicht, daß sie in der Lage wäre, zum Wohle dieser auf sich einzuwirken. Das aus dem frühen Optimismus der Aufklärung geborene Vertrauen der Menschheit in ihre Fähigkeit, zu ihrem eigenen Wohl selbstbewußt ihre gesellschaftlichen Lebensverhältnisse vernünftig einzurichten und ihren Bedürfnissen entsprechend zu gestalten, wird in diesem Befund erschüttert.32 Die Gesellschaftstheorie bringt hierin retrospektiv auf den Begriff, was das 20. Jahrhundert in Form historischer Evidenzen der Menschheit an Erfahrungen aufgenötigt hat, insbesondere derjenigen des katastrophalen Scheiterns utopischer Glücksverheißungen, teils in infernalischer Destruktivität, teils in einem bloßen Verpuffen. Als vierte Kränkung erklärt sie soziologisch die historischen Erfahrungen, die als Erwartungen bereits in der dritten Kränkung psychologisch begründet worden waren. Als 1917 die Oktoberrevolution den Startschuß gab für die vorerst letzte und verlustreichste Etappe des utopistischen Rennens, war eine gewisse Skepsis im Hinblick auf die sittlich-moralische Fortschrittsfähigkeit der Menschheit in Verbindung mit dem Vertrauen in die Segnungen wissenschaftlich-technischen 31

Neusüss (1992), S. 86 – H. i. O. Im Vorwort des sechsten, Die Soziologie und der Mensch untertitelten Bandes seiner Aufsatzsammlung Soziologische Aufklärung konstatiert Niklas Luhmann: „Am Ende dieses Jahrhunderts ist kaum noch zu bestreiten, daß die Menschen mit einer Gesellschaft ohne Glück, ohne Solidarität und ohne Aussicht auf Angleichung der Lebensverhältnisse zurechtkommen müssen.“ (Luhmann (1995a), S. 8). 32

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Fortschritts schon angebracht. Der Glaube an einen inneren Zusammenhang von industriell-technischen Fortschritt und gesellschaftlicher Wohlstandssteigerung, die letztlich einer immer größeren Zahl zugute kommen würde, und damit einer allgemeinen Verbesserung der Lebensverhältnisse – in Hinblick auf materiellen Genuß, medizinische Versorgung und Bildung – gehörte zum Kernbestand des modernen Selbstverständnisses im 19. Jahrhundert, bei allem Problembewußtsein bezüglich der ‚socialen Frage‘ in der bedrängenden Gestalt proletarischer Massenverelendung. Aber auch diese würde sich im Zuge fortschreitender rationaler Naturbeherrschung im Zuge der Höherentwicklung der Menschheit in den Griff bekommen lassen, als eine Frage der Verteilung des stetig wachsenden Wohlstandes, sei es durch die Kräfte des Marktes oder mit Hilfe sozialreformerischer politischer Eingriffe – oder durch Revolution. Der Erste Weltkrieg korrigierte das Bild, indem er die durch technologischen Fortschritt erreichte Zerstörungsgewalt demonstrierte. Das elendige Massensterben in den Materialschlachten stellte den vermeintlich notwendigen Zusammenhang von technischem und humanitärem Fortschritt in Frage. Technologische Überlegenheit war nicht länger fraglos ein Garant menschheitlicher Selbstbeglückung, sondern wurde nun Mittel zur Massenvernichtung. Und die atavistisch anmutenden Grausamkeiten des Krieges zwischen den höchstentwickelten Nationen der Welt mußten den aufklärerischen Optimismus in menschliche Vernunft und Fortschrittsfähigkeit fundamental erschüttern. Aber man konnte auch im Angesicht dieser europäischen Katastrophe, in der die im Hinblick auf alle kulturgeschichtlichen und zivilisatorischen Errungenschaften der Menschheit fortgeschrittensten Nationen gegenseitig ihre Jugend abschlachteten, noch an den historischen Fortschritt der Vernunft glauben. Man konnte, mehr noch, gerade diese Gewaltorgie als Beleg für die Notwendigkeit und Motivation dieses, freilich nur revolutionär, also seinerseits mit Gewalt zu bewerkstelligenden Fortschrittes nutzen. Im Jahr vor der Oktoberrevolution hatte Lenin in seiner Schrift Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus – wie er im Vorwort von 1920, vom Standpunkt der siegreichen Revolution, zufrieden resümiert – den „Beweis erbracht, daß der Krieg von 1914–1918 auf beiden Seiten ein imperialistischer Krieg (d. h. ein Eroberungskrieg, ein Raub- und Plünderungskrieg) war, ein Krieg um die Aufteilung der Welt, um die Verteilung und Neuverteilung der Kolonien, der ‚Einflußsphären‘ des Finanzkapitals usw. [. . .] [Die] Ergebnisse zeigen, daß auf einer solchen wirtschaftlichen Grundlage, solange das Privateigentum an den Produktionsmitteln besteht, imperialistische Kriege unvermeidlich sind.“33 Die kriegerische Massenvernichtung entspricht demnach der spezifischen Logik der kapitalistischen Gesell33

Lenin (1917), S. 648 f. – H. i. O.

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schaft, während dagegen die höhere Rationalität der klassenlosen Gesellschaft des Kommunismus die Überwindung aller Destruktivität und Irrationalität verheißt. Und sie garantiert die Versöhnung von gesellschaftlichem und technologischem Fortschritt zum Wohle der gesamten Menschheit. So kann Lenin am 22. Dezember 1920 unter dem ‚donnernden Beifall‘ und den ‚stürmischen Ovationen‘ – „Es lebe Genosse Lenin!“ – der 2537 Delegierten des VIII. Gesamtrussischen Sowjetkongresses in Moskau verkünden:34 „Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes.“35 „Wir müssen es dahin bringen, daß jede Fabrik, jedes Kraftwerk zu einer Stätte der Aufklärung wird, und wenn Rußland sich mit einem dichten Netz von elektrischen Kraftwerken und mächtigen technischen Anlagen bedeckt haben wird, dann wird unser kommunistischer Wirtschaftsaufbau zum Vorbild für das kommende sozialistische Europa und Asien werden.“36 Unter ‚stürmischem, nicht enden wollendem Beifall‘,37 verbinden sich noch einmal, in weltrevolutionärer Zuspitzung, Aufklärungsoptimismus und technologische Fortschrittsgewißheit zum utopistischen Projekt der Menschheitsbeglückung. Man mußte die Welt nur vernünftig einrichten, d. h. die im Verlaufe ihrer historischen Entwicklung notwendig irrational und destruktiv gewordenen Strukturen der kapitalistischen Gesellschaft revolutionär zerschlagen und – übergangsweise diktatorisch – den Kommunismus, also die Utopie, verwirklichen, und alles würde gut, d. h. die Gesellschaft der Freien und Gleichen würde Wirklichkeit. Der neue sozialistische Mensch würde alle irrationalistischen Anthropologien und kulturpessimistischen Psychologien der dekadenten und reaktionären bourgeoisen Intelligenz Lügen strafen.38 Als die Bolschewiki sich 1917 an die Umsetzung dieses Planes machten, war dies zugleich der Auftakt zum vorerst letzten und ungeheuerlichsten Gewaltstreich der utopischen Intention. Aus heutiger Sicht erweist sich die Oktoberrevolution als Anfang vom „Ende der Illusion“39, die sich als Farce darstellt, soweit sie als Überbietung der Ereignisse von 1789 begrüßt wurde. Die Tragik liegt in der Diskrepanz zwischen der utopischen Erlösungshoffnung und der terroristischen Brutalität ihrer Konterkarikatur. Was als ultimative Menschheitsbeglückung projektiert war, wurde zur Einleitung der massenmörderischen Gewaltorgien des 20. Jahrhunderts. Offenbar war die Flucht in die Heilsversprechen des Terrors immer noch dem Unheil der Kränkung, daß Heil in Gestalt der Utopie nicht zu erwarten war, vorzuziehen. 34 35 36 37 38 39

Vgl. Lenin, AW VI, S. 6, 705. Lenin (1920), S. 40 – H. i. O. Lenin (1920), S. 42. Vgl. Lenin, AW VI, S. 42. Vgl. z. B. Lukács (1954 I), S. 206; (1954 II), S. 10 ff. Furet (1995).

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Dennoch hatte die Große Erzählung ihre Legitimationskraft im 20. Jahrhundert überspannt. Die Geschichten, die mit den Namen ‚Auschwitz‘ und ‚Hiroshima‘ verbunden sind, erzählen von ihrer Delegitimation. In ihnen verdichtet sich stellvertretend ein theoretischer Erklärungsnotstand, dem die Große Erzählung vom vernünftigen Menschen und der progressiven Verbesserung seiner Lebensverhältnisse durch Aufklärung und technologischen Fortschritt nicht zu begegnen weiß. Die vorliegenden Überlegungen basieren historisch-semantisch mit ihrer Perspektive einer konstruktivistisch-evolutionistischen Wissenssoziologie auf jener ‚vierten Kränkung‘ und erfolgen von diesem Standpunkt. Sie sind im umrissenen Sinne als Fragmente jener Großen Erzählung zu verstehen, in denen sich andere Fragmente dieser Erzählung reflektieren. Hierzu gehört auch die von der Psychoanalyse erzählte Geschichte von der Aufklärung, die in der ‚dritten Kränkung‘ psychologisch in ihrer Ambivalenz auf den Begriff gebracht wird. Diese Geschichte ist zugleich eine Beschreibung kultureller Evolution und eine Diagnose der Moderne – und eine maßgebliche Konstruktion des Individuums, das diesen Bedingungen ausgesetzt ist und sich mit ihnen zu arrangieren hat.

2. Drei Kränkungen Im oktoberrevolutionären Weltkriegsjahr 1917 wies Sigmund Freud auf Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse hin; und zwar „eine affektive Schwierigkeit: etwas, wodurch sich die Psychoanalyse die Gefühle des Empfängers entfremdet, so daß er weniger geneigt ist, ihr Interesse oder Glauben zu schenken.“40 Die Quelle dieser affektuellen Entfremdung und der Abneigungen gegen die Psychoanalyse ist Freud zufolge in der Kränkung zu erkennen, die die psychoanalytische Aufklärung dem menschlichen Selbstgefühl zufügt. Damit sieht sich die Psychoanalyse in guter Gesellschaft, nämlich in der Tradition einer wissenschaftlich betriebenen Aufklärung, für die prominent die Namen Nikolaus Kopernikus und Charles Darwin stehen. Demzufolge hat, vom Standpunkt der Psychoanalyse, der „allgemeine Narzißmus, die Eigenliebe der Menschheit, bis jetzt drei schwere Kränkungen von seiten der wissenschaftlichen Forschung erfahren“.41 Die Psychoanalyse reflektiert sich hierin aufklärungsmetaphorisch als ‚dritte Kränkung‘, aus deren Perspektive der Kopernikanische Heliozentrismus und die Darwinsche Evolutionstheorie als Vorläuferkränkungen erkennbar werden. 40 41

Freud (1917a), S. 187. Freud (1917a), S. 190.

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a) Die kosmologische Kränkung Die erste dieser drei schweren narzißtischen Kränkungen durch die Wissenschaft nennt Freud die „kosmologische Kränkung“. „Der Mensch glaubte zuerst in den Anfängen seiner Forschung, daß sich sein Wohnsitz, die Erde, ruhend im Mittelpunkte des Weltalls befinde, während Sonne, Mond und Planeten sich in kreisförmigen Bahnen um die Erde bewegten. Er folgte damit in naiver Weise dem Eindruck seiner Sinneswahrnehmungen, denn eine Bewegung der Erde verspürt er nicht, und wo immer er frei um sich blicken kann, findet er sich im Mittelpunkt eines Kreises, der die äußere Welt umschließt. Die zentrale Stellung der Erde war ihm aber eine Gewähr für ihre herrschende Rolle im Weltall und schien in guter Übereinstimmung mit seiner Neigung, sich als den Herrn dieser Welt zu fühlen.“42 Und, so läßt sich hinzufügen, die Menschheit wußte sich im Zentrum kosmischer Aufmerksamkeit. „Die Zerstörung dieser narzißtischen Illusion knüpft sich für uns an den Namen und das Werk des Nik. Kopernikus im sechzehnten Jahrhundert.“43 Die Menschheit „erfuhr, daß unsere Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist, sondern ein winziges Teilchen eines in seiner Größe kaum vorstellbaren Weltsystems“, pointiert Freud den Gedanken in seinen Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse.44 Freud weist darauf hin, daß Kopernikus bezüglich dieser kosmologischen Aufklärung Vorläufer hatte, wie dies mutatis mutandis auch für die beiden folgenden Kränkungen durch die neuzeitliche Wissenschaft gilt.45 Aber auch für die Reflexion des Kränkungscharakters dieser Aufklärungen, also die Beschreibung ihrer affektuellen Wirkungen, wie sie die Psychoanalyse betreibt, gibt es Vorläufer. Im Der tolle Mensch betitelten Stück seiner Fröhlichen Wissenschaft von 1882 läßt Nietzsche die titelgebende Figur auftreten, die an den Konsequenzen dessen, was sich in der Kopernikanischen Kränkung verdichtet, wahnsinnig wird, während seine Zeitgenossen ihren naiven atheistischen Vernunftglauben als Selbstschutz haben. Sie verstehen noch nicht, was der „tolle Mensch“ ihnen Unerhörtes mitteilen will: „Wohin ist Gott? Ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, – ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder. [. . .] Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns 42 43 44 45

Freud (1917a), S. 190 – H. i. O. Freud (1917a), S. 190. Freud (1915–17), S. 226. Vgl. Freud (1917a), S. 190 f.

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nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? [. . .] Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet, – wer wischt diess Blut von uns ab? [. . .] Ist nicht die Grösse dieser That zu gross für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine grössere That, – und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser That willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!“46 Im Prädikat der Kälte verdichtet sich die Unbehaglichkeit dieser nihilistischen Welt, in der sich der Mensch nach dem Verlust seiner kosmischen Zentralität verloren sieht. Er steht nicht mehr im Mittelpunkt der fürsorglichen Aufmerksamkeit des Allmächtigen und sieht darin den Wert und Sinn seiner eigenen Existenz in Frage gestellt. Sein Dasein ist von peripherer Bedeutung, trost- und heillos. Es bedarf erheblicher, ‚übermenschlicher‘ Anstrengungen der Selbstaufwertung, um diese, nach der Erfahrung des ‚tollen Menschen‘ mit seinen Zuhörern noch gar nicht in ihren Konsequenzen verstandene, Kränkung ertragen zu können. Die epochale Größe der Tat zu begreifen und zu verarbeiten, erscheint als noch heroischer als die Tat selbst. Auf die negativen Folgen des Heliozentrismus bzw. besser: des Geo-Azentrismus für das menschliche Selbstwertgefühl hatte zuvor bereits Novalis hingewiesen, der andererseits die aufklärerische Leistung des Kopernikus ausdrücklich begrüßte,47 was symptomatisch ist für die romantische Beobachtung der Aufklärung im Hinblick auf deren Ambivalenz. In seiner poetischen Europa-Rede läßt Novalis 1799 seinen fiktiven Redner den Widerstand der katholischen Kirche gegen die Behauptung „daß die Erde ein unbedeutender Wandelstern sey“ mit der Sorge vor den desaströsen Folgen dieser Aufklärung für das menschliche Selbstverständnis erklären: Das „weise Oberhaupt der Kirche [. . .] wußte wohl, daß die Menschen mit der Achtung für ihren Wohnsitz und ihr irdisches Vaterland, auch die Achtung vor der himmlischen Heimath und ihrem Geschlecht verlieren“.48 Neben der Gottesfurcht nimmt in der Kopernikanischen Kränkung auch die menschliche Selbstachtung Schaden. Rückblickend, aus einer spezifisch modernitätsreflexiven Perspektive – wofür die Namen Novalis, Nietzsche und Freud exemplarisch stehen – wird Kopernikus, wohl entgegen dessen präsumtiven Intentionen als Astronom,49 so zur Symbolfigur der Neuzeit und zur Ikone einer wissenschaftlichen Aufklärungsbewegung, die sich als Kränkung der menschlichen Eigenliebe 46 47 48 49

Nietzsche, KSA 3, S. 480 f. – H. i. O.; vgl. auch Türcke (1989). Vgl. Stulpe (2001), S. 84 ff. Novalis, HKA III, S. 508. Vgl. Blumenberg (1986), S. 116 ff.

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rekonstruieren läßt. Dies sagt, wissenssoziologisch betrachtet, mehr aus über die Conditio moderna50, die diese Diagnose ermöglicht, als über die tatsächlichen Gefühle des spätmittelalterlichen Menschen, als er aus dem Mittelpunkt des Universums vertrieben wurde. Das moderne Selbstverständnis sieht sich als Ergebnis von schmerzhaften, aber auch befreienden Dezentrierungsprozessen, deren paradigmatischen Anfang es ex post in der kosmischen Dezentrierung der Erde durch Kopernikus erblickt.51 Die „drei Dezentrierungen“ – die von Freud genannten drei narzißtischen Kränkungen 50

Conditio moderna meint die Verfaßtheit der modernen Welt als Gesamtheit soziokulturell-evolutiver Errungenschaften, die sowohl die Lebensbedingungen der Menschen darstellen, also die soziale Umwelt psychischer Systeme, als auch den semantischen und sozialstrukturellen Bedingungszusammenhang für die Beschreibungen, die die moderne Gesellschaft über sich selbst, aber auch über das, was sie nicht ist, kommuniziert. Die Conditio moderna ist so gesehen gleichsam der Tellerrand, über den sich nicht hinausblicken läßt, die unentrinnbar moderne Perspektive, die notwendige Horizontbegrenzung. Für die homologen Begriffe der Condition postmoderne und der Conditio humana bedeutet dies, daß sie ebenfalls Ausdruck der Conditio moderna sind, auch und gerade in ihren Ansprüchen, Aussagen über diese hinaus zu treffen. Anders gesagt: die Postmoderne ist ein spezifisch modernes Phänomen, ein Repertoire semantischer Reflexionsformen der Conditio moderna, das nur vor diesem Hintergrund plausibel ist – und sie seit Anbeginn begleitet. Die Vorstellung, die Moderne sei ein dynamischer Prozeß – gleich, ob man auf diesen, wie Hegel oder Lyotard als einen beendeten zurückblicken zu können meint, oder diesen, wie die Junghegelianer und ihr virtueller Zeitgenosse Habermas als unvollendetes, mithin zu vollendendes Projekt begreift (vgl. Habermas (1980) u. Habermas (1988), S. 67) –, ist aus Sicht der evolutionistischen Wissenssoziologie als genuin modern zu erklären; das gleiche gilt für die evolutionistische Wissenssoziologie selbst. Und alles, was psychologisch, existentialphilosophisch oder anthropologisch über die Conditio humana gesagt wird, bezieht seine Plausibilität und Evidenz aus der Conditio moderna und hat dementsprechend einen hohen Informationswert über moderne Individuen, auch und gerade dort, wo Aussagen über ‚den Menschen an sich‘ gemacht werden. Damit soll nicht die Möglichkeit bestritten werden, daß es z. B. anthropologische Konstanten gibt – aber diese Frage interessiert im vorliegenden Zusammenhang nur insoweit, als sie selbst eine spezifisch moderne Errungenschaft ist und ihre Beantwortungen etwas über jene Conditio moderna aussagen. Es hat sich beispielsweise unter modernen Bedingungen als plausibel erwiesen, den Menschen auch unter dem Aspekt seiner Triebnatur zu beschreiben, und das schließt die ebenfalls plausible Vorstellung ein, daß der Mensch auch schon ein Triebwesen war, als er noch nicht als ein solches begriffen wurde. Modernitätsdiagnostisch ist es nun weniger relevant, die Validität dieser Sichtweise zu prüfen, sondern vielmehr zu fragen, wieso und inwiefern ein solches Menschenbild wichtig werden konnte, in welchem Zusammenhang es mit anderen semantischen Entwicklungen steht usw. 51 Wissenssoziologisch entspricht diese semantische Sensibilität der sozialstrukturellen Azentrizität der modernen, primär funktional differenzierten Gesellschaft im Unterschied zu den vormodernen Differenzierungsformen, die sozialstrukturell eine hierarchische Spitze bzw. ein Zentrum im Unterschied zur Peripherie vorgesehen hatten. Insofern ist die soziologische Aufklärung über diese Azentrizität ihrerseits dezentrierend, also kränkend.

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durch die Wissenschaft – „bedeuten für den Menschen zwar eine Kränkung, aber sie entlasten ihn auch von ungeheuren phantasmagorischen Gewichten; und das war eine wesentliche Voraussetzung, um sich auf das Unbewußte einlassen zu können. [. . .] Erst wenn der Mensch diese imaginären Zentrierungen aufgeben kann, eröffnet er sich einen inneren Raum, in welchen all die Kräfte zurückkehren, die er zuvor außerhalb von sich selbst lokalisierte.“52 Die vormaligen Götter, Dämonen und sonstigen geisterhaften Entitäten werden zum Ausdruck eines Unbewußten, das zum Inbegriff der unerschöpflichen inneren Tiefe des individuellen Selbst wird. Es ist vor diesem Hintergrund bezeichnend, welche Richtung derjenige Weg, der seit Anbeginn menschlicher Kulturgeschichte zu den bedeutungsvollsten und wichtigsten Kenntnissen führte – zur Erkenntnis des Schicksals oder des Willens von Göttern, Ahnengeistern usw. – mit der Gründung der Psychoanalyse genommen hat: die Traumdeutung, die nun als „Via regia zur Kenntnis des Unbewußten“ nicht nur „die sicherste Grundlage der Psychoanalyse“ darstellt,53 sondern damit zugleich ihren Gegenstand adelt, die unerschöpfliche Tiefe des individuellen Seelenlebens, an das die göttlichen Geheimnisse vormoderner Kulturen ihren Aufmerksamkeitswert abgetreten haben. Was Träume offenbaren, war von jeher von höchster Bedeutung, und seit Freuds Traumdeutung ist dieses das Unbewußte der Individuen, die dadurch in prägnanter und folgenreicher Weise in das Zentrum wissenschaftlicher Neugier rücken und deren Erkenntnis spätestens von da an schicksalsbestimmend für die moderne Gesellschaft zu sein verspricht. In wissenssoziologischer Perspektive erscheint die Psychoanalyse so auch als wissenschaftlich elaborierter Beitrag zu jener „Individualitätssemantik“54, in der die moderne Gesellschaft ihre exklusionsindividuelle Sozialstruktur reflektiert.55 Individualisierend ist die Psychoanalyse zunächst, indem sie Individuen als Spezifikationen von metapsychologischen Modellen des seelischen Apparates und seiner Prozesse beobachtet und gegebenenfalls als Abweichungen von sozialen Erwartungsstrukturen problematisiert.56 Dabei gehört auch das Abweichende, das im umfassenden Sinne Psychoneurotische zum Spektrum moderner Individualität,57 und es sind nicht zuletzt 52

Erdheim (1997), S. 15 f. Freud (1910), S. 131. 54 Luhmann (1985), S. 106; Luhmann (1993b III), S. 186. 55 Vgl. Luhmann (1987a); Luhmann (1993b III), S. 149 ff.; (1997a), S. 618 ff. 56 Sie problematisiert also Individuen im Verhältnis zur Gesellschaft, wie zeitgleich auch die soziologische Klassik (vgl. Luhmann (1993b), S. 149 ff.; (1987a), S. 129 ff.); es geschieht eben nur von unterschiedlichen Seiten aus, einmal aus der psychologischen, einmal aus der soziologischen Perspektive. 57 Dabei ist das in diesem Sinne Deviante nicht gleichzusetzen mit dem sozial Inkompatiblen. Zwar betont Freud die „asoziale Natur der Neurose“ (Freud (1912/ 13) S. 363), gleichwohl läßt sich aber beobachten, daß bestimmte in diesem Sinne 53

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die Neurosen, die in ihrer Entstehungs- und Behandlungsgeschichte das Individuum individualisieren.58 Vor allem aber individualisiert die Psychodeviante Formen – von extremen Charaktertypen bis hin zu manifesten Persönlichkeitsstörungen – in der modernen Gesellschaft durch sozialen Erfolg prämiiert werden. Man kann dabei an die polymorph psychopathische Figur Adolf Hitlers denken, an der ja das Erschreckende nicht der mörderische Wahn für sich ist, sondern dessen historisch-faktischer Soziabilitätsgrad, das Ausmaß an Folgebereitschaft und Zustimmung, die Resonanz, die dieser Wahn fand; und die ihn so in einer zur megalomanischen Großsekte aufgeblähten ‚Deutschen Volksgemeinschaft‘ zur Verwirklichung kommen ließ. Und diese Massenkompatibilität des Individuell-Wahnhaften macht das Phänomen zu einem auch soziologischen Explanandum, ohne daß es damit aufhörte, zugleich ein psychopathologisches zu sein. Hier stellt sich die Aufgabe, zu erklären, wie ein konstitutiv antisoziales Wahnsystem als Ideologie sozial anschlußfähig und wirksam werden konnte, ohne daß in dieser Erklärung einerseits der psychopathische Charakter dieser Ideologie vernachlässigt wird, aber auch ohne daß dabei andererseits die spezifisch soziologische Dimension des Problems auf ein massenhaftes Auftreten von Psychopathen reduziert wird. Eine wissenssoziologische Betrachtung kann beides angemessen berücksichtigen, indem sie aus psychologischer Perspektive wahnhafte und andere pathologische Semantiken und ihre Konjunkturen sowohl in ihrer Wechselwirkung als auch ihren sozialstrukturellen Plausibilitätsbedingungen beobachtet, ohne dabei auf psychische Systeme rekurieren zu müssen. In diese Richtung sollen u. a. die im folgenden, III. Kapitel skizzierten theoretischen Überlegungen weisen. – Augenscheinlich weniger spektakulär, aber als Beleg sowohl für die soziale Anpassungsfähigkeit bestimmter psychischer Devianzen als auch für deren Begünstigung in bestimmten Bereichen der modernen Gesellschaft nicht minder aussagekräftig ist eine Beobachtung des Psychoanalytikers Otto F. Kernberg über eine Gruppe von in geradezu symptomatischer Weise unauffälligen Karrieristen der modernen Gesellschaft, deren Persönlichkeitsstörung soziale Anpassungsfähigkeit nicht nur nicht ausschließt, sondern aufgrund der Rekrutierungsmechanismen mancher sozialer Systeme zu einem positiven Selektionseffekt führt. So charakterisiert Kernberg einen häufigen Typus narzißtisch gestörter Persönlichkeiten bezüglich seiner „Unverbindlichkeit und vordergründigen Freundlichkeit, der mangelnden Bindung an andere Menschen oder auch an eigene Überzeugungen“, und stellt dann fest: „Paradoxerweise ergibt sich aus solch einem Mangel an tieferen Gefühlen und Verbindlichkeiten unter Umständen sogar eine bessere soziale Funktionsfähigkeit, so etwa in bestimmten politischen und bürokratischen Organisationen, wo gerade das Fehlen tieferer Bindungen das Überleben sichert und Zugang zu den Spitzenpositionen verschafft.“ (Kernberg (1983), S. 352; aufschlußreich ist hierzu auch Hans-Jürgen Wirths (2002) Studie über narzißtische Persönlichkeiten in der Politik.) Daß das vom psychoanalytischen Gesundheits- bzw. Aufklärungsideal Deviante nicht deckungsgleich ist mit dem (faktisch) sozial Inakzeptablen, wird sich bei der Beobachtung semantischer Individualidentitätsangebote bestätigen. 58 Angesichts der im weiteren Verlauf dieses Kapitels noch eingehend zu betrachtenden modernitätsdiagnostischen Einschätzungen Freuds läßt sich in dieser Perspektive damit rechnen, daß gerade der Bereich des vom psychoanalytischen Gesundheitsideal (vgl. Freud (1912), S. 163) Abweichenden einen immer breiteren Raum des modernen Individualitätsspektrums einnimmt; wobei zugleich zu berücksichtigen ist, daß die Psychoanalyse, ausgehend von der Beobachtung des Pathologischen zur Erforschung universeller psychischer Strukuren und der gesamten mensch-

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analyse Individuen, indem sie einen spezifischen Modus rekursiver Selbstund Fremdbeobachtungen methodisch kultiviert und wissenschaftlich beglaubigt.59 Die seit den Tagen und Tagebüchern der Frühromantik ästhetisch kultivierte Entdeckung jenes ‚inneren Raumes‘ in der Konstruktion einer ‚reflexionsidentitären‘ Individualität, die Selbstbeobachtung mit der Beobachtung von Selbst- und Fremdbeobachtung verbindet,60 bereitet gewissermaßen den semantischen Resonanzboden, die spezifisch moderne Sensibilität für narlichen Kultur übergehend und dabei in den ‚normalen‘ Phänomenen das Psychopathologische auffindend – und umgekehrt –, die strikte Trennung zwischen dem psychisch Kranken und Gesunden in einen fließenden Übergang verwandelt hat. 59 In der Traumdeutung (1900) können Individuen beobachten, wie sie sich bezüglich ihrer Individualität beobachten können, also wie sie sich selbst erkennen können, was aber paradoxerweise voraussetzt, daß sie gerade zum Zwecke dieser spezifischen Selbsterkenntnis von der Vorstellung Abschied nehmen müssen, autonome Subjekte mit der Fähigkeit zu vollständiger Selbsttransparenz zu sein. Demnach kann das Individuum sich dadurch in seiner Individualität kennenlernen, daß es seine Träume als Selbstbeobachtungen beobachtet, und diese Beobachtungen von einem Fremdbeobachter – dem Analytiker – beobachten läßt, und an diesen Fremdbeobachtungen wiederum seine weiteren Selbstbeobachtungen orientiert – usw. Bei diesem rekursiven Beobachten kommt eine Individualität zum Vorschein, die sich prinzipiell immer besser selbst versteht, aber sich gerade deswegen nie vollständig transparent sein kann. Das in der Mitteilung von Träumen, Phantasien, Gedanken, Gefühlen usw. dem psychoanalytischen Fremdbeobachter präsentierte Selbstbeobachtungsmaterial hat Erkenntniswert, gerade weil das Individuum sich selbst nicht transparent ist. Denn deswegen ist es Ausdruck von Latenzen, von denen erwartet wird, daß das Individuum sie, wenn sie sichtbar geworden, also dem Unbewußten entrissen sind, in den Bestand seiner Individualität aufnimmt. Aber dieser Zugewinn an Selbstransparenz verschiebt nur den Latenzbereich, er hebt ihn nicht auf, sondern bestätigt seine Bedeutung. Und damit wird zugleich das Verfahren individueller Selbstbeobachtung, mit der spezifischen Unterstellung von Latenzen, als die Art, wie Individuen sich selbst in ihrer Individualität verstehen, eingeübt. So vertieft die Psychoanalyse das Individualitätsbewußtsein des Individuums, und zwar gerade bezüglich dessen, was ihm selbst (noch) unbewußt ist, und wie es von anderen gesehen wird – also bezüglich eines intentional unverfügbaren Bereichs seiner selbst. Individualität gewinnt dadurch eine schier unerschöpfliche Tiefe, die auch die geduldigste Psychoanalyse nicht gänzlich ausloten kann. Schon gar nicht kann daher damit gerechnet werden, daß die Gesellschaft – vor allem außerhalb ihrer psychologischen Fachabteilung – diese unergründliche Tiefe von Individuen, diese Besonderheit als irreduzible Individualität auch nur im Ansatz berücksichtigen kann. Diese Einsicht findet ihren gesellschaftstheoretischen Niederschlag in jener vierten Kränkung, die Individuen als psychische Systeme in die Umwelt der Gesellschaft verlagert. Als gesellschaftliche Konsequenz läßt sich dementsprechend die evolutionäre Ausbildung einer typisierenden Individualitätssemantik in Form von Individualidentitätsangeboten beobachten, auf die kommunikativ Zugriff genommen wird, wenn es um die gesellschaftliche Behandlung von Individuen geht. 60 Vgl. Luhmann (1987a), S. 133 ff.; (1993b III), S. 214 ff.; (1997a), S. 767 f., 1066 f.; vgl. auch Stulpe (2001), bes. S. 8 f., 37 ff.

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zißtische Kränkungen. Wissenssoziologisch betrachtet, ist dies der Plausibilitätsgrund für das Kränkungstheorem und die Disposition für den modernen Verlauf der Kränkungsgeschichte und ihrer Reflexion. Um 1800 ist sozialstrukturell der gesellschaftliche Primat funktionaler Differenzierung ‚kaum mehr reversibel‘ und wird in seinen azentrischen, heterarchischen und individualisierenden Konsequenzen semantisch reflektiert.61 Kopernikus wird zur modernen Metapher für den neuzeitlichen Verlust der Zentralität. Die durch die funktionale Differenzierungsform bedingte Exklusionsindividualität befreit die Einzelnen von gesellschaftlicher Platzzuweisung und einer daran orientierten Identitätsbestimmung, wie sie die stratifizierte Gesellschaft Alteuropas durch Natalität konstruiert hatte.62 Fortan wurde jeder gleich und frei geboren.63 Zugleich wurde dem modernen Individuum dadurch die Last auferlegt seine Identität über die je eigene Individualität zu bestimmen und herauszufinden, worin diese besteht.64 In Ermangelung einer verbindlichen gesellschaftlichen Orientierungsinstanz, die sich zur Klärung derartiger Fragen hätte beobachten lassen, war man als Individuum daran verwiesen, sich selbst zu beobachten, und zwar in Differenz zu anderen und vor allem im Hinblick auf die Unterschiede der eigenen Selbst61

Vgl. Luhmann (1993b I), S. 27 ff.; (1997a), S. 768, 803 ff.; (1999), S. 77 f. Vgl. Luhmann (1997a), S. 626 ff., 1075 ff. 63 Die Ahnung, daß dies zuwenig sein könnte, um soziale Kohäsion zu garantieren, nachdem die alte Ordnung von Gottes Gnaden delegitimiert war, legte es nahe, die Liberté und Égalité um die Fraternité zu ergänzen – und damit nicht nur die Solidarität als sozialintegrative Ressource in die Ideen von 1789 einzubauen, sondern diesen zugleich eine trinitarische Form zu geben. Hieran ließ sich die Konzeption der Nation als ‚transitorisch-semantisches‘ Beschreibungsangebot der modernen Gesellschaft anschließen (vgl. Luhmann (1997a), S. 983, 1055). In eine Nation wird man hineingeboren, entweder weil man zufällig auf ihrem Territorium das Licht der Welt erblickt, oder weil die Eltern und deren Eltern sowie Generationen von weiteren Ahnen zuvor das gleiche Blut in den Adern hatten. Bei allen sonstigen Unterschieden zwischen diesen beiden angedeuteten Extremen und allen weiteren Varianten der „Auffangsemantik der Nationen“ bleibt doch als Gemeinsames (Luhmann (1997a), S. 1045): Sie ist eine Geburtsgemeinschaft (natio), deren Mitglieder als Angehörige dieser sozialen Einheit gleich sind – etwa bezüglich ihrer politischen Rechte und Pflichten und ihrer kulturellen Identität –, die sich solidarisch einander verpflichtet fühlen und die sich in dem Maße frei wissen, wie die Nation es ist. Ihre Identität können Einzelne nach dem vormodernen Geburtsmuster auch aus dem Konstrukt der Nation gewinnen. Im Alten Europa war man durch Geburt Angehöriger einer bestimmten Gesellschaftsschicht und unterschied sich dadurch von den Angehörigen anderer Schichten. Unter den Bedingungen der Nation-Semantik ist man durch Geburt Angehöriger einer bestimmten Nation und unterscheidet sich dadurch von den Angehörigen anderer Nationen. Wer sich mit dieser identitären Grundausstattung begnügt – aus welchen Gründen auch immer – neigt, wie die Erfahrung zeigt, dazu, die eigene Nation gegenüber anderen zu überhöhen (Chauvinismus). 64 Vgl. Luhmann (1987a); Luhmann (1993b), S. 149 ff. 62

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beobachtung zu der Art, wie man von anderen beobachtet wurde. In diesem rekursiven Beobachten von Selbst- und Fremdbeobachtungen wird die Individualität von Individuen konstruiert. Es entsteht eine „Individualitätssemantik“ und damit die gesellschaftliche Relevanz jenes Innenraums, in dem psychische Vorgänge stattfinden,65 die sich unter semantisch-evolutionär früheren Bedingungen als Aktionen und Wirkungen äußerer Mächte vollzogen. Hiermit entsteht auch die Disposition zu einer Semantik der Kränkung. Die Astronomie des Kopernikus wird nun psychologisch relevant. Nach dem Verlust kosmischer Zentralität wird es wichtig, was in den neuen Zentren der Aufmerksamkeit, in den individuellen Innenräumen geschieht. Es geht um die psychischen Wirkungen dieser Dezentralisierung und ihrer aufklärerischen Folgen, mit denen zu Anfang nicht gerechnet werden konnte, weil das Wirkungsfeld – das moderne Individuum in seiner spezifischen Kränkungsanfälligkeit – noch nicht vorhanden war. Mit der psychologischen Beobachtung von Individuen entsteht die Möglichkeit, Vorgängen, die vormals unter theologischen, philosophischen oder naturwissenschaftlichen Kategorien verbucht wurden – etwa als Häresie, Aufklärung oder Heliozentrismus – eine weitere und mutmaßlich wichtigere Dimension abzugewinnen, diejenige der Kränkung. Und das ermöglicht eine moderne Neubewertung des Gesamtprozesses der Aufklärung. Erst die Moderne versteht die Aufklärung, als deren Ergebnis sie sich betrachtet und die sie zu ihrem Leitbild für weitere Selbstbeobachtungen macht, zugleich als Kränkung, und damit entsteht in ihr ein spezifischer Kränkungskompensationsbedarf. Daraus folgt auch, daß im modernen Selbstverständnis vormoderne Zustände nicht nur als unaufgeklärt konstruiert werden können, sondern zugleich, wegen dieses Mangels an Aufklärung und damit Kränkung: als glücklicher. Die spezifisch moderne Sehnsucht nach dem Verlorenen richtet sich daher nicht nur in utopische Zukünfte sondern auch in verklärte Vergangenheiten unterschiedlichster Couleur bzw. ihre gegenwärtigen vermeintlichen Refugien in exotistischen Imaginationen. In der Neuzeit hatte sich eine naive Aufklärung als Weg zum Menschheitsglück empfohlen. In der Moderne konstatiert eine reflexive Aufklärung, daß Glück allenfalls unter naiven Bedingungen zu haben war – wenn überhaupt. Daneben bleibt allerdings die utopische Hoffnung bestehen, der Mensch werde in der Lage sein, die unbehaglichen Erscheinungen der Moderne zu überwinden.

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Luhmann (1985), S. 106; vgl. Luhmann (1996a), S. 346 ff.

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b) Die biologische Kränkung Die „zweite, die biologische Kränkung des menschlichen Narzißmus“66 markiert der Name Charles Darwin, dessen epochales Werk On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life 1859 erschienen war. Freud resümiert den als Vorbedingung für die psychoanalytische Betrachtung des Menschen bezüglich seiner Triebstruktur entscheidenden deszendenztheoretischen Gehalt dieser biologischen Kränkung: „Der Mensch ist nichts anderes und nichts Besseres als die Tiere, er ist selbst aus der Tierreihe hervorgegangen, einigen Arten näher, anderen ferner verwandt. Seine späteren Erwerbungen vermochten es nicht, die Zeugnisse der Gleichwertigkeit zu verwischen, die in seinem Körperbau wie in seinen seelischen Anlagen gegeben sind.“67 Die Darwinsche Evolutionstheorie stellte aber nicht nur die Gottesebenbildlichkeit des Menschen in Frage, indem sie „das angebliche Schöpfungsrecht des Menschen zunichte machte, ihn auf die Abstammung aus dem Tierreich und die Unvertilgbarkeit seiner animalischen Natur verwies.“68 Das evolutionäre Tier-Mensch-Kontinuum verdarb darüber hinaus auch die teleologischen Implikationen der Vorstellung, der Mensch sei die ‚Krone der Schöpfung‘. Das Innovative und Beunruhigende an Darwins Evolutionstheorie war ihr spezifisch antiteleologischer Charakter. Dieser verdankte sich nicht der Artikulation schon vorhandener deszendenztheoretischer Vorstellungen; denn daß der Mensch biologisch mit dem Affen verwandt ist und beide von primitiveren Organismen abstammen, schließt ja, so ernüchternd diese Einsicht ist, nicht die Vorstellung einer sinnvollen und zielgerichteten Höherentwicklung aus, deren Ausweis der moderne Kulturmensch wäre. Darwins Angriff auf teleologische Vorstellungen lag in seinem theoretischen Konzept der ‚natürlichen Zuchtwahl‘, also der Selektionstheorie. Der evolutionäre Vorgang der Entstehung, Entwicklung und des Wandels der Arten verlief demnach zwar nicht beliebig, aber plan- und richtungslos als ‚blinder Naturprozeß‘. Seine jeweils vorläufigen Ergebnisse konnten in ihrer Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit im Sinne ihrer Umweltangepaßtheit und Überlebensfähigkeit im ‚Kampf ums Dasein‘ erklärt werden, aus naturwissenschaftlich rekonstruierbaren Gesetzmäßigkeiten, hinter denen aber keine Absicht steht und die kein Ziel verfolgen. In dieser Perspektive hat sich der Mensch ebenso evolutionär bewährt wie die Amöbe und alle anderen vorhandenen organischen Formen. Er erschien nun als vorläufiges Zufallsprodukt eines in sich kontingent verlaufenden evolutionären Prozesses.69 Die 66 67 68 69

Freud (1917a), S. 191 – H. i. O. Freud (1917a), S. 191. Freud (1915–17), S. 226. Vgl. Engels (1995a), S. 22 ff., 29 ff.

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Entwicklung der Menschheit, wie alles Organischen überhaupt, folgte damit keinem höheren Sinn, der sie auf ein Ziel hinführte und ihre Existenz als etwas Höherwertiges rechtfertigte. Die Selektionstheorie Darwins und ihre antiteleologischen Implikationen boten ein Paradigma, nach dem Entwicklungsprozesse generell in neuem Licht erschienen. Die Evolutionstheorie desillusionierte nicht nur die schöpfungsmythologische Teleologie von der Erschaffung des Menschen70, und alle seit der Vertreibung aus dem Paradies relevant gewordenen eschatologischen Zeitverständnisse.71 Sie stellte darüber hinaus auch die geschichtsteleologischen Säkularisationen dieser Heilsgeschichten in Frage. Als Evolution konnte Entwicklung noch unter einem gegebenen Aspekt – etwa dem der Umweltanpassung oder dem des je erreichten kulturellen Niveaus – als ‚Fortschritt‘ konzipiert werden, aber nicht mehr als metaphysisch sinnhafter, zielgerichteter Prozeß, also nicht als Teleologie. Wieder erleidet der Mensch eine Dezentrierung. Er steht nicht mehr im Zentrum eines göttlichen Schöpfungs- und Heilsplanes, und auch nicht im Zentrum eines vernünftigen weltgeschichtlichen Fortschrittsprozesses, in den er sich imaginierte, seitdem er die prinzipielle Zukunftsoffenheit der Moderne registriert hatte. Der offene „Erwartungshorizont“ der Zukunft, von dem man zunächst nur wissen konnte, daß er sich konstitutiv vom „Erfahrungsraum“ des historisch Bekannten unterschied,72 hatte als Projektionsfläche säkularer, vor allem utopischer Ziel- und Sinnvorstellungen dienen können, solange sich diese teleologische Gerichtetheit aus den Erfahrungen der Vergangenheit ableiten ließen. War die geschichtliche Vergangenheit einer sinnhaften Entwicklungslogik gefolgt, so ließ sich daraus eine zukünftige Fortsetzung dieser Entwicklung und deren zielgerichtete Vollendung ableiten – wenn letztere nicht sogar schon gegenwärtig erreicht war. Darin stimmen alle modernen Geschichtsteleologien – von Vico über Hegel bis zu Marx und seinen Nachfolgern – überein. Der moderne „Kollektivsingular[] ‚Geschichte‘“73 konnte in seiner die Menschheit und deren historische Geschicke als Ganze umfassenden Universalität in diesen teleologischen Deutungen den Menschen auf ein soziokulturelles Entwicklungsziel hin zentrieren. Eine an Darwin orientierte Evolutionstheorie verweigert in ihrer Anwendung auf historische Entwicklungen diesen die Zielgerichtetheit; denn sie begreift die Gegenwart als vorläufiges Resultat blinder Variations70

Vgl. 1. Mose 1–2. Damit zieht sie bekanntlich bis heute und, wie es scheint, gerade in jüngster Zeit verstärkt den Haß und Vernichtungswillen religiöser Fundamentalisten auf sich; vgl. z. B. Der Spiegel, Heft 52, 2005, S. 136 ff. 72 Koselleck (1976). 73 Koselleck (1973), S. 130; vgl. Koselleck (1969), S. 74 ff. 71

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und Selektionsprozesse der Vergangenheit. Die Vergangenheit hat demnach die Gegenwart ermöglicht – aber sie hatte sie nicht zum Ziel. Zwar läßt sich dies vom je gegenwärtigen Standpunkt als ‚Fortschritt‘ rekonstruieren, der durch die Gesetzmäßigkeiten der Evolution begünstigt wird. Aber auch wenn evolutionäre Entwicklung nach Maßgabe normativer Vorstellungen unter dem Aspekt des Fortschritts betrachtet wird, z. B. im Erreichen technologischer, zivilisatorischer oder sittlicher Standards, bietet die antiteleologische Sichtweise der Evolutionstheorie keine Garantien für einen eindeutig progressiven Fortgang dieses Entwicklungsprozesses. Da die evolutionären Gesetzmäßigkeiten keiner inneren Finalität folgen, sondern im Ergebnis immer nur die Angepaßtheit an äußere Bedingungen prämiieren, die ihrerseits variieren, läßt sich auch für dieses Prinzip der natürlichen Selektion aus der Vielfalt von Variationen keine progressive Garantie, etwa im Sinne einer zunehmenden Spezialisierung oder Komplexität ableiten. Regressive, primitivere Formen können im ‚Kampf ums Dasein‘ mitunter erfolgreicher sein als progressive, höher organisierte. Evolution schließt Regression nicht aus.74 Angesichts der Allgegenwart des stammesgeschichtlichen Erbes im evolutionären Zufallsprodukt ‚Mensch‘ mußte jederzeit mit dem Durchbrechen dieser animalischen Erbmasse durch die dünne zivilisatorische Oberfläche des modernen Kulturmenschen gerechnet werden. Die evolutionäre Ziellosigkeit und die basale Bestialität des Menschen begründen die Möglichkeit einer regressiven Gefährdung kultureller Errungenschaften. Der „deutsche Darwin“75 Ernst Haeckel hatte 1869 das „biogenetische Grundgesetz“ formuliert, demzufolge „die Ontogenese eine kurze und schnelle Wiederholung der Phylogenese“ darstellt.76 Wenn nach dieser Figur jedes Einzelexemplar in seiner Individualentwicklung die Gattungsgeschichte nachzuvollziehen hat, dann lag die Befürchtung nahe, daß in jedem Menschen der mehr oder weniger erfolgreich überwundene Urmensch – oder Primitiveres – steckt, der prinzipiell jederzeit machtvoll aus ihm hervorbrechen kann. Die Rigidität viktorianischer Moral ist auch als Reaktion auf die Schrecken und die Kränkung der Darwinschen Lehre zu verstehen. In diesem Zusammenhang ist auch die allgegenwärtige Degenerationsfurcht der Zeit zu sehen, die ihren projektiven Niederschlag in der massenmedialen Karriere Jack The Rippers und ihre literarische Verdichtung in Robert Louis Stevensons Dr. Jekyll and Mr. Hyde (1886) fand.77 74

Vgl. Bowler (1995), S. 315. Engels (1995a), S. 47. 76 Sandmann (1995), S. 328. 77 Vgl. Smith (2004), S. 14 ff., 67 ff.; Leatherdale (1985), S. 187 ff., 210 f.; vgl. auch Gatlin (1995). – Medientheoretisch ist dieser Zusammenhang noch in einer weiteren Hinsicht interessant. Als sich die Massenmedien 1888 an den Whitechapel75

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Für die wissenssoziologische Betrachtung des modernen Selbstverständnisses ist es von nachgeordneter Bedeutung, ob die unterschiedlichen Reaktionen auf Darwin, die Adaptionen und Interpretationen seines Werkes und die Konsequenzen, die daraus gezogen wurden im einzelnen dessen Intentionen und Aussagen gerecht werden. Die Zwanghaftigkeit des viktorianischen Menschenbildes und die Repressivität der darin zugemuteten Moralvorstellungen sind nicht nur als Schutz vor der menschlichen Bestialität sondern auch als Abwehr der biologischen Erkenntnisse zu verstehen, die die scharfe Trennung des Menschen vom Tierreich aufhoben. Die psychiatrische Degenerationstheorie jener Zeit mag sich, bei nur oberflächlicher Rezeption der Darwinschen Lehre, vor allem phrenologischer und physiognomischer Vorstellungen bedient und sie evolutionstheoretisch verbrämt haben.78 Der ‚Rekapitulationismus‘ im biogenetischen Grundgesetz Ernst Haeckels steht, soweit es die Ontogenese betrifft, in einem Spannungsverhältnis zu den dezidiert anti-teleologischen Implikationen der Darwinschen Selektionstheorie.79 Und die popularisierenden und verweltanschaulichenden Darwinismen genügen nicht dem fachwissenschaftlichen Bedürfnis nach Differenziertheit und Zurückhaltung, wenn sie etwa unter Herbert Spencers Formel des ‚Survival of the fittest‘ die biologische Evolutionstheorie zum Sozialdarwinismus deuten.80 Gleichwohl läßt sich an der Resonanz, die Darwins Lehre bereits zeitgenössisch erzeugte – und nicht zuletzt an den (erfolglosen) Versuchen, sie zu entkräften oder zumindest zu entschärfen – ablesen, welche Bedeutung dem in ihr verdichteten semantischen Komplex in der modernen Gesellschaft seither zukommt. Die Darwinsche Evolutionstheorie stellt in wissenssoziologischer Perspektive eine semantisch-evolutionäre Errungenschaft dar, hinter die Weltdeutungsangebote unter den Bedingungen der Moderne nur um den Preis eines Realitätsverlustes zurückkönnen. Auch diesen Sachverhalt bezeichnet Freud in der Formel von der zweiten Kränkung. Die ‚revolutionäre Evolutionstheorie‘ Darwins81 war also in vielfacher Hinsicht eine Herausforderung des Selbst- und Weltvertrauens der moderMorden ergötzten und dem Mörder seinen bis heute unvergessenen Namen gaben, wurde die Aufführung einer dramatisierten Fassung von Stevensons Roman an Henry Irvings Londoner Lyceum-Theatre – dessen Manager Bram Stoker, der Schöpfer des „Darwinian Superman“ Dracula, war (Leatherdale (1985), S. 190 f.) – abgesetzt, weil man befürchtete, die Ripper-Morde könnten durch die fiktionalen Untaten Mr. Hydes inspiriert sein (vgl. Whitehead/Rivett (2001), S. 85). Ein Fall von Medienwirkungstheorie. Oder eine Wildesche Imitation der Kunst durch das Leben, wie schon bei den Ereignissen um Goethes Werther. 78 Vgl. Gatlin (1995), S. 263 ff., 270 ff. 79 Vgl. Gatlin (1995), S. 265. 80 Vgl. Bowler (1995), bes. S. 318 ff.; vgl. Engels (1995a), S. 37 ff., 47, 54 f. 81 Vgl. Engels (1995a), S. 27 f.

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nen Menschheit seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Wenn Freud in seiner Kränkungsgeschichte den deszendenztheoretischen Aspekt der biologischen Kränkung hervorhebt,82 der den Menschen den Tieren zuordnet, so betont er damit die wichtigste Voraussetzung aus der Darwinschen Lehre für die Psychoanalyse und ihre Konzeption des Menschen als Triebwesen. Die von Freud nicht eigens thematisierten antiteleologischen Implikationen der Selektionstheorie Darwins, die das Spezifische und Innovative seiner evolutionstheoretischen Fassung der Deszendenztheorie ausmacht, waren aber bereits in der frühen, gerade im deutschen Sprachraum besonders intensiven und breiten Darwin-Rezeption präsent.83 In der Psychoanalyse ist der selektionstheoretische Aspekt im Konzept des Realitätsprinzips aufgehoben, das, als Antagonist des Lustprinzips, in seiner potentiell wunschversagenden, Verzicht und Entsagung fordernden Widerständigkeit grundsätzlich eine Quelle von Kränkungen ist; die spezifisch wissenschaftliche Aufklärung über eine wunschwidrige Realität, wie sie in den drei großen Kränkungen geschieht, ist hiervon nur ein kulturgeschichtlich hochgradig voraussetzungsvoller und folgenreicher Spezialfall.84 Wichtig ist für die Psychoanalyse außerdem der Haeckelsche Beitrag zur Evolutionskonzeption, das biogenetische Grundgesetz, demzufolge sich in der Entwicklung des Individuums prinzipiell diejenige der Gattung nachvollzieht, als Rekapitulation der Phylogenese in der Ontogenese.85 In der zweiten, biologischen Kränkung bereitet sich die dritte, psychologische bereits vor, und diese Kränkungssequenz bildet zugleich den semantischen Hintergrund der verstärkten Reflexion moderner Individualität, wie sie ebenso symptomatisch wie exemplarisch in der Stirner-Renaissance der 1890er Jahre zum Ausdruck kommt, als Ringen um die Verarbeitung und Bewältigung der Dezentralisierungsschübe, die die Moderne ihren Individuen zumutet. Auf beides, den kränkungsgeschichtlichen wie den Stirner-rezeptionsgeschichtlichen Aspekt in der Individualitätssemantik des späten 19. Jahrhunderts, verweist Nietzsche, der, wie noch ausführlich zu behandeln sein wird (siehe unten, VI.), eine zentrale Rolle in der Stirner-Renaissance spielt und dessen Werk in mancher Hinsicht,86 wie auch Freud weiß,87 eine spekulative und literarische Vorahnung psychoanalytischer Erkenntnisse ist. 82

Vgl. Freud (1925b), S. 233. Vgl. Engels (1995a), S. 14 ff., 29 ff. 84 Vgl. Freud (1911b). 85 Vgl. Freud (1913a), S. 177; vgl. auch z. B. Freud (1912/13), S. 378; (1919), S. 160; (1930), S. 257. – Siehe hierzu unten, insbesondere II. 3. b) und e). 86 Insbesondere als latenzbeobachtende Psychologie des Ressentiments, die auf Grundlage der Konzeption des trieb- wie narzißmustheoretisch lesbaren „Willens zur Macht“ die rationalistische Subjekt-Autonomie bestreitet. 87 Vgl. Freud (1914b), S. 152; (1925a), S. 87. 83

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Nietzsche leitet im Sommer 1873 seine Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne mit einer dezidiert antiteleologischen „Fabel“ ein, die die ersten beiden Kränkungen zusammenfaßt und dabei „doch nicht genügend illustrirt [. . .], wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt“: „In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der ‚Weltgeschichte‘: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Athemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mussten sterben.“88 Ein Jahrzehnt später, 1884 im dritten Buch von Also sprach Zarathustra, charakterisiert Nietzsche die antiteleologische Figur als den „abgründlichen Gedanken“ der Ewigen Wiederkehr des Gleichen,89 in dem sich die Vorstellung einer unabweisbaren Ziel- und daher auch metaphysischen Sinnlosigkeit der Geschehnisse verdichtet. Ihn zu ertragen bedarf es, Nietzsche zufolge, des Übermenschen.90 Hieran wird deutlich, daß Nietzsche die Kränkungen nicht nur diagnostiziert, wie beispielsweise im Stück vom Tollen Menschen aus der Fröhlichen Wissenschaft, sondern daß er auch selbst, ‚mit dem Hammer philosophierend‘,91 daran arbeitete, durch Kränkung Aufklärung zu erzeugen und so eine erneute „Umwerthung aller Werthe“92 zu bewirken. Dieser Anspruch Nietzsches verdichtet sich in der Selbststilisierung als Der Antichrist und in anderen plakativen Titeln wie den Unzeitgemäßen Betrachtungen oder der Götzen-Dämmerung –93 Formeln, die ganze Generationen von Intellektuellen zur Identifikation einluden und in ihrem metaphorischen Reichtum ein bekanntermaßen breites Spektrum an Interpretationsmöglichkeiten boten.94 Das Kränkungsangebot, das Nietzsche unterbreitete, konnte in dessen kultischer Verehrung angesichts seiner philosophischen Unverbindlichkeit und des Lustgewinns, der in seiner literarischen Darbietung lag, leicht übersehen oder in Adaption des heroischen Gestus verkraftet werden. Den Nietzscheanern erging es in dieser Hinsicht nicht anders als den Atheisten um den ‚tollen Menschen‘,95 auch wenn für jene Nietzsches 1889er „Turiner Himmelfahrt“96 in den Wahnsinn ein Ausweis der Genialität dessen war, der 88

Nietzsche, KSA 1, S. 875. Nietzsche, KSA 4, S. 199. 90 Vgl. zu Nietzsches Idee der Ewigen Wiederkehr und ihrer Vorgeschichte umfassend Harders (2007). 91 Vgl. Nietzsche, KSA 6, S. 55, 161. 92 Nietzsche, KSA 6, S. 57, 160. 93 Vgl. Nietzsche, KSA 6, S. 165 ff.; KSA 1, S. 157 ff.; KSA 6, S. 55 ff. 94 Vgl. Aschheim (1996). 95 Vgl. Nietzsche, KSA 3, S. 480 ff. 89

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kurz zuvor in Ecce Homo der Welt erklärt hatte, worin „[d]as Glück meines Daseins, seine Einzigkeit vielleicht, liegt“ und „[w]arum ich so weise bin“.97 Die Ahnung, daß der ‚Übermensch‘, der den abgründigsten Gedanken, die tiefste Kränkung erträgt, der ‚tolle Mensch‘ sein könnte, der sich in den Wahn seiner eigenen Größenphantasien flüchtet, ist schon in der Metapher angelegt, die im Zarathustra den übermenschlichen Umgang mit der Ewigen Wiederkunft veranschaulicht: Der junge Hirte, dem, während er schlief, eine „schwere schwarze Schlange“ in den Mund gekrochen war, beißt, nachdem er erwachend dessen gewahr geworden ist, dem Reptil den Kopf ab, spuckt diesen fort und lacht „ein Lachen, das keines Menschen Lachen war“:98 das Lachen des „Umleuchtete[n]“99 – des Übermenschen oder des Wahnsinnigen? Die zeitgenössische Debatte um ‚Genie und Wahnsinn‘ und nicht zuletzt das reale Schicksal Nietzsches legten nahe, daß zwischen diesen beiden außergewöhnlichen geistigen Zuständen ein engerer, quasi natürlicher Zusammenhang bestand. – Insgesamt bot jedenfalls der ‚Fall Nietzsche‘ hinreichend Möglichkeiten, das Beunruhigende an seiner Botschaft durch Selbststilisierung in eine narzißtische Selbstaufwertung vieler kleiner Übermenschen umzuwerten, die sich fortan gegenseitig aus dem „Pathos der Distanz“100 kulturkritisch vorwerfen konnten, bloß jene „letzten Menschen“ zu sein, die Nietzsches Zarathustra als das „Verächtlichste[]“ beschreibt:101 das Inbild moderner Nivellierungstendenzen, unheroischer Mediokrität, schöpferischer Sterilität und eines gleichermaßen bornierten wie leidenschaftslosen Hedonismus, wie es beispielsweise Max Weber auf die Formel der „Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz“ bringt,102 und wie es in anderen antitypisierenden Auslegungen, je nach Perspektive, als philiströser Bourgeois oder plebejisches Massenexemplar der individualistischen Künstlerpersönlichkeit oder dem Geistesaristokraten entgegengesetzt werden konnte (siehe unten, VI. 2. und 5.): „Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar, wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten. ‚Wir haben das Glück erfunden‘ – sagen die letzten Menschen und blinzeln. [. . .] Jeder will das Gleiche, Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig in’s Irrenhaus.“103

96

Ross (1984), S. 726. Nietzsche, KSA 6, S. 264. 98 Nietzsche, KSA 4, S. 201 f. 99 Nietzsche, KSA 4, S. 202. 100 Nietzsche, KSA 5, S. 259 – H. i. O. 101 Nietzsche, KSA 4, S. 19. 102 Weber (1905), S. 189. 103 Nietzsche, KSA 4, S. 19 f. 97

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Freud betont mehrfach, daß er Nietzsche, den neben Schopenhauer „anderen Philosophen, dessen Ahnungen und Einsichten sich oft in der erstaunlichsten Weise mit den mühsamen Ergebnissen der Psychoanalyse decken, [. . .] gerade darum lange gemieden“ habe, um sich seine Unbefangenheit zu erhalten.104 „Den hohen Genuß der Werke Nietzsches habe ich mir dann in späterer Zeit mit der bewußten Motivierung versagt, daß ich durch keinerlei Erwartungsvorstellung behindert sein wolle. Dafür mußte ich bereit sein – und ich bin es gerne –, auf alle Prioritätsansprüche in jenen häufigen Fällen zu verzichten, in denen die mühselige psychoanalytische Forschung die intuitiv gewonnenen Einsichten des Philosophen nur bestätigen kann.“105 Diesem Umstand zollt Freud auch dadurch Tribut, daß er die metapsychologische Kategorie des ‚Es‘ in seiner Strukturtheorie des psychischen Apparats in „Anlehnung an den Sprachgebrauch bei Nietzsche“ bildet,106 „bei dem dieser grammatikalische Ausdruck für das Unpersönliche und sozusagen Naturnotwendige in unserem Wesen durchaus gebräuchlich ist.“107 Dieser wie auch andere metaphorische Bezüge auf populäre Figuren Nietzsches bei Freud – etwa den „Übermenschen“108 oder „die ewige Wiederkehr des Gleichen“109 – belegen vor allem eine zeitgeistige Präsenz Nietzsches, die eben auch von Freud, bei aller selbstauferlegten Abstinenz, nicht unbemerkt geblieben ist. Als Vordenker tiefenpsychologischer Einsichten aber konnte Nietzsche – ebenso wie dessen eigener Vordenker Schopenhauer – erst vom psychoanalytischen Aufklärungsniveau aus erscheinen. Und auch dann haftet ihm vom kränkungstheoretischen Standpunkt einer Aufklärung – im Sinne eines Zugewinns an Realismus und Ich-Stärke – bezweckenden „Kulturarbeit“110 eine eigentümliche Ambivalenz an. Wenn Nietzsche erzählt, wie ein zum ‚Ressentiment‘ pervertierter ‚Wille zur Macht‘ eine lebensund triebfeindliche ‚Sklaven-Moral‘ durchsetzt, so werden damit die kulturevolutionären Errungenschaften einer universalistischen Moral und der moralischen Autonomie vernünftiger Subjekte als repressive Einrichtungen vorgeführt, die ihrerseits auf das grausam-wollüstige Wirken aggressiver Triebe und Affekte zurückzuführen sind.111 Als Triebpsychologie, die die Autonomie des Subjekts und den Anspruch von Vernunft und Moral in Frage stellt, das Andere von Triebstruktur und destruktiver Leidenschaft zu 104

Freud (1925a), S. 87. Freud (1914b), S. 152. 106 Freud (1933), S. 74. 107 Freud (1923), S. 264. 108 Freud (1920), S. 227; (1921), S. 115. 109 Freud (1920), S. 207; vgl. Freud (1919), S. 166. 110 Freud (1933), S. 81; vgl. Freud (1923), S. 292. 111 Vgl. z. B. Nietzsche, KSA 5, S. 55, 117, 208 ff., 268 ff., 279, 286 f., 316, 322 f., 383 f. 105

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sein, kränkt Nietzsches Erzählung von der Genealogie der Moral112 das idealisierte menschliche Selbstbild. Zugleich konnte diese triebpsychologische Aufklärung in ihrer grandiosen Metaphorik von den ‚vornehmen Idealen‘ der gefährlichen ‚Eroberer- und Herrenrasse‘, der ‚blonden Bestie‘ einerseits,113 in ihrer denunziatorischen Rhetorik vom ‚Sklavenaufstand in der Moral‘, von der ‚Herde‘ und deren ‚Plebejismus‘ andererseits114 als vitalistische Verherrlichung der menschlichen Triebnatur gelesen werden, die zu einer Identifikation mit jener ‚Herren-Moral‘ Jenseits von Gut und Böse115 einlädt und so im Zuge einer erneuten ‚Umwertung der Werte‘ die Kränkung vergessen läßt.116 Wer sich in diesem Verständnis aufschwingt, als wiederkehrender ‚Übermensch‘ den Nihilismus – die gesamte vernunftphilosophisch-christliche Tradition des Abendlandes – zu überwinden, kann gut damit leben, kein Subjekt mehr zu sein.117 Er kann sich als etwas Größeres, Elementares imaginieren, oder als dessen vollstreckender Teil, indem er den ‚Willen zur Macht‘ als seine neue Metaphysik versteht. Die Metaphorik und der heroische Duktus der Nietzscheschen Triebpsychologie läßt jedenfalls ihren Rezipienten mehr Spielraum für – kränkungskompensatorische oder auch die Kränkung ignorierende, regressive – grandiose Selbststilisierungen, als Freuds der psychoanalytischen Beobachtung von Neurotikern entnommene Feststellung, das Ich sei ein hilfsbedürftiges, „armes Ding“118 und mit dem Bewußtsein verhalte es sich „wie mit unserem Leben; es ist nicht viel wert, aber es ist alles, was wir haben.“119 c) Die psychologische Kränkung So ist es denn, so voraussetzungsvoll sie ist, die Freudsche Psychoanalyse, die der „menschliche[n] Größensucht“ die „dritte und empfindlichste Kränkung“ seitens der Wissenschaft zufügt.120 Nach der kosmologischen Kränkung durch Kopernikus und der biologischen durch Darwin ist dies die „psychologische“121 Kränkung. Sie greift den letzten Rest an Selbstbewußtsein an, den der Mensch sich durch die vorangegangenen Kränkungen noch hat bewahren können, indem sie dieses dem machtvollen Einfluß des Unbe112 113 114 115 116 117 118 119 120 121

Nietzsche, KSA 5, S. 245 ff. Vgl. z. B. Nietzsche, KSA 5, S. 213, 263 f., 269, 275. Vgl. z. B. Nietzsche, KSA 5, S. 117, 124 ff., 260, 262, 268 ff., 285 ff., 383 ff. Nietzsche, KSA 5, S. 9 ff. Vgl. Nietzsche, KSA 5, S. 208 ff., 267 ff. Vgl. Nietzsche, KSA 5, S. 288. Freud (1923), S. 293. Freud (1933), S. 72. Freud (1915–17), S. 226; vgl. Freud (1917a), S. 191 ff. Freud (1917a), S. 194.

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wußten unterstellt. Damit fällt endgültig die Illusion, der Mensch sei ein autonomes, sich selbst transparentes Subjekt – eine Vorstellung, die nach der kosmologischen und auch nach der biologischen Kränkung noch prinzipiell möglich gewesen ist und als Kränkungskompensation erheblich dazu beitragen konnte, jene ersten beiden wissenschaftlichen Kränkungen erträglicher zu machen, ohne sie (regressiv) ignorieren zu müssen. Denn warum sollte der Mensch, bei aller zugestandenen Verwandtschaft mit dem Affen und aller Planlosigkeit der Evolution, nicht gleichwohl aus dieser als Subjekt hervorgehen, das fähig ist, sich selbst zu erkennen und zu bestimmen – und diese Fähigkeiten bezüglich seiner historisch-sozialen Lebensbedingungen zur Nutzanwendung zu bringen? Diese Subjektvorstellung und die an sie geknüpften Erwartungen an den Kulturprozeß hatte für die vorangegangenen Dezentrierungen entschädigt und letztere als Freiheitsgewinn erscheinen lassen. Gerade deswegen ist es die Desillusionierung dieses – eben bereits kränkungskompensatorischen – Selbstbildes durch die Psychoanalyse, die „[a]m empfindlichsten trifft“.122 Für die Psychoanalyse ist – in der Sprache von Freuds 1923 in Das Ich und Das Es ausgearbeiteten Strukturtheorie des psychischen Apparates – das „Individuum [. . .] ein psychisches Es, unerkannt und unbewußt, diesem sitzt das Ich oberflächlich auf“.123 Dieses „Es ist der dunkle, unzugängliche Teil unserer Persönlichkeit [. . .]. Von den Trieben her erfüllt es sich mit Energie, aber es hat keine Organisation, bringt keinen Gesamtwillen auf, nur das Bestreben, den Triebbedürfnissen unter Einhaltung des Lustprinzips Befriedigung zu schaffen.“124 Zur „psychischen Persönlichkeit“125 kommt das Über-Ich hinzu, das das Ich streng beobachtet und ihm gegenüber die kulturellen Forderungen der Gesellschaft vertritt. Von ihm wird das Ich mit einer Aggressivität unter Druck gesetzt, die dem Es entstammt – von dem das Ich gleichzeitig massiv bedrängt wird, seine Wünsche zu erfüllen, während es zugleich der äußeren Realität Rechnung zu tragen hat –, so daß auch der letzte Zufluchtsort des menschlichen Selbstbewußtseins, der Stolz auf seine kulturellen und insbesondere moralisch-zivilisatorischen Errungenschaften, in einem fragwürdigen Licht erscheint. „Einschränkung seiner Aggression ist das erste, vielleicht das schwerste Opfer, das die Gesellschaft vom einzelnen zu fordern hat. [. . .] Die Einsetzung des Über-Ichs, das die gefährlichen aggressiven Regungen an sich reißt, bringt gleichsam eine Besatzung in die zum Aufruhr geneigte Stätte. Aber andererseits, rein psychologisch betrachtet, muß man bekennen, das Ich fühlt sich nicht wohl dabei, 122 123 124 125

Freud Freud Freud Freud

(1917a), S. 191. (1923), S. 264. (1933), S. 75. (1933), S. 60.

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wenn es so den Bedürfnissen der Gesellschaft geopfert wird, wenn es sich den destruktiven Tendenzen der Aggression unterwerfen muß, die es gern selbst gegen andere betätigt hätte.“126 Das Konzept der von Freud seit 1920 in Jenseits des Lustprinzips postulierten ‚Aggressions-‘ und ‚Todestriebe‘,127 die diesen aggressiven und destruktiven Bestrebungen und in introjizierter Form selbst noch deren kultureller Eindämmung zugrunde liegen,128 verschärft somit nochmals die bereits durch den Aufweis des Unbewußten und die Bedeutung der libidinösen Triebstruktur zugefügte Kränkung durch die Psychoanalyse; vielleicht blieb dieses metapsychologische Konzept auch deswegen umstritten.129 Die Psychoanalyse sieht dementspre126

Freud (1933), S. 109. Vgl. Freud (1920), S. 231 ff. 128 Die kulturelle Kontrolle funktioniert am besten, wenn sie internalisiert ist; wie dies vonstatten geht, verdeutlicht, welche Kosten der Kulturmensch zu tragen hat: Das „anscheinend wichtigste“ Mittel, dessen sich die Kultur bedient, „um die ihr entgegenstehende Aggression zu hemmen, unschädlich zu machen, vielleicht auszuschalten“, ist das strenge Regime des Über-Ich. „Die Aggression wird introjiziert, verinnerlicht, eigentlich aber dorthin zurückgeschickt, woher sie gekommen ist, also gegen das eigene Ich gewendet. Dort wird sie von einem Anteil des Ichs übernommen, das sich als Über-Ich dem übrigen entgegenstellt und nun als ‚Gewissen‘ gegen das Ich dieselbe Aggressionsbereitschaft ausübt, die das Ich gerne an anderen, fremden Individuen befriedigt hätte. [. . .] Die Kultur bewältigt also die gefährliche Aggressionslust des Individuums, indem sie es schwächt, entwaffnet und durch eine Instanz in seinem Inneren, wie durch eine Besatzung in der eroberten Stadt, überwachen läßt.“ (Freud (1930), S. 250). 129 Vgl. Freud (1930), S. 247 ff., bes. S. 250. – Insbesondere für die emanzipationsoptimistischen, ‚freudo-marxistischen‘ Parteigänger der Psychoanalyse war diese Annahme einer natürlichen, triebverankerten Aggressivität und Destruktivität des Menschen unannehmbar, bei aller sonstigen Anerkennung des Unbewußten und der Libido. Denn man wollte ja davon ausgehen können, daß unter nicht-repressiven gesellschaftlichen Verhältnissen die natürliche Güte des Menschen, insbesondere seine lebensbejahende libidinöse Triebstruktur zum Vorschein kommt, während sich alle Destruktivität nur aus der gegenwärtigen gesellschaftlichen Unterdrückung und Entfremdung dieser Triebstruktur erklären lassen sollte. Die Vorstellung, diese emanzipatorisch zu befreiende Triebstruktur enthalte als gleichsam anthropologische Konstante das Streben nach Grausamkeit und Zerstörung, hatte keinen Platz in der Anatomie der menschlichen Destruktivität, durfte kein Theorieelement in der Massenpsychologie des Faschismus sein, und auch nicht das Verhältnis von Triebstruktur und Gesellschaft stören; vgl. Fromm (1973), Reich (1946) und Marcuse (1955). – Kurz: Menschliche Destruktivität mußte als (sozial-)pathologisches Phänomen erklärt werden können, und nicht aus einer anthropologischen Konstante, wollte man am aufklärerisch-utopistischen Projekt der Emanzipation zu einer Gesellschaft der Freien und Gleichen auch nach prinzipieller Hinnahme der dritten Kränkung noch festhalten. Einfacher war es da zunächst freilich, diese psychologische Kränkung ganz zu ignorieren, indem man sie, wie etwa Georg Lukács, ideologiekritisch zur Ideologie und zu einem irrationalistischen Beitrag zur Zerstörung der Vernunft (1954) erklärte. 127

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chend das „Ich als armes Ding“130 und bietet sich, für den Schwachen parteiergreifend, an als „ein Werkzeug, welches dem Ich die fortschreitende Eroberung des Es ermöglichen soll“.131 Aber diese aufklärerische Hilfeleistung setzt voraus, daß die mit ihr einhergehende Kränkung hingenommen, das heißt diejenige Beschreibung als Realität akzeptiert wird, die die Psychoanalyse der Vorstellung des autonomen und selbsttransparenten Subjekts entgegenstellt und damit letztere zur Illusion erklärt. Trotz aller diesbezüglich desillusionierenden Vorgänger, namentlich Schopenhauers und Nietzsches, sind die psychoanalytischen Aufklärungen über das Unbewußte und die sexuelle und aggressive Triebnatur eines jeden menschlichen Individuums also nur schwer zu ertragen. Dem „große[n] Denker Schopenhauer“ – und Nietzsche läßt sich hier hinzudenken132 – hat Freuds Auskunft zufolge die „Psychoanalyse [. . .] nur das eine voraus, daß sie die beiden dem Narzißmus so peinlichen Sätze von der psychischen Bedeutung der Sexualität und von der Unbewußtheit des Seelenlebens nicht abstrakt behauptet, sondern an einem Material erweist, welches jeden einzelnen persönlich angeht und seine Stellungnahme zu diesen Problemen erzwingt. Aber gerade darum lenkt sie die Abneigung und die Widerstände auf sich, welchen den großen Namen des Philosophen noch scheu vermeiden.“133 Die von der Psychoanalyse wissenschaftlich geleisteten „beiden Aufklärungen, daß das Triebleben der Sexualität in uns nicht voll zu bändigen ist und daß die seelischen Vorgänge an sich unbewußt sind und nur durch eine unvollständige und unzuverlässige Wahrnehmung dem Ich zugänglich und ihm unterworfen werden, kommen der Behauptung gleich, daß das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus. Sie stellen miteinander die dritte Kränkung der Eigenliebe dar, die ich die psychologische nennen möchte. Kein Wunder daher, daß das Ich der Psychoanalyse nicht seine Gunst zuwendet und ihr hartnäckig den Glauben verweigert.“134 130

Freud (1923), S. 293. Freud (1923), S. 292. 132 Die Psychoanalyse kann so auch eine Lesart dessen bestätigen, was Nietzsche bereits 1886/87 in Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral in einer anderen Metaphorik verkündet hatte: „daß das tiefste Wesen des Menschen in Triebregungen besteht, die elementarer Natur, bei allen Menschen gleichartig sind und auf die Befriedigung gewisser ursprünglicher Bedürfnisse zielen. Diese Triebregungen sind an sich weder gut noch böse. Wir klassifizieren sie und ihre Äußerungen in solcher Weise, je nach ihrer Beziehung zu den Bedürfnissen und Anforderungen der menschlichen Gemeinschaft. Zuzugeben ist, daß alle die Regungen, welche von der Gesellschaft als böse verpönt werden – nehmen wir als Vertretung derselben die eigensüchtigen und die grausamen – sich unter diesen primitiven befinden.“ (Freud (1915), S. 41). 133 Freud (1917a), S. 194. 134 Freud (1917a), S. 194 – H. i. O. 131

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In der Kränkungsgeschichte reflektiert die Psychoanalyse sich selbst als Aufklärung. Sie beschreibt ihre spezifisch kränkende Enttäuschungsleistung mit ihren eigenen theoretischen Mitteln und kann dadurch zugleich den eigenen Erkenntnisstandpunkt validieren. Denn sie erklärt in der theoretischen Figur der narzißtischen Kränkung psychologisch ihre affektuelle Wirkung und antizipiert damit zugleich die erbitterte Gegnerschaft, die sie durch Zerstörung liebgewonnener Illusionen auf sich zieht, indem sie die menschliche Eigenliebe mit der (psychoanalytisch erkannten) Realität konfrontiert. So dient, was immer gegen sie vorgebracht wird, in ihrer Perspektive – als psychologische Latenzbeobachtung – prinzipiell zunächst der Bestätigung ihrer Erkenntnisse. „Es war eine der ersten Anwendungen der Psychoanalyse, daß sie uns die Gegnerschaft verstehen lehrte, die uns die Mitwelt bewies, weil wir Psychoanalyse trieben.“135 So läßt sich, was Freud unter dem Titel der Widerstände gegen die Psychoanalyse beschreibt, psychoanalytisch erklären als Abwehr- oder Verdrängungsvorgang derjenigen, denen eine unliebsame Selbsterkenntnis aufgenötigt wird. Die Menschheit verhält sich hier prinzipiell nicht anders als der einzelne Analysand. „Die starken Widerstände gegen die Psychoanalyse waren also nicht intellektueller Natur, sondern stammten aus affektiven Quellen. Daraus erklärten sich ihre Leidenschaftlichkeit wie ihre logische Genügsamkeit. [. . .] die Menschen benahmen sich gegen die Psychoanalyse als Masse genau wie der einzelne Neurotiker, den man wegen seiner Beschwerden in Behandlung genommen hatte, dem man aber in geduldiger Arbeit nachweisen konnte, daß alles so vorgefallen war, wie man es behauptete. [. . .] Diese Situation hatte gleichzeitig etwas Schreckhaftes und etwas Tröstliches; das erstere, weil es keine Kleinigkeit war, das ganze Menschengeschlecht zum Patienten zu haben, das andere, weil schließlich sich alles so abspielte, wie es nach den Voraussetzungen der Psychoanalyse geschehen mußte.“136 135

Freud (1933), S. 141. Freud (1925), S. 232. – Das Schema, daß der Widerstand gegen die in der Latenzbeobachtung produzierte Einsicht die Wahrheit dieser Einsicht belegt, weil diese erwartungsgemäß Ablehnung bei denjenigen provoziert, deren Selbstbild hierdurch angegriffen wird, läßt sich auch etwa in der marxistischen Ideologiekritik beobachten, die durch die Angriffe und Widerlegungsversuche ihrer ideologischen Gegner ihr Bild vom auf allen Ebenen geführten Klassenkampf bestätigt sehen kann: Wenn beispielsweise ‚bürgerliche‘ Wissenschaftler die Validität marxistischer Gesellschaftsanalyse in Zweifel ziehen, spricht dies nicht gegen den Marxismus, sondern zeugt vom ideologischen Widerstand des Klassenfeindes und damit für die Wahrheit der ideologiekritisch-klassensoziologischen Gesellschaftsauffassung des Marxismus. – Freud hatte bereits in der Traumdeutung ein hübsches Beispiel für diese Art reflexiver Einwandsimmunisierung in der Latenzbeobachtung gegeben: Er berichtet hier von einer Patientin, „der witzigsten unter all meinen Träumerinnen“, der er „an einem Tage auseinandergesetzt [hatte], daß der Traum eine Wunscherfüllung sei“, das Kerntheorem der Traumdeutung und damit ein Basiselement der psy136

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In ihrer Selbstreflexion als Kränkung stellt Freuds Psychoanalyse das moderne Individuum als Kostenträger – und trotz allem auch weiterhin: als Begünstigten – der Aufklärung in den Mittelpunkt: diese Zentralität wird ihm nach allen diagnostizierten Dezentrierungen noch gewährt. Und mehr noch: das Individuum wird zum eigentlichen Thema der Aufklärung, zu ihrem unerschöpflichen Forschungsfeld. Dieses sowohl parteinehmende wie erkenntnismäßige Interesse artikuliert sich im Leitsatz psychoanalytischer Aufklärung: „Wo Es war soll Ich werden“.137 In psychoanalytischer Gestalt nimmt sich die Aufklärung des von allen Seiten – nicht zuletzt von der Übermacht seines Es – bedrängten Individuums an. Nach allen Dezentrierungen, die der Mensch durch den kränkenden Fortgang der Aufklärung erlitten hatte, rückt er nun – arg gebeutelt – mit der zugleich bis dato nachhaltigsten Kränkung seines Selbstbildes gleichwohl als Individuum ins Zentrum aufklärerischen Interesses: und zwar nicht mehr nur als Adressat, sondern vor allem als deren eigentliches Betätigungsfeld. Die dunklen Naturgewalten sind in den Tiefen seines Selbst verborgen, und nichts scheint lohnender, als diese Abgründe zu erhellen. Und wenn sich auch die darin gewonnenen Aussichten nicht gerade rosig ausnehmen, so liegt doch für das Individuum noch etwas Schmeichelhaftes in der Annahme, daß alle Welt sich für es interessiert. Was man noch an Aufklärungsfortschritten in Hinblick auch lebensbewältigende Welterkenntnis und -beherrschung erhoffen darf, wird offenbar unweigerlich den Weg über die Erforschung der unerschöpflichen Individualität zu gehen haben. Und das gilt, dieser Perspektive zufolge, insbesondere auch für den sozialen Phänomenbereich.138 choanalytischen Theorie. „[A]m nächsten Tage brachte sie mir einen Traum, daß sie mit ihrer Schwiegermutter nach dem gemeinsamen Landaufenthalt fahre. Nun wußte ich, daß sie sich heftig gesträubt hatte, den Sommer in der Nähe der Schwiegermutter zu verbringen, wußte auch, daß sie der von ihr gefürchteten Gemeinschaft in den letzten Tagen durch die Miete eines vom Sitz der Schwiegermutter weit entfernten Landaufenthalts glücklich ausgewichen war. Jetzt machte der Traum diese erwünschte Lösung rückgängig; war das nicht der schärfste Gegensatz zu meiner Lehre von der Wunscherfüllung durch den Traum? Gewiß, man brauchte nur die Konsequenz aus diesem Traum zu ziehen, um seine Deutung zu haben. Nach diesem Traum hatte ich unrecht; es war also ihr Wunsch, daß ich unrecht haben sollte, und diesen zeigte ihr der Traum erfüllt. Der Wunsch, daß ich unrecht haben sollte, der sich an diesem Thema der Landwohnung erfüllte, bezog sich aber in Wirklichkeit auf einen anderen und ernsteren Gegenstand“, nämlich auf einen in der Analyse der Patientin zu Tage getretenen, für ihre Erkrankung bedeutsamen Vorfall aus „einer gewissen Periode ihres Lebens [. . .]. Ihr Wunsch, daß ich unrecht haben möge, verwandelt in den Traum, daß sie mit ihrer Schwiegermutter aufs Land fahre, entsprach also dem berechtigten Wunsch, daß jene damals erst vermuteten Dinge sich nie ereignet haben möchten.“ (Freud (1900), S. 134 – H. i. O.). 137 Freud (1933), S. 81; vgl. Freud (1923), S. 292 f. 138 Vgl. Freud (1933), S. 175; (1921), S. 65 ff.

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Die nach Freud beobachtete ‚vierte Kränkung‘ in Gestalt der Gesellschaftstheorie Niklas Luhmanns139 mutet dem Individuum in einem weiteren Dezentralisierungsschub zu, in der liebgewonnenen Vorstellung, daß es gesellschaftlich auf es ankomme, eine Illusion zu erblicken. Individuen kommen demnach, soweit damit psychische Systeme gemeint sind, ausschließlich – exklusiv – in der Umwelt der – im übrigen selbst: dezentrierten – Gesellschaft vor; und soweit sie in der Gesellschaft vorkommen, handelt es sich dabei um kommunikative Konstrukte, um semantische Formen, die die Gesellschaft als Medium ihrer Realitätskonstruktion nutzt. Daß diese Soziologische Aufklärung mit der psychoanalytisch inspirierten Formel von der ‚vierten Kränkung‘ bezeichnet werden und in dem damit angesprochenen Narzißmuskonzept plausibel gemacht werden kann, kann wissenssoziologisch als ein Indiz dafür betrachtet werden, welchen Stellenwert die Semantik der Individualität in der Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft hat – bei all ihrer Indifferenz gegen die konkrete Individualität psychischer Systeme.

3. Der Narzißmus und das moderne Individuum Das Diktum von den drei Kränkungen – das sich dann um die ‚vierte Kränkung‘ ergänzen läßt – beleuchtet einen Aspekt der Moderne, der sie als Ergebnis eines zukunftsoffenen und insofern in ihr fortwirkenden Aufklärungsprozesses erkennbar macht. Und dieser Aufklärungsprozeß selbst wird in diesem Verständnis auf seine spezifische Qualität hin betrachtet, narzißtische Kränkungen zuzufügen. Als Kränkungsgeschichte erzählt, erscheint die Entwicklung zur Moderne als fortschreitender Rückzug von narzißtischen Positionen. Sie ist die erzwungene Aufgabe von Größenphantasien, ein Verlust an imaginierter Omnipotenz, Unsterblichkeit, Allwissenheit, Grandiosität. Die Kränkungsgeschichte beschreibt einen Enttäuschungsprozeß, in dem sich narzißtische Vollkommenheitsvorstellungen schrittweise als nicht realitätstauglich erweisen: Unter dem Druck der Realität, die im Falle der Geschichte von den drei (bzw. vier) Kränkungen in der spezifischen Gestalt wissenschaftlicher Wahrheit auftritt, werden sie zu Illusionen. Sie werden ersetzt durch realistische Beschreibungen der Realität – bis diese selbst möglicherweise zu Illusionen erklärt werden und eine adäquatere, noch ernüchterndere Realitätskonstruktion an deren Stelle tritt.

139

Vgl. Neusüss (1992).

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a) Kompensation, Regression und Realismus, entwicklungsgeschichtlich betrachtet Der Lohn dieses Desillusionierungsprozesses besteht in einem Zugewinn an Realismus,140 einem Erkenntnisgewinn, der einen Zuwachs an Einwirkungsmöglichkeiten auf die Realität verspricht, auch wenn es sich nur um die Einsicht der Limitiertheit von Erkenntnis oder die Fähigkeit zur Vermeidung unerwünschter Folgen handeln mag. Der Abbau von Illusionen bedeutet als Gewinn an Realismus günstigstensfalls eine Verbesserung von Überlebenschancen. Insofern enthält jede Kränkung, die durch Desillusionierung herbeigeführt wird, bereits eine Entschädigung für den Verlust, den sie erzeugt. Ob diese Kompensation hinreichend ist, um die Aufgabe von affektuell positiven Illusionen erträglich zu machen bzw. zu motivieren, ist eine andere Frage. Daß in der narzißtischen Kränkung überhaupt ein Kompensationsbedarf entsteht, ergibt sich aus ihrem Begriff, der ‚Kränkung der Eigenliebe‘, und aus der Theorie des Narzißmus, dem dieser Begriff entstammt und die in ihm vorausgesetzt ist.141 Der Zustand, dessen Verlassen in der Kränkung erzwungen wird, ist als narzißtischer ein Zustand libidinöser Selbstbesetzung. ‚Kränkung‘ bedeutet demnach eine Störung einer lustvollen Selbstbezüglichkeit; sie erzeugt Unlust, ist also schmerzlich. Die Kränkung schädigt den Narzißmus, das affektuell positive Selbstgefühl. Aus dieser Schädigung ergibt sich der Bedarf an Entschädigung. Die Kränkung erzeugt daher das Bedürfnis nach Kompensation, die eine Ausbalancierung des narzißtischen Gleichgewichts ermöglicht. Das heißt aber zugleich auch, daß in der Kompensation die Kränkung akzeptiert wird. Der in der Annahme der Kränkung gewonnene Realismus ist bereits als eine Variante solcher Kompensation zu begreifen. Grundsätzlich sind als Kränkungskompensationen solche Restabilisierungen des narzißtischen Gleichgewichts zu verstehen, die die Kränkung nicht zurückweisen und durch das in dieser erreichte Niveau an Realismus bedingt oder zumindest mit diesem vereinbar sind. Das schließt auch bestimmte – zeitlich, sachlich, sozial limitierte – Formen des Eskapismus ein, insbesondere in Kunst, Spiel und anderen virtuellen oder fiktiven Reali140 Das gilt auch auf dem epistemologischen Reflexionsniveau des operativen Konstruktivismus, der in der Widerständigkeit rekursiv vernetzter Beobachtungsoperationen, im Widerstand gegen beliebige Thematisierung die Realitätsgarantie und die Möglichkeit der Unterscheidung von realistischen, also adäquaten, von unrealistischen Beschreibungen der Realität sieht; vgl. z. B. Luhmann (1994b), S. 78, 92 f., 305 f., 517 ff.; (1997a), S. 538, 578 f., 864 f., 1126 f. 141 Zur psychoanalytischen Narzißmustheorie vgl. neben den im folgenden zitierten Schriften Freuds insbesondere Kohut (1976) u. (1981) – siehe auch unten, III. 3. a) –, sowie Laplanche/Pontalis (1973), S. 317 ff.; Kernberg (1983); Wirth (2002).

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täten, deren kompensatorische Leistung darin besteht, vom Kränkungsdruck zu entlasten, ohne die Kränkung zu negieren.142 Diese sind nicht im engeren Sinne ‚realistisch‘, setzen aber soziokulturell-evolutiv das je erreichte Niveau an Realismus voraus und beziehen daraus ihre Bedeutung.143 Die Kränkung kann aber auch – zur Unlustvermeidung – abgewehrt werden. Das bedeutet, auf den Realitätsgewinn zu verzichten, der in der Akzeptanz der Kränkung liegt. Es bedeutet, in Vorstellungen zu verharren, die, vom erreichten Realitätsniveau der Umwelt aus betrachtet, als illusorisch erscheinen: als entwicklungsgeschichtlich überholt.144 Im Lichte der Vorstellung einer Geschichte der Kränkungen als Zuwachs an Realismus bei komplementärer Aufgabe narzißtischer Phantasien, erscheint eine solche Abwehrreaktion als regressiv. Als Regression läßt sich in dieser Perspektive entweder die Fixierung einer realitätswidrigen narzißtischen Position bezeichnen.145 Das heißt gewissermaßen stehenzubleiben, während die Umwelt sich auf ein realistischeres Niveau hin weiterentwickelt. Oder es findet eine weitergehende Regression statt, eine Rückkehr zu bereits verlassenen narzißtischen Positionen, also eine Rückentwicklung.146 In jedem Fall wird 142

Vgl. auch Freud (1912/13), S. 378; (1913a), S. 179 f.; (1930), S. 212, 214. Formtheoretisch läßt sich dies leicht daran verdeutlichen, daß beispielsweise ein Spiel nur ‚Spiel‘ ist in Differenz zum ‚Ernst‘ oder eine ‚fiktionale Realität‘ als solche nur in Differenz zur ‚realen Realität‘ aufgefaßt und goutiert werden kann; vgl. auch Sill (1997). 144 In diesem Sinne kann die Regression idealtypisch im vorliegenden Zusammenhang als eine gegenüber der Kompensation alternative Reaktion auf die Kränkung verstanden werden. Denn während in der Regression die Kränkung als solche geleugnet bzw. ignoriert wird, setzt die kompensatorische Lösung ja die Akzeptanz der Kränkung voraus: keine Entschädigung ohne vorangegangenen Schaden. Die Ausgleichung (compensatio) wird erst erforderlich, wenn das (narzißtische) Gleichgewicht zuvor nachhaltig gestört worden ist, d. h. als Kränkung angenommen und nicht abgewehrt worden ist. Auch die Bedeutung ‚compensare = ersetzen‘ legt nahe, daß der Verlust – einer narzißtischen Position – bereits erfolgt ist. Das schließt andererseits, evolutionär bzw. genetisch betrachtet nicht aus, daß vormals kompensatorische Lösungen von einem späteren Standpunkt des Realismus ebenfalls aufgegeben werden müssen und andernfalls als regressiv erscheinen. 145 Neben der hier akzentuierten genetischen Bedeutung enthält der Begriff der Regression zugleich einen topischen Sinn, als Zurückweichen bzw. Abwendung von der äußeren Realität, also gleichsam Rückzug ins Innere des Seelenlebens, wie dies z. B. im Traum geschieht; vgl. Laplanche/Pontalis (1973), S. 436 ff. 146 Daß eine solche Regression zu früheren Entwicklungsstufen nie den früheren Zustand wiederherstellt, ist nicht nur empirisch, sondern auch logisch evident. Der wiederkehrende Zustand kann – eine lineare Entwicklung vorausgesetzt – nicht mit seinem früheren Vorläufer identisch sein, weil dieser frühere erstens zu seiner Zeit unter den gegebenen Bedingungen adäquat und zweitens keine Wiederholung war. Hinzu kommt empirisch, daß die Regression immer Anteile des Entwicklungsganges enthält, den sie zurücknimmt. 143

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hierdurch die narzißtisch kränkende Realität geleugnet, zugunsten einer narzißtisch atavistischen Position, die sich aufgrund des ihr zugrunde liegenden Fluchtimpulses und als Negation der Kränkung und des in dieser erreichbaren Niveaus an Realismus als eine Form des Eskapismus begreifen läßt.147 Die Kränkungsgeschichte läßt sich somit als Abfolge von narzißtischen Gleichgewichtszuständen rekonstruieren, die einander auf einem jeweils höheren Niveau an Realismus und Unlust ablösen. Der Realität kommt hierbei eine selektive Funktion gegenüber der narzißtischen Selbstbezüglichkeit zu. Sie erzwingt die Aufgabe bestimmter Positionen und bestimmt den Rahmen, in dem nach dieser Aufgabe eine höherstufige Rebalancierung des Narzißmus möglich ist, also ein neuer narzißtischer Zustand. In seinem Realismus stabilisiert sich die Kränkung. Damit stellt er das je erreichte Niveau dessen dar, hinter das nur in regressiver Variante zurückgegangen werden kann. Zugleich stellt dieser je letzterreichte narzißtische Gleichgewichtszustand die Kompensation für die entwicklungsgeschichtlich vorangegangenen Kränkungen bereit. So konnte sich der Mensch nach der zweiten und noch vor der dritten Kränkung zwar realistischerweise nicht mehr für die Krone der Schöpfung halten, aber er konnte sich noch als Subjekt denken, das prinzipiell Herr seiner selbst ist – auch wenn dies auf einer evolutionär zufälligen Entwicklung beruht. Die dritte Kränkung stellt auch diese Vorstellung in Frage, indem sie subjektive Autonomie und Selbsttransparenz mit Hinweis auf das Unbewußte bzw. das Es zu einer narzißtischen Illusion erklärt. Umgekehrt ist aber auch diejenige narzißtische Vorstellung, die der ersten Kränkung durch die neuzeitliche Wissenschaft zum Opfer fällt, ihrerseits bereits als eine Kompensation vorangegangener Kränkungen zu verstehen. In den religiös-kosmologischen Implikationen des kopernikanisch herausgeforderten Geozentrismus lag die Entschädigung für die kränkende Erfahrung individueller Sterblichkeit. Entsprechendes gilt auch für die theologischen und religiösen Voraussetzungen des Kreationismus, den Darwins 147 Im Sinne der vorgeschlagenen begrifflichen Unterscheidungen von ‚Kompensation vs. Regression‘ und ‚Realismus vs. Eskapismus‘ ist also die Regression zwar immer eskapistisch und nie realistisch, der Eskapismus aber nicht immer regressiv, sondern mitunter auch kompensatorisch. Die Gegensatzpaare sind also nicht dekkungsgleich konzipiert, und gerade der dadurch begreifbaren Form eines nicht-regressiven, kränkungskompensatorischen Eskapismus kommt eine besondere Bedeutung in der Moderne zu – und in ihrem theoretischen Verständnis. – Kreuztabellarisch könnte man – auch mit Blick auf die später zu analysierenden Ausdeutungen des Einzigen nach der interpretationsschematischen Unterscheidung von (realistischer) Je-Einzigkeit und (eskapistischer) All-Einzigkeit – auf einer Achse typologisch zwischen individuellen (a) und sozialen (b) Formen des Eskapismus in der Moderne und auf der anderen Achse zwischen sozial kompatiblen bzw. kränkungskompensatorischen einerseits (1) und sozial inkompatiblen (antisozialen) bzw. kränkungsregessiven anderseits (2) unterscheiden. Dann entspräche beispielsweise der Variante 1a der Traum, 1b die Kunst, 2a die Psychose und 2b die Sekte.

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Evolutionstheorie zur Illusion erklärte: Der Monotheismus entzauberte die vormals animistisch und polytheistisch eingerichtete Welt, vertrieb die Geister und Dämonen und versagte dem Menschen den Zugang zu magisch manipulierbaren Strömen kosmischer Allmacht. Damit vollbringt er die kulturgenealogisch schwerste und folgenreichste vorwissenschaftliche Aufklärungs- und Kränkungsleistung, indem er dem Menschen den Verzicht auf Wunscherfüllung durch magische Praktiken und den Austritt aus einer Welt aufnötigte, die dieser nach seinem Tode weiter bewohnen zu können glaubte – im Tausch für die Unsterblichkeit seiner Seele und die Aufmerksamkeit und Ebenbildlichkeit eines großartigen Gottes, der ihm die zentrale Rolle in seinem Schöpfungplan zugedacht hatte.148 Was die drei Kränkungen durch die neuzeitliche Wissenschaft als Illusionen vorführten – von der monotheistischen Religion bis zur logozentrischen Subjektkonzeption –, war also seinerseits bereits das evolutionär späte und bezüglich des darin jeweils sich artikulierenden Bedarfes und Angebotes an Kompensation voraussetzungsvolle Ergebnis vorangegangener, schmerzhafter Störungen und höherstufig realistischer Rebalancierungen des narzißtischen Gleichgewichts.149 Rekonstruiert man in der skizzierten Weise die Historiographie der Kränkungen als eine Theorie kultureller Evolution, dann stellt sich letztere als eine Folge einander ablösender narzißtischer Zustände dar, in deren Verlauf narzißtische Illusionen abgebaut und Kompensationen aufgebaut werden. Das jeweils erreichte Niveau entscheidet über die regressive oder kompensatorische Qualität bestimmter Vorstellungen innerhalb des narzißtischen 148

Vgl. Freud (1912/13), S. 364 ff.; (1939), S. 468 ff., 557 ff. Dabei hält noch diejenige wissenschaftliche Kränkung, die die Wahrheitsfähigkeit von Wissenschaft in Frage stellt, die narzißtische Genugtuung für ihren Verkünder bereit, der Menschheit und ihrer Wissenschaft die vermeintlich letzte Wahrheit mitzuteilen und ihr damit wahlweise den Spiegel vorzuhalten oder sie aufklärend zu kränken – jedenfalls: es besser zu wissen als alle anderen. Und, Abglanz archaischer Omnipotenzphantasien, durch die vermeintliche Unerträglichkeit der Botschaft alle zu schockieren und nachhaltig zu verunsichern. Spätestens seit Nietzsche und vorzugsweise an ihm orientiert, gefällt sich darin der intellektuelle Typus des radikalen Skeptikers und Kritikers, wenn er die ‚Abschaffung der wahren Welt‘ dekretiert (vgl. Nietzsche, KSA 6, S. 80 f.), ‚das Ganze für das Unwahre‘ erklärt (vgl. Adorno (1951), S. 57) oder ‚das Ende der Großen Erzählungen‘ und Ähnliches verkündet (vgl. Lyotard (1982); vgl. auch Lyotard (1984), S. 51). Für die Einsicht in die eigene Sterblichkeit und die Begrenztheit der Erkenntnisfähigkeit entschädigt die Vorstellung, es gäbe ohnehin nichts zu erkennen und im Grunde auch nichts zu tun oder zu verpassen – und die Aufmerksamkeit, die man mit der Verlautbarung dieser Erkenntnis auf sich zieht. Von allem anderen – etwa der Frage nach Realitätstauglichkeit – abgesehen, sind derartige Positionen von der gleichen narzißtischen Wertigkeit wie diejenigen ihres intellektuellen Gegentypus, der die Menschheit mit ideologischen Wahrheiten ausstattet und in eine glückliche Zukunft führen möchte, wofür er sie in die Pflicht nimmt. 149

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Gleichgewichts, und damit über dessen Kränkbarkeit bzw. Störungsanfälligkeit durch die Realität. Der Stand dieser Evolution läßt sich demnach bemessen nach seiner Distanz zu einem (hypothetischen) Ausgangszustand, einer primären narzißtischen Kränkung, die einen ursprünglichen Narzißmus stört bzw. ein Gleichgewicht reiner Selbstbezüglichkeit debalanciert. Von diesem Zustand einer absoluten lustvollen Selbstgenügsamkeit sind bereits die vormodernen Illusionen, die durch die drei wissenschaftlichen Kränkungen zerstört werden, qualitativ weit entfernt. Und die Moderne ist in ihrer kränkungsgeschichtlichen Selbstreflexion durch die äußerste Entfernung von jenem uranfänglichen Zustand charakterisiert. In der Konstruktion dieses Ursprungszustandes als das ganz andere ihrer selbst macht sich die Moderne sich selbst verständlich: als Differenz zu diesem, der insofern als ein imaginärer Bezugspunkt der Kränkungshistoriographie zu reflektieren ist.150 b) Implikationen des biogenetischen Grundgesetzes Die Dramatik dieser Konstruktion der Moderne als Maximaldistanz zu einem primären narzißtischen Kränkungsvorgang wird durch ein zentrales Theorieelement der Freudschen Psychoanalyse verschärft: die Adaption des biogenetischen Grundgesetzes für psychische Entwicklungsprozesse. Schon vor der Veröffentlichung seiner Schrift Zur Einführung des Narzißmus und dem Hinweis auf jene Schwierigkeit der Psychoanalyse bemerkt Freud 1913 über Das Interesse an der Psychoanalyse in entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht, „daß der Satz ‚die Ontogenie sei eine Wiederholung der Phylogenie‘ auch auf das Seelenleben anwendbar sein müsse“151 – eine Heuristik, die sich bereits unmittelbar zuvor in Totem und Tabu (Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker)152 bewährt hatte. Aus der psychoanalytischen Adaption des biogenetischen Grundgeset150 Ob dabei diese Konstruktion selbst eine spezifisch moderne Errungenschaft ist, oder bereits, wie dies aus gegenwärtiger Perspektive scheint, im Paradiesmythos enthalten ist, ist dabei sekundär. In jedem Fall bringt die Qualität dieses Ur-Zustandes es mit sich, daß von ihm erst die Rede sein kann, wenn er verlassen ist. Mit der Vorstellung eines ursprünglichen Narzißmus und seiner Kränkung verhält es sich nicht nur in dieser Beziehung ähnlich wie mit dem von Hans Blumenberg in Lebenszeit und Weltzeit beschriebenen Konzept der ‚Lebenswelt‘ – als eines postulierten Zustandes ständiger Anwesenheit, der Differenz-, Negations- und Begriffslosigkeit – und des Austrittes aus ihr bzw. ihres Verlustes – als Bewußtsein von Zeit, Abwesenheit, Sterblichkeit, Kontingenz usw. –, wobei auch Blumenberg in diesem Zusammenhang explizit auf die Motive des Narzißmus, der Kränkung und der Kompensation rekurriert; vgl. Blumenberg (1986), S. 32 ff., 46 ff., 65 ff., 73 ff., 79 f., 309 ff., 350 ff. 151 Freud (1913a), S. 177. 152 Freud (1912/13).

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zes folgt zunächst generell, daß die psychischen Phänomene einander entsprechender Entwicklungsphasen in phylo- wie ontogenetischer Hinsicht aufeinander beziehbar sind. So entsprechen etwa – grob schematisiert – die gattungsgeschichtlich archaischen bzw. phylogenetisch primitiven Zustände den ontogenetisch frühen Zuständen, mithin sowohl den infantilen Stadien der Individualentwicklung als auch ihrer Wiederkehr beim Erwachsenen, in ihren pathologischen Formen der Neurosen und Perversionen, aber insbesondere auch im Phänomen des Traumes und in gewissen sozialen Erzeugnissen, etwa der Kunst. Deswegen lassen sich diese Phänomene in- und durcheinander erkennen, als Variationen eines strukturell analog verlaufenden Entwicklungsganges. Die Vorstellungswelt primitiver Völker bildet einerseits die phylogenetische Erbmasse des modernen Individuums. Andererseits ähnelt sie den seelischen Zuständen der jeweiligen ontogenetischen Vergangenheit des Individuums, die dessen Individualität prägt und von der ihm Nacht für Nacht im Traum mitgeteilt wird – und von denen es im Krankheitsfalle in Form neurotischer Symptombildungen heimsucht wird. Die seelische Vergangenheit bleibt daher, wiedergängergleich, in der einen oder anderen Form präsent. „Beweis dieser Behauptung ist es, daß der Traum des normalen Menschen allnächtlich dessen Kindercharakter wiederbelebt und sein ganzes Seelenleben auf eine infantile Stufe zurückführt. Dieselbe Rückkehr zum psychischen Infantilismus (Regression) stellt sich bei den Neurosen und Psychosen heraus, deren Eigentümlichkeiten zum großen Teil als psychische Archaismen zu beschreiben sind.“153 „Der Traum wird so zum Normalvorbild aller psychopathologischen Bildungen. Wer den Traum versteht, kann auch den psychischen Mechanismus der Neurosen und Psychosen durchschauen.“154 Und aufgrund der „Vergleichung der Kindheit des einzelnen Menschen mit der Frühgeschichte der Völker“ hat es sich auch „als fruchtbar erwiesen, [. . .] die am Traum gewonnene psychoanalytische Auffassung auf Produkte der Völkerphantasie wie Mythus und Märchen zu übertragen.“155 So läßt sich je nach Erkenntnisinteresse – etwa an der metapsychologischen Beschreibung des seelischen Apparates und damit am Menschen, oder an einem konkreten Individuum und dessen Erkrankung, Träumen oder Charakter, oder auch an der Kultur in ihrer generellen Entwicklung oder an einzelnen ihrer Erzeugnisse – die psychoanalytische Perspektive einstellen und durch an je anderem Beobachtungsmaterial gewonnene Auskünfte ergänzen. Deswegen können in psychoanalytischer Perspektive die Erkenntnisse aus Traumdeutung, Ethnologie, Psychopathologie und Kinderpsychologie einander befruchten und bestätigen – und zum Verständnis des voll entwickelten psychischen Appara153 154 155

Freud (1913a), S. 176 – H. i. O. Freud (1913a), S. 164 – H. i. O. Freud (1913a), S. 177.

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tes des relativ gesunden, erwachsenen, wachen modernen Individuums und der dieses umgebenden und bedingenden, aber auch von ihm geprägten Kultur beitragen. Deswegen sind insbesondere auch die spezifisch sozialen Weltdeutungen – und nicht nur die asozialen Formen etwa des Traums oder des Wahnes – durch Mythologie, Religion, Philosophie, Kunst und Literatur Material psychoanalytischer Deutungsarbeit. Hierin begründet die Psychoanalyse die Universalität ihrer Perspektive für menschliche Welt- bzw. Selbsterkenntnis.156 Aus der psychoanalytischen Adaption des biogenetischen Grundgesetzes folgt insbesondere auch, daß es plausibel ist, den Begriff des Narzißmus und seiner Kränkung in individualpsychologischer wie in kulturgenetischer Hinsicht anzuwenden, also die Möglichkeit, narzißtische Zustände sowohl in der Individual- als auch in der Gattungsentwicklung zu beobachten – und wiederum heuristisch von der einen auf die andere Ebene zu schließen. Dem landläufigen Verständnis des Narzißmus als ‚Selbstverliebheit‘ zufolge, wie es auch die mythologische Figur des Narcissus nahelegt,157 handelt es sich zunächst dabei um eine individualpsychologische Kategorie. Dementsprechend bezeichnet Freud den Narzißmus auch als die „libidinöse Ergänzung zum Egoismus“158 und als „Libidobesetzung des Ich“159, und zur begrifflichen Unterscheidung des Narzißmus von der „Objektlibido“ nennt er diesen auch „Ichlibido oder narzißtische[] Libido“.160 Im Kontext seiner Massenspsychologie spricht Freud von „narzißtisch genannten Vorgängen, bei denen die Triebbefriedigung sich dem Einfluß anderer Personen entzieht oder auf sie verzichtet“ im Gegensatz zu „sozialen [. . .] seelischen Akten“, wobei er diese Unterscheidung selbst „innerhalb des Bereichs der Individualpsychologie“ verortet.161 Auf Individuen bezieht sich auch Freuds Begriff der „narzißtischen Neurosen“ zur nosologischen Bezeichnung von „Paraphrenien“ bzw. Psychosen, etwa dem Größenwahn.162 Und in einem solchen klinischen Zusammenhang, den Psychoanalytischen Bemerkungen 156

Vgl. z. B. Freud (1913a), S. 168 ff., bes. S. 183; Freud (1933), S. 154 ff., bes. S. 175. 157 Vgl. Ovid, Metamorphosen, S. 180 ff. 158 Freud (1914a), S. 51; (1915–17), S. 327; vgl. Freud (1917b), S. 158. 159 Freud (1914a), S. 53. 160 Freud (1915–17), S. 326, 336; vgl. Freud (1914a), S. 53 ff. 161 Freud (1921), S. 65 – H. i. O. – Der voranalytische Gebrauch des Terminus bei P. Näcke bezeichnet, wie Freud 1914 in seinem eigenen metapsychologischen Beitrag Zur Einführung des Narzißmus bemerkt, eine sexuelle Perversion (vgl. Freud (1914a), S. 51; vgl. auch Freud (1915–17), S. 326) und hat damit also ebenfalls einen individualpsychologischen Referenzbereich. 162 Freud (1915–17), S. 330 ff.; vgl. auch Freud (1914a), S. 51 ff. – Später behält Freud den Begriff der narzißtischen Neurose der Melancholie vor; vgl. Freud (1924a), S. 269 f.; vgl. Laplanche/Pontalis (1973), S. 323.

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über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides) – dem Fall Schreber – hatte Freud das Konzept des Narzißmus schon 1911, vor der Narzißmus-Schrift von 1914, zum Einsatz gebracht.163 Bereits in Totem und Tabu verwendet Freud das Narzißmus-Konzept an einer systematisch zentralen Stelle auch kulturgenealogisch zur Beschreibung eines Entwicklungsstadiums der Menschheit, um eine gattungsgeschichtliche Phase mit individualpsychischen Zuständen in Beziehung zu setzen. Im Kapitel über „Animismus, Magie und Allmacht der Gedanken“ stellt Freud die Ähnlichkeiten zwischen dem frühinfantilen Narzißmus, seinen „pathologische[n] Fixierungen“, also seiner regressiven Erscheinungsform beim erwachsenen Neurotiker und dem kulturgeschichtlich archaischen Animismus bezüglich des – narzißtisch-illusorischen – Glaubens an die Allmacht der Gedanken heraus, wie sie in magischen Ritualen zum Ausdruck kommt. „Es liegt nun nahe, die von uns aufgefundene Hochschätzung der psychischen Aktionen – die wir von unserem Standpunkt aus eine Überschätzung heißen – bei den Primitiven und Neurotikern in Beziehung zum Narzißmus zu bringen und sie als wesentliches Teilstück desselben aufzufassen. [. . .] Die psychischen Folgen müssen in beiden Fällen dieselben sein, bei ursprünglicher wie bei regressiv erzielter libidinöser Überbesetzung des Denkens: intellektueller Narzißmus, Allmacht der Gedanken. Wenn wir im Nachweis der Allmacht der Gedanken bei den Primitiven ein Zeugnis für den Narzißmus erblicken dürfen, so können wir den Versuch wagen, die Entwicklungsstufen der menschlichen Weltanschauung mit den Stadien der libidinösen Entwicklung des Einzelnen in Vergleich zu ziehen.“164 Somit sind Phylo- und Ontogenese in psychoanalytischer Sicht zusammengebracht. Dementsprechend kann Freud 1914 in der Einführung des Narzißmus auf jene Passage aus Totem und Tabu zusammfassend bezug nehmen, indem er, basierend auf „unseren Beobachtungen und Auffassungen des Seelenlebens von Kindern und primitiven Völkern“ konstatiert: „Wir finden bei diesen letzteren Züge, welche, wenn sie vereinzelt wären, dem Größenwahn zugerechnet werden könnten, eine Überschätzung der Macht ihrer Wünsche und psychischen Akte, die ‚Allmacht der Gedanken‘, einen Glauben an die Zauberkraft der Worte, eine Technik gegen die Außenwelt, die ‚Magie‘, welche als konsequente Anwendung dieser größensüchtigen Voraussetzungen erscheint. Wir erwarten eine ganz analoge Einstellung zur Außenwelt beim Kinde unserer Zeit [. . .] Wir bilden so die Vorstellung einer ursprünglichen Libidobesetzung des Ichs, von der später an die Objekte abgegeben wird, die aber, im Grunde genommen, verbleibt und sich zu den Objektbesetzungen verhält wie der Körper eines Protoplas163 164

Vgl. Freud (1911a), S. 149 ff., 160 ff. Freud (1912/13), S. 377 f., vgl. S. 380.

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matierchens zu den von ihm ausgeschickten Pseudopodien.“165 Ebenfalls in Totem und Tabu findet sich die entwicklungstheoretische Voraussetzung für das spätere Diktum von den drei narzißtischen Kränkungen durch die Wissenschaft. Ausgehend von einer „Entwicklungsgeschichte der menschlichen Weltanschauungen [. . .], in welcher die animistische Phase von der religiösen, diese von der wissenschaftlichen abgelöst wird, wird es uns nicht schwer, die Schicksale der ‚Allmacht der Gedanken‘ durch diese Phasen zu verfolgen. Im animistischen Stadium schreibt der Mensch sich selbst die Allmacht zu; im religiösen hat er sie den Göttern abgetreten, aber nicht ernstlich auf sie verzichtet, denn er behält sich vor, die Götter durch mannigfache Beeinflussungen nach seinen Wünschen zu lenken. In der wissenschaftlichen Weltanschauung ist kein Raum mehr für die Allmacht des Menschen, er hat sich zu seiner Kleinheit bekannt und sich resigniert dem Tode wie allen anderen Naturnotwendigkeiten unterworfen. Aber im Vertrauen auf die Macht des Menschengeistes, welcher mit den Gesetzen der Wirklichkeit rechnet, lebt ein Stück des primitiven Allmachtsglaubens weiter.“166 Es ist dieser Rest an Selbst-Vertrauen des menschlichen Geistes, den die psychoanalytische Kränkung so empfindlich trifft. An diesem Phasenverlauf wird ersichtlich, daß, wie diese dritte, auch die ersten beiden narzißtischen Kränkungen durch die Wissenschaft bereits kulturgeschichtlich späte Kränkungen sind.167 Die nicht nur individualpsychologische, sondern auch kulturgenealogische und modernitäts- wie aufklärungstheoretische Bedeutung, die Freud dem Konzept des Narzißmus beimißt, wird nicht zuletzt daran deutlich, daß er in seiner jene drei Kränkungen thematisierenden Schrift über die Schwierigkeit der Psychoanalyse unmittelbar vor der Diskussion dieser Kränkungen den Narzißmus-Begriff rekapituliert, mit Hinweis auf die „Sage vom griechischen Jüngling Narzissus, der in sein eigenes Spiegelbild verliebt blieb“168 und inklusive der Veranschaulichung des Narzißmus anhand des 165

Freud (1914a), S. 53. Freud (1912/13), S. 376. 167 Unter den in der Moderne vorherrschenden Bedingungen der ‚wissenschaftlichen Weltanschauung‘ fungiert Freud zufolge insbesondere die Kunst als soziales und nicht pathologisches Refugium der Artikulation von Allmachtsvorstellungen und anderen Wunschphantasien. Darauf beruht ihr Zauber und ihre Anziehungskraft (vgl. Freud (1912/13), S. 378; (1913a), S. 179 f.; vgl. auch Freud (1919), bes. S. 160 ff.). Sie ist gleichsam die sozial zugelassene Form dessen, was sich im Traum als ‚halluzinatorische Wunscherfüllung‘ abspielt oder in psychopathologischer Form in antisozialen Wahngebilden vorliegt (vgl. Freud (1913a), S. 164; (1917b); (1924a), S. 268). Daher, läßt sich vermuten, kommt gerade auf dem erhöhten Kränkungsniveau der Moderne dem sozialen System Kunst als Ort virtueller Wunscherfüllungen, die die soziale Realität ansonsten versagt, eine gesteigerte kompensatorische Bedeutung zu. 166

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bereits 1914 zu diesem Zweck bemühten Protoplasmatierchens.169 „Wir schreiben also dem Individuum einen Fortschritt zu vom Narzißmus zur Objektliebe. Aber wir glauben nicht, daß jemals die gesamte Libido des Ichs auf die Objekte übergeht. Ein gewisser Betrag von Libido verbleibt immer beim Ich, ein gewisses Maß von Narzißmus bleibt trotz hochentwikkelter Objektliebe fortbestehen. Das Ich ist ein großes Reservoir, aus dem die für die Objekte bestimmte Libido ausströmt und dem sie von den Objekten her wieder zufließt. [. . .] Zur Versinnlichung dieses Verhältnisses denken wir an ein Protoplasmatierchen, dessen zähflüssige Substanz Pseudopodien (Scheinfüßchen) aussendet, Fortsetzungen, in welche sich die Leibessubstanz hineinerstreckt, die aber jederzeit wieder eingezogen werden können, so daß die Form des Protoplasmaklümpchens wiederhergestellt wird.“170 Im Bild von diesem ‚Ur-ur-Ahnen‘171 steckt die Ahnung, daß es 168 Freud (1917a), S. 189; vgl. Freud (1933), S. 101. – Im Verb ‚blieb‘ – statt ‚war‘ – in Differenz zur mythischen Erzählung in Ovids Metamorphosen, die die Selbstverliebtheit des Narcissus auf den Fluch eines verschmähten Bewerbers zurückführt (vgl. Ovid, Metamophosen, S. 186 ff.), steckt Freuds genetische Auffassung von der Ursprünglichkeit des primären Narzißmus. Darüber hinaus enthält der Mythos bzw. seine Charakterisierung der Figur des Narcissus (vgl. Ovid, Metamorphosen, S. 180 ff.) entscheidende Dimensionen der psychologischen Konzeption des Narzißmus und seiner Phänomenologie: Zunächst die engere Bedeutung der Selbstverliebtheit bei gleichzeitiger relativer Indifferenz nach außen, die Selbstbezüglichkeit und Unnahbarkeit, sodann die – vor allem charismatheoretisch wichtige – außerordentliche Attraktivität und Seduktivität des Narcissus, außerdem die Spiegelmetaphorik, die auf die projektiven und identifizierenden Züge narzißtischer Zustände abstellt und den – wiederum charismatheoretisch wichtigen – spezifischen Modus narzißtischer (Selbst-)Objektbezüge und Übertragungsvorgänge erahnen läßt (vgl. Kohut (1976); Breuer (1995); siehe hierzu ausführlich unten, III. 3.), und schließlich die Unerreichbarkeit narzißtischer Glückseligkeit bzw. die Evokation der Selbstauflösung und Selbstvernichtung. – Die mythische Form als solche verweist auf die Verschränkung von phylo- und ontogenetischen Gehalten, denn das Genre erzählt ja von Einzelschicksalen jenseits der historischen Zeit, um dadurch das Dasein und die Geschicke der Menschheit bzw. der jeweils damit identifizierten Großgruppe zu deuten. Das gilt auch für den anderen großen psychoanalytisch bedeutsamen Mythos, den des Ödipus, demgegenüber derjenige des Narcissus mittlerweile an paradigmatischer Bedeutung zugewonnen hat (vgl. Wirth (2002), S. 36 ff.). 169 Vgl. Freud (1914a), S. 53. 170 Freud (1917a), S. 189. 171 Freuds Veranschaulichung der Vorstellung eines primären Narzißmus kommt der Metaphorik jenes anthropogenetischen Urzustandes sehr nahe, den Gottfried Benn 1913 in seinen Gesängen evoziert: „Oh, dass wir unsre Ur-ur-ahnen wären. Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor.“ (Benn (1913), S. 47) In der Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse führt Freud, nun vor dem Hintergrund seiner Strukturtheorie des psychischen Apparates, der zufolge der primäre Narzißmus im Es angesiedelt ist, aus: „Die Auffassung bedarf kaum einer Rechtfertigung, daß das Ich jener Teil des Es ist, der durch die Nähe und den Einfluß der Außenwelt modifiziert wurde, zur Reizaufnahme und zum Reizschutz

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sich beim ursprünglichen Narzißmus um einen Zustand jenseits der Differenz von Onto- und Phylogenese, bzw. um ihren gemeinsamen Ausgangspunkt handelt: um einen vor-individuativen, selbstgenügsamen Zustand, dessen Kränkung erst das Individuum im Bewußtsein seiner Nichtidentität mit der Welt konstituiert.172 eingerichtet, vergleichbar der Rindenschicht, mit der sich ein Klümpchen lebender Substanz umgibt.“ (Freud (1933), S. 77). 172 In Spannung zu dieser Vorstellung steht Freuds frühere Auskunft, daß der primäre Narzißmus selbst – und nicht erst seine Kränkung – das Ich libidinös konstituiert. Der primäre Narzißmus hätte demnach, indem er das Ich libidinös besetzt, eine integrative Funktion gegenüber einer vorangehenden Phase des ‚Autoerotismus‘, in dem sich die (polymorphen) Triebe noch chaotisch an sich selbst befriedigen (vgl. Freud (1912/13), S. 377 und Freud (1914a), S. 54). Bereits in den Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse erscheint der Autoerotismus nicht mehr als eigenständige, pränarzißtische Entwicklungsphase. Vielmehr ist hier der „Narzißmus der allgemeine und ursprüngliche Zustand“ und „der Autoerotismus die Sexualbetätigung des narzißtischen Stadiums der Libidounterbringung.“ (Freud (1915–17), S. 326) Mit der Einführung der Strukturtheorie des psychischen Apparates in Das Ich und das Es wird der Begriff des Autoerotismus aufgegeben zugunsten einer begrifflichen Neubestimmung des primären Narzißmus. Dieser bezeichnet hier nicht mehr die libidinöse Besetzung des Ich, denn als ursprüngliches „Reservoir der Libido“ erkennt Freud nun das Es (Freud (1923), S. 269). „An der Lehre vom Narzißmus wäre nun eine wichtige Ausgestaltung vorzunehmen. Zu Uranfang ist alle Libido im Es angehäuft, während das Ich noch in der Bildung begriffen oder schwächlich ist. Das Es sendet einen Teil dieser Libido auf erotische Objektbesetzungen aus, worauf das erstarkte Ich sich dieser Objektlibido zu bemächtigen und sich dem Es als Liebesobjekt aufzudrängen sucht. Der Narzißmus des Ich ist so ein sekundärer, den Objekten entzogener.“ (Freud (1923), S. 283) Im Fragment gebliebenen, 1938 im Jahr vor seinem Tod als Zusammenstellung der „Lehrsätze der Psychoanalyse in gedrängtester [. . .] gleichsam dogmatisch[er]“ Form von Freud konzipierten Abriss der Psychoanalyse (Freud (1940), S. 41) zeigt sich eine weitere terminologische Revision des primären Narzißmus, die wiederum an die frühere Auffassung erinnert: „Es ist schwer, etwas über das Verhalten der Libido im Es und im Über-Ich auszusagen. Alles, was wir darüber wissen, bezieht sich auf das Ich, in dem anfänglich der ganze verfügbare Betrag von Libido aufgespeichert ist. Wir nennen diesen Zustand den absoluten primären Narzißmus. Er hält so lange an, bis das Ich beginnt, die Vorstellungen von Objekten mit Libido zu besetzen, narzißtische Libido in Objektlibido umzusetzen. Über das ganze Leben bleibt das Ich das große Reservoir, aus dem Libidobesetzungen an Objekte ausgeschickt und in das sie auch wieder zurückgezogen werden, wie ein Protoplasmakörper mit seinen Pseudopodien verfährt.“ (Freud (1940), S. 46 f. – H. i. O.; vgl. auch Freud (1930), S. 246 und Freud (1933), S. 101). Die an diese Uneindeutigkeit anschließenden Diskussionen innerhalb der psychoanalytischen Theoriebildung über Freud hinaus, die sich etwa um die Frage nach dem Verhältnis von Autoerotismus und primären Narzißmus oder die narzißtische Objektfähigkeit drehen (vgl. Laplanche/Pontalis (1973), S. 317 ff., bes. S. 321 f.), müssen an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. Wichtig ist im vorliegenden Zusammenhang, daß mit der Kränkung des primären Narzißmus – egal, ob diesem etwas vorangeht, und wenn ja, was – ein Zustand lustvoller Selbstbezüglichkeit gestört wird, durch den wunschversagenden Widerstand der Realität. Es ist

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c) Narzißtische Zustände Zwei bei Freud immer wiederkehrende, paradigmatische Beispiele der glücklichen Selbstgenügsamkeit narzißtischer Zustände sind der „Narzißmus des Schlafzustandes“, der regressiv einen „primitiven Narzißmus“ herstellt,173 und die behagliche Geborgenheit im „Mutterleib“, der „erste[n], wahrscheinlich noch immer ersehnte[n] Behausung, in der man sicher war und sich wohl fühlte.“174 Beide primitiv-narzißtischen Zustände verweisen aufeinander. Dementsprechend führt Freud in den Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse aus, umittelbar nachdem er das Konzept des Narzißmus mit jenem zoologischen „Gleichnis“ vom „wenig differenzierten Klümpchen protoplasmatischer Substanz“ veranschaulicht hat:175 „Wir haben für den Schlafzustand die Annahme gemacht, daß er auf Abwendung von der Außenwelt und Einstellung auf den Schlafwunsch beruhe. Was sich als nächtliche Seelentätigkeit im Traume äußerte, fanden wir im Dienste eines Schlafwunsches und überdies von durchaus egoistischen Motiven beherrscht. Wir führten jetzt im Sinne der Libidotheorie aus, daß der Schlaf ein Zustand ist, in welchem alle Objektbesetzungen [. . .] aufgegeben und ins Ich zurückgezogen werden. [. . .] Das Bild der seligen Isolierung im Intrauterinleben, welches uns der Schlafende allnächtlich wieder heraufbeschwört, wird so auch nach der psychischen Seite vervollständigt. Beim Schlafenden hat sich der Urzustand der Libidoverteilung wiederhergestellt, der volle Narzißmus, bei dem Libido und Ichinteresse noch vereint und ununterscheidbar in dem sich selbst genügenden Ich wohnen.“176 In der Metapsychologischen Ergänzung zur Traumlehre konstatiert Freud in diesem Sinne: „Der Schlafwunsch versucht alle vom Ich ausgeschickten Besetzungen einzuziehen und einen absoluten Narzißmus herzustellen.“177 „[B]eim Schlafengehen“ stellt der Mensch in vielfacher Hinsicht, beginnend mit der Entkleidung, „eine außerordentliche Annäherung an die Situation her[], welche der Ausgang seiner Lebensentwicklung war. Das Schlafen ist somatisch eine Reaktivierung des Aufenthalts im Mutterleibe mit der Erfüllung der Bedingungen von Ruhelage, Wärme und Reizabhaltung; ja viele Menschen nehmen im Schlafe die fötale Körperhaltung wieder ein. Der psychische Zustand der Schlafenden charakterisiert sich durch nahezu völlige Zuhierfür auch bezeichnend, daß Freud über alle unterschiedlichen Phasen seiner Narzißmustheorie an der grundlegenden Metaphorik des Protoplasmakörpers festhält (vgl. Freud (1914), S. 53; (1917a), S. 189; (1915–17), S. 326; (1940), S. 47). 173 Freud (1917b), S. 158 – H. i. O. 174 Freud (1930), S. 221 f.; vgl. Freud (1919), S. 163. 175 Freud (1915–17), S. 326. 176 Freud (1915–17), S. 327. 177 Freud (1917b), S. 160.

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rückziehung aus der Welt der Umgebung und Einstellung alles Interesses für sie.“178 Der Schlaf ist somit als nicht-pathologischer regressiver Zustand zu begreifen, der für den Verlust des intrauterinen Narzißmus kompensiert. Er ist, in Verbindung mit dem Traum, der ihn schützt,179 eine evolutionäre Erungenschaft, die es erlaubt, das Differenzierungsniveau des psychischen Apparates und dessen Realitätsverarbeitungskompetenz im Wachzustand aufrechtzuerhalten. „Jede der seelischen Differenzierungen, die uns bekannt geworden sind, stellt eine neue Erschwerung der seelischen Funktion dar, steigert deren Labilität und kann der Ausgangspunkt eines Versagens der Funktion, einer Erkrankung werden. So haben wir mit dem Geborenwerden den Schritt vom absolut selbstgenügsamen Narzißmus zur Wahrnehmung einer veränderlichen Außenwelt und zum Beginn der Objektfindung gemacht, und damit ist verknüpft, daß wir den neuen Zustand nicht dauernd ertragen, daß wir ihn periodisch rückgängig machen und im Schlaf zum früheren Zustand der Reizlosigkeit und Objektvermeidung zurückkehren.“180 Daß demnach sowohl die Geburt als auch das Erwachen die Aufgabe glücklicher narzißtischer Selbstgenügsamkeit bedeuten und in diesem Sinne kränkenden Charakters sind, macht deutlich, daß – wie ja auch in der Figur der drei Kränkungen durch wissenschaftliche Aufklärungen nahegelegt wird –, der Begriff der Kränkung zwar ein affektuell negatives Ereignis bezeichnet, das Unlust erzeugt, das aber gleichwohl begrüßenswerte Folgen haben kann.181 Die narzißtische Kränkung ist die erzwungene Öffnung gegenüber einer widerständigen, wunschversagenden Realität, die den Zirkel lustvoller Selbstbezüglichkeit durchbricht. Diese prinzipiell in jeder Versagung von Wünschen narzißtisch kränkende – weil Allmachtsphantasien widerlegende – Realität ist der „Motor[] der Entwicklung“,182 deren gegenwärtiges Resul178

Freud (1917b), S. 157. „Der Traum ist der Hüter des Schlafes“ (Freud (1913a), S. 163), er schützt ihn durch ‚halluzinatorische Wunscherfüllung‘ vor Störungen. Hier besteht, bei allen sonstigen Unterschieden, eine Parallele zur pathologischen Kränkungsabwehr in der Realitätsflucht des psychotischen Wahns – und auch zu sozial konstruierten, ideologischen Illusionen, die sich einer kränkenden Aufklärung versperren. 180 Freud (1921), S. 121; vgl. Freud (1913a), S. 176. 181 Das Geborenwerden und das Erwachen sind ja per se nicht abzulehnen. Und vom Ich-parteiischen Standpunkt der Psychoanalyse sind sowohl die Kränkung eines präindividuativen Narzißmus des Es wie auch alle weiteren Kränkungen prinzipiell zu begrüßen, die den Realitätssinn des Ich erweitern und es gegenüber seinem Es stärken, bis hin zu jener dritten wissenschaftlichen Kränkung durch die Psychoanalyse selbst. Gleichwohl gehört es zu den wichtigsten Erkenntnissen dieser Aufklärung, wie riskant diese Entwicklung ist und daß in ihr auch traumatische, pathogene Kränkungen vorkommen, die die Realitätsbewältigungskompetenz einschränken. Auf die Fähigkeit, die Realität gegenüber den eigenen Wünschen und Phantasien als Widerstand erfahren und die von ihr ausgehenden Versagungen ertragen zu können, kommt aber alles an. 179

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tat die moderne Menschheit ist. „Die Macht [. . .], welche der Menschheit eine solche Entwicklung aufgenötigt hat und ihren Druck nach der gleichen Richtung heute ebenso aufrechterhält, kennen wir; es ist wiederum die Versagung der Realität, oder wenn wir ihr ihren richtigen großen Namen geben, die Not des Lebens: die ’Anagxh183. Sie ist eine strenge Erzieherin gewesen und hat viel aus uns gemacht. Die Neurotiker gehören zu den Kindern, welchen diese Strenge üble Erfolge gebracht hat, aber das ist bei jeder Erziehung zu riskieren.“184 Die Widerständigkeit der Realität ist sowohl in den – potentiell pathogenen – Versagungen der Kultur als auch in den Enttäuschungen illusorischer Selbstbilder durch die kränkend-aufklärerische Wissenschaft wirksam. Freud spricht in Die Zukunft einer Illusion bezüglich der aufklärerischen Enttäuschung religiöser Weltbilder von der „Notwendigkeit“ einer solchen „Erziehung zur Realität“ und nimmt das Motiv der schweren Kränkungen durch die neuzeitliche Wissenschaft und ihrer Konsequenzen für das Selbstverständnis des modernen Individuums wieder auf: Der „Mensch [. . .] wird sich seine ganze Hilflosigkeit, seine Geringfügigkeit im Getriebe der Welt eingestehen müssen, nicht mehr Mittelpunkt der Schöpfung, nicht mehr das Objekt zärtlicher Fürsorge einer gütigen Vorsehung. Er wird in derselben Lage sein wie das Kind, welches das Vaterhaus verlassen hat, in dem es so warm und behaglich war.185 Aber nicht wahr, der Infantilismus ist dazu bestimmt, überwunden zu werden? Der Mensch kann nicht ewig Kind bleiben, er muß endlich hinaus ins ‚feindliche Leben‘.“186 Die wissenschaftlichen Kränkungen und die kränkenden kulturellen Versagungen verweisen in ihren kulturgeschichtlichen Ursprüngen auf eine frühere Kränkung, auf die sie sich kompensatorisch beziehen und die in phylogenetischer wie auch ontogenetischer Hinsicht als der „heikelste Punkt des narzißtischen Systems“ einzuschätzen ist, nämlich „die von der Realität hart bedrängte Unsterblichkeit des Ichs“.187 Diese Kränkung, die dem Überlebenden widerfährt, indem er den Tod des Anderen erlebt, ist kulturgenetisch induktiv.188 Die Konfrontation mit der Realität des Todes stellt den 182

Freud (1915–17), S. 280. Ananke. – Vgl. auch Freud (1927a), S. 186, wo die Ananke als „die äußere Realität“ bezeichnet wird; und Freud (1930), S. 230, wo „Eros und Ananke“ als die „Eltern der menschlichen Kultur“ erscheinen (vgl. S. 265); und Freud (1920), S. 229, wo Freud die ‚hehre Ananke‘ mit der ‚unerbittlichen Naturgesetzlichkeit‘ individueller Sterblichkeit in Verbindung bringt; vgl. auch Freud (1915), S. 43. 184 Freud (1915–17), S. 280 – H. i. O., vgl. S. 337. 185 Vgl. die ‚Kälte‘ in Nietzsches Stück vom Tollen Menschen (vgl. Nietzsche, KSA 3, S. 481) und Georg Lukács’ treffliche Metapher von der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ (Lukács (1920), S. 32). 186 Freud (1927a), S. 182. 187 Freud (1914a), S. 67. 188 Vgl. Freud (1927a), S. 149 ff.; (1912/13), S. 376; (1913a), S. 178 f. 183

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Überlebenden vor die doppelte Aufgabe, sowohl seine eigene Gefühlsambivalenz gegenüber dem Verstorbenen als auch die Überlegenheit des Todes als faktische Einschränkung seiner eigenen Macht zu verarbeiten.189 „Die erste theoretische Leistung des Menschen – die Schöpfung der Geister – würde also derselben Quelle entspringen wie die ersten sittlichen Beschränkungen, denen er sich unterwirft, die Tabuvorschriften. [. . .] Wenn es wirklich die Situation des Überlebenden gegen den Toten war, die den primitiven Menschen zuerst nachdenklich machte, ihn nötigte, einen Teil seiner Allmacht an die Geister abzugeben und ein Stück der freien Willkür seines Handelns zu opfern, so wären diese Kulturschöpfungen eine erste Anerkennung der ’Anagxh [. . .], die sich dem menschlichen Narzißmus widersetzt. Der Primitive würde sich vor der Übermacht des Todes beugen mit derselben Geste, durch die er diesen zu verleugnen scheint.“190 Im animistischen Stadium wird die Faktizität des Todes bereits als unabwendbares Verschwinden der Körper anerkannt, das aber zugleich von den Seelen bzw. Geistern der Verstorbenen überdauert wird, die auch dann noch die Welt der Lebenden bevölkern und beeinflussen – und von den Lebenden ihrerseits beeinflußbar sind.191 Von da an wird sich die weitere kulturgeschichtliche Entwicklung in Mythos, Religion, Philosophie, Kunst und Wissenschaft mit ungebrochener Intensität dieser offenbar nachhaltigsten Kränkung des menschlichen Narzißmus widmen. Sie ist einerseits die bedrohlichste Konsequenz der primär-kränkenden Ananke, die Verdichtung der existentiellen Bedrängnis, die Freud zu der Feststellung führt: „Wie für die Menschheit im ganzen, so ist für den Einzelnen das Leben schwer zu ertragen.“192 Andererseits ist sie ein gemeinsamer Bezugspunkt aller kulturgeschichtlich errungenen Kompensationsleistungen, so daß sie in jeder weiteren schweren Kränkung immer wiederkehrt – als unleugbares Memento mori –, weil diesen späteren Kränkungen immer Kompensationen zum Opfer fallen, mit deren Hilfe es zwischenzeitlich gelungen war, ein narzißtisches Gleichgewicht herzustellen. Indem beispielsweise die drei Kränkungen durch die neuzeitliche Wissenschaft das religiöse Weltbild des Monotheismus abbauen, zerstören sie zugleich, was dieser als Kompensation für die Sterblichkeit angeboten hatte – und rühren damit jedesmal an jenen heikelsten Punkt des narzißtischen Systems.193 Aber noch in der aufgeklärt-ab189

Vgl. Freud (1912/13), S. 380; Freud (1915), S. 49 ff., bes. S. 53 f. Freud (1912/13), S. 381. 191 Vgl. auch Freud (1927a), S. 149 ff. 192 Freud (1927a), S. 150. 193 So ist denn auch umgekehrt die Abwesenheit der widerständigen Ananke und insbesondere die individuelle Unsterblichkeit der Inbegriff aller ursprungsmythologischen und transzendenten Paradiesvorstellungen. Auch deren utopistische Säkularisate, die ja nicht zufällig seit der Neuzeit, also mit der beginnenden Erosion der 190

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geklärten naturwissenschaftlichen Betrachtung des Todes liegt, wie Freud im Zusammenhang mit der metapsychologischen Einführung des Todestriebes in Jenseits des Lustprinzips bemerkt, etwas Tröstliches, was wiederum die selbstkritische Aufklärung zum Verdacht veranlaßt, auch hierbei könnte es sich um eine Selbsttäuschung handeln: „Wenn man schon selbst sterben und vorher seine Liebsten durch den Tod verlieren soll, so will man lieber einem unerbittlichen Naturgesetz, der hehren ’Anagxh, erlegen sein als einem Zufall, der sich etwa noch hätte vermeiden lassen. Aber vielleicht ist dieser Glaube an die innere Gesetzmäßigkeit des Sterbens auch nur eine der Illusionen, die wir uns geschaffen haben, ‚um die Schwere des Daseins zu ertragen‘. Ursprünglich ist er sicherlich nicht, den primitiven Völkern ist die Idee eines ‚natürlichen Todes‘ fremd; sie führen jedes Sterben unter ihnen auf den Einfluß eines Feindes oder eines bösen Geistes zurück.“194 Die Kränkung des primären Narzißmus durch die Widerständigkeit der Realität bedeutet den irreversiblen Verlust einer uneingeschränkt lustvollen Selbstbezüglichkeit und induziert eine Entwicklung, die in einer immer weiteren Entfernung von jenem absolut kränkungsfreien Glückszustand besteht. Nachdem dieser einmal verlassen ist, ist er nicht wieder erreichbar. Stattdessen erzwingt die stetige Konfrontation mit den Bedrängnissen der Realität einen Fortgang im Wechsel narzißtischer Re- und Debalancierungen, in dessen Verlauf narzißtische Positionen, die sich als realitätsuntauglich erweisen, sukzessive aufgegeben und durch realitätsadäquatere ersetzt werden, bis diese ihrerseits angegriffen und unhaltbar werden. Dies zieht wiederum weitere Kompensationsbedürfnisse nach sich, begründet aber zugleich einen regressiven Hang, das ursprünglich Verlorene wiederzugewinnen. Die erzwungene Aufgabe narzißtischer Positionen bedeutet nicht, daß damit auch das Bedürfnis nach ihnen überwunden wäre. Gerade die Distanz zum ursprünglichen Narzißmus und der von dessen Kränkung ausgehende weitere Abbau narzißtischer Positionen begründet daher sowohl eine regressive Anfälligkeit als auch das Bedürfnis nach Kompensation. Unter dem ontogenetischen Gesichtspunkt besteht so die „Entwicklung des Ichs [. . .] in einer Entfernung vom primären Narzißmus und erzeugt ein intensives Streben, diesen wiederzugewinnen.“195 Die kulturelle Entwicklung der Menschheit erscheint so unter einem doppelten Gesichtspunkt. Einerseits nötigt sie den Angehörigen der Gattung den Verzicht auf narzißtische Positionen von Omnipotenz und Wunschabsolutismus auf und fügt ihnen in ihrer desillusionierenden Auseinandersetzung alteuropäischen Kosmologie auftreten, zehren davon; vgl. Blumenberg (1986), S. 35 ff., 72 f., 146 f., 160 ff., 215 ff. 194 Freud (1920), S. 229. 195 Freud (1914a), S. 75.

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mit der Realität Kränkungen zu, andererseits aber bietet sie hierfür wie für die versagt bleibende Befriedigung jenes ‚intensiven Strebens‘ nach Wiederherstellung primär narzißtischer Selbstbezüglichkeit Kompensationen an. So pariert die Kultur der individuellen Regressionsneigung, die sie durch ihre Zumutungen zugleich verstärkt.196 „Alle Kulturgeschichte zeigt nur, welche Wege die Menschen zur Bindung ihrer unbefriedigten Wünsche einschlagen unter den wechselnden und durch technischen Fortschritt veränderten Bedingungen der Gewährung und Versagung von seiten der Realität. Die Untersuchung der primitiven Völker zeigt die Menschen zunächst im kindlichen Allmachtsglauben befangen197 und läßt eine Menge von seelischen Bildungen als Bemühungen verstehen, die Störungen dieser Allmacht abzuleugnen und so die Realität von ihrer Wirkung aufs Affektleben fernzuhalten, solange man dieselbe nicht besser beherrschen und zur Befriedigung ausnützen kann. [. . .] Parallel zur fortschreitenden Weltbeherrschung des Menschen geht eine Entwicklung seiner Weltanschauung, welche sich immer mehr von dem ursprünglichen Allmachtsglauben abwendet und von der animistischen Phase durch die religiöse zur wissenschaftlichen ansteigt. In diesen Zusammenhang fügen sich Mythus, Religion und Sittlichkeit als Versuche, sich für die mangelnde Wunschbefriedigung Entschädigung zu schaffen. Die Kenntnis der neurotischen Erkrankungen einzelner Menschen hat für das Verständnis der großen sozialen Institutionen gute Dienste geleistet, denn die Neurosen selbst enthüllten sich als Versuche, die Probleme der Wunschkompensation individuell zu lösen, welche durch die Institutionen sozial gelöst werden sollen.“198 Versagt, aus welchen Gründen auch im196 Ähnlich wie und ganz anders als der Schlaf, in dem eine zeitlich begrenzte Regression stattfindet und der kompensatorisch wirkt, ist auch die Kunst unter diesem Aspekt als evolutionäre Errungenschaft zu verstehen, deren Kränkungskompensationsleistung darin besteht, daß sie die Regression sachlich limitiert zuläßt, d. h. unter dem Vorbehalt des Hypothetischen, Virtuellen bzw. Fiktionalen. Als soziale Limitation regressiver Zustände lassen sich bestimmte orgiastische Rituale betrachten, etwa die antiken Dionysien oder die mehr oder weniger kontrollierten Exzesse beim rheinländischen Karneval, der ‚Love Parade‘ oder bei den Mai-Randalen in Berlin. Gerade die letzten Beispiele zeigen jedoch, daß die Grenzen zwischen Spiel und Ernst – also die Erwartbarkeit realer Folgen auch außerhalb des rituellen Rahmens – hier leicht verwischen (pathogene Folgen von Drogenmißbrauch, alle Formen von körperlicher Gewalt und deren strafrechtliche Konsequenzen). Der kompensatorische Wert solcher Veranstaltungen – der ja bei den Beispielen des Schlafes und der Kunst gerade darin besteht, daß die Realität als solche akzeptiert und leichter ertragen werden kann, und umgekehrt die Regression aufgrund ihrer prinzipiellen Unschädlichkeit und kulturellen Akzeptabilität genossen werden kann – ist daher fraglich. 197 An dieser Stelle verweist Freud auf Ferenczis Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes (Intern. Zeitschr. F. ärztl. Psychoanalyse I, 1913) und auf seine eigenen Ausführungen in Totem und Tabu. 198 Freud (1913a), S. 178 f.

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mer, die soziale Kompensation, d. h. eine kulturell akzeptierte Entschädigung für – kulturell oder von der Ananke erzwungene und immer auch narzißtisch kränkende – Wunschversagungen, so findet dies seinen Ausdruck in den pathologisch-regressiven Lösungsversuchen der Neurosen. Diese erweisen ihren „asozialen Charakter“ darin, daß sie „das Individuum aus der Gesellschaft“ in die „Krankheitsisolierung“ drängen,199 d. h. partiell oder vollständig vom Niveau der phylogenetisch erreichten kulturgeschichtlichen Distanz zum primär narzißtischen Ursprung abschneiden. Der primäre Narzißmus erscheint also als der – unerreichbare, aber deswegen nicht weniger begehrenswerte – Fluchtpunkt narzißtischen Strebens. Und seine erste Kränkung ist demnach der Ursprung einer Entwicklung, die sich als fortschreitender Entfernungsprozeß von diesem Urzustand verstehen läßt. Aus jener Sehnsucht nach dem verlorenen Glück aufgegebener narzißtischer Positionen speist sich auch die Attraktivität jener Erscheinungen, die an diese erinnern. So erklärt sich zum einen der „Zauber der Kunst“200: „Als konventionell zugestandene Realität, in welcher dank der künstlerischen Illusion Symbole und Ersatzbildungen wirkliche Affekte hervorrufen dürfen, bildet die Kunst ein Zwischenreich zwischen der wunschversagenden Realität und der wunscherfüllenden Phantasiewelt, ein Gebiet, auf dem die Allmachtbestrebungen der primitiven Menschheit gleichsam in Kraft verblieben sind.“201 Zum anderen erscheint es auch „deutlich erkennbar, daß der Narzißmus einer Person eine große Anziehung auf diejenigen anderen entfaltet, welche sich des vollen Ausmaßes ihres eigenen Narzißmus begeben haben [. . .]; der Reiz des Kindes beruht zum guten Teil auf dessen Narzißmus, seiner Selbstgenügsamkeit und Unzugänglichkeit, ebenso der Reiz gewisser Tiere, die sich um uns nicht zu kümmern scheinen, wie der Katzen und großer Raubtiere, ja selbst der große Verbrecher und der Humorist zwingen in der poetischen Darstellung unser Interesse durch die narzißtische Konsequenz, mit welcher sie alles ihr Ich Verkleinernde von ihm fernzuhalten wissen. Es ist so, als beneideten wir sie um die Erhaltung eines seligen psychischen Zustandes, einer unangreifbaren Libidoposition, die wir selbst seither aufgegeben haben.“202 Abgesehen davon, daß Freud so auch den „großen Reiz des narzißtischen Weibes“ erklärt, der eben nicht nur darauf beruht, daß diese Frauen „gewöhnlich die schönsten sind“,203 formuliert er hiermit den Grundgedanken einer psychoanalytischen Theorie 199

Freud (1913a), S. 181. Freud (1912/13), S. 378. 201 Freud (1913a), S. 180. – Es liegt heute nahe, diese Einschätzung auf die cinematographisch und v. a. computergenerierten virtuellen Welten auszudehnen, insbesondere bezüglich der Interaktivitätspotentiale letzterer. 202 Freud (1914a), S. 65. 203 Freud (1914a), S. 65. 200

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des Charismas. In Massenspsychologie und Ich-Analyse nimmt er diese narzißmustheoretischen Überlegungen auf, um die Beziehung zwischen Führer und Masse zu analysieren,204 allerdings ohne den zu diesem Zeitpunkt bereits von Max Weber soziologisch profilierten Begriff des Charismas zu verwenden.205 Es ist jedenfalls modernitätsdiagnostisch symptomatisch, daß – zur Zeit der Freudschen dritten Kränkung und im Kontext des Weberschen Befundes von der entzauberten Welt – sowohl die Soziologie des Charismas als auch die Psychologie des Narzißmus entwickelt wurden.206 Die Metaphorik des Ursprungs bzw. Urzustandes und des Primären ist wichtig, um die grundlegende Vorstellung von Entwicklung als Distanzierung zu verdeutlichen.207 Aber die Bedeutung der Diskussion, was mit dem ursprünglichen Zustand jeweils genau bezeichnet wird – welche Instanz des psychischen Apparates etwa das primäre Reservoir narzißtischer Libido ist, und worin die ursprüngliche Kränkung besteht – relativiert sich, wenn man Freuds bereits zitierte Auskunft bedenkt, daß der „heikelste Punkt des narzißtischen Systems [. . .] die von der Realität hart bedrängte Unsterblichkeit des Ichs“208 ist. Das individuelle Sterblichkeitsbewußtsein setzt einiges an zuvor erworbenen Realitätssinn voraus, kommt also nicht als primäre Kränkung in Betracht – wohl aber als eine der schwersten, wenn nicht die schwerste. So stellt es sich zumindest vom Standpunkt der dritten ‚schweren‘ und ‚empfindlichsten‘ Kränkung durch die Wissenschaft dar,209 die ja ihrerseits nicht dadurch, daß sie eine kulturgeschichtlich späte Errungenschaft ist, an Dramatik verliert. Zur Einschätzung narzißtischer Positionen, ihrer Kränkungen, des daraus je entstehenden Kompensationsbedarfes und der Regressionsanfälligkeit gehört also – neben dem genetischen Moment, das sich in der Entfernungsvorstellung und in Bezeichnungen wie ‚ursprünglich‘, ‚primär‘ usw. ausdrückt – auch eine qualitative Dimension, die durch Prädikationen wie ‚heikelster Punkt‘ bzw. ‚schwere‘ oder ‚empfindlichste Kränkung‘ charakterisiert wird. Wichtig ist allerdings hierbei, daß die Qualität der Kränkung ihrerseits von der jeweiligen Entwicklungsphase, dem genetischen Stadium abhängt.210 Ein klassisches Beispiel für die Ab204

Vgl. Freud (1921), S. 115, 120 ff. Siehe hierzu ausführlich unten, III. 2. 206 In diesen historischen Kontext gehört auch die zeitgenössische Beobachtung von Genies und Prophetengestalten, von welchletzteren die notorischste der pathologisch-narzißtische Charismatiker Adolf Hitler war. 207 Vgl. auch Freud (1913a), S. 182. 208 Freud (1914a), S. 67. 209 Vgl. Freud (1917a), S. 190 f. 210 In der Psychopathologie narzißtischer Persönlichkeitsstörungen läßt sich dementsprechend zwischen entwicklungsnotwendigen, phasenadäquaten Frustrationen bzw. Störungen des narzißtischen Gleichgewichts (‚Prinzip der optimalen Versa205

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hängigkeit des Kränkungswertes einer Realität von der jeweiligen Entwicklungsphase dessen, der mit ihr konfrontiert wird, bringt Freud in seinem Artikel über Fetischismus, wenn er den „Kastrationsschreck beim Anblick des weiblichen Genitales“ beschreibt,211 der den kleinen Jungen in Angst versetzt, weil er vor dem Hintergrund seines phallischen Infantilismus seinen „eigene[n] Penisbesitz bedroht“ sieht.212 Im pathologischen Fall erfolgt eine Abwehr z. B. „durch die Schöpfung eines Fetisch“.213 „Eine ähnliche Panik wird vielleicht der Erwachsene später erleben, wenn der Schrei ausgegeben wird, Thron und Altar sind in Gefahr, und sie wird zu ähnlich unlogischen Konsequenzen führen.“214 – Die Qualität der narzißtischen Kränkung variert in Abhängigkeit vom jeweiligen narzißtischen Gleichgewichtszustand, der sich als evolutionäres Ergebnis vorangegangener Kränkungen und ihrer Kompensationen darstellt.215 d) Ideale und Wünsche In individual- wie gattungs- bzw. kulturgeschichtlicher Perspektive kommt der Bildung von narzißtisch besetzten Idealen die größte Bedeutung zu, die jeweils vorangegangenen narzißtischen Kränkungen zu kompensieren, die durch eine in ihrer Massivität und Widerständigkeit unabwendbare Realität zugefügt wurden. Bezüglich des individuellen „Ideal-Ichs“ – das in der späteren Strukturtheorie des psychischen Apparats in das „Über-Ich“ gung‘) und phaseninadäquaten, traumatisierenden unterscheiden. Letztere sind pathogen, weil sie das Kind mit einer Realität konfrontieren, die es aufgrund seiner noch unentwickelten psychischen Struktur nicht angemessen verarbeiten kann (vgl. Kohut (1976), S. 63 ff., 85 f.). 211 Freud (1927b), S. 331. 212 Freud (1927b), S. 330. 213 Freud (1927b), S. 331. 214 Freud (1927b), S. 330. 215 Beispielsweise stellt der Hunger, die Versagung des Wunsches nach Nahrung für den Säugling eine viel schmerzhaftere Erfahrung und Herausforderung dar, als für den Erwachsenen. Und das Geborenwerden hat gewiß einen höheren Kränkungswert als das tausendfach eingeübte allmorgendliche Erwachen. Auch differenziert das kleine Kind in seiner Vorstellungswelt noch nicht zwischen dem Sterben und dem Weggehen seiner primären Bezugspersonen (vgl. Jones (1931), S. 405), sofern es Ersteres nicht erleben mußte, wobei Letzteres, als Verlassenwerden, wiederum als schlimm genug empfunden wird. Erwachsene unterscheiden zwischen der bloß temporären Abwesenheit geliebter Personen, die sie leichter verkraften, und der endgültigen, die deutlich schwerer zu ertragen ist. Aber das Wissen um seine körperliche Sterblichkeit ist vermutlich für das moderne Individuum eine schwerere Kränkung als beispielsweise für den mittelalterlichen Leibeigenen; umgekehrt wird ein Angehöriger einer monotheistisch geprägten vormodernen Kultur empfindlicher auf Blasphemien reagieren als etwa eine kontingenzbewußte westliche Intellektuelle.

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eingeht216 – vermutet Freud: „Wir meinen auch, diese Schöpfung geschah in der Absicht, jene Selbstzufriedenheit wiederherzustellen, die mit dem primären infantilen Narzißmus verbunden war, die aber seither so viel Störungen und Kränkungen erfahren hat.“217 Nachdem die infantile narzißtische Vollkommenheit dem Realitätssinn zum Opfer gefallen ist, kann im „Idealich“ bzw. „Ichideal“218 geliebt werden, „was man selbst sein möchte“. „Diesem Idealich gilt nun die Selbstliebe, welche in der Kindheit das wirkliche Ich genoß. Der Narzißmus erscheint auf dieses neue ideale Ich verschoben, welches sich wie das infantile im Besitz aller wertvollen Vollkommenheiten befindet. [. . .] Was [der Mensch] als sein Ideal vor sich hin projiziert, ist der Ersatz für den verlorenen Narzißmus seiner Kindheit, in der er sein eigenes Ideal war.“219 Die idealisierende Besetzung mit narzißtischer Libido kompensiert den Verlust genetisch früherer narzißtischer Selbstgenügsamkeit; in der Idealbildung wird das gestörte narzißtische Gleichgewicht so auf einem höheren Niveau an Realismus rebalanciert. Zugleich wird mit diesem narzißtischen Zustand aber auch ein neues Feld potentieller Kränkungen erzeugt. Erstens ist diesbezüglich das Verhältnis des Ich zu seinem Ideal anfällig. Denn so, wie es „immer zu einer Empfindung von Triumph“ kommt, „wenn etwas im Ich mit dem Ichideal zusammenfällt“, kann sich umgekehrt die „Spannung zwischen Ich und Ideal“ als „Schuldgefühl (und Minderwertigkeitsgefühl)“ ausdrücken, bis hin zur „melancholischen Depression“.220 Für die Überwachung dieses Verhältnisses bildet der psychische Apparat des Individuums eine „besondere psychische Instanz“, eine Instanz der „Selbstkritik“ und der „Selbstbeobachtung“ aus, „welche die Aufgabe erfüllt, über die Sicherung der narzißtischen Befriedigung aus dem Ichideal zu wachen, und in dieser Absicht das aktuelle Ich unausgesetzt beobachtet und am Ideal mißt“.221 Diese Funktion, die gemeinhin auch als „Gewissen“ bezeichnet wird, schreibt Freud später dem ÜberIch zu. In der Strukturtheorie des psychischen Apparates wird ihm „die Selbstbeobachtung, das Gewissen und die Idealfunktion zugeteilt“.222 In genetischer Hinsicht ist es bemerkenswert, daß im Unterschied zum Erwachsenen das „Kind [. . .] noch kein Über-Ich“ besitzt;223 die Funktion einer inter216 Freud (1923), S. 267 ff. – Allerdings ist das Verhältnis beider in der folgenden Theorieentwicklung nicht eindeutig, vgl. Laplanche/Pontalis (1973), S. 217 f., 540 ff. 217 Freud (1915–17), S. 336. 218 Freud verwendet – im Unterschied zu einigen späteren Psychoanalytikern – beide Begriffe synonym, vgl. Laplanche/Pontalis (1973), S. 202 ff., 217 f. 219 Freud (1914a), S. 69. 220 Freud (1921), S. 122 f.; vgl. auch Freud (1914a), S. 77. 221 Freud (1914a), S. 70 f. 222 Freud (1933), S. 69.

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nalisierten Selbstbeobachtung und Selbstkritik ist also eine genetisch späte Errungenschaft, die den psychischen Apparat des (nicht-psychotischen) Erwachsenen auszeichnet. Zweitens stellt auch der Angriff auf die narzißtisch besetzten Idealbildungen selbst und deren Beschädigung eine Kränkung dar. Die Entwertung des narzißtisch besetzten Ideals kränkt denjenigen, der sich mit diesem identifiziert, indem es dessen narzißtischen Selbstbezug stört. Und dies gilt nicht nur individuell für persönliche Ideale, sondern, wie etwa im Falle jener drei Kränkungen des menschlichen Narzißmus durch die neuzeitliche Wissenschaft, auch für solche Idealbildungen, mit denen sich der Einzelne als Teil einer überindividuellen, sozialen Einheit identifiziert, z. B. einer religiösen, nationalen oder anderen kulturellen Gemeinschaft, bis hin zur universellen Kulturgemeinschaft der Menschheit.224 Aus ihrer kränkungskompensatorischen Bedeutung und narzißtischen Aufladung erklärt sich die hohe soziale Wertschätzung, die, neben anderen kulturellen Leistungen, gerade die „Idealbildungen der Menschen“ genießen, „ihre Vorstellungen von einer möglichen Vollkommenheit der einzelnen Person, des Volkes, der ganzen Menschheit und die Anforderungen, die sie auf Grund solcher Vorstellungen erheben.“225 Die andere Seite dieser Wertschätzung ist die hohe narzißtische Kränkungsempfindlichkeit, die diesen Idealen eigen ist. Vor diesem Hintergrund ist die affektuelle Ambivalenz von Enttäuschungsprozessen zu verstehen, denen religiöse Weltbilder und spätere, philosophisch und wissenschaftlich beglaubigte Vorstellungen von der menschlichen Grandiosität zum Opfer fallen: Ideale werden zu Illusionen erklärt, d. h. sie werden sowohl entwertet als auch als unerreichbar dargestellt.226 So werden narzißtische Vorstellungen zerstört, die ihrerseits nur Kompensationen für vorangegangene Kränkungen waren – und vor allem für die schwerste: das individuelle Sterblichkeitsbewußtsein. Wie 223

Freud (1933), S. 144. „Vom Ichideal aus führt ein bedeutsamer Weg zum Verständnis der Massenpsychologie. Dies Ideal hat außer seinem individuellen einen sozialen Anteil, es ist auch das gemeinsame Ideal einer Familie, eines Standes, einer Nation.“ (Freud (1914a), S. 76) – Im charismatheoretisch wichtigen Sonderfall der Verbundenheit von Führer und Masse nimmt bei einigen Individuen die Führerfigur die Stelle des Ichideals ein und zieht so deren narzißtische Libido – ähnlich wie bei der Verliebtheit und Hypnose – auf sich, während der Rest der Masse sich mit diesen identifiziert und dadurch mitgerissen wird (vgl. Freud (1921), S. 120 ff., 98 ff.). 225 Freud (1930), S. 224. 226 „Enttäuschung“ in diesem anspruchsvollen, aufklärungs- und kränkungstheoretischen Sinn „besteht in der Zerstörung einer Illusion. Illusionen empfehlen sich uns dadurch, daß sie Unlustgefühle ersparen und an ihrer Statt Befriedigungen genießen lassen. Wir müssen es dann ohne Klage hinnehmen, daß sie irgend einmal mit einem Stücke der Wirklichkeit zusammenstoßen, an dem sie zerschellen.“ (Freud (1915), S. 40). 224

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schwer diese Kränkung wiegt, zeigt sich auch daran, daß sie noch den wissenschaftlich Aufgeklärten argwöhnen läßt, sein scheinbar ernüchtertes Sich-Abfinden mit der Faktizität des Todes könnte eine erneute Selbsttäuschung sein, die einen trügerischen Trost spendet, indem sie die Sterblichkeit als unausweichliche Notwendigkeit in einer höheren, natürlichen Ordnung verankert.227 So hätte denn selbst der 1920 in Jenseits des Lustprinzips postulierte Todestrieb als Theorem eine kränkungskompensatorische Bedeutung.228 Zugleich bleibt dieses Theorem ein zentrales Element der Kränkung durch die Psychoanalyse, indem es dem Menschen eine konstitutive Aggressivität und Destruktivität zuschreibt, die nicht nur seinen hohen moralischen Idealvorstellungen zuwiderläuft, sondern auch die Hoffnung dementiert, ein menschheitlicher Fortschritt führe in eine friedliche Welt.229 227

Vgl. Freud (1920), S. 229. Im Jahr zuvor war Freuds Tochter Sophie gestorben. 1923 wurde an ihm selbst der Krebs diagnostiziert, dessen erste Anzeichen er bereits seit Jahren zu ignorieren versucht hatte (vgl. Gay (1995), S. 441 ff., 470 f.). In Jenseits des Lustprinzips bewährt sich diesbezüglich nicht nur das Todestriebpostulat, sondern auch das Narzißmuskonzept als Medium theoretischer Angstbearbeitung, wenn Freud spekuliert: „Vielleicht darf man auch die Zellen der bösartigen Neugebilde, die den Organismus zerstören, für narzißtisch [. . .] erklären.“ (Freud (1920), S. 235). 229 Diese Sichtweise prägt auch Freuds Einschätzung jenes utopistisch motivierten Projektes, das sich seit 1917 in Bürgerkrieg und Terror jener Kränkung zu entziehen suchte und das verhieß, Destruktivität und Grausamkeiten wie diejenigen des Weltkrieges ein für allemal aus der Welt zu schaffen. „Die Kommunisten glauben den Weg zur Erlösung vom Übel gefunden zu haben. Der Mensch ist eindeutig gut, seinem Nächsten wohlgesinnt, aber die Einrichtung des privaten Eigentums hat seine Natur verdorben. [. . .] Wenn man das Privateigentum aufhebt, alle Güter gemeinsam macht und alle Menschen an deren Genuß teilhaben läßt, werden Übelwollen und Feindseligkeit unter den Menschen verschwinden.“ (Freud (1930), S. 241 f.) Die „psychologische Voraussetzung“ dieser Utopie erkennt Freud „als haltlose Illusion“: „Mit der Aufhebung des Privateigentums entzieht man der menschlichen Aggressionslust eines ihrer Werkzeuge, gewiß ein starkes und gewiß nicht das stärkste. An den Unterschieden von Macht und Einfluß, welche die Aggression für ihre Absichten mißbraucht, daran hat man nichts geändert, auch an ihrem Wesen nicht.“ Nicht zuletzt die Evidenzen der Menschheitsgeschichte sprechen für die Vermutung, daß es sich nicht nur bei der Sexualität, sondern auch bei der Aggressionsneigung um einen „unzerstörbare[n] Zug der menschlichen Natur handelt“ (S. 242). Einstweilen zeigt sich an den Entwicklungen in der Sowjetunion, welcher Weg zur Befriedigung der Aggressionsneigung dort eingeschlagen wird. Denn es „ist immer möglich, eine größere Menge von Menschen in Liebe aneinander zu binden, wenn nur andere für die Äußerung der Aggression übrigbleiben.“ Sowenig es ein Zufall war, „daß der Traum einer germanischen Weltherrschaft zu seiner Ergänzung den Antisemitismus aufrief“, so sehr ist es auch „begreiflich, daß der Versuch, eine neue kommunistische Kultur in Rußland aufzurichten, in der Verfolgung der Bourgeois seine psychologische Unterstützung findet. Man fragt sich nur besorgt, was die Sowjets anfangen werden, nachdem sie ihre Bourgeois ausgerottet haben.“ (Freud (1930), S. 243; vgl. Freud (1932), S. 283). 228

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Aber als aufklärende Desillusionierung wappnet diese Kränkung des idealisierten menschlichen Selbstbildes auch für den Umgang mit der Realität, führt in bestimmten Bereichen zu einer höheren Kränkungstolerenz und läßt die Enttäuschungen leichter ertragen, die das reale Verhalten der Menschheit auslöst. In diesem Sinne vermerkt Freud im Weltkriegsjahr 1915: „Zweierlei in diesem Kriege hat unsere Enttäuschung regegemacht: die geringe Sittlichkeit der Staaten nach außen, die sich nach innen als die Wächter der sittlichen Normen gebären, und die Brutalität im Benehmen der Einzelnen, denen man als Teilnehmer an der höchsten menschlichen Kultur ähnliches nicht zugetraut hat.“230 Die psychoanalytische Betrachtung dieser enttäuschenden Phänomene spendet den „Trost, daß unsere Kränkung und schmerzliche Enttäuschung wegen des unkulturellen Benehmens unserer Weltmitbürger in diesem Kriege unberechtigt waren. Sie beruhten auf einer Illusion, der wir uns gefangen gaben. In Wirklichkeit sind sie nicht so tief gesunken, wie wir fürchten, weil sie gar nicht so hoch gestiegen waren, wie wir’s von ihnen glaubten. Daß die menschlichen Großindividuen, die Völker und Staaten, die sittlichen Beschränkungen gegeneinander fallenließen, wurde ihnen zur begreiflichen Anregung, sich für eine Weile dem bestehenden Drucke der Kultur zu entziehen und ihren zurückgehaltenen Trieben vorübergehend Befriedigung zu gönnen.“231 Und gerade in der Moderne ist dieser auf den einzelnen Individuen lastende Druck besonders hoch. In Das Unbehagen in der Kultur erinnert Freud daran, um das im Titel benannte Phänomen zu erklären, „in welchem Ausmaß die Kultur auf Triebverzicht aufgebaut ist, wie sehr sie gerade die Nichtbefriedigung (Unterdrückung, Verdrängung oder sonst etwas?) von mächtigen Trieben zur Voraussetzung hat. Diese ‚Kulturversagung‘ beherrscht das große Gebiet der sozialen Be230

Freud (1915), S. 40. Freud (1915), S. 44 f., vgl. S. 47. – Zur Vertiefung des Verständnisses „der Veränderung, die der Krieg an unseren früheren Kompatrioten zeigt“ ist zudem die „außerordentliche Plastizität der seelischen Entwicklungen“ zu bedenken. „[M]an kann sie als eine besondere Fähigkeit zur Rückbildung – Regression – bezeichnen, denn es kommt wohl vor, daß eine spätere und höhere Entwicklungsstufe, die verlassen wurde, nicht wieder erreicht werden kann. Aber die primitiven Zustände können immer wiederhergestellt werden; das primitive Seelische ist im vollsten Sinne unvergänglich.“ Hiervon geben bekanntermaßen der allnächtlich angestrebte Schlafzustand, aber auch die psychischen Erkrankungen, in denen die „spätere[n] Erwerbungen und Entwicklungen“ des Seelenlebens zerstört sind, Zeugnis (Freud (1915), S. 45). „Es kann also auch die Triebumbildung, auf welcher unsere Kultureignung beruht, durch Einwirkungen des Lebens – dauernd oder zeitweilig – rückgängig gemacht werden. Ohne Zweifel gehören die Einflüsse des Krieges zu den Mächten, welche solche Rückbildung erzeugen können, und darum brauchen wir nicht allen jenen, die sich gegenwärtig unkulturell benehmen, die Kultureignung abzusprechen, und dürfen erwarten, daß sich ihre Triebveredlung in ruhigeren Zeiten wiederherstellen wird.“ (S. 46). 231

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ziehungen der Menschen; wir wissen bereits, sie ist die Ursache der Feindseligkeit, gegen die alle Kulturen zu kämpfen haben. [. . .] [E]inem Trieb die Befriedigung zu entziehen [. . .] ist gar nicht so ungefährlich; wenn man es nicht ökonomisch kompensiert, kann man sich auf ernste Störungen gefaßt machen.“232 Bereits in seiner Untersuchung über Die kulturelle Sexualmoral und die moderne Nervosität hatte Freud auf den Zusammenhang einer „Zunahme der Nervosität“233 mit dem kulturell geforderten und sozial konstitutiven Triebverzicht hingewiesen. „Unsere Kultur ist ganz allgemein auf der Unterdrückung von Trieben aufgebaut. [. . .] Der Verzicht ist ein im Laufe der Kulturentwicklung progressiver gewesen“.234 Eine Folge dieser kulturevolutiv progressiven Versagung ist die „moderne, das heißt in unserer gegenwärtigen Gesellschaft sich rasch ausbreitenden Nervosität.“235 Die Kulturversagung, und insbesondere die zivilisatorische Eindämmung aggressiver Triebbefriedigung beinhaltet zudem eine spezifisch narzißtisch kränkende Komponente: wie jede Wunschversagung, so führt auch diese dem Individuum den Widerstand der Realität gegen seine Allmachtsansprüche vor Augen; wäre es allmächtig, würde keine Realität seinen Neigungen widerstehen. Da gerade die aggressiven Triebe auf die Übermächtigung – von der Kontrolle bis zur Zerstörung – des Objektes zielen, ist umgekehrt, wo ihre Bändigung scheitert, ihre Befriedigung „noch in der blindesten Zerstörungswut [. . .] mit einem außerordentlich hohen narzißtischen Genuß verknüpft [. . .], indem sie dem Ich die Erfüllung seiner alten Allmachtswünsche zeigt.“236 Insofern ist die Versagung der Aggression in spezifischer Weise narzißtisch kränkend, so wie ihre Befriedigung narzißtischen Genuß verschafft – und ein bevorzugter Weg regressiver Kränkungsabwehr ist. Das „Unbehagen in der Kultur“, und gerade in der kulturell fortgeschrittenen modernen Gesellschaft ist nach alldem wenig erstaunlich: „Wenn die Kultur nicht allein der Sexualität, sondern auch der Aggressionsneigung des Menschen so große Opfer auferlegt, so verstehen wir es besser, daß es dem Menschen schwer wird, sich in ihr beglückt zu finden. Der Urmensch hatte es in der Tat darin besser, da er keine Triebeinschränkungen kannte. Zum Ausgleich war seine Sicherheit, solches Glück lange zu genießen, eine sehr geringe. Der Kulturmensch hat für ein Stück Glücksmöglichkeit ein Stück Sicherheit eingetauscht.“ Freud gibt aber sogleich zu bedenken, daß das Glück urmenschlicher Triebfreiheit nicht nur zeitlich, sondern auch sozial limitiert war: „Wir wollen aber nicht vergessen, daß in der Urfamilie nur 232 233 234 235 236

Freud Freud Freud Freud Freud

(1930), (1908), (1908), (1908), (1930),

S. S. S. S. S.

227 f. 31. 18. 14. 248.

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das Oberhaupt sich solcher Triebfreiheit erfreute; die anderen lebten in sklavischer Unterdrückung.“237 Allerdings ist angesichts des gesteigerten Unbehagens in der Moderne die Sorge allemal angebracht, daß sich die Aggressionsneigung in einem regressiven Befreiungsschlag entfesselt – und so der Kulturmensch jenen Tausch, in dem er zugunsten eines Stückes Sicherheit auf ein Stück Glücksmöglichkeit verzichtete, rückgängig zu machen sucht.238 So ist es denn auch „gerade die gegenwärtige Zeit“, die Anlaß zur Sorge bietet. „Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden. [. . .] Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung.“239 – Zu dem, was die Kultur konstitutiv und im Laufe ihrer Entwicklung progressiv den Einzelnen an Triebverzicht abfordert, kommt auf dem ohnehin diesbezüglich schon hohen Entsagungsniveau der Moderne also die spezifische Kränkungslast, die sich sowohl aus dem Ausmaß kulturell zugemuteter Wunschversagungen als auch aus dem weitestfortgeschrittenen Abbau grandioser menschlicher Selbstbilder und zu Illusionen erklärter Idealbildungen zusammensetzt; und dazu kommt außerdem die, ihrerseits ängstigende und kränkende Erfahrung und Befürchtung, daß sich auch in der modernen Zivilisation Aggressivität und Destruktivität – in aufgrund der mittlerweile technologisch verfügbaren Mittel verheerender Weise – jederzeit Bahn brechen können. Dies zusammengenommen, kennzeichnet das moderne Unbehagen. 237

Freud (1930), S. 243 f. Man kann generell die Glücksverheißungen von Ideologien, die – revolutionäre, kriegerische oder terroristische – Gewalt als legitimes Mittel predigen, um auf einen paradisischen Zustand hinzuarbeiten, unter diesem Aspekt ihrer aggressiven Praxis betrachten; die Glücksversprechen des Faschismus, gewisser Spielarten des Kommunismus und Anarchismus und neuerdings auch des Islamismus werden in der ideologisch durch ein utopisches Fernziel legitimierten Destruktivität gegen die jeweiligen Feinde eingelöst. In der Militanz, dem revolutionären Kampf, Terror und Krieg usw. liegt ihr eigentlicher Zweck, während die vermeintlich dadurch zu erreichenden Ziele als legitimatorische Mittel erscheinen, die die Agierenden ideologisch von Schuldgefühlen entlasten. 239 Freud (1930), S. 270. – Mit dem Ausblick, daß „nun [. . .] zu erwarten [ist], daß die andere der beiden ‚himmlischen Mächte‘, der ewige Eros, eine Anstrengung machen wird, um sich im Kampf mit seinem ebenso unsterblichen Gegner zu behaupten“, beendet Freud 1930 seinen Essay über Das Unbehagen in der Kultur und fügt 1931 – die wachsende Bedrohung durch Hitler noch deutlicher vor Augen – als sorgenvollen Schlußsatz hinzu: „Aber wer kann den Erfolg und Ausgang voraussehen?“ (Freud (1930), S. 270). 238

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e) Moderner narzißtischer Kränkungsdruck als individuelle Last Versteht man die kulturhistorische Entwicklung unter dem skizzierten Aspekt der Kränkung als progressiven Rückzug von narzißtischen Positionen, so ist es also nicht erstaunlich, wie sehr gerade jene relativ späten drei wissenschaftlichen Kränkungen, und vor allem deren letzte, Unbehagen erzeugen. Indem sie das, was die Menscheit zuletzt an narzißtischen SelbstIdealisierungen aufgeboten hatte abbauen, stören sie das empfindliche narzißtische Gleichgewicht erneut und reißen so die – ohnehin kaum verheilende – Wunde240 wieder ein Stück weiter auf, die die – wenn nicht primäre, so doch – schwerste vorwissenschaftliche Kränkung mit dem individuellen Sterblichkeitsbewußtsein immer wieder von neuem schlägt. In der Moderne lastet demnach ein höherer narzißtischer Kränkungsdruck auf dem Individuum als in irgend einer früheren Epoche. Geht man vom Verlust der intrauterinen Glückseligkeit als der ontogenetisch primären narzißtischen Kränkung aus, so liegt zwar zunächst der Hinweis nahe, daß es sich hierbei um das Schicksal eines jeden Menschen handelt, der geboren wurde. Das gleiche gilt augenscheinlich für den heikelsten Punkt des Narzißmus, seine mutmaßlich schwerste Kränkung durch die Ananke, die körperliche Sterblichkeit des Einzelnen. Natalität und Mortalität erscheinen von hier aus als existentielle Universalien, als anthropologische Konstanten von transhistorischer Bedeutung. Allerdings ist ihre biologische Faktizität zu unterscheiden von ihrer kulturellen, und dementsprechend kulturhistorisch variierenden Bedeutung. Der Angehörige archaischer Kulturen wird in eine beseelte Welt geboren, die zu ihm bedeutungsvoll spricht, auf die er kraft seiner Gedanken und Wünsche in magischen Ritualen Einfluß nehmen kann und die bevölkert ist mit den Geistern seiner Ahnen, denen er sich nach seinem Tode zugesellen wird. Der Mensch monotheistischer Hochkulturen wird in ein irdisches Dasein geboren, das ihm als Jammertal vorkommen mag, aber er ist sich des Heils, dessen er deswegen bedarf, gewiß, denn er weiß sich im Zentrum der Aufmerksamkeit eines allmächtigen Gottes, in dessen sinnhafter Ordnung er seinen Platz hat und die für ihn vorsieht, daß seine unsterbliche Seele bei guter Führung bzw. früher oder später nach dem Ende seiner leiblichen Existenz in das Paradies zurückkehren wird, aus dem der Mensch auf Erden vertrieben ist. Das moderne Individuum hingegen sieht sich einer ‚entzauberten‘ und ‚transzendental obdachlosen‘ Welt gegenüber.241 Im Unterschied zu seinen vormodernen Ahnen kann es zwar u. a. mit einer besseren medizinischen Versorgung und daher mit einer durchschnittlich längeren 240 In anderem Zusammenhang prägt Freud das Wort von der „narzißtische[n] Narbe“ (Freud (1920), S. 206). 241 Vgl. Weber (1919a), S. 17 bzw. Lukács (1920), S. 32.

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Lebenserwartung rechnen.242 Und als wissenschaftlich und technologisch aufgerüsteter „Prothesengott“ weiß es sich bezüglich seiner effektiven Macht zur Wunscherfüllung und Naturbeherrschung seinen vormodernen Ahnen überlegen.243 Aber auch bei längerer individueller Lebensspanne muß es diese im Bewußtsein seiner Sterblichkeit verbringen, verbunden mit der kränkungsverschärfenden Ahnung, daß sein sicher zu erwartender Tod unwiderruflich und endgültig ins Nichts führt. Und seine Existenz steht unter dem schwer abweisbaren Verdacht, daß sie – wie auch ihr Ende – in keine höhere Ordnung eingebettet ist, die ihr Sinn verleiht. Die individuelle Lebenszeit, die Episode zwischen Geburt und Tod, findet in der Moderne in einer Welt statt, die durch ein kulturhistorisch nie zuvor erreichtes Kränkungsniveau gekennzeichnet ist. Und das erhöht zugleich die Anforderungen, die dem Einzelnen in der Adaption an diese moderne Welt gestellt werden, gegenüber denjenigen, mit denen der Angehörige kulturhistorisch früherer Entwicklungsstufen konfrontiert war. Die Situation verschärft sich für das moderne Individuum zudem nochmals dramatisch, da es sich mit einem weitaus höheren Kränkungsniveau arrangieren muß als seine Vorfahren und doch dabei von den gleichen ontogenetischen Ausgangsbedingungen auszugehen hat, nämlich von der nar242 Zumindest, wenn es in bestimmten Gegenden Europas oder Nordamerikas geboren wird und nicht gerade in einen hochtechnologisierten Vernichtungskrieg gerät. 243 Freud (1930), S. 222. – Aber auch diese Überlegenheit hält letztlich nicht, was man sich von ihr erhofft hatte und ist so eine weitere Quelle der Enttäuschung, wie Freud in Das Unbehagen in der Kultur ausführt. Die technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften, die der Kulturprozeß auf der Seite der Beherrschung und des Schutzes vor der ihn umgebenden Natur hervorgebracht hat, emöglichen dem modernen Menschen die Erfüllung der meisten „Märchenwünsche“, die ihm in früheren Stadien der kulturgeschichtlichen Entwicklung noch verwehrt war. „Er hatte sich seit langen Zeiten eine Idealvorstellung von Allmacht und Allwissenheit gebildet, die er in seinen Göttern verkörperte. Ihnen schrieb er zu, was seinen Wünschen unerreichbar schien – oder ihm verboten war. Man darf also sagen, diese Götter waren Kulturideale. Nun hat er sich der Erreichung dieses Ideals sehr angenähert, ist beinahe selbst ein Gott geworden. Freilich nur so, wie man nach allgemein menschlichem Urteil Ideale zu erreichen pflegt. Nicht vollkommen, in einigen Stükken gar nicht, in anderen nur halbwegs.“ Als „Prothesengott“ ist der moderne Mensch „recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm gelegentlich noch viel zu schaffen.“ Und vor allem ist zu verzeichnen, „daß der heutige Mensch sich in seiner Gottähnlichkeit nicht glücklich fühlt.“ (Freud (1930), S. 222) Daß die „außerordentliche[n] Fortschritte in den Naturwissenschaften und in ihrer technischen Anwendung“ in der modernen Gesellschaft nicht zugleich im erwarteten Maße das Glück der Menschen vermehrt haben, ist „ein Moment der Enttäuschung“ (S. 218), das selbst zum verbreiteten Unbehagen beiträgt. Es kränkt den Menschen, daß die Errungenschaften, auf die er so stolz ist und die ihm seine Gottähnlichkeit begründen, nicht im vollen Umfang halten, was er sich von ihnen versprochen hatte.

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zißtischen Glückseligkeit des Intrauterinlebens und ihres Verlustes mit der Geburt. Seine weitere Individualentwicklung ist von dort an durch die Aufgabe bestimmt, sich dem in der Moderne vorherrschenden Kränkungsdruck zu akkommodieren, um den Anschluß an das kulturgeschichtliche Niveau der Gesellschaft zu erreichen und damit dem Schicksal sozialer Isolation zu entgehen. Das moderne Individuum muß dabei prinzipiell die gleichen Entwicklungsstufen durchschreiten, wie seine vormodernen Vorfahren, kann aber nicht so früh stehenbleiben wie diese. Es wird beispielsweise gezwungen, die animistische Vorstellungswelt seiner Kindheit aufzugeben, wenn es als gesunder Erwachsener behandelt werden möchte, während sein Urahn als Angehöriger archaischer Gesellschaften bis zu seinem Tode – und in seiner Vorstellungswelt auch darüber hinaus – seine narzißtischen Allmachtsphantasien etwa in magischen Praktiken ausleben kann – und dafür typischerweise mit besonderem sozialen Prestige und faktischer Macht rechnen kann – jedenfalls nicht mit der Einweisung in die Psychiatrie. Aus der psychoanalytischen Anwendung des biogenetischen Grundgesetzes folgt also nicht nur, daß sich gewisse Zustände gleichermaßen in der Gattungswie in der Individualentwicklung beobachten lassen, sondern auch, daß dem Individuum zugemutet wird, die jahrtausendewährende Gattungsentwicklung im Prinzip innerhalb seiner kurzen Lebenszeit – und zwar im wesentlichen bis zum Erreichen des Erwachsenenalters – zu rekapitulieren, um durch Anschluß an das je erreichte Niveau der kulturgeschichtlichen Entwicklung sozial kompatibel zu werden.244 So wird der jeweils gegebene Entwicklungsstand der Phylogenese zum Telos der Ontogenese. Deren Vollendung fällt mit dem (vorläufigen) Resultat jener zusammen. Und weil auch ihr jeweiliger Ausgangspunkt, die primäre narzißtische Kränkung als Verlust eines realitätsabgewandten Zustandes selbstbezüglicher Glückseligkeit, derselbe ist, hat sich prinzipiell in jeder Ontogenese die Phylogenese zu wiederholen. Jede Geburt wiederholt den phylogenetischen Ursprung. Die jeweils damit einsetzende „Entwicklung des Ichs besteht in einer Ent244 Zwar darf der „Entwicklungsprozeß des Einzelnen [. . .] seine besonderen Züge haben, die sich im Kulturprozeß der Menschheit nicht wiederfinden; nur insofern dieser erstere Vorgang den Anschluß an die Gemeinschaft zum Ziel hat, muß er mit dem letzteren Zusammenfallen.“ (Freud (1930), S. 266) In diesem Sinne wiederholt die Ontogenese die Phylogenese gerade bezüglich der kulturgeschichtlich erreichten Anforderungen der Gesellschaft gegenüber dem Einzelnen. Und diese Kulturanforderungen enthalten insbesondere auch die narzißtisch kränkenden Versagungen von Wünschen und Enttäuschungen von illusorischen Vorstellungen im Namen eines sozialen Realismus, mit dem sich der Einzelne in seinem eigenen wohlverstandenen Interesse zu arrangieren hat. „Im Entwicklungsprozeß des Einzelmenschen wird das Programm des Lustprinzips, Glücksbefriedigung zu finden, als Hauptziel festgehalten, die Einreihung in oder Anpassung an eine menschliche Gemeinschaft erscheint als eine kaum zu vermeidende Bedingung, die auf dem Wege zur Erreichung dieses Glücksziels erfüllt werden soll.“ (S. 265).

3. Der Narzißmus und das moderne Individuum

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fernung vom primären Narzißmus“,245 die bis zum kulturgeschichtlich erreichten narzißtischen Kränkungsniveau reicht. Die Entfernung, die ontogenetisch zu vollziehen ist, ist mithin die gleiche, die die Gattung phylogenetisch zurückgelegt hat. Deswegen bleibt aber zugleich auch das phylogenetisch Primitive stets ontogenetisch präsent: „das primitive Seelische ist im vollsten Sinne unvergänglich.“246 Das moderne Individuum hat demnach in seiner Entwicklung eine Distanz zuvor nie gekannten Ausmaßes zurückzulegen und dabei, soweit es den narzißtischen Aspekt dieser Entwicklung betrifft, auch solche Kränkungen zu verarbeiten, denen die Angehörigen früherer kulturgeschichtlicher Entwicklungsstufen noch nicht ausgesetzt waren. Dem entspricht auch „die Distanz, welche unser Seelenleben, unsere Wertungen, ja unsere Gedankenprozesse von denen auch des normalen Kindes trennt“247 – eine spezifisch moderne Distanz, die unter vormodernen Bedingungen weniger ausgeprägt war. Die „Schwierigkeit der Kindheit liegt darin, daß das Kind in einer kurzen Spanne Zeit sich die Resultate einer Kulturentwicklung aneignen soll, die sich über Jahrzehntausende erstreckt, Triebbeherrschung und soziale Anpassung, wenigstens die ersten Stücke von beiden.“248 Diese teleologische Sichtweise der Ontogenese – nicht der Phylogenese – erlaubt es, bezüglich der Individualentwicklung in einem prägnanteren Sinne von ‚Regressionen‘ zu sprechen. Das kulturgeschichtlich erreichte Niveau gibt die Richtung an, auf die sich die Entwicklung des Einzelnen hinzubewegen hat, so daß umgekehrt auch von Rückentwicklung zu primitiveren Stufen die Rede sein kann. Die Faktizität des gegenwärtigen Resultats der Phylogenese macht dieses zum ontogenetischen Ziel, das verfehlt werden kann. Aus alldem wird auch verständlich, wieso Regressionen vorkommen können, und inwiefern sie unter Bedingungen weit fortgeschrittener kultureller Entwicklung – als maximale Distanz vom präsumtiven ursprünglichen Glückszustand und demnach erhöhter Kränkungsdruck – eher wahrscheinlicher sind, als auf früheren kulturellen Entwicklungsstufen, die dem Einzelnen weniger an Kränkungsverarbeitung zumuten. Das moderne Individuum trägt diesbezüglich gleichsam eine doppelte Bürde: Es lebt nicht nur in einer Zeit kulturgeschichtlich fortgeschrittener narzißtischer Kränkungen, also in einer Maximalentfernung zum Ausgangspunkt narzißtischer Behaglichkeit vor jeder Kränkung; es muß nicht nur in einer Zeit leben, die offenbar reicher an Kränkungen ist als vormoderne. Es muß deswegen auch mehr an Kränkungen individuell verarbeiten als sein vormoderner Vorfahr, 245 246 247 248

Freud Freud Freud Freud

(1914a), S. 75. (1915), S. 45. (1913a), S. 182. (1933), S. 143.

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also einen weiteren Weg als dieser durchschreiten, um zu derjenigen narzißtischen Rückzugsposition zu gelangen, die die kulturelle Verfaßheit der Gesellschaft, an die es sich anzupassen hat, zu erreichen ihm abverlangt. Daher läßt sich vermuten, daß die Entwicklung moderner Individualität in höherem Maße störungsanfällig ist als die Sozialisationsziele vormoderner Kulturen, und daß das moderne Individuum nicht nur eine besondere Kompensationsbedürftigkeit, sondern auch Regressionsanfälligkeit auszeichnet. Je größer der Bereich des kulturgeschichtlich Überwundenen ist, desto größer ist der Bereich potentieller Regressionen. Und je stärker der Kränkungsdruck der Gegenwart auf den Individuen lastet, desto größer ist für diese die Versuchung, ihm regressiv auszuweichen.249 Hieraus erklärt sich die besondere Attraktivität und Seduktivität des Regressiven in der Moderne – und auch der komplementäre negative Affekt gegen solche kulturellen Errungenschaften, die, wie die wissenschaftlichen Kränkungen, die Aufgabe weiterer narzißtischer Positionen aufnötigen;250 oder die, wie gewisse zivilisatorische Standards, den Verzicht auf bestimmte Formen der Triebbefriedigung erzwingen bzw. den Bereich sozial akzeptierter Triebziele einschränken. Solche kulturell bedingte Wunschversagung ist einerseits – wie die Ananke – narzißtisch kränkend, da sie den auf Wunscherfüllung zielenden Allmachtsansprüchen Widerstand leistet: jede Wunschversagung bricht narzißtische Omnipotenzphantasien. Andererseits ist die kulturell geforderte Entsagung als solche eine Quelle von Frustration, die sich sowohl aggressiv gegen die versagende Instanz richten als auch Anlaß für regressive Entwicklungen sein kann. Es ist kein Wunder, daß das moderne Individuum in dieser Situation, angesichts des erhöhten kulturellen Versagungs- und Kränkungsdrucks, ‚Unbehagen‘ empfindet, regressionsanfällig und kompensationsbedürftig ist – und daß es der Unterstützung einer Psychoanalyse bedarf, die sich als Aufklärung auf seine Beobachtung spezialisiert und seine Partei ergreift. Im Leitsatz „Wo Es war soll Ich werden“251 schlägt sich die Aufklärung in Gestalt 249 Sozialphänomenologisch reicht das Spektrum vom Individuell-Pathologischen über Sektenbildung und subkulturelle Sozialformen bis hin zu fundamentalistischen Massenbewegungen. 250 Exemplarisch hierfür sind fundamentalistische Widerstände gegen die Darwinsche Evolutionstheorie, von denjenigen gegen die Psychoanalyse – auch jenseits im engeren Sinne fundamentalistischer Lehren – ganz zu schweigen. Interessant ist ferner, daß der Fundamentalismus, wo er militant oder sogar terroristisch auftritt, auch einen wesentlichen Aspekt der Kulturversagung regressiv aufhebt, indem er es seinen Anhängern erlaubt, ihre Aggressionen an einem vorgegebenen Feindbild (z. B. Juden, Frauen, Amerikaner, Homosexuelle usw.) – der Projektionsfläche ihrer eigenen, ihnen versagten Gelüste – auszuleben und daraus eine – ideologisch positiv sanktionierte – sadistische und narzißtische Befriedigung zu ziehen; vgl. Freud (1930), S. 242 f., 249 und (1939), S. 538 f.

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der Psychoanalyse in dem Konflikt, in dem das Ich zwischen den treibenden Ansprüchen des Es und den versagenden Zumutungen der Realität unter der strengen Kontrolle seines Über-Ich zu vermitteln hat und oft genug daran scheitert, auf die Seite des Ich. Mehr kann sie nicht tun, als das Ich zu stärken und damit das Individuum für ein weitgehend selbstverantwortliches Leben zu wappnen, das im sozialen Zusammenhang unter Seinesgleichen mit einem möglichst geringen Leidensdruck und dem historisch-gesellschaftlich je erreichbaren Mindestmaß an Illusionen zu führen ist.252 Aus psychoanalytischer Perspektive ist demnach das moderne ontogenetische Entwicklungsziel das psychoanalytisch aufgeklärte, kränkungstolerante, zu Triebbeherrschung, Affektkontrolle und Selbstbeobachtung fähige – Ichstarke – Individuum. Das individuelle Erreichen dieses Aufklärungsziels ermöglicht unter modernen Bedingungen ein Höchstmaß an Realismus, Selbstverantwortlichkeit, sozialer Kompetenz und Leidminderung. Das bedeutet zwar nicht, daß alle Psychoanalytiker werden sollten, legt allerdings – wissenssoziologisch betrachtet – ein semantisches Individualidentitätsangebot nahe, das Individuen dadurch individualisiert, daß sie sich selbst und ihresgleichen nach dem psychoanalytischen Latenzbeobachtungsschema beobachten.

4. Kränkung und Entzauberung: Ansichten der Moderne Neben der exemplarischen Selbstreflexion der Aufklärung als ent-täuschende Desillusionierung stellt das Freudsche Diktum von den drei Kränkungen also auch eine Beschreibung der Moderne dar. Die Moderne ist das vorläufige Ergebnis eines in diesen Kränkungen sich reflektierenden und auch durch sie bewirkten, wissenschaftlich vorangetriebenen Rationalisierungsprozesses, der in ihr fortwirkt. Die Moderne ist in diesem Sinne aufgeklärter als frühere kulturgeschichtliche Entwicklungsstufen, sie ist freier von – oder auch: ärmer an – Illusionen über den Sinn des Lebens, die Bedeutung und Deutbarkeit der Welt und die Stellung des Menschen in ihr. Im Abbau dieser Illusionen bezüglich des kosmischen Stellenwertes des Menschen, der Sinnhaftigkeit seiner individuellen Existenz – und auch sei251

Freud (1933), S. 81. Kernberg definiert im Einklang damit den Begriff der „Sorge“ als – nicht nur normativ wünschenswerten sondern auch behandlungstechnisch notwendigen – „Grundwesenszug des Analytikers“: „‚Sorge‘ bedeutet das Ernstnehmen der Destruktivität und Selbstdestruktivität des Menschen allgemein und die Hoffnung – nicht Gewißheit –, daß der Kampf gegen solche Neigungen in einzelnen Fällen erfolgreich ausgehen kann.“ (Kernberg (1983), S. 84; vgl. S. 83 ff.) Dies bezeichnet offensichtlich eine ethische Grundhaltung der Psychoanalyse sowohl als klinische Therapie als auch als Aufklärungsprogramm. 252

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nes Todes – liegt das spezifisch Kränkende und somit ein zentraler Aspekt des Unbehagens an der Moderne. Die psychoanalytische Aufklärung kann in einem gewissen Rahmen beanspruchen, dieses erträglicher zu machen, indem sie seine Unvermeidbarkeit aufzeigt, Kompensation durch Leidminderung anbietet und im Aufweis der modernen Regressionsanfälligkeit – in individuell-pathologischer wie kollektiv-ideologischer Form –, und der darin liegenden destruktiven Potentiale Schlimmeres zu vermeiden hilft. Überwinden kann sie es nicht. Vielmehr ist die psychoanalytische Enttäuschung der Illusionen über Fluchtmöglichkeiten aus dieser unbehaglichen Situation in ihrer spezifisch kränkenden Wirkung ein unvermeidlicher Beitrag zu diesem Unbehagen, der Fluchtimpulse auslöst und verstärkt. Zugleich ist sie von der Hoffnung getragen, letztere durch zunehmende Desillusionierung ziellos zu machen und als Aufklärung hinreichende Kompensation anzubieten. Dieses Selbstverständnis unterscheidet Freuds Psychoanalyse von den illusorischen Selbstüberschätzungen naiverer Phasen der Aufklärung. Die psychoanalytische Aufklärung enttäuscht auch diese Illusionen, mit der sich die Aufklärungsarbeit einst, als Weg zum Glück durch den Abbau von Vorurteilen und Zuwachs an Erkenntnis, motiviert und legitimiert hatte. Ihr zufolge gilt es weiterhin, Vorurteile abzubauen und den Prozeß menschlicher Welt- und Selbsterkenntnis voranzutreiben; aber Glücksverheißungen sind damit weniger verbunden als der Versuch, Schadensbegrenzung zu betreiben. Sie rechtfertigt sich mit dem Anspruch, das unüberwindbare moderne Unbehagen erträglicher zu machen und dadurch Schlimmeres zu vermeiden: durch die Verminderung von Leid und Verbreiterung des Spielraums für individuelle Glücksmöglichkeiten, sei es durch individuelle therapeutische Restitution oder Kulturarbeit am menschlichen Selbstverständnis. Insbesondere sensibilisiert sie für die regressive Anfälligkeit, in individuell-pathologischen wie kollektiv-ideologischen Formen. Und sie warnt vor der Destruktivität, die sich in bestimmten eskapistischen Verlockungen Bahn bricht. Ihre Enttäuschungsarbeit soll zur Abwehr ideologischer Versuchungen wappnen, deren illusorische Heilsversprechen ins Unheil führen.253 Das Bewußtsein um die regressiven Dispositionen und destruktiven Potentiale der Moderne bestärkt die psychoanalytische Aufklärung nur in der Notwendigkeit, ihre Enttäuschungsarbeit voranzutreiben. Auch wenn sie damit, als ‚dritte Kränkung‘ unweigerlich einen Teil zum modernen Unbehagen beiträgt, soweit dies im Verlust lustspendender Illusionen besteht. Diese Haltung kennzeichnet das Symptomatische ihrer Haltung als reflexive Modernitätsdiagnose. 253 In der Regel führen ja Versuche, das Paradies auf Erden zu errichten, in eine irdische Hölle.

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Zwei Jahre, nachdem Freud auf die Kränkungsgeschichte hingewiesen hatte, sprach Max Weber in seinem Vortrag Wissenschaft als Beruf, um den spezifisch desillusionierenden Aspekt dieser Entwicklung zu kennzeichnen, von der „Entzauberung der Welt“,254 die die „intellektualistische Rationalisierung durch Wissenschaft und wissenschaftlich orientierte Technik“ bewirkt.255 Georg Lukács prägte sein Wort von der „transzendentalen Obdachlosigkeit“256 zur gleichen Zeit, um die Moderne im Hinblick auf diese ideelle Verfassung zu charakterisieren, die seit der Romantik und mit stärkerer Resonanz dann seit Nietzsche als ‚nihilistisch‘ beschrieben wird. In Nietzsches geflügeltem Wort vom ‚Tod Gottes‘ kommt das gleiche zum Ausdruck: der irreversible Verlust metaphysischer Sinnstiftung im Desillusionierungsprozeß einer Aufklärung, die vor der Zerstörung ihrer eigenen Illusionen nicht halt macht. Auch „alle früheren Illusionen“ über den „Sinn der Wissenschaft“, sie könnte den „‚Weg zum wahren Sein‘, ‚Weg zur wahren Kunst‘, ‚Weg zur wahren Natur‘, ‚Weg zum wahren Gott‘, ‚Weg zum wahren Glück‘“ weisen, sind „versunken“, bilanziert Weber 1919 vor der weltkriegsheimkehrenden Jugend.257 „Wer – außer einigen großen Kindern, wie sie sich gerade in den Naturwissenschaften finden – glaubt heute noch, daß Erkenntnisse der Astronomie oder der Biologie oder der Physik oder Chemie uns etwas über den Sinn der Welt, ja auch nur etwas darüber lehren könnten: auf welchem Weg man einem solchen ‚Sinn‘ – wenn es ihn gibt – auf die Spur kommen könnte? Wenn irgend etwas, so sind sie geeignet, den Glauben daran, daß es so etwas wie einen Sinn der Welt gebe, in der Wurzel absterben zu lassen.“ Die Wissenschaft ist „die spezifisch gottfremde Macht“, in deren rationalisierendem Zugriff auf die Welt jegliche metaphysische Sinnstiftung und religöse wie säkulare Heilserwartung vernichtet wird. „Daß man schließlich in naivem Optimismus die Wissenschaft, daß heißt: die auf sie gegründete Technik der Beherrschung des Lebens, als Weg zum Glück gefeiert hat – dies darf ich wohl, nach Nietzsches vernichtender Kritik an jenen ‚letzten Menschen‘, die ‚das Glück erfunden haben‘, ganz beiseite lassen. Wer glaubt daran? – außer einigen großen Kindern auf dem Katheder oder in Redaktionsstuben?“258 In Webers rethorischer Frage kommt einerseits die Hoffnung zum Ausdruck, die Desillusionierung der wissenschaftlichen Aufklärung über sich selbst sei erfolgreich. Andererseits enthält sie auch, als Beschwörung dieses Erfolges mit dem Hinweis auf jene, die diesbezüglich noch in Illlusionen verharren, die skeptische Ahnung, daß dieser Erfolg gefährdet sein könnte. 254 255 256 257 258

Weber (1919a), S. 17; vgl. Weber (1922), S. 308. Weber (1919a), S. 16. Lukács (1920), S. 32. Weber (1919a), S. 22; vgl. Weber (1919b), S. 5. Weber (1919a), S. 21 – H. i. O.

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Denn die ‚schicksalhafte‘ „Grundtatsache, [. . .] in einer gottfremden, prophetenlosen Zeit zu leben“ ist schwer zu ertragen. Dies „freilich ist eine unentrinnbare Gegebenheit unserer historischen Situation, aus der wir, wenn wir uns selbst treu bleiben, nicht herauskommen können.“259 Das schließt indes nicht aus, sondern macht es eher wahrscheinlicher, das es solche gibt, die aus „Schwäche [. . .] dem Schicksal der Zeit nicht in sein ernstes Antlitz blicken [. . .] können“,260 die dieses Schicksal „nicht männlich ertragen“ können. Insofern ist auch für Weber die Moderne, als Produkt der „Rationalisierung und Intellektualisierung, vor allem: Entzauberung der Welt“ in spezifischer Weise anfällig für gegenläufige – vom Standpunkt „intellektuelle[r] Rechtschaffenheit“ abzulehnende – Tendenzen eines irrationalistischen und antiintellektualistischen Eskapismus,261 den Weber gegenwärtig insbesondere bei „der Jugend“ beobachtet.262 Solche eskapistischen Neigungen kommen exemplarisch in der Haltung „jener Jugendgemeinschaften“ zum Ausdruck, „die in der Stille in den letzten Jahren gewachsen sind, ihrer eigenen menschlichen Gemeinschaftsbeziehung die Deutung einer religiösen, kosmischen oder mystischen Beziehung [zu] geben.“263 Symptomatisch hierfür ist auch die – gerade wiederum in der „jüngsten Generation“264 verbreitete – Sehnsucht nach „neue[n] Propheten und Heilande[n]“265 und die Bereitschaft wie das Bedürfnis „manche[r] moderne[r] Intellektuelle[r]“,266 sich als solche anzubieten. Dieser diagnostische Motivkomplex klingt bereits in Webers kulturpessimistischem Verdikt über die Moderne als ein verhängnisvolles, sinnentleertes „stahlhartes Gehäuse“267 an: „Niemand weiß noch, wer künftig in jenem Gehäuse wohnen wird und ob am Ende dieser ungeheuren Entwicklung ganz neue Prophetien oder eine mächtige Wiedergeburt alter Gedanken und Ideale stehen werden, oder aber – wenn keins von beiden – mechanisierte Versteinerung, mit einer Art von krampfhaftem Sich-wichtig-nehmen verbrämt. Dann allerdings könnte für die ‚letzten Menschen‘ dieser Kulturentwicklung das Wort zur Wahrheit werden: ‚Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz: dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.‘“268 Ob die Heillosig259 260 261 262 263 264 265 266 267 268

Weber Weber Weber Weber Weber Weber Weber Weber Weber Weber

(1919a), S. 33. (1919a), S. 28. (1919a), S. 36. (1919a), S. 19, vgl. S. 28, 32 f. (1919a), S. 35. (1919a), S. 33. (1919a), S. 37, vgl. S. 33. (1919a), S. 35. (1905), S. 188. (1905), S. 189 – H. i. O.

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keit der Moderne in ‚intellektueller Rechtschaffenheit‘ ‚männlich ertragen‘ wird, in der Haltung eines nietzscheanischen ‚Übermenschen‘, ob sie zur sittlich-charakterlichen Degeneration und Selbstüberschätzung der ‚Letzten Menschen‘269 oder aber zu fundamentalistischen Auszugs- und utopistischen Fluchtbewegungen führt: Glück ist in ihr nicht zu erwarten. Aber nicht nur die intellektuelle Redlichkeit des wissenschaftlichen Aufklärers, sondern auch die dieser Diagnose entsprechende Ahnung, daß Schlimmeres drohen könnte als Glücklosigkeit, wenn Heil mit aller Gewalt durchgesetzt werden soll, und daß bei aller Skepsis gegenüber eudaimonistischen Erwartungen an wissenschaftlichen und technischen Fortschritt dennoch die begründete Hoffnung auf progressive Leidverminderung besteht, läßt das reflexive Enttäuschungsgeschäft als alternativlos erscheinen. Darin stimmen die aufklärungsreflexiven Modernitätsdiagnosen – und auch die darin empfohlene Haltung – Freuds und Webers überein. Der Freudsche Kränkungs- und der Webersche Entzauberungsbefund verweisen nicht nur aufeinander, sondern sie sind auch exemplarisch für nüchterne, mitunter pessimistische Beschreibungen der Moderne, die diese als gegenwärtiges Ergebnis eines wesentlich wissenschaftlich vorangetriebenen Rationalisierungsprozesses begreifen, der als Aufklärung begrüßt wird, dabei aber zugleich in seiner Ambivalenz bezüglich seiner Kosten betrachtet wird: in diesem Modernisierungsprozeß ging demnach etwas verloren, was sich unter modernen Bedingungen nicht wiedergewinnen läßt. Die Verlustrechnung wird in Gestalt negatorischer Wortbildungen wie derjenigen der ‚Ent-zauberung‘, des ‚Un-behagens‘ oder der ‚transzendentalen Obdachlosigkeit‘ präsentiert, aber auch der mit der Romantik270 aufkommende und 269

Vgl. Nietzsche, KSA 4, S. 19. In der Romantik – seit der historischen Frühromantik – klärt sich die Aufklärung über die Verluste auf, die sie bewirkt hat und weiter bewirkt, und für die sie, entgegen allen Versprechungen, keinen Ersatz zu bieten hat. In vielem verweist die romantische Motivwelt – in ihrem Nihilismus, ihren ästhetischen Konzeptionen, ihrer dunklen, psychologisierenden Vorliebe für die Erforschung der (irrationalen) Abgründe des Seelenlebens und ihrer Apotheose der Individualität im Künstler – auf die Metaphysik- bzw. Vernunftkritik Nietzsches und seiner Gefolgschaft; vgl. hierzu auch Stulpe (2001). Der Verlust des Zutrauens in eine positive Einwertigkeit und Eindeutigkeit der Aufklärung spiegelt sich in den romantischen Fragmenten. Ihre ästhetisch-programmatische Forderung nach (Wieder-)Verzauberung der Welt in der Kunst – paradigmatisch in Novalis’ Romantisierungspostulat artikuliert (vgl. Novalis, HKA II, S. 545) – nimmt ex negativo vorweg, was Max Weber dann als Entzauberung diagnostiziert hat. In der Romantik reflektiert sich die Moderne als Kostenseite dessen, was sie als Aufklärung geleistet hat. Ausgehend von einer Beschreibung der Moderne als Zwei-Seiten-Form aus Aufklärung und Romantik (vgl. Fritscher (1996), S. 36 ff.), kann man sagen, daß die Moderne auf der Seite der Romantik die Zweiseitigkeit der Aufklärung als Ent-täuschung beobachtet und damit ihre eigene Ambivalenz in den Blick rückt. 270

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mit Nietzsche zum Schlagwort werdende Befund des ‚Nihilismus‘, in dem das Negatorische bzw. die ‚Vernichtung‘ (annihilatio) und das ‚Nichts‘ (nihil) zum bestimmenden Zug der Epoche erklärt und in den Rang eines umfassenden kulturellen Syndroms erhoben werden, oder der diesen erläuternde der ‚Sinn-losigkeit‘271 sind hierfür symptomatisch. Ihre Prägnanz gewinnen diese negativen Beschreibungen vor der ihnen in der Moderne unterlegten Kontrastfolie vormoderner Verhältnisse. Was diese in ihrem Mangel an Aufgeklärtheit auszeichnete, war demnach ihr Reichtum an behaglichen Illusionen, die dem Modernisierungsprozeß zum Opfer gefallen sind. Unwiederbringlich verloren sind das naive Weltvertrauen, die kosmische Geborgenheit, die metaphysische Sicherheit oder auch die sinnstiftende Gemeinschaft und die Fraglosigkeit ihrer Ordnung, die frühere Stufen der Menschheitsentwicklung aus moderner Sicht kennzeichnen. Die Moderne erscheint in diesen Beschreibungen also als das vorläufige Ergebnis von Prozessen der Entzauberung, Enttäuschung, Desillusionierung und Kränkung, des Verlustes an Sicherheit, Orientierung, Geborgenheit und Weltvertrauen usw. Diese Entwicklung wird von ihren wissenschaftlichen Diagnostikern weiterhin als Aufklärung begrüßt und vorangetrieben, aber sie verheißt keinen utopistischen Fluchtweg mehr, sondern lediglich die kompensatorische Gestalt eines Zugewinns an Erkenntnis und Realitätskompetenz, die für die Verluste an Geborgenheit entschädigt, indem sie hilft, die Angst zu bewältigen, und die Hoffnung nährt, daß sich Schlimmeres dadurch vermeiden ließe, von dessen Gefährlichkeit die moderne Allgegenwart regressiver Verführungen und die offenkundige Störungsanfälligkeit jener Entwicklung zeugt, die diesen Zustand herbeigeführt hat. Gerade weil die Moderne in all ihren aufklärerischen Errungenschaften ein heil- und glückloser Ort ist, ist sie in permanenter Gefahr, die Errungenschaften der Aufklärung zu negieren, um die darin implizierten Kränkungen zu ignorieren. Ideologische Glücksverheißungen und charismatisch induzierter Massenwahn sind – sich gegebenfalls gegenseitig stützende – Varianten solcher Realitätsflucht. Diese Erkenntnis ist eine der wesentlichen motivationalen Grundlagen für das Festhalten am Aufklärungsprozeß im Rahmen dieser Modernitätsdeutungen. Im Angesicht der Gefährdungen zivilisatorischer Errungenschaften erscheinen seine Kompensationsleistungen bei aller in ihm erwirkten Ernüchterung und kränkender Desillusionierung als das einzige, was Besserung verspricht, indem es Schlimmeres zu verhüten hilft.272 271

Vgl. Weber (1919a), S. 18. Die Verlustrechnung, die in jenen negatorisch gebildeten modernitätsdiagnostischen Formeln den positiven Errungenschaften des Rationalisierungsprozesses gegenübergestellt wird, bedeutet einen Bruch mit dem naiven aufklärerischen Fortschrittsoptimismus, der noch die Erwartung wecken und speisen konnte, die Menschheit perspektivisch in die glückliche Freiheit vollständiger vernünftiger 272

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In wissenssoziologischer Perspektive stellen sich diese klassischen modernitätsdiagnostischen Formeln – ‚Entzauberung‘, ‚Unbehagen‘, ‚transzenSelbst- und Naturbeherrschung zu führen. In diesen Modernitätsbefunden bricht sich das einseitig positive Selbstverständnis der ‚Großen Erzählung‘ der Aufklärung. Der in ‚philosophischen Fragmenten‘ von Horkheimer/Adorno (1947) dargebotene, düstere Befund einer (selbst)zerstörerischen „Dialektik der Aufklärung“ ist hierfür ein weiteres Beispiel. Generell wird in solchen Modernitätsdiagnosen die emanzipatorisch verstandene Befreiung, als die die Aufklärung sich in optimistischeren Varianten darstellt, zugleich als Freisetzung destruktiver Potentiale und als Verlust kosmischer Geborgenheit gesehen, verbunden mit der Ahnung, daß es zumindest fragwürdig ist, ob und inwieweit die moderne Welt in der Lage ist, hierfür Kompensationen anzubieten. Es stellt sich in diesem Reflexionsstadium der Aufklärung heraus, daß der Preis für den Austritt aus der Naivität um ein Vielfaches höher ist, als man in früheren Zeiten noch glauben konnte; und daß man offenbar sehr viel weniger dafür bekommt, als man sich damals erhoffen durfte. Die technologischen und wissenschaftlichen Errungenschaften erweisen sich nicht als Garanten vermehrten Glücks und zivilisatorischen Fortschritts. Sie bieten nicht nur keinen Schutz vor Rückfällen auf frühere Stufen der Kulturentwicklung, sondern bedingen in ihrer spezifischen Entzauberungs- und Kränkungsleistung eine regressive Disposition. Und schließlich ging im Prozeß der Aufklärung auch das noch verloren, was ihn um seiner selbst willen vorantreiben sollte: das vernünftige Subjekt, dessen Gewinn an Autonomie als Entschädigung für alle Anstrengungen und Unannehmlichkeiten versprochen worden war, mit denen der Aufklärungsprozeß auch in optimistischeren Zeiten schon verbunden war. Auch in Kants klassischer „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ implizierte die Antwort „der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ mindestens eine Unbequemlichkeit. Denn es erfordert ja Kants Auskunft zufolge „Mut“, sich zu diesem Zweck des „eigenen Verstandes zu bedienen“ (Kant (1784), S. 9 – H. i. O.). Die imperative Form dieses Aufklärungsappells und der Hinweis auf das Selbstverschulden am Zustand der Unmündigkeit weisen darauf hin, daß es sich bei dieser Aufklärung um eine unabweisbare moralische Verpflichtung durch die Vernunft handelt; das Subjekt ist es sich selbst, um seiner Autonomie willen, schuldig, den in seiner Bequemlichkeit angenehm anmutenden Zustand der Unmündigkeit zu verlassen. Aber das damit in Aussicht Gestellte, die Mündigkeit und Selbsttransparenz des Subjekts, seine vernünftige Freiheit und Erkenntnis, lohnt die Anstrengung. Im optimistischen Verständnis der Aufklärung gewinnt man in jedem Falle mehr, als man verlieren kann. Man verliert Selbsttäuschungen und andere Illusionen, die Unmündigkeit begründen. Und man gewinnt sich selbst als autonomes und selbsttransparentes Subjekt, das die Welt selbstverantwortlich und vernünftig zu seinem eigenen Wohle und dem der Menschheit einrichtet. Am Ende würde, durch medizinisch-technologische Fortschritte ermöglicht, vielleicht sogar die Überwindung des Todes auf der Tagesordnung stehen: als eines Ärgernisses, das mit dem Verlust des Glaubens an die Unsterblichkeit der Seele um so bedrängender wurde, nicht zuletzt wegen der Diskrepanz, die darin besteht, daß die grenzenlose Vernunft an sterbliche Körper gebunden war. Für diesen Aspekt der Sterblichkeitsmisere stellte aber bereits die Vorstellung eines Generationen übergreifenden Projektes der Aufklärung, in dem die jeweils in zu kurzen individuellen Lebenszeiten erbrachten Erkenntnisfortschritte aufbewahrt und weiterentwickelt werden konnten, einen Ausweg dar. Und solange die individuelle Sterblichkeit als noch nicht wissenschaftlich gelöstes Problem hinzunehmen war, konnte der Einzelne sich jedenfalls mit der Gewißheit trösten, Anteil an der unbegrenzten Ver-

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dentale Obdachlosigkeit‘, ‚Nihilismus‘ usw. – als semantischer Reflex zunächst desjenigen sozialstrukturellen Aspekts der modernen Gesellschaft dar, der sich in gesellschaftstheoretischer Terminologie abstrakt mit dem Begriff der Polykontexturalität bezeichnen läßt.273 Mit ihrer polykontexturalen Beobachtungsstruktur erscheint die Moderne als eine Kontingenzbewußtsein proliferierende, azentrische, sich multiperspektivisch ausdeutende Welt, der infolge der (‚katastrophalen‘) Umstellung auf primär funktionale Differenzierung der Gesellschaft274 jene, unter vormodernen Bedingungen hierarchischer Stratifikation selbstverständliche gesellschaftliche Spitzenbzw. Zentralposition abhanden gekommen ist, von der aus die Welt konkurrenzfrei und verbindlich deutbar war und in ihrer als alternativlos dargestellten ethisch-moralischen, politisch-sozialen und kosmisch-religiösen Ordnung beglaubigt wurde.275 Aber noch ein Weiteres verdient im vorliegenden Zusammenhang besondere Beachtung: Da Formeln wie ‚Kränkung‘, ‚Entzauberung‘, ‚Nihilismus‘, ‚Unbehagen‘ usw. komplementär zur Verfassung der Welt auf die Befindlichkeiten der darin lebenden, diese kognitiv und emotional verarbeitenden und sich damit arrangieren müssenden Individuen abstellen, sich daher so in ihnen als ‚Erfahrungsregistraturbegriffen‘276 ein modernes Bewußtseinssyndrom verdichtet, in dem sich die Stellung der Einzelnen in der modernen Welt reflektiert, erschließt sich in wissenssoziologischer Perspektive, daß in ihnen ebenso bestimmte Aspekte der exklusionsindividuellen Sozialstruktur der modernen Gesellschaft artikuliert werden.277 Begriffe wie ‚transzendentale Obdachlosigkeit‘ und ‚Entzauberung‘ reflektieren, ebenso wie die Vorstellung von den Dezentrierungen, von denen die Kränkungsgeschichte erzählt, das Verlassen jener vormodernen Welt, deren Inklusionsordnung den Einzelnen mit der gesellschaftlichen Platzzuweisung qua Geburt die Gewähr leistete, Teil einer insgesamt metaphysisch sinnhaften kosmischen Ordnung zu sein, in der sie sich, vermittelt über die unverfügbare Zugehörigkeit zu Familien, Schichten und anderen als natürlich anmutenden Gemeinschaften, geborgen, eingebunden und bezüglich ihrer sozialen Idennunft zu haben und seinen Beitrag zum historischen Fortschritt der Menschheit zu leisten (vgl. Blumenberg (1986), S. 173 ff.). Und wenn dieser Fortschritt schließlich auch die individuelle Unsterblichkeit ermöglichen würde, als letzten Triumph der menschlichen Vernunftautonomie über die Heteronomie der Natur, dann wäre damit jedes individuelle Opfer gerechtfertigt. 273 Vgl. Luhmann (1997a), S. 36 f., 88 f., 891 ff., 1045, 1094 f. 274 Vgl. Luhmann (1997a), S. 515 f., 616, 655 f., 683 ff., 709 f., 743 ff. 275 Vgl. Luhmann (1997a), S. 893 ff., 928 ff. 276 Vgl. Koselleck (1976), S. 370 f. 277 Vgl. Luhmann (1997a), S. 618 ff., 743 ff., 1032 ff.; vgl. auch Luhmann (1995c).

4. Kränkung und Entzauberung

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titätsbestimmung sicher und aufgehoben wissen konnten. Die Ambivalenz der durch den sozialstrukturellen Umbruch erzwungenen Entlassung aus jenem Zustand bringen aufklärungstheoretisch und modernitätsdiagnostisch einschlägige Wortgefüge wie ‚Enttäuschung/Desillusionierung‘, ‚Entzauberung/Rationalisierung‘ und ‚Kränkung/Aufklärung‘ zum Ausdruck. Dem in der Durchsetzung moderner Exklusionsindividualität evolutionär errungenen Gewinn an Freiheitsoptionen stellen sie den Verlust an kosmischer Geborgenheit und gemeinschaftlicher Einbindung zur Seite. Darin spiegelt sich das als Bürde und als Befreiung wahrnehmbare Maß des Auf-Sich-SelbstZurückgeworfen-Seins wider, das die moderne Gesellschaft ihrem Individuum in Fragen der sozialen und individuellen Identitätsfindung, der Weltdeutung, ethisch-moralischen Orientierung und metaphysischen Sinnstiftung zumutet. Was unter den vormodernen Bedingungen einer inklusionsindividuellen Sozialstruktur für die Einzelnen ohne deren Zutun weitestgehend schon durch die Geburt in einer maßgeblich durch die Signatur ihrer Schichtzugehörigkeit bestimmten Familie gesellschaftlich verbindlich geregelt war – soziale Rollenerwartungen, ethische Selbstverständnisse, Handlungsspielräume, Daseinssinn –, wird unter der Bedingung moderner Exklusionsindividualität weitestgehend den Individuen selbst zur Klärung im Verlaufe ihrer Lebenszeit überlassen. Das diesbezügliche Desinteresse der Gesellschaft kommt sowohl in der Semantik der ‚transzendentalen Obdachlosigkeit‘ und der im Nihilismus-Begriff reflektierten Verweigerung gesamtgesellschaftlich verbindlicher Sinnvorgaben als auch im Kränkungsbefund zum Ausdruck, der, indem er die Schmerzlichkeit der kosmischen und daran anschließenden Dezentrierungserfahrungen thematisiert, zugleich das Unbehagen an der Indifferenz der modernen Gesellschaft gegenüber ihren Individuen artikuliert.278 Mit all dem bildet dieses semantische Syndrom zugleich den modernitätsdiagnostischen Hintergrund, vor dem weitere individualitätssemantische Ausdeutungen der sozialstrukturellen Exklusionsindividualität zeitgenössisch konturiert werden und als Bewältigungen von bzw. Auseinandersetzungen mit diesen Aspekten der Moderne an Plausibilität gewinnen. In einer sich als ‚kränkend‘, ‚unbehaglich‘, ‚entzaubert‘ usw. verstehenden Moderne stellt die individualitätssemantische Interpretation der Exklusionsindividualität – ebenso, wie dies im Bereich anderer Typen von semantischen Angeboten etwa politisch-ideologischer und sonstiger weltanschaulicher Art der Fall ist – sowohl realistische als auch eskapistische Individualidentitätsangebote zur Verfügung. Auf dieser individualitätssemantischen Ebene sind, gemessen an jenem modernitätsdiagnostischen Hintergrund, als 278 Vgl. Luhmann (1993b III), S. 149 ff., bes. S. 158 ff., 186 ff., 214 f.; vgl. Luhmann (1987a).

128

II. Paradise Lost

‚realistisch‘ solche Individualidentitätsangebote zu begreifen, in denen die dezentrierte Position des Individuums akzeptiert bzw. vorausgesetzt wird, und als ‚eskapistisch‘ solche Individualidentitätsangebote, in denen die Kränkungen – zumindest temporär – in grandiosen, re-zentrierenden Selbstentwürfen zurückgewiesen bzw. ignoriert werden. So lassen sich die modernitätsdiagnostischen Formeln der Entzauberung und Kränkung, die in diesen registrierten Verlust- und Dezentrierungserfahrungen und das darin verdichtete Kontingenzbewußtsein im Sinne einer wissenssoziologischen Hermeneutik moderner gesellschaftlicher Selbstverständnisse279 als der semantische Kontext begreifen, von dem aus die – in den folgenden Kapiteln zu analysierenden – exemplarisch in den Texten der Stirner-Rezeptionsgeschichte artikulierten Individualidentitätsangebote bezüglich ihrer realistischen und eskapistischen Implikationen und Intentionen zu verstehen sind. Der nach diesbezüglichen Pionierleistungen in der Romantik erneute, verstärkte Schub semantischer Problematisierung von Individualität, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu beobachten ist280 und mit dem auch die rezeptionsgeschichtliche Karriere Stirners und seines ‚Einzigen‘ ihren Anfang nimmt, ereignet sich vor dem Hintergrund dessen, was Freud später die ‚zweite‘ und die ‚dritte Kränkung‘ nennt und wird von den Formeln der ‚Entzauberung‘, des ‚Nihilismus‘ usw. begleitet. Die zu den modernitätsdiagnostischen Begriffen ‚Entzauberung‘ und ‚Kränkung‘ komplementären charismasoziologischen und narzißmuspsychologischen Überlegungen Webers und Freuds bilden im Sinne einer solchen wissenssoziologischen Hermeneutik im folgenden den Ausgangs- und theoretischen Bezugspunkt für die Feineinstellung eines analytischen Instrumentariums zur Durcharbeitung und Interpretation der im empirischen Textmaterial der Stirner-Rezeptionsgeschichte sedimentierten Individualitätssemantik (siehe unten, III.). Dies steht im Einklang mit der zu Beginn des vorliegenden Kapitels skizzierten Einsicht, daß, da in der Moderne weder von einem gesellschaftsexternen, noch von einem sozialstrukturell privilegierten Standpunkt aus Beschreibungen der Gesellschaft kommunizierbar sind, in der diese sich transparent werden könnte, die operativ-konstruktivistische Wissenssoziologie darauf angewiesen bleibt, ihre Erkenntnisse in der Beobachtung gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen und in deren Wiederbeschreibung zu gewinnen – um dann zu sehen, ob sich durch die Wahl bestimmter beobachtungsleitender Unterscheidungen in dem prinzipiell nichtüberschreitbaren semantischen Horizont moderner Selbstdeutungen Positionen einnehmen lassen, aus deren Perspektive Aspekte der modernen 279 Vgl. Luhmann (1997a), S. 546 ff., 886 ff., bes. S. 889; vgl. Nassehi/Kneer (1991), S. 348 ff. 280 Vgl. Luhmann (1993b III), S. 225.

4. Kränkung und Entzauberung

129

Gesellschaft sichtbar werden, die so noch nicht sichtbar waren, aber in der kommunikativen Prüfung als hinreichend relevant erscheinen, um als Ergebnis soziologischer Aufklärung in das moderne Selbstverständnis einzugehen und so ein weiteres Fragment der Großen Erzählung zu liefern.281

281

Vgl. Luhmann (1997a), S. 866 ff., 879 ff., 892, 1109 ff.

III. Narzißmus und Charisma I can only be normal with you. Gene1 I don’t need to sell my soul – he’s already in me. I wanna be adored. Stone Roses2

1. Narzißtische Kränkung, individualitätssemantischer Eskapismus und der All-Einzige als Charismatiker Nach den vorangegangenen Überlegungen erstaunt es nicht, daß sich Eskapismen und eskapistische Tendenzen in der Moderne auf den unterschiedlichsten semantischen Ebenen, in verschiedensten sozialen Kontexten und in reichen und vielfältigen sozialphänomenologischen Formen, in einer breiten Varietät von Beharrungsvermögen, sozialen Auswirkungen und Komplexitätsniveaus beobachten lassen und teils für den Entsagungs- und Kränkungsdruck der entzauberten Welt kompensieren, teils diesen in regressiver Form leugnen; unter diesem Aspekt umfaßt das Spektrum beispielsweise fundamentalistische und chauvinistische Ideologien ebenso wie Erzeugnisse der Kunst und Literatur im umfassenden Sinn, aber auch individuelles und kollektives Rauscherleben, massenmedial produzierte virtuelle Welten usw. Auf der im vorliegenden Kontext vor allem interessierenden Ebene der Individualitätssemantik läßt sich der Eskapismus wissenssoziologisch in solchen Individualidentitätsangeboten beobachten, die die durch die sozialstrukturelle Exklusionsindividualität bedingte Freisetzung des modernen Individuums aus traditionalen, religiös-metaphysischen und sonstigen überindividuellen Bindungen als gottgleiche Position einer allmächtigen Individualität deuten. Spezifisch kränkungsregressiv im dargelegten Sinne (siehe oben, II. 3.) ist solch ein individualitätssemantischer Eskapismus, wenn diese Möglichkeit, Exklusionsindividualität zu deuten, nicht im Modus des ‚Als-ob‘ – unter einem spielerischen, literarischen oder sonstigen virtuellen Vorbehalt – aktualisiert und kommunikativ verstanden wird, sondern der dauerhaften, ernstgemeinten Leugnung und Abwehr der durch die 1 2

„Olympian“ (1995). „I Wanna Be Adored“ (1989).

1. Individualitätssemantischer Eskapismus

131

kulturevolutionär erzwungene Aufgabe narzißtischer Positionen bedingten modernen Dezentrierungserfahrungen durch individuelle Re-Zentrierung, grandiose Selbststilisierungen und Omnipotenzansprüche dient.3 In solchen kränkungsregressiv-eskapistischen Individualidentitätsangeboten wird ein Individuum im Extremfall als allmächtiger Schöpfer oder zumindest Mittelpunkt des Universums präsentiert, oder, in derivativen Formen, beispielsweise als Wendepunkt oder Vollendung der Weltgeschichte, oder auch als derjenige, der solche Wendepunkte herbeiführt, voraussieht oder in sonst einer Weise von einer außergewöhnlichen Individualität ist, die dieses eine Individuum über alle anderen Menschen heraushebt und ihm einen hervorgehobenen, nicht substituierbaren, alles überstrahlenden schöpferischen, moralischen oder auch allwissenden Standpunkt zuweist. Ein solches Individuum wäre von jenen kränkenden Dezentrierungen und der in ihnen erzwungenen Aufgabe narzißtischer Positionen nicht betroffen, es dementiert sie: das, was die Menschheit im Verlaufe der Dezentrierungsgeschichte verloren hat – die Zentralposition in Kosmos und Schöpfung, die frühen narzißtischen Positionen von Allmacht und Allwissenheit usw. – nimmt dieses eine (und einzige) Individuum (in Abstufungen) mit seinem grandiosen Selbstbild für sich in Anspruch. Diesem in seiner Grundstruktur skizzierten Eskapismus auf der Ebene der Individualitätssemantik entspricht im Lichte und in der Terminologie der Stirner-interpretationsschematischen Unterscheidung von ‚Je-Einzigkeit vs. All-Einzigkeit‘ die all-einzige Position. In der all-einzigen Deutung des Stirnerschen Einzigen erscheint der Einzige als der einzige Einzige in der 3 Auf den Fall eines kränkungskompensatorischen Eskapismus auf der individualitätssemantischen Ebene – im Sinne der im vorangegangenen Kapitel skizzierten Unterscheidung von kränkungsregressiven, das für die gegenwärtige Realität konstitutive Kränkungsniveau leugnenden Eskapismen und kränkungskompensatorischen Eskapismen, die dieses Kränkungsniveau voraussetzen oder zumindest mit diesem kompatibel sind – wird an dieser Stelle nicht eigens eingegangen, aber auf Beispiele wird im Verlaufe der vorliegenden Arbeit immer wieder – unter dem Stichwort Hypothetische All-Einzigkeit bzw. Inwendige Je-Einzigkeit – hinzuweisen sein. Abstrakt lassen sie sich als zeitlich, sachlich und sozial limitierte eskapistische Individualidentitätsangebote fassen, die beispielsweise in kommunikativ als spielerisch, künstlerisch, fiktional oder anderweitig virtuell markierten Kontexten als grandiose Individualitätsangebote zu beobachten sind, deren soziale Akzeptanz unter dem Vorbehalt steht, daß sie nicht ernstgemeint und unrealistisch sind, und die daher nur in jenem limitierten Rahmen gelten. Man denke beispielweise an die Figur eines mit übermenschlichen Kräften ausgestatteten Superhelden bzw. einer Superheldin in einem Rollenspiel, Film oder Theaterstück. In psychologischer Betrachtung mag solchen Individualidentitätsangeboten, indem sie Akteure wie Rezipienten zur Identifikation einladen, trotzdem vorübergehend ein vergleichbarer affektueller Wert zukommen wie den ernstgemeinten, regressiven Individualidentitätsangeboten. Genau darin liegt ja die kränkungskompensatorische und eskapistische Bedeutung der Kunst – ihre ‚Magie‘ – und verwandter Phänomene.

132

III. Narzißmus und Charisma

Welt: der alleinige Einzige, dem keine anderen Einzigen gegenüberstehen, weil alle anderen Individuen Nicht-Einzige sind oder weil es – im solipsistischen Extremfall (siehe unten, IV. 2.) – gar keine anderen, unabhängig von ihm existierenden Individuen gibt und er sogar mit der Welt im Ganzen identisch, ‚all-einig‘ ist.4 Der All-Einzige ist also als Einziger allein in – oder überhaupt allein mit – der Welt. Dieses Spektrum an Deutungsmöglichkeiten des Einzigen soll mit der Position der ‚All-Einzigkeit‘ bezeichnet werden, im Gegensatz zu jenen Deutungen, die mit der Position der ‚JeEinzigkeit‘ bezeichnet werden sollen, der zufolge prinzipiell ein jedes Individuum je für sich und für die anderen Individuen ein Einziger ist, sein kann oder sein sollte, bzw. der zufolge ein Einziger nur dann als ein Einziger existieren kann, wenn er sich einem anderen Einzigen gegenüber weiß, also in einer Welt von Je-Einzigen lebt.5 Sozialdimensional, also bezüglich der Ego-Alter-Relation,6 läßt sich dementsprechend Je-Einzigkeit als symmetrisches Verhältnis beschreiben – Ego und Alter sind einzig –, 4 Damit ist noch nichts darüber gesagt, ob die Vertreter der unter dem Begriff All-Einzigkeit zusammengefaßten Stirner-Deutungen diesem von ihnen so interpretierten Anspruch auf All-Einzigkeit auch zustimmen. Unabhängig von deren jeweiliger Bewertung der so interpretierten Figur bietet jedenfalls der Stirnersche Einzige von 1844 hinreichend Textevidenzen zur Plausibilisierung seines Verständnisses als All-Einziger, wie die folgenden Beispiele zeigen: „Die Geschichte sucht den Menschen: er ist aber Ich, Du, Wir. Gesucht als ein mysteriöses Wesen, als das Göttliche, erst als der Gott, dann als der Mensch (die Menschlichkeit, Humanität und Menschheit), wird er gefunden als der Einzelne, der Endliche, der Einzige. Ich bin Eigner der Menschheit, bin die Menschheit“ (Stirner, EE, S. 271 – H. i. O.). – „Ich bin aber nicht ein Ich neben andern Ichen, sondern das alleinige Ich: Ich bin einzig. Daher sind auch meine Bedürfnisse einzig, meine Taten, kurz Alles an mir ist einzig. Und nur als dieses einzige Ich nehme Ich mir Alles zu eigen, wie Ich nur als dieses Mich betätige und entwickle: Nicht als Mensch und nicht den Menschen entwickle Ich, sondern als Ich entwickle Ich – Mich. Dies ist der Sinn des – Einzigen.“ (S. 406 – H. i. O.). „Gleichfalls sagt man von Gott, er sei vollkommen und habe keinen Beruf nach Vollkommenheit zu streben. Auch das gilt allein von Mir. Eigner bin Ich meiner Gewalt, und Ich bin es dann, wenn Ich Mich als Einzigen weiß. Im Einzigen kehrt selbst der Eigner in sein schöpferisches Nichts zurück, aus welchem er geboren wird. Jedes höhere Wesen über Mir, sei es Gott, sei es der Mensch, schwächt das Gefühl meiner Einzigkeit und erbleicht erst vor der Sonne dieses Bewußtseins.“ (S. 412 – H. i. O.). – Auf mindestens ebenso viele Textevidenzen – wenn nicht mehr –, vor allem auf Stirners theoretische Figur des „Verein[s] von Egoisten“ (S. 233, vgl. S. 240 ff., 260, 287, 342 ff.) können sich aber auch, wie noch zu sehen sein wird, die – zahlreicheren, aber in ihrer interpretatorischen Vielfalt auch uneinigeren – Vertreter je-einziger Stirner-Deutungen berufen. 5 Die in der Stirner-Rezeptionsgeschichte artikulierten Positionen der All-Einzigkeit werden v. a. in den Kapiteln IV. und V., diejenigen der Je-Einzigkeit in den Kapiteln VI. und VII. behandelt. Auf die Grundstrukturen von All-Einzigkeit und Je-Einzigkeit wird in diesem Zusammenhang nochmals eingegangen, siehe insbesondere IV. 1. d) und VII. 1. 6 Vgl. Luhmann (1996a), S. 119 ff.; (1997a), S. 1136 ff.

1. Individualitätssemantischer Eskapismus

133

während sich die All-Einzigkeit als sozialdimensional asymmetrisches Verhältnis kennzeichnen läßt: In der Sozialdimension der All-Einzigkeit ist, weil dem All-Einzigen per definitionem kein anderer Einziger gegenübersteht, nur eine Seite der Ego-Alter-Unterscheidung als ‚einzig‘ markiert. Entweder ist Ego (all-)einzig und Alter nicht, oder Alter ist (all-)einzig und Ego nicht. In soziologischer Perspektive ist das offensichtliche Problem dieser Asymmetrie ihre Akzeptanz, nämlich die Frage, wie es möglich ist, daß der all-einzige Anspruch eines Individuums vom sozialen Andern, der damit zugleich seine Nicht-Einzigkeit zugestehen muß, angenommen wird, daß also der soziale Andere den vom All-Einzigen erhobenen Anspruch auf eine außergewöhnliche Individualität, individuelle Großartigkeit, moralische, ästhetische, intellektuelle Perfektion und Allmacht als gerechtfertigt akzeptiert und bestätigt. Die Alternative zu dieser unwahrscheinlichen Akzeptanz besteht darin, daß der soziale Andere den All-Einzigen für verrückt, für größenwahnsinnig erklärt. Beides ist möglich, und beide Varianten kommen empirisch vor, wie sich an der Stirner-Rezeptionsgeschichte und den darin artikulierten Individualidentitätsangeboten – beispielsweise des Genies oder Propheten einerseits, des Paranoikers andererseits – exemplarisch zeigen läßt. Das vorliegende Kapitel behandelt die Frage, wie diese prekäre sozialdimensionale Asymmetrie stabilisiert wird und sich individualitätssemantisch in charismatischen Individualidentitätsangeboten wie dem des Führers, Propheten, Genies u. ä. artikuliert. Der Charismatiker ist der Inbegriff eines All-Einzigen, der in seinem Anspruch auf eine außergewöhnliche, allen anderen Individuen überlegene, ‚übermenschliche‘ und ‚außeralltägliche‘ (M. Weber) Individualität von sozialen Anderen bestätigt wird, die ihn deswegen verehren, sich ihm unterwerfen und ihm folgen. Der sozial erfolgreiche All-Einzige läßt sich also auf der Ebene semantischer Individualidentitätsangebote als Charismatiker bezeichnen, wobei ‚sozialer Erfolg‘ sich prinzipiell auf die – auch zeitlich und sozial limitierte – Stabilisierung der der All-Einzigkeit eingeschriebenen sozialdimensionalen Asymmetrie bezieht. Der soziale Erfolg all-einziger, grandioser Selbst-Präsentationen, also die Akzeptanz des All-Einzigen durch den sozialen Andern, ist – ebenso wie die Attraktivität der all-einzigen Position selbst – vor dem Hintergrund des im vorigen Kapitel beschriebenen Kränkungs- und Entzauberungs-Szenarios durch ihre eskapistische Bedeutung bedingt, und zwar auch durch die narzißtischen Gratifikationen, die in dieser Akzeptanz zugleich dem sozialen Anderen versprochen werden, der den Anspruch des Charismatikers bestätigt und sich diesem unterwirft – etwa als Verheißung einer Wiederverzauberung der Welt und einer Zentralposition im Fokus der Aufmerksamkeit eines grandiosen, allmächtigen, gottgleichen Wesens, als das der all-einzige Charismatiker erscheint. Im Folgenden werden einige hierfür einschlägige

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III. Narzißmus und Charisma

und auch Stirner-rezeptionsgeschichtlich relevante Beispiele aus der Zwischenkriegszeit vorgestellt. In den dann folgenden Abschnitten des vorliegenden Kapitels wird der theoretisch skizzierte Zusammenhang zunächst charismasoziologisch und narzißmuspsychologisch betrachtet (2. und 3.); die darin sozialpsychologisch gewonnenen Erkenntnisse werden sodann für die wissenssoziologische Analyse charismatischer Individualidentitätsangebote und ihrer sozialen Konstruktionsbedingungen kommunikationstheoretisch rekonstruiert (4.). a) Soziale Phänomenologie und ideologische Affinitäten der Inflationsheiligen-Szene Das Phänomen der „Inflationsheiligen“, die Ulrich Linse in seinem Buch Barfüßige Propheten. Erlöser der zwanziger Jahre als „Ausschnitt aus dem bunten Spektrum des Weimarer Sektenwesens“ untersucht,7 bietet ein illustratives Beispiel für das charismatische Erscheinungsbild sozial erfolgreicher All-Einzigkeit. Diese „öffentlich redende[n] oder schreibende[n] Wanderpropheten“ (S. 54), meist langhaarigen und patriarchenbärtigen „Gurus“ (S. 25) und „Wanderheilige[n]“ (S. 35) mit typischerweise kragenlosen Hemden, mönchsartigen Kutten und ‚Jesuslatschen‘ (vgl. S. 59), die sich in ihren Reden und ihrem ostentativ deklassierten „Lebensstil, zu dem das Übernachten im Graben der Landstraße oder im Wartesaal der Eisenbahn ebenso gehörte wie das Essen in den Volksküchen“ (S. 49) als messianische „Wahrheitsmenschen“ (S. 50) und „Geistesrevolutionäre“ (S. 57) inszenierten, waren in ihrem „Ich- und Führerkult“ (S. 42) und ihrer programmatischen, die Grenze zum Pathologischen regelmäßig überschreitenden individuellen „Selbstüberhebung“ (S. 65) maßgeblich auch durch Stirners Einzigen inspiriert.8 Diesen Kult um ihre eigene Person kleideten sie ideologisch in lebensreformerische, anarchokommunistische, völkische, ‚christ-revolutionäre‘, nationalistische, individualanarchistische und andere antibürgerliche Motive ein (vgl. S. 36 ff., 44 ff.). So zeigten die Inflationsheiligen beispielsweise eine besondere Vorliebe für die Hakenkreuzsymbolik – gerne auch in ‚hakenkreuzlerkommunistischer‘ Verbindung mit Sowjetstern, Hammer und Sichel9 – und sahen sich in ideologischer Frontstellung gegen die als ideelles und materielles Elend empfundene, im als ‚westlich‘ und ‚bürgerlich-kapitalistisch‘ verhaßten Weimarer ‚System‘ verkörperte Moderne. Auch deswegen, insbesondere 7

Linse (1983), S. 23. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich im vorliegenden Abschnitt ebenfalls auf Linses Buch. 8 Zu Stirner vgl. Linse (1983), S. 30, 45, 53, 235; vgl. auch S. 53 f., 64 ff. 9 Vgl. Linse (1983), S. 38 ff., 154, 181, 226.

1. Individualitätssemantischer Eskapismus

135

aber wegen ihres chiliastisch eingefärbten „Ichkults“ (S. 65, vgl. S. 53), ihrer „egomanische[n] Selbstvergötterung, die nur zu leicht in den paranoiden Wahn von Macht umkippen konnte“ (S. 53), bezeichnet Linse die Inflationsheiligen, deren „Subkultur“ (S. 25) mit zeitweise Tausenden von Anhängern insbesondere in den durch „das dreifache Krisenerlebnis von Krieg, Revolution und Inflation“ (S. 47) geprägten Anfangsjahren und dann nochmals zum Ende der Weimarer Republik florierte, als „Mutanten des Typus Hitler“ (S. 38). „Hitler war tatsächlich in vielem nur eine Mutante des Typus Inflationsheiliger. Zunächst selber ein Wanderprophet, fand er auf die gleichen sozialen und spirituellen Ängste der Zeitgenossen ähnliche Antworten wie die Inflationsheiligen: Unübersehbar ist der gleiche Kult der erlösenden heroischen Führerpersönlichkeit“, die sich ebenso in Hitlers Stilisierung zum von der ‚Vorsehung‘ gesandten „deutsche[n] Messias“ zeigt (S. 40) wie in den chiliastischen Entwürfen, die um die Inflationsheiligen als heilsbringende „Tatmenschen“ (S. 180) und „bewußtseins- oder geistrevolutionäre“, leibhaftige Erlöser zentriert waren (S. 32), die eine neue Zeit einleiten, in der die Nöte und Bedrängnisse der Gegenwart durch die „totale Erneuerung des Menschen von innen her“ (S. 36) überwunden sind, und an deren Erlösungswerk teilhaben und von diesem bereits jetzt profitieren kann, wer sich ihnen als gläubiger Jünger, bzw. gläubige Jüngerin – ca. 40% der den „Wahrheitsmenschen“ folgenden „Wahrheitssucher“ (S. 50) waren ‚Wahrheitssucherinnen‘ – anschließt.10 „Hitler wie die Inflationspropheten verdammten die Parteiwirtschaft und das alte, abgewirtschaftete System der ‚Syphilisation‘; in der millenarischen Wende wurde das Neue repräsentiert durch die Autorität des charismatischen Führers, in dem die Anhänger ihre Sehnsüchte und Frustrationen aufgehoben sahen. [. . .] Die meisten politischen Argumente Hitlers und der Inflationsheiligen waren bei aller äußerlichen Unterschiedlichkeit (die Heiligen propagierten weder den Antisemitismus noch die Forderung nach neuem Lebensraum im Osten) in ihrem absoluten Willen begründet, wobei dieser Wille überhöht wurde zu einem umfassenden metaphysischen Gesetz.“ (S. 41 – H. i. O.) In beiden Fällen wird das „absolut gesetzte[] Ich eines Führers“ zur einzigen, für alle anderen Individuen maßgeblichen Quelle von Wahrheit, Recht, Ordnung und Heilsgütern (S. 42). Angesichts solch all-einziger Ausschließlichkeitsansprüche erstaunt es nicht, daß die Inflationsheiligen nicht nur, bei aller Verbundenheit innerhalb der „Szene“ (S. 23, 25), zueinander in Konkurrenz standen,11 sondern auch Hitler als Rivalen betrachteten (vgl. S. 38 f., 229), dessen messianischer Anspruch also, wie Linse bemerkt, „so singulär nicht war“ (S. 40). 10 11

Vgl. Linse (1983), S. 32 ff., 41 ff., 50 ff., 56 ff., 179 ff. Vgl. Linse (1983), S. 23 ff., 172, 201 ff., 226.

136

III. Narzißmus und Charisma

Der in eigenwilliger Weise am Vorbild des „autonomen Stirnerschen Ichs“ (S. 45) orientierte „Ichkult“ der Inflationsheiligen, in dem diese ihre großartige Individualität feierten und ihren Gefolgschaften zur Verehrung darboten, war das „wesentliche Kennzeichen“ dieser selbsternannten „Gottes-Egoisten“ (S. 53, vgl. S. 235). In ihrem individuellen Auserwähltheitsglauben und politisch-religiösen Sendungsbewußtsein, in dem sie sich zu alles überragenden Wendepunkten der Menschheitsgeschichte imaginieren, konkretisiert sich All-Einzigkeit zu einem potentiell charismatischen Individualidentitätsangebot. Im Lichte der oben dargestellten Modernitätsbefunde wird dessen prinzipielle Attraktivität und die darauf gründenden Chancen, daß Individuen nach diesem Individualidentitätsangebot als ‚Charismatiker‘ sozial erfolgreich sind, ersichtlich. Die Anziehungskraft des all-einzigen Individualidentitätsangebots des Charismatikers erklärt sich aus dessen eskapistischen, spezifisch kränkungsregressiven Implikationen und den generell damit verbundenen narzißtischen Gratifikationen. Wenn etwa der christ-revolutionäre „Johannes der Jugend“ Max Schulze-Sölde12 von sich behauptet (S. 129): „Ich bin ein großes Gestirn und viele Sterne werden ihre Bahnen um mich ziehen“, dann spricht daraus nicht nur, wie Linse bemerkt, der „nackte Größenwahn“ (S. 138), sondern auch das diesem zugrunde liegende, kränkungsregressive Bestreben einer Rezentrierung des Kosmos um die eigene, großartige Individualität und der Anspruch, hierfür Verehrung und Gefolgschaft zu finden. Individueller Auserwähltheits- und Sendungsglaube verbinden sich hier in exemplarischer Weise mit einem millenaristischen Zeitwendebewußtsein zum Ich-Kult des charismatischen Führers und Heilsbringers, wie auch weitere Selbstauskünfte Schulze-Söldes zeigen: „Ich behaupte, einer von denen zu sein, die Gott dazu ausersehen hat, den Menschen die ewigen Gesetze wieder zu verkünden, ich behaupte, daß wir tatsächlich uns den Zeiten nähern, in denen alles erfüllet werden soll, ich behaupte, die Stelle zu kennen, an der Satan verwundbar ist, ich behaupte, den Schlüssel zu haben, der uns das Paradies öffnet. Ich weiß, daß [. . .] ich zum Führer ausersehen bin, daß ich voran gehe und den anderen als Wegweiser dienen soll.“13 Zum ‚Führer‘ und ‚Wegweiser‘ fühlte sich auch Schulze-Söldes vier Jahre jüngerer Kollege Friedrich Muck-Lamberty, der „Messias von Thüringen“, berufen, der mit seiner „Neue[n] Schar“ (S. 97), mitunter von „Tausende[n]“ begleitet (S. 100), durch die Lande zog und „damals tanzend ganze kleine thüringische Städte durcheinanderbringt“,14 indem er sich in Kirchen und an anderen öffentlichen Orten in Ekstase predigt und die 12 13 14

1887–1967. Schulze-Sölde, zit. n. Linse (1983), S. 138, vgl. S. 129 ff. Mohler (1994 I), S. 361.

1. Individualitätssemantischer Eskapismus

137

Marktplätze in Stätten massenhaften und tagewährenden „Tanztaumel[s]“ verwandelt (S. 103, vgl. S. 97 ff.). Muck-Lambertys Vorstellung von der Wahrnehmung seiner heilsgeschichtlichen Pflichten ging aber noch darüber hinaus. Er propagierte die „Idee der Heilandszeugung“ (S. 74), der zufolge Erlösung durch die baldige Geburt eines ‚völkischen Christus‘ nahe, und beanspruchte damit zugleich für sich die Verantwortung und das Recht, durch die breit gestreute Proliferation seines Erbgutes die Ankunft des Erlösers biologisch vorzubereiten (vgl. S. 114 ff., 169). Anläßlich einer behördlichen Prüfung von Vorwürfen, „Muck [. . .] führe eine ‚Haremswirtschaft‘“, wurde dann auch festgestellt, „daß Muck bereits von einer verheirateten Frau ein Kind hatte, daß er wieder von einem Mädchen der Schar ein Kind erwartete und sich inzwischen erneut mit einer anderen Anhängerin eingelassen hatte. Auch soll er bei der Neugründung des völkischen Jungdeutschen Bundes auf der Burg Lauenstein (9. bis 12. August 1919) an mehrere Mädchen herangetreten sein, ‚um sie zu bewegen, daß sie sich ihm hingäben, er hätte vom Schicksal den Auftrag, mit einem blonden Mädel den deutschen Kristus zu zeugen‘.“ (S. 119 f.) In derartigem ‚Erlösungswerk‘ erkannte auch der von der – im übrigen generell zu Promiskuität neigenden (vgl. S. 54) – Inflationsheiligen-Szene als „Vater“ verehrte „Geistige Monarch“ (S. 156, vgl. S. 55) Ludwig Christian ‚Louis‘ Haeusser15 einen wesentlichen Teil seiner heilsgeschichtlichen Mission (vgl. S. 169 ff.). Linse berichtet unter Berufung auf die Auskünfte Emil Leibolds, eines „der ergebensten Jünger Haeussers“, der dann „als ‚Heiland vom Horeb‘ in des ‚Vaters‘ Fußstapfen“ trat (S. 169), wie Haeusser überall, wo er „auf seinen Reisen hinkam, [. . .] Jagd auf willfährige Frauen [machte], die er mit seinen ‚Bordellpraktiken‘ (Leibold) beglücken konnte. Dabei zerstörte er so manche Ehe und Familie, was er damit rechtfertigte, daß alle fleischlichen oder legalen Bindungen vor ihm, dem Geist, keine Bindekraft mehr besäßen. Allmählich entstand so ein regelrechter ‚Groß-Okkult-Weiber-Harem im ganzen Reich‘ (Leibold).“ (S. 169) Dies scheint zunächst mit Haeussers öffentlichem Auftreten als „Keuschheitsapostel“ unvereinbar (S. 247). Ideologie-intern wird aber der Widerspruch unter Berufung auf die absolute ‚Reinheit‘ aller Worte und Taten Haeussers aufgelöst. Schulze-Sölde berichtet, wie Haeusser sich rechtfertigt, als 1921 „ruchbar geworden [ist], daß er eine seiner Jüngerinnen in einer Weise von ihren Sexual-Nöten zu erlösen versucht hatte, die in krassestem Gegensatze stand zu der heiligen Keuschheit, mit welcher der Nazarener die Magdalena geheilt hatte. Er schien aber vollkommen reinen Herzens gehandelt zu haben, der Prophet. Jedenfalls war er selber es gewesen, der den unglaublichen Mut besessen hatte, das ihn belastende Schriftstück zu veröffentlichen. 15

1881–1927.

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III. Narzißmus und Charisma

Dem Sturm der Entrüstung antwortete er seelenruhig: ‚Das ist meine heiligste Handlung gewesen. Ich bin der Reine. Ich kann keine unreine Handlung begehen. Ich bin das Meer. Ich nehme all euren Schmutz in mich auf.‘“16 Was der Charismatiker tut und sagt, ist per se gut und wahr, weil er, und nicht eine andere Person, der Urheber ist. Dies ist ein wichtiges Merkmal der unten zu analysierenden ‚charismatischen Kommunikation‘. Damit eng verbunden, läßt sich an Haeussers Verwendung der Unterscheidung ‚rein vs. unrein‘ – um die sich, wie noch näher zu betrachten sein wird, generell das für die charismatische Vergemeinschaftungsform der Sekte typische Selbstverständnis bildet – auch die für den All-Einzigen typische Selbstexemption illustrieren: Was für den All-Einzigen aufgrund seiner besonderen Individualität gilt, gilt für die Anderen deswegen noch lange nicht – und umgekehrt; quod licet Iovi non licet bovi.17 Folgerichtig konnte also, mit Blick auf den dargestellten Aspekt Haeusserschen Wirkens, auch eine „Nacht mit Haeusser keine Sünde sein – ganz im Gegenteil: Haeusser beteuerte immer, daß ‚der Vollendete‘ nichts weiß von Geschlechtlichkeit: ‚Sein Glied kann in voller Reinheit und Kindlichkeit zum Niederlegen des Samens dienen, ohne daß unlautere Begierde und unreine Wünsche dabei unterlaufen (was bei dem Reinen, der nur die Werke des Geistes tut, gar nicht in Gedanken kommt).‘ Den Frauen redete er ein, daß sie gereinigt und geheiligt aus dem Verkehr mit ihm hervorgingen: Selbst da, wo der Geschlechtspartner noch von der Begierde getrieben sei, ‚würde sie durch Meine vollkommene Reinheit und Unberührbarkeit ertötet werden.‘ Hier spiele sich nichts anderes ab als die ‚Empfängnis durch den Heiligen Geist‘.“ (S. 170) Diesem zu kosmischer Egozentrizität aufgeblähten, megalomanen Selbstverständnis gemäß gab sich der all-einzige Haeusser auch gerne Beinamen wie „ChristusHaeusser“, „Antichrist-Haeusser“, „Napoleon-Haeusser“ oder „DionysiusHaeusser“ (S. 30).18 16

Schulze-Sölde, zit. n. Linse (1983), S. 54; vgl. S. 171 f. In der Zeit seiner ersten Offenbarungserlebnisse, 1917, soll Haeusser sich mit dem Gedanken geplagt haben: „Wenn du nicht verrückt bist, dann mußt du die ganze Welt für verrückt erklären.“ (Zit. n. Linse (1983), S. 161). 18 Mit einer im Vergleich zu Haeussers Göttlichkeits-Anspruch fast bescheiden sich ausnehmenden, jedenfalls aber ähnlichen und strukturell analogen Masche kam der Haeusser-Jünger und -Epigone Leonhardt Stark zum gleichen Ziel. „Ebenso wie Haeusser betrieb Stark bewußt die Zerstörung von Ehen. Er rechtfertigte dieses Verhalten damit, daß er, der ‚Vollendete‘, seinen Geschlechtsdrang in der ‚Wollust des Geistes‘ zur Heilstat gebrauche: ‚[. . .] Wie dem Dr. med. für Geschlechtskrankheiten Quecksilber, Spritzen, Instrumente dienen, so dient Mir, dem Arzt der großen, tiefen jahrtausendealten Geschlechtskrankheit, Mein Geschlechtsorgan. Bei einem Dr. med. der Wissenschaft ist es Euch begreiflich, daß er als Arzt, also nicht geschlechtlich empfindend, nicht als Geschlechts-Gattungswesen die geschlechtskranke Frau behandelt. Aber bei mir, dem Dr. med. des Geistes, da haltet ihr es nicht für möglich, daß ich nur als Arzt, nicht als Geschlechts- und Gattungswesen, daß Ich 17

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b) Selbstdarstellungen und Machenschaften leibhaftiger All-Einziger: Haeusser und Konsorten Beim aufgrund persönlicher Offenbarungs- und Berufungs-Erlebnisse in den Weltkriegsjahren vom Sekt-Fabrikanten zum Sekten-Führer avancierten Louis Haeusser19 – wie auch bei Epigonen und vormaligen Jüngern wie Franz Kaiser oder Leonhard Stark (vgl. S. 201 ff.) – ist der inflationsheiligentypische, stirnerianische Ich-Kult sowohl der all-einzigen Struktur nach als auch in den ideologisch-programmatischen Verlautbarungen besonders deutlich ausgeprägt. Sehr stirnerianisch predigte Haeusser beispielsweise: „Der Staat besteht aus Einzelnen, aus Dir und mir und vielen anderen. Revolutioniere Dich, auf daß es mit Dir besser werde, so ist einem Teil des Staates geholfen“.20 Diesen, dermaßen ‚bewußtseinsrevolutionär‘ bereinigt, gedachte er selbst in seiner individuellen Grandiosität als „Volkskaiser“ (S. 179) in einer „Diktatur der Wahrheit“ (S. 178) zu neuer Größe zu führen. Als all-einziger „Wahrheitsmensch“ (S. 166) behauptet er von sich: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben, die Auferstehung, der Übermensch und der – Gute Hirte“,21 und in all dem derjenige, auf den die Menschheit wartet, um erlöst zu werden. So plakatiert er u. a. in Stuttgart: Geist-Schaffender nur um des Gottes-Willen mit dem Weib geschlechtle. Aber was bei den Menschen unmöglich, das ist bei Mir selbstverständlich. [. . .]‘“ (Linse (1983), S. 224 – H. i. O.). Die letzte Wendung verdeutlicht nochmals die typische selbstexemptionelle Grundstruktur der All-Einzigkeit. Um die Lauterkeit seiner Absichten auf sexuellem Gebiet zu beglaubigen, stilisierte der selbsterklärte „König der Frauen“ Stark sich also, wenn schon nicht wie Haeusser zum Gott, so doch zumindest zum Halbgott – ‚in weiß‘. Wie erfolgreich Stark mit dieser Strategie war, belegt der „Brief des dupierten Ehemannes Frithjof Westphal-Schlicht an einen Leidensgenossen von Ende 1922“ (S. 224), in dem dieser schreibt, Stark habe „hinter meinem Rücken meine Frau derartig beeinflußt [. . .], daß sie [. . .] des Nachts wie ein Hund an sein Bett kroch und um geschlechtliche ‚Begeistung‘ bettelte. [. . .] Stark hat sie dann, – trotzdem er mit seiner Frau im Bett lag – begeistet! – Ich lag im anderen Bett in demselben Zimmer! [. . .] Stark (. . .) lebt nun in Regensburg mit meiner Frau, die für ihn der Inbegriff des Weibes ist – ihretwegen hatte er seinerzeit der Clara einen Fußtritt gegeben, – aber Clara ist dann wieder zurückgekommen zu ihm, – weil sie ihn jetzt ‚versteht‘! In einem Brief an ihn schrieb sie: ‚Alle Frauen auf der ganzen Welt müssen noch durch Dich großen Mann hindurchgehen – um von Dir erlöst zu werden!‘ – Wenn das nicht Wahnsinn ist, so weiß ich nicht! (. . .) Hier in Berlin war große Empörung, er hatte hier nur 5 Frauen ‚begeistet‘. – Aus Köln und München hörte ich ähnliches [. . .]‘“ (Westphal-Schlicht, zit. n. Linse (1983), S. 224 f. – H. i. O.). Die Episode gibt zugleich einen Vorgeschmack auf die antisoziale Struktur der All-Einzigkeit und die pathologischen Aspekte auch ihres sozialen Erfolges. 19 Vgl. Linse (1983), S. 156 ff. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich im vorliegenden Abschnitt weiterhin auf Linses Buch. 20 Haeusser, zit. n. Linse (1983), S. 176 – H. i. O. 21 Haeusser, zit. n. Linse (1983), S. 174.

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„Diesen Mann der Zeitenwende haben die Menschen in Mir erkannt! Deshalb strömen sie mir zu! [. . .] Aufbauen und ‚Neue Werte‘ auf ‚Neue Tafeln‘ zu schreiben ist Mir vorbehalten. In Tübingen erklärte Ich den Professoren, daß Ich und nur Ich der Welt ihr neues Maß, ihre neue Richtung und ihren neuen Stempel aufdrücken werde! – Lachet oder glaubet! So wird es!!! [. . .] Eine wichtigere Sache als die Meinige, die die Welt retten wird, gibt es für die Menschen in dieser Stunde nicht!!!“22 Und die Verbindung von größensüchtigem Ich-Kult, Sendungsbewußtsein und Reinheitswahn mit nationalistisch-chauvinistischen und republikfeindlichen Tendenzen dokumentiert ein Brief Haeussers vom Februar 1922, der zugleich auch in seiner eigentümlichen Form etwas vom ‚hypomanischen Charakter‘ eines Inflationsheiligen wie Haeusser offenbart (vgl. S. 64 ff., 156). Hier „posiert er ganz als deutscher Herkules: ‚Ich bin der Herkules – der den Alphafluß in den Deutschen Augias-Stall hineinleitet. – Ich will unser Volk vom Schmutz seiner Flauheit, – Feigheit, – Faulheit, – Lauheit reinigen! Ich will – oh! Du Mein Wille! – Du – In Mir Du Heiliger – Ich will ein Großes und ein Starkes und Gewaltiges – ein Sauberes – Stolzes – Kühnes – Frohes – Freies – – – Volk – – – ein Volk aller Völker, ein Volk, – Herr – über Völker! – Und Ich – Ich will diesem Volke Führer sein!‘“ (S. 174 – H. i. O.) Entsprechende all-einzige Größenphantasien verbalisieren – mit im Vergleich zu Haeusser mäßigem, aber keineswegs ohne Erfolg – Franz Kaiser23 und der sechs Jahre jüngere Leonhard Stark. Kaiser faßte im „Dezember 1924 [. . .] in einem langen Brief an seine Anhänger den Inhalt seiner politischen Mission zusammen. Er beginnt mit den apokalyptischen Zeitzeichen“ (S. 208), dem Schrecken und Massensterben des Weltkrieges, der Orientierungslosigkeit und Verkommenheit, dem Not und Elend der Nachkriegszeit, und bringt dann, ein neues, großes, einiges Deutschland prophezeiend, sich selbst ins Spiel, als den „Eine[n] starken gewaltigen Führer, der 90 Prozent der Kriegsschulden streichen kann und den Rest aus den Beständen der Geldgewaltigen zahlen kann, weil er das gesamte Volk hinter sich hat. Ich bin Dieser Führer, der alle Parteien zerschlägt und das Volk einigt. Die Zerrüttung(en) innerhalb der Parteien sind Meine Werke. [. . .] Ich bin dieser selbstlose Führer, der das geistige Maß und die geistige Macht hat, die heute nötig sind, um alles Faule und Korrupte kalter Hand abzuschneiden.“24 Und Stark, der bereits 1920 in einem, später als Flugblatt verbreiteten Brief an Haeusser mit den Worten „Mich um mich selbst drehend, wird meine eigene Sonne erstehen. [. . .] Ich will mein eigener Führer und Vater sein“ gegen dessen „Meisterschaft“ opponiert,25 um bald darauf auf eigene 22 23 24

Haeusser, zit. n. Linse (1983), S. 166 – H. i. O. 1888–1972. Kaiser, zit. n. Linse (1983), S. 208.

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Rechnung als Heiland aufzutreten, spricht dementsprechend von seiner eigenen „göttliche[n] Berufung“.26 In Dortmund beispielsweise präsentiert er sich einer Volksversammlung als „der Mann, den nicht allein Sie, den alle Welt sucht. [. . .] [I]ch bin kein anderer als der rechtmäßige Nachfolger, geistige Erbe und Vollstrecker aller jener Menschenwunder zusammengenommen“ – von „Christus“ bis zu „Nietzsches Zarathustra“ – „deren Namen ich so höflich war, voranzustellen. Von mir gehen ungeahnte geistige Kräfte aus!“27 An kosmisch aufgeblähtem Egozentrismus und Größensucht standen die All-Einzigen Kaiser und Stark ihrem früheren ‚Meister‘ Haeusser in nichts nach, ebensowenig wie dessen „Antipoden Adolf Hitler“,28 mit dem Stark, von dem diese Einschätzung stammt, Linses Auskunft zufolge um 1923 in einem „offenbar umfangreicheren Briefwechsel“ stand, der allerdings „verschollen“ ist (S. 226). Erfolgreicher in der sozialen Akzeptanz ihrer grandios-omnipotenten Selbstkonzeptionen waren allerdings – in Abstufungen – Haeusser und Hitler. Die für diese kosmisch-egozentrische All-Einzigkeit typische andere Seite ihrer imaginären Grandiosität bilden Vernichtungsphantasien, die die aufgrund ihrer Nichteinzigkeit strukturell minderwertigen sozialen Anderen zum Gegenstand haben und in denen die eigene Größe und Omnipotenz bestärkt und insbesondere die unbotmäßigen Nichteinzigen dafür bestraft werden, daß sie die grandiosen, allmächtigen Ansprüche des All-Einzigen nicht bestätigen. Auch hierin blieb Haeusser von seinen Schülern Stark und Kaiser unübertroffen, welch letzterer 1925 immerhin versprach, nach seiner Machtergreifung, „die Masten Untern Linden“ – gemeint ist der Berliner Boulevard Unter den Linden – „mit den Kadavern der Lasterhaften zu zieren“, der „Volksschänder und Schinder“, „Volksbetrüger und Ausbeuter“.29 Haeusser dekretiert bereits im Dezember 1922: „Wer den Geist der Wahrheit auch nur beleidigt, der muß [. . .] getötet werden. Auf Grund dieser Lehre werden keine Gefangenen gemacht! Wer in Wort und Schrift oder mit den Waffen gegen die Wahrheit – verkörpert in Mir und meinen Streitern – vorgeht, wird ohne Verhör hingerichtet. [. . .] Sofort nach der Ausru25

Stark, zit. n. Linse (1983), S. 201 – H. i. O. Stark, zit. n. Linse (1983), S. 219. – Kaiser wiederum kam, um Haeusser zu übertreffen, „sogar auf die Idee, seinem ‚Vater Haeusser‘ mit Nacktfotos Konkurrenz zu machen (leider ist keines erhalten!), weil er schöner als Haeusser sei – und im Hinblick auf dessen starke Körperbehaarung fügte er hämisch hinzu: ‚Als wenn die Wahrheit, der Vollendete unbedingt einen häßlichen Leib, eine Affengestalt haben müßte. Warum soll der vollendete Mensch nicht auch wohl gebaut sein können. Nicht jeder schöne Leib ist Zerfall, Mein Freund Lou. [. . .]‘“ (Linse (1983), S. 209; vgl. S. 173 für ein Nacktfoto Haeussers). 27 Stark, zit. n. Linse (1983), S. 218 f. 28 Stark, zit. n. Linse (1983), S. 226. 29 Kaiser, zit. n. Linse (1983), S. 208. 26

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fung Meiner Person als Volkskaiser des Reiches sind in allen Gefängnishöfen und allen öffentlichen Plätzen Guillotinen zu errichten. – Jeder Widerstand, in welcher Form er sich auch manifestiere, wird unnachsichtlich durch die Guillotine gesühnt.“30 Haeusser denkt sich seine „Diktatur der Wahrheit“ als „Vernichtung des Unreinen [. . .] – des Gegners, Sünders, des Andersdenkenden“, der sich seinem großartigen Allmachtsanspruch widersetzt (S. 177), und schwelgt in blutigen „Säuberungsphantasien“ (S. 178): „Blut! Blut! Blut! Blut! Blaues Blut! Schwarzes Blut! Rotes Blut! Blut in allen Farben! Blut bis zum Weiß-Bluten! Nur Blut! Nichts als Blut! Nochmals Blut! Wieder Blut! Kaltes Blut! Fließendes Blut! Heißes Blut! Blut! [. . .] Ich bin der rechte Blut-Wind! – Blut-Hund! – Blut-Sturm! Blut – – – Blut – – – Blut – – – Blut – – – Blut soll fließen, Blut muß fließen, Blut wird fließen! In allen Rinnsteinen wie nach einem Wolkenbruch wird das Blut sich anstauen! (. . .) Denn wir haben bald Metzelsuppe! Ein Schlachtfest, bei dem Schweine in Menschengestalt zu Millionen abgeschlachtet werden, steht vor uns! [. . .] Das Jüngste Gericht – das Reich Gottes – die Herrschaft des Geistes – die Diktatur der Wahrheit ist nahe herbeigekommen!“31 Bekanntlich blieb es, wie Linse treffend vermerkt, Hitler vorbehalten, „dem Blutrausch, in den sich Haeusser nur auf dem Papier hineinphantasierte, auch in der Wirklichkeit zu frönen.“ (S. 43) Neben Stirners ‚Einzigem‘ und anderen literarischen Vorbildern (S. 30) waren es Linse zufolge insbesondere der „Naturapostel“ Gusto Gräser32, „Urbild des wandernden Suchers und Gurus“ und als solcher „das Vorbild [. . .] aller ‚Inflationsheiligen‘ “ (S. 68 f.), sowie der „Oberdada“ Johannes Baader33, selbsternannter „Präsident des Erd- und Weltballs“ und „Leiter des Weltgerichts“, von denen Haeusser in seiner messianisch-megalomanen Selbstpräsentation Anregung bezog (S. 75). Bei Gräser hatte Haeusser seine Prophetenausbildung absolviert, bevor er sich ein Gut in Ascona, das ersterer von seinem verstorbenen Bruder geerbt hatte, betrügerisch aneignete, und es so zum Bruch kam (vgl. S. 71 f.). Abgesehen von diesem – bald darauf veräußerten – Gut, bezog Haeusser von Gräser den prophetischen Gestus samt Kleidungsstil, Haar- und Barttracht, wobei Haeusser zeitgenössischen Berichten zufolge ein alles in allem weniger ungepflegtes Erscheinungsbild abgab als Gräser.34 Gräser ging im Vergleich zu Haeusser und 30

Haeusser, zit. n. Linse (1983), S. 178 – H. i. O. Haeusser, zit. n. Linse (1983), S. 178 – H. i. O. 32 1879–1958. 33 1876–1955. 34 An Gräser erinnert sich ein Augenzeuge wie folgt: „Er war Vollblutvegetarier, hatte lange, wallende Christushaare, einen ebensolchen Voll- und Schnurrbart, trug eine Art Toga aus Sackleinwand auf dem Leib, die mit Holzstäbchen zusammengehalten war, darüber einen breiten Ledergürtel, darunter eine kurze Hose und an den 31

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den anderen Inflationsheiligen offenbar nicht nur ein gewisses Hygienebewußtsein, sondern auch deren sexuelle Zügellosigkeit und ostentative IchVerrücktheit ab (vgl. S. 74 f.). Letztere findet sich dafür in maßlos übersteigerter Form bei Baader, der, wie die meisten Berliner Dadaisten, entscheidend von Stirner geprägt,35 selbst als eine den Inflationsheiligen nahe verwandte Variante des leibhaftigen All-Einzigen anmutet: „Ab 1914 nannte sich Baader jedenfalls ‚Christus, das Medium der Alleinheit, Ich, der Ewige, der Gekreuzigte und Auferstandene, der da war, der da ist und der da sein wird, Ich der Ewige, der sich in viele teilt und einzig ewig der Einzige bleibt [. . .]‘“ (S. 75). Und 1919, als Haeusser gerade erst die GräserEpisode hinter sich gebracht hatte und aus der Schweiz abgeschoben worden war (vgl. S. 164 f.), klärte Baader in einem Reklame für mich betitelten Artikel die deutsche Öffentlichkeit über seine konstitutive Rolle bei der Schaffung einer „neue[n] Weltordnung [. . .] des Weltfriedens“36 auf und rief konsequenterweise gleich eine an den publizistischen Aktivitäten der Dadaisten und ihres „Oberdada“ Baader orientierte „neue Zeitrechnung“ aus.37 Dem „Präsident[en] des Weltalls“ Baader,38 der „wohl in Haeusser eine verwandte Seele gespürt, freilich auch den möglichen Rivalen erblickt haben [muß]“ (S. 78 f.), glich der designierte ‚Wahrheitsdiktator‘ und „Präsident der gereinigten Staaten von Europa“ sowohl in der individualanarchistischen Provokationslust mit ausgeprägtem Hang zur Publikumsbeschimpfung als auch in der Maßlosigkeit grandios-egomanischer Selbstüberhebung, und schließlich auch in den (auch im nichtübertragenen Sinne) plakativen Formen anmaßender „Selbstanpreisung“ und sensationsheischender „Eigenreklame“ (S. 75, vgl. S. 76 ff.). Füßen Ledersohlen, die er mit Spagatschnüren festgebunden hatte. [. . .] So sanft war er, daß er nicht einmal seine Läuse und Flöhe tötete; so völlig hatte er sich der Natur genähert, daß er wie eine Ziege stank. Er gab vor, sich nur in Quellwasser zu waschen, und da es in der Stadt keine Quelle gab, wusch er sich überhaupt nie.“ (O. M. Graf, zit. n. Linse (1983), S. 84) Einem psychiatrischen Gutachten ist zu entnehmen, wie Haeusser sich im Sommer 1920 in Wanderprediger-Outfit präsentierte: „Trotz der großen Hitze, es waren damals über 25 Grad im Schatten, trug er einen Pelzmantel, malerisch um die Schultern gelegt, aber keine Kopfbedeckung. Die Kleidung, die er sonst noch anhatte, war etwas schäbig, aber sauber, ebenso wie er sich körperlich völlig proper hielt. Einen Kragen trug er, wie auch seine Anhänger nicht (. . .). Das auf dem Scheitel etwas lichte Haupthaar trägt er in wallenden, langen, bis über die Schultern hängenden Locken, sorgfältig gebürstet und aufgelockert, und ein mächtiger, ebenso sorgfältig gepflegter Bart reicht bis zur Mitte des Leibes herunter. Das Gesicht ist fast ganz mit Haaren bedeckt, an den freien Stellen stark von der Sonne gebräunt.“ (Zit. n. Linse (1983), S. 166). 35 Vgl. Lehner (1988). 36 Baader (1919), S. 75. 37 Baader (1919), S. 73 f. 38 Baader (1919), S. 72.

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Während aber Baaders all-einzige Selbstdarstellung im artistisch-spielerischen Kontext des Dadaismus als zwischen ästhetisch-avantgardistischem Konventionsbruch und, gerade aufgrund ihrer absurd erscheinenden Zuspitzung, selbstironischer Brechung oszillierende Kunst rezipiert werden konnte und als solche anschlußfähig war, war es im Falle Haeussers unmißverständlich klar, daß es ihm mit seiner All-Einzigkeit bitter ernst war – so daß man ihn entweder für verrückt oder für einen wahren Propheten halten konnte.39 Diese Differenz, die Haeusser, Linse zufolge, „wie eine Karikatur 39 Linse legt nahe, daß im Grunde auch Baader derartige prophetische Ambitionen hegte, und auch seine dadaistischen Kollegen bescheinigten Baader, „leicht religiös wahnsinnig und vollkommen größenwahnsinnig“ zu sein (George Grosz, zit. n. Linse (1983), S. 75, vgl. S. 76 f., 81). Auch war ihnen, als sie ihn 1918 in Grosz’ Atelier zum „Oberdada“ ernannten, bekannt, daß er, wie Wieland Herzfelde berichtet, „im Besitz eines ‚Jagdscheines‘“ war, „der ihn der juristischen Verantwortung für sein Tun enthob“ (zit. n. Bergius/Riha (1977), S. 169, vgl. S. 170, 179) – „ein richtiger Verrückter“ also, wie Grosz bekräftigt (zit. n. Linse 1983: 75). Die vom psychiatrischen Standpunkt größenwahnsinnige oder sonstwie pathologische Selbstverlautbarung kann jedoch im Kunstsystem anders behandelt werden. Wer sich, wie Baader, als ‚Präsident des Weltalls‘ präsentiert und sich selbst wirklich dafür hält, kann das Pech – oder das Glück – haben, daß ihm niemand glaubt, daß er dies ernst meint, egal, wie oft er dies auch beteuert. Ob All-Einzigkeit also in diesem Sinne als ‚hypothetische All-Einzigkeit‘, als ‚All-Einzigkeit im Modus des Als-Ob‘ beobachtbar ist oder nicht, ist nicht einfach eine Frage der (psychisch-systemischen) Intention des betreffenden Individuums, sondern, kommunikationstheoretisch formuliert, des Verstehens der mitgeteilten Information: entscheidend ist die im Verstehen des Anderen erfolgende, kommunikative Zurechnung bzw. Unterstellung der individuellen Intention. Ebenso, wie subjektiv intendierte Ironie kommunikativ unbemerkt bleiben – und insofern mißlingen – kann, kann auch der umgekehrte Fall eintreten und das subjektiv-intentional Ernstgemeinte als ironisch verstanden werden. Die Folge ist einerseits, daß als all-einzig sich selbst beschreibende empirische Individuen in sozialen Kontexten, die derartige Selbstbeschreibungen als Hypothetische All-Einzigkeit, also als fiktive, nicht wirklich ernstgemeinte All-Einzigkeit verbuchen, inklusionsfähig sind, und andererseits, daß ihre all-einzigen Ansprüche auf Unterwerfung, Verehrung usw. gleichsam kommunikativ unschädlich gemacht werden und nicht sozial erfolgreich im Sinne der Durchsetzung und Stabilisierung jener sozialdimensionalen Asymmetrie zwischen Ego und Alter sind. Generell läßt sich sagen, daß All-Einzigkeit durch Ironisierung und (spielerische) Virtualisierung gebrochen wird – man denke beispielsweise, für eine spezifisch komische Variante, an Hynkels Tanz mit der Weltkugel in Chaplins „The Great Dictator“ – und kommunikativ in etwas ganz anderes verwandelbar ist, nämlich die Hypothetische All-Einzigkeit, die das Ego und Alter wechselseitig zugerechnete Wissen um die Fiktivität der sozialdimensionalen Asymmetrie und damit die sozialdimensionale Symmetrie der Je-Einzigkeit voraussetzt und die sich wegen dieses sozialdimensionalen Reflexionsniveaus auch als ‚inwendige Je-Einzigkeit‘ bezeichnen läßt. Hieran wird bereits ausschnitthaft deutlich, daß die moderne Gesellschaft auch jenseits ihrer psychiatrischen Einrichtungen – und nicht nur im Kunstsystem – hinreichend Kapazitäten für die Inklusion von vom psychopathologischen Standpunkt nicht einwandfreien Individuen zur Verfügung stellt, die so relativ unauffällig mit denjenigen Individuen, die

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Baaders“ erscheinen ließ (S. 81), bringt letzterer zum Ausdruck, wenn er 1923 über den ‚Seelenverwandten‘ sagt: „Das Zentralamt der dadaistischen Bewegung in Deutschland erkennt die Verdienste des Herrn Louis Christian Häusser um die gesamte Dadalogik rückhaltlos an. Es konstatiert nur einen Fehler an seinem Dadalogos: Er muß auch noch eine lustige Person werden. Nur der Humor kann die Welt erlösen.“40 Eine vom Inflationsheiligen-Szene-Kenner und Zeitzeugen Harry Wilde berichtete Anekdote von einem Haeusser-Auftritt im Weimarer Bauhaus (vgl. S. 57 f.) illustriert, wenn nicht die erlösende, so doch zumindest die subversive Kraft des Humors und dessen Macht, all-einzige Ansprüche zu brechen: „Der große Hörsaal war bis auf den letzten Platz gefüllt. Unten drängten sich die Schüler, in den oberen Reihen die geladenen Gäste. Haeusser sprach wiederum fast zwei Stunden, und seine Suada schlug auch diese Versammlung Intellektueller in seinen Bann. Als er geendet hatte, herrschte eine andächtige Stille, fast wie in einer Kirche nach der Predigt eines berühmten Gastpfarrers. (. . .) Eigentlich hätte jetzt eine Orgel spielen müssen. Aber es war keine vorhanden. Statt dessen tönte in die Stille hinein die schluchzende Frage einer Bauhausschülerin [. . .]: ‚Meister, wie kann ich werden wie du?‘ [. . .] Alle Augen richteten sich erwartungsvoll auf Haeusser. Was würde er sagen? War es nicht vermessen, dem ‚wiedergekehrten Christus‘ gleich sein zu wollen? Doch der ‚Meister‘ ließ sich mit seiner Antwort Zeit. Erst nach einer Pause breitete er seine Arme aus und hob den Kopf, als müsse er auf eine Eingebung von oben warten. Es war sehr attraktiv. Und dann geschah es! Statt Haeusser antwortete ein Schauspieler vom Nationaltheater, der sich irgendwie Einlaß verschafft hatte. Vom obersten Rang her rief er mit rollendem R in den Hörsaal: ‚Du willst wie der Meister werden? Dann mußt du dir einen Bart wachsen lassen und eine Kutte kaufen!‘ Die Wirkung war einzigartig. Einige lachten, und das wirkte ansteckend. Plötzlich wieherte der ganze Saal.“41 Wenn der falsche Prophet auch nie eine ‚lustige Person‘ sein kann, so läßt er sich doch zumindest in eine komische Figur verwandeln. Auch deswegen ist die Stabilität sozial erfolgreicher All-Einzigkeit und ihrer sozialdimensionalen Asymmetrie prekär. Zu leicht kann sie zum Gegenstand humoristischer Angriffe werden, und diese Relativierung ihrer kosmischen Egozentrizität verträgt sie nicht. Typischerweise erkennen All-Einzige und ihre gläubigen Anhänger im Humor auch den Feind.42 Die Bauhaus-Episode führt aber zugleich die erdie all-einzigen Aspekte ihrer Persönlichkeit im bewußt hypothetischen Modus verwirklichen, zusammenleben – solange sie nicht gesellschaftliche Positionen erlangen bzw. in soziale Strukturen geraten, die es ihnen erlauben, ihre All-Einzigkeit auszuagieren. 40 Baader, zit. n. Linse (1983), S. 81 – H. i. O. 41 Wilde, zit. n. Linse (1983), S. 58 f. – H. i. O.

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staunlichen sozialen Erfolgschancen von All-Einzigkeit vor Augen und läßt die magische Wirkung ihres Charismas erahnen; immerhin war Haeusser auf offizielle Einladung Walter Gropius‘ in Weimar, der 1920 in einem Brief insbesondere Haeussers „hypnotische Wirkung auf die Studentinnen“ hervorhebt (S. 58). Daß Haeusser es, anders als Baader, zweifelsfrei ernst meinte, machte ihn nicht nur zum gelegentlichen Ziel des Spottes und zeitweiligen psychiatrischen Beobachtungsobjekt,43 sondern brachte ihm auch ergebene Jüngerinnen und Jünger ein, die in gläubiger Hingabe seinen Anspruch auf AllEinzigkeit annahmen, bestätigten und verteidigten. „Es gelingt ihm 1919/ 1920, sich eine feste Gefolgschaft zu verschaffen – Menschen, die bereit waren, Familie und Besitz für ihn aufzugeben und ihm nachzufolgen. Sie klebten die Plakate, auf denen die Ankunft des ‚Wahrheitsmenschen‘, des neuen Christus angekündigt und in Riesenbuchstaben von ‚Urreinheit‘, ‚Vollendetsein‘ und ‚Ganzheit‘ geredet wurde. Sie standen aber auch an den Straßenecken und verteilten ‚zu Dutzenden ihre Flugblätter, in denen jeder Angriff einer Zeitung, jeder harmlose Brief an ihn oder einen seiner Anhänger mit geschickten, oft recht witzigen Entgegnungen abgedruckt war, um damit unter Ausnutzung von Neugier und Skandalsucht der Menschen Propaganda für sich zu machen‘.“ (S. 166) Wer an Haeusser glaubte, wußte sich kraft und gemäß dieses Glaubens auf der richtigen Seite, nämlich derjenigen des ‚Wahrheitsmenschen‘ und neuen Heilands. Einer Namensliste vom Oktober 1922 zufolge umfaßte Haeussers „engste[r] Anhängerkreis“ zu diesem Zeitpunkt „hundertachtundzwanzig ‚Narren in Christo‘“44 (S. 56), und in zeitgenössischen Printmedien wie der Neuen Berliner Zeitung oder der Leipziger Arena ist von „immer neue[n] Tausende[n]“ die Rede (S. 50), die in die überfüllten Hallen und Vortragssäle strömen, um Haeusser zu erleben (vgl. S. 170, 176 f.). Ein Eindruck vom Ausmaß seines weiteren Sympathisantenkreises läßt sich aus den Ergebnissen gewinnen, die Haeusser bei den Reichstagswahlen vom Mai und Dezember 1924 und bei den Reichspräsidentenwahlen des folgenden Jahres erzielte (vgl. S. 60 ff., 179 ff.). Um im Sinne seiner heilsgeschichtlichen Mission, die Geschicke des deutschen Volkes auch aktiv politisch in die Hand zu nehmen, hatte Haeusser im November 1922 die aus etwa zweihundert festen Mitgliedern 42

„Haeusser“, erinnert sich Wilde weiter, „begriff sofort, wie peinlich der Zwischenfall für ihn war, und überschüttete den Schauspieler mit einer Flut von nicht gerade sehr feinen Schimpfworten, die keinesfalls von heiligem Zorn zeugten.“ (Wilde, zit. n. Linse (1983), S. 59). 43 Vgl. Linse (1983), S. 25, 64 ff., 166, 174, 179, 195. 44 So nannte sich „der Haeusser-Anhang [. . .] in Adaption der von Hauptmann nach dem Korinther-Brief (1 Kor 4, 10–13) seinem Emanuel Quint gegebenen Beinamen“ (Linse (1983), S. 30).

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bestehende „Christlich-radikale Volkspartei“ gegründet, an deren Stelle 1924 dann der als „geistrevolutionäre“ Sammlungsbewegung von links- und rechtsradikalen Splittergruppen konzipierte und zeitweise von solchen auch unterstützte „Haeusser-Bund“ trat (S. 184, vgl. S. 180 ff.). Dieser konnte bei den Maiwahlen zwar nur weniger als ein Promille der insgesamt mehr als 29 Millionen gültigen Stimmen auf sich vereinen (vgl. S. 62, 186). Aber dies war gleichwohl ein beachtlicher Erfolg für einen – nach Einschätzung zeitgenössischer psychiatrischer Gutachter – ‚hypomanischen Psychopathen‘ (vgl. S. 64 ff.), der mit dem Versprechen für sich warb, „daß, wenn Ich, Haeusser erst mal mit Meinen Getreuen im Volkstempel-Reichstag Meine Stimme hören lasse, es mit dem Ausnützen, Auspumpen, Aussaugen des Volkes ein jähes Ende nimmt“,45 der damit den Wahlberechtigten „das Reich Gottes – Mein Reich“46 in Aussicht stellte und von sich behauptete: „Ich Bin geistiger Anarchist, geistiger Kommunist, geistiger Monarch, geistiger Diktator!! Darum kann Ich und nur Ich eine dauernde Herrschaftslosigkeit, einen dauernden Kommunismus, eine Allen gerecht werdende, für Alle erträgliche Herrschaft und Diktatur aufrichten!“47 Immerhin 24451 Haeusser-Wählerinnen und Wähler gaben ihm im Mai 1924 recht (vgl. S. 62). Gleichwohl war dies wenig im Vergleich zu dem Zuspruch, die die republikfeindlichen Parteien, auf deren Wählerschaft auch der HaeusserBund gehofft hatte, mit insgesamt über einem Drittel der abgegebenen Stimmen erzielt hatten, wenig auch gemessen an Haeussers Erwartung, mit hundert und mehr Abgeordneten in den Reichstag einziehen zu können (vgl. S. 185 f.). Und es wurde noch weniger bei den Dezemberwahlen des gleichen Jahres, als auf den Haeusser-Bund republikweit nur noch 9734 von nun über 30 Millionen abgegebenen Stimmen entfielen (vgl. S. 63, 188). Als Haeusser dann 1925 Reichspräsident werden wollte, verfielen die auf ihn abgegeben Stimmen als ungültig, weil seine Nominierung als Kandidat aufgrund mangelnder Unterstützerzahlen nicht anerkannt worden war (vgl. S. 188). Bekannt ist allerdings, daß er in Hamburg, einer seiner Hochburgen, im ersten Wahlgang mit 43 Stimmen nur zehn Stimmen weniger erlangte als Hindenburg, der dann im zweiten Wahlgang den Sieg davontragen konnte (vgl. S. 63). Insgesamt zeigt das bizarre Phänomen der Inflationsheiligen, daß Ansprüche auf All-Einzigkeit, wie diese sie artikulierten, die Chance auf – wenn auch prekären – sozialen Erfolg in der sozialphänomenologischen Form von Sekten und vergleichbaren charismatischen Führer-Gefolgschaftsbeziehungen haben, in denen sich die sozialdimensionale Asymmetrie stabilisiert. 45 46 47

Haeusser, zit. n. Linse (1983), S. 186. Haeusser, zit. n. Linse (1983), S. 185. Haeusser, zit. n. Linse (1983), S. 182 – H. i. O.

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III. Narzißmus und Charisma

Der soziale Erfolg läßt sich im Falle Haeussers – wie auch mutatis mutandis der anderen Inflationsheiligen – analytisch daran festmachen, daß dieser, erstens, über eine engere Gefolgschaft verfügte, die an seine Größe glaubte; zweitens über zeitweilige Bundesgenossen, die ihn als politischen Führer ernstnahmen; und drittens über einen weiteren Kreis von Sympathisanten, die ihn wählten und ihm bei seinen Reden zuströmten. Die soziale Begrenztheit der Gefolgschaft, die kurze Dauer der Bündnisse und die vergleichsweise geringe Zahl der Sympathisanten ändern nichts daran, daß Haeusser mit seinem Größenwahn über das Stadium der Isolation hinausgekommen ist; sein all-einziger Anspruch, die Verkörperung des Einzigen als Heiland und Führer zu sein, wurde von sozialen Anderen akzeptiert und insofern sozial erfolgreich artikuliert, und die damit verbundene sozialdimensionale Asymmetrie wurde zeitweilig in einem begrenzten Rahmen stabilisiert und charismatisch wirksam. In größerem Maßstab trifft dies alles in bemerkenswerter Weise auch auf Hitler zu. Vergleicht man also diesbezüglich den Stirner-rezeptionsgeschichtlich einschlägigen Fall der Inflationsheiligen mit ihrem letztlich historisch erfolgreicheren und folgenreicheren Kollegen, Rivalen und potentiellen Bundesgenossen aus Braunau, so sind unter dem Aspekt des sozial erfolgreichen individuellen Größenwahns die Unterschiede, strukturell betrachtet, nicht qualitativer, sondern gradueller Art. Grundsätzlich läßt sich in diesen beiden, aber auch in anderen, sozialphänomenologisch von Haeusser und Hitler weit entfernten Fällen die Präsentation einer aufgrund der von ihr beanspruchten Omnipotenz und Grandiosität all-einzigen Individualität beobachten, die sich durch ihren sozialen Erfolg als Individualidentitätsangebot des Charismatikers darstellt. Der systematische Stellenwert der Überlegungen zum Zusammenhang von Charisma, Narzißmus und dem Einzigen Stirners – hier in der rezeptionsgeschichtlichen Interpretation als All-Einziger – läßt sich also wie folgt skizzieren: All-Einzigkeit ist innerhalb einer charismatischen Beziehung kommunikabel, weil letztere die soziale Asymmetrie der Form: ‚Ich bin einzig, Du bist es nicht, bzw. alle Anderen sind es nicht‘ stabilisiert.48 Charisma ist umgekehrt bedingt durch die Akzeptanz einer all-einzigen Selbstkonzeption durch andere und setzt insofern zunächst voraus, daß AllEinzigkeit artikuliert wird, ob selbst- oder fremdreferentiell, ob sozial erfolgreich oder nicht; wobei im sozialen Erfolgsfall dann von einer charismatischen Beziehung die Rede sein kann, während der Mißerfolg sich etwa an der Psychiatrisierung ablesen läßt. Und die narzißmustheoretische 48

Die symmetrische Form der Je-Einzigkeit läßt sich dagegen etwa wie folgt formulieren: ‚Ich bin einzig, und Du bist es auch, wie jeder andere auch je für sich‘; oder im Dialog: ‚Ich bin einzig‘ – ‚Ich auch‘. In der asymmetrischen Form der charismatischen Beziehung tritt an die Stelle dieses ‚Ich auch‘ ein ‚Ja Meister, Du bist einzig‘ o. ä.

2. Zeitgenössische Beobachtungen

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Rekonstruktion des Charisma-Phänomens und der darin enthaltenen AllEinzigkeits-Figur verdeutlicht vor dem Hintergrund der kränkungstheoretischen Modernitätsdiagnose (siehe oben, insbesondere II. 3. u. 4.) die spezifische Modernität des All-Einzigen, in der rezeptionsgeschichtlich vorfindbaren Rollenvielfalt zwischen sozialem Erfolg und Isolation, Destruktivität und Unauffälligkeit. Der All-Einzige verspricht das Heil in der heillosen Welt der Moderne. Er ist die Negation der Realität, die ihn ermöglicht. Und er vollzieht die Flucht vor der Kränkung – mitunter auch in die Krankheit.

2. Zeitgenössische Beobachtungen: klassische Charisma-Soziologie und Massenpsychologie Wie der Begriff des Narzißmus, so ist auch der Begriff des Charismas antiker Mythologie entlehnt. Charis, die Gemahlin des Hephaistos, war die griechische Göttin der Anmut. Hesiod nennt drei Cháriten – Aglaia (Glanz), Euphrosýne (Frohsinn), Thaleia (Blüte) –, die in der Gefolgschaft Aphrodites die Menschen mit Schönheit und Freude beglücken; sie entsprechen den römischen Grazien. Abgeleitet ist der Name vom griechischen charein, ‚sich freuen‘.49 Letzterem entspricht auch die griechische Wortbedeutung von ‚Charisma‘ als ‚Geschenk‘.50 Max Weber führt im Rahmen seiner herrschaftssoziologischen Adaption des Begriffs zur typologischen Bezeichnung der „charismatischen Herrschaft“ an, er entnehme den „Begriff des ‚Charisma‘ (‚Gnadengabe‘) [. . .] altchristlicher Terminologie [. . .]. Für die christliche Hierokratie hat zuerst Rudolph Sohms Kirchenrecht der Sache, wenn auch nicht der Terminologie nach den Begriff, andere (z. B. Karl Holl in ‚Enthusiasmus und Bußgewalt‘ [1898]) [. . .] gewisse Konsequenzen davon verdeutlicht. Er ist also nichts Neues.“51 a) Charisma in Webers Herrschafts- und Religionssoziologie Bei aller in dem zuletzt zitierten Satz zum Ausdruck kommenden Bescheidenheit Webers stellt gleichwohl seine herrschaftssoziologische Anwendung des Begriffs und die damit verbundene Definitionsarbeit den anerkannten locus classicus und maßgeblichen Ausgangspunkt für die soziologische Beobachtung des Phänomens dar. Als „charismatische Herrschaft“ bezeichnet Weber denjenigen „reine[n] Typus legitimer Herrschaft“ – neben der „rationalen“ und der „traditionalen Herrschaft“ – dessen „Legitimitätsgeltung [. . .] auf der außeralltäglichen Hingabe an die Heiligkeit oder 49 50 51

Vgl. Lurker (1989), S. 89 f. Vgl. Schischkoff (1982), S. 96. Weber (1922), S. 124 – H. i. O.; vgl. S. 140 ff.

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III. Narzißmus und Charisma

die Heldenkraft oder die Vorbildlichkeit einer Person und der durch sie offenbarten oder geschaffenen Ordnung“ beruht. „Im Fall der charismatischen Herrschaft wird dem charismatisch qualifizierten Führer als solchem kraft persönlichen Vertrauens in Offenbarung, Heldentum oder Vorbildlichkeit im Umkreis der Geltung des Glaubens an dieses sein Charisma gehorcht.“52 Letzteres definiert Weber klassisch wie folgt: „‚Charisma‘ soll eine als außeralltäglich [. . .] geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem andern zugänglichen Kräften oder Eigenschaften (begabt) oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als ‚Führer‘ gewertet wird.“ (S. 140 – H. i. O.) Zu beachten ist im Zusammenhang mit der Interpretation des All-Einzigen in der Stirner-Rezeptionsgeschichte, daß es sich Weber zufolge beim Charisma um eine exklusive und individuelle Qualität einer Persönlichkeit handelt, aufgrund derer diese sich von anderen unterscheidet; außerdem, daß diesem so qualifizierten Individuum eine besondere Macht zukommt, und zwar aufgrund dieser individuellen Qualität; und schließlich, daß diese charismatische Qualität auch als ‚übermenschlich‘ prädiziert wird: und wo der Nietzschesche ‚Übermensch‘ evoziert wurde, war zeitgenössisch der Stirnersche ‚Einzige‘ nicht fern (siehe unten, VI.). Über die ‚Übermenschlichkeit‘ bzw. ‚außeralltägliche‘ Individualität des Charismatikers führt Weber weiter aus: „Wie die betreffende Qualität von irgendeinem ethischen, ästhetischen oder sonstigen Standpunkt aus ‚objektiv‘ richtig zu bewerten sein würde, ist natürlich dabei begrifflich völlig gleichgültig: darauf allein, wie sie tatsächlich von den charismatisch Beherrschten, den ‚Anhängern‘, bewertet wird, kommt es an.“ (S. 140 – H. i. O.). Der Soziologe entscheidet nicht, ob eine Persönlichkeit zurecht als Charismatiker verehrt wird, ob ihr wirklich Charisma zukommt, sondern er beobachtet schlechthin die soziale Faktizität des Charismas eines Charismatikers, die darauf gründet, daß die charismatische Persönlichkeit als eine solche anerkannt und behandelt, also verehrt wird, d. h. auf der sozialen Zuschreibung von Charisma bzw. dem Glauben an das Charisma: Charismatiker ist, soziologisch betrachtet, wer als solcher gilt. Und über „die Geltung des Charisma entscheidet die durch Bewährung – ursprünglich stets: durch Wunder – gesicherte freie, aus Hingabe an Offenbarung, Heldenverehrung, Vertrauen zum Führer geborene Anerkennung durch die Beherrschten. Aber diese ist (bei genuinem Charisma) nicht der Legitimitätsgrund, sondern sie ist Pflicht der kraft Berufung und Bewährung zur Anerkennung dieser Qualität Aufgerufenen.“ (S. 140 – H. i. O.) Jene Geltungsgründe selbst aber, die 52 Weber (1922), S. 124 – H. i. O. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich im vorliegenden Unterabschnitt ebenfalls auf Weber (1922).

2. Zeitgenössische Beobachtungen

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Quellen des persönlichen Charismas eines Individuums und dessen entsprechende Wahrnehmung durch seine – charismatisch rekrutierten – Verehrer, die dieses als Charismatiker anerkennen, sind Weber zufolge psychischer Natur, mithin nicht soziologisch, sondern psychologisch zu beobachten: „Diese ‚Anerkennung‘ ist psychologisch eine aus Begeisterung oder Not und Hoffnung geborene gläubige, ganz persönliche Hingabe.“ (S. 140) Diese Hingabe entspringt also nicht rationalem Kalkül, moralischer Überzeugung oder traditionaler Gewohnheit, sondern sie ist von einer affektuell zwingenden, intentional unverfügbaren Qualität. Begeisterung, Not und Hoffnung sind psychisch unabweisbar. Der Frage allerdings, wie dauerhaft die, psychologisch betrachtet, in diesen Affekten wurzelnde Hingabe dem Charismatiker zukommt, wie lange er mithin sozial als Charismatiker gilt und als solcher Gegenstand der Soziologie ist, läßt sich wiederum soziologisch nachgehen. Denn wenn auch die Quellen des Charismas psychische sind, so bedarf dennoch seine soziale Geltung jener Bewährung, die als Beglaubigung des Charismas gewertet wird, d. h. dem Charisma des Charismatikers als Erfolg sozial zugeschrieben wird. Bleibt dagegen „die Bewährung dauernd aus, zeigt sich der charismatische Begnadete von seinem Gott oder seiner magischen oder Heldenkraft verlassen, bleibt ihm der Erfolg dauernd versagt, vor allem: bringt seine Führung kein Wohlergehen für die Beherrschten, so hat seine charismatische Autorität die Chance, zu schwinden.“ (S. 140 – H. i. O.)53 Das Verschwinden charismatischer Autorität infolge dieses mangelhaften Wohlergehens als Ausdruck eines rationalen Nutzenkalküls zu deuten, würde allerdings der Eigenlogik charismatischer Vergesellschaftung nicht gerecht. Vielmehr muß aus Sicht der Beherrschten dieser Mangel bzw. Mißerfolg als Zeichen für den Verlust des Charismas gewertet werden: Soziologisch betrachtet, verliert der Charismatiker seine Autorität, weil ihm aufgrund seiner Mißerfolge kein Charisma mehr zugeschrieben wird. Aus Sicht der charismatisch Beherrschten verhält es sich gewissermaßen umgekehrt: Diese verweigern jenem die Gefolgschaft, weil sie an seinen Mißerfolgen erkennen, daß er sein Charisma verloren hat. Aus soziologischer Sicht können die Mißerfolge als ursächlich für den Verlust charismatischer Autorität gedeutet werden, weil dieser als aus Sicht der Be53 Das Charisma kann bekanntlich auch auf andere Weise schwinden: Durch den „Wegfall der Person des Charisma-Trägers“ (Weber (1922), S. 143), mit der typischen Folge, daß die vormals charismatisch-außeralltägliche Gemeinschaftsform, sofern sie nicht zerfällt oder durch einen charismatischen Nachfolger den Tod des Gründers überdauert, auf eine Alltagsgrundlage – in rationaler oder traditionaler Form – gestellt wird, die typologisch mehr oder weniger weit entfernt ist von der genuin charismatischen Herrschaft, z. B. durch Überführung des persönlichen Charismas in das „Amtscharisma“ innerhalb einer bürokratischen Organisation (S. 144 – H. i. O.). Dies ist ein typischer Fall der „Veralltäglichung des Charisma“ (S. 142 ff.).

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III. Narzißmus und Charisma

teiligten ursächlich für jene zu verstehen ist. Bedenkt man allerdings, daß Webers Auskunft zufolge die Quellen des Charismas psychischer Natur sind, dann läßt sich daraus schließen, daß für die Frage nach Erfolg oder Mißerfolg ein erheblicher Toleranzspielraum bestehen kann, was gerade aus einer konstruktivistischen Perspektive einleuchtet. Denn was als Erfolg und was als Mißerfolg erscheint, ob bestimmte Mißerfolge überhaupt zur Kenntnis genommen werden und wie sie interpretiert werden, ist eine Frage der Beobachterposition bzw. ihrer Realitätskonstruktion. Es spricht daher vieles für die Vermutung, daß die Anhänger eines Charismatikers diesen typischerweise unter dem Aspekt seiner Erfolge wahrnehmen, und zwar auch – und vor allem – dort, wo andere gar keine Erfolge sehen. Das Charisma des Charismatikers offenbart sich also seinen Anhängern im psychischen Erleben und beglaubigt sich in der sozialen Bewährung, nämlich im erfolgreichen Handeln des Charismatikers. Die Form charismatischer Vergesellschaftung kennzeichnet Weber, der Bedeutung der psychischen Quellen des Phänomens entsprechend, als „emotionale Vergemeinschaftung“ (S. 141). Die unmittelbare Anhängerschaft des charismatischen Herrschers, sein „Verwaltungsstab“ innerhalb des charismatischen „Herrschaftsverbands“, der „Gemeinde“, „ist seinerseits nach charismatischen Qualitäten ausgelesen: dem ‚Propheten‘ entsprechen die ‚Jünger‘, dem ‚Kriegsfürsten‘ die ‚Gefolgschaft‘, dem ‚Führer‘ überhaupt: ‚Vertrauensmänner‘. Es gibt [. . .] nur Berufung nach Eingebung des Führers aufgrund der charismatischen Qualifikation des Berufenen [. . .] die Jünger oder Gefolgen leben (primär) mit dem Herrn in Liebes- bzw. Kameradschaftskommunismus aus den mäzenatisch beschafften Mitteln“ (S. 141) – all dies im Unterschied einerseits zu traditionalen und andererseits auch zu rationalen Vergesellschaftungsformen wie der bürokratischen Herrschaft. „Die bureaukratische Herrschaft ist spezifisch rational im Sinn der Bindung an diskursiv analysierbare Regeln, die charismatische spezifisch irrational im Sinn der Regelfremdheit. Die traditionale Herrschaft ist gebunden an die Präzedenzien der Vergangenheit und insoweit ebenfalls regelhaft orientiert, die charismatische stürzt (innerhalb ihres Bereichs) die Vergangenheit um und ist in diesem Sinn spezifisch revolutionär.“ (S. 141) Die charismatische Herrschaft steht somit im Gegensatz zu den „Alltags-Formen der Herrschaft“, sie ist „das Außeralltägliche“ (S. 141 – H. i. O.). Und der Charismatiker ist gleichsam die Personifikation des Außeralltäglichen.54 Der typische Charismatiker, „der genuine Prophet sowohl wie der genuine Kriegsfürst wie jeder genuine Führer überhaupt verkündet, schafft, fordert neue 54 Als kulturgeschichtliche Beispiele für den Einbruch des Charismas in den Alltag – oder dessen Überflutung – führt Weber auch die „manischen Anfälle“ des „Berserkers“, der das „Charisma der Kriegs-Tobsucht“ trägt, und die „Ekstasen“ des „Schamanen“ an (Weber (1922), S. 140).

2. Zeitgenössische Beobachtungen

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Gebote, – im ursprünglichen Sinn des Charisma: kraft Offenbarung, Orakel, Eingebung oder: kraft konkretem Gestaltungswillen, der von der Glaubens-, Wehr-, Partei- oder anderer Gemeinschaft um seiner Herkunft willen anerkannt wird.“ (S. 141 – H. i. O.) Der Charismatiker selbst gilt als die unbedingte Quelle höchster Autorität um seiner Individualität, seiner „persönliche[n] Qualitäten“ (S. 142) willen, nichts ist über ihm, weder Sitte noch Satzung. Wie sowohl die terminologische Ableitung des Charisma-Begriffs als auch die damit beobachteten sozialen Zuschreibungen von Übernatürlichkeit, Offenbarungswahrheit, Gottgesandtheit usw. nahelegen, kommt dem Konzept nicht nur in Webers Herrschafts-, sondern auch in seiner Religionssoziologie eine zentrale Bedeutung zu. Nachdem im religionssoziologischen Abschnitt von Wirtschaft und Gesellschaft einleitend als der Gegenstand der Religionssoziologie die „Bedingungen und Wirkungen einer bestimmten Art von Gemeinschaftshandeln“, nämlich des „[r]eligiös oder magisch motivierte[n] Handeln[s]“ bestimmt wurden (S. 245), das sich dem soziologischen Beobachter im Sinne der Verstehenden Soziologie (vgl. S. 1 ff.) im Verständnis der „subjektiven Erlebnisse[], Vorstellungen, Zwecke[] der Einzelnen“ – also aus der subjektiven Sinnbestimmung der Handelnden – erschließt (S. 245), wendet Weber sich dieser methodologischen Einstellung entsprechend der Vorstellungswelt des „magisch Handelnde[n]“ zu (S. 245). Dieser Vorstellungswelt gehört das Charisma an: „Der magisch Handelnde selbst unterscheidet zunächst nur nach der größeren oder geringeren Alltäglichkeit der Erscheinungen. Nicht jeder beliebige Stein z. B. ist als Fetisch zu brauchen. Nicht jeder Beliebige hat die Fähigkeit, in Ekstase zu geraten und also diejenigen Wirkungen meteorologischer, therapeutischer, divinatorischer, telepathischer Art herbeizuführen, welche man erfahrungsgemäß nur dann erreicht. Nicht immer nur diese, aber vornehmlich diese außeralltäglichen Kräfte sind es, welchen gesonderte Namen: ‚mana‘, ‚orenda‘, bei den Iraniern: ‚maga‘ (davon: magisch) beigelegt werden, und für die wir hier ein- für allemal den Namen ‚Charisma‘ gebrauchen wollen. Das Charisma kann entweder – und nur dann verdient es in vollem Sinn diesen Namen – eine schlechthin an dem Objekt oder der Person, die es nun einmal von Natur besitzt, haftende, durch nichts zu gewinnende Gabe sein. Oder es kann und muß dem Objekt oder der Person durch irgendwelche, natürlich außeralltägliche, Mittel künstlich verschafft werden. Die Vermittlung bildet die Annahme: daß die charismatischen Fähigkeiten zwar in nichts und Niemandem entwickelt werden können, der sie nicht im Keime hat, daß aber dieser Keim verborgen bleibt, wenn man ihn nicht zur Entwicklung bringt, das Charisma – z. B. durch ‚Askese‘ – ‚weckt‘. Alle Formen der religiösen Gnadenlehre [. . .] liegen so schon in diesem Stadium im Keim beschlossen.“ (S. 245 f. – H. i. O.)

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III. Narzißmus und Charisma

Wie der psychoanalytische Begriff des Narzißmus bereits in Freuds Beobachtung der besonderen Anziehungskraft, die ein ausgeprägter Narzißmus auf andere ausübt,55 auf das Charisma-Phänomen implizit verweist, so verweist Max Webers soziologischer Charisma-Begriff, speziell in seiner religionssoziologischen Konzeptualisierung, implizit auf das Phänomen des Narzißmus, insbesondere in seiner ungezügelten, archaischen Form.56 Denn der kulturgeschichtliche Phänomenkreis, in dem Weber das Charisma zunächst verortet, entspricht eben jenem phylogenetisch frühen narzißtischen Zustand, den Freud in Totem und Tabu unter dem Titel „Animismus, Magie und Allmacht der Gedanken“57 beschrieben hatte und der ontogenetisch in der Vorstellungswelt des Kindes und (regressiv) in derjenigen des Neurotikers, aber auch im Traum wiederkehrt – und auch in den späteren Kulturschöpfungen der Kunst. Wie Freud das Narzißmus-Konzept, so bezieht auch Weber den Charisma-Begriff auf „‚animistische[]‘ Vorstellungen“ (S. 247), den „Geisterglaube[n]“ – „die Vorstellung von irgendwelchen ‚hinter‘ dem Verhalten der charismatisch qualifizierten Naturobjekte, Artefakte, Tiere, Menschen sich verbergenden und ihr Verhalten irgendwie bestimmenden Wesenheiten“ – und spezifisch auf Magie und Zauberei: „Der Zauberer ist der dauernd charismatisch qualifizierte Mensch im Gegensatz zum Alltagsmenschen, dem ‚Laien‘ im magischen Sinn des Begriffs. Er hat insbesondere die spezifisch das Charisma repräsentierende oder vermittelnde Zu55

Siehe oben, II. 3. c). Auf die modernitätsdiagnostische Parallele zwischen dem Freudschen Befund narzißtischer Kränkung durch die neuzeitlichen Wissenschaften und dem Weberschen Befund der Entzauberung durch Rationalisierung wurde oben bereits eingegangen; vom (religions)soziologischen Charisma-Begriff und seinem Bedeutungsfeld her – des Magisch-Zauberhaften, Ekstatisch-Außeralltäglichen und Übersinnlichen – erhellt sich bezüglich dieser Modernitätsdiagnose auch die Parallelität der beiden Theorie-Elemente ‚Narzißmus‘ und ‚Charisma‘ bei Freud und Weber. Sie sind als archaische Phänome bzw. kulturgenetische Ausgangspositionen zugleich die bevorzugten Angriffsfelder des Modernisierungsprozesses wie auch dessen regressive bzw. eskapistische Rückzugsgebiete und auch die Sanktuarien, in denen sich antimodernistischer Widerstand formiert und aus deren Verheißungen sich fundamentalistische Impulse und Ansprüche auf Wiederverzauberung speisen. Zugleich tragen aber diese archaischen Kräfte in modifizierter bzw. transformierter und gleichsam gebändigter Form zur motivationalen Stärkung und Durchsetzung jenes Modernisierungsprozesses bei, sei es in Gestalt narzißtischer Idealbildungen, wie sie etwa dem Erkenntnisstreben der neuzeitlichen Wissenschaft unterliegen und den Weltbemächtigungsbestrebungen der auf letzterer basierenden Technologien (insofern geht es um Realisierungen narzißtischer Allwissenheits- und Allmachtswünsche), oder als aus dem Geist charismatischer Askese geborene protestantisch-kapitalistische Wirtschaftsethik, in der Max Weber den entscheidenden Motor des okzidentalen Rationalisierungsprozesses erkannt hat (vgl. Weber (1905), S. 165 ff.; (1911–13), S. 339 ff.; (1922), S. 378 f.; (1923), S. 367 ff.). 57 Freud (1912/13), S. 364 ff. 56

2. Zeitgenössische Beobachtungen

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ständlichkeit: die Ekstase, als Objekt eines ‚Betriebs‘ in Pacht genommen. Dem Laien ist die Ekstase nur als Gelegenheitserscheinung zugänglich. Die soziale Form, in der dies geschieht, die Orgie, als die urwüchsige Form religiöser Vergemeinschaftung, im Gegensatz zum rationalen Zaubern, ist ein Gelegenheitshandeln gegenüber dem kontinuierlichen ‚Betrieb‘ des Zauberers, der für ihre Leitung unentbehrlich ist. Der Laie kennt die Ekstase nur als einen, gegenüber den Bedürfnissen des Alltagslebens notwendig nur gelegentlichen Rausch, zu dessen Erzeugung alle alkoholischen Getränke, ebenso der Tabak und ähnliche Narkotika, die alle ursprünglich Orgienzwecken dienten, daneben vor allem Musik, verwendet werden.“ (S. 246 – H. i. O.) Die magisch-ekstatische Praxis des Zauberers als eines professionellen Charismatikers enthält zugleich den entwicklungsgeschichtlichen Keim der religiösen Vorstellungswelt. „Auf Grund der Erfahrungen an den Zuständlichkeiten [des Zauberers] bei Orgien und sicherlich überall in starkem Maße unter dem Einfluß seiner Berufspraxis vollzieht sich die Entwicklung des Denkens zunächst zu der Vorstellung von der ‚Seele‘ als eines vom Körper verschiedenen Wesens, welches hinter, bei oder in den Naturobjekten in ähnlicher Art vorhanden sei, wie im menschlichen Körper etwas steckt, was ihn im Traum, in Ohnmacht und Ekstase, im Tode verläßt.“ (S. 246) Als Ergebnis dieser Entwicklung des Denkens in Auseindersetzung mit dem charismatischen Erleben führt Weber die darin entstandene Vorstellung „einerseits der ‚Seele‘, andererseits der ‚Götter‘ und ‚Dämonen‘“ an, „‚übernatürlicher‘ Mächte also, deren Beziehungen zu den Menschen zu ordnen nun das Reich des ‚religiösen‘ Handelns ausmacht.“ (S. 247 – H. i. O.) ‚Charisma‘ ist also ein Grundbegriff der Weberschen Religionssoziologie, und der religionssoziologischen Bedeutung der Charisma-Konzeption entspricht auch ihr weiteres typologisches Begriffsfeld bei Weber, etwa der Prophet als typischer Charismatiker und die Sekte als typische charismatische Vergesellschaftungsform. Und auch, wo im engeren Sinne herrschaftssoziologische Typen des Charismatikers thematisiert und exemplifiziert werden – etwa der ‚Demagoge‘ Kurt Eisner oder der „rein ‚plebiszitäre[]‘ charismatische Herrscher“ Napoleon (S. 141 – H. i. O.), oder auch generell der „gekorene Kriegsfürst“ oder „politische Parteiführer“ (S. 822) – werden diese in eine Reihe gestellt mit Propheten und Heilanden (vgl. S. 140 ff., 822 f.). Der Charismatiker bleibt auch in seiner nicht im engeren Sinne religionssoziologischen Gestalt eine Figur der magisch-religiösen Vorstellungswelt. Auch der „plebiszitäre Herrscher, der große Demagoge und politische Parteiführer“ (S. 822), auch der geniale Meister-Dichter und -Denker und andere sozialphänomenologische Gestalten des Charismatikers „auf dem Gebiet des Politischen“ (S. 822) wie auf anderen säkularen Feldern bleiben enge typologische Verwandte und Abkömmlinge des Magiers

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III. Narzißmus und Charisma

und des Propheten. Sie sind als Charismatiker, als personale Verkörperungen des Außeralltäglichen immer im mehr oder (meist) weniger übertragenen Sinne Erlöserfiguren und Heilsbringer. Vor diesem Hintergrund sind die charisma- wie religionssoziologisch paradigmatischen Typen des Propheten, als eines genuinen Charismatikers, und der Sekte, als der typischen charismatischen Sozialform, zu betrachten, die für die weiteren Überlegungen von besonderer Bedeutung sind. Weber definiert den „Propheten“ soziologisch als einen „rein persönlichen Charismaträger, der kraft seiner Mission eine religiöse Lehre oder einen göttlichen Befehl verkündet“, gleichviel, ob es sich dabei um einen „Religionserneuerer“ oder um einen „Religionsstifter“ handelt (S. 268 – H. i. O.). „Entscheidend ist“ für den soziologischen Typus des Propheten als eines Charismatikers, wie Weber hervorhebt, „die ‚persönliche‘ Berufung. Das scheidet ihn vom Priester. Zunächst und vor allem, weil dieser im Dienst einer heiligen Tradition, der Prophet dagegen (zufolge) persönlicher Offenbarung oder kraft (seines) Charisma Autorität beansprucht.“ (S. 268) Der Prophet wirkt also „ebenso wie der charismatische Zauberer lediglich kraft persönlicher Gabe“ (S. 269). Der Prophet ist mithin, wie der Zauberer, ein mit außeralltäglichen Eigenschaften und Fähigkeiten, über die nicht jeder verfügt, begnadetes Individuum, und dies nicht aufgrund einer institutionellen oder sonstwie überindividuellen Einbindung, sondern kraft seiner besonderen Individualität, unabhängig von und oft gerade im Gegensatz zu aller gesellschaftlichen Konvention. „Vom Zauberer unterscheidet er sich dadurch, daß er inhaltliche Offenbarungen verkündet, der Inhalt seiner Mission nach nicht in Magie, sondern in Lehre oder Gebot besteht.“ (S. 269) Der Prophet kommuniziert, er teilt etwas mit, nämlich eine Offenbarungswahrheit: Er ist, kommunikationstheoretisch betrachtet,58 eine kommunikative Zuschreibungseinheit bzw. ‚Adresse‘59 für die Mitteilung bzw. ‚Verkündung‘ einer Information bzw. ‚Offenbarung‘, die es zu verstehen gilt,60 während der idealtypische Zauberer Veränderungen im Wahrnehmungsbereich – im Unterschied zur Kommunikation – bewirkt: Rauschzustände, Wunder, aber auch alltagspraktisch relevante Manipulationen z. B. des Wetters. Allerdings bemerkt Weber: „Aeußerlich ist der Uebergang flüssig. Der Zauberer ist sehr häufig Divinationskündiger, zuweilen nur dies. Die Offenbarung funktioniert in diesem Stadium kontinuierlich als Orakel oder als Traumeingebung. [. . .] Und ferner: ohne jede charismatische, und das heißt normalerweise: magische, Beglaubigung hat ein Prophet nur unter besonde58 Vgl. Luhmann (1996a), S. 191 ff.; (1997a), S. 70 ff., 190 ff., 1136 ff.; Luhmann (1989a). 59 Vgl. Fuchs (1997a). 60 Hierauf wird unten in den Abschnitten über ‚charismatische‘ und ‚charismatifikatorische Kommunikation‘ ausführlicher einzugehen sein.

2. Zeitgenössische Beobachtungen

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ren Umständen Autorität gewonnen.“ (S. 269) Denn im Unterschied zum institutionell eingebundenen und traditional legitimierten Priester ist der Prophet ein „selbstherrlicher Laiendemagoge“, der darauf angewiesen ist, daß ihm die Autorität, mit der er seine Botschaft zu verkünden sucht, aufgrund seiner besonderen Persönlichkeit zugesprochen wird: „seine Beglaubigung bei den Laien beruht regelmäßig darauf, daß er ein Charisma hat, und das bedeutet in aller Regel: daß er ein Zauberer ist, nur ein viel größerer und mächtigerer als andere es auch sind, daß er noch nicht dagewesene Macht über die Dämonen, selbst über den Tod hat, Tote auferweckt, womöglich selbst von den Toten aufersteht oder andere Dinge tut, welche andere Zauberer nicht können.“ (S. 285) Neben dem selbstherrlich-demagogischen Charakter des Propheten ist hier, vor allem mit Sicht auf die narzißmustheoretische Betrachtung des Charisma-Phänomens, die nahezu omnipotente Qualität „prophetische[n] Charisma[s]“ (S. 279) zu beachten, das über den Tod hinausgeht – jenen als individuelle Sterblichkeit „heikelste[n] Punkt des narzißtischen Systems“.61 So unterscheidet Weber den Charismatiker-Typus des Propheten von demjenigen des Zauberers einerseits, anderererseits vom Priester als dem exemplarischen Träger eines schon ‚versachlichten‘, nicht mehr persönlichen Charismas; das „priesterliche Charisma“ in diesem Sinne gilt ihm als „[w]ichtigstes Beispiel“ für „Amtscharisma“ (S. 144). Das „entscheidende Merkmal des Propheten“ ist demnach – in Abgrenzung zum Zauberer, der typischerweise keine Lehren verkündet, und zum Priester, der dem Typus nach kein persönlicher Charismatiker ist62 – die von ihm betriebene „Ver61

Freud (1914a), S. 67. Was empirisch nicht ausschließt, daß ein Priester auch ein außerordentliches persönliches Charisma haben kann, wie dies etwa am 2005 verstorbenen Papst Johannes Paul II. zu beobachten war. Man darf – auch unter narzißmustheoretischen Gesichtspunkten – vermuten, daß in solchen Fällen das von der Institution ausgehende Amtscharisma und das persönliche Charisma des Amtsträgers effektiv in einem gegenseitigen Steigerungsverhältnis stehen, von dem die Institution zwar langfristig profitiert – im Sinne einer frischen charismatischen Aufladung –, die es allerdings einem weniger persönlich charismatischen Amtsnachfolger unmittelbar zunächst schwerer machen kann, da er möglicherweise den durch seinen Vorgänger gleichsam eingewöhnten Erwartungen nicht gerecht wird. Was den persönlichen Charismatiker im charismatischen Amt betrifft, so darf vermutet werden, daß sein Charisma zwar von der institutionellen Einbindung in der Weise profitiert, daß es sich der inszenatorischen und sonstigen typisch amtscharismatischen Verstärkungen zu seiner Steigerung, Verbreiterung und Verstetigung bedienen kann, und auch in der Hinsicht, daß ihm der institutionelle Rahmen einen Schutz bietet, in dem es sich zu höchster Wirkung entfalten kann, ohne sich selbst gleichsam zu ‚überfluten‘; aber gerade aufgrund dieser potentiell fortbestehenden Selbstgefährdung und der genuin revolutionären, eruptiven Sprengkraft des persönlichen Charismas bleibt dieses in einem Spannungsverhältnis zum Institutionellen als einer auf Dauer gestellten Ordnung. 62

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III. Narzißmus und Charisma

kündigung einer religiösen Heilswahrheit kraft persönlicher Offenbarung“ (S. 272). Der persönliche Offenbarungscharakter seiner Lehre und die Art ihrer Verkündung trennt den Propheten ferner von den ihm gleichfalls verwandten unterschiedlichen Typen des „ethischen, speziell [. . .] sozialethischen Lehrer[s]“, wie dem indischen „Guru“, dem sozialreformerischen „Intellektuellenheilslehrer“ und dem philosophischen Schulgründer (S. 271 f. – H. i. O.). Bei aller Ähnlichkeit im Hinblick etwa auf den sozialreformerischen Anspruch oder die Erlösungsversprechen der Lehre trennt sie doch von „dem Propheten [. . .] das Fehlen der aktuellen emotionalen Predigt, welche, einerlei, ob durch Rede oder Pamphlete oder schriftlich verbreitete Offenbarungen nach Art der Suren Muhammeds, dem Propheten eigentümlich ist. Dieser steht stets dem Demagogen oder politischen Publizisten näher als dem ‚Betrieb‘ eines Lehrers.“ (S. 272 – H. i. O.) Ein weiterer, sowohl dem Guru als auch dem Propheten aber vor allem dem Zauberer typologisch nahestehender Charismatiker-Typus ist der Mystagoge, den Weber aber gerade wegen der letztgenannten Nähe, die sich vor allem im untergeordneten Rang geoffenbarter Heilslehren bei gleichzeitiger magischer Praxis zeigt, vom Propheten unterscheidet (vgl. S. 272 f.). Er verdient als magisch-prophetisches Übergangsphänomen gleichwohl Erwähnung, vor allem im Hinblick auf das im weiteren zu betrachtende Spektrum charismatheoretisch relevanter Phänomene. Der „Mystagoge [. . .] praktiziert Sakramente, d. h. magische Handlungen, welche Heilsgüter verbürgen. Durch die ganze Welt hat es Erlöser dieser Art gegeben, die sich von dem gewöhnlichen Zauberer nur graduell durch die Sammlung einer speziellen Gemeinde um sich unterscheiden.“ (S. 272 – H. i. O.) Letzteres hat der Mystagoge zwar mit dem ja ebenfalls im Normalfall Gemeinden und Sekten bildenden Propheten gemein (vgl. S. 275 ff.), typologisch bleibt er jedoch – bei aller faktischen Übergängigkeit der kulturhistorischen Realtypen – dem Zauberer näher: „Der Mystagoge spendet magisches Heil, und es fehlt ihm oder bildet doch nur ein untergeordnetes Anhängsel: die ethische Lehre. Statt dessen besitzt er eine vornehmlich erblich fortgepflanzte magische Kunstlehre. Auch pflegt er von seiner vielbegehrten Kunst ökonomisch existieren zu wollen. Wir wollen daher auch ihn aus dem Prophetenbegriff ausscheiden, selbst wenn er neue Heilswege offenbart.“ (S. 273 – H. i. O.) Denn der „typische Prophet propagiert die ‚Idee‘ um ihrer selbst willen, nicht – wenigstens nicht erkennbar und in geregelter Form – um Entgelts willen.“ (S. 269) Entscheidend ist für den Typus des Propheten also, neben seinem persönlichen Charisma und dem Offenbarungscharakter seiner Lehre, deren Selbstzweckhaftigkeit. Im Hinblick auf diese ‚Idee‘ oder Heilslehre, die der Prophet kraft persönlicher Offenbarung und um ihrer selbst willen in emotionaler Predigt verkündet, erschließt sich nun, nach der begrifflichen Abgrenzung der ge-

2. Zeitgenössische Beobachtungen

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nannten eng verwandten Typen, eine interne Differenzierung in „zwei Typen von Prophetentum“: „Entweder ist nämlich der Prophet [. . .] ein im Auftrag eines Gottes diesen und seinen Willen – sei dies ein konkreter Befehl oder eine abstrakte Norm – verkündendes Werkzeug, der kraft Auftrags Gehorsam als ethische Pflicht fordert (ethische Prophetie). Oder er ist ein exemplarischer Mensch, der anderen an seinem eigenen Beispiel den Weg zum religiösen Heil zeigt, wie Buddha, dessen Predigt weder von einem göttlichen Auftrag, noch von einer ethischen Gehorsamspflicht etwas weiß, sondern sich an das eigene Interesse der Heilsbedürftigen wendet, den gleichen Weg wie er selbst zu betreten (exemplarische Prophetie).“ (S. 273 – H. i. O.) Schematisch formuliert: der Inhalt der ethischen Prophetie wird fremdreferentiell begründet, derjenige der exemplarischen selbstreferentiell; die Beglaubigung der Offenbarung als solcher geschieht in beiden Fällen selbstreferentiell, nämlich kraft persönlichen Charismas des exemplarischen wie des ethischen Propheten, welches nur diesen den unmittelbaren Zugang zur Heilswahrheit reserviert. Aber letztere ist eben im Fall des ethischen Propheten eine von einer maßgeblichen Instanz empfangene, während sie im Fall des exemplarischen Propheten mit diesem selbst identisch ist. „Der exemplarische Prophet zeigt einen Heilsweg durch persönliches Beispiel.“ (S. 276) Neben der Selbstreferentialität der charismatischen Beglaubigungsfigur des Propheten und der Selbstzweckhaftigkeit seiner Verkündung generell, ist es gerade die spezifische Selbstreferentialität des exemplarischen Propheten, die diesen Charismatikertypus besonders interessant im Hinblick auf die Semantik des modernen Individuums und seiner Individualität macht. Denn die Botschaft, die der exemplarische Prophet verkündet und kraft seines ihm eigenen persönlichen Charismas beglaubigt, ist er selbst: seine eigene, selbstzweckhafte charismatische Individualität inklusive ihrer Ausdrucksformen, als Werk und Wirken, und zwar sein eigenes Werk mit ihm als Schöpfer, nicht als Werkzeug. Das bringt ihn in die Nähe des Weber und seinen Zeitgenossen wohlvertrauten Typus des Genies. Und man kann den Typus des exemplarischen Propheten in dieser Perspektive auch als eine Verkörperung des charismatischen All-Einzigen betrachten, der von sich behauptet, er sei die personifizierte Vollkommenheit, und der mit dieser Botschaft erfolgreich Anhänger um sich schart, die bereit sind, ihm und diesem Anspruch als Jünger zu folgen – und die er selbst für würdig hierzu befindet, nämlich für „charismatisch qualifiziert“ (S. 275). Damit ist die Frage nach charismatischer Vergemeinschaftung angesprochen, wie sie sich an der reinsten charismatischen Sozialform der Sekte beobachten läßt.63 63 Von Interesse sind mit Blick auf die folgenden Überlegungen einige typische Merkmale der Sekte, insbesondere ihre Form der Inklusions-Exklusionsregelung.

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III. Narzißmus und Charisma

Weber führt aus, daß das Typische der „‚Sekte‘ im soziologischen Sinn“ im Vergleich zu anderen religiösen Gemeinschaften nicht ihr zahlenmäßig geringer personeller Umfang oder ihre Verketzerung durch jene ist (S. 721 – H. i. O.). Allerdings sind diese im Alltagsbewußtsein mit dem Sektenbegriff verbundenen, empirisch nicht unwahrscheinlichen Merkmale, ähnlich wie der erwähnte Bezug der Sekte zur Prophetie, als eine nicht zufällige Folge des soziologisch spezifischen Partikularismus der Sektenform zu betrachten, der sich wiederum aus ihrer typischen Rekrutierungsordnung bzw. Inklusions-Exklusionsregelung ableiten läßt. Die Sekte versteht sich als eine Gemeinschaft der Auserwählten, sie ist daher eine religiöse Gemeinschaft, „welche ihrem Sinn und Wesen nach notwendig auf Universalität verzichten und notwendig auf durchaus freier Vereinbarung ihrer Mitglieder beruhen muß. Sie muß es, weil sie ein aristokratisches Gebilde: ein Verein der religiös voll Qualifizierten und nur ihrer sein will“ (S. 721 – H. i. O.). Die Unqualifizierten, die Sünder und Unreinen sind aus der Gemeinschaft der Auserlesenen ausgeschlossen, anders als in der universalistisch sich verstehenden Kirche, die sich als „Gnadenanstalt“ gerade dieser Schwachen und Unglücklichen annimmt, um deren Seelenheil zu retten; eben diese kirchliche „Anstaltsgnade und das Amtscharisma“ des Priesters lehnt die typische Sekte ab (S. 721 f.). Auch dieser letztgenannte Gegensatz zum versachlichten Charisma begründet die Nähe der Sekte zum Propheten als einem rein persönlichen Charismatiker. Entscheidend für die Inklusions-Exklusionsregelung der Sekte anhand der Unterscheidung von ‚Rein vs. Unrein‘ (vgl. S. 722) ist dementsprechend auch die charismatische Qualifikation des Einzelnen – wie bei der Rekrutierung der Jünger des Propheten, was die unbedingte persönliche Unterwerfung unter die Autorität der Offenbarungswahrheit miteinschließt (vgl. S. 275): „Der Einzelne ist entweder kraft göttlicher Prädestination von Ewigkeit her [. . .] oder kraft ‚inneren Lichts‘ oder pneumatischer Befähigung zur Ekstase [. . .] oder kraft eines anderen ihm gegebenen oder von ihm erworbenen spezifischen Charisma qualifiziert zum Mitglied der ‚Sekte‘ [. . .]. Der metaphysische Grund, aus welchem die Mitglieder der Sekte sich zu einer Gemeinschaft zusammenschließen, kann der allerverschiedenste sein. Soziologisch wichtig ist ein Moment: die Gemeinschaft ist der Ausleseapparat, der den Qualifizierten vom Nichtqualifizierten scheidet. Denn den Verkehr mit dem Verworfenen hat der Erwählte oder Daß es sich bei dieser charismatischen Sozialform um ein vorzügliches Soziotop für Propheten und verwandte Charismatiker handelt, wird hinreichend deutlich werden; allerdings sei der Vollständigkeit halber angemerkt, daß sich nicht um jeden Propheten eine Sekte im soziologisch-spezifischen Sinn bildet, und daß umgekehrt auch nicht jede Sekte sich um einen Propheten gruppiert. Die gleichwohl empirisch häufig beobachtbare Koinzidenz von Prophetentum und Sektenform läßt sich aber auf die soziologischen Spezifika der Sekte zurückführen.

2. Zeitgenössische Beobachtungen

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Qualifizierte – wenigstens bei reiner Ausprägung des Sektentypus – zu meiden.“ (S. 722) Dieser Selektionsfunktion gemäß ist die Sekte als Gemeinschaft der Auserwählten zugleich die einzige Instanz zur Beurteilung der jeweiligen persönlichen Qualifikation, die sie nach ihren eigenen Maßstäben umfassend an der Lebensführung des Einzelnen beobachtet. Einerseits folgt daraus soziologisch eine starke Interaktionsgebundenheit von Sekten, also ihr konstitutiver Bedarf an Kommunikation unter Anwesenden,64 „da ja ausschließlich die im täglichen Verkehr miteinander Stehenden, einander persönlich Kennenden die religiöse Qualifikation der Anderen beurteilen können“ (S. 722). Andererseits ist dieser wesentlich interaktionell geprägte Zusammenhang der Sekte für den ihr angehörenden Einzelnen in jeder Beziehung die maßgebliche Instanz, da er nur in ihr und ausschließlich durch sie seine Identität als Auserwählter hat: Sie „legitimiert“ den Einzelnen „in seiner persönlichen Qualifikation [. . .]. Wer aufgenommen wird, dem wird damit Jedermann gegenüber bescheinigt, daß er den religiös-sittlichen Anforderungen der Gemeinde nach stattgehabter Prüfung seiner Persönlichkeit genügt.“ (S. 722 f.) Die Inklusion in die Sekte ist vollständig und umfassend: Sie erfaßt das ganze Individuum in seiner sozialen Identität, wie dies in Initiationsriten symbolisiert wird, befindet über seine Fähigkeiten und Eigenschaften, insbesondere die charismatischen, und bestimmt und kontrolliert seine Lebensführung, vor allem in Form der interaktionsbasierten, individualisierenden Kombination aus Selbst- und Fremdbeobachtung in Permanenz. Dieser Vollinklusion entspricht die Schärfe der Exklusion: Im Extremfall schottet sich die Sekte von der Außenwelt dadurch vollständig ab, daß sie jeglichen „physischen Verkehr, sexuellen wie ökonomischen, mit den Außenstehenden überhaupt“ verbietet, „und mindestens der als unqualifiziert und verworfen aus der Gemeinschaft Ausgestoßene unterliegt dem strengsten Boykott.“ (S. 722) Außenstehende, minder Qualifizierte kommen in der Sekte nicht vor; in ihr ist man entweder ganz oder gar nicht. Und im Umkehrschluß bedeutet dies: wer nicht Mitglied der Sekte ist, ist – bis auf weiteres – offenbar kein Auserwählter. Durch diese Inklusions-Exklusionsordnung bildet die Sekte eine eigene, hermetische Realität, die souverän über sich selbst verfügt, sich scharf gegen die ‚unreine‘ Außenwelt abgrenzt und die einzig maßgebliche Realität für die Sektenmitglieder ist. Was immer in der Außenwelt an Realitätsdeutung vorgebracht wird, das mit der Binnenrealität der Sekte – ihrem Selbstbild, ihren Regeln, ihrer Werteordnung, Weltdeutung und Heilsgewißheit – nonkonform ist: letztere ist gegen das darin liegende Irritationspotential immun, weil ihre eigene Hermetik eine kognitive Abschottung garantiert, de64

Vgl. Luhmann (1996a), S. 560 ff.

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III. Narzißmus und Charisma

ren Hauptmechanismus darin besteht, daß alles von außen kommende als ‚unrein‘, ‚unwahr‘ usw. disqualifiziert ist, sofern es der Binnenrealität der Sekte in ihrem Selbstverständnis nicht entspricht. Sowohl diese Abwehrfunktion gegen divergierende Realitätsbeobachtungen als auch die skizzierten Voll-Inklusions-Exklusionsmechanismen der Sozialform Sekte stehen, gesellschaftstheoretisch betrachtet, in einem Spannungsverhältnis zur modernen, polykontexturalen und exklusionsindividuellen Sozialstruktur, aufgrund dessen typologisch die Sektenstruktur und ihre semantischen Formen als Verkörperungen vormoderner Prinzipien erscheinen. Das legt auch das analytische Beobachtungsinstrumentarium Webers nahe. Das religionssoziologische Begriffs- und Bedeutungsfeld des Charismas, dem der Begriff der Sekte ebenso angehört wie etwa derjenige des Propheten und die Gesamtbandbreite magischer Phänomene, verweisen im modernitätstheoretischen Kontext des Weberschen Rationalisierungs- und Entzauberungsbefundes auf spezifisch vormoderne, wenn nicht: antimodernistische Phänomene. Es liegt eine eigene modernitätsdiagnostische Signifikanz darin, daß Weber den alteuropäischer Semantik entlehnten Begriff des Charismas, der zunächst kulturhistorisch archaische – und wenn hochkulturelle, dann immer noch spezifisch vormoderne – Phänomene beschreibt, in zentraler Weise zur soziologischen Vermessung der Moderne heranzieht. Denn die Weber gegenwärtige, entzauberte Moderne selbst bot ihm hinreichende Beispiele für die charismatische Autorität von Propheten und Heilsbringern und deren Verehrung in sektenförmigen Zirkeln und ähnlichen Kultgemeinschaften.65 Daher ist Webers religions- wie herrschaftssoziologische Charisma-Theorie nicht nur als ein kulturgeschichtlich relevantes, sondern auch gegenwartsdiagnostisch konzipiertes begriffliches Instrumentarium zu verstehen. Wissenssoziologisch erscheint sie rückblickend zudem als symptomatischer Ausdruck einer spezifisch modernen semantischen Situation am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, insofern, als sie sich in exemplarischer Weise um die wissenschaftliche Registratur einer ihr gegenwärtigen sozialen Phänomenologie und eines damit einhergehenden Charisma-Diskurses bemühte. Unter den zeitgenössischen Einflüssen und Evidenzen, die Weber bei der Konzeption seiner klassischen Charisma-Soziologie unmittelbar als Inspiration vor Augen hatte, ist, neben dem Genie-Diskurs, aus dem, wie Stefan Breuer bemerkt, „Max Weber [. . .] mehr Anregungen für seinen Charismabegriff bezog als aus den theologischen Fachschriften Rudolf Sohms oder Karl Holls“,66 vor allem das Wirken des Dichters Stefan George hervorzu65

Für zahlreiche Beispiele gerade für die im vorliegenden Untersuchungskontext interessierende Zeit am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts vgl. z. B. Gay (1970); Linse (1983); Hepp (1992); Breuer (1995); Kreuzer (2000).

2. Zeitgenössische Beobachtungen

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heben. Dessen Lyrik las Weber seit 1897, und seit 1910 kannte er ihn persönlich, so daß er Gelegenheit hatte, Georges charismatische Herrschaft über einen sektenhaften Kreis von Jüngern zu studieren und zu kommentieren.67 Im Abschnitt über ‚Charismatische Herrschaft‘ in Wirtschaft und Gesellschaft führt Weber exemplifizierend die „primär künstlerische[] charismatische[] Jüngerschaft [. . .] im Kreise Stefan Georges“ an (S. 142), in einem Vortrag auf dem Ersten Soziologentag 1910 spricht er in Frankfurt vor den Fachkollegen explizit von der „Sekte Stefan Georges“.68 Und im Mai des gleichen Jahres – allerdings noch vor der persönlichen Begegnung mit George, wenngleich mit dessen Charisma in Anspruch und Wirkung zumindest durch die Lektüre des Werkes und die Bekanntschaft mit Friedrich Gundolf, dem ‚ersten Jünger‘ Georges,69 vertraut – äußert sich Weber in einem Brief an Dora Jellinek ausführlich über George, in einer Mischung aus Skepsis und Faszination, die erahnen läßt, wie sehr ihm diese „Erscheinung, die [. . .] Züge wirklicher Größe besitzt“70, zur Inspiration seiner eigenen charismatheoretischen Überlegungen wurde und ihm letztere zum unabweisbaren Bedürfnis machte: Ein Phänomen wie George, der sich in seiner enthusiasmierenden, verzaubernden Wirkung auf intelligente und gebildete junge Männer gerade dadurch dem soziologischen Entzauberungsbefund widersetzt, daß er als Dichter die Grenzen überschreitet, die der okzidentale Rationalisierungsprozeß als Differenzierung der kulturellen Sinngebiete auch der Kunst gesetzt hatte, und der als Prophet auftritt, mußte soziologisch erfaßt, bezüglich seiner Erfolgsaussichten prognostisch in seine Schranken gewiesen und dadurch – entzaubert werden.71 So gesteht Weber im Brief an Jellinek dem Dichter George, diesen mit Dante vergleichend, zu: „Ein Funke jenes gewaltigen Feuers lebt auch in ihm, das scheint kein Zweifel.“72 Über den Propheten George befindet er aber sogleich, unter Aufbietung des dargestellten charismasoziologischen Begriffsfeldes: „Aber das eigentlich Bedenkliche scheint mir doch in folgendem zu liegen: je länger, je mehr wollen diese Gedichte etwas. Wenn der Georgesche Kreis ohnehin alle Merkmale der Sektenbildung an sich 66 Breuer (1994), S. 146. – Diese beiden Autoren nimmt Weber, wie oben zitiert, für den altchristlich-terminologischen Hintergrund von ‚Charisma‘ in Anspruch. 67 Vgl. Breuer (1994), S. 145 ff.; Blasberg (2000), S. 114 ff.; vgl. auch Breuer (1995). George kann als paradigmatisches Beispiel eines Charismatikers in der Moderne gelten und wurde eben so von Zeitgenossen wie Weber und Simmel beobachtet. 68 Zit. n. Breuer (1994), S. 147. 69 Vgl. Schonauer (1960), S. 91. 70 Zit. n. Blasberg (2000), S. 117. 71 Vgl. Breuer (1994), S. 155 ff., bes. S. 159 f. 72 Zit. n. Blasberg (2000), S. 117.

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III. Narzißmus und Charisma

trägt, – damit übrigens auch das spezifische Charisma einer solchen – so ist die Art und Weise des Maximin-Kultes schlechthin ‚absurd‘, weil sich von dieser Erlöser-Inkarnation mit aller Gewalt nichts aussagen läßt, was seine Göttlichkeit für andere als diejenigen, die ihn persönlich kannten, irgendwie glaubhaft machen könnte.“73 Und in dieser Beschränktheit des MaximinKultes – der von George inszenierten Verehrung des zum Heiland stilisierten vierzehnjährigen Münchners Maximilian Kronberger, der übrigens bald darauf verstarb –74 zeigen sich in exemplarischer Weise nicht nur die sektenhaften Züge des George-Kreises, sondern auch die Grenzen des „rein formale[n] Prophetentum[s]“ Georges, das ständig „Erlösung“ verspricht und fordert, ohne allerdings anzugeben „wovon“.75 „Ein Versprechen eines ungeheuren, Erlösung garantierenden Erlebnisses, wird durch ein anderes, noch größeres überboten, immer werden neue Wechsel auf das, was kommen soll, gezogen, obwohl die Uneinlöslichkeit offen zutage liegt.“ So sei, fährt Weber in dem Brief fort, „der Dichter auf der beständigen Suche nach dem postulierten Inhalt seiner Prophezeiung begriffen, ohne ihn jemals erhaschen zu können“.76 Der Weg dieser Suche laufe über „die ekstatische Entrückung“, die George in seinen „Dantesken Ausdrucksmittel[n]“ erzeugt, angesichts der Inhaltsleere bleibe aber „als einziges positives Ziel“ – und dies ist von einer modernitätsdiagnostischen Signifikanz, die von Weber offenbar hier unterschätzt wird, da er sie als Mangel der Georgeschen Konzeption betrachtet – „das Streben nach Selbstvergottung, nach dem unmittelbaren Genuß des Göttlichen in der eigenen Seele.“77 Im Hinblick auf die vorliegende Betrachtung des Zusammenhanges von Charisma und moderner Individualitätssemantik, insbesondere unter dem Aspekt von All-Einzigkeit, Narzißmus und Charisma, ist diese Beobachtung 73

Zit. n. Blasberg (2000), S. 117 – H. i. O. Vgl. Breuer (1994), S. 148 ff.; Breuer (1995), S. 40 ff.; Schonauer (1960), S. 103 ff. 75 Zit. n. Breuer (1994), S. 157 f. – In der Formulierung, „daß alle neueren Leistungen Georges ‚Erlösung‘ fordern, verkünden, versprechen, propagieren“ (zit. n. Blasberg (2000), S. 117 bzw. Breuer (1994), S. 157), läßt Weber etwas von der Attitüde mitschwingen, die in Nietzsches polemischer Auseinandersetzung mit dem Fall Wagner allen Nietzsche-Verehrern lieb und teuer war, was freilich nichts an der Richtigkeit der Beobachtungen ändert und in vielfacher Hinsicht symptomatisch ist: „Wagner hat über Nichts so tief wie über die Erlösung nachgedacht: seine Oper ist die Oper der Erlösung. Irgend wer will bei ihm immer erlöst sein: bald ein Männlein, bald ein Fräulein – dies ist sein Problem. – Und wie reich er sein Leitmotiv variiert!“ – usw. (Nietzsche, KSA 6, S. 16 f. – H. i. O.). 76 Zit. n. Breuer (1994), S. 158 – H. i. O. 77 Zit. n. Breuer (1994), S. 158 – H. i. O. – Breuer und Blasberg beziehen sich beide teilweise auf unterschiedliche Passagen desselben Briefes von Max Weber an Dora Jellinek vom 9. Mai 1910; vgl. Breuer (1994), S. 157 f.; Blasberg (2000), S. 117, 121. 74

2. Zeitgenössische Beobachtungen

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Webers von höchster Bedeutung. Wie Max Weber die „Selbstvergottung“ im Zentrum des Georgeschen Charismas sah, so sprach Georg Simmel – in ähnlich skeptischer Haltung wie Weber und mit dem gleichen diagnostischen Scharfsinn – vom „monumentalen Solipsismus“78 Georges. Der paradigmatische Charismatiker George erscheint den beiden Gründergestalten der klassischen Soziologie als ein sich selbst vergötternder monumentaler Solipsist, der offenbar sehr erfolgreich seinen darauf gründenden Erlöseranspruch artikuliert, wie sich an der sozialen Faktizität seiner Jüngerschaft bzw. Sekte zeigt. Der Glaube der Jünger an die übermenschliche Größe Georges entspricht jener Selbstvergottung und affirmiert diese. Die Gläubigen akzeptieren das – narzißmuspsychologisch gesprochen – grandiose Selbstbild des Meisters, so daß dieser und jene eine Realität teilen, die für Außenstehende – ‚Ungläubige‘, ‚Unreine‘, ‚Nichtauserwählte‘ bzw. ‚Nichtqualifizierte‘ – Züge von Größenwahn und gestörter Realitätskontrolle trägt. In wissenssoziologischer Perspektive treten bei der Beobachtung dieser sozialen Beziehung und der in ihr gegründeten, hermetischen Realität typologisch die Konturen einer Domäne eskapistischer Individualidentitätsangebote hervor, in der Ansprüche auf All-Einzigkeit erfolgreich kommunizierbar sind. Die Beziehung zwischen George und seinen Anhängern erweist sich somit als Paradebeispiel einer charismatischen Herrschaftsbeziehung im Sinne der oben skizzierten Beobachtung Webers, daß der Charismatiker bei seinen Anhängern als übermenschliche, außeralltägliche Persönlichkeit gilt und auf der Anerkennung dieser individuellen Qualität seine Autorität beruht. Die Frage aber, worauf dieser Glaube an das persönliche Charisma basiert, woher die Anerkennung dieser individuellen Qualität kommt, hatte Weber, wie bereits zitiert, an die Psychologie verwiesen: „Diese ‚Anerkennung‘ ist psychologisch eine aus Begeisterung oder Not oder Hoffnung geborene gläubige, ganz persönliche Hingabe.“ (S. 140) Für Weber handelt es sich bei der charismatischen Herrschaft demnach um ein soziales und insofern soziologisch zu analysierendes Phänomen, das sich aber zugestandenermaßen aus psychischen Quellen speist, deren weitere Erforschung somit dem Soziologen verwehrt bleibt (vgl. S. 8 f.). Er kann sich getrost mit der Evidenz begnügen, daß es offenbar einige herausragende Individuen gab und gibt, die kraft ihrer Persönlichkeit in der Lage waren bzw. sind, das auszuüben, was sich als charismatische Herrschaft dann wiederum bezüglich seiner sozialen Eigengesetzlichkeit soziologisch erforschen und deuten läßt, nämlich im Hinblick auf die soziale Geltung, nicht auf die psychischen Quellen von Charisma.79 Im Hinblick auf die disziplinäre Zuständigkeit läßt sich somit festhalten, daß der von Max Weber im Rahmen seiner Herrschafts- und Religionsso78 79

Zit. n. Breuer (1995), S. 184. Vgl. Breuer (1995), S. 248.

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III. Narzißmus und Charisma

ziologie eingeführte Begriff des Charismas ein Phänomen bezeichnet, das augenscheinlich sowohl dem psychologischen als auch dem soziologischen Gegenstandsbereich angehört. Denn soweit ‚Charisma‘ zur Beschreibung und Erklärung sozialer Beziehungen dient, bezieht sich das Begriffsfeld auf einen soziologisch relevanten Phänomenbereich; ‚charismatische Herrschaft‘ bezeichnet, ebenso wie ‚Sekte‘, einen sozialen Sachverhalt. Soweit aber die Wirkung des Charismas der individuellen Persönlichkeit bzw. dem Persönlichkeitstypus des Charismatikers und denjenigen seiner Gefolgschaft, also den psychischen Strukturen und den Emotionen der am charismatischen Erleben beteiligten Individuen zugeschrieben wird, kommt ‚Charisma‘ als eine psychologische Problemstellung in den Blick; persönliches Charisma läßt sich dann als bezwingende Ausstrahlung beschreiben, mithin als ein persönliches Merkmal, das in seiner Außeralltäglichkeit nur bestimmten Individuen aufgrund ihrer besonderen psychischen Beschaffenheit zukommt – und seinen Resonanzboden in den psychischen Systemen anderer Individuen findet. Weber selbst spricht im Zusammenhang mit dem „Charisma“ auch vom „Keim[] psychischer ‚Ansteckung‘“ (S. 8). Letzteres ist beispielsweise der Fall, wenn ein Prophet oder Heilsbringer auf einen Gläubigen oder Jünger trifft und diese sozialen Typen als Charaktere bezüglich ihrer psychischen Dispositionen beschrieben werden. Generell läßt sich sagen, daß sich beide Perspektiven, die psychologische und die soziologische, nicht ausschließen, sondern, da sie unterschiedliche Aspekte desselben Phänomens beleuchten, einander ergänzen können. b) Der Narzißmus des Führers und das Begehren der Masse bei Freud Aufschlußreich zum psychologischen Verständnis des Phänomens, präziser: zum psychoanalytischen Verständnis der dem sozialen Phänomen charismatischer Herrschaft zugrundeliegenden psychischen Mechanismen, sind die Überlegungen zum Verhältnis von Masse und Führer, die sich in Freuds – erstmals 1921, im Jahr nach Max Webers Tod erschienener – Schrift über Massenpsychologie und Ich-Analyse finden. Zwar verwendet Freud nicht den Begriff des Charismas. Der Sache nach handelt es sich gleichwohl bei jenem Typus der Beziehung zwischen Führer und Masse, der im Zentrum der diesbezüglichen psychoanalytischen Erörterung steht,80 um eine Konstellation, die sich soziologisch als ‚charismatische Herrschaft‘ bezeichnen 80

Freud bezeichnet unterschiedliche Typen sozialer Kollektivgebilde als ‚Masse‘, erkennt aber in der relativ unorganisierten, augenscheinlich wesentlich durch die Persönlichkeit eines Führers zusammengehaltenen und an diesem orientierten Masse den deutlichsten Anwendungsfall seiner hier in Blick zu nehmenden theoretischen Überlegungen (vgl. z. B. Freud (1921), S. 66, 88, 94, 108, 120).

2. Zeitgenössische Beobachtungen

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läßt. Die Anwendung der Psychoanalyse auf dieses soziale Phänomen entspricht dem später zugespitzt formulierten Anspruch Freuds, daß es außer den Naturwissenschaften eigentlich nur eine Wissenschaft, die Psychologie, gebe, als deren sozialpsychologische Anwendung sich die Sozialwissenschaften darstellten.81 Dieser psychoanalytische Universalitätsanspruch für den gesamten soziokulturellen Phänomenbereich bekräftigt einerseits die bereits oben herausgestellte Zentralität des Individuums im modernen semantischen Selbstverständnis, der zufolge das Individuum Ziel, Zweck, Sinn und insbesondere auch Weg aller Aufklärung, aller Welt- und Selbsterkenntnis ist.82 Andererseits, und damit plausibilisiert sich dieses generelle Selbstverständnis wie auch der psychoanalytische Anspruch, wird dieses Individuum von vorneherein bezüglich seiner sozialen Konstitutions- und Existenzbedingungen in Blick genommen. Die Individualentwicklung besteht ja, abstrakt formuliert, wesentlich in der psychische Strukturen ausbauenden Sozialisation von Trieben. In der Einleitung seiner Massenpsychologie betont Freud dementsprechend, daß im „Seelenleben des Einzelnen [. . .] ganz regelmäßig der andere als Vorbild, als Objekt, als Helfer und als Gegner in Betracht [kommt], und die Individualpsychologie ist daher von Anfang an auch gleichzeitig Sozialpsychologie in diesem erweiterten, aber durchaus berechtigten Sinne.“83 So kann Freud – unter Rückgriff insbesondere auf die narzißmustheoretischen Erkenntnisse aus Zur Einführung des Narzißmus und auf das Konzept der „Urhorde“ bzw. „Vaterhorde“ aus Totem und Tabu84 – das soziale Phänomen der Beziehung zwischen Führer und Masse psychologisch erklären, namentlich die – charismatheoretisch relevante – herrschaftskonstitutive ‚suggestive‘, ‚magnetische‘, ‚faszinierende‘, ‚zauberhafte‘, ‚unwiderstehliche‘, ‚geheimnisvolle‘ Macht,85 die innerhalb dieser Beziehung wirkt. Die psychoanalytische Interpretation dieses Phänomens leistet Freud über die Analyse zweier psychologisch verwandter Zustände, nämlich der Verliebtheit und der Hypnose.86 In der Verliebtheit idealisiert das Ich sein Liebesobjekt: „wir erkennen, daß das Objekt so behandelt wird wie das eigene Ich, daß also in der Verliebtheit ein größeres Maß narzißtischer Libido auf das Objekt überfließt. Bei manchen Formen der Liebeswahl wird es selbst augenfällig, daß das Objekt dazu dient, ein eigenes, nicht erreichtes Ichideal 81 82 83 84 85 86

Vgl. Freud (1933), S. 175. Siehe oben, II. 2. und 3. Freud (1921), S. 65. Freud (1912/13), S. 425 f., vgl. S. 424 ff. Vgl. z. B. Freud (1921), S. 75 f., 83 f., 117 ff. Vgl. Freud (1921), S. 104 ff., 133 f.

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III. Narzißmus und Charisma

zu ersetzen. Man liebt es wegen der Vollkommenheiten, die man fürs eigene Ich angestrebt hat und die man sich nun auf diesem Umweg zur Befriedigung seines Narzißmus verschaffen möchte.“87 Die narzißtische Objektbesetzung88 hat hier also zunächst eine kompensatorische Bedeutung. Je mehr aber das Objekt idealisiert wird, desto mehr narzißtische Libido wird dem Ich entzogen: „das Ich wird immer anspruchsloser, bescheidener, das Objekt immer großartiger, wertvoller; es gelangt schließlich in den Besitz der gesamten Selbstliebe des Ich, so daß dessen Selbstaufopferung zur natürlichen Konsequenz wird. Das Objekt hat das Ich sozusagen aufgezehrt. [. . .] [A]lles, was das Objekt tut und fordert, ist recht und untadelhaft. Das Gewissen findet keine Anwendung auf alles, was zugunsten des Objekts geschieht; in der Liebesverblendung wird man reuelos zum Verbrecher. Die ganze Situation läßt sich restlos in eine Formel zusammenfassen: Das Objekt hat sich an die Stelle des Ichideals gesetzt.“89 Das Ich wird somit in den „höchsten Ausbildungen“ der Verliebheit, „die man Faszination, verliebte Hörigkeit heißt“,90 bezüglich seines narzißtischen Gleichgewichts restlos abhängig von diesem idealisierten Objekt. Die – bei aller soziologischen Verschiedenheit – psychologische Nähe zu charismatischen wie auch hypnotischen Beziehungen ist offensichtlich. „Von der Verliebtheit ist offenbar kein weiter Schritt zur Hypnose. Die Übereinstimmungen beider sind augenfällig. Dieselbe demütige Unterwerfung, Gefügigkeit, Kritiklosigkeit gegen den Hypnotiseur wie gegen das geliebte Objekt. Dieselbe Aufsaugung der eigenen Initiative; kein Zweifel, der Hypnotiseur ist an die Stelle des Ichideals getreten.“91 Wie in der Verliebtheit – „nur noch deutlicher und gesteigerter“ – tritt in der Hypnose das Objekt, der Hypnotiseur, an die Stelle des Ichideals, und genau dasselbe passiert im Verhältnis des „Massenindividuums zum Führer“.92 Die Hypnose kann in dieser Beziehung als „eine Massenbildung zu zweien“ bezeichnet werden.93 „Durch diese Einschränkung der Zahl scheidet sich die Hypnose von der Massenbildung, wie durch den Wegfall der direkt sexuellen Strebungen von der Verliebtheit.“94 In der realen Masse, die sich relativ unorganisiert – als „primäre Masse“ – einem Führer unterwirft, tritt zum Verhältnis eines jeden einzelnen Massenindividuums zum Führer dasjenige der 87

Freud (1921), S. 105; vgl. Freud (1914a), S. 76. Siehe unten die Ausführungen zu Kohut bezüglich der Frage nach der Möglichkeit ‚narzißtischer Objekte‘. 89 Freud (1921), S. 105 f. – H. i. O. 90 Freud (1921), S. 106. 91 Freud (1921), S. 107. 92 Freud (1921), S. 107. 93 Freud (1921), S. 107, vgl. S. 119. 94 Freud (1921), S. 107. 88

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Massenindividuen untereinander hinzu, die sich in ihrem gleichen Verhältnis zum Führer miteinander identifizieren. „Eine solche primäre Masse ist eine Anzahl von Individuen, die ein und dasselbe Objekt an die Stelle ihres Ichideals gesetzt und sich infolgedessen in ihrem Ich miteinander identifiziert haben.“95 So läßt sich die Psychologie der Masse bzw. diejenige der ihr angehörenden Individuen durch ihr Verhältnis zueinander und zu ihrem Führer beschreiben – und zwar im Unterschied zur Psychologie dieses Führers. Denn die charismatische Beziehung hat offenbar die (unbewußte) Bereitschaft zur Voraussetzung und entsteht daraus, daß die Individuen sich die Vorstellung, die sie von einem bestimmten Individuum haben, als Ichideal introjizieren. Die Frage ist nun, aufgrund welcher spezifischen Qualitäten ein Individuum derart als Führerpersönlichkeit auserkoren wird, was also es zum Charismatiker prädestiniert. Freud betont zum einen den regressiven Charakter der charismatischen Beziehung, zum anderen den Narzißmus des charismatischen Führers. Er hebt die Ähnlichkeit der modernen Masse mit der archaischen Urhorde hervor und interpretiert dementsprechend das Phänomen des modernen Massenführers als Wiederkehr jenes unumschränkt herrschenden, allgewaltigen und über alle verfügenden Urvaters im regressiven Seelenzustand der Massenindividuen.96 Der Urvater hielt demnach eine narzißtische Position deutlich sadistisch gefärbter Allmacht, indem er sich – sowohl in der sexuellen Verfügungsgewalt über alle anderen Gruppenmitglieder als auch in der Fähigkeit, seine Aggressivität ungehemmt auszuleben – voller „Triebfreiheit erfreute; die anderen lebten in sklavischer Unterdrückung.“97 „Ein gewalttätiger, eifersüchtiger Vater, der alle Weibchen für sich behält und die heranwachsenden Söhne vertreibt, nichts weiter.“98 Dieser Urvater hatte die Position uneingeschränkter Kontrolle über die übrigen Gruppenmitglieder inne, mußte keine Wunschversagung akzeptieren und konnte in narzißtischer Selbstgenügsamkeit diesen Glückszustand von Omnipotenz, Vollkommenheit und Grandiosität genießen – bis die jüngeren Männchen dem ein Ende machten, indem sie sich zusammentaten, den Urvater erschlugen, aufaßen, ihn sich also einverleibten, und das Inzesttabu errichteten, so daß, mit dieser soziogenetisch induktiven Tat, an die Stelle der „Vaterhorde“ der „Brüderclan“ trat.99 Damit wird phylogenetisch dieser archaische Narzißmus des allmächtigen Urvaters überwunden, aber das schließt sein – damit: regressives – Wiedergängertum nicht aus.100 Letzteres ist der Fall in der charisma95 96 97 98 99

Freud (1921), S. 108. Vgl. Freud (1921), S. 114 ff. Freud (1930), S. 244. Freud (1912/13), S. 425. Freud (1912/13), S. 430, vgl. S. 426 ff.

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tischen Beziehung von Führer und Masse, in der der Führer – oder die Vorstellung, die von ihm herrscht – die archaisch narzißtischen Bedürfnisse der Massenindividuen nach Grandiosität, Vollkommenheit, Allmacht befriedigt. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an Freuds frühere Feststellung, daß „der Narzißmus einer Person eine große Anziehung auf diejenigen entfaltet, welche sich des vollen Ausmaßes ihres eigenen Narzißmus begeben haben [. . .] Es ist so, als beneideten wir sie um die Erhaltung eines seligen psychischen Zustandes, einer unangreifbaren Libidoposition, die wir selbst seither aufgegeben haben.“101 Und aus der Analyse der Verliebtheit ist bekannt, daß es gerade diese narzißtische Vollkommenheit ist, die das narzißtisch bedürftige Individuum anzieht und sein Ich veranlaßt, sich ein derart grandioses Objekt als Ichideal zu introjizieren und sich dadurch mit ihm zu vereinigen. So ist es gerade der Narzißmus des an den archaischen Urvater gemahnenden Führers, der – teilweise selbst ein Regressionsprodukt – die regressiven Neigungen der Massenindividuen anspricht. Ihre eigene narzißtische Bedürftigkeit veranlaßt die Individuen, sich dem Führer zu unterwerfen, und diese Selbstunterwerfung steigert noch dessen Grandiosität, wodurch zugleich das narzißtische Gratifikationspotential, das in dieser Idealisierung liegt, erhöht wird. „Der Urvater ist das Massenideal, das an Stelle des Ichideals das Ich [der Massenindividuen] beherrscht.“102 Wer daher dem Führer folgt und sich mit ihm als Ideal identifiziert, erlebt den narzißtischen Glückszustand, Teil eines Großen zu sein, mit diesem sich im Einklang zu befinden und dessen Aufmerksamkeit zu genießen. Mit der unbeschränkten Gewalt und dem ausgeprägten Narzißmus des Urvaters einerseits und der Autoritätssucht, der Unterwerfungsbereitschaft und Furcht der Massenindividuen andererseits betont Freud die Unterschiede und zugleich die Komplementarität beider Psychologien, derjenigen „des Vaters, Oberhauptes, Führers“ und derjenigen „der Massenindividuen“.103 In der 100 Norbert Stresau deutet die Figur des Grafen Dracula in Bram Stokers gleichnamigen Roman von 1897 – und in unzähligen, daran mehr oder weniger werktreu anschließenden Verfilmungen – in diesem Sinne als diesen Urvater. Um ihn zu vernichten, verbrüdern sich die jungen Männchen um Jonathan Harker – unter der Führung des ‚guten Vaters‘ Abraham van Helsing – und wiederholen so den soziogenetischen Ur-Patrizid, zum Schutze des auf dem Inzesttabu gegründeten Brüderclans vor den gesellschaftszerstörenden Omnipotenzansprüchen des archaischen Aggressors, der alle Weibchen für sich begehrt (vgl. Stresau (1989), S. 91 ff.). Diese Deutung findet sich bereits 1959 in Maurice Richardsons Überlegungen zur Psychoanalysis of Count Dracula (vgl. Richardson (1959), S. 420). – Gerade am Genre des phantastischen Horrors wird die Ambivalenz von Regressions-Lust und RegressionsAngst deutlich; vgl. auch Freud (1919). 101 Freud (1914a), S. 65. 102 Freud (1921), S. 119. 103 Freud (1921), S. 115, vgl. S. 119.

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massenpsychologisch paradigmatischen Urhorde waren „die Einzelnen der Masse [. . .] so gebunden, wie wir sie heute finden, aber der Vater der Urhorde war frei. Seine intellektuellen Akte waren auch in der Vereinzelung stark und unabhängig, sein Wille bedurfte nicht der Bekräftigung durch den anderer. Wir nehmen konsequenterweise an, daß sein Ich wenig libidinös gebunden war, er liebte niemand außer sich, und die anderen nur, insoweit sie seinen Bedürfnissen dienten. Sein Ich gab nichts Überschüssiges an die Objekte ab. Zu Eingang der Menschheitsgeschichte war er der Übermensch, den Nietzsche erst von der Zukunft erwartete.104 Noch heute bedürfen die Massenindividuen der Vorspiegelung105, daß sie in gleicher und gerechter Weise vom Führer geliebt werden, aber der Führer selbst braucht niemand anderen zu lieben, er darf von Herrennatur sein, absolut narzißtisch, aber selbstsicher und selbständig.“106 Hier deutet sich an, daß das Charismatische dieser Beziehung sich primär auf der Idealisierungsebene von Massenindividuum zu Führer, weniger auf der identifikatorischen zwischen den Massenindividuen konstituiert. Zwar verstärkt die Identifikation die soziale Kohäsion durch solidarische Gefühle bzw. durch Abschwächung der Eifersucht um die Führergunst. Für die spezifisch charismatische Dimension aber ist nicht die Vorstellung entscheidend, die die Individuen voneinander haben, sondern diejenige, die sie vom Führer im Bezug auf sich selbst haben, daß nämlich aus Sicht des Massenindividuums der Führer kein anderes mehr als dieses selbst liebt und jedes einzelne Massenindividuum sich selbst im Zentrum der Aufmerksamkeit der idealisierten Führerpersönlichkeit sieht. Dabei leistet die faktische Indifferenz des ‚absolut narzißtischen‘ Führers dessen Idealisierung zu einem grandiosen Zentrum Vorschub. Die charismatische Anziehung gründet also darauf, daß jedes einzelne Individuum auf das eine Zentrum ausgerichtet ist und sich seiner Selbstkonzeption nach im Zentrum der Aufmerksamkeit dieses Zentrums befindet, in unmittelbarer Beziehung zu diesem. Das charismatische Erleben läßt sich so als ein der oben beschriebenen kränkungsgeschichtlichen Dezentralisierung107 gegenläufiger Vorgang verstehen, der den Verlust kosmischer Zen104 Zu Nietzsches Konzeption des ‚Übermenschen‘ und seiner – zeitgenössisch regelmäßig hergestellten – Verbindung zum ‚Einzigen‘ Stirners siehe ausführlich unten, Kapitel VI. 105 Die Spiegelmetaphorik weist auf den narzißtischen Charakter dieser – charismatischen – Beziehung hin. Der Psychoanalytiker Heinz Kohut, auf den sich Stefan Breuer in seiner narzißmuspsychologischen Charismatheorie bezieht, spricht bezüglich einer hierfür zentralen Übertragungskonstellation auch von ‚Spiegelübertragung‘; vgl. Kohut (1976) u. (1981); Breuer (1995); siehe unten, III. 3. – Vgl. auch Laplanche/Pontalis (1973), S. 474 ff., zum 1936 von Lacan eingeführten Begriff der ‚Spiegelstufe‘ (‚stade du miroir‘) in Beziehung zum Narzißmus. 106 Freud (1921), S. 115 – H. i. O. 107 Siehe oben, II. 2. und 3.

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III. Narzißmus und Charisma

tralität vergessen läßt. Die kränkende Realität bleibt außen vor, wenn um den Charismatiker die Welt sich re-zentriert. Besonders deutlich läßt sich dies an führerzentrierten Sekten beobachten, die mit ihren charismatischen Inklusions-Exklusionsregelungen ihre eigene Realität gegen die defizitäre Außenwelt hermetisch abschirmen. Hier läßt sich Freuds Diktum von der Hypnose als Masse zu zweien variieren: die Sekte ist eine hypnotische Zweierbeziehung zu mehreren. Das Charisma erklärt sich also aus der Komplementarität narzißtischer Strukturen bei Führer und Massenindividuen, die sich in einem regressiven Zustand befinden. „Wir haben dies Wunder108 so verstanden, daß der Einzelne sein Ichideal aufgibt und es gegen das im Führer verkörperte Massenideal vertauscht. Das Wunder, dürfen wir berichtigend hinzufügen, ist nicht in allen Fällen gleich groß. Die Sonderung von Ich und Ichideal ist bei vielen Individuen nicht weit fortgeschritten, die beiden fallen noch leicht zusammen, das Ich hat sich oft die frühere narzißtische Selbstgefälligkeit bewahrt. Die Wahl des Führers wird durch dies Verhältnis sehr erleichtert. Er braucht oft nur die typischen Eigenschaften dieser Individuen in besonders scharfer und reiner Ausprägung zu besitzen und den Eindruck größerer Kraft und libidinöser Freiheit zu machen, so kommt ihm das Bedürfnis nach einem starken Oberhaupt entgegen und bekleidet ihn mit der Übermacht, auf die er sonst vielleicht keinen Anspruch hätte.“109 An der Bemerkung über die Differenzierung von Ich und Ichideal zeigt sich erneut die Bedeutung der regressiven Disposition – bzw. von Fixierungen früher Entwicklungsstufen – für die charismatische Empfänglichkeit der Massenindividuen, die der Narzißmus des Führers in seiner Vorspiegelung von Größe und Omnipotenz zu befriedigen vermag. Dabei ist es offenbar nicht zuletzt die sadistische Komponente des urväterlichen Narzißmus, die in der Attraktivität der charismatischen Führergestalten eine erhebliche Rolle spielt und folgerichtig die Massenindividuen zur Unterwerfung unter dessen Allmacht veranlaßt. Freud betont auch an anderer Stelle, im Rahmen seiner kurzen Abhandlung Über libidinöse Typen, das „große[] Maß von Aggression“, das dem Ich des von ihm „narzißtisch geheißene[n] Typus“ verfügbar ist.110 Dem entspricht, daß in diesem narzißtischen Typus „[k]eine Spannung zwischen Ich und Über-Ich“ – wel108

Freud spricht, wie erwähnt, nicht von ‚Charisma‘; ‚Wunder‘ bezieht sich hier auf den regressiven Verlust reiferer psychischer Strukturen der Massenindividuen, insbesondere ihrer individuellen Unabhängigkeit, ihrer jeweiligen „Selbständigkeit und Originalität“ (Freud (1921), S. 120), wie er für die charismatische Beziehung charakteristisch ist. Je tiefer die Regression, so läßt sich aus dem nächsten Satz schließen, desto größer das Wunder. 109 Freud (1921), S. 120. 110 Freud (1931), S. 186 – H. i. O.

2. Zeitgenössische Beobachtungen

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ches letztere ja ansonsten einen großen Teil der aggressiven Triebenergien absorbiert und gegen das Ich wendet – herrscht, er ist diesbezüglich – frei von Gewissensängsten und Skrupeln – mit sich im Einklang bzw. vorbehaltlos von sich eingenommen. „Menschen dieses Typus imponieren den andern als ‚Persönlichkeiten‘, sind besonders geeignet, andern als Anhalt zu dienen, die Rolle von Führern zu übernehmen, der Kulturentwicklung neue Anregungen zu geben oder das Bestehende zu schädigen.“111 Bei aller Disposition zu historischer Größe ist dieser Typus infolge einer geringen narzißtischen Kränkungstoleranz zugleich in spezifischer Weise regressionsgefährdet und neigt zu Antisozialität. „Die narzißtischen Typen, die bei ihrer sonstigen Unabhängigkeit der Versagung von seiten der Außenwelt ausgesetzt sind, enthalten eine besondere Disposition zur Psychose, wie sie auch wesentliche Bedingungen des Verbrechertums beistellen“.112 Die psychotische Disposition hängt mit ebenjener narzißtischen Unabhängigkeit, d. h. dem Fehlen objektlibidinöser Bindungen, zusammen. Die den Psychosen „eigentümlichen Charaktere des Größenwahns, der Abwendung von der Welt der Objekte und der Erschwerung der Übertragung haben uns zu dem Schlusse genötigt, daß deren disponierende Fixierung in einem Stadium der Libidoentwicklung vor der Herstellung der Objektwahl, also in der Phase des Autoerotismus und des Narzißmus zu suchen ist. Diese [. . .] Erkrankungsformen gehen also auf sehr frühzeitige Hemmungen und Fixierungen zurück.“113 Aus dieser äußeren Bindungslosigkeit erklärt sich die Möglichkeit der spezifisch psychotischen Reaktion auf kränkende Versagungen seitens der Realität. Zwar sind „Neurose wie Psychose [. . .] beide Ausdruck der Rebellion des Es gegen die Außenwelt, seiner Unlust oder, wenn man will, seiner Unfähigkeit, sich der realen Not, der ’Anagxh, anzupassen.“114 Im Konflikt zwischen den Ansprüchen des Es und den Anforderungen der versagenden Realität läßt sich aber im Falle der Psychose, anders als bei der Übertragungsneurose mit ihrem spezifischen Verdrängungsmechanismus, das Ich vom Es überwältigen und wendet sich – in narzißtischer Unabhängigkeit – von der kränkenden Realität ab, diese leugnend, um die von dieser ausgehenden Versagungen nicht ertragen zu müssen. In „Erinnerungstäuschungen, Wahnbildungen und Halluzinationen“ erzeugt der psychische Apparat in der Psychose dann autoplastisch einen Ersatz für die Realität,115 der das Ich entrissen wurde: in der „extremsten und frappantesten Form der Psychose“ schafft „das Ich [. . .] sich selbstherrlich eine neue 111 112 113 114 115

Freud Freud Freud Freud Freud

(1931), S. 186 f. (1931), S. 188. (1913b), S. 170 – H. i. O. (1924b), S. 274 f. (1924b), S. 275.

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III. Narzißmus und Charisma

Außen- und Innenwelt, und es ist kein Zweifel an zwei Tatsachen, daß diese neue Welt im Sinne der Wunschregungen des Es aufgebaut ist und daß eine schwere, unerträglich erscheinende Wunschversagung der Realität das Motiv dieses Zerfalles mit der Außenwelt ist.“116 Diese von Freud hervorgehobene psychopathologische Dimension des Narzißmus spielt in zweierlei Hinsicht eine herausragende Rolle in der Betrachtung des Charismas: Zum einen verweist sie auf der Ebene wissenssoziologischer Semantik-Beobachtung auf einen präsumtiven Zusammenhang von ‚Genialität und Wahnsinn‘, wie er im zeitgenössischen Genie-Diskurs thematisiert wurde, aus dem ja auch Max Weber in seiner Charismatheorie Inspiration empfing. Freuds Hinweise auf die psychotische Anfälligkeit des narzißtischen Persönlichkeitstypus bei gleichzeitigen kulturellen Schöpferund sozialen Führerqualitäten sind – bei aller theoretischen Originalität in der Erklärung der statistischen Koinzidenz von Genie und Wahnsinn – prinzipiell geeignet, das semantische Schema zu bestätigen, wenngleich der Geniekult-typische Heroismus des ‚genialen Wahnsinns‘ mit seinem „dämonischen Reiz“117 in der professionellen Ent-täuschungsarbeit der Psychoana116

Freud (1924a), S. 268. Benn (1930b), S. 140. – Gottfried Benn nimmt sich in seinen Essays über Genie und Gesundheit und Das Genieproblem, in denen er „die Frage: Genie und Irrsinn“ behandelt (Benn (1930b), S. 131), dieser Semantik in exemplarischer Weise an. Mit seiner These, daß „das psychopathische Element [. . .] ein unentbehrlicher Teilfaktor in dem psychologischen Gesamtkomplex, den wir Genialität nennen“ ist (Benn (1930b), S. 138), nimmt Benn an der Fortschreibung des naturwissenschaftlich-medizinischen Diskurses des 19. Jahrhunderts teil – auf den Zusammenhang von Körperbau und Genialität hatte bereits Johann Caspar Lavater in seinen Physiognomischen Fragmenten hingewiesen (vgl. Lavater (1775–78), S. 292 ff.), allerdings noch unter theologischen Prämissen, die das späte 19. Jahrhundert durch naturwissenschaftlich-medizinische Begründungszusammenhänge ersetzt –, der einen zentralen Bezugspunkt im physiologisch-charakterologischen Werk des italienischen Psychiaters und Kriminologen Cesare Lombroso (1836–1909) hatte (vgl. Benn (1930b), S. 137). Benn kann sich hierbei auf die einflußreichen zeitgenössischen Pathographien Kretschmers und Lange-Eichbaums berufen. Als Evidenz für die These – „Genie ist Krankheit, Genie ist Entartung“ (Benn (1930b), S. 138) – führt Benn lange Namenslisten von als genial bezeichneten Persönlichkeiten – „meistens Tote, meistens Männer, wenig Gelehrte, einige Feldherren, meistens Künstler, Dichter Philosophen und die Legierungen zwischen ihnen“ (Benn (1930b), S. 131) – nebst ihren jeweiligen genietypischen Erkrankungen bzw. Degenerationserscheinungen an. Neben den üblichen Verdächtigen – Nietzsche (starb an „Paralyse“), Hölderlin („Schizophrenie“), Mozart („Melancholie [. . .] mit Vergiftungsideen“, „hatte verkrüppelte atavistische Ohren“), van Gogh („Schizophrenie“, „Epilepsie“, „Selbstmord“), aber auch Goethe („höchst reizbarer Psychopath“ und schwerer Trinker, „Cyclomythie mit Depressionen“ und „Hypomanie“) und Kant (lebenslang „asexuell“, starb an „arteriosklerotischer Verblödung“) (Benn (1930a), S. 106; vgl. Benn (1930b), S. 135 ff.) – findet sich u. a. als für den zu untersuchenden Stirner-rezeptionsgeschichtlichen Zusammenhang wichtiger Fall auch der Psychiater und Autor 117

2. Zeitgenössische Beobachtungen

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lyse gebrochen wird. Zum anderen erweisen die von Freud angestoßenen Überlegungen zur Psychopathologie des Narzißmus ihre theoretische Fruchtbarkeit auch auf der Ebene einer sozialwissenschaftlichen Betrachtung des Charisma-Phänomens, wie sie Stefan Breuer im Anschluß an Heinz Kohuts psychoanalytische Theorie narzißtischer Persönlichkeitsstörungen vorlegt.118 der Münchner Moderne Oskar Panizza, mit „ausgesprochner klinischer Schizophrenie“ (Benn (1930b), S. 135; vgl. Benn (1930a), S. 106), der seinerseits bereits 1891 einen an Lombroso orientierten Vortrag zum Thema Genie und Wahnsinn gehalten hatte (siehe unten, IV. 2.). Neben psychischen Erkrankungen treten – physiognomisch einschlägig – in der Gruppe der Genies auch „[v]iele körperliche Mißbildungen“ auf, dieser hatte „einen Wasserkopf, jener einen prognaten kriminellen Oberkiefer, der eine tierische fliehende Stirn, der idiotische Kinder –, das Produktive, wo immer man es berührt, eine Masse durchsetzt von Stigmatisierungen, Rausch, Halbschlaf, Paroxysmen; ein Hin und Her von Triebvarianten, Anomalien, Fetischismen, Impotenzen“ (Benn (1930b), S. 136 f. – H. i. O.). Obwohl die „Geniewerdung“ ein „extrem soziologischer Prozeß“ sei, wie Benn betont, nämlich die „Aufnahme“ des Genies durch seine soziale Um-, und häufig erst: Nachwelt (Benn (1930b), S. 138 – H. i. O.), beruht also Genialität dennoch auf „extrem biologische[m] Besitz“, wofür nicht zuletzt die „von der Psychoanalyse enthüllten Zusammenhänge[] zwischen Triebsublimierung und Kunstschaffen“ sprächen (Benn (1930a), S. 108). Mögen demnach die Entfaltungsbedingungen der Genialität soziale sein, so bleibt sie dennoch an natürliche Veranlagung gebunden; und diese Anlage läßt sich mit dem „Begriff des Bionegativen (Lange-Eichbaum)“ fassen (Benn (1930b), S. 141 – H. i. O.), was der statistisch belegten Koinzidenz von Genie und Psychopathie entspricht, die beide Produkt erbgenetischer wie physiologischer Degeneration sind (vgl. Benn (1930b), S. 133 ff.). Gerade bestimmte Entartungserscheinungen aber sind es, die die soziale Aufnahme des Genies begünstigen, weil sie einen „dämonischen Reiz“ auf die soziale Umwelt ausüben: „Krankheit, Selbstmord, früher Tod, Rauschsucht, Kriminelles, Abnormität und ganz besonders deutlich und massiv: die Psychose“ (Benn (1930b), S. 140). 118 Vgl. Kohut (1976); Breuer (1995) u. Breuer (2002), S. 110 ff. – Im Hinblick auf das Thema ‚Genialität und Krankheit‘ legt auch Kohut, in einer weniger dramatischen und insofern entmystifizierenden Fassung, einen strukturellen Zusammenhang zwischen bestimmten, insbesondere künstlerischen Formen der Kreativität und einem ungezügelten, wenig neutralisierten – und insofern verwundbaren, vom klinischen Standpunkt betrachtet problematischen – Narzißmus nahe. „Das allmähliche Erkennen der realistischen Unvollkommenheiten und Begrenzungen des Selbst, d. h. die allmähliche Verringerung des Bereichs und der Macht der Größenphantasien, ist im allgemeinen eine Voraussetzung für die psychische Gesundheit im narzißtischen Sektor der Persönlichkeit. Für diese Regel gibt es aber Ausnahmen. Ein fortdauernd aktives Größen-Selbst mit seinen wahnhaften Erwartungen kann ein durchschnittlich ausgestattetes Ich schwer beeinträchtigen. Das Ich eines begabten Menschen kann jedoch durchaus zur Ausschöpfung seiner letzten Fähigkeiten und somit zu wirklich hervorragenden Leistungen durch die Forderungen der Größenphantasien eines fortdauernden, kaum modifizierten Größen-Selbst getrieben werden.“ (Kohut (1976), S. 132 f.) Kohut nennt an dieser Stelle Churchill und Goethe als herausragende historische Beispiele für diesen Typus, dem die grandiosen Selbstanforderungen Ansporn zu außergewöhnlichen Leistungen waren, die die Versorgung mit narzißti-

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III. Narzißmus und Charisma

Psychoanalytische Narzißmustheorien wie diejenigen Kohuts119 erweiterten das Beobachtungsspektrum für die Diagnose und Therapie von Psychopathologien, die im Hinblick auf ihre entwicklungsgenetischen Voraussetzungen im Bereich zwischen den Psychosen (bzw. ‚narzißtischen Neurosen‘) und den Übertragungsneurosen anzusiedeln sind: die also auf – Fixierungen bzw. Regressionen bedingenden – Störungen in ontogenetischen Entwicklungsphasen beruhen, in denen der psychische Apparat zwar schon zwischen sich und der Welt zu unterscheiden vermag, in denen aber die reiferen psychischen Strukturen, wie sie bei Übertragungsneurosen bereits vorliegen, noch nicht ausgebildet oder fehlgebildet oder nicht hinreichend stabilisiert sind. Vom wissenssoziologischen Standpunkt einer Beobachtung von Individualitätssemantik sind hierbei weniger die Kontroversen und unterschiedlichen metapsychologischen Akzentsetzungen innerhalb des psychoanalytischen Diskurses120 von Interesse, als vielmehr der grundsätzliche Sachverhalt, daß mit dem individualpsychopathologischen Beobachtungsspektrum zugleich das semantische Feld von Individualität systematisch erweitert und ausdifferenziert wird.121 Darüber hinaus bieten die mit der Psychoanalyse der ‚narzißtischen Persönlichkeiten‘ verbundenen metapsychologischen Errungenschaften ein verfeinertes narzißmustheoretisches Instrumentarium zur psychoanalytischen Deutung des Charisma-Phänomens.122 Auf diesem Feld schen Gratifikationen auf einer realistischen Basis sicherstellten (vgl. S. 133, vgl. auch S. 346 ff.). 119 Vgl. auch Kernberg (1983); Wirth (2002); Laplanche/Pontalis (1973), S. 317 ff. 120 Vgl. etwa Kernberg (1983), S. 301 ff.; Kohut (1981), S. 15 ff. 121 Außerdem ist die metapsychologische wie klinische Erschließung narzißtischer Pathologien symptomatisch für eine Leitbildverschiebung: vom vatermörderischen Ödipus, der die Mutter begehrt, zum selbstzerstörerischen und selbstverliebten Narcissus. Modernitätsdiagnostisch geht dieser Deutungsschemawechsel – ein ‚gestalt-switch‘ (vgl. Kuhn (1976), S. 98) – in seiner Signifikanz über den psychoanalytischen Diskurs hinaus: Zunächst spiegelt sich im Wechsel von der ödipalen zur narzißtischen Ordnung des Begehrens eine individualitätssemantische Entwicklung wider. Die für die ödipale Konstellation konstitutive Geschlechterpolarität verliert für die Identität des primär sich selbst begehrenden ‚übergeschlechtlichen‘ Individuums an Bedeutung (vgl. Gölz (2002), S. 5); siehe auch unten, VI. 3. b). Auf einer noch abstrakteren Ebene läßt sich dies wissenssoziologisch mit dem semantischen Siegeszug der Figur der Selbstreferentialität in der Moderne in Verbindung bringen (vgl. Luhmann (1993b I), S. 301 ff.). Auch der Bedeutungszuwachs des Narzißmus im psychoanalytischen Diskurs läßt sich unter diesem wissenssoziologischen Aspekt betrachten. Dessenungeachtet ist es auch nicht unplausibel, eine tatsächliche statistische Zunahme narzißtischer Pathologien im Verhältnis zu den klassischen Übertragungsneurosen anzunehmen – in jedem Fall kann von einer erhöhten Sensibilität bezüglich ihrer Registratur ausgegangen werden. 122 Die Paradigmenverschiebung von Ödipus zu Narcissus zeigt sich auch daran, daß Freuds klassische Deutung des Führer-Magnetismus bzw. Charismas in der

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bewegt sich, im expliziten Anschluß an beide hier skizzierten Beobachtungstraditionen – Webers Charisma-Soziologie und die Psychoanalyse des Narzißmus –, Breuers Untersuchung zum ‚ästhetischen Fundamentalismus‘ und der bereits von Weber beobachteten charismatischen Herrschaft Stefan Georges. Breuer betont, daß „Max Webers Begriff der charismatischen Herrschaft“ auf die psychische „Bedürfnislage“ der charismatisch Beherrschten abstelle, auf das „Nicht-anders-Können“ der sich dem Charismatiker Unterwerfenden, und daß die „Narzißmustheorie [. . .] die von Weber offengelassene psychologische Begründung für diesen Zwang“ liefert.123 Im Hinblick auf Breuers narzißmuspathologische Analyse des GeorgeKreises – und auf die noch folgenden Beobachtungen von Sektenbildung im Zusammenhang mit charismatischer und charismatifikatorischer Kommunikation –, aber auch im Hinblick auf die zeitgenössischen Evidenzen, die Weber mitveranlaßten, seine Charisma-Soziologie zu entwickeln, ist auch eine weitere Bemerkung Freuds beachtenswert: „Es ist auch nicht schwer, in all den Bindungen an mystisch-religiöse oder philosophisch-mystische Sekten und Gemeinschaften den Ausdruck von Schiefheilungen mannigfaltiger Neurosen zu erkennen.“124 In der Selbstabgrenzung der Sekte von der gesellschaftlichen Umwelt wiederholt sich einerseits die Krankheitsisolation der Neurotiker; andererseits ermöglicht sie so ihren Mitgliedern, der individuellen Isolation dadurch zu entgehen, daß diese – unter Bedingungen sozialer Vollinklusion und rekursiver kommunikativer Affirmation – ihre Phantasiewelten und Wahnsysteme miteinander teilen können. Die Sekte läßt sich demnach als ein sozialisiertes Wahnsystem verstehen: in ihr herrscht eine eigene Realität, die von außen betrachtet als wahnhaft, illusorisch erkennbar ist, von innen aber als die einzig wahre Wirklichkeit erscheint – wie in einem psychotischen Wahn, mit dem Unterschied allerdings, daß die Realitätskonstruktion der Sekte eine soziale und nicht bloß psychische ist, mit der Konsequenz eines größeren alloplastischen und insbesondere sozialen Wirkungspotentials. Zieht man die aus Freuds narzißmustheoretischen Überlegungen bekannte kränkungskompensatorische Bedeutung der Ichidealbildung und ihrer narMassenpsychologie mithilfe des Urvater-Szenarios aus Totem und Tabu bei aller Betonung des urväterlichen Narzißmus und der narzißtischen Idealisierungs- und Identifizierungsbeziehungen noch eine ödipale Konstellation, nämlich die Ermordung des Urvaters durch die mit diesem um die Weibchen rivalisierenden Söhne, bemüht. D. h. Freud analysiert die Führer-Masse-Beziehung nach dem Ödipus-Schema in Kombination mit narzißmustheoretischen Einsichten, während für die im folgenden darzustellenden charismatheoretischen Überlegungen auf der Grundlage der Narzißmustheorie Kohuts der Ödipus-Komplex von nachgeordneter Bedeutung ist. 123 Breuer (1995), S. 248. 124 Freud (1921), S. 132.

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III. Narzißmus und Charisma

zißtischen Besetzung sowie die regressive Attraktivität und Seduktivität eines relativ ungebrochenen Narzißmus denjenigen gegenüber in Betracht, die unter dem Druck der Realität einen weiten Rückzug von solchen narzißtischen Positionen hinter sich gebracht haben,125 so wird sowohl der charismatische Zauber, der zwischen entsprechend disponierten Charakteren entsteht, als auch ein vermehrtes Aufkommen dieses Phänomens in der Moderne, auf dem kulturgeschichtlich erreichten, hohen narzißtischen Kränkungsniveau und angesichts der damit verbundenen Kompensationsbedürftigkeit und regressiven Anfälligkeit, erklärbar.

3. Psychoanalytische Narzißmustheorie und Sozialpsychologie des Charismas Stefan Breuers Studie zum Ästhetischen Fundamentalismus Stefan Georges läßt sich als eine exemplarische Bestätigung und Spezifikation der These zur gesteigerten Regressionsanfälligkeit und zur Erwartbarkeit charismatischer Phänomene in der Moderne lesen.126 Breuer führt darin aus sozialwissenschaftlicher Perspektive Webers Charisma-Begriff am Beispiel der charismatischen Beziehungen und sektenhaften Strukturen des GeorgeKreises und seines Umfeldes einer psychoanalytischen Interpretation im Sinne der seit Freud weiterentwickelten Narzißmustheorie zu, wobei er sich insbesondere auf Heinz Kohuts Studien zum Narzißmus bzw. zu den narzißtischen Persönlichkeitsstörungen bezieht.127 Das Charisma erklärt sich in dieser Perspektive als eine Funktion komplementärer Formen narzißtischer Persönlichkeitsstörungen beim ‚Meister‘ Stefan George einerseits und seinen Jüngern andererseits. Zwischen diesen beiden Formen herrscht gleichsam eine polare Anziehungskraft, und diese magnetische Relation erscheint als Charisma. In der psychoanalytischen Terminologie Kohuts handelt es sich hierbei um Vorgänge der narzißtischen Übertragung. a) Größen-Selbst, Selbst-Objekte und narzißtische Übertragungen: Heinz Kohuts Theorie des Narzißmus Kohut unterscheidet zwei „grundlegende[] narzißtische[] Konfigurationen“,128 das „Größen-Selbst“ und die „idealisierte Elternimago“, die er 125

Siehe oben, II. 3. c) und d). Vgl. Breuer (1995), bes. S. 241 ff.; vgl. Breuer (1994), S. 144 ff.; Breuer (2002), S. 102 ff., bes. S. 110 ff. Vgl. zum (okzidentalen) Fundamentalismus in der Moderne und dessen Regressivität auch Breuer (2002); Breuer (1999), S. 21 ff., 62 ff., 139 ff.; Breuer (1994), S. 188 ff. 127 Vgl. z. B. Breuer (1995), S. 7, 29 f., 69 f.; (1994), S. 144 ff.; (2002), S. 110 ff. 126

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beide in genetischer Perspektive als „Stadium des kohärenten Selbst“ zusammenfaßt (S. 51). Die als Selbst-Kohärenz bezeichnete „Wahrnehmung des Selbst als einer körperlichen und geistigen Einheit, die räumlich zusammenhängt und zeitlich fortdauert“ (S. 143), markiert den strukturellen Fortschritt dieser infantilen Entwicklungsphase gegenüber dem früheren primärnarzißtischen Stadium symbiotischen Ich-Welt-Erlebens (vgl. S. 43) und dem – nach Freuds erster Narzißmustheorie – pränarzißtischen Stadium des Autoerotismus, dem in Kohuts Terminologie das Stadium des „fragmentierten Selbst“ entspricht (S. 48, 143). Hieraus erklärt sich die kompensatorisch-rebalancierende Bedeutung der beiden „kohärenten narzißtischen Kernkonfigurationen“ (S. 29) gegenüber jenen genetisch früheren Positionen, sowie die Abwehrfunktion, die den Konfigurationen des kohärenten Selbst gegenüber der Gefahr tieferer Regression – in Richtung auf Selbst-Auflösung bzw. -Verlust oder -Fragmentierung (Psychosen, Borderline-Zustände) – zukommt (vgl. S. 28, 21). Gleichwohl handelt es sich bei den beiden in Frage stehenden Konfigurationen noch um genetisch frühe, archaische narzißtische Positionen, die durch einen – bestimmten infantilen Entwicklungsphasen angemessenen – Irrealismus im Hinblick auf die grandiose bzw. idealisierende Überschätzung des Selbst und seiner Objekte gekennzeichnet sind. Diese unrealistische Überschätzung des Selbst und seiner Objekte entspricht dem (im nichtpathologischen Fall) transitorischen Charakter dieses Entwicklungsstadiums: Der primäre Narzißmus ist unter dem Druck realer Versagungen bereits verlassen, aber die statt dessen sich einstellende narzißtische Position entspricht noch nicht dem Realismus des reifen psychischen Apparats. Die beiden kohärenten narzißtischen Konfigurationen tragen noch Züge ursprünglicher, primärnarzißtischer Vollkommenheit, gerade weil sie für deren Verlust eine unmittelbare Kompensation darstellen, die ihrerseits noch weit vom Entwicklungsziel einer realistischen Selbstkonzeption entfernt ist. „Das Gleichgewicht des primären Narzißmus wird durch die unvermeidlichen Begrenzungen mütterlicher Fürsorge gestört, aber das Kind ersetzt die vorherige Vollkommenheit (a) durch den Aufbau eines grandiosen und exhibitionistischen Bildes des Selbst: das Größen-Selbst; und (b) indem es die vorherige Vollkommenheit einem bewunderten, allmächtigen (Übergangs-)SelbstObjekt zuweist: der idealisierten Elternimago.“ (S. 43 – H. i. O.)129 Die infantile genetische „Stufe des Größen-Selbst“ ist durch ein „selbstbezogenes Verlangen nach Zuwendung“ gekennzeichnet, während auf der 128 Kohut (1976), S. 45. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich im vorliegenden Unterabschnitt ebenfalls auf Kohut (1976). 129 Der Komplementarität dieser grundlegenden Unterscheidung entsprechend, bezeichnet Kohut das Größen-Selbst auch als „narzißtische[s] ‚Subjekt‘“ und die idealisierte Elternimago als „narzißtische[s] ‚Objekt‘“, das als „Selbst-Objekt“ erlebt wird (Kohut (1976), S. 51 f.).

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III. Narzißmus und Charisma

„Stufe der idealisierten Elternimago“ ein „unabweisbares Bedürfnis nach Verschmelzung mit [dem] mächtigen Objekt“ besteht (S. 26). „Die wesentlichen Mechanismen (‚ich bin vollkommen.‘ ‚Du bist vollkommen, aber ich bin ein Teil von dir.‘), die die beiden grundlegenden narzißtischen Konfigurationen verwenden, um einen Teil der ursprünglichen Erfahrung narzißtischer Vollkommenheit zu bewahren, sind natürlich gegensätzlich. Und dennoch bestehen sie von Anfang an gemeinsam, und ihre jeweiligen und zum großen Teil unabhängigen Entwicklungslinien können getrennt voneinander untersucht werden. Unter optimalen Entwicklungsbedingungen können Exhibitionismus und Größenwahn des archaischen Größen-Selbst schrittweise gezähmt werden, und die gesamte Struktur wird letztlich in die erwachsene Persönlichkeit integriert und liefert die Triebenergie für ich-syntone Erwartungen und Ziele, für die Freude an unseren Tätigkeiten und für wichtige Aspekte unserer Selbstachtung. Und unter gleichermaßen günstigen Umständen wird auch die idealisierte Elternimago in die erwachsene Persönlichkeit integriert. Als idealisiertes Über-Ich introjiziert, wird es ein wichtiger Bestandteil unserer psychologischen Struktur, die in uns den Führungsanspruch seiner Ideale vertritt.“ (S. 46, vgl. S. 60 ff., 131 ff.) Das Gelingen dieses Entwicklungsprozesses, in dem die frühen narzißtischen Positionen zugunsten reiferer psychischer Strukturbildung aufgegeben werden, ist wesentlich an das erlebbare Verhalten der infantilen Selbstobjekte, in der Regel der Eltern, gebunden: insbesondere an ihre Fähigkeit und Bereitschaft, in empathischer Weise auf die grandios-exhibitionistische Darstellung des kindlichen Selbst, aber auch auf Unlustäußerungen (z. B. Angst) ihres Kindes und auf dessen Bedürfnis, sie zu idealisieren, adäquat zu reagieren, d. h. im Modus der „optimalen Versagung“ (S. 86, vgl. S. 64 ff.), die den kindlichen Narzißmus prinzipiell annimmt, um ihn auf nicht-traumatisierende Weise einem höheren Niveau an Realismus130 zuzuführen. 130 Mit ‚Realismus‘ ist nur eine von vielen Errungenschaften des reifen psychischen Apparates angesprochen. Weitere diesem Entwicklungsziel eingeschriebene und mit dem Schicksal des Narzißmus verbundene psychische Funktionen betreffen etwa Affektkontrolle, Impulsneutralisierung, Triebsublimierung, Spannungsreduktion, Rebalancierung, eine gratifikatorische, Orientierung verleihende Struktur von Idealen, Reflexivität, Empathiefähigkeit usw. Die (neben anderen) vom Ich übernommene Funktion der Realitätsprüfung bezieht sich in zentraler Weise auf die eigene Selbstkonzeption und hat konkret die individuellen Fähigkeiten, Stärken, Schwächen, Bedürfnisse usw. mit den Fremdbeobachtungen der eigenen Person und den an diese gerichteten Erwartungen, also die psychische Konzeption des eigenen Selbst mit dessen sozialen Images zu vergleichen und abzustimmen, um zu einer realistischen Selbsteinschätzung zu kommen. Auf einer abstrakteren Ebene bedeutet dies – neben allen konkreten individuellen Merkmalen in Selbst- und Fremdzuschreibung –, daß eine solche realistische Selbstkonzeption unter modernen Bedingungen im Einklang steht mit den allgemein gesellschaftlich als realistisch befundenen Annahmen, daß kein Individuum allmächtig oder allwissend ist, daß kein Indi-

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Das klinische Bild der narzißtischen Persönlichkeitsstörung ist hingegen das Ergebnis eines Scheiterns dieses Prozesses der Transformation, Modifikation und psychisch-strukturellen Integration des archaischen Narzißmus, das sich anhand von „spezifischen Fixierungen und Regressionsneigungen“ auf der Ebene des kohärenten Selbst beschreiben läßt (S. 28, vgl. S. 37). Traumatische Kränkungen während der infantilen Entwicklung können den Rückzug auf Positionen narzißtischer Größe und Unangreifbarkeit bzw. deren Fixierung zur Folge haben. Beim Erwachsenen bleibt dann – verdrängt oder abgespalten – das „Größen-Selbst [. . .] in unveränderter Form erhalten und strebt nach Erfüllung seiner archaischen Ziele.“ (S. 46) Entsprechendes gilt für den „Bereich des allmächtigen Objekts“ (S. 26), wenn „die idealisierte Elternimago in ihrer unveränderten Form erhalten [. . .] bleibt [als] ein archaisches Übergangs-Selbst-Objekt, das für die Aufrechterhaltung des narzißtischen Gleichgewichts gebraucht wird.“ (S. 46 f.)131 Die pathogene Fixierung in diesem Entwicklungsstadium begründet die Spezifität der narzißtischen Persönlichkeitsstörungen im Unterschied sowohl zu den genetisch späteren Übertragungsneurosen als auch zu den früheren narzißtischen Pathologien, den Psychosen und Borderline-Zuständen (vgl. S. 36). Gegenüber diesen letztgenannten schweren narzißtischen Psychopathologien, die dadurch gekennzeichnet sind, daß in ihnen das Stadium des kohäviduum ein absolutes kosmisches Zentrum darstellt und daß jedes Individuum sterblich ist. Das mag trivial erscheinen, womit die Annahme bestätigt wäre, daß dieser Realismus praktisch allgemein gilt; allerdings relativiert sich ein möglicher Trivialitätseindruck, wenn man bedenkt, daß diese realistischen Annahmen Negationen von narzißtischen Positionen sind, die charakteristisch sind nicht nur für das infantile Universum bestimmter Entwicklungsphasen bzw. für dessen regressiv-pathologische Wiederkehr, sondern auch für die sozialen Realitätskonstruktionen sowohl vormoderner Gesellschaften als auch bestimmter sozialer Reservate und semantischer Segmente in der Moderne. Damit kommt der konstruktivistische Aspekt bei der Betrachtung jenes Realismus ins Spiel: Eine unrealistisch-grandiose Selbstkonzeption, als Konstrukt des psychischen Systems, mag mitunter kompatibel sein mit bestimmten sozialen Selbst- bzw. Individualitätskonstrukten, die jenseits ihres historisch, kulturell und sozial beschränkten Kontextes ebenso als unrealistisch erscheinen mögen; aber innerhalb dieses Kontextes fungieren diese Konstrukte als maßgebliche Realität, weshalb mit ihnen kompatible psychische Konstrukte eines grandiosen Selbst in diesem Kontext ebenfalls die Chance haben, als realistisch zu gelten. Das ist etwa der Fall in der hermetischen Realitätskonstruktion der Sekte und wird prinzipiell auch begünstigt durch die Semantik einer Zeit, die mit Genies, Übermenschen, Führern und anderen Heilsbringern rechnet. 131 Vgl. Laplanche/Pontalis (1973), S. 548 f., zu D. W. Winnicotts Begriff des ‚Übergangsobjekts‘, das einen infantilen Erlebnisraum zwischen Innen und Außen konstituiert – ein Objekt, das in der äußeren Realität materiell existiert und doch für das Kind keinen eigenständigen Objektstatus hat, sondern von diesem als Teil seiner Selbst erlebt wird –, welcher dadurch beim Erwachsenen als Erfahrungsquelle des Imaginativen fungiert.

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renten Selbst – also die relativ stabilen Stufen von Größen-Selbst bzw. idealisierter Elternimago – noch nicht entwickelt ist, zeichnen sich die narzißtischen Persönlichkeitsstörungen durch ihre Analysierbarkeit aus.132 Dies zu begründen und darzustellen, ist Kohuts zentrales Anliegen in klinischer wie metapsychologischer Hinsicht, wie auch der Untertitel seines Narzißmus-Buches ausdrückt: Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung narzißtischer Persönlichkeitsstörungen.133 Entscheidend ist in diesem Zusammenhang die Erkenntnis, daß die narzißtischen Persönlichkeitsstörungen einer „narzißtischen Übertragung“ fähig sind,134 die sich psychoanalytisch durcharbeiten läßt. Freud war generell skeptisch bezüglich der Übertragungsfähigkeit und damit psychoanalytischen Behandelbarkeit narzißtischer Störungen auf dem seinerzeit gegebenen Stand psychoanalytischen Wissens.135 Dies schlägt sich auch begrifflich an Freuds nosologischer Unterscheidung der Übertragungsneurosen von den narzißtischen Neurosen nieder.136 Die frühen, narzißtischen Psychopathologien waren dadurch definiert, daß sich bei ihnen keine Übertragung einstellt. Kohuts Begriff der „narzißtischen Übertragung“ erscheint demnach geradezu als Widerspruch in sich. Gleichwohl gewinnt er seine Konzeption der narzißtischen Übertragung – mit dem mitunter verwendeten terminologischen Zugeständnis der „übertragungsähnlichen“ Strukturen, Zustände oder Beziehungen (z. B. S. 41, 48, 67) – im expliziten Anschluß an Freud. Demnach „bedeutet der Begriff Übertragung die Verschmelzung verdrängter, infantiler, objektlibidinöser Bedürfnisse mit (vor)bewußten Wünschen, die sich auf gegenwärtige Objekte beziehen. Die klinische Übertragung kann in diesem theoretischen Rahmen als ein Spezialfall eines allgemeinen Mechanismus verstanden werden: Die vorbewußten Einstellungen des Analysanden zum Analytiker werden zu Trägern verdrängter, infantiler, objektgerichteter Wünsche.“ (S. 42) Der Begriff der ‚narzißtischen Übertragung‘ bei Kohut wird möglich durch eine Revision im psychoanalytischen Narzißmuskonzept: Kohut behält zwar die Unterscheidung von Objektlibido und narzißtischer Libido bei, konstatiert aber für letztere ebenfalls eine, allerdings spezifisch narzißtische Objektfähigkeit. Damit ist die Voraussetzung für die Möglichkeit einer Übertragungsbeziehung gegeben.

132 Vgl. Kohut (1976), S. 17 ff.; vgl. Kohut (1981), S. 166 f.; vgl. aber Kernberg (1983), S. 302 ff. 133 So auch der amerikanische Originaltitel von 1971: The Analysis of the Self: A Systematic Approach to the Psychoanalytic Treatment of Narcissistic Personality Disorders. 134 Z. B. Kohut (1976), S. 47, 233 ff. 135 Vgl. Freud (1915–17), S. 351 f.; Freud (1940), S. 68. 136 Vgl. Freud (1915–17), S. 349 ff.

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Die narzißtischen Objekte bezeichnet Kohut als „Selbst-Objekte“, deren qualitative Verschiedenheit gegenüber den späteren Objekten der Objektlibido er exemplarisch veranschaulicht: „Das kleine Kind z. B. versieht andere Menschen mit narzißtischen Besetzungen und erlebt sie daher narzißtisch, d. h. als Selbst-Objekte. Die erwartete Kontrolle über diese anderen (Selbst-Objekte) ist der Vorstellung der Kontrolle näher, die ein Erwachsener über seinen eigenen Körper und seine eigene Seele hat, als der Vorstellung von der Kontrolle, die er über andere ausüben kann.“ (S. 45, vgl. S. 52, 139) Ein dem infantilen Narzißmus entsprechender Objektbezug ist auch bei den (erwachsenen) narzißtischen Persönlichkeitsstörungen zu beobachten. Diese Selbst-Objekte der narzißtischen Persönlichkeiten „sind archaisch, narzißtisch besetzt und prästrukturell“, und darauf gründet eine spezifische Abhängigkeit von ihnen, denn sie stellen eine für das narzißtische Gleichgewicht funktional notwendige Ergänzung einer defizienten psychischen Struktur dar: „Ob sie deshalb mit Strafe drohen oder Liebesentzug, oder ob sie den Patienten mit ihrem zeitweiligen oder dauernden Verschwinden konfrontieren – das Ergebnis ist immer ein narzißtisches Ungleichgewicht oder ein Defekt bei dem Patienten, der mit ihnen in vielfältiger Weise verwoben war und dessen Aufrechterhaltung der Selbst-Kohärenz und der Selbstachtung und einer Zustimmung gebenden Beziehung zu richtungweisenden Idealen von ihrer Gegenwart, ihrem bestätigenden Zuspruch oder anderen Formen narzißtischer Zufuhr abhing.“ (S. 39 – H. i. O., vgl. S. 64 ff.) Der Verlust eines Selbst-Objektes – oder seine Unbotmäßigkeit und Verweigerung, was im narzißtischen Universum auf praktisch dasselbe hinausläuft – hat desaströse Folgen für das narzißtische Gleichgewicht und wird mit Wut, Verzweiflung und Angst erlebt (vgl. S. 113 f.). Die Fähigkeit zur narzißtischen Selbst-Objektbesetzung im Stadium des kohärenten Selbst begründet somit nach Kohut die Möglichkeit narzißtischer Übertragungsbeziehungen, und spezifischer: die Analysierbarkeit narzißtischer Persönlichkeitsstörungen – im Unterschied zu den schwereren narzißtischen Psychopathologien, die aufgrund ihrer defizienten Kohärenz bzw. Labilität im Selbst- und Selbst-Objekt-Bereich nicht zur Ausbildung einer stabilen narzißtischen Übertragung fähig und vor allem von tieferer, psychotischer Regression bedroht sind (vgl. S. 20 ff.). Kohuts Abgrenzung der analysierbaren narzißtischen Persönlichkeiten von den nichtanalysierbaren Psychosen und Borderline-Störungen steht somit nach einer Seite im Einklang mit Freuds ursprünglichen Vorbehalten gegenüber der Analysierbarkeit narzißtischer Neurosen bzw. Psychosen.137 Gleichwohl erweitert Kohuts Konzept der narzißtischen Übertragung das Spektrum analysierbarer Psychopathologien und stellt insofern diesbezüglich eine Grenzverschiebung 137

Vgl. Freud (1915–17), S. 351 f.; Freud (1940), S. 68.

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III. Narzißmus und Charisma

in Richtung auf die frühen Störungen dar.138 Und das gilt nicht nur für die Therapie, sondern bereits für die Diagnose, da diese nur aufgrund der klinischen Übertragungsbeziehung sicher zu stellen ist, in der der Analysand dem Analytiker seine spezifische Störung offenbart, indem er diesen zum Selbst-Objekt seiner narzißtischen Wünsche macht. Neben seiner therapeutischen und diagnostischen Bedeutung läßt sich das Konzept der Übertragung aber auch generell als psychoanalytisches Paradigma zum Verständnis bestimmter Aspekte sozialer Interaktionsbeziehungen verstehen, wofür die klinische Übertragungsbeziehung einen Spezialfall darstellt. Denn der Begriff der Übertragung beschreibt ja die psychische Seite eines Verhältnisses von Ego und Alter, das durch die Zuschreibung von Erwartungen (von Wünschen, Handlungen, Reaktionen, Vorstellungen, Wahrnehmungen, Erwartungs-Erwartungen usw.) an konkret vorgestellte Individuen gekennzeichnet ist. Das Konzept der narzißtischen Übertragung ist somit nicht nur zentral für eine ‚psychoanalytische Theorie der Behandlung narzißtischer Persönlichkeitsstörungen‘ – weil eben die narzißtische Übertragung die Voraussetzung für die Analysierbarkeit dieser Störungen darstellt –, sondern es ermöglicht darüber hinaus die sozialpsychologische Anwendung der Narzißmustheorie, wie sie in Stefan Breuers charismatheoretischen Überlegungen und Untersuchungen vorliegt. Der psychoanalytische Begriff des ‚Selbst-Objektes‘ läßt sich sozialpsychologisch auf den soziologischen Begriff des ‚Anderen‘ beziehen (vgl. S. 51). Und dementsprechend lassen sich die charismatischen Sozialbeziehungen sozialpsychologisch nach dem psychoanalytischen Paradigma narzißtischer Übertragung deuten. Da138 Daß auch diese Grenzsetzung innerhalb des psychoanalytischen Diskurses nicht unumstritten ist, sei der Vollständigkeit halber, und mit Verweis auf Otto Kernbergs Untersuchungen zu Borderline-Störungen und pathologischem Narzißmus angemerkt. Bei allen z. T. erheblichen metapsychologischen Differenzen und kritischen Anmerkungen zu Kohut wird von Kernberg dennoch der gegenüber Freuds narzißmustheoretischen Überlegungen entscheidende Landgewinn – die Objekt- und damit Übertragungsfähigkeit des Narzißmus – prinzipiell bestätigt und in gewisser Weise, bezüglich der ‚Borderline-Persönlichkeiten‘ sogar erweitert. Kernbergs Begriffe der ‚primitiven Idealisierung‘ und ‚projektiven Identifikation‘ beschreiben ebenfalls narzißtische Übertragungen bzw. übertragungsähnliche Strukturen (vgl. z. B. Kernberg (1983), S. 316 ff.). Gegenüber Kohut betont Kernberg metapsychologisch die Bedeutung des Todestriebes bzw. seiner aggressiven Abkömmlinge im pathologischen Narzißmus, unterscheidet das pathologische Größen-Selbst dezidiert von der infantilen narzißtischen Konfiguration (vgl. Kernberg (1983), S. 81 ff., 309 ff., 358 ff.): die narzißtische Persönlichkeitsstörung beruht demnach nicht auf einer bloßen Fixierung und regressiven Wiederkehr einer normalen narzißtischen Position der Kindheit, sondern ist Ergebnis einer bereits in der infantilen Entwicklung pathologischen Verschmelzung von Ideal- und Realselbst und Idealobjektimagines. Dementsprechend unterscheidet er nicht grundsätzlich zwischen den Bereichen des Größenselbst und der idealisierten Elternimago.

3. Psychoanalytische Narzißmustheorie

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durch läßt sich der heuristisch fruchtbare Zusammenhang der Konzepte ‚Narzißmus‘ und ‚Charisma‘ theoretisch präzisieren. Im Zentrum sowohl der psychoanalytisch-narzißmustheoretischen Behandlungstheorie Kohuts als auch ihrer sozialwissenschaftlich perspektivierten Adaption in Breuers Charisma-Theorie stehen daher die den beiden narzißtischen Kernkonfigurationen – der idealisierten Eltern-Imago und dem Größen-Selbst – entsprechenden beiden Grundformen der narzißtischen Übertragung: zum einen die „idealisierende Übertragung“, die aus der „Mobilisierung der idealisierten Elternimago“ entsteht; und zum anderen die „Spiegelübertragung“, die aus der „Mobilisierung des Größen-Selbst“ entsteht.139 Die „idealisierende Übertragung“ charakterisiert Kohut als „die therapeutische Wiederbelebung jenes Aspekts einer Entwicklungsphase, in der das Kind versucht, den ursprünglichen Narzißmus zu erhalten, indem es ihn einem narzißtisch erlebten allmächtigen und vollkommenen Selbst-Objekt zuweist“ (S. 129), „einem archaischen, rudimentären (Übergangs-)Selbst-Objekt [. . .], der idealisierten Elternimago. Da alle Vollkommenheit und Stärke jetzt in dem idealisierten Objekt liegen, fühlt sich das Kind leer und machtlos, wenn es von ihm getrennt ist, und es versucht deshalb, dauernd mit ihm vereint zu bleiben.“ (S. 57)140 Diese Konstellation wird in der idealisierenden Übertragung aktiviert: In der klinischen Übertragungssituation schreibt der Analysand dem Analytiker die Vollkommenheit und Allmacht des archaischen narzißtischen Objekts zu und imaginiert sich als Teil dieses idealisierten Objekts.141 Dabei variiert die Tiefe der Regression in diagnostisch aufschlußreicher Weise innerhalb eines für die narzißtischen Persönlichkeitsstörungen umschreibbaren Rahmens. „Es gibt therapeutische Wiederbelebungen archaischer Zustände, die an jene Phase gemahnen, in der die idealisierte Mutterimago noch fast vollständig mit dem Bild des Selbst verschmolzen ist; und es gibt andere Fälle, bei denen die pathognomonischen Übertragungsreaktivierungen viel spätere Entwicklungsphasen der idealisierenden Libido und des idealisierten Objektes betreffen.“ (S. 76) Die unterschiedlichen – von den „genetisch archaischsten“ bis zu den „reifsten“ – Formen idealisierender Übertragung entsprechen den „Fixierungspunkte[n]“ in der Entwicklung des idealisierenden Narzißmus, die der Störung zugrunde liegen (S. 77). 139

Kohut (1976), S. 47, vgl. S. 57 ff. bzw. S. 129 ff.; vgl. Breuer (1995), S. 32 f., 68 ff., 78. 140 ‚Idealisierung‘ beschreibt einen prinzipiellen Entwicklungsweg narzißtischer Libido – insofern ist idealisierende Libido immer narzißtische Libido – (vgl. Kohut (1976), S. 60 ff.), dessen kränkungskompensatorische bzw. narzißtisch-rebalancierende Bedeutung bereits Freud hervorhob; siehe oben, II. 3. d). 141 Dies gilt mutatis mutandis auch für die noch genauer zu betrachtende charismatische Konstellation.

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III. Narzißmus und Charisma

Das Konzept der „Spiegelübertragung“ bezieht sich auf den anderen Hauptentwicklungsstrang des Narzißmus (S. 131). Kohut definiert die Spiegelübertragung im klinischen Kontext als „die therapeutische Wiederbelebung jenes Aspektes einer Entwicklungsphase [. . .], in der das Kind versucht, den ursprünglich allumfassenden Narzißmus dadurch zu erhalten, daß es Vollkommenheit und Macht in das Selbst verlegt – hier das GrößenSelbst genannt – und sich verächtlich von der Außenwelt abwendet, der alle Unvollkommenheiten zugeschrieben werden“ (S. 130). Es handelt sich also beim Größen-Selbst um eine gegenüber der idealisierten Elternimago funktional äquivalente und genetisch parallele Rebalancierung des ursprünglichen Narzißmus. Für die infantile Stufe des Größen-Selbst wie für deren Übertragungs-Aktivierung ist das selbst-objekt-gerichtete Bedürfnis nach Widerspiegelung – oder nach einem „Echo“ (S. 131)142 – der eigenen Grandiosität spezifisch und bestimmt den Bezug zur Außenwelt. Im engeren Sinne bezeichnet „Spiegelübertragung“ die „Wiederherstellung jener normalen Entwicklungsphase des Größen-Selbst, in dem der Glanz im Auge der Mutter, der die exhibitionistische Darbietung des Kindes widerspiegelt, und andere Formen mütterlicher Teilnahme an der narzißtisch-exhibitionistischen Lust des Kindes und der mütterlichen Reaktionen auf sie das Selbstwertgefühl des Kindes stärken und durch eine schrittweise zunehmende Spezifität dieser Reaktionen das Selbstwertgefühl in eine realistischere Richtung lenken. Wie die Mutter in jener Entwicklungsphase, so ist nun der Analytiker ein Objekt, das nur insoweit von Bedeutung ist, als es an der narzißtischen Lust des Kindes teilnehmen und sie so bestätigen soll.“ (S. 141) Das Selbst-Objekt der infantilen „Spiegelstufe“ (S. 149) wie auch der (regressiven) Spiegelübertragung dient mithin der „Widerspiegelung des Größen-Selbst“ (S. 141). Der Andere – die Mutter, der Analytiker usw. – erscheint also nur im Hinblick auf seine Echo- oder Spiegelfunktion für das grandios-exhibitionistische Größen-Selbst. Im umfassenderen Sinne bezieht sich der – von der reifsten Form der Reaktivierung des Größen-Selbst abgeleitete – Begriff der Spiegelübertragung auch auf die Mobilisierung archaischerer Formen des Größen-Selbst (vgl. S. 147 ff.). Wie in der idealisierenden Übertragung stellen sich auch in der Spiegelübertragung – in regressiv veränderter Form (vgl. S. 149 f.) – unterschiedliche genetische Stufen der narzißtischen Entwicklung dar. Kohut unterscheidet drei Formen der Wiederbelebung des Größen-Selbst, die in Beziehung stehen „zu spezifischen Entwicklungsstadien dieser psychischen Struktur [. . .]: 1. Die archaische Verschmelzung durch Erweiterung des Grö142 Wie die Metaphorik des Spiegels verweist auch diejenige des Echos auf den Narcissus-Mythos, denn ‚Echo‘ ist ja der Name der unglücklich in den schönen – seinerseits sich selbst in seinem Spiegelbild begehrenden – Jüngling verliebten Nymphe (vgl. Ovid, Metamorphosen, S. 182 ff.).

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ßen-Selbst; 2. eine weniger archaische Form, die ich Alter-ego- oder Zwillingsübertragung nennen werde; und 3. eine noch weniger archaische Form, die als Spiegelübertragung im engeren Sinne bezeichnet werden wird.“ (S. 138 f. – H. i. O.) In der archaischsten Form des therapeutisch mobilisierten Größen-Selbst wird der Analytiker als Selbst-Objekt im engsten Sinne, nämlich als körperähnlich zu kontrollierender „Teil des Selbst“ (S. 140) erlebt, als „Erweiterung des Größen-Selbst“, „das zuerst regressiv seine Grenzen verwischt, um den Analytiker mit einzuschließen“, der dadurch dann dem Größen-Selbst angehört (S. 139). „Metapsychologisch gesehen ist die Beziehung zum Analytiker die der (primären) Identität. Vom soziologischen (oder sozio-biologischen) Standpunkt aus können wir sie als eine Verschmelzung (oder eine Symbiose) bezeichnen“ (S. 139). Im Unterschied dazu wird in der weniger archaischen Alter-Ego- oder Zwillingsübertragung „das narzißtische Objekt als dem Größen-Selbst gleich oder sehr ähnlich erlebt.“ (S. 140) Man könnte diese beiden Positionen des Größen-Selbst im Hinblick auf dessen grandiose Selbst-Präsentation gegenüber dem SelbstObjekt wie folgt verbalisieren: ‚Du bist Teil meiner Vollkommenheit‘ (Verschmelzung durch Erweiterung des Größen-Selbst) und ‚Du bist wie ich und deshalb vollkommen‘ (Alter-Ego- oder Zwillingsübertragung). In der dritten Variante, „der reifsten Form der therapeutischen Wiederbelebung des Größen-Selbst wird der Analytiker am deutlichsten als anderer Mensch erlebt. Er ist jedoch dem Patienten nur im Rahmen der Bedürfnisse, die durch das therapeutisch wiederbelebte Größen-Selbst geschaffen werden, wichtig und wird nur insoweit von ihm akzeptiert.“ (S. 140 f.) Die dieser „Spiegelübertragung im engeren Sinne“ (S. 140) entsprechende Haltung gegenüber dem Selbst-Objekt könnte lauten: ‚Du bist ein Abglanz meiner Vollkommenheit; das, und nur das, macht dich wertvoll.‘ Dem korrespondiert eine indifferente bis herablassende und verächtliche, mitunter feindselige Haltung denjenigen gegenüber, die als für die Spiegelung untauglich und deshalb für insgesamt wertlos befunden werden. Der Wahrnehmung des Selbst-Objekts ausschließlich unter dem Aspekt der Grandiosität des Größen-Selbst entspricht die – bei den drei Formen der Aktivierung des Größen-Selbst abgestufte – Unfähigkeit, dieses Selbst-Objekt als unabhängige und eigenständige Person zu erleben (vgl. S. 147 f.). Und dies geht mit einem Herrschaftsanspruch diesem gegenüber einher, der in der archaischsten Form, der Verschmelzung durch Erweiterung des Größen-Selbst als der – für das davon betroffene Selbst-Objekt, etwa den Analytiker, „bedrängend[e]“ – Versuch erkennbar wird, eine „rücksichtslose, totale Tyrannei“ zu errichten (S. 140). Aber die Derivate archaisch-narzißtischer Allmachtsbestrebungen charakterisieren auch die reiferen Formen der Spiegelübertragung. Das Größen-Selbst fordert Unterwerfung und Bewunderung.

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III. Narzißmus und Charisma

Die „Mobilisierung“, „Aktivierung“ bzw. „Wiederbelebung“143 der archaischen narzißtischen Konfigurationen geschieht also in beiden Grundformen narzißtischer Übertragung, der idealisierenden Übertragung wie der Spiegelübertragung, als narzißtische Selbst-Objektbesetzung oder „narzißtische Übertragungsverschmelzung“ (S. 51, vgl. S. 139 f.). Das übertragungsregressiv gewonnene Selbst-Objekt dient als Projektionsfläche der je spezifischen archaisch-narzißtischen Bedürfnisse, Wünsche, Erwartungen der jeweiligen Konfigurationen, also in unterschiedlicher Weise als Spiegel, Verdopplung bzw. Erweiterung des Größen-Selbst oder als Reinkarnation der idealisierten Elternimago, auf die sich Zuwendungs- und Verschmelzungsbedürfnisse richten, oder auch der Wunsch, diese abgöttisch zu verehren. Durch ihre Manifestationen in der narzißtischen Übertragung werden Größen-Selbst bzw. idealisierte Elternimago kommunikativ beobachtbar. Die jeweiligen archaischen narzißtischen Konfigurationen präsentieren sich in der narzißtischen Übertragung mit ihren Ansprüchen dem Selbst-Objekt, von dem sie Wunscherfüllung erwarten: die Bestätigung ihrer Grandiosität, ungeteilte Aufmerksamkeit, Bewunderung, Einfühlung, Verschmelzung usw., mit individuell verschiedenen inhaltlichen Ausprägungen, Akzentuierungen und Differenzierungsgraden.144 Im Spezialfall der psychoanalytischen Behandlungssituation, in der der Analytiker das vom Patienten narzißtisch besetzte Selbst-Objekt darstellt, wird diese Übertragung zur Durcharbeitung der darin zum Vorschein kommenden verdrängten oder abgespaltenen archaisch-narzißtischen Konfigurationen genutzt – mit dem Ziel, die pathogene Fixierung in der narzißtischen Entwicklung des Patienten aufzulösen, die archaisch-narzißtischen Konfigurationen und ihre Besetzungen dem Ich zugänglich zu machen, dieses zu stärken und ihm somit zu verbesserter Ich-Herrschaft, einem höheren Integrationsniveau des psychischen Apparates und einem realistischeren Selbstkonzept zu verhelfen. Kurz: die regressive Wiederbelebung der archaischnarzißtischen Konfigurationen in der narzißtischen Übertragung dient in der psychoanalytischen Behandlung der letztendlichen Überwindung dieser archaisch-narzißtischen Positionen.145 Grundsätzlich enthält aber jede narzißtische Übertragung auch die Möglichkeit, die in ihr mobilisierten narzißtischen Positionen dauerhaft zu bestä143

Z. B. Kohut (1976), S. 50, 57, 233. Vgl. beispielsweise das von Kohut skizzierte breite Spektrum der mit ‚grandios‘ und ‚exhibitionistisch‘ bezeichneten Erscheinungen, von ungehemmter infantiler Egozentrik über perverse Akte und paranoide Wahnvorstellungen bis zu subtileren Varianten der Selbstzufriedenheit, oder die Differenzierung in „Kategorien der Vollkommenheit [. . .] im Bereich der Macht, des Wissens, der Schönheit und der Moral“ (Kohut (1976), S. 85, vgl. S. 43). 145 Vgl. z. B. Kohut (1976), S. 50 f., 130, 132, 148 f. 144

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tigen und die damit verbundenen Wünsche zu agieren.146 Das ist vom Analytiker im Behandlungsprozeß als potentielle Gefährdung des Therapieerfolges zu berücksichtigen und betrifft generell vor allem die außerhalb der psychoanalytischen Behandlungssituation sich realisierenden Übertragungen. Das Agieren tritt in diesem Fall an die Stelle des Durcharbeitens, die narzißtische Wunscherfüllung wird unmittelbarer Zweck der Übertragung und dient nicht dem langfristig zu erreichenden Ziel realistischer SelbstKonzeption und Ich-Stärke. Der archaische Narzißmus wird dann konserviert,147 und nicht überwunden. Insbesondere bleibt mit der so bestätigten Fixierung an archaische narzißtische Positionen eine pathologische Abhängigkeit von den diesen Positionen entsprechenden Selbst-Objekten erhalten. Es stellt sich eine suchtartige Abhängigkeit von der narzißtischen Übertragung ein, eine Form der „Übertragungshörigkeit“ (S. 50). Diese außerhalb der psychoanalytischen Behandlungssituation therapeutisch unkontrolliert ablaufenden Vorgänge können für die daran Beteiligten eine pseudo-therapeutische Funktion haben, weil sie mit der Bestätigung der kohärenten Konfigurationen des Selbst das narzißtische Gleichgewicht, wenn auch auf einem archaischen Niveau, stabilisieren. Sie werden als lustvoll empfunden und schützen in spezifischer Weise das Selbst durch die Bestätigung seiner Kohärenz vor Fragmentierungsängsten. Aus dieser Abwehrfunktion gegen tiefere Regression bzw. aus der Kompensationsfunktion für psychisch-strukturelle Defizienzen erklärt sich der suchtartige Charakter der narzißtischen Übertragung und die diesem entsprechende Abhängigkeit von ihren SelbstObjekten.148 Kohut bezeichnet die Abhängigkeit von bestimmten narzißtischen Objekten auch als „intensive Form von Objekthunger“ (S. 66) und charakterisiert mit der physiologischen Konnotation dieser Metaphorik die existentielle Unabweisbarkeit der spezifischen Objekt-Bedürftigkeit; es handelt sich nicht um einen bloßen ‚Objekt-Appetit‘. „Die Intensität der Suche nach und die Abhängigkeit von diesen Objekten kommt daher, daß sie als Ersatz für 146 In der narzißtischen Übertragung können durch die Selbst-Objektbesetzung die archaischen Bedürfnisse der in ihr wiederbelebten narzißtischen Konfigurationen befriedigt werden, wenn das auserkorene Selbst-Objekt den an es erhobenen Ansprüchen Folge leistet. Dies ist von behandlungspraktischer Bedeutung für den Analytiker, der sein Verhalten, dem Therapieziel entsprechend, darauf einstellen muß und die narzißtische Wunscherfüllung – etwa bezüglich des Bedürfnisses des Analysanden, ihn zu idealisieren – in dem Maße zulassen wird, wie es für die Aufrechterhaltung einer stabilen Übertragung zum Zwecke ihrer Durcharbeitung erforderlich ist. 147 Vgl. Breuer (1995), S. 70. 148 Vgl. auch Freuds Bemerkungen zur „Heilung durch Liebe“, die der Neurotiker der psychoanalytischen Behandlung vorzieht, und zu den damit verbundenen „Gefahren der drückenden Abhängigkeit“ vom Liebesobjekt (Freud (1914a), S. 76).

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fehlende Segmente der psychischen Struktur gesucht werden. [. . .] Sie werden [. . .] gebraucht, um die Funktionen eines Sektors des psychischen Apparates zu ersetzen, der in der Kindheit nicht gebildet werden konnte.“ (S. 66) In Folge solcher psychischen Strukturdefekte bleibt die Fähigkeit, „ein narzißtisches Gleichgewicht der Psyche zu erhalten (oder es wieder herzustellen, wenn es gestört wurde)“ an die prästrukturellen Selbst-Objekte gebunden (S. 66). Kohut zufolge gilt dies beispielsweise „für Menschen, die süchtig werden“, weil sie infolge traumatischer Versagungen im Bereich mütterlicher Empathie in früher Kindheit „an einzelne Aspekte archaischer Objekte fixiert [bleiben,] und [diese] finden sie zum Beispiel in der Form von Drogen.“ (S. 66) Die Droge ist Ersatz für fehlende – spannungsreduzierende, rebalancierende u. a. – Funktionen des seelischen Apparates. „In der spezifischen Regression bei Analysen solcher Patienten wird der Analysand in süchtiger Weise abhängig vom Analytiker oder vom analytischen Rahmen, und [. . .] man kann sagen, daß die übertragungsähnliche Beziehung in solchen Analysen in der Tat die Wiederherstellung eines archaischen Zustandes ist.“ (S. 67) Und hieran wird deutlich, welche Bedürfnisse durch die und in der narzißtischen Übertragung erweckt und potentiell befriedigt werden: „Das Entleerungsgefühl des Süchtigen, wenn er von dem beruhigenden Psychotherapeuten getrennt ist, das Verlangen jener, die keine steuernde Struktur innerer Werte und Ideale aufbauen konnten, den Therapeuten als eine starke Führerfigur zu sehen – dies sind Beispiele der therapeutischen Wiederbelebung des Bedürfnisses nach archaischen, narzißtisch erlebten Selbst-Objekten.“ (S. 72) Die suchtartige Abhängigkeit von der narzißtischen Übertragung läßt sich an beiden Kernkonfigurationen beobachten. Von Entwicklungsstörungen im Bereich des idealisierenden Narzißmus Betroffene versuchen „fortwährend [,] eine Vereinigung mit dem idealisierten Objekt zu erreichen, da in Anbetracht ihres spezifischen Strukturdefektes (die unzureichende Idealisierung ihres Über-Ichs) ihr narzißtisches Gleichgewicht nur durch das Interesse, die Reaktionen und die Billigung der gegenwärtigen (d. h. jetzt wirksamen) Reinkarnationen des traumatisch verlorenen Selbst-Objektes aufrechterhalten werden kann.“ (S. 76 f.) In der idealisierenden Übertragung wird dieses narzißtische Gleichgewicht strukturdefektkompensatorisch hergestellt. Entsprechendes gilt auch für die Spiegelübertragung, indem diese die Selbstkohärenz im Bereich des Größen-Selbst stabilisiert. Die Spiegelübertragung dient daher auch, in Ermangelung psychischer Strukturen, die eine stabile Selbstkohärenz garantieren, der Abwehr der Fragmentierungsgefahr. Das heißt umgekehrt, daß Störungen der Spiegelübertragung Desintegrationsängste auslösen und Fragmentierungen bewirken, die der defiziente psychische Apparat nicht realitätsgerecht bewältigen kann. „Jedesmal, wenn die Spiegelübertragung nicht aufrechterhalten werden kann (in welcher ihrer drei

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Formen sie auch in Erscheinung getreten sein mag), fühlt der Patient sich von der Auflösung der narzißtischen Einheit des Selbst bedroht; er erlebt wieder die regressiv vollzogene Überbesetzung isolierter Körperteile und psychischer Funktionen (und verarbeitet sie hypochondrisch), und er bedient sich anderer krankhafter Mittel (wie etwa perverser sexueller Handlungen) um dem regressiven Sog Einhalt zu gebieten.“ (S. 146) Die Spiegelübertragung schützt vor dieser gefährlichen, tief-regressiven Destabilisierung (vgl. S. 151 ff.). In beiden Grundformen der narzißtischen Übertragung hängt das narzißtische Gleichgewicht mithin von der Beziehung zum Selbst-Objekt ab. Auch wenn je nach Übertragungsform diese Selbst-Objekt-Abhängigkeit unterschiedlich erlebt wird, wird doch in beiden Fällen die vitale Bedeutung des narzißtisch besetzten Selbst-Objektes deutlich. In der idealisierenden Übertragung wird das „Vorhandensein des idealisierten Selbst-Objektes [. . .] oft mit der gleichen selbstverständlichen Sicherheit hingenommen, mit der wir das Vorhandensein der lebenserhaltenden Luft um uns und des festen Bodens unter uns hinnehmen. Die Analogie zwischen der Beziehung des Analysanden zum Analytiker in der narzißtischen Übertragung und der Art und Weise, wie der Erwachsene seinen eigenen Körper und Geist erlebt, trifft im allgemeinen vollständiger auf jene Fälle zu, bei denen das Größenselbst aktiviert worden ist und bei denen der Analytiker in das erweiterte Selbst einbezogen ist (Spiegelübertragung). Dennoch, bei der Störung beider narzißtischer Übertragungsformen reagiert der Patient wie auf einen Kontrollverlust – ausgenommen vielleicht die stärkere Betonung der Verzweiflung, wenn das idealisierte Objekt in der Übertragungsbeziehung verloren ist im Vergleich zur größeren Betonung der Wut, wenn das erweiterte Selbst unerreichbar geworden ist.“ (S. 114)

b) Charismatische Herrschaft als narzißtische Pathologie: Stefan Breuers Sozialpsychologie der Sekte Der suchtartige Charakter narzißtischer Übertragungsbeziehungen ist nicht nur bedeutend zum Verständnis spezifischer Widerstände im psychoanalytischen Durcharbeiten dieser Übertragungen, sondern erklärt auch, in sozialpsychologischer Anwendung, einige Charakteristika der charismatischen Beziehung. In Breuers charismatheoretischen Überlegungen erklärt die suchtartige Qualität der narzißtischen Übertragung bzw. Selbst-Objektbeziehung die unbedingt zwingende Unabweisbarkeit des Charismas, seine Attraktivität und Seduktivität und das Bezwingende charismatischer Herrschaft. Und die narzißtisch-gratifikatorische und strukturdefektkompensatorische Qualität der narzißtischen Selbst-Objekt- bzw. Übertragungsbeziehung erklärt die

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Heil evozierende und heilend anmutende, mystische Qualität charismatischen Erlebens und die magisch-suggestive Kraft des Charismas. In der sozialpsychologischen Adaption des narzißtischen Übertragungsparadigmas etwa auf das Verhältnis von ‚Meister‘ und ‚Jünger‘ erscheint deren charismatische Beziehung unter dem Aspekt gegenseitiger Abhängigkeit: Der Meister braucht den Jünger zur Spiegelung seiner Grandiosität; und der Jünger braucht den Meister zur Befriedigung seines Idealisierungsbedürfnisses. Beide bedürfen der narzißtischen Übertragungsverschmelzung zur Erhaltung ihres jeweiligen narzißtischen Gleichgewichts bzw. zur Kompensation ihrer jeweiligen psychisch-strukturellen Defekte.149 Bei aller Asymmetrie der charismatischen Herrschaftsbeziehung ist also die dieser psychisch zugrundeliegende Abhängigkeit prinzipiell reziprok; das Verlangen, begehrt zu werden, und das Verlangen, zu begehren, treffen glücklich aufeinander. In diesem Sinne läßt sich die charismatische Beziehung als wechselseitige Präsentation von grandios-exhibitionistischem Größen-Selbst und idealisierter Elternimago, bzw. als komplementäre Verschränkung von Spiegel- und idealisierender Übertragung interpretieren. Soziologisch handelt es sich um eine spezifische Komplementarität der Positionen von Ego und Alter, verbalisierbar nach dem Schema: ‚Ich bin großartig, und Du bist ein Teil von Mir.‘ – ‚Ja, Du bist großartig, und Ich bin ein Teil von Dir‘.150 In der Verschränkung der beiden komplementären narzißtischen Übertragungstypen bestätigen sich die Positionen von Ego und Alter wechselseitig, die darin mobilisierten narzißtischen Kernkonfigurationen werden darin also verstärkt. Was in dieser Konstellation und ihrer Aufrechterhaltung für die Beteiligten auf dem Spiel steht, wird nach allem bisher Dargelegten sinnfällig in Freuds Wort von der ‚Schiefheilung‘151 wie in der von Kohut herausgearbeiteten Sucht-Analogie und in seiner Metapher vom ‚Objekthunger‘. Die dem charismatischen Erleben zugrundeliegende narzißtische Verschmelzung mag auch als genußvoll erfahren werden, in erster Linie ist sie aber, angesichts der beiderseits pathologischen Disposition der betroffenen Individuen, eine unabdingbare Voraussetzung für deren – prekäre – psychische Stabilität. Denn wenn auch vom Standpunkt der reifen psychischen Struktur und ihres realistischen Selbstkonzepts die beiden in Spiegel- und idealisierender Übertragung mobilisierten narzißtischen Konfigurationen des Größen-Selbst und der idealisierten Elternimago als regressiv erscheinen, so stellen sie dennoch, wie oben ausgeführt, als Stadium des kohärenten Selbst genetisch einen Entwicklungsfortschritt gegenüber früheren, prä- und primärnarzißtischen Phasen dar, dessen Stabilisierung 149 150 151

Vgl. Breuer (1995), S. 67 ff., 78. Vgl. auch Breuer (1995), S. 65. Vgl. Freud (1921), S. 132.

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vor tieferer Regression schützt. Aus diesem Grund fungiert die Aufrechterhaltung der charismatischen Beziehung durch die wechselseitig gewährleistete Affirmation der kohärenten narzißtischen Kernkonfigurationen als Bollwerk gegen die regressive Bedrohung von Selbst-Zerfall und Fragmentierung, während ihr Verlust in den (pathologisch disponierten) Individuen Entleerungsgefühle, Desintegrations- und Auflösungsängste weckt. Die intakte charismatische Beziehung ist gleichsam der Scheitelpunkt zwischen Regressionslust und Regressionsfurcht. Diese Selbst-konstitutive Abhängigkeit von der in der charismatischen Vergemeinschaftung realisierten narzißtischen Übertragungskonstellation gilt also, wie Breuer am George-Kreis darlegt, prinzipiell für den ‚Meister‘ ebenso wie für dessen ‚Jünger‘.152 Denn letztere haben, komplementär zu Georges narzißtischer „Störung in der Entwicklungslinie des Größen-Selbst“ (S. 68),153 pathogene Fixierungen in eben jenem narzißtisch-konfigurativen 152 Vgl. Breuer (1995), S. 29 ff., 37 ff., 41 ff. bzw. S. 67 f., 86 ff. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich im vorliegenden Unterabschnitt ebenfalls auf Breuer (1995). 153 Vgl. Breuer (1995), S. 27 ff., 32 f. – Aufgrund der biographischen Informationen zu Stefan George läßt sich vermuten, daß sein Vater, Stephan George, aufgrund seiner häufigen Abwesenheit bei der Primärsozialisation seines Sohnes keine Rolle spielen konnte. Stefan Georges Mutter aber, Eva George, scheint aufgrund ihrer extremen emotionalen Distanziertheit, Verbitterung und Härte „in ganz besonderem Maße ungeeignet gewesen zu sein“, die „unendlich schwierige und wohl nie ohne Brüche“ gelingende Aufgabe zu bewältigen, „den kindlichen Narzißmus sowohl zu bestärken als auch behutsam, durch dosierte Versagungen, zu transformieren und für eine Besetzung realer Funktionen und Strukturen verwendbar zu machen“ (Breuer (1995), S. 29, vgl. S. 27 ff.). Die Auskünfte über die primärsozialisatorischen Bedingungen, unter denen Stefan George aufwuchs – faktische Vaterlosigkeit und mütterliche Gefühlskälte – begründen eine Anfangsplausibilität für die Diagnose einer narzißtischen Persönlichkeitsstörung im Bereich des Größen-Selbst. In Folge des inadäquaten elterlichen Umgangs mit dem kindlichen Narzißmus wird das „Größen-Selbst [. . .] nicht abgebaut, nur verdrängt oder abgespalten; es hält einen großen Teil der narzißtischen Energien in einem archaischen Stadium fest und verhindert, daß sie später dem realen Selbst zugeführt werden. Dieses Selbst bleibt dadurch unterbesetzt und schwach. Das Gefühl für Kohärenz ist labil, die Einheit der Person stets gefährdet durch eine Überschwemmung mit dem archaischen Narzißmus, die als Selbstauflösung empfunden wird [. . .]. Damit zusammen hängt die übergroße narzißtische Verwundbarkeit, die extreme Reaktionen auf Kränkungen auszulösen vermag; die Neigung zu Kompensationsmechanismen wie Verleugnung der Realität und Idealisierung der eigenen Person, zum Schwelgen in Größenphantasien, die exhibitionistische Bedürfnisse und Arroganz befriedigen können; der Hang zur Abwertung der Umwelt, der sich ebensosehr in Abkehr und Abschottung wie im Wunsch nach magisch-sadistischer Kontrolle der Welt äußern kann. Andere Menschen, die auf ihrer Andersheit beharren, sind für diesen Typus eine Bedrohung, auf die er mit Abbruch der Beziehungen reagiert. Nur wenn sie ihre Eigenheit aufgeben, sich ganz in die Rolle eines Echo- oder Spiegelobjekts fügen, werden sie er-

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„Bereich, den Heinz Kohut als ‚idealisierte Eltern-Imago‘ bezeichnet“ (S. 68). Aufgrund dieser Disposition bleiben die Jünger nach dem bekannten Muster zur Aufrechterhaltung ihres labilen, beständig gefährdeten inneren Gleichgewichts „suchtartig[]“ auf „ein archaisches, Vollkommenheit und Allmacht verbürgendes Objekt“ angewiesen, das „in die Funktion der fehlenden inneren Struktur“ eines idealisierten Über-Ichs tritt und das sie in der grandiosen Selbstpräsentation Georges finden (S. 69, vgl. S. 68 ff.). „Es ist unschwer zu sehen, daß sich diese Störung genau komplementär zu derjenigen verhält, die wir bei George konstatiert haben. George gehört zu jenem Typus charismatischer Persönlichkeiten, die zwar einerseits einen unersättlichen Hunger nach Personen entwickeln, in denen sich ihr nie modifiziertes Größen-Selbst widerspiegeln kann, die aber andererseits sich selbst restlos mit ihrem grandiosen Selbst identifizieren und daraus eine autoritative Aura beziehen, die sie besonders geeignet macht, für andere die Rolle des idealisierten archaischen Objekts zu übernehmen“ (S. 69 f.). Er präsentiert den Jüngern sein machtvolles, verehrungswürdiges Selbstbild, und diese, bedürftig nach einem ebensolchen (Selbst-)Objekt, nehmen es begierig auf. „Indem sie sich mit ihm identifizieren, vollziehen die Jünger nicht nur einen Akt der Unterwerfung. Sie instrumentalisieren George vielmehr ihrerseits für ihre eigenen psychischen Bedürfnisse und ziehen ihn in eine Konstellation hinein, die für beide Seiten ebenso gewinn- wie katastrophenträchtig ist. Durch ihre Echo- und Spiegelreaktionen bestärkt, sieht sich der Meister zunehmend der Notwendigkeit enthoben, sein grandioses Selbst an der Realität zu kontrollieren; die Jünger wiederum entziehen sich durch das narzißtische Glücksgefühl, das die Identifizierung mit dem bewunderten Objekt vermittelt, einer frustrierenden und Leiden erzeugenden Wirklichkeit – freilich um den Preis, daß der Absturz um so tiefer ist, wenn der Meister, aus welchen Gründen auch immer, die Symbiose beendet. Als eine wechselseitige Veranstaltung zur Konservierung des archaischen Narzißmus kann der George-Kreis nur eine temporäre, nur eine scheinbare Stabilisierung bieten, die jederzeit vom Kollaps bedroht ist.“ (S. 70) Diese Bedrohung ist vor allem für die Jünger aufgrund ihrer nur schwer substituierbaren Abhängigkeit vom Meister allgegenwärtig, und auch darauf – neben der Bereitschaft der Jünger, sich ihm als allmächtigem Objekt zu unterwerfen – gründet dessen Herrschaft. Der spezifisch charismatisch-herrschaftliche Aspekt der ‚Sekte‘ Georges und deren Binnenstruktur ergibt sich aus der spezifischen Asymmetrie, die der beschriebenen narzißtischen Übertragungskonstellation, bei aller Komplementarität und wechselseitigen Abhängigkeit dennoch eingeschrieben ist träglich: ein Muster, das die soziale Welt Stefan Georges bis zum Ende bestimmen wird.“ (Breuer (1995), S. 29).

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(vgl. S. 62, 78, 241): „Wie der Meister seine Jünger braucht, so brauchen umgekehrt sie ihn – mit der freilich nicht unwesentlichen Nuance, daß sie ihn ständig brauchen, während er seine Objekte nur zeitweise benötigt und sie leicht austauschen kann. George hat die Auswahl und kann sich deshalb entziehen; die Jünger aber hungern nach einer Speise, die er, und nur er, gewähren kann.“ (S. 67)154 Diesem asymmetrischen Verhältnis entspricht eine strikt interaktionsbasierte, also auf „Kommunikation unter Anwesenden“ setzende, um den Meister als absoluten Welt-Mittelpunkt und einzig maßgebliche Deutungsinstanz zentrierte Binnenrealität der charismatischen Vergemeinschaftung des George-Kreises, die „so ausgerichtet [war], daß die höchste Erfüllung nur in seiner Gegenwart möglich war“ (S. 80, vgl. S. 78 f.). „Alles drehte sich um George“ (S. 54), auch in seiner räumlichen Abwesenheit, die wesentlich von den Erwartungen seiner ersehnten Ankunft bestimmt war.155 Wie sehr die sich selbst als „Staat“ beschreibende Sekte (S. 56 ff.) durch das alles überstrahlende Größen-Selbst Georges geprägt war, das in seinen imperatorischen Ansprüchen auf unbedingte Unterwerfung, vorbehaltlose Verehrung und symbiotische Verschmelzung „allen sozialen Beziehungen“ innerhalb der charismatischen Gemeinschaft sein spezifisches „narzißtisches Cachet“ verlieh (S. 32), zeigt sich, wie hinsichtlich der Interaktionsbeziehungen und ihrer inszenatorischen und rituellen Komponenten,156 auch an den anderen sektentypischen Merkmalen des George-Kreises. Das betrifft zunächst die strikte Trennung von ‚Innen‘ und ‚Außen‘, als die sektentypische Differenz ‚rein vs. unrein‘, die die Binnenrealität der cha154 Die Folgen dieses Entzuges sind für die Betroffenen von existentieller Tragweite, mitunter auch tödlich, wie Breuer mit Blick auf die vielen Selbstmorde und frühen Krankheitstode von der Gunst des Meisters temporär oder dauerhaft verlustig gegangenen George-Jüngern ausführt (vgl. Breuer (1995), S. 67 f., 86 ff.). 155 Wurde ein Besuch des Meisters erwartet, so stand dies im Zeichen präziser Vorbereitungen seitens der Gastgeber, denen diese „Ehre [. . .] zuteil wurde“. Diese „bekamen genaue Vorschriften über Zimmertemperatur, Anrede und Unterhaltungston“, Begrüßungsformen, die Aufgabenverteilung im Haushalt und darüber, welche Gäste zugelassen sind (Breuer (1995), S. 56, vgl. S. 54 ff.). Vergleichbares kennt man heute vor allem vom divenhaften Verhalten von erfolgreich in der Unterhaltungsindustrie Beschäftigten, die beispielsweise vor Konzert oder Fernseh-Auftritten die jeweiligen Veranstalter durch ihr Management in Kenntnis setzten lassen, welche speziellen Vorkehrungen für ihre Unterkünfte zu treffen sind – z. B. eine verschwenderische Ausstattung mit seltenen Blumen, kostbarem Geschirr, erlesensten Speisen und edelsten Getränken – und welche generellen Verhaltensregeln im Umgang mit ihnen zu beachten sind – beispielsweise das Verbot, den ‚Star‘ mit seinem bürgerlichen Namen oder überhaupt anzusprechen (oder anzublicken), wie dies beispielsweise von der Pop-Sängerin Jennifer Lopez kolportiert wird. 156 Dazu gehörten u. a. die Benutzung von Kultgewändern – eigentlich Faschingsverkleidungen – und anderen Kultobjekten, die mystifizierende Umbenennung von Versammlungsörtlichkeiten, der ‚Gabentausch‘ und andere symbolische Akte der Gunstbezeugung (vgl. Breuer (1995), S. 54 ff.).

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rismatischen Gemeinschaft hermetisch von der gesellschaftlichen Umwelt abschließt und homogenisiert. „Für George, scheint es, gab es zwei Welten. Seine Welt und die Welt draußen. Konzessionen an die letztere waren zwar unvermeidlich, doch mußte für einen Jünger in jedem Augenblick klar sein, daß es nur eine Priorität gab: den ‚Dienst‘ in Ehrfurcht, Ergriffenheit und Hingabe. In dieser Georgeschen Welt durfte es nichts Fremdes und Unvertrautes geben, nur Spiegelungen der einen Lichtquelle“ (S. 62 – H. i. O.). Dieser ‚Staat‘ erscheint gleichsam als das um die Jünger als willfährige Selbstobjekte erweiterte – und von diesen in narzißtischem Idealisierungsund Verschmelzungsverlangen in dieser Erweiterung bestätigte – GrößenSelbst Georges, der dementsprechend „in bezug auf den Kreis eine Differenzierung von Eigenem und Fremdem nicht zuließ“ (S. 62), „schützend und nährend“ wirkte, „fremde und feindliche Kräfte ab[wehrte] und [. . .] in geradezu symbiotischer Weise mit seinen Geschöpfen“ verschmolz (S. 60). Der in seinem ‚Staat‘ realisierten, dessen hermetische Binnenrealität prägenden „symbiotischen Grundhaltung“ (S. 62) Georges gegenüber seinen Jüngern entspricht auch deren sektentypische Vollinklusion. „Die Inkorporation in diesen Staat war umfassend und lieferte den einzelnen in wesentlichen Aspekten seiner Existenz, insbesondere der geistigen Produktion, der Kontrolle durch den Meister aus“ (S. 57), nicht zuletzt aber auch in Fragen der Eheschließung (vgl. S. 46 f., 57 ff., 92 f.). „Mitglied des Staates war man entweder ganz oder gar nicht. Und ganz war man es nur, wenn man sich vollständig Georges Wertungen, seinen Vorlieben und Abneigungen unterwarf, welche zu erspüren freilich ein hohes Maß an Identifikationsbereitschaft voraussetzte.“ (S. 59 f.) Die Anerkennung der absoluten Autorität und Größe Georges ist einerseits die Bedingung der Zugehörigkeit zur Sekte, deren um die Grandiosität Georges zentrierte Binnenrealität sich andererseits durch diese Vollinklusionsordnung hermetisch gegen Einwände von außen abriegelt und reproduziert, denn eine Infragestellung dieser Realität kann so nur von unqualifizierter Seite erfolgen und braucht nicht weiter beachtet zu werden. So kann die Sektenform das Charisma des Meisters sowohl durch die Verstetigung seiner interaktionellen Beziehungen zu den Jüngern als auch durch die ständig neu bestätigte Grenzziehung zwischen Innen und Außen stabilisieren. Die Inklusion fungiert hierbei – entsprechend dem Interaktionsparadigma – als Medium der Grenzziehung zwischen ‚Innen/rein‘ und ‚Außen/unrein‘, d. h. die operative Schließung der Sektenform erfolgt durch charismatische Auslese. Dies geschieht sowohl durch die – teils asketisch vorbereitete und in prüfungsähnlichen Aufnahmezeremonien, teils durch unmittelbar eruptive Übermächtigung vollzogene – Neurekrutierung von durch den Meister Auserkorenen (vgl. S. 45 ff.) als auch durch verschiedene ‚Übergangsriten‘, de-

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nen letztere unterworfen werden. Indem sie die Trennung der Adepten von der äußeren, ‚unreinen‘ Welt, ihre vollinklusive Eingliederung in den Kreis der Auserwählten und die dabei vollzogene Umwandlung ihrer Identitäten symbolisieren (vgl. S. 52 f.), markieren diese Riten zugleich die Grenze, die die hermetische Binnenrealität der Sekte von ihrer gesellschaftlichen Umwelt trennt. Exemplarisch hierfür ist das „Namensgebungsritual“, dessen „doppelte Funktion“ darin bestand, „die Bindung des Getauften an seine Herkunftsgruppe abzuschwächen und ihn in die neue Gruppe zu inkorporieren“ (S. 53), ihm also eine neue, die alte überdeckende und ausschließlich verbindliche Identität in der Sekte zu geben. In diesem durch die Neubenennung symbolisierten „Umgeborenwerden“ (S. 53) der Jünger verdichtet sich wiederum der allumfassende, allmächtige Verfügungsanspruch Georges über die Existenz seiner Geschöpfe. Dem entspricht zugleich die kalte Gnadenlosigkeit des narzißtischen Begehrens nach Spiegelübertragung gegenüber unbotmäßigen oder anderweitig untauglichen Selbstobjekten, worin die letztendliche Indifferenz gegenüber dem sozialen Anderen als einem selbständigen und unabhängigen Individuum zum Ausdruck kommt (vgl. S. 32 f.): „Wer nicht mehr in der Lage ist, das ‚hohe Leben‘ zu führen – d. h. Georges Größen-Selbst zu spiegeln –, soll sich lieber umbringen lassen oder selbst umbringen.“ (S. 77) Wer die Grandiosität des Meisters nicht bestätigt, ist nicht wert zu leben (vgl. S. 29). Am Beispiel des George-Kreises und der darin vom Meister realisierten Chance, sein Größenselbst sozial erfolgreich – und auch folgenreich – auszuagieren, läßt sich in sozialpsychologischer wie auch in kommunikationstheoretisch-soziologischer Perspektive beobachten, inwiefern charismatische Beziehungen einen sozialen Kontext bieten, in dem Größen-Phantasien kommuniziert und ausgelebt werden können. Die psychische Realität grandioser Selbstkonzeptionen wird nicht nur kommunikativ beobachtbar, sondern hat im kommunikativen Anschluß zudem die Chance, zur sozialen Realität zu werden, wie immer – typischerweise sektenhaft – limitiert eine solche Realität auch sein mag. Aus der psychischen Größen-Phantasie wird ein soziales Individualitätskonstrukt, das des Charismatikers, das sich innerhalb eines sozialen Kontextes kommunikativ als realistisch bewährt, weil diesem Kontext dem neben den dargestellten sektentypischen Merkmalen eine Erwartungsstruktur eingeschrieben ist, die die Akzeptanz derartiger Größen-Phantasien – und insbesondere die mit ihnen verbundenen Heils-, Verschmelzungs- und Grandiositäts-Angebote – erleichtert, und die rekursiv durch diese Akzeptanz affirmiert wird. Wissenssoziologisch läßt sich diese Erwartungsstruktur als eine insbesondere im späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts florierende Semantik des ‚Genies‘, ‚Heilsbringers‘, ‚Propheten‘ usw. beobachten, die einerseits in

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konkreten charismatischen Individualidentitätsangeboten artikuliert und unter Rekurs auf sozialphänomenologische Evidenzen – wie zeitgenössisch z. B. George, aber auch Nietzsche und andere ‚große Persönlichkeiten‘ – stabilisiert wird, die andererseits die Bereitschaft zum Ausdruck bringt, derartige Individualidentitätsangebote anzunehmen, und die damit die sozialphänomenologische Beobachtung von ‚Genies‘ und außeralltäglichen Führerpersönlichkeiten mit Plausibilität versorgt – und deren Wahrnehmung schematisch überhaupt erst ermöglicht. Diese semantische Vor-Einstellung geht in ihrer gesellschaftlichen Orientierungs- und Weltdeutungsrelevanz im vorliegenden Untersuchungszeitraum weit über den engen sozialen Wirkungskreis von Sekten hinaus, was wiederum von einer generellen eskapistischen Bedürftigkeit in der Moderne zeugt und beispielsweise auch einen Teil zur Erklärung des historischen Erfolges einer Figur wie Hitler beiträgt, auch wenn es der Vielgestaltigkeit und dem motivationalen Facettenreichtum dieser modernen semantischen Tradition – und der nicht ausschließlich, aber auch in dieser sich artikulierenden modernen eskapistischen Bedürftigkeit – nicht gerecht würde, sie auf diese Wirkung zu reduzieren. Was aber im Kontext der Sekte gleichsam idealtypisch beobachtbar wird, sind die sozialen Konstruktionsbedingungen und -mechanismen von ‚Charisma‘. Für diese Beobachtung wird im folgenden eine Umstellung der bisher dargestellten sozialpsychologischen auf eine kommunikationstheoretische Perspektive vorgeschlagen, die die Gültigkeit der psychoanalytischen Einsichten nicht dementiert, sondern, auf letzteren aufbauend, weitere Aspekte des Phänomens ‚Charisma‘ beleuchtet und dessen sozialwissenschaftliches Verständnis erweitert. Außerdem bietet eine solche Perspektive den methodologischen und theoretischen Vorteil, daß sie nicht auf die psychologische Beobachtung psychischer Systeme angewiesen, sondern unmittelbar anschlußfähig ist für die wissenssoziologische Beobachtung von semantischen Individualidentitätsangeboten. Das empirische Vorkommen von charismatischen Individuen und die psychische Wirksamkeit charismatischer Beziehungen wird dadurch nicht geleugnet, sondern ergänzend bezüglich der kommunikativen Entfaltungs-, Verstärkungs- und Verbreitungsmechanismen erklärt. Der ‚Charismatiker‘ kommt dabei aber wissenssoziologisch als Individualidentitätsangebot bzw. kommunikationstheoretisch als ‚kommunikative Adresse‘ in den Blick, und nicht als individuelles psychisches System, so daß auch in diesem Zusammenhang, wie generell in der vorliegenden Studie, das Stirner-rezeptionsgeschichtliche und ansonsten hinzugezogene Textmaterial als exemplarische Artikulation semantischer Angebote und nicht als Ausdruck individueller psychischer Systeme analysiert wird.

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4. Soziale Konstruktion von Charisma: charismatische und charismatifikatorische Kommunikation a) Kommunikationstheoretische Grundlagen In kommunikationstheoretischer Perspektive läßt sich das Individualidentitätsangebot des Charismatikers als eine kommunikative Adresse157 fassen, die aufgrund der mit ihr verbundenen individuellen Eigenschaften erfolgreich diskursive Autorität in Anspruch nimmt.158 Diskursive Autorität ist in diesem Zusammenhang zu verstehen als „Ressource“, deren Inhaber „sich erfolgversprechende Kommunikationen leisten [kann], die einem anderen nicht abgenommen werden würden.“159 Was der Inhaber diskursiver Autorität verkündet oder dekretiert, gilt und wird befolgt, weil er es sagt, also wegen des Urhebers (auctor) der Botschaft und prinzipiell unabhängig von ihrem Inhalt. Im Sonderfall des Charismatikers beruht die diskursive Autorität – typologisch im Unterschied beispielsweise zur Autorität des Intellektuellen oder eines Amtsinhabers – auf dessen Individualität und der dieser Individualität im sozialen Geltungskontext jener Autorität zugeschriebenen außeralltäglichen Qualität. Die folgenden Überlegungen widmen sich der kommunikativen Wirkungsweise des Charismas und seiner kommunikativen Reproduktion, indem sie die Inanspruchnahme der diskursiven Autorität des Charismatikers unter dem Begriff ‚charismatische Kommunikation‘ und die Konstruktion der damit verbundenen kommunikativen Adresse unter dem Begriff ‚charismatifikatorische Kommunikation‘ rekonstruieren. Stirner-interpretationsschematisch betrachtet, kommt also die in den vorangegangenen Abschnitten im Hinblick auf ihre verschiedenen sozialphänomenologischen, soziologischen, psychologischen und sozialpsychologischen Aspekte beleuchtete sozialdimensionale Asymmetrie (erfolgreicher) All-Einzigkeit nun in spezifisch kommunikationstheoretischer Perspektive in den Blick. Im Rahmen der hier unternommenen Untersuchung zur Wissenssoziologie des modernen Individuums und seiner Individualität soll damit zugleich ein Beitrag zur Wissenssoziologie des Charismas geleistet werden.160 Vorab sind kurz einige der Luhmannschen Theorieelemente zu rekapitulieren, die, erstens, grundsätzlich das Verständnis von Kommunikation in ihren Komponenten und ihrer Reproduktion betreffen; zweitens, die Frage des positiven oder negativen kommunikativen Anschlusses bzw. der Annahme oder Ab157

Vgl. Fuchs (1997a). Vgl. Luhmann (2000), S. 42, 51. 159 Luhmann (2000), S. 51. 160 Damit soll theoriearchitektonisch über Luhmanns Einschätzung hinausgegangen werden, der zu Webers soziologischem „Begriff des ‚Charisma‘“ anmerkt, er sei „theoretisch unergiebig[]“ (Luhmann (1997a), S. 240). 158

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lehnung kommunikativer Angebote im Hinblick auf die Rolle von Erfolgsmedien; und drittens, die kommunikative Adresse als kommunikatives Konstrukt und die Differenz und Wechselbeziehung von Kommunikation und Wahrnehmung. aa) Kommunikation Kommunikation ist in der hier eingenommenen theoretischen Perspektive das operative Letztelement sozialer Systeme, das in der Synthese der drei Selektionen von Mitteilung, Information und Verstehen besteht:161 In der Verstehenskomponente unterscheidet Kommunikation zwischen Mitteilung und Information und ermöglicht damit Anschlußkommunikationen, die sich sowohl auf die Information – das, was gesagt wurde – als auch auf die Mitteilung – wie und von wem es gesagt wurde – beziehen können. Prinzipiell kann die Anschlußkommunikation positiv oder negativ, also als Annahme oder als Ablehnung erfolgen, sowohl im Anschluß an die Mitteilungs- als auch an die Informationskomponente: ein kommunikatives Angebot kann angenommen werden, weil es beispielsweise einer bestimmten Person bzw. kommunikativen Adresse zugerechnet wird – dies ist auch der Fall bei der erfolgreichen Inanspruchnahme diskursiver Autorität und in der speziellen Variante der charismatischen Kommunikation –, oder es kann Zustimmung erfahren, weil die in ihm vermittelte Aussage als richtig betrachtet wird. In entsprechender Weise kann ein kommunikatives Angebot Ablehnung erfahren, weil beispielsweise entweder im Anschluß an die Informationskomponente der Inhalt einer Aussage für unwahr, nicht richtig usw. befunden wird, oder weil im Anschluß an die Mitteilungskomponente der Urheber der Aussage als nicht glaubwürdig, als inkompetent oder sonstwie nicht zustimmungswürdig erscheint. Die Bifurkation kommunikativer Anschlußmöglichkeiten – positiv oder negativ – wird strukturell durch die evolutionäre Errungenschaft des Kommunikationsmediums Sprache ermöglicht, so daß die Ablehnung eines kommunikativen Angebots nicht notwendig zum Kommunikationsabbruch führen muß.162 Dadurch erhöht Kommunikation 161 Vgl. hierzu und zum Folgenden Luhmann (1987d) sowie Luhmann (1994b), S. 233 ff.; (1994c), S. 181 ff.; (1996a), S. 191 ff., bes. S. 203 ff.; (1997a), S. 81 ff., 190 ff., 221 ff., 316 ff. 162 Im Falle des Kommunikationsabbruchs unterbleibt der kommunikative Anschluß z. B. infolge von Nichtverstehen oder Verzicht auf Anschlußkommunikation, beispielsweise in Form von Gewalt, Schweigen oder in anderen sinnlich wahrnehmbaren Formen. Diese können dann allerdings alle auch wieder prinzipiell als nonverbale Mitteilung einer Information verstanden werden – u. U. auch mißverstanden. Aber ‚Mißverstehen‘ schließt – egal ob unbemerkt oder nicht – die Fortführung von Kommunikation nicht aus, ebensowenig wie ein negativer Anschluß, eine kommunikative Ablehnung zum Kommunikationsabbruch führen muß. Die Frage des ‚richti-

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grundsätzlich ihre Fortsetzungschancen und Systembildungskapazitäten – und damit auch ihre zivilisierende, gewaltabweisende Wirkung, und zwar unabhängig von allen Konsenserwartungen.163

bb) Annahme, Ablehnung und Erfolgsmedien Zugleich erzeugt die Bifurkation einen kommunikativen Kontingenzspielraum, da grundsätzlich bei jeder Kommunikation mit Ablehnung wie mit Annahme gerechnet werden kann. Die für die moderne Gesellschaft aus sozialtheoretischer Sicht wichtigste evolutionäre Errungenschaft zur Einschränkung dieses Kontingenzspielraums sind symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien wie Geld, Macht, Wahrheit, die als binär codierte Erfolgsmedien das Wahrscheinlichkeitsverhältnis von kommunikativer Annahme und Ablehnung asymmetrisieren.164 Im Wirtschaftssystem beispielsweise erhöht der Einsatz von Geld die Wahrscheinlichkeit einer ansonsten unwahrscheinlichen Transaktion zwischen Fremden, und Entsprechendes gilt für die Akzeptanz wahrer Aussagen im Wissenschaftssystem oder die gen Verständnisses‘ im Verstehen wird – unabhängig davon, was die davon sich betroffen fühlenden psychischen Systeme darüber denken mögen – selbst kommunikativ beantwortet: in kommunikativen Routinen der Nichtwahrnehmung, Übergehung, Korrektur oder reflexiven Problematisierung von Mißverständnissen; durch all dies ist die Fortsetzung von Kommunikation nicht in Frage gestellt. Dies wird in basaler Weise durch den binären – die Option von Negation zur Verfügung stellenden – Code der Sprache gewährleistet. Hierdurch wird nicht nur in den Spezialfällen der Korrektur oder Problematisierung von Mißverständnissen, sondern prinzipiell für jede Ablehnung eines kommunikativen Angebots die Möglichkeit von Anschlußkommunikation garantiert. 163 Konsenserwartungen werden freilich ihrerseits erst möglich durch die Negativität der Sprache. Denn mit Konsens läßt sich ja begrifflich nur vor dem Hintergrund der Möglichkeit von Dissens rechnen. Und die Negation von Dissens durch Konsens ist nur ein spezielles Beispiel für das negatorisch gewonnene Potential von Sprache, Kontrafaktisches kommunikabel zu machen: aufgrund der negativen Struktur von Sprache läßt sich über Nicht-Daseiendes kommunizieren; das Abwesende wird kommunikabel. Durch die sprachlich basale Möglichkeit, eine Negation z. B. in einen Aussagesatz einzufügen, emanzipiert sich Kommunikation von der Unmittelbarkeit sinnlicher Weltwahrnehmung: ‚Er ist nicht hier‘ usw. Es ist eine soziokulturell-evolutionär kaum überschätzbare Leistung der Sprache, das aus verschiedenen Gründen nicht unmittelbar Anschauliche in der kommunikativen Konstruktion von Realität vorkommen zu lassen: die abwesende Person, die abstrakte Idee, das metaphysische Prinzip, die kontrafaktische Norm, die komplexen Gefühle, das Vergangene und Zukünftige, das Fiktive, Imaginäre, die Utopie und das Jenseits – alles, was sich nicht durch Fingerzeig bezeichnen läßt, sogar das Nichts. 164 Vgl. hierzu und zum Folgenden insbesondere Luhmann (1996a), S. 216 ff.; (1997a), S. 202 ff., 316 ff., 748 ff., 983 ff.; vgl. auch Luhmann (1994b), S. 194 ff.; (1994c), S. 187 ff., 236 ff.; (1995b), S. 301; (2000), S. 18 ff., 36 ff., 69 ff.

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machtgestützte Durchsetzung und Geltung kollektiv bindender Entscheidungen im politischen System. Dabei gewährleistet die binäre Codierung der Erfolgsmedien (z. B. ‚wahr/unwahr‘) wiederum – ähnlich wie bei der Sprache – die Fortsetzung der Kommunikation auch im Ablehnungsfall und damit die Autopoiesis des jeweiligen Funktionssystems – Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Politik usw. –, das sich mittels der binären Codierung operativ schließt: deswegen kann beispielsweise eine Aussage im Wissenschaftssystem nur unter Berufung auf Wahrheit angenommen oder abgelehnt werden, und nicht aufgrund ihres Geldwertes, ihres Machtanspruches, ihrer ästhetischen oder sittlichen Qualitäten, so wie umgekehrt Wahrheit nicht geeignet ist, beispielsweise wirtschaftliche Transaktionen zu motivieren oder die Schönheit eines Kunstwerkes zu verstärken.165 Die Erfolgsmedien sind in ihrem jeweiligen funktionssystemischen Kontext universell, aber zugleich nur spezifisch in diesem einsetzbar. So sind auf der Ebene der Funktionssysteme der modernen Gesellschaft beispielsweise die Erfolgsmedien Wahrheit und Macht nicht ineinander transformierbar. Das Phänomen des Charismas steht dieser erfolgsmedialen und funktionalen Differenzierungslogik der modernen Gesellschaft entgegen – an der die Autorität des Charismatikers nichtsdestotrotz parasitiert.166 Während der erfolgreiche Wissenschaftler in der Regel nicht deswegen zugleich auch ein machtvoller Politiker ist – und umgekehrt – tritt der Charismatiker typischerweise mit dem Anspruch auf Wahrheit und auf Macht auf, mit den narzißtischen Fluchtpunkten der Allwissenheit und Omnipotenz, wie dies etwa bei all-einzigen Propheten- und Führergestalten wie Louis Haeusser zu sehen ist. Kraft seiner unübertragbaren Individualität präsentiert sich der Charismatiker einerseits als Seher und Verkünder einer dem diskursiv-rationalen 165

Dies gilt auf der Ebene der funktionssystemischen Codes. Auf der Ebene der funktionssystemischen Programme (vgl. z. B. Luhmann (1986b), S. 182 f.), an denen sich die Zuteilung der positiven oder negativen Codewerte orientiert, können auch solche und ähnliche Erwägungen eine Rolle spielen, aber dabei handelt es sich dann um autonome Entscheidungen des jeweiligen Funktionssystems bzw. um die Ergebnisse seiner Eigenevolution, die dessen operative Schließung anhand des jeweiligen binären Codes voraussetzen. Im Wissenschaftssystem beispielsweise geht es immer um Wahrheit, auch wenn auf der Ebene der Programme epistemologische Reflexionen beispielsweise auch – wie im Falle der großen Tradition Kritischer Theorie – mit ethischen Ansprüchen verbunden werden. Der ethische Anspruch wird in diesem Falle aber als Voraussetzung wissenschaftlich wahrer Realitätsbeschreibung verstanden, und nicht an deren Stelle gesetzt. Ähnliches gilt für die politischen oder aufklärerischen Ambitionen einiger programmatischer Angebote im Kunstsystem, die solches Engagement als konstitutive Bestimmung der Kunst propagieren. 166 Sie parasitiert insoweit, als sie einen bestimmten, erst unter exklusionsindividuellen sozialstrukturellen Bedingungen möglichen Individualitätstypus darstellt und damit auf ebenfalls erst dadurch relevant werdende, spezifisch moderne Bedürfnisstrukturen antwortet, die ihren Erfolg bedingen. – Vgl. Luhmann (1997a), S. 661, 683.

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Wahrheitstypus der neuzeitlichen Wissenschaft entgegenstehenden, esoterischen Offenbarungswahrheit. Andererseits behauptet er als (Lebens-)Führer einen von der politischen Macht – im engeren funktionssystemspezifischen Sinne einer auf dem Monopol physischer Gewaltsamkeit errichteten negativen Sanktionsmacht167 – unterschiedenen, gleichermaßen diffusen wie umfassenden Anspruch auf die unbedingte Kontrolle und Unterwerfungsbereitschaft der ihm Folgenden. Dadurch fungiert er, die moderne Differenzierungslogik durchbrechend, als kommunikative Adresse diskursiver Autorität, die die Akzeptanzchancen kommunikativer Angebote erhöht und damit in ähnlicher Weise wie die Erfolgsmedien, dabei aber deren funktionssystemische Universalität und Spezifität unterlaufend, das Wahrscheinlichkeitsverhältnis von kommunikativer Annahme und Ablehnung asymmetrisiert. cc) Wahrnehmung und Adresse ‚Adresse‘ bezeichnet kommunikationstheoretisch das kommunikative Konstrukt einer (personalen) Zuschreibungseinheit bzw. eines Zurechnungspunktes für die Mitteilung einer Information und deren Verstehen. ‚Adressabilität‘ bezeichnet mithin für Individuen die Voraussetzung zur Teilnahme an Kommunikation als Person und damit ihre prinzipielle soziale Inklusionsfähigkeit. Wer in diesem Sinne keine Adresse besitzt, wird lediglich als Körper wahrgenommen, und nicht als Person.168 Im operativen Vollzug von Kommunikation ist die Adresse in der Mitteilungskomponente enthalten, die als selbstreferentielle Seite der Kommunikation den Umstand beinhaltet, daß, von wem, wie und wozu etwas gesagt, getan, geschrieben wird. Die Informationskomponente ist demgegenüber, als das, was gesagt wird, die fremdreferentielle Seite der Kommunikation, in der auf die Umwelt der Kommunikation Bezug genommen wird, als Aussage über Ereignisse oder sonstige Vorgänge in der Welt, inklusive psychischer Innenwelten. Durch die Unterscheidung beider Komponenten im Verstehen unterscheidet sich kommunikative Beobachtung, also die spezifische Operationsweise sozialer Systeme, von Wahrnehmung, also einer Kompetenz des Bewußtseins als der spezifischen Operationsweise psychischer Systeme.169 Kommunikation konstituiert sich in dem Moment, da die Beobachtung eines Ereignisses, z. B. eines Lautes oder eines Körpers und seiner Bewegung, als sinnhafte Mitteilung einer Information verstanden wird, also im Verstehen als Einheit der Unterscheidung von Mitteilung und Information. Kommunikation und 167

Vgl. Luhmann (2000), S. 45 ff. Vgl. Fuchs (1997a); Luhmann (1991b) u. (1995c). 169 Vgl. hierzu und zum Folgenden Luhmann (1994b), S. 19 ff., 44 ff.; (1995b), S. 13 ff.; vgl. auch Luhmann (1985); (1987d); (1988); (1989a); (1992b). 168

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Wahrnehmung sind daher füreinander operativ unzugänglich. Fehlt bei der Beobachtung eines Ereignisses die Unterscheidung von Mitteilung und Information, also die Unterstellung, daß jemand etwas Sinnhaftes und prinzipiell Verständliches mitteilt – z. B. durch einen gesprochenen Satz, eine bedeutungsvolle Geste oder auch Symbole und Kunstwerke –, so handelt es sich hierbei um Wahrnehmung, die als solche kommunikativ nicht anschlußfähig und in ihrer Unmittelbarkeit nicht kommunikabel ist. Allerdings setzt Kommunikation Wahrnehmbarkeit voraus. Nicht nur bezieht sich Kommunikation regelmäßig in ihrer Informationskomponente auf Wahrnehmbares, wenn sie beispielsweise ein sichtbares oder hörbares Ereignis beschreibt. Vor allem ist Kommunikation in ihrer Mitteilungskomponente darauf angewiesen, etwas Wahrnehmbares als Bedeutungsträger – gesprochene, hörbare Sprache, gedruckte, lesbare Buchstaben usw. – zu verstehen, damit zugleich von anderen wahrnehmbaren Ereignissen zu unterscheiden und der Mitteilungsabsicht eines (sozialen) Anderen zuzurechnen. Eine Lautfolge oder räumliche Formen werden wahrgenommen, als Mitteilung einer Information verstanden und als solche einer Adresse zugeschrieben, in der Regel einem menschlichen Individuum, mitunter auch, meist in vormodernen Kulturen, den Geistern Verstorbener, Göttern oder Dämonen. Dies veranschaulicht den Konstruktcharakter kommunikativer Adressen – ebenso, wie der Umstand, daß in der modernen Gesellschaft nicht jedes Individuum eine Adresse besitzt.170 Kommunikation konstituiert sich also, indem sie Wahrgenommenes als sinnhafte Differenz von Mitteilung und Information versteht, das Wahrnehmbare selbst bleibt aber als solches, also in seiner rezeptiven Unmittelbarkeit, inkommunikabel, weil eben mit jener Differenz der Bereich der Wahrnehmung verlassen wird. Allerdings läßt sich, ebenso wie generell über Wahrnehmung und Wahrgenommenes, auch über Inkommunikabiliät kommunizieren, etwa, indem man etwas als ‚unbeschreiblich‘ beschreibt. Dies betrifft beispielsweise das Problem der Inkommunikabilität von Individualität als einer irreduzibel perspektivischen, also nicht sprachlich verallgemeinerbaren Gefühls- und Wahrnehmungswelt, aber auch das Phänomen mystischen Erlebens.171 Das hieran anknüpfende, in der Moderne insbesondere im Kunstsystem betriebene Experimentieren im Grenzbereich von Wahrnehmung und Kommunikation – die Inanspruchnahme von wahrnehmender und kommunikativer Aufmerksamkeit durch die Kommunikation von Inkommunikabilität und die durch das Oszillieren zwischen Kommunikation und Wahrnehmung bewirkte kommunikative Einwandsimmunisierung – tritt auch bei der soziologischen Analyse des Charismas zutage, wie 170 171

Vgl. Luhmann (1995c). Vgl. Fuchs (1992) u. (1999).

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noch näher zu betrachten sein wird. Wie dem Kunstwerk, so wird auch dem Charismatiker eine Aura zugeschrieben, die seine Präsenz zu einem quasi mystischen, und damit inkommunikablen Erlebnis macht, was wiederum auf die besondere, außeralltägliche Qualität seiner Persönlichkeit, also auf seine – ebenfalls inkommunikable – Individualität zurückgeführt wird. Und dieses zunächst nur wahrnehmbare Charisma – das sich psychologisch auf die narzißtische Selbstidealisierung seines Trägers und die projektiven Idealisierungen seiner Verehrer zurückführen läßt – muß, um als Quelle diskursiver Autorität fungieren zu können, von bloßer Wahrnehmbarkeit auf Kommunikabilität umgestellt werden; nur so kann es für die Asymmetrisierung von kommunikativen Annahme- bzw. Ablehnungschancen nutzbar gemacht werden. Das gilt verstärkt dann, wenn der soziale Rahmen von Interaktionssystemen, also Kommunikation unter (körperlich) Anwesenden, verlassen wird, also etwa beim Einsatz von Verbreitungsmedien, wie z. B. Texten, oder auch bei Massenansprachen.172 b) Charismatische Kommunikation und Sektenform Nach diesen kommunikationstheoretischen Vorüberlegungen soll unter ‚charismatischer Kommunikation‘ ein Kommunikationstypus verstanden werden, der in spezifischer Weise unter Berufung auf persönliches Charisma wahre und richtige Deutungsangebote dadurch produziert, daß er diskursive Autorität für die Beglaubigung der Geltung von Aussagen in Anspruch nimmt. In der hierdurch bewirkten Asymmetrisierung der Annahme-Ablehnungswahrscheinlichkeit eines kommunikativen Angebotes zugunsten der kommunikativen Annahme liegt eine funktionale Äquivalenz zum Einsatz binär codierter Erfolgsmedien, wie Wahrheit, Macht, Geld usw. vor. Das Spezifische der charismatischen Kommunikation besteht allerdings darin, daß hier der Anspruch auf Wahrheit, Orientierungsleistung, Gehorsam bzw. Herrschaft über die Mitteilungskomponente der Kommunikation beglaubigt wird, nämlich durch die kommunikative Adresse des Charismatikers, dem individuell-persönliche Qualitäten zugeschrieben werden, auf denen der 172 Aus der dieser Problematik zugrundeliegenden Konstellation erklärt sich die Vorliebe bestimmter charismatischer Typen für kleine, überschaubare und interaktionszentrierte Sozialformen, in Sekten oder elitären Bünden, in denen der entrückte Glanz ihrer Augen oder der feste und singsangende Ton ihrer Stimme ihre Wirkung auf die Anwesenden Jünger entfalten kann. Aber damit läßt sich gerade nicht erklären, wie es solche Individuen zu einem teilweise ihre Lebenszeit überdauernden gesellschaftlichen Erfolg bringen können – wie man überhaupt von ihnen, jenseits eines beschränkten interaktionellen Wirkungskreises erfahren kann. Übrigens liegen hierin auch die Grenzen einer rein psychopathologischen Betrachtungsweise, die, für sich genommen, der in ihrem semantischen Niederschlag ablesbaren gesellschaftlichen Bedeutung des Charisma-Phänomens nicht gerecht werden können.

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Wahrheits- und Orientierungswert des Mitgeteilten, also der Information, gründet. Eine Aussage ist demnach deswegen wahr und eine Aufforderung zu befolgen, weil sie von dieser bestimmten Person aufgrund der ihr zugeschriebenen außeralltäglichen Individualität verkündet wurde, und nicht von einer anderen, nicht charismatisch qualifizierten Person, aus deren Munde dieselbe Aussage oder Aufforderung keinen vergleichbaren Wahrheits- und Befolgungswert hätte. Der Vergleich mit dem symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium Geld verdeutlicht den doppelten Gegensatz charismatischer Kommunikation zum kommunikativen Einsatz von funktionssystemspezifischen und universalen Erfolgsmedien: Geld kann prinzipiell ohne Ansehen der darüber verfügenden Personen, also universell – pecunia non olet –, in wirtschaftlichen Transaktionen zum Einsatz gebracht werden, aber nur in diesen. Die Verwendung von Charisma ist hingegen strukturell auf einen exklusiven Personenkreis limitiert, der gerade durch seine besonderen Individualitäten qualifiziert ist, dafür aber prinzipiell sachlich unbeschränkt im jeweiligen Geltungskontext über seine Autorität verfügen kann. Der Wahrheits- und Orientierungswert der Informationskomponente gründet in der charismatischen Kommunikation also auf der Mitteilungskomponente. Dabei kann typischerweise neben der Adresse der Mitteilung auch ihre spezifische Form eine Rolle spielen, beispielsweise der Sprachduktus, das Textgenre (z. B. die prophetische Rede), aber auch das Verbreitungsmedium: etwa kostbare Handschriften, Kryptographien, kunstvoll gestaltete Drucke in limitierter Auflage, ‚verbotene Bücher‘ usw., insbesondere also alles, was die Aura des Geheimnisvollen, Exklusiven erzeugt – so daß das Verbreitungsmedium in paradoxer Weise der Zugangsbeschränkung dient und dadurch die charismaspezifische Exklusivität von Interaktionssituationen simuliert wird, an denen nur Auserwählte teilhaben. Das – formal ‚Verbreitungs-‘, funktional ‚Verknappungs-‘ – Medium erhält eine auratische Aufladung, der vor allem die Bedeutung zukommt, die Außerordentlichkeit der Adresse und der ihr zugeschriebenen Kommunikation zu markieren, ein Vorgang, der analytisch im nächsten Abschnitt als ‚charismatifikatorische Kommunikation‘ näher zu betrachten sein wird. In der Verstehenskomponente vollendet sich die charismatische Kommunikation in der Weise, daß die durch die Mitteilungskomponente beanspruchte Beglaubigung der in der Informationskomponente enthaltenen Beobachtung widerspruchslos akzeptiert wird: d. h. von charismatischer Kommunikation kann nur im Erfolgsfalle, also von der Verstehenskomponente her, die Rede sein. Wird das vom Charismatiker Verkündete in Frage gestellt, kritisiert, abgelehnt, oder auch bloß selektiv akzeptiert oder reflexiv thematisiert, so bedeutet dies, daß in der Verstehenskomponente nicht in der für charismatische Kommunikation spezifischen Weise an der Mittei-

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lungskomponente angeschlossen wird – ‚Information xy ist wahr, weil sie von Person C mitgeteilt wird, und Person C hat aufgrund ihrer individuellen Beschaffenheit einen privilegierten Wahrheitszugang‘ –, sondern an der Informationskomponente: Es wird dann danach gefragt, ob das jeweilige Weltdeutungs- bzw. Realitätsbeschreibungsangebot prinzipiell unabhängig von der (und in Unterscheidung zur) Mitteilungskomponente – also dem Autor und der Form – plausibel ist und welche Evidenzen dafür oder dagegen sprechen. Und selbst, wenn eine positive Anschlußkommunikation aufgrund einer solchen Prüfung erfolgt, so ist damit doch die auf der Fraglosigkeit des charismatisch Mitgeteilten im Verstehen beruhende Geschlossenheit charismatischer Kommunikation durchbrochen. Hierin besteht ein weiterer entscheidender Unterschied zu den binär codierten Erfolgsmedien der Funktionssysteme und zu der Art, wie diese durch jene ihre operative Schließung vollziehen und die Stabilität ihrer Autopoiesis auf hohem Irritabilitäts- und Komplexitätsniveau garantieren können. Anders als beispielsweise die mit dem binär codierten, symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium Wahrheit operierende Kommunikation des Wissenschaftssystems, die nicht aufhört, wissenschaftliche Kommunikation zu sein, solange sie sich unter bestimmten funktionssystemischen Programmvorgaben (z. B. wissenschaftstheoretischer und methodologischer Art) an eben diesem Wahrheitsmedium orientiert, was immer auch mit einschließt, daß eine Aussage als unwahr qualifiziert werden kann, ohne deshalb ‚unwissenschaftlich‘ zu sein – und auch ohne Exklusion ihres Autors aus dem Wissenschaftssystem –, gilt für die charismatische Kommunikation, daß sie sich als solche nur reproduziert, wenn an sie unter Bezugnahme auf die Mitteilungskomponente positiv angeschlossen wird. Pointiert formuliert: der Einsatz des wissenschaftssystemischen Erfolgsmediums Wahrheit kann innerhalb der wissenschaftlichen Kommunikation scheitern, ebenso wie innerhalb des politischen Funktionssystems der Einsatz des diesem entsprechenden Erfolgsmediums Macht scheitern kann.173 In diesen beiden Fällen gelingt es nicht, eine kommunikative Annahme zu bewirken, und dies ist gerade deswegen möglich, weil die binäre Codierung der Erfolgsmedien Wahrheit und Macht mit ihren jeweiligen negativen Kontrollwerten die Möglichkeit von Unwahrheit und Ohnmacht vorsehen. D. h. das Scheitern der Annahme – die Ablehnung eines kommunikativen Angebots wegen wissenschaftlicher Unwahrheit bzw. politischer Machtlosigkeit – bestätigt die Funktionsweise des jeweiligen Mediums und die an ihm orientierte operative Schließung des jeweiligen Funktionssystems. Und dies geschieht nicht zuletzt deswegen, weil die Ablehnung einer wissenschaftlichen 173 Vgl. hierzu und zum Folgenden Luhmann (1994b), S. 271 ff.; (1997a), S. 316 ff., bes. S. 359 ff.; (2000), S. 52 ff., bes. S. 74 ff.

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Aussage als unwahr ja mit dem Einsatz von Wahrheit verbunden ist und der Ohnmachtserweis einer politischen Kommunikation ja auf das Vorhandensein von Macht bzw. auf deren Einsatz von der (ablehnenden) Gegenseite verweist. Der wissenschaftliche bzw. politische Kommunikationszusammenhang reproduziert sich gleichermaßen über kommunikative Ablehnung wie Annahme, d. h. über positive wie negative Anschlüsse, solange die basale Anschlußfähigkeit über die Verwendung der Medien gewährleistet ist. Die binär codierten – also mit positivem wie negativem Wert versehenen – Erfolgsmedien sind die Signatur der operativen Geschlossenheit der autopoietischen Funktionssysteme.174 Während also wissenschaftliche wie politische Kommunikation im Falle des Nichterfolges, also des negativen Anschlusses bzw. der Ablehnung eines kommunikativen Angebotes, nicht aufhören, wissenschaftlich oder politisch zu sein, ist im Unterschied hierzu charismatische Kommunikation nur im Erfolgsfalle charismatische Kommunikation: Wenn die Mitteilung des Charismatikers abgelehnt wird, handelt es sich nicht um charismatische Kommunikation. Die Medien Macht und Wahrheit werden in ihrer Erfolgsmedialität durch die Negativwerte bestätigt; das Charisma hingegen verschwindet im negativen Anschluß. Wer das vom Charismatiker Mitgeteilte nicht als fraglos zu akzeptierende Offenbarung einer höheren Wahrheit versteht, befindet sich außerhalb des charismatischen Kommunikationszusammenhanges – er ist ausgeschlossen.175 Dies verweist auf die für diesen 174

Die Wissenschaft definiert sich nicht zuletzt über diese immer vorhandene Möglichkeit, Behauptungen als unwahr abzulehnen, d. h. über Kritik, Falsifizierbarkeit, Fallibilismus, so wie für die Politik in ihrem Selbstverständnis der Konflikt zwischen ungleichen Machtpotentialen zentral ist. Eine nach den programmatischen Maßgaben des Wissenschaftssystems widerlegte wissenschaftliche Aussage hört wegen ihrer Widerlegung nicht auf, dem Wissenschaftssystem – etwa in seiner historischen Selbstbeobachtung – anzugehören, sondern erweist mitunter gerade in ihrer Widerlegbarkeit ihre Wissenschaftlichkeit. Ähnliches gilt für politische Niederlagen, z. B. in Kriegen, parlamentarischen Abstimmungen, Verhandlungen usw., die die politische Bedeutung bestimmter Ereignisse und u. U. ihre fortdauernde Problematik und Regelungsbedürftigkeit unterstreichen. 175 Bekanntlich spielen auch im Wissenschaftssystem die kommunikativen Adressen bestimmter Autoritäten und Koryphäen eine Rolle, wenn es um kommunikativen Erfolg bezüglich z. B. der Durchsetzung bestimmter Themen geht oder um den Anspruch, bestimmte Erkenntnisse als erster oder maßgeblich formuliert zu haben oder bestimmte Begriffe zu prägen usw. Die daran orientierte Berücksichtigung der Mitteilungskomponente führt zu Schulbildung, Zitationskartellen und der möglichen Verbesserung von Karrierechancen, ist aber auf der Ebene des funktionssystemischen Programms kein Wahrheitskriterium. Aussagen wie ‚Die moderne Gesellschaft ist primär funktional differenziert, weil Niklas Luhmann dies erkannt hat‘ oder ‚Die Moderne ist ein unvollendetes Projekt, weil Jürgen Habermas dies sagt‘, sind in diesem Sinne unwissenschaftlich. Auch ist es hier möglich, sich auf denselben Autor in unterschiedlichen Zusammenhängen mal affirmativ, mal ablehnend zu

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Kommunikationstypus spezifische Sozialform der Sekte, die bereits durch ihre hermetische Realitätskonstruktion charakterisiert wurde: durch eine Binnenrealität, in der die – von außen betrachtet überzogenen, unangemessenen – Grandiositätsansprüche des Sektenführers und seiner Anhängerschaft als realistisch und adäquat gelten: In der Sekte ist der Meister der Heiland, sein Wort Wahrheit und seine Jünger sind Auserwählte. Divergente Perspektiven, die möglicherweise des Meisters Werk durchaus würdigen und ihm zugestehen, z. B. recht hübsche Gedichte zu schreiben oder diese oder jene bedenkenswerte zeitdiagnostische Beobachtung zu liefern, ihm und den Seinen ansonsten aber in ihren Selbststilisierungen nicht folgen und vielleicht sogar ihren Eskapismus zum Gegenstand psychopathologischer Latenzbeobachtungen machen, sind aus der hermetischen Binnenrealität der Sekte ausgeschlossen. In ihr gilt nur die eine Perspektive der einen grandiosen Realität; davon Abweichendes kann nur in disqualifikatorischer Form vorkommen, als fremdreferentielle Beobachtung der verruchten, heillosen und deswegen aber auch irrelevanten oder zu vernichtenden Außenwelt. Der inkongruent perspektivierte Blick von außen auf die Binnenrealität der Sekte gilt letzterer allemal als Bestätigung des eigenen Selbstverständnisses, ein erlesener Kreis von Auserwählten, ein Sanktuarium des Heils in einer korrupten und feindseligen, vielleicht auch dem Untergang geweihten Welt zu sein; daß diese Unwürdigen nichts unversucht lassen, den jeweiligen Meister, Führer usw. seine Heilsbotschaft und seine Getreuen zu verleugnen, ist für letztere geradezu zu erwarten.176 beziehen, ohne daß bereits dadurch die Wahrheit – bezüglich der Konsistenz – der eigenen Argumentation in Frage gestellt wäre. Dominant bleibt hier die Informationskomponente. Entscheidend ist für den Wahrheitswert, was gesagt wird, nicht wer es sagt – auch, wenn mitunter das, was gesagt, vor allem deswegen beachtet wird, weil es von einer etablierten Adresse ausgeht. – Als analoges Phänomen im politischen System sind die primär an Personen – und nicht an ihren Ämtern und Funktionen in Partei- oder staatlichen Organisationen – orientierten informellen ‚Seilschaften‘ zu betrachten. 176 Es ist leicht zu sehen, daß hier in wissenssoziologischer Sicht der systematische Ort der kommunikativen Genese und Geltung von Verfolgungswahn und Verschwörungstheorien ist. Der Verfolgungswahn ist in dieser Hinsicht nur die Kehrseite des Größenwahns. Beide sind einander ergänzende Formen eines paranoiden Egozentrismus, dessen – in der hier vorgeschlagenen Terminologie: all-einziger – Träger sich selbst aufgrund seiner Grandiosität im Zentrum einer allumfassenden Aufmerksamkeit sieht und erkennt: in der ungebrochen megalomanen Form etwa im Aufmerksamkeitszentrum der Vorsehung oder sonst eines Heilsplanes, in der verwolgungswahnhaften Variante im Zentrum der Aufmerksamkeit eines bösartigen, feindseligen und gefährlichen Überwachungs-, Kontroll- und Verfolgungsapparates (vgl. auch Kohut (1976), S. 26). Jedenfalls dreht sich in beiden Varianten alles um diesen einen All-Einzigen. Die Verschwörungstheorie stellt einen ideologischen Ausdruck dieser paranoid-egozentrischen Figuren in einer semantischen Form dar, die aufgrund ihres Systematisierungs- und Rationalisierungsgrades der kommunikativen

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In diesem Sinne errichtet die Sekte gleichsam ein Refugium der Monokontexturalität in der bzw. gegen die polykontexturale Moderne, gegen deren routinemäßig dekonstruierende Fremdbeobachtung und Allgegenwart perspektivischer Divergenz sie sich abschirmt.177 Der hermetischen Binnenrealität der Sekte entspricht eine Inklusions-Exklusionsregelung, die unmittelbare Folge des charismatischen Kommunikationstypus ist. Die Teilnahme am charismatischen Kommunikationszusammenhang geht einher mit der Anerkennung der jeweiligen Führer- bzw. Prophetenpersönlichkeit und ihrer Lehre. Wer hier zweifelt, ist schon draußen, d. h. im Exklusionsbereich, also in der – charismatisch unqualifizierten – abzuwehrenden Außenwelt. Wer indes auserwählt ist, d. h. die Mitteilung des Charismatikers recht versteht, und dazugehört, wehrt seinerseits die Außenwelt ab. Die Inklusion ist daher – in der typischen Form von Jüngerschaft – vollständig, anders als in den Funktionssystemen der modernen Gesellschaft. Die Zugehörigkeit zu einer Sekte – als Auserwählter, Eingeweihter usw. – bietet, anders als die immer nur temporäre Inklusion vermittels einer funktionssystemspezifischen Rolle in ein Funktionssystem, also unter einem Teilaspekt, der die entsprechende Teilinklusion in andere Funktionssysteme gerade nicht ausschließt, ein umEvidenzerzeugung und Plausibilisierung zugänglich ist, also, je nach historischen und soziokulturellen Bedingungen, gewisse soziale Erfolgschancen hat. An ihrer typischen Kernstruktur läßt sich die Verbindung von Größen- und Verfolgungswahn erkennen: Der Verschwörungstheoretiker weiß sich selbst ja als (potentielles) Opfer jener finsteren konjuratorischen Mächte, die im Verborgenen quasi allmächtig die Fäden ziehen und damit die Menschheitsgeschicke lenken, und dabei praktisch von allen anderen außer dem Verschwörungstheoretiker selbst unbemerkt bleiben. Nur er ist bisher in der Lage, diese unsichtbaren Mächte und ihre üblen Machenschaften zu erkennen und u. U. aufzuhalten, indem er seine Kenntnisse öffentlich macht und so die Weltverschwörung entlarvt. Und gerade deswegen, weil er diesen ubiquitären Mächten durch sein besonderes Wissen gefährlich werden kann, ist er seinerseits gefährdet: seine Grandiosität im Bereich des Wissens – er durchschaut die Weltverschwörung – macht ihn zu einer potentiellen Bedrohung für die Verschwörer – versieht ihn also auch mit Macht –, weswegen sie ihm nach dem Leben trachten. Dies ist – neben apokalyptischen und anderen ‚Weltwende‘-Szenarien – der Stoff, aus dem die hermetischen Realitätskonstruktionen von Sekten sind. Wer diesen widerspricht, macht sich verdächtig. 177 Darin besteht zugleich ihre Nähe zu fundamentalistischen Positionen, mit denen sich die Sekte oft vereint. Sekten wie Fundamentalismen sind in ihrer Modernität in doppelter Hinsicht durch die moderne Polykontexturalität bedingt: Letztere ermöglicht zum einen die sektenförmige bzw. fundamentalistische Konstruktion hermetischer Realitäten, wie sie viele andere Perspektiven auch ermöglicht. Insofern parasitiert jede monokontexturale Weltsicht in der Moderne an der konstitutiv modernen Polykontexturalität, die sie als ‚Relativismus‘, ‚Beliebigkeit‘, ‚Nihilismus‘, ‚Wertverlust‘ usw. bekämpft. Zum anderen leben Sekten wie Fundamentalismen vom Abwehraffekt gegen die Modernität, und ihre Monokontexturalität stellt in diesem Sinne eine Alternative zur Polykontexturalität dar – allerdings wiederum: nur von innen.

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fassendes, in diesem Sinne vollinklusives Individualidentitätsangebot. Das betreffende Individuum definiert sich in seiner sozialen Identität als Angehöriger eines sektenförmigen Bundes, einer verschworenen Gemeinschaft, als Jünger – oder auch Meister – und ordnet dieser Identität alle anderen Sozialbeziehungen unter, wie etwa am Beispiel des George-Kreises zu beobachten war.178 Die Inklusionsordnung der Sekte ähnelt in dieser Beziehung der Inklusion in einen vormodernen Familienverband, Stamm o. ä. – mit dem entscheidenden Unterschied, daß die inklusive Identitätsbestimmung der Sekte nicht durch Geburt geschieht, sondern infolge der Rekrutierung eines von Geburt an gesellschaftlich in seiner Identität nicht festgelegten, also sozial exklusiv definierten Individuums.179 Dem entsprechen bestimmte Initiations- und Aufnahme-Riten, am offensichtlichsten das Ritual der Wiedergeburt durch die Neubenennung der Sektenmitglieder, das sowohl den existentiellen Verfügungsanspruch über diese wie auch die Annahme einer neuen umfassenden Identität und den korrespondierenden Bruch mit der uneingeweihten, profanen Außenwelt symbolisiert, und schließlich die vormoderne inklusive Identitätsbestimmung durch Geburt evoziert.180 Die Einweihung und Wiedergeburt durch Neubenennung versetzt denjenigen, der diese als Inbesitznahme des Auserwählten durch Aufnahme in seinen Kreis vollzieht, in die Position einer allmächtigen (Schöpfer-)Gottheit. Möglich wird dies allerdings wiederum nur parasitär aufgrund der modernen sozialstrukturellen Exklusionsindividualität, vergleichbar der doppelten Bedingtheit der Monokontexturalität der hermetischen Sektenrealität durch die moderne Polykontexturalität. Nur das moderne, gesellschaftlich exklusiv definierte Individuum kann – aus welchen Gründen und Zwängen auch im178 Siehe oben, III. 3. b). Vgl. auch Breuer (1995), S. 57 ff.; Schonauer (1960), S. 92 ff. Für weitere Beispiele aus diesem und anderen sektenartigen Zusammenhängen vgl. Kreuzer (2000), S. 186 f. 179 Man ist versucht zu sagen, daß der Beitritt zu einer Sekte ‚freiwillig‘ geschehe, aber gegen eine solche Formulierung, spricht alles, was sich spätestens seit der dritten Kränkung über das Konstrukt des ‚freien Willens‘ sagen läßt. Illustrativ hierfür ist Breuers narzißmuspathologische Erklärung der George-Jüngerschaft. 180 Am Beispiel des Georgianers Friedrich Gundolf – vormals, bis zur Namensverleihung durch den Meister 1899, Fritz Gundelfinger –, des ersten, „auf den das Wört ‚Jünger‘ ganz zutrifft“, bestätigt dies der George-Biograph Franz Schonauer: „Das ist auch der tiefere Grund der Namensgebung; der so Ausgezeichnete verläßt damit seine alten sozialen Bindungen, er tritt in übergeordnete, höhere und verpflichtendere Verhältnisse ein, entsprechend der Weisung im Stern des Bundes [1914]: Dies ist reich des Geistes: abglanz / Meines reiches hof und hain. / Neugestaltet umgeboren / Wird hier jeder: ort der wiege / Heimat bleibt ein märchenklang. / Durch die sendung durch den segen / tauscht ihr sippe stand und namen / Väter mütter sind nicht mehr . . . / Aus der sohnschaft der erlosten / Kür ich meine herrn der welt“ (Schonauer (1960), S. 91 f. – H. i. O.).

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mer – eine solche inklusive Individualidentität annehmen, genauso, wie ihm auch andere zur Verfügung stehen. Und wiederum – wie im monokontextural befriedigten Flucht- bzw. Abwehraffekt gegen die moderne Polykontexturalität – präsentiert sich dieses vollinklusive Individualidentitätsangebot als heilsame Alternative zur modernen Inklusions-Exklusions-Regelung, die als ‚Zerrissenheit‘, ‚Wurzellosigkeit‘, ‚Entfremdung‘, ‚Abstraktion‘, ‚Bindungsverlust‘, ‚Nivellierung‘, ‚Vermassung‘, ‚Atomismus‘ usw. beklagt und verworfen wird. Der Teilnehmer an der charismatischen Kommunikation einer Sekte kennt hingegen seine Position und Bestimmung in der Welt als ein der Außenwelt überlegener Auserwählter, der sich deswegen dem Meister unterwirft.181 Und wiederum ist dies die Binnenperspektive. Wer dies anders beurteilt, ist exkludiert. Dieser Zusammenhang zwischen charismatischer Kommunikation, Inklusion und Individualidentitätskonstruktion läßt sich in ähnlicher Weise am Genie-Kult beobachten, der oft, aber nicht notwendig mit der Sektenform zusammengeht.182 Was bisher über die Funktionsweise der charismatischen Funktion und ihrer operativen Schließung beschrieben wurde, gilt auch für den Genie-Kult, und zwar auch hinsichtlich desjenigen, in dessen Zentrum die Verehrung von verstorbenen, oder auch anderweitig (z. B. durch Wahnsinn) unpäßlichen, jedenfalls abwesenden Genies steht. Hieran wird deutlich, wie sehr das Genie, wie auch jeder andere Typus des Charismatikers, gleichsam passivisch das Produkt seiner Anhänger, Jünger, Entdecker ist, oder, anders formuliert: daß der Charismatiker auch ein Konstrukt der charismatischen Kommunikation ist. Als Eigenwert der charismatischen Kommunikation dient dieses Konstrukt auch im Genie-Kult der kommunikativen Autoritätsbeglaubigung, Schließung und Inklusions-Exklusions-Regelung durch das adäquate, d. h. charismatische Verstehen des charismatisch Mitgeteilten. Nur wer das Genie als solches erkennt, kann seine Wahrheit 181 Die Sekte erscheint so innerhalb der modernen Gesellschaft als soziale Nische, die aufgrund ihrer hermetischen Realitäts- und Inklusionsstruktur als Reservat onto- wie phylogenetisch archaisch-narzißtischer Positionen fungiert. 182 Ein Sektenführer kann, neben vielem anderen, auch als Genie verehrt werden, z. B. als genialer Künstler oder genialer Führer. Und eine Genie-Kultgemeinschaft kann sektenhafte Züge annehmen. Das Genie ist – auch ohne die typisch prophetenund führerhaften Erlösungsambitionen und Heilsversprechungen – eine Adresse in der charismatischen Kommunikation als begnadeter Träger außeralltäglicher Begabung im Bereich des Schöpferischen und Seherischen, also ein Charismatiker. Die Genie-Thematik ist deswegen hier von besonderem Interesse, weil sie auch eine Rolle in der Stirner-Rezeptionsgeschichte spielt; und weil in diesem Zusammenhang, sofern es um die Verehrung von Verstorbenen, also Abwesenden, als Genies geht, deutlich wird, inwiefern Charisma als soziales Phänomen auch jenseits von Interaktionsbeziehungen – und damit in relativer Unabhängigkeit von psychoanalytisch beobachtbaren Übertragungs- bzw. übertragungsähnlichen Beziehungen – vorkommen kann.

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schauen und daran teilhaben. Wer diese hingegen kritisiert, hinterfragt, revidiert usw., demonstriert damit lediglich seine eigene Unfähigkeit, die wahre Größe des Genies zu erkennen und offenbart so seine eigene Unzulänglichkeit; ihm fehlt das Organ für das Höhere, und so erweist er sich als unwürdig, während andererseits derjenige, der dies nicht verkennt und weiß, womit er es zu tun hat, darin seine eigene Bestimmung zu Höherem erweist. Die Genie-Verehrung adelt den Verehrer, auf ihn fällt ein Abglanz des Genies. Dies entspricht wiederum, analog den Beobachtungen zur Sektenstruktur, der Innensicht des Genie-Kultes. Bei verstorbenen Genies, die selbst also nicht als Sektenführer fungieren und auch nicht selbst in die charismatischen Kommunikationszusammenhänge eingreifen können, können sich verschiedene, miteinander rivalisierende Kultgemeinschaften – aber auch einzelne Autoren – auf ein und dasselbe Genie beziehen, die um die diesbezüglichen Interpretationsmonopole streiten – und damit auch Textmaterial für die wissenssoziologische Beobachtung liefern. Ein Beispiel hierfür ist der Streit um die Stirner-Erstentdeckung183 und den damit gekoppelten Anspruch auf dessen wahre Auslegung. Entscheidend ist, bei aller Diskursivität solcher Konkurrenzen, daß das Genie als Quelle der Wahrheit gilt; und daß nicht jeder Zugang zu dieser Quelle finden kann. Dies entspricht dem in der charismatischen Kommunikation verwendeten Wahrheitstypus, einer exklusiven, nicht per se jedem, sondern nur wenigen Auserwählten zugänglichen Offenbarungswahrheit. Der Begriff ist hier nicht im engeren, theologischen Sinn zu verstehen, sondern als typologischer Gegensatz zur universalistischen diskursiv-rationalen Wahrheit, wie sie in der Tradition der Aufklärung in der Wissenschaft und in Intellektuellendiskursen Verwendung findet. Wer die Offenbarungswahrheit versteht, also die Wahrheit der Verkündigungen des Propheten oder der Einsichten des Genies erkennt, kann sich nach deren Maßstab etwas darauf zugute halten: Er ist selbst eine Art Auserwählter mit einem Organ für Höheres. Wer diese Wahrheit nicht erkennt und die charismatische Autorität ihres Verkünders verkennt, ist selbst defizient. Wer nicht versteht, ist taub. Das Umgekehrte gilt nach dem Maßstab der – daher nicht exklusiven, sondern universalistischen – diskursiv-rationalen Wahrheit: Wenn sie nicht prinzipiell für alle vernehmbar bzw. verständlich ist, ist sie keine solche.184 Wenn hier 183

Siehe unten, VI., insbesondere 4. a). Bekanntlich gibt es Hilfsmittel wie Erziehung und Bildung gegen vorläufige Verständnisschwierigkeiten, die einerseits den professionellen Verkündern solcher Wahrheiten, den Intellektuellen, ihren Vorsprung und ihre Autorität gegenüber denjenigen sichern, an deren Stelle sie sprechen bzw. die sie aufklären wollen, und die andererseits die intellektuelle Wahrheit vor voreiliger populistischer Widerlegung schützen. Außerdem gibt es auch hier noch ein Ausschlußkriterium, das der Unvernünftigen, von denen Verstehen nicht erwartet werden kann; allerdings sollte es sich 184

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eine Weltdeutung nicht rational nachvollziehbar, nicht nachprüfbar oder unverständlich und dadurch ausschließend ist, fällt dies auf diese Weltdeutung zurück; sie erscheint als esoterisch im denunziatorischen Sinne. Der Intellektuelle z. B. kann für sich in Anspruch nehmen, eine Wahrheit als erster zu erkennen, aber er spricht sie stellvertretend für Alle aus und unterstellt dabei zugleich, daß sich diejenigen, für die und an deren Stelle er spricht, prinzipiell von dieser Wahrheit aufgrund ihrer Vernünftigkeit in ihrem wohlverstandenen Interesse überzeugen lassen können.185 Der Wahrheitsanspruch des Intellektuellen beruht auf der universellen bzw. allgemeinen Nachvollziehbarkeit seiner Argumente; derjenige des Charismatikers beruht auf seiner besonderen, individuellen Aura. Charismatische Kommunikation findet also nur statt, wo die Widerspruchsmöglichkeit ausgeschlossen ist, soweit es die Mitteilungen des Charismatikers betrifft.186 Sie reproduziert sich nur in ihrem kommunikativen Erfolg. Daher ist dieser Kommunikationstypus selbstverstärkend: Der kommunikative Erfolg wirkt auf die Autorität des Charismatikers positiv zurück. Die kommunikative Adresse, die als Quelle maßgeblicher Weltdeutungen in Anspruch genommen wird, wird mit jeder (per se ja: erfolgreichen) charismatischen Kommunikation im Hinblick auf diese besondere, außeralltägliche Qualität bestätigt. Insofern enthält die charismatische Kommunikahierbei, anders als bei den Nicht-Auserwählten der Offenbarungswahrheit, um eine Minderheit handeln, und nicht um die Masse, deren ‚bloße Zahl schon Frevel‘ ist, wie der geistesaristokratische Offenbarungswahrheitsverkünder sagt. – In der Wissenschaft wird nur von den Experten erwartet, daß sie verstehen, allerdings steht es prinzipiell jedem offen, sich zum Experten zu qualifizieren, auch dies ist mithin eine universalistische Vorstellung, die im schärfsten Gegensatz zur Auserwähltheitsfigur steht. 185 Mit diesen ‚Allen‘, für die der Intellektuelle spricht, muß nicht automatisch die gesamte Menschheit gemeint sein; das wäre eine Einengung des Intellektuellenbegriffs auf einen bestimmten Typus des Linksintellektuellen. Andere Bezugsgrößen des Intellektuellen – ob rechts oder links – sind das Volk, die Nation, die Gesellschaft, die Masse, aber auch die Gebildeten. Jedenfalls erhält der Intellektuelle die Rückversicherung seiner diskursiv-rationalen Wahrheit nicht aus einem exklusiven Kreis von Auserwählten, die aufrund ihrer charismatischen Qualifikation imstande sind, die besondere ‚seherische‘ Gabe eines wahrheitkündenden Genies, Propheten oder Führers zu erkennen, sondern aus ‚der Sache selbst‘, wie sie sich prinzipiell jedem Einsichtsfähigen darstellen und argumentativ – unter Rekurs auf Vernunft und Interessen – begründen lassen muß. Dieser Wahrheitstypus ist der Form nach nicht auf die Begründung von Menschenrechten eingeschränkt, sondern kann auch der Legitimation etwa der Diktatur des Proletariats oder der imperialen Vorherrschaftsbestrebungen einer Nation dienen. Der Intellektuelle ist nicht per se liberal, er kann z. B. auch totalitär in der linken wie rechten Variante auftreten. 186 Über die ‚richtige‘ Auslegung des Mitgeteilten können zwischen den Anhängern Kontroversen stattfinden, die aber gerade die Grundannahme, daß das Mitgeteilte die Wahrheit enthält, nur bestätigen.

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tion selbstreferentiell auch immer eine charismatifikatorische Dimension. Diese Wortbildung soll auch daran erinnern, daß Charisma hier als soziales Konstrukt behandelt wird, als Ergebnis von Charismatifikation. ‚Charismatifikatorische Kommunikation‘ ist demnach Kommunikation, die Charisma konstruiert. Die selbstreferentielle charismatifikatorische Dimension charismatischer Kommunikation bezieht sich nicht nur auf die Mitteilungskomponente, insoweit die Autorität des Charismatikers durch den kommunikativen Erfolg bestätigt wird, sondern auch auf die Verstehenskomponente. Denn wer die Größe des Meisters bzw. Genies und die Wahrheit seiner Verkündigungen zu erkennen – und mitunter: zu erleben – imstande ist, der ist selbst ein Auserwählter mit einer besonderen Begabung. Jüngerschaft adelt. Und wer das Genie als solches erkennt, muß selbst einen Funken Genialität in sich haben. Die charismatische Kommunikation läßt sich also in die folgende Form bringen: ‚Was ich verkünde, ist wahr, richtungweisend / Was C verkündet ist wahr, richtungweisend, weil ich bzw. C ein außeralltägliches, großes, einzigartiges, begnadetes Individuum bin bzw. ist, mit aufgrund dieser besonderen Eigenschaften exklusivem und privilegiertem Zugang zur höheren Wahrheit.‘ Die tautologische Struktur dieser Aussagen (‚Ich verkünde die Wahrheit, weil ich ein Verkünder der Wahrheit bin‘) wird in der selbstreferentiell-charismatifikatorischen Dimension der charismatischen Kommunikation bereits durchbrochen, nämlich durch den sozialen Erfolg, durch den sich sowohl das Charisma bezüglich der Mitteilungskomponente, der Adresse des Charismatikers, bestätigt und verstärkt, als auch über die Verstehenskomponente auf seine Anhänger, Jünger, Gefolgsleute – die Auserwählten und Eingeweihten – ausweitet. Damit ist – und hieran zeigt sich der soziale Erfolg – der Schritt in Richtung auf die Bildung von Kultgemeinschaften bzw. Sekten getan. Scheitert dies, so ist dies möglicherweise der erste Schritt eines Größenwahnsinnigen in die Psychiatrie – oder in die Lächerlichkeit. c) Die charismatifikatorische Kommunikation und ihre vier strategischen Typen Charismatische Kommunikation ist also prekär. Ihre Stabilisierung läßt sich anhand einer weiteren analytischen Dimension beschreiben, derjenigen der fremdreferentiellen Charismatifikation. Der dieser entsprechende Kommunikationstypus ist die charismatifikatorische Kommunikation. Damit soll die kommunikative Konstruktion von Charisma bezeichnet werden, die sich nicht bloß (selbstreferentiell) aus dem kommunikativen Erfolg charismatischen Kommunikationsvollzuges speist, sondern die Adresse des Charismatikers – als Genie, Führer, Prophet usw. – erzeugt, der die Mitteilung inner-

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halb der charismatischen Kommunikation zugeschrieben wird. Während also ‚charismatische Kommunikation‘ einen Kommunikationstypus bezeichnet, der eine bestimmte Adresse diskursiver Autorität, diejenige des Charismatikers, zur Beglaubigung ihrer Wahrheit, Macht und sonstigen verbindlichen Orientierungsleistungen in Anspruch nimmt – und damit dazu beiträgt, diese zum Eigenwert zu kondensieren und konfirmieren187 –, soll als ‚charismatifikatorische Kommunikation‘ ein Kommunikationstypus bezeichnet werden, der diese Adresse diskursiver Autorität – das Genie, den Führer, Propheten und andere charismatische Individualidentitätsangebote – konstruiert: charismatifikatorische Kommunikation ist die soziale Konstruktion des Charismatikers. In dieser Funktion erzeugt sie bestimmte grandiose, außeralltägliche, einzigartige Individualitäten, von der man bestimmte Offenbarungswahrheiten, Heilslehren, Erlösungsleistungen usw. zu erwarten bereit ist: gleichsam den Einbruch des leibhaftig personifizierten Außeralltäglichen in den nihilistischen Ennui der entzauberten Moderne. Oder auch, im Sinne des modernitätsdiagnostischen Kränkungsbefundes, die Rückkehr zu unter dem Druck der Modernisierung aufgegebenen narzißtischen Positionen verlorener Grandiosität und Omnipotenz. Denn das Konstrukt des Charismatikers präsentiert dessen Anhängern mit seiner All-Einzigkeit eine narzißtische Vollkommenheit, die die Kränkungserfahrung negiert und denjenigen, die sich ihm unterwerfen, Anteil an dieser kränkungsfreien Vollkommenheit und damit Schutz vor der unbehaglichen Moderne verspricht. Die charismatifikatorische Kommunikation ist also – neben ihrer Funktion im Zusammenhang der charismatischen Kommunikation und Sektenbildung – auch an der Konstruktion bestimmter semantischer Individualidentitätsangebote beteiligt und greift umgekehrt auf bestimmte Individualitätssemantiken zurück. Beispielsweise kann sich die Charismatifikation einer bestimmten kommunikativen Adresse, z. B. Nietzsches, auf wissenschaftliche Genie-Diskurse des 19. und frühen 20. Jahrhunderts berufen, die die Zusammenhänge von Genie und Entartung, Krankheit, Wahnsinn thematisieren und dabei das semantische Individualidentitätsangebot ‚Genie‘ mitführen. Auf derartige semantische Hintergrundgewißheiten kann sich die charismatifikatorische Kommunikation beziehen, wenn sie ein konkretes Individuum charismatifiziert, indem sie den Nachweis führt, daß dieses konkrete Individuum aufgrund seiner persönlichen, z. B. physiognomischen Merkmale, Biographie, Krankengeschichte usw. dem Typus ‚Genie‘ zuzuordnen ist. Die sich auf diese Semantik beziehende charismatifikatorische Kommunikation, die beispielsweise Nietzsche zu einem exemplarischen Genie stilisiert, trägt umgekehrt zur Profilierung und Anreicherung dieses Individualidentitätsangebots bei – und auch zu seiner Plausibilisierung und Evi187

Vgl. Luhmann (1994b), S. 311 ff.; (1997a), S. 217 ff.; (2000), S. 65 ff.

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denzerzeugung. Wenn man zeigen kann, daß Nietzsche ein Genie war, dann kann man daran sehen, daß Genies vorkommen – und wie man sie sich vorzustellen hat. Der Fall Nietzsche ist zugleich ein Beispiel für die Dialektik von selbstund fremdreferentieller Charismatifikation. Wer sich selbst – wie Nietzsche in Ecce Homo – zum Genie oder Heiland oder Weltenwender erklärt – „Warum ich so weise bin“, „Warum ich so klug bin“, „Warum ich ein Schicksal bin“, „Das Glück meines Daseins, seine Einzigkeit“ usw.188 –, der artikuliert damit Größenphantasien, die als Symptome einer Wahnerkrankung erscheinen und in dieser Bewertung im Hinblick auf charismatifikatorische Intentionen scheitern müssen. Vor dem semantischen Hintergrund eines Diskurses, der Genie und Wahnsinn miteinander in Verbindung bringt, konnte aber diese prinzipiell zum Mißerfolg verdammte Selbst-Charismatifikation Nietzsches fremdreferentiell in der charismatifikatorischen Kommunikation seiner Verehrer als Evidenz für die Genialität Nietzsches genutzt werden, weil die Wahnsinnsnähe des Genies als plausibel galt. Benn befindet gar über Nietzsche: „Ohne Wahnsinn wäre er vielleicht unbekannt geblieben, längst vergessen.“189 Nur aufgrund dieser fremdreferentiellen Komponente und ihrer weiteren semantischen Voraussetzungen – der modernen Charismatiker-Erwartungsbereitschaft zur Befriedigung kränkungsbedingter Heilsbedürftigkeit – konnte die Charismatifikation Nietzsches, seine Stilisierung zum Genie und die erfolgreiche Ausbildung von Nietzsche-Kulten gelingen. Es ist mehr als ein Zufall, daß die Nietzsche-Rezeption erst nach der „Turiner Himmelfahrt“190 ihren Anfang nahm, daß der große ‚Unzeitgemäße‘ erst nach seinem Abstieg in den Wahnsinn Gehör fand und dafür umso begeisterter aufgenommen wurde – zwei Jahrzehnte nach Beginn seines bis dato vergleichsweise wenig resonanzträchtigen literarischen Schaffens. Auch der Versuch des – nach Breuers Vermutung im Bereich der idealisierten Eltern-Imago narzißtisch gestörten, jedenfalls zu Lebzeiten erstaunlich erfolgreich charismatisch kommunizierenden – ‚Kosmikers‘ Alfred Schuler,191 sich des wahnsinnigen Nietzsche in einem korybantischen Tanzritual anzunehmen – das nicht stattfand, da man die erforderlichen Kostümierungen hierfür nicht aufbringen konnte192 – ist sowohl für die Vorzei188

Nietzsche, KSA 6, S. 264, 278, 365, 264. Benn (1930b), S. 143. 190 Ross (1994), S. 726, vgl. S. 764 ff., 784 ff. – Ross zufolge ist der berühmte Vorfall mit dem von einem brutalen Droschkenkutscher geschundenen Pferd, dem sich Nietzsche auf der Piazza Carlo Alberto um den Hals warf, nicht genau datierbar. Frenzel (1966), S. 131 f., gibt hierfür den 3. Januar 1889 an, Ross (1994), S. 784 f., geht eher von den letzten Dezembertagen 1888 aus. 191 Vgl. Breuer (1995), S. 95 ff. 192 Vgl. Breuer (1995), S. 98 f.; vgl. Aschheim (1996), S. 80 f. 189

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chen der anfänglichen Nietzsche-Rezeption als auch für das Zeitklima, in der sie stattfand, eine symptomatische Anekdote.193 Der rezeptionsgeschichtliche Durchbruch Stirners und seines Einzigen findet zur gleichen Zeit und immer wieder auch im thematischen Zusammenhang mit Nietzsche statt (siehe unten, VI.). Die semantischen Voraussetzungen zum Ende des 19. Jahrhunderts erwiesen sich auch für die Annahme einer dem Einzigen interpretatorisch zugeschriebenen Grandiosität und Amoralität als günstig, die zu ihrer Entstehungszeit ein halbes Jahrhundert früher bestenfalls als anregende Provokation aufgenommen und ansonsten nicht weiter beachtet wurde. Generell gilt für jede grandiose Selbststilisierung, sei es als Einziger oder Übermensch, als Genie, Prophet oder Führer, daß sie als Charismatifikation nur mittels einer fremdreferentiellen Komponente Erfolg haben kann; das Gegenbild ist der psychiatrisierte Größenwahnsinnige, der sich selbst für beispielsweise Napoleon hält, während alle anderen ihn für verrückt halten. Die Vermutung, daß sich Wahnsinn und Genialität nicht ausschließen, stellt einen zeitweilig einflußreichen semantischen Sonderfall dar, von dem in prominenter Weise die Charismatifikation Nietzsches profitieren konnte. Aber auch hierzu bedurfte es eben einer charismatifikatorischen Kommunikation, die diesen Zusammenhang für Nietzsche artikulierte. Von der Krankhaftigkeit des Genies läßt sich auch vor dem Hintergrund dieser Semantik nicht einfach im Umkehrschluß auf die Genialität des Kranken schließen. Auch andere Formen der Selbststilisierung ‚großer Individuen‘, die beispielsweise autobiographisch von Erweckungserlebnissen oder anderen lebensgeschichtlich entscheidenden Situationen berichten, sind in ihrem charismatifikatorischen Erfolg darauf angewiesen, daß Andere ihre Glaubwürdigkeit bestätigen – oder, wenn Zweifel an ihrer Authentizität angebracht sind, sie als selbststilisierenden oder wiederum verrückten Ausdruck von Genialität werten. Wie im Falle der charismatischen Kommunikation im Hinblick auf die kommunikative Akzeptanz des Führungs- und Wahrheitsanspruchs, so gilt auch für die charismatifikatorische Kommunikation, also die Konstruktion der charismatischen Individualität, daß sie sich nur über die Bestätigung durch den Anderen sozial erfolgreich reproduzieren kann. Wer von seiner eigenen Größe überzeugt ist, ist dies offenbar nur dann zurecht, wenn andere dies auch so sehen; mehr noch, es bedarf prinzipiell nicht einmal der eigenen Überzeugung, sofern andere dies so sehen. 193 Schuler und Klages hatten sich auch George als Opfer für ein heidnisch-okkultistisches Ritual auserkoren, vor dessen regressivem Sog und den durch diesen ausgelösten Desintegrationsängsten der Dichter in die betont alltägliche Wirklichkeit einer gemeinen Bierkneipe flüchtete – und im Anschluß mit den Kosmikern brach, seinen eigenen Maximin-Kult um den Münchner Teenager Maximilian Kronberger und darauf seine Sekte gründete (vgl. Breuer (1995), S. 37 ff.).

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Durch Wiederholung solcher charismatifikatorischen Kommunikationen bildet sich das Charisma als Eigenwert. Der Größen- und Autoritätsanspruch des Charismatikers wird konfirmiert und kondensiert, und es gilt als plausibel, auf ihn als Genie, Prophet, Führer usw. Bezug zu nehmen. Es geht also in konstruktivistischer Perspektive bei dem sozialen Erfolg charismatischer wie charismatifikatorischer Kommunikation nicht um den ‚objektiven‘ Rang der Leistungen und Taten des Charismatikers, um seine ‚tatsächlichen‘ Erfolge, von denen seine Akzeptanz im Sinne Max Webers abhängt. Denn was als Erfolg bzw. Mißerfolg gewertet wird, ist eine Frage der Perspektive bzw. der jeweiligen sozialen Kontextur und ihrer Realitätskonstruktion. Ein aus germanistischer Sicht schlechtes Gedicht Stefan Georges ficht den Georgianer nicht an. Und wann immer die ‚hitlergläubige‘ deutsche Bevölkerung mit der Politik der nationalsozialistischen Machthaber unzufrieden war, wurde dadurch doch das Hitler-Image nicht angekratzt, d. h. der charismatische Aspekt der NS-Dikatur wurde nicht delegitimiert, sondern vielmehr der Führer Hitler noch weiter überhöht mit der Hoffnung, er werde dafür sorgen, daß künftig die für Mißstände Verantwortlichen politisch nicht mehr zum Zuge kommen würden.194 Die Beobachtung von Mißerfolgen des Charismatikers werden, wie andere Beobachtungen, die sein Charisma in Frage stellen – also potentiell decharismatifizierend wirken –, sektenförmig unterbunden bzw. abgewehrt. Insofern kann die Sekte verstanden werden als ein soziales Gebilde, das es Individuen erlaubt, als Meister, Prophet, Führer, Genie usw. ihre Größenphantasien und Allmachtsbestrebungen auszuagieren, indem sie Jünger um sich scharen, die sie abgöttisch verehren und ihnen vorbehaltlos ergeben sind und, psychologisch betrachtet, daraus ihre eigenen narzißtischen Gratifikationen beziehen und Bedürfnisse befriedigen. In diesem Kontext kann ein Sektenführer erfolgreich seine All-Einzigkeit kommunizieren, insbesondere bezüglich seiner welthistorischen Exzeptionalität und seines uneingeschränkten Macht- und Verfügungsanspruchs auf alles und jeden.195 194

Vgl. Kershaw (2002), S. 87 ff. Die spezifisch hermetische Realitätsstruktur und Inklusionsordnung der Sekte ermöglicht die relative kommunikative Stabilisierung von Phantasiewelten, weil sie in gewissem Maße das kommunikationstheoretisch-soziologische Realitätsprinzip, die evidenzbasierte Widerständigkeit von Kommunikation gegen Kommunikation (vgl. z. B. Luhmann (1990b); Luhmann (1994b), S. 91 ff.; (1995a), S. 22; (1997a), S. 93 ff., 538), suspendiert. Widerstand wird innerhalb der hermetischen Sektenrealität nicht geduldet, bzw. er kommt nicht vor, weil jede divergente Perspektive, die die sekteneigenen Wahrheitsansprüche und Charismatifikationen in Frage stellt, quasi automatisch exkludiert ist. Dies ermöglicht den sozialen Aufbau autonomer Wunsch- und Phantasiewelten, die innerhalb der Sekte wirksam sind, weil sie die andere, gesamtgesellschaftliche, durch polykontexturale Beobachtungsverhältnisse und ein hohes Niveau an Widerständigkeit geprägte Realität durch strikte Grenzzie195

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III. Narzißmus und Charisma

Idealtypisch lassen sich vier Strategien charismatifikatorischer Kommunikation unterscheiden, die darauf zielen, die Grandiosität, Einzigartigkeit, Genialität, Außeralltäglichkeit eines Individuums mit Plausibilität und Evidenz zu versehen. Dabei geht der Begriff charismatifikatorische Kommunikation per definitionem vom Erfolg dieser Strategien, also dem Erreichen des Ziels, nämlich vom Konstrukt des Charismatikers aus. Wenn ein Charismatiker beobachtbar ist, dann müssen sich auch prinzipiell die diesen als Eigenwert konstruierenden charismatifikatorischen Kommunikationen beobachten lassen. Und umgekehrt kann, wie entsprechend schon bei der charismatischen Kommunikation, von charismatifikatorischer Kommunikation nur die Rede sein, wenn die Konstruktion des Charismatikers gelingt, d. h. wenn sich zumindest für eine gewisse Zeit der Charismatiker beobachten läßt. Charismatifikatorische Kommunikation ist also nur von ihrem Ergebnis her erkennbar und analysierbar, und der Strategiebegriff dient dementhung draußen halten. Die hermetische Realitätskonstruktion und die vollinklusive Ordnung der Sekte erzeugen somit, wissenssoziologisch betrachtet, eine Kontingenz abwehrende ‚Monokontextur‘ (vgl. Luhmann (1997a), S. 37, 1094; vgl. auch Luhmann (1994b), S. 631 ff.). Beobachtung zweiter Ordnung, insbesondere Latenzbeobachtung, kommt in der Sekte selbstreferentiell, also bezüglich der sekteninternen Weltdeutung, nicht vor; die Realitätsbeschreibungen der gesellschaftlichen Umwelt, insbesondere kritische Außenbeschreibungen der Sekte, können indes auch mit den Mitteln der Latenzbeobachtung als unwahr und feindlich entlarvt werden. Aus konstruktivistisch-wissenssoziologischer Perspektive ist eine solche Realitätsbeschreibung unter modernen Bedingungen von Polykontexturalität und routinemäßiger Beobachtung zweiter Ordnung inadäquat. Daher ist die hermetische Sektenrealität auch aus konstruktivistischer Sicht unrealistisch – ebenso, wie die individuelle Größenphantasie. Sie ist realitätsflüchtig insofern, als sie sich gegen widerständige Kommunikation, die immer auf der Beobachtungsebene zweiter Ordnung Latenzen und Divergenzen der Weltbeschreibung – und zwar insbesondere bezüglich des Autoritätsanspruchs des charismatischen Sektenführers – geltend machen kann, absperrt. Dies geschieht durch das Verbot bzw. den Ausschluß inkongruenter Perspektiven, in Form der Exklusion unbotmäßiger Personen: Kritiker bzw. Häretiker gegen den Führer oder Meister haben in der Sekte keine ‚Adresse‘. Hierdurch herrscht in der Sekte eine vollständige Kongruenz von Inklusions-Kontext und Beobachtungs-Kontextur. Die Realitätsstruktur der Sekte und verwandter Sozialformen ist im Hinblick auf ihren gegenüber der sozialen Umwelt autonomen Realitätsaufbau den virtuellen bzw. künstlichen Realitätskonstruktionen des Spiels und der Fiktion verwandt, mit dem entscheidenden Unterschied, daß die (durch Regeln konstituierte) Realität des Spiels und die fiktionale Realität (vgl. Luhmann (1995b), S. 229 ff.) auf der Reflexion der sie konstituierenden Grenze zwischen Virtualität und Aktualität bzw. ‚Spiel und Ernst‘ beruhen und sie stets mitführen: für das Spiel ist konstitutiv, daß eine Verwechslung mit der ernsthaften Wirklichkeit ausgeschlossen ist, und das gleiche gilt entsprechend für die Fiktion. Denn gerade darauf beruht die Eigenständigkeit dieser Virtualitätsformen, ebenso wie ihre soziale Möglichkeit und Funktion, sowie ihre Attraktivität. Spiel und Fiktion existieren nur unter Voraussetzung einer äußeren Realität. Dagegen zielt die Sektenrealität auf Negation der äußeren Realität; das verbindet sie mit dem sozial isolierten Wahn.

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sprechend in diesem Zusammenhang lediglich der typologischen Erfassung hierbei beobachtbarer Schemata, ohne daß damit unterstellt werden müsste, es sei dies das geplante Werk zielorientiert handelnder Akteure.196 Im Zentrum der ersten Strategie charismatifikatorischer Kommunikation steht das Werk des Charismatikers als Ausweis seiner Größe, im Zentrum der zweiten sein Leben und seine Persönlichkeit, im Zentrum der dritten die erlebte Wirkung seines Charismas auf Andere und im Zentrum der vierten dessen erlebnisverstärkende, wahrnehmbare Inszenierung. Die vier Strategien schließen einander nicht aus, sondern bestätigen und steigern sich gegenseitig in ihrer charismatifikatorischen Wirkung. Bei der sozialphänomenologischen Beobachtung je bestimmter Charismatiker treten die vier Strategietypen in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen auf; es können einzelne dominieren, aber auch alle in ähnlicher Prägnanz vorkommen. Systematisch zeichnen sich die vier Strategien durch ihre unterschiedlichen Distanzen zur unmittelbar interaktionell erlebbaren Individualität des Charismatikers aus und entwickeln dementsprechend je spezifische Lösungen für das damit gegebene Problem der kommunikativen Vergegenwärtigung und Verstärkung des Charismas. aa) Werk Der erste strategische Typus charismatifikatorischer Kommunikation bezieht sich auf das Werk des jeweiligen Charismatikers, in einem weiteren Sinne: seine Visionen, Lehren, Schöpfungen, Ideen, Einsichten, Taten und sonstigen Leistungen. Hier kommt er als Autor, Künstler, Politiker, Feldherr 196 Kommunikationstheoretisch kommt nicht in Betracht, daß diesen charismatifikatorischen Strategien eine subjektive Intentionalität oder ein Manipulationswille zugrunde liegt, muß aber deswegen als Vermutung einer psychischen Systemen zugeschriebenen Motivlage nicht ausgeschlossen werden. Ein subjektiver Manipulations- oder Selbststilisierungs-Wille kann kommunikativ erfolgreich sein – wenn sich das Konstrukt ‚Charismatiker‘ und charismatifikatorische Kommunikation beobachten lassen – aber dann trägt die ex-post-Zuschreibung auf Akteursintentionen wenig zum Verständnis der sozialen Prozesse bei; denn die gleiche Akteursintention kann in einem anderen Fall scheitern. Die folgenden Strategien charismatifikatorischer Kommunikation sind soziologisch nicht als Strategien von Akteuren, die damit auf ein bestimmtes Ergebnis zielen, zu verstehen – auch wenn bestimmte psychische Systeme davon profitieren mögen. ‚Soziales Konstrukt‘ heißt auch im Hinblick auf Charisma und Charismatiker nicht ‚Manipulations-‘ oder ‚Steuerungsergebnis‘ – was die Beobachtbarkeit solcher Verständnisse und darauf basierender Versuche, etwa in der Image-Produktionsindustrie, nicht ausschließt. Genausowenig heißt ‚soziales Konstrukt‘, wie anläßlich dieser Abgrenzung nochmals betont werden kann, ‚Illusion‘ oder ‚Täuschung‘. Das erste Mißverständnis liegt für handlungstheoretische, das zweite für ontologisch-ideologiekritische Perspektiven nahe. Charisma und Charismatiker sind als soziale Konstrukte das Ergebnis intentional unverfügbarer und wirklicher Kommunikationsprozesse in ihrer Eigenlogik.

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usw. in Betracht, mithin in sozialen Rollen, die prinzipiell auch von anderen, weniger begnadeten Individuen besetzt werden. Dementsprechend wird in der charismatifikatorischen Kommunikation die Exzeptionalität des Werkes herausgestellt und von diesem auf diejenige seines Urhebers geschlossen. Zur bloßen Wertschätzung beispielsweise eines Autors aufgrund seiner literarischen Leistungen oder eines Politikers aufgrund seiner Verdienste um das Gemeinwesen, die ja einen alltäglichen, nicht im engeren Sinne charismatifikatorischen Vorgang darstellt, kommt hier etwas hinzu, nämlich die Ableitung eines Schöpfer-Charismas aus der Großartigkeit des Geschaffenen. Entsprechend der charismatisch-kommunikativen Kopplung von Mitteilung und Information wird die Außerordentlichkeit – Unzeitgemäßheit und Originalität, Genialität und Maßgeblichkeit – des Werkes auf die einzigartigen Fähigkeiten und Eigenschaften seines Schöpfers zurückgeführt: Nur dieser konnte ein solches zu dieser Zeit – übrigens nicht nur menschheitsgeschichtlich, sondern auch individualgeschichtlich, wie im Falle des ‚Wunderkindes‘ – erschaffen. Damit wird die Kopplung an die besondere Individualität des Charismatikers vorgenommen; und damit wird charismatifikatorisch für eben diese Adresse optiert – und nicht für diejenige eines bloß kreativen Künstlers, begabten Politikers oder bewährten Intellektuellen. Exemplarisch für diese charismatifikatorische Strategie ist die Art, wie der schwedische Dichter und Essayist Ola Hansson197 in seiner Schrift Nietzsche. Seine Persönlichkeit und sein System als einer der ersten den selbsternannten ‚Unzeitgemäßen‘ würdigt. Nietzsche sei „[i]nnerhalb der Elite der Menschheit, die von den bahnbrechenden Geistern, den Kulturheroen, gebildet wird“, ein Vertreter derjenigen Gruppe, „die gegen den Strom schwimmen und sich der blinden und im gewohnten Gleise voranstürmenden Menschheit entgegenstemmen, um sie aus dem hypnotischen Schlafwandeln zu wecken, in dem sie dahinzieht“.198 In welthistorischer Hinsicht sind sie „Entdecker“ und „Propheten“ des Künftigen. „Sie gleichen Leuchtfeuern, die ihren Schein über das Weltmeer bis an den fernsten Horizont werfen, und ihre Seherworte verklingen anfangs in menschenleeren Wüsten gleich dem Flügelschlag der großen Meervögel über unendlichen Wasserflächen“, weil die Masse ihrer Zeitgenossen noch nicht in der Lage ist, die Größe und Kraft ihrer Visionen zu erkennen, die aber im weiteren Zeitverlauf dafür umso deutlicher wird. Sie sind „Riesengestalten, deren Scheitel das Himmelsgewölbe berühren; auf der Grenzscheide der Kulturepochen stehend, können sie in weiter Ferne von der vorandrängenden Menschheit wahrgenommen werden, und sie erscheinen ihr auch dann noch unwirklich gigantisch, wenn Jahrtausende vergangen sind und an einem neuen Horizont 197 198

1860–1925. – Zu Hansson siehe auch unten, VI. 1., 2. a) und 4. Hansson (1889/90), S. 9.

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bereits eine neue Riesengestalt auftaucht.“199 Aufgrund seines Kampfes gegen einen „Zeitgeist“, der „der historisch grellste Ausdruck eines in Jahrtausenden gereiften Ideals“ ist, – also gegen die zur Gegenwart geronnene Vergangenheit im Namen der visionär geschauten, den Vielen aber gänzlich unbekannten Zukunft –, gehört Nietzsche demnach „jener Kategorie großer Geister an, die man Seher nennt. Er antizipiert das Kommende durch intuitive Visionen. [. . .] Wie alle Geister aus der Gruppe und von der Art, zu der er gehört, gelangt er zu den neuen, allgemein menschlichen und allumfassenden Wahrheiten durch Versenkung in das eigene Ich“.200 Es bedurfte eines Nietzsche, des „tiefste[n] aller modernen Geister“,201 zu diesem epochalen Werk: „sein Streben bezeichnet die größte Revolution, die die Geschichte der Moral seit dem Kampf des Christentums mit der Antike aufzuweisen hat.“202 Er ist ein „Sturmherd und Ausgangspunkt großer Wogen“,203 in deren Folge die „starken Individualitäten, die stolzen, selbstwilligen Naturen [. . .] auf eine ganz andere Art als bisher Spielraum bekommen“204 würden. Die prophetisch-geniale Ungleichzeitigkeit dieser „größte[n] Tat“205 erhellt der Kontrast mit dem Zeitgeist; und sie erklärt sich aus der großen Individualität ihres Urhebers Nietzsche: Wer derartiges erschaffen hat, muß ein Genie sein. Eine ebenfalls diesem charismatifikatorischen Strategietypus zuzurechnende, symbolische Variante der Werk-Überhöhung bietet das Beispiel der Instituierung einer neuen Zeitrechnung, wie sie der Stirnerianer Rolf Engert206 an das Erscheinungsjahr des Einzigen Stirners knüpft. Mit der Neuen Zeitrechnung, 1919 von Engert mit einem ebenso betitelten Artikel in der von Anselm Ruest und Salomo Friedlaender (Mynona) herausgegeben individualistischen Zeitschrift Der Einzige ausgerufen,207 erhebt Engert im Jahr ‚75 nach Stirners Einzigem‘ dieses Werk in den Rang eines heiligen Buches,208 das an die Stelle der heiligen Texte und der Zeitrechnungen der Offenbarungsreligionen gestellt wird.209 Ein Horst Engert210 hatte bereits 199

Hansson (1889/90), S. 10. Hansson (1889/90), S. 52. 201 Hansson (1889/90), S. 52. 202 Hansson (1889/90), S. 53. 203 Hansson (1889/90), S. 11. 204 Hansson (1889/90), S. 53. 205 Hansson (1889/90), S. 53. 206 1889–1962. 207 Siehe auch unten, VI. 1. und 3. a). 208 Vgl. Helms (1966), S. 381 ff., 533 f., 565. 209 Helms verweist auch auf das Vorbild des von den Jakobinern eingeführten Revolutionskalenders (vgl. Helms (1966), S. 392), so daß Rolf Engerts stirnerianische ‚neue Zeitrechnung‘ zugleich als symbolischer Angriff auf die vom Einzigen, ihrer 200

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vor dem Weltkrieg nahegelegt, Das historische Denken Max Stirners teleologisch im Sinne einer Menschheitsgeschichte zu deuten, „in der die griechische Kultur das Kindesalter, die christliche Kultur das Jünglingsalter der Menschheit darstellt“ und in der dieses letztendlich durch ein drittes, erwachsenes Weltalter, das des Einzigen, abgelöst wird.211 Demnach betrachtet Stirner „den Einzigen in seiner eminentesten Bedeutung als Endziel der Menschheitsentwicklung, nämlich als dieses wirkliche, leibhaftige, einzige Ich“, in dessen Zeitalter „[j]eder, der die Weltgeschichte betrachtet, [. . .] berechtigt [ist], sich selbst als Sinn und Ziel ihrer Entwicklung aufzufassen.“212 Den Verkünder dieser Frohen Botschaft stilisiert Engert folgerichtig zum Messias: „Wie Christus für die antike Welt das Erlösungswort sprach, indem er die Dinge in ihre Nichtigkeit zurückstieß und das Reich des Geistes, sein Reich, das ‚nicht von dieser Welt‘ war, errichtete, so spricht Stirner nun diesem Reich des Geistes das Erlösungswort.“213 Rolf Engert gibt dieser heilsgeschichtlichen Stirner-Exegese seines Namensvetters nun eine explizit chiliastische Prägung, wenn er in der Einführung zu der von ihm im ersten Heft der Neuen Beiträge zur Stirnerforschung herausgegebenen Staatsexamensarbeit Stirners Über Schulgesetze (1834) schreibt, daß diese Arbeit „den kühnsten Denker bereits in voller Entschiedenheit vorgebildet [zeigt], der elf Jahre später, 1845, mit seinem Werke: Der Einzige und sein Eigenthum – einer Tat in des Wortes umfassendster Bedeutung – eine neue Weltepoche, das dritte Reich im Leben der Menschheit, heraufführte.“214 Im Lichte der menschheitsgeschichtlichen Bedeutung des vom „kühnsten Denker“215 geschaffenen Werkes erscheint hier auch „die umfassendste Bedeutung“ der Examensarbeit Stirners von 1834, „Zeugnis [. . .] für die frühe ‚Besessenheit‘ induzierenden Abstraktheit wegen perhorreszierten ‚Ideen von 1789‘ verstanden werden kann. Engert selbst hebt allerdings stärker das positiv individualistische, weniger das polemische Motiv hervor, indem er, unter Berufung auch auf den Romantiker „Jean Paul, der zu Bayreuth lebte und starb, als Stirner dort noch das Gymnasium besuchte“, darauf hinweist, daß „wir [. . .] alle gelegentlich“ auch welthistorische Ereignisse, „die mit unserer privaten Existenz in einem näheren und bedeutungsvolleren Zusammenhang stehen“, an „der eigenen Lebenszeit“, der eigenen Geburt, an eigenen „Lebensjahren und Lebensepochen“ orientieren und damit subjektiv über die Zeitordnung verfügen (Engert (1934), S. 9). – Für ein anderes Beispiel solcher Zeitordnungsinstallation im Kontext der Frühromantik vgl. Stulpe (2001), S. 37 f. 210 Auf eine Verwandtschaft mit Rolf finden sich keine Hinweise. 211 Engert (1911), S. 28, vgl. S. 29 f. 212 Engert (1911), S. 30. 213 Engert (1911), S. 39. 214 Engert (1920), S. 5 – H. i. O. – Siehe auch unten, V. 3. a) aa) und VI. 4. b) ee), zur – allerdings distanziert-kritischen – Thematisierung chiliastischer Motive in der Stirner-Rezeptionsgeschichte vor dem Ersten Weltkrieg. 215 Engert (1920), S. 5.

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Überlegenheit seines Geistes“ abzulegen, „die vielleicht schon weit in seine Studienjahre zurückreicht.“216 Der charismatifikatorische Strategietypus ist deutlich erkennbar: Ein Werk von der unerreichbaren Größe des Einzigen konnte nur von einem wahrhaft genialen Denker erschaffen werden, und die Frühschrift des 28jährigen Studenten Johann Kaspar Schmidt bestätigt bereits die Genialität Stirners. Dem wissenden Betrachter erschließt sie sich rückblickend als Vorahnung jenes epochenwendenden Buches, mit dem das Dritte Reich, und deswegen auch die neue Zeitrechnung beginnt.217 Engerts Neue Beiträge zur Stirnerforschung erschienen dementsprechend mit einschlägiger Datierung im ‚Verlag des dritten Reiches‘, den er 1920, also ‚im Jahr 76 nach Stirners Einzigem‘,218 gegründet hatte,219 drei Jahre 216

Engert (1920), S. 7. Trotz der bei Engert stark ausgeprägten Tendenz, den Autor Stirner zum alleinzigen Genie zu charismatifizieren – wofür er sich des von Hans Sveistrup erhobenen Vorwurfs zu erwehren veranlaßt sieht, daß sein „Denken und Verhalten ‚unstirnerisch‘ sei“ (Engert (1934), S. 8, vgl. S. 9 f.; siehe unten, VII. 3. a) bb), zu Sveistrup) – ist seine Deutung der Lehre Stirners dem Interpretationsschema der JeEinzigkeit zuzurechnen, wie die folgenden Passagen aus einem vom „10. März 95 n. St’s E.“ datierten Artikel Engerts mit dem Titel Ich bin Ich erhellen: „ ‚Ich bin Ich und Du bist Ich‘, sagt Stirner [. . .] – ist es nötig in seiner Aussage so weit zu gehen? Ich glaube nicht! Kann Ich von Dir wirklich sagen: ‚Du bist Ich‘? Und kann es Stirner wirklich von Dir sagen? Das hieße ja – wörtlich genommen –, daß Du mit Mir oder daß Du mit Stirner identisch wärest“ (Engert (1939a), S. 5) – gleichsam im Sinne einer narzißtischen Zwillings- oder Alter-Ego-Übertragung, wie sie interpetationsschematisch mit der All-Einzigkeit in Verbindung steht. – „Und das kann Stirner nicht sagen wollen und will er auch nicht sagen. Denn so gewiß ein Jeder von sich sagen kann: ‚Ich bin Ich‘, so unmöglich kann einer vom andern – wenn er nicht auf dieser Alleinheitslehre fußt – sagen: ‚Du bist Ich‘, sondern nur: ‚Du bist Du‘. Will Ich meine Identität mit Mir selbst ausdrücken, so sage Ich: ‚Ich bin Ich!‘, Deine Identität mit Dir selbst kann ich nur ausdrücken mit: ‚Du bist Du!‘. ‚Ich‘ kann also jeder nur von sich selber sagen. – Was Stirner sagen will, ist aber dies: ‚Ich bin Mir Ich und Du bist Dir Ich‘, worin sich – wenn Ich dies äußere – zugleich ausdrückt, daß Ich weiß, daß Du einer bist, der sich Ich ist.“ (S. 5 – H. i. O.) Dieses Wissen um die unvertretbare Identität eines Individuums mit sich selbst kennzeichnet Engert mit dem „Begriff der Ichheit [. . .]. Von fundamentaler Bedeutung ist dabei das Erlebnis und ihm kongruente Bewußtsein der Identität mit sich selbst. Es findet seinen unmittelbaren Ausdruck bereits in der bloßen Anwendung des Namens Ich, seinen zur Erkenntnis erhobenen aber in dem Urteil: ‚Ich bin Ich‘, und wird dem andern unmittelbar in der Anwendung des Namens ‚Du‘, zur Erkenntnis erhoben in dem Urteil: ‚Du bist Du‘, zuerkannt. Der Begriff der Ichheit, d. h. die Tatsache, daß Ich Mir Ich bin, bedeutet weiterhin, daß Ich Mir Mittelpunkt der Welt bin“ (S. 7) – und Du Dir, und nicht – wie dies beim All-Einzigen der Fall wäre – Ich Dir und allen Anderen. Die ‚Ichheit‘ gilt in Engerts je-einziger StirnerInterpretation für jedes Individuum, das sich selbst ‚Ich‘ ist. – Siehe unten, VII. 1. a) und 3. b) aa) sowie VIII. 1. d), für weitere existentialistische und lebensphilosophische Auslegungen der Je-Einzigkeit. 218 Vgl. Engert (1920). 217

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also, bevor der konservativ-revolutionäre Publizist Arthur Moeller van den Bruck220 mit seinem Buch Das dritte Reich den Begriff und Mythos rechtsradikal besetzte und damit dessen späterer Aneignung durch die Nationalsozialisten effektiv Vorschub leistete.221 Rolf Engert gab noch nach deren Machtübernahme den symbolischen Kampf um die Besetzung des chiliastischen Mythos nicht auf. In einem 1934 für die Zeitschrift Letzte Politik verfaßten, allerdings wegen des Verbots der Zeitschrift dann nicht erschienenen Artikel beharrte er darauf, nicht mit Hitlers ‚Machtergreifung‘, sondern „mit Stirners entscheidender Tat eine neue Zeitrechnung, die Zeitrechnung des dritten Zeitalters zu beginnen“.222 Als Moeller van den Brucks Buch 1923 erschien, hatte Engert, „[i]m Jahre 79 nach Stirners Einzigem“, seinen eigenen, stirnerianischen Anspruch auf das Dritte Reich und sein damit verbundenes, politisch-publizistisches Programm wie folgt bestimmt: „Der Verlag des dritten Reiches, Dresden, unternimmt es, die geistigen Grundlagen des von Henrik Ibsen verkündeten, von Max Stirner heraufgeführten, von Silvio Gesell wirtschaftlich fundierten Dritten Reiches, des Mannesalters der Menschheit, der Zeit bejahter und bewußt ausgestalteter Einzigkeit des Einzelnen, auf allen Lebensgebieten zu erschaffen, so den radikalen Individualismus mit all seinen Konsequenzen verwirklichend. Dabei bleibt grundsätzlich alles von dem Verlag ausgeschlossen, was nicht mit letzter Entschiedenheit und Bewußtheit diesen neuen Geist bereits atmet und dem dritten Reich schon irgendwie zugehört, sodaß alle seine Veröffentlichungen in allmählicher Arbeit Stein um Stein zu dem Gebäude der Zukunft zusammenfügen werden. Diesem Aufbau, der zugleich ein Niederreißen alles Abgelebten und Morschen ringsum in sich schließen wird, soll neben den Buchveröffentlichungen des Verlags eine Vierteljahresschrift dienen, die unter dem Titel: Das dritte Reich mit Beginn des nächsten Jahres erscheinen wird. [. . .] Bestellungen nimmt der Verlag entgegen.“223 Aus der Vierteljahresschrift wurde nichts, stattdessen erschien aber zwei Jahre später der nach zwei Ausgaben wieder eingestellte Grundbau. Bausteine zum dritten Reich, den Engert in Berlin herausgab.224 Derselbe Engert soll auch, durchaus hierzu passend, 1917 von Mackay für 2000 Mark den Schädel Stirners erworben und seinem ‚Stirner-Schrein‘ einverleibt haben,225 was wiederum nicht nur an die Reliquienverehrung be219

Vgl. Helms (1966), S. 402 ff. 1876–1925. 221 Vgl. Mohler (1994 I), S. 24 f., 138 ff., 401 ff.; Breuer (1993), S. 104 ff., bes. S. 111, 126 ff.; Bloch (1935), bes. S. 193 f., 199 ff., 205 ff.; vgl. auch Carozzi (1996), S. 119 ff. 222 Engert (1934), S. 10. 223 Engert (1923), S. 9 – H. i. O. 224 Vgl. Helms (1966), S. 402 ff., 535 f. 220

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stimmter Religionen gemahnt, sondern auch an den Personenkult um Lenin, dessen Leichnam 1924 – kurze Zeit, nachdem die Transaktion zwischen Mackay und Engert vonstatten gegangen sein soll – pharaonengleich einbalsamiert und so für die Ewigkeit konserviert worden ist.226 Mit solchem Schädel- und Mumienkult, der den Körper des Charismatikers (oder Teile 225

Vgl. Onken (1986), S. 10; Helms (1966), S. 411. – „Nach dem Ende des ersten Weltkriegs ging Rolf Engert als Dramaturg, Regisseur und Schauspieler an das Stadttheater Regensburg. Dort erfuhr er im April 1919 aus der Presse, daß Silvio Gesell zum Volksbeauftragten für das Finanzwesen in der ersten bayerischen Räterepublik ernannt worden war. Mit der Gedankenwelt Silvio Gesells war Rolf Engert zwei Jahre zuvor auf eine kuriose Weise in Berührung gekommen. Als Mitglied der von John Henry Mackay geleiteten ‚Vereinigung der Stirner-Freunde‘ war ihm zu Ohren gekommen, daß Mackay den Schädel von Max Stirner exhumiert hatte und zum Verkauf anbot. Um eine unwürdige Versteigerung des Schädels zu verhindern, wandte er sich umgehend mit der Bitte an Mackay, den Schädel erwerben zu dürfen. Daraufhin erhielt er die Nachricht, daß sich außer ihm noch ein zweiter Kaufinteressent gemeldet hätte: der in Siebenbürgen lebende Holzfabrikant Paul Klemm. Dieser Paul Klemm, der zugunsten von Engert übrigens auf den Stirner-Schädel verzichtete, gehörte nicht nur der ‚Vereinigung der Stirner-Freunde‘ an, sondern auch der von Georg Blumenthal geleiteten ‚Physiokratischen Vereinigung‘, die die Wirtschaftsreformvorschläge Silvio Gesells propagierte und sich in philosophischer Hinsicht ebenfalls auf Stirner gründete. Zwischen Rolf Engert und Paul Klemm entwikkelte sich eine enge Freundschaft und bald gehörte auch Engert dem Kreis der Physiokraten an.“ (Onken (1986), S. 10 – H. i. O.) – Zu Gesells Freiwirtschaftslehre und zur Stirner-Rezeption in der Freiwirtschaftsbewegung vgl. Senft (1988) u. (1996). Vgl. auch Engert (1986), der in seinen Erinnerungen an jene Jahre – zu denen übrigens auch einige Begegnungen mit Gusto Gräser gehören (vgl. Engert (1986), S. 45 ff.) – bei der Wiedergabe der Episode mit dem transsilvanischen Holzfabrikanten allerdings nur von Mackays „Stirner-Biographie zugrundeliegende[m] Forschungsmaterial“ spricht (Engert (1987), S. 17 – H. i. O.; vgl. S. 18), ohne zu erwähnen, daß hierzu auch Stirners Schädel gehörte – auf den er sich aber an anderer Stelle bezieht (vgl. Engert (1921), S. 9 f., 15 f.). 226 Vgl. Esch (2004). – Da das Nichtverwesen eines Leichnams nicht nur als Zeichen der Heiligkeit, sondern, zumindest in der orthodoxen Kirche, ebenso auch als Ausweis der Verdammnis des Verstorbenen interpretierbar ist (vgl. Völker (1968), S. 523), eröffnet das postmortale Schicksal des Leninschen Körpers ein breites Spektrum an Deutungsmöglichkeiten. Die mit seinerzeit modernsten naturwissenschaftlichen Technologien bewerkstelligte Haltbarmachung der sterblichen Überreste Lenins symbolisiert einerseits den Triumph des wissenschaftlichen Sozialismus über den religiösen Aberglauben, aber auch die technologische Progressivität, mit der der Marxismus-Leninismus die Naturprozesse beherrscht und dem Verfall trotzt. Andererseits symbolisiert der nichtverwesende Leichnam die Heiligkeit des Revolutionsführers und Gründers des Marxismus-Leninismus, der als neue weltliche und geistliche Ordnung den Sieg über die alte Welt und ihre Religion davonträgt. Der dekompositionsresistente Leib Lenins kann dabei ebenso als Heiligenkörper einer neuen Religion wie als Körper eines Verdammten der alten Religion verstanden werden; so wie die heidnischen Götter im Christentum zu Dämonen wurden (vgl. Freud (1919), S. 155), erklärt der atheistische Glaube im Umkehrschluß die Erzfeinde des Christentums zu Heiligen.

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davon) vergötzt, also das leibhaftige Indviduum – bzw. dessen Überreste –, ist bereits das Feld der zweiten charismatifikatorisch-kommunikativen Strategie berührt. bb) Leben und Persönlichkeit Der zweite strategische Typus charismatifikatorischer Kommunikation stellt den Charismatiker als Individuum, seine Leibhaftigkeit und Lebensgeschichte, in den Mittelpunkt. Er ist hier Gegenstand biographischer, physiognomischer, charakterologischer, pathographischer und anderer Beschreibungen, die darauf zielen, die Außerordentlichkeit seiner lebendigen Individualität darzulegen und so im Hinblick auf sein Werk und Wirken zu plausibilisieren, daß und wieso von einer solchen Persönlichkeit Großartiges zu erwarten ist. Hierzu zählen Berichte über Heldentaten von Führerpersönlichkeiten, über Erweckungs- und Erleuchtungserlebnisse von Propheten und anderen Heilskündern. Typisch sind (auto-)biographische Erzählungen von einschneidenden lebensgeschichtlichen Ereignissen und symbolträchtige Anekdoten227 und generell alles, was der individuellen Lebenszeit des Charismatikers ‚Bedeutsamkeit‘228 für die weltgeschichtliche Entwicklung verleiht und damit die Indifferenz der ‚Weltzeit‘ gegen diese ‚Lebenszeit‘ dementiert,229 beispielsweise die Vorstellung eines in der Stunde höchster Not von der Vorsehung geschickten Führers.230 Von besonderer Bedeutung ist diesbezüglich auch ein frühes Ende der individuellen Lebenszeit, das den Gedanken des jung sterbenden Gottgeliebten, des früh Vollendeten, aber auch des Opfers des vor seiner Zeit Abtretenden evoziert, wodurch dem individuellen Tod und mit ihm rückblickend dem vorangegangenen Leben Nichtvergeblichkeit attestiert wird.231 Gerade der Suizid kann in dieser Hinsicht unterschiedlich stilisiert werden, als Ausdruck erhöhter Sensibilität, souveräne existentielle Entscheidung, Krankheitsfolge, Ausweis schneller Reifung und Vollendung, Rückkehr zu den überweltlichen Ursprüngen, Martyrium usw.232 227 Als Beispiel folgende Haeusser-Legende: „Haeusser begegnete bei einer Versammlung in der Stuttgarter Liederhalle einer Frau, die von ihrem Mann verstoßen worden war und sich vor Haeusser nackt ausziehen wollte, um ihre ‚Reinheit‘ zu beweisen. Haeusser drückte dem armen Wesen die gesamten Einnahmen des Abends – die eigentlich zur Bezahlung der Saalmiete gedacht gewesen waren – in die Hand mit den Worten: ‚Glaube an mich, dann wird dir der Rest von selbst zufallen.‘ “ (Fridolin von Spann, zit. n. Linse (1983), S. 170). 228 Vgl. Blumenberg (1979), S. 68 ff. 229 Vgl. Blumenberg (1986). 230 Vgl. z. B. Kershaw (2002), S. 79. 231 Mit dem Begriff des Opfers ist immer die Intentionalität des Wofür gegeben; wer einen Opfertod stirbt, stirbt sinnvoll und hat daher nicht umsonst gelebt.

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Der vorzeitige – mitunter ‚freigewählte‘ – Tod steht wiederum in engem Zusammenhang mit der Aura des „Bionegativen“,233 die das Genie umgibt. Der präsumtive Zusammenhang von Bionegativität und Genialität schreibt den maßgeblich von dem italienischen Psychiater und Kriminologen Cesare Lombroso234 mit seiner Schrift Genio e follia geprägten, von dessen Schüler Max Nordau235 und anderen in den 1890er Jahren popularisierten Diskurs um Degeneration, Wahnsinn und Genialität fort.236 Dieser bildet den semantischen Hintergrund für charismatifikatorische Strategien, die die Exzeptionalität des Charismatikers anhand physiognomischer, phrenologischer, pathographischer und ähnlicher Daten herausarbeiten und ihm so eine auch psychophysische Außeralltäglichkeit bescheinigen. Unter Rekurs auf moderne humanwissenschaftliche Diskurse wird die Individualität des Charismatikers in quasi unverfügbaren, natürlich-biologischen Anlagen begründet, aufgrund derer diese Individualität aus der Masse hervorsticht, und die ihr die Aura des Aristokratischen im Sinne einer sozial unverfügbaren, nichterwerbbaren Überlegenheit verleihen, die den modernen Nivellierungstendenzen gegenläufig ist und sich so lebensgeschichtlich oft als Bürde erweist. In Hermann Hesses Vorwort zum 1925 von ihm und seinem Neffen Karl Isenberg herausgegebenen Bändchen Novalis. Dokumente seines Lebens und Sterbens tauchen viele der bisher angesprochenen Motive auf.237 Hesse 232

Dabei kann der Märtyrertod, metaphysisch betrachtet, als das Gegenteil des Selbstmordes verstanden werden: Der Märtyrer stirbt im und für den Glauben an einen höheren Sinn, der Selbstmörder aus Verzweiflung über die Sinnlosigkeit. 233 Benn (1930b), S. 141. – Benn beruft sich auf Wilhelm Lange-Eichbaums bekannte Abhandlung Genie, Irrsinn, Ruhm von 1927 (vgl. Benn (1930a), S. 106; (1930b), S. 141). 234 1836–1909. 235 1849–1923. 236 Vgl. Mosse (1990), S. 106 ff., 269 f.; Bossi (2005), S. 401 ff.; Leatherdale (1985), S. 210 f.; Gatlin (1995), S. 276. Vgl. auch Nietzsche, KSA 13, S. 366 f. – Genio e follia (1864) erschien ab der dritten Auflage unter dem Titel L’uomo di genio, die erste deutsche Ausgabe erschien 1887 mit dem Titel Genie und Irrsinn; 1897 veröffentlichte Lombroso dann Genio et degenerazione (vgl. Bossi (2005), S. 410). Für die zeitgeistig-diskursive Präsenz Lombrosos seit dem Ende des 19. Jahrhunderts vgl. z. B. Hansson (1889/90), S. 52; Türck (1899), S. 301 ff.; Panizza (1891); Przybyszewski (1926), S. 220; Benn (1930b), S. 137. – Siehe auch unten, IV. 2. 237 Die folgenden Auszüge sind beispielhaft für eine postmortale Charismatifikation, die sich, wie bereits der Titel der Dokumentensammlung ahnen läßt, vor allem auf der dargestellten zweiten strategischen Ebene charismatifikatorischer Kommunikation verorten läßt, aber auch Elemente der noch zu behandelnden dritten typische Strategie enthält. Auch das dem ersten Strategietyp zuzurechnende Motiv der Unzeitgemäßheit des „wunderlichste[n] und geheimnisvollste[n] Werk[es], das die deutsche Geistesgeschichte kennt“ (Hesse (1925), S. 11), taucht in diesem Zusammenhang auf.

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beginnt mit der Feststellung, „daß das Genie nicht nur eine geistesgeschichtliche, sondern ebenso, ja vor allem eine biologische Angelegenheit ist. In der neueren deutschen Geistesgeschichte sind die edelsten Gestalten von dieser Art Hölderlin, Novalis und Nietzsche. Während Hölderlin und Nietzsche sich, nachdem das Leben ihnen unmöglich geworden, in den Wahnsinn zurückziehen, zieht Novalis sich in den Tod zurück, und nicht etwa in den beim Genie so sehr häufig sich aufdrängenden Selbstmord, sondern er stirbt, indem er wissend sich selbst von innen her verbrennt, einen magischen frühen, blühenden und ungeheuer fruchtbaren Tod – denn gerade von diesem seltsamen Ende des Dichters, von seinem positiven, magischen, außerordentlichen Verhältnisse zum Tode strahlt seine stärkste Wirkung aus. [. . .] Novalis ist zu seiner Zeit nur von überaus wenigen verstanden worden, und auch später, ja bis heute, ist die Zahl seiner Leser niemals groß gewesen [. . .] die nähere Bekanntschaft mit Novalis bedeutet für jeden bedeutenderen Geist ein tiefes magisches Erlebnis, nämlich das Erlebnis der Initiation, der Einweihung ins Mysterium.“238 Hesse distanziert sich zwar von der „philiströsen Bourgeoislehre, daß Genie stets mit Irrsinn verwandt sei“, bestätigt aber mit seiner eigenen Erklärung, wieso „das Genie [. . .] nahezu immer ein tragisches Leben hat und in einem fahlen Lichte der Untergangsnähe lebt“, diese Motivverbindung – und liefert zugleich eine „biologische“ Beglaubigung des individuell privilegierten Wahrheitszugangs des Genies: „Genie, das höchstgesteigerte Leben, schlägt so leicht in seinen Gegenpol, in Tod oder Wahnsinn um, weil in ihm das menschliche Dasein sich als furchtbares Mißgeschick, als ein großer und kühner, aber nicht ganz geglückter Wurf der Natur erkennt.“ Das Genie geht an seiner gesteigerten Einsichtsfähigkeit zugrunde. „Dies ist der Sinn aller der tausend Geschichten und Legenden vom früh gestorbenen Genie, vom frühzeitig weggenommenen Götterlieblinge usw.“239 Und dies unterscheidet zugleich den Tod des jung gestorbenen Genies von demjenigen anderer Frühverstorbener. Auch die „Geschwister des Novalis hatten dies Schicksal, aber nur von ihm, nur von seinem Grab strahlt jene magische Lockung aus, nur Er [sic] hat den Tod nicht erlitten, sondern ist in ihn eingegangen wie ein verbannter König aus dem Grau der Fremde in den Palast heimkehrt.“240 Diese übernatürliche Ausstrahlung geht nicht nur von Werk und Tod des Novalis aus, sondern lasse sich auch als auratische Qualität des Lebenden aus den biographischen Berichten derjenigen, die ihn kannten, rekonstruieren, die „den tiefen Nachklang eines großen, heiligen, geheimnisvollen Erlebnisses“ enthalten. Hesse zufolge haben Novalis‘ Freunde „gefühlt, daß da neben ihnen einer lebte und gestorben war, den sie in mancher Hinsicht nicht als 238 239 240

Hesse (1925), S. 9 f., vgl. S. 12. Hesse (1925), S. 10. Hesse (1925), S. 11.

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ihresgleichen empfanden, sondern je nachdem bald als einen Engel Gottes, bald als ein Gespenst, jedenfalls aber als einen von außerordentlichem Schicksal Gezeichneten.“241 Die Beschreibung außerordentlichen Empfindens und heiligen Erlebens in Novalis‘ Gegenwart verweist auf die als nächste zu behandelnde Strategie charismatifikatorischer Kommunikation, die darauf zielt, das unmittelbare Erleben des Charismas, die Wirkung des Charismatikers auf Andere in deren Selbstzeugnissen und anderen diese Wirkung beschreibenden Dokumenten kommunikativ zu vermitteln. Indirekt ist bereits die Tatsache eines Personenkults überhaupt, wie er beispielsweise von Rolf Engert, Mackay und anderen Mitgliedern des ‚Vereins der Stirner-Freunde‘ betrieben wurde,242 ein Zeugnis der Begeisterung, Hingabe und Verehrungsbereitschaft – und damit der Wirkung, die der Charismatiker auszulösen vermag. Ein zentraler Ansatzpunkt dieses Personenkults um den am 25. Juni 1856 im Alter von 49 Jahren in Folge eines unzureichend behandelten Nervenfiebers verstorbenen Stirner243 war dessen ‚sprechender‘ Name, in dem sich die zeitenwendend-epochale Bedeutung seines Werkes und der darin verkündeten, ebenso frohen wie frechen Botschaft mit der Persönlichkeit des Autors, den Wesenszügen und dem Erscheinungsbild Stirners verknüpfen ließ. Unter Berufung auf Mackays Auskunft, Johann Caspar Schmidt sei „schon als Student von seinen Kommilitonen seiner auffallend hohen Stirn wegen“ Max Stirner genannt worden,244 erläutert Rolf Engert, der selbst gelegentlich unter dem Pseudonym ‚Maximos‘ schrieb, in der im ‚Stirn-Verlag‘ erschienenen Letzten Politik vom 25.–31. März 1933, daß sich vermutlich der „Vorname ‚Max‘“ von „lat. maximus = der größte“ ableite. „Der Name bedeutet dann: ‚der, der die höchste (größte) Stirn hat‘. – Hier drängt sich indessen zugleich auch schon eine andere Deutung von selbst auf [. . .]. Wir wenden ‚Stirn‘ ja auch im übertragenen Sinn an in Redensarten wie ‚die Stirn haben‘, ‚die Stirn bieten‘. ‚Max Stirner‘ könnte danach auch auf einen hindeuten sollen, der vor andern ‚die Stirn hat, allem die Stirn zu bieten‘, in diesem Falle also allen Mächten, die die freie Ausgestaltung der eigenen Einzigkeit des Einzelnen hemmen.“245 – Max Stirner: der größte Held und Befreier. Zu dieser Namens-Mystifikation treten innerhalb derselben charismatifikatorisch-kommunikativen Strategie auch Beobachtungen, die nicht nur von 241

Hesse (1925), S. 11. Ebenso wie die faktische Beobachtbarkeit von anderen Genie-Kultgemeinschaften oder Sekten. 243 Vgl. Mackay (1898), S. 205. 244 Mackay (1898), S. 85. 245 Rolf Engert, zit. n. Helms (1966), S. 20; vgl. auch Engert (1921), S. 5. 242

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der idiomatischen, sondern auch von der physiognomischen Bedeutung der Stirn auf die Außeralltäglichkeit des Individuums Stirner schließen. Der Stirn, bereits bei Johann Caspar Lavater ein wichtiges Parameter der GeniePhysiognomik,246 gilt dann auch ein Hauptaugenmerk Engerts in seiner Kommentierung zweier vermeintlicher Bildnisse Stirners, von denen das eine, ein Ausschnitt aus einer von – wie Engert bereits vermutet – Friedrich Engels angefertigten Zeichnung der Berliner ‚Freien‘ um Bruno Bauer, bis heute als authentisch gilt, während das andere, ein – von Engert selbst zunächst nur unter diesbezüglichen, breit erörterten Vorbehalten veröffentlichtes – ‚Jugendbildnis‘ Stirners, das ihm ein Berliner Arbeiter, Faust R., geschenkt hatte,247 sich bald als die, wie Sveistrup bemerkt, „übrigens sehr mangelhafte“248 Nachahmung eines bekannten, oft lithographisch reproduzierten Gemäldes von Ary Scheffer249 erwies, das den jungen Franz Liszt250 darstellt. Aufgrund seiner Intervention, berichtet Sveistrup, gab Engert dann „die Zeichnung als Stirnerbildnis preis[]“.251 Der Effekt der hier betrachteten charismatifikatorischen Strategie bleibt aber von dieser späteren Revision der 1921 veröffentlichten Einschätzung Engerts, das ‚Jugendbildnis Stirners‘ sei keine Fälschung, unberührt, denn diesbezüglich entscheidend ist in diesem Zusammenhang das von Engert selbst entworfene Bildnis Max Stirners. In der so betitelten Ausgabe seiner Neuen Beiträge zur Stirnerforschung vergleicht Engert die beiden abgedruckten Zeichnungen einerseits miteinander, anderseits mit den auf zeitgenössischen Erinnerungen beruhenden Schilderungen zu Stirners Äußerem und Charakter, die Mackay in seiner Biographie gibt,252 und schließlich auch mit dem Schädel Stirners, dem zwar „der gesamte Unterkiefer“ fehlt, 246

Vgl. Lavater (1775–78), S. 298 ff. Vgl. Engert (1921), S. 5, 10 ff. 248 Sveistrup (1932), S. 99. 249 1795–1858. 250 1811–1886. 251 Sveistrup (1932), S. 99. Vgl. auch Jordens (1998), dem zwar offenbar Sveistrups Hinweis entgangen ist – und damit auch der Umstand, daß er mit seiner ‚Enthüllung‘ der wahren Identität des auf dem vermeintlichen Stirner-Jugendbildnis Dargestellten über sechs Jahrzehnte zu spät dran ist –, der sich aber immerhin die Mühe gemacht hat, Näheres über die präsumtiven Umstände dieser Fälschung zu recherchieren, allerdings ohne endgültige Ergebnisse. – Das Faszinosum der Lisztschen Physiognomie zieht sich durch die Kulturgeschichte: Das Erscheinungsbild des alten Liszt hat nicht nur Bram Stoker (1847–1912) bei der Gestaltung seines Grafen Dracula mitinspiriert (neben seinem Arbeitgeber Henry Irving und weiteren Einflüssen) (vgl. Belford (1996), S. 184 f., 238 f.), sondern stand auch bei der Namensgebung einer Primatenart aus der Familie der Krallenaffen Pate: der putzigen Lisztäffchen (Saguinus oedipus) – was übrigens beim Anblick eines Lisztäffchens unmittelbar einleuchtet. 252 Vgl. Mackay (1898), S. 85 ff. 247

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aber „an dessen Echtheit zu zweifeln keine Veranlassung vorliegt“, und für dessen phrenologische Analyse Engert ein Gutachten des „Anatomen Professor Virchow“ eingeholt hat.253 Die Vergleiche dienen bei Engert der abgleichenden Beschreibung des zweifelhaften Bildes und der Erörterung seiner Authentizität, sind aber vor allem auch Anlaß zu physiognomisch inspirierten Darlegungen über des äußere Erscheinungsbild und die darin erkennbaren, genialen und aristokratischen Wesenszüge Stirners. So zeigt auf dem ersten, Engels zugeschriebenen Bild das „vorgebaute Kinn – offenbar ein Charakteristikum Stirners – [. . .] die ‚energische Form‘, von der Mackay spricht (ebenda). Und auch der ‚feine schmallippige Mund‘ (ebenda) scheint zum mindesten angedeutet, während der Zeichner auf die Ausführung der Hände auf dem Bild im allgemeinen zu wenig Wert gelegt hat, als daß man in der auf die Tischkante sich stützenden Hand Stirners ‚besonders schöne, wohlgepflegte, schlanke aristokratische Hände‘ (ebenda) wiederzuerkennen vermöchte. – Das Wesentlichste für uns an dem ganzen Bilde aber ist die Darstellung der Stirn und des gesamten Schädelbaus.“ (S. 8 f.)254 Stirners Stirn „weicht [. . .] in schöner harmonischer Form stetig nach hinten zurück. [. . .] Demnach scheint weniger Gewicht auf das ‚Mächtige‘ und die ‚auffallende Höhe‘ als vielmehr auf die harmonische ‚Wölbung‘ der Stirn und den allgemeinen Eindruck des ‚Bedeutenden‘ gelegt werden zu müssen. [. . .] Der Haaransatz ist hoch, die Stirn gewölbt und nach dem ganzen Typ des Dargestellten schmal und zart gebaut anzunehmen. Und nicht nur das Bild, auch der Schädel Stirners [. . .] stimmt damit überein. Die Stirn dieses Schädels [. . .] weicht in wunderbar harmonischem Schwung zurück und ist, wie der ganze übrige Knochenbau des Schädels, auffällig zart und schmal.“ (S. 9) Das „überaus charakteristisch vorgebaute Kinn“ (S. 15) erscheint also in der bildlichen Darstellung als „energisch[]“ (S. 10), was sich leider, da „dem Schädel der Unterkiefer fehlt, [. . .] an ihm nicht nachprüfen“ läßt (S. 15), alles andere – die Stirn, der Mund und die übrigen Gesichtszüge, die Hände und das gesamte Erscheinungsbild – wird wiederholt als „fein[]“ (S. 10), „feingebaut[]“ (S. 15), „aristokratisch[]“ (S. 16) und „besonders harmonisch“ charakterisiert (S. 10). Noch das „weiche und ziemlich lange 253 Engert (1921), S. 9. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben in diesem und dem folgenden Absatz beziehen sich ebenfalls auf Engert (1921). 254 Die Belegstellen, auf die sich Engert bezieht, finden sich bei Mackay (1898), S. 86. Mackays Buch enthält auch eine, ebenfalls von Engels, allerdings erst 1892 „aus fünzigjähriger Erinnerung flüchtig in den Umrissen entworfene“, recht bekannte „Portraitskizze Max Stirner‘s“ (Mackay (1898), S. 222), von der Mackay und Engert beide nicht viel halten (vgl. Engert (1921), S. 10). Engert gibt sich, anders als Mackay, noch der Hoffnung hin, daß ein legendäres, für Bruno Bauer gezeichnetes Totenbildnis Stirners irgendwann wiedergefunden werden könnte (vgl. Engert (1921), S. 6; Mackay (1898), S. 206).

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III. Narzißmus und Charisma

Haar [. . .], das an dem Schädel sich fand“ (S. 15), bestätigt diesen Gesamteindruck, und auch das zweite – gefälschte – Bild: Auch hier weicht die „Stirn [. . .] in harmonischem Schwung zurück“ (S. 15), passend zu jenem „genialische[n] Schwung, wie er sich schon in der Haltung ausdrückt, die Stirner auf dem [ersten] Bilde einnimmt.“ (S. 10) Da indes das zweite „Bild die Stirn viel feiner modelliert zeigt als das andere, läßt sie sich hier auch viel erfolgreicher mit dem Schädel vergleichen. Die Uebereinstimmung scheint nahezu vollkommen. Sie erstreckt sich über den allgmeinen Eindruck schmalen, zartesten Baues und harmonischer Wölbung bis in Einzelheiten.“ (S. 15) Überhaupt hat das mutmaßliche „Jugendbildnis Stirners“ (S. 16) mehr zu bieten als die spätere, dafür aber „unbedingt authentische“ Zeichnung (S. 14). Auf ihm erscheint der von Mackay als ‚fein‘ beschriebene Mund des Jünglings Stirner in „reizvoller Bildung. Und man fühlt ihn von jenem ‚freundlichen Lächeln umspielt‘, das die Zeitgenossen bei Stirner häufig wahrnahmen, und das sich erst ‚mit den Jahren verschärfte‘ und den Ausdruck der ‚Ironie‘, ja vielleicht auch der ‚Verbitterung‘ annahm. Ganz paßt auf das Bild, was Mackay von dem Ausdruck der ‚hellen, blauen Augen‘ berichtet: sie hätten ‚ruhig und sanft, weder träumerisch noch durchbohrend auf Menschen und Dinge geblickt‘ (ebenda). Und endlich passen zu diesem edlen rassigen Kopf auch ‚weiße, wohlgepflegte, schlanke, aristokratische Hände‘ (ebenda). Sie sind auf dem Bild nicht mit dargestellt, aber man könnte sich kaum andere dazu denken.“ (S. 16) Aufgrund der harmonischen Gesamtgestalt fällt es leicht, auch das in der bildlichen Darstellung nicht Wahrnehmbare vor dem geistigen Auge zu ergänzen – so wie sich die äußere Erscheinung auch als zum Charakter komplementär lesen läßt.255 In ihr läßt sich die außeralltägliche geistig-seelische Größe des Dargestellten, dessen stimmige physische Repräsentation sie ist, erkennen. „Der außergewöhnliche Adel und der bedeutende Ausdruck dieser Mienen passen durchaus zum innersten Wesen der Stirnerschen Persönlichkeit. Es liegt etwas auf ihnen von jenem reinen, Schillerschen Idealismus, der sich auch in den frühen Schriften Stirners findet. Zugleich aber hat dieser Kopf etwas von einem jungen Löwen an sich, er gemahnt an Jugendbildnisse Napoleon Bonapartes, und darin kündigt sich bereits der freieste Geist aller Zeiten, der Schöpfer des radikalsten Buches der Weltliteratur: Der Einzige und sein Eigentum mit voller Entschiedenheit an.“ (S. 16) In diesen einschlägigen Referenzen auf die seinerzeit anerkannten Genies 255 Außerdem legt Engert nahe, daß die Schönheit der Hände Stirners auch dessen Lehre entspricht. Aus dieser leitet er ab, „daß Stirner nicht nur schöne Hände besaß, sondern daß er ihre Schönheit durch bewußte Pflege ausgestaltete und zur Eigenheit steigerte. Im Sinne solch bewußter Steigerung und Ausgestaltung naturgegebenen Soseins ist die Einzigkeit bei Stirner allenthalben zu verstehen.“ (Engert (1921), S. 16).

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Schiller und Napoleon – und auf die unvergleichliche Größe des Stirnerschen Werkes – vollendet sich, biographisch, bild- und schädelanalytisch vorbereitet, Engerts Bildnis Max Stirners. In solchen Ikonisierungsbestrebungen wie in allen, exemplarisch und ausschnitthaft an Engert beobachteten kultischen Aktivitäten von Stirnerianern, den namensmystischen Spekulationen, der Reliquienverehrung und Zeitrechnungsinstallation, aber auch an den biographischen Bemühungen und Einrichtungen von Gedenkstätten, wie sie Mackay initiiert hat, kommt neben der Hingabe der Stirner-Verehrer auch zugleich das Bestreben zum Ausdruck, für die leibhaftige Abwesenheit des nie persönlich Gekannten und nie in seiner unmittelbaren Wirkung Erlebten zu kompensieren.256 Wenn Rolf Engert vom Ersten Auftauchen von Stirners Namen in meinem Leben „am 25. Juni 1906 – also gerade an seinem 50. Todestag!“ berichtet,257 dann verleiht er der Begegnung mit seinem genialen Helden, die ihm „zum entscheidenden Erlebnis geworden ist“,258 eine großartige Bedeutsamkeit, die seine eigene Lebenszeit mit derjenigen Stirners, und damit, aufgrund der epochalen Bedeutung Stirners als ‚Heraufführer‘ des Dritten Reiches, mit der Weltzeit verknüpft. Und zugleich zeugt dies vom überwältigenden Eindruck, den diese Begegnung in ihm bewirkte. Deren Außeralltäglichkeit wird noch durch die Trivialität des Ortes unterstrichen, an dem diese erste Initiation stattfand: in einem Friseursalon, wo dem damals 16jährigen Rolf ein Zeitungsartikel über Stirner unterkam, der ihn veranlasste, sich den Einzigen und sein Eigentum anzuschaffen.259 Aber es bleibt eine Begegnung mit Stirners Denken, und derjenige, dem sie wiederfuhr, leidet unter dem Mangel, nicht der unmittelbaren Gegenwart des von ihm Verehrten teilhaftig werden zu können. Diese Art von ErweckungserlebnisBerichten ist der Form nach den typischen Texten der dritten charismatifikatorischen Strategie zuzurechnen, die aber in ihrer reinen Form spezifisch darauf abstellen, die charismatische Wirkung der leiblichen Gegenwart des Charismatikers in Interaktionssituationen zu thematisieren.

256 Es liegt eine tragische Ironie darin, daß man sich in dem verzweifelten Bemühen, diesem Mangel abzuhelfen, zumindest kurzfristig verzückt und voller Begeisterung das dilettantisch retuschierte Jugendbildnis eines anderen, biographisch besser erschlossenen Genies unterjubeln ließ. 257 Engert (1939b), S. 11. 258 Engert (1986), S. 17. 259 Vgl. Engert (1939b).

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III. Narzißmus und Charisma

cc) Wirkung als Erlebnis Im Mittelpunkt der dritten typischen Strategie charismatifikatorischer Kommunikation steht die Beschreibung des Charismas des Charismatikers selbst, seiner charismatischen Wirkung in ihrer Erlebbarkeit: seine ‚magnetische‘, ‚bezwingende‘ Ausstrahlung und ‚dämonische‘ Erscheinung, die Suggestivität seiner Stimme und hypnotische Kraft seines Blickes, die heilsame und beglückende Wirkung seiner Gegenwart, der grandiose Eindruck, den er generell hinterläßt, das Mystische seiner Aura, seine magischen Fähigkeiten und die Gefühle und Handlungen, die er bei anderen auslöst, vom unmittelbaren Glücksempfinden bis zur Unterwerfung unter seinen Willen, etwa bei einer Gefolgschaft, die durch ihn veranlaßt ihre gesamte bisherige Existenz aufgibt. Das, was beispielsweise in Freuds Massenpsychologie und in Webers soziologischer Charismatheorie als magisch-suggestive Wirkung und hypnotische Anziehungskraft typisierend als allgemeines Phänomen begrifflich erfaßt wird, wird in der charismatifikatorischen Kommunikation konkreten Individuen zugeschrieben. Theoretische Beschreibungen wie diejenigen Webers und Freuds sind selbst nicht charismatifikatorisch, sie liefern aber, ähnlich wie der allgemeine Genie-Diskurs, die semantischen Hintergrundgewißheiten bzw. sind Ausdruck dieser Hintergrundgewißheiten, auf die sich charismatifikatorische Kommunikation bezieht und aus denen sich ihre Plausibilität speist. Der typisierende, theoretische Diskurs begründet die Annahme, daß es charismatische Persönlichkeiten gibt; und die charismatifikatorische Kommunikation, die die charismatische Wirkung bestimmter, namentlich angegebener Individuen in Form von Erlebnisberichten dokumentiert, konstruiert nicht nur den individuellen Charismatiker, sondern liefert zugleich die Evidenzen, auf die sich Theorien wie diejenigen Webers oder Freuds beziehen können; und Weber hatte ja beispielsweise die konkrete charismatische Herrschaft Stefan Georges vor Augen.260 Diese dritte Strategie charismatifikatorischer Kommunikation liefert somit kommunikative Beschreibungen, die Rückschlüsse zulassen auf das Charisma als Erlebnis, d. h. auf eine unmittelbar inkommunikable Qualität des Charismatikers, die in seiner Gegenwart spürbar ist. Dessen in ihrer Außeralltäglichkeit direkt wahrnehmbare Individualität erschließt sich kommunikativ indirekt aus Berichten, die diese Wahrnehmungen und deren Wir260

Vgl. Weber (1922), S. 142; Breuer (1994), S. 145 ff.; Blasberg (2000), S. 115 ff. – Ein weiteres für die diesbezügliche zeitgeistige Sensibilität symptomatisches Dokument ist der 1920 – kurz vor Freuds in der Massenpsychologie gelieferten Darstellung der Analogie zwischen Hypnose und Führer-Masse-Beziehung – erschienene Klassiker des expressionistischen deutschen Kinos, Robert Wienes „Das Kabinett des Doktor Caligari“, der den verhängnisvoll-dämonischen Zusammenhang von Hypnose, Wahnsinn und (implizit) Massensuggestibilität thematisiert.

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kungen thematisieren. Wer selbst den Charismatiker leibhaftig (noch) nicht erlebt und daher seine magnetisch-magische Wirkung (noch) nicht erfahren hat, dem können gleichwohl die Zeugnisse der Gewährsleute die Existenz des Charismas beglaubigen. Dabei ist es prinzipiell von nachgeordneter Bedeutung, von wem solche Erlebnisberichte stammen. Cornelia Blasberg weist beispielsweise darauf hin, daß Stefan George, wie kaum einem anderen seiner Zeitgenossen, „von Verehrern und Verächtern in ähnlich hohem Maße Charisma zugesprochen worden“ ist.261 Es spielt für die konstruktive Leistung solcher Zuschreibungen per se keine Rolle, welche Haltung zum Charismatiker dem Autor charismatifikatorischer Texte262 unterstellt werden kann, solange nur das Charisma als solches – egal ob ‚gut‘ oder ‚böse‘ – beglaubigt wird, d. h. als Tatsache beschrieben wird.263 261

Blasberg (2000), S. 111. Blasberg, auf deren medientheoretisch perspektivierte Studie zu George unten näher einzugehen sein wird, verwendet eine ähnliche Terminologie – sie spricht von „Charismatisierung“ bzw. „charismatisieren“ (Blasberg (2000), S. 118, 129, 137 u. ö.) –, die den Konstruktcharakter des Charismas und seines personalen Trägers im Sinne des vorliegenden Kontextes bestätigt; die hierfür eigens gebildete Begrifflichkeit der Charismatifikation bzw. charismatifikatorischen Kommunikation umfaßt allerdings einen sowohl weiteren und intern weiter ausdifferenzierten als auch theoretisch anders, nämlich kommunikationstheoretisch-wissenssoziologisch spezifizierten Phänomenbereich, weshalb auf die Übernahme der Blasbergschen Terminologie, mit der sich gleichwohl bestimmte Sonderfälle charismatifikatorischer Kommunikation bezeichnen lassen, verzichtet wird. 263 Hingegen können ironische Beschreibungen des Charismatikers oder solche, die ihn als manipulativen Scharlatan und Hochstapler darstellen, oder auch solche, die Zweifel an der Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit des Berichterstatters provozieren – weil sie z. B. als Propagandalügen, Foltergeständnisse, drogeninduzierte Halluzinationen, Wahnsinnsphantasien, literarische Fiktionen erkennbar sind, wobei entscheidend ist, wie diese Berichte kommunikativ behandelt werden – nicht dem charismatifikatorischen Kommunikationstypus zugerechnet werden, da sie eben diese Tatsächlichkeit des – wie auch immer zu bewertenden – Charismas in Frage stellen. – Empirisch ist damit zu rechnen, daß charismatifikatorische Kommunikation häufiger, und wohl auch emphatischer (Erweckungserlebnisberichte), von Anhängern des jeweiligen Charismatikers betrieben wird, während dafür das von ‚unabhängigen‘, u. U. sogar ablehnenden Beobachtern vorgenommene Eingeständnis, einer gewissen Persönlichkeit, bei allen sonstigen Vorbehalten, Charisma nicht absprechen zu können, als besonders gewichtig bewertet zu werden pflegt und daher auch von erheblichem charismatifikatorischem Wert ist. Es ist darüber hinaus auch nicht unwahrscheinlich, daß auch die häufig beobachtbare Beschwörung bedrohlicher und gefährlicher Feindbilder als Machtzuschreibung auch einen erheblichen charismatifikatorischen Effekt hat, der z. B. die sprichwörtliche ‚Faszination des Bösen‘ mitbegründet (siehe auch unten, IV. 3., zum Bösen und zur Antisozialität; V., insbesondere 1. und 2. sowie 3. a) dd) und 4. b) cc), zu deren sozialer Phänomenologie und Anziehungskraft; und VI. 3. a) bb) zum (literarischen) Kult des Bösen im Satanismus). Dies erinnert nochmals an den nicht-teleologischen bzw. nicht subjektiv-intentional oder manipulativ zu verstehenden Charakter des Strategiebe262

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III. Narzißmus und Charisma

Beispiele für diese charismatifikatorische Strategie verdeutlichen zugleich den stereotypisierenden Charakter dieser kommunikativen Konstruktion großer und einzigartiger Individuen: Immer wird der Charismatiker in seiner Erscheinung als außerordentlich und eindrucksvoll beschrieben, oft hat er etwas ‚Dämonisches‘. Die Beschreibung des Sichtbaren – Körperbau, Gesichtszüge, Kleidung und andere äußerliche Merkmale – geht typischerweise evidenzverstärkend in die Beschreibung des Gefühlten über, die sinnliche, meist optische Wahrnehmung wird synästhetisch zum mystischen Erlebnis, das mitunter von lebensgeschichtlich einschneidender Bedeutung ist für die daran Teilhabenden. Exemplarisch hierfür ist eine Erinnerung an Rudolf Steiner: „sein pechschwarzes Haar, seine flackernden schwarzen Augen, das hohlwangige Gesicht, die hagere zugeknöpfte Erscheinung, gleichsam alles Schwarz in Schwarz in der merkwürdigen Mischung von Magistertum und Dämonie“.264 Auch Stefan George war, nicht nur nach Auskunft Robert Boehringers, eines seiner „getreuesten Jünger“ und seines Nachlaß-Erbens,265 ein „dämonische[r] Mensch[] und Dichter“266. Beim Bildhauer Ludwig Thormaelen erweckte Georges Präsenz den „Eindruck einer ‚gewaltigen, dämonischen, erd- und weltumwälzenden Naturkraft‘“,267 andere charakterisieren ihr Erlebnis der „magischen Kräfte“ Georges als Erfahrung des „Übermenschlichen“ oder gar als Wirken „einer göttlichen Kraft“.268 Edgar Salin schließt eine detail-verliebte Beschreibung der – an Rolf Engerts Konstruktion des Bildnisses Max Stirners erinnernden – genietypischen Physiognomie des Meisters, die dem Wissenden bereits verrät, mit wem man es zu tun hat – „herbe Entschlossenheit“ des Mundes, „Kinn, in dessen mächtigem Vorsprung der Anspruch und das Recht des Herrschers gesammelt schien“, „geistige Stirn eines Denkers“, „willensgeladene Stirn eines Täters“, „anmutige[] Würde“ usw.269 – verzückt mit dem Hinweis auf die Unwiderstehlichkeit dieser „vollkommen[en]“ Erscheinung,270 „für die sich uns das Wort Charis unentziehbar aufdrängte“.271 Die zunächst visuelle griffs in der hier vorgeschlagenen Typologie charismatifikatorisch-kommunikativer Strategien. Und außerdem ist diese Möglichkeit, Charisma zu konstruieren, ohne dessen Autoritätsanspruch zu folgen, ein analytisches Unterscheidungsmerkmal des charismatifikatorischen Kommunikationstypus gegenüber der charismatischen Kommunikation, die ja die Zustimmung zum Charismatiker per definitionem einschließt. 264 Max Halbe, zit. n. Lindenberg (1992), S. 59. 265 Breuer (1995), S. 21. 266 Boehringer (1960), S. 81. 267 Breuer (1995), S. 25. 268 Breuer (1995), S. 26. 269 Zit. n. Breuer (1995), S. 21 f. – Eine typische Beschreibung der Georgeschen Physiognomie; vgl. weitere Beispiele bei Breuer (1995), S. 21 ff. 270 Zit. n. Breuer (1995), S. 21.

4. Soziale Konstruktion von Charisma

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Wahrnehmung des Charismatiker-Körpers wird zum bezwingenden körperlichen Erlebnis. Der schwedische Symbolist Gustav Uddgren spürte „eine unerhörte Glutkraft“ von Georges Augen ausgehen und einen „Enthusiasmus der keine Widerrede duldete“.272 Auch George trägt diesen Beschreibungen zufolge „fast immer enganliegende schwarze Anzüge“,273 und Schwarz ist, wie Breuer hervorhebt, „die Tracht der Priester und der Leichenbestatter, zweier Zünfte also, die in besonderer Nähe zum Tod stehen.“274 Der Charismatiker erscheint auch hierdurch – wie durch die anderen Erklärungen seiner Todes- und auch Wahnsinnsnähe – als eine Grenzgestalt, eine Übergangs-Figur zum Außerweltlichen, wie auch die Prädikationen des Göttlichen und Dämonischen nahelegen. Deren Ambivalenz wie auch die Übergangshaftigkeit275 lassen in charismatifikatorischer Perspektive keinen Zweifel zu, daß man, ob Gott oder Dämon, jedenfalls etwas Größeres erlebt als einfach einen Menschen. Das Charisma wird beschrieben als bezwingende Qualität bereits der bloßen Leibhaftigkeit des Charismatikers; seine körperliche Präsenz verzaubert; wer ihn erlebt, gerät in seinen Bann, verfällt ihm. So erinnert sich Edgar Salin an seine erste Begegnung mit George als an ein Erweckungserlebnis. Hervorzuheben ist im Hinblick auf die Effizienz charismatifikatorischer Kommunikation, daß Salin auf diese erste Begegnung mit dem Meister von seinem Freund Friedrich Gundolf, dem ‚ersten Jünger‘ Georges, vorbereitet worden war.276 Salin konnte also bereits aus den Erfahrungsberichten Gundolfs ahnen, was für ein Erlebnis ihm bevorstand; es gehört jedenfalls keine weitgehende psychologische Spekulation dazu, um festzuhalten, daß das in der folgenden Erzählung Salins kommunikativ beschriebene Erlebnis seiner271 Zit. n. Breuer (1995), S. 22 – H. v. A. S. – Vgl. auch Cornelia Blasberg (2000), S. 111 f., die im Zuge ihrer medientheoretischen Analyse des Georgeschen Charismas – worauf unten im Zusammenhang mit der vierten charismatifikatorischen Strategie einzugehen sein wird – auch Salins „charismatisierende[] Beschreibung von George“ (Blasberg (2000), S. 129) zitiert und mit Blick auf ihre Medienanalyse hervorhebt, daß es „kein Zufall“ sei, daß sich (nicht nur) „Salins Beschreibung des Dichters wie eine Bildbeschreibung liest; Voraussetzung ist die Übergängigkeit von Dichter‚körper‘ und Dichterbild auf der Grundlage ihrer Medialität.“ (S. 111 f., vgl. S. 140). 272 Zit. n. Breuer (1995), S. 23; vgl. Blasberg (2000), S. 133. 273 Blasberg (2000), S. 134. 274 Breuer (1995), S. 23. 275 Dies verweist auch auf die psychoanalytische Konzeption der ‚Übergangsobjekte‘ und ‚Übergangsphänome‘, die ontogenetisch einen bezüglich seiner Zugehörigkeit zur inneren oder äußeren Welt nicht hinterfragbaren Erfahrungsbereich konstituieren, der in kulturanalytischer Perspektive als die Voraussetzung jener Art von intensivem Erleben erkennbar ist, das in Kunst, Religion und Wissenschaft möglich ist (vgl. Laplanche/Pontalis (1973), S. 548 f.). 276 Vgl. Schonauer (1960), S. 96.

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III. Narzißmus und Charisma

seits kommunikativ erwartungsimprägniert war, durch ähnliche Beschreibungen, die typologisch der dritten und anderen Strategien charismatifikatorischer Kommunikation zuzuordnen sind. Das Erlebnis findet statt an „einem heißen Frühlingsnachmittag“ im Jahre 1913, in der „Hauptstraße der Stadt Heidelberg“, die vom „gewohnte[n] Strom der Gänger“ bevölkert ist, der „erschöpft“ und „träg über das Pflaster kroch“.277 Plötzlich bricht raumgreifend etwas ein in dieses Szenario gedrückter und dumpfer Gewöhnlichkeit, eine Personifikation des Ganz Anderen, für das „die Müden“, die urbanen Massenmenschen in ihrer schwerfälligen, gesichts- und spannungslosen Stromhaftigkeit ein optimales Kontrastmittel darstellen und das letzteren eine Reaktion der Unterwerfung aufnötigt: „federnden Ganges, leichten Schrittes kam ein Einzelner des Wegs – alle wichen zur Seite, auf daß nichts seinen Gang hemme, und wie schwebend, wie beflügelt bog er um die Ecke“, während der junge Edgar Salin „erstarrt“ stand, „auf den Fleck gebannt. Ein Hauch einer höheren Welt hatte ihn gestreift. Er wußte nicht mehr, was geschehen war, kaum wo er sich befand. War es ein Mensch gewesen, der durch die Menge schritt? Aber er unterschied sich von allen, die er durchwanderte, durch eine ungewußte Hoheit und durch eine spielende Kraft, so daß neben ihm alle Gänger wie blasse Larven, wie seelenlose Schemen wirkten. War es ein Gott, der das Gewühl zerteilt hatte und leichtfüßig zu anderen Gestaden enteilt war? Aber er hatte Menschenkleidung getragen, wenn auch besondere [. . .] in der Hand wirbelte ein kleiner, dünner Stock – war es der Stab des Merkur, war es eine menschliche Gerte278? [. . .] die Blässe der Wangen trug 277

Salin, zit. n. Schonauer (1960), S. 96. Eine, ähnlich der Peitsche, bei einem bestimmten Typus von Charismatikern – oder solchen, die es werden wollen – beliebte Insignie persönlicher Dominanz, der den sadistischen, auf vollständige körperliche und psychische Kontrolle abzielenden Aspekt des Herrschaftsanspruchs hervorhebt und dementsprechend an Unterwerfungsbedürfnisse appelliert. Während andere Herrschaftssymbole physischer Gewaltsamkeit – wie das Richtbeil im Rutenbündel der Liktoren (fasces) oder das Schwert – Macht dadurch zur Darstellung bringen, daß sie die physisch-gewaltsame Sanktion als ultima ratio im Falle der Nichtunterwerfung androhen, also den Einsatz von Gewalt im Falle des Machtversagens, ist die Peitsche, das Instrument der Sklaventreiber, nicht bloß ein negatives Sanktionsmittel, das durch die Androhung von physischer Verletzung Gehorsam bewirkt, sondern auch in seiner Anwendung ein Macht-, nicht bloß Gewaltmittel, anders als Schwert oder Richtbeil. Denn letztere richten sich gegen den unbotsamen Körper, um ihn unschädlich zu machen, beherrschen können sie ihn im Vollzug – und im Falle etwa der Enthauptung auch danach – nicht. Die Züchtigungsinstrumente Peitsche und Gerte fungieren dagegen auch als Disziplinierungsmittel, die den Körper nicht zerstören sondern unmittelbar in ihrem Einsatz durch Schmerzzufügung bezwingen und es so ihrem Anwender erlauben, die fremden Körper unter seine Kontrolle zu bringen; insofern sind sie Machtmittel, die eine Technik der Beherrschung fremder Körper ermöglichen und so, wie in der Folter, dem Besitzer des Instruments eine allmächtige Kontrolle über den Unterwor278

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dazu bei, den Eindruck des Fremden, Statuenhaften, Göttlichen zu wecken. Und die Augen? Plötzlich wußte der Betrachter: es war ein Strahl dieser Augen, der ihn gebannt hatte, schnelle wie ein Blitz war ein Blick zu ihm herüber geflogen, hatte ihn ins Innerste durchdrungen und war mit einem leichten flüchtigen Lächeln weitergewandert. Und nun stieg das Wissen auf: war es ein Mensch, dann – Stefan George.“279 Das Szenario vom Charismatiker, dessen Erscheinung die Massen in ehrfurchtsvoller Ahnung zurückweichen und erstarren läßt wie einst die Fluten des Roten Meeres unter dem Stab des Moses,280 ist ein in Variationen wiederkehrendes Motiv charismatifikatorischer Kommunikation, in dem schematisch die Differenz von ‚alltäglich vs. außeralltäglich‘ stereotypisiert und zugleich vorgeführt wird, mit welcher Unabweisbarkeit der Charismatiker aufgrund seiner magischen Aura, magnetischen Ausstrahlung usw. Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Dieses Muster281 findet sich auch in einem charismatifikatorischen Bericht Max Schulze-Söldes über den all-einzigen Inflationsheiligen Louis Haeusser: „Als wir (. . .) in Düsseldorf über den Corneliusplatz gingen, blieb buchstäblich der Verkehr stehen. [. . .] Die Straßenbahner vergaßen weiterzufahren, die Chauffeure und die Kutscher hielten einen Augenblick an, aus den Kaffehäusern, aus den Läden, aus den Fahrzeugen, aus allen Ecken der Straße waren Tausende von Augenpaaren auf uns gerichtet. [. . .] Haeusser [. . .] hatte sein Haupt in den Nacken geworfen, sodaß der Bart waagerecht in der Luft stand, und marschierte, mit fenen garantieren. – Adolf Hitler und der Inflationsheilige Louis Haeusser, aber auch der Gründer der ‚Church of Satan‘, Anton Szandór LaVey (vgl. Baddeley (1999), S. 220), präsentierten sich gerne mit Gerte oder Peitsche. Für Hitler und Haeusser fungierten Linse zufolge krokodillederne Pferde- bzw. Reitpeitschen – neben zumindest für Haeusser verbrieften Einsätzen auf sexuellem Gebiet (vgl. Linse (1983), S. 171, 173) – attributiv als „Herrschaftssymbol für den die Gesellschaft umformenden Führerwillen“ (Linse (1983), S. 42, vgl. S. 38, 238 f.). 279 Salin, zit. n. Schonauer (1960), S. 96. – Einen dem Georgischen Erscheinen in Heidelberg ähnlichen Auftritt des Prophetenkollegen Ludwig Derleth, 1924 in der Pariser Rue Richelieu, überliefert Carl J. Burckhardt, wenngleich, wie Helmut Kreuzer bemerkt, zur „Donquichotterie“ gesteigert (Kreuzer (2000), S. 185). Burckhardt konnte Derleth „schon von weitem [. . .] die Rue Richelieu hinunterschreiten“ sehen, „wie immer im schwarzen Gehrock, das priesterliche Haupt in den Nacken geworfen, den breitrandigen schwarzen Hut in der Hand, er ging unbegreiflicherweise mitten in der Fahrbahn: auch die Signale der sich stauenden Automobile hörte er nicht; sie konnten warten oder irgendeinen anderen Ausweg finden.“ (Zit. n. Kreuzer (2000), S. 185 f.) Und wiederum, auch hier im Falle Derleths, wie zuvor schon an Steiner und George beobachtet: Der Prophet trägt Schwarz, priesterlich und dämonisch. Auch über George ist übrigens (von Hans Brasch) zu erfahren, daß es „Seine art [war], das haupt immer etwas in den nacken gelegt zu tragen“ (zit. n. Breuer (1995), S. 21). 280 Vgl. 2. Mose 14, 15–31. 281 Inklusive Peitsche und ‚priesterlicher‘ Kopfhaltung.

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seiner Reitpeitsche schnippend, wie ein Tierbändiger durch das dichte Gedränge. Immerhin – lachen tat keiner. Sie fühlten wohl alle, daß hier etwas mehr war als Maskerade.“282 Spüren solchen Berichten zufolge schon die ‚gewöhnlichen‘ Menschen bei nur flüchtiger Begegnung, mit welch außerordentlicher Individualität sie in Berührung kommen, so sind es umso mehr die Eingeweihten und Auserwählten, die die Intensität und Kraft der meisterlichen Aura verbürgen, die sie zu Jüngern gemacht hat. Charismatifikatorische Berichte über die Wirkungen des Georgeschen Charismas und das damit verbundene Heilserleben – aber auch Zeugnisse der komplementären Erfahrung von Verdammnis und Verzweiflung in Abwesenheit des Meisters oder der tödlichen Konsequenzen seines dauerhaftem Gunstentzuges – sind typisch für die Jünger Georges:283 „Wer vom Meister kommt, befindet sich [. . .] fast immer in einem Zustand der Euphorie“284, andererseits befällt den in Ungnade Gefallenen ein „herzbeklemmende(s) Grauen mit meinem Gott nicht eins zu sein“285. In der charismatifikatorischen Kommunikation des dritten strategischen Typs wird dem Charismatiker eine übernatürliche Macht über das Leben und Erleben der in seinem Bann Befindlichen zugeschrieben. Ein weiteres Beispiel hierfür ist die Beschreibung der quasi-magischen Kräfte, über die Alfred Schuler nach Ansicht und Auskunft auch des George-Umfeldes verfügte.286 Friedrich Wolters zufolge, einem der „Stammesfürsten“287 innerhalb des George-Kreises, konnte der Kosmiker Alfred Schuler „plötzlich durch eine Geste oder einen Wechsel des Tones den gegenwärtigen Raum zersprengen und das Alltägliche so ins gänzlich Fremde reißen, daß die um ihn waren wie vor einem Spuk oder Zauber erschraken“288. Und diese Fähigkeiten Schulers waren es ja auch, vor denen George die Flucht in die Kneipe ergriff.289 Auch über Louis Haeusser berichtet ein Zeitzeuge, daß dieser, eine „Herrschernatur“, eine „große innerliche hypnotische Kraft“ besitzt und „auf seine Jünger eine große Suggestion aus[übt], welche sie zu fast mehr oder weniger willenlosen Werkzeugen macht.“290 Die Wirkung des Haeusserschen Charis282

Zit. n. Linse (1983), S. 167. Vgl. Breuer (1995), S. 21 ff., 65 f., 86 ff. 284 Thormaelen, zit. n. Breuer (1995), S. 66. 285 Gundolf, zit. nach Breuer (1995), S. 87. 286 Vgl. Breuer (1995), S. 99 f. 287 Breuer (1995), S. 83, vgl. S. 78 ff. 288 Zit. n. Breuer (1995), S. 96 f. 289 Vgl. Breuer (1995), S. 37, 95 ff.; Schonauer (1960), S. 75 ff., bes. S. 80 f. 290 Oskar Schellbach, zit. n. Linse (1983), S. 178. – Die Leipziger Arena veranschaulicht die bedingungslose Hingabe der Haeusser-Jünger an den Meister, wenn sie beispielsweise beschreibt, wie die „Haeussersche Schar unter Führung des Pro283

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mas beglaubigen insbesondere auch die Berichte von Jüngern, die ihre erste Begegnung mit Haeusser als wundersame Erweckungs- und Offenbarungserlebnisse beschreiben. Einer erinnert sich, wie er erstmals auf Haeusser zuging, „ihm die Hand“ gab und „in die Augen [blickte]! In diesem ‚AugenBlick‘ wußte Ich, daß Ich Gott, Himmel, Geliebten, Geist, Seele, Wahrheit, Jugend, Meiner Sehnsucht Ziel, Meinen Freund, Den Freund gefunden hatte!“291 Ein anderer, Emil Leibold, berichtet, wie er im „Juli 1919 [. . .] Haeusser in Pforzheim zum ersten Male auf der Staße [begegnete]. Er war damals für mich noch ein fremder, namenloser, unbedeutender, nichtssagender Mann. Aber von ihm strahlte eine unsichtbare, elementare, suggestivsymphatisch anziehende Kraft auf mich über, die (mich) innerlich so bewegte, daß ich das Gefühl hatte, diesem Mann (schon einmal) in meinem Leben begegnet zu sein.“292 Leibold erzählt weiter, wie er Haeusser nach dem nächsten Zusammentreffen seine Ersparnisse per Einschreiben übersendet und ihn dann „sehnsuchtserfüllt“ aufsucht, um dem „liebe[n] Meister“293 als „einer der ergebensten Jünger“294 zu folgen. Die in derartigen Rekrutierungsberichten dargelegten emotionalen Umstände konstruieren das Bild eines überwältigenden Charismas. Abschließend lassen sich noch zwei typische Beispiele aus einem weniger esoterischen Umfeld anführen. Ian Kershaw zitiert sie in seiner Studie zum Hitler-Mythos als „Beweismaterial für die Kraft des ‚Führermythos‘ innerhalb der NS-Bewegung und für den Magnetismus des Personenkults bei der Anwerbung neuer Parteimitglieder.“295 Zugleich sind aber Äußerungen wie die folgenden selbst kommunikativ-konstruktive Elemente dieses Mythos bzw. des von diesem getragenen und für diesen konstitutiven Charismas des ‚Führers‘, also Beispiele charismatifikatorischer Kommunikation des dritten strategischen Typs, da sie das „Hitler-Image“296 bezüglich der heilbringenden und beglückenden Macht, der magisch-bezwingenden Kraft und unwiderstehlichen Anziehung des ‚Führers‘ beglaubigen. So beschreibt pheten“ eine zeitlang im Wartesaal des Hauptbahnhofs die Nacht verbrachte, dabei „kluge Reden über Gott und die Menschen“ führend, während Haeusser zunächst schweigend dabeisaß, sich dann erhob und „durch die Restaurationshalle schritt. Die braune Kutte schlotterte ihm um die hageren Glieder; dann kehrte er wieder zurück an den Tisch, wo die Gläubigen saßen, und er öffnete den Mund und sprach von neuem von sich und seiner göttlichen Sendung. Sie aber saßen um ihn herum und lauschten seinen Worten, als gäbe er ihnen Honig zu trinken.“ (Zit. n. Linse (1983), S. 165). 291 Werner Niethe, zit. n. Linse (1983), S. 52, vgl. S. 51 f. 292 Leibold, zit. n. Linse (1983), S. 167 – H. i. O. 293 Leibold, zit. n. Linse (1983), S. 168. 294 Linse (1983), S. 169, vgl. S. 166 ff. 295 Kershaw (2002), S. 45. 296 Kershaw (2002), S. 47.

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ein NSDAP-Mitglied die Erfahrung seiner ersten Hitler-Rede – nach einem mittlerweile vertrauten Schema – als Erweckungserlebnis und lebensgeschichtlichen Wendepunkt von existentieller Tragweite: „Da gab es nur noch eine Sache für mich, entweder mit Adolf Hitler zu gewinnen, oder für ihn zu sterben. Die Persönlichkeit des Führers hatte mich total in ihrem Bann.“297 Und nicht nur bei spiritistischen Séancen in den abgedunkelten Räumen eines Okkultisten wie Schuler im auserlesenen Kreis, sondern auch bei nationalsozialistischen Massenveranstaltungen geschehen Dinge, denen der charismatifikatorische Bericht magische Qualitäten zuschreibt. Einen solchen Erlebnisbericht leitet Kershaw ein mit dem Hinweis, daß sich generell bei „Parteikundgebungen [. . .] junge Nationalsozialisten in Behauptungen, der Führer habe sie angesehen [überboten]. Für einen ‚Parteikameraden‘, der sich durch eine Kette von SS-Männern hindurchzwängen, seine Hand ausstrecken und sie von Hitler berühren lassen konnte, war das Erlebnis so überwältigend, daß ihm der ‚Heilruf‘ im Hals steckenblieb, ‚als er, mich sekundenlang anschauend, kurz meine Hand drückt . . . Die Kameraden (Zeugen meines Glückes) umringen mich, jeder will die Hand drücken, die in des Führers Rechten geruht.‘“298 Unter dem charismatifikatorischen Aspekt lautet die Botschaft dieses Erlebnisberichts: Der Führer verfügt über die magische Fähigkeit, kraft seines Blickes, seiner Berührung und sogar vermittels eines von ihm berührten fremden Körperteils als Medium junge Männer zu euphorisieren – ähnlich wie George. Der ‚kurze‘ Moment des Händedrucks wird im Kreise der Kameraden wiederholt und erscheint diesen als eine Berührung mit der Ewigkeit, in der der Glückliche – wie im Mutterschoß – geruht hat; ‚sekundenlang‘ war er im Zentrum der Aufmerksamkeit eines höheren, allmächtigen Wesens.299

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Zit. nach Kershaw (2002), S. 45. Kershaw (2002), S. 46. – Erinnert sei in diesem Zusammenhang an Freuds Theorem von der ‚Hypnose als Masse zu zweit‘ und den Gedanken, daß entscheidend für die Masse-Führer-Bindung die Suggestion ist, der Führer liebe jedes einzelne Massenindividuum. 299 Daß es durchaus möglich war, sich der Faszination des ‚Führers‘ zu entziehen, mag – anstelle von vielen Namenlosen – der Fall des Werkzeugmachers Herbert Stulpe (1906–1982) exemplifizieren, der in der Hochphase der Hitler-Begeisterung in der Reichshauptstadt Berlin dem in einem Triumphzug vorbeifahrenden Führer den Hitler-Gruß verweigerte. Die SA-Leute, die ihn daraufhin zusammenschlugen, waren vermutlich vom Typus jener vom Führer euphorisierten und fanatisierten jungen Männer, von denen die charismatifikatorischen Erlebnisberichte stammen. 298

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dd) Inszenierung Der vierte strategische Typus charismatifikatorischer Kommunikation betrifft die im weiteren Sinne inszenatorischen Aspekte der kommunikativen Konstruktion von Charisma im Vollzug der charismatischen Kommunikation. Diese Strategie gehört daher dem Evidenzbereich an, auf den sich die ersten drei, vor allem die soeben analysierte dritte Strategie, beziehen. Die ersten drei Strategien beziehen sich in spezifisch charismatifikatorischer Form auf die grundsätzlich von diesen Strategien unabhängig vorliegenden Evidenzen des Werkes, Lebens und der erlebbaren Wirkung konkreter Individuen. Die vierte Strategie bezieht sich nicht kommunikativ auf diese Evidenzen, indem sie Texte, Ereignisse und Affekte beschreibt, sondern sie ist selbst evidenzverstärkend, indem sie die charismatische Kommunikation bzw. die reale oder virtuelle Präsenz des leibhaftigen Charismatikers in ihrer Außeralltäglichkeit markiert: durch Rituale und Zeremonien, den Einsatz von Feuer, Rauch, Düften, Musik, bestimmte Kostüme – z. B. die notorische schwarze Kleidung, oder auch die Mönchskutten der Inflationsheiligen – und durch anderen interaktionsnahen Hokuspokus, aber auch verbreitungsmedial etwa durch Bilder, Ornamente, Symbole in Büchern, Flugschriften und elektronischen Medien. Typisch ist hierfür die Verwendung von nichtsprachlichen Kommunikationsmedien – oder der Verzicht auf die spezifische Kommunikationsmedialität von Sprache, etwa durch nichtverständliche Schrift- und Lautzeichen. Dies entspricht der eigentümlichen Wirkung dieses Strategietyps, die auf der Oszillation zwischen Wahrnehmung und Kommunikation beruht: durch den Einsatz ostentativ sinnlich irritierender Medien wird massiv Wahrnehmung beansprucht, ohne deren kommunikative Reduktion auf reine Zeichenhaftigkeit zuzulassen; zugleich drängt sich die Frage nach der Bedeutung der Rituale, Gewänder, Raumaufteilung, Ornamente usw. auf, wodurch ein Übergangsfeld von Wahrnehmung zu Kommunikation konstituiert wird.300 Der Bart des Propheten, seine Barfüßigkeit und Mönchskutte,301 die eigentümliche Orthographie des genialen Dichters und die prächtige Aufmachung seiner Schriften, die (kalkulierte) Verspätung des Führers bei einer Massenveranstaltung usw. – dies alles erscheint dem Eingeweihten bedeutsam, wird gleichsam als Geheimsprache kommunikativ verstanden, ohne dabei aufzuhören, die Wahrnehmung in Anspruch zu nehmen. 300 Der Haeusser-Jünger Schulze-Sölde suggeriert in seiner oben zitierten Erinnerung an das Verhalten von Passanten, die im öffentlichen Raum mit Haeusser in voller Propheten-Kluft und entsprechendem Habitus konfrontiert wurden, einen entsprechenden Effekt: „Immerhin – lachen tat keiner. Sie fühlten wohl alle, daß hier etwas mehr war als Maskerade.“ (Schulze-Sölde, zit. n. Linse (1983), S. 167). 301 Vgl. Linse (1983), S. 60, 165, 177.

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Während also die dritte Strategie kommunikativ die inkommunikablen psychischen Effekte des Charismas beschreibt, ruft die vierte Strategie diese Effekte hervor, indem sie im Grenzbereich von inkommunikabel Wahrnehmbaren und Kommunikation operiert. In diesem Sinne verstärkt die vierte Strategie charismatifikatorischer Kommunikation die Evidenz des Charismas, auf die sich die ersten drei Strategien beziehen. Und charismatifikatorische Kommunikation ist diese vierte Strategie, weil sie in ihrer charismatifikatorischen Funktion nicht auf Wahrnehmung reduzierbar ist: in dem Moment, wo die Insignien und Inszenierung des Charismatikers als bloße Äußerlichkeit – oder Mummenschanz – nur wahrgenommen werden, und nicht kommunikativ als bedeutsam verstanden werden, scheitert die Charismatifikation. In dieser zwischen Wahrnehmung und Kommunikation oszilierenden Wirkungsweise gehört der vierte strategische Typus charismatifikatorischer Kommunikation dem soziologischen Phänomenbereich der Kommunikation von Inkommunikabilität an, die – etwa im Bereich der Kunst und Mystik, oder auch bei der Kommunikation von Individualität – ausdrückt, daß das, was sie ausdrückt, sich nicht ausdrücken läßt.302 Es handelt sich also um eine paradoxe Form, die im Falle der charismatifikatorischen Kommunikation des vierten Strategietyps darauf zielt, das präkommunikativ Archaische, Rauschhafte, Übernatürliche usw. des Charismas zu evozieren, eine Atmosphäre des Geheimen zu erzeugen und den Charismatiker als denjenigen zu konstruieren, der machtvoll im Mittelpunkt dieses Szenarios steht. So tritt dieser Typus charismatifikatorischer Kommunikation auf als wahrnehmbare Verheißung eines inkommunikablen Überschusses, nämlich eines Erlebens, das als psychisch-physisches Ereignis kommunikativ abwesend ist – ein Gefühl, daß sich nicht (unbeschädigt) auf den Begriff bringen läßt – und dessen Abwesenheit als solche in der Kommunikation markiert wird. „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“303 Es kommt dann nur darauf an, deutlich zu machen, daß, wieso und am besten auch: worüber man schweigt.304 302

Vgl. Luhmann (1995b), S. 34 ff., 82 ff.; Fuchs (1992) u. (1999); Stulpe (2001), S. 64 ff., 95 ff. 303 Wittgenstein (1921), S. 115. 304 Ein diesbezüglicher Vorschlag, das Schweigen durch „singen / Nicht reden“ zu markieren, ergeht in ebensolcher Form von George charismatifikatorisch – „Erlöser du! Selbst der unseligste“ – an Nietzsche in dem diesem „Donnerer [. . .] der einzig war“ gewidmeten Gedicht (George (1907), S. 28). Wenn es hierin über Nietzsche heißt, „sie hätte singen / Nicht reden sollen diese neue seele!“ (S. 29), so wird diesem postum bescheinigt, nicht ‚gesungen‘ zu haben; solch einer Lesart stehen freilich Deutungen gegenüber, die die im engeren Sinne literarische Qualität des Nietzscheschen Werkes hervorheben, oder wie Giorgio Colli empfehlen, Nietzsche wie „einer unbekannten Musik [. . .] zuzuhören“ (Colli (1993), S. 13). Vgl. Luh-

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Cornelia Blasberg kommt in ihrer Untersuchung Charisma in der Moderne. Stefan Georges Medienpolitik zu Ergebnissen, die – wenn sie sich auch einer anderen argumentativen Stoßrichtung verdanken – hier zur Bestätigung und Veranschaulichung heranzuziehen sind. Blasbergs Anliegen ist es, die literarische Modernität des Georgeschen Werkes in seiner ‚übergängigen‘ Verbindung „zweier Diskurse“, nämlich „des charismatischen und des technischen Mediendiskurses“305 zu zeigen,306 wobei ihrem Augenmann/Fuchs (1992) zur kommunikativen Markierung der Differenz von Reden und Schweigen sowie Fuchs (1999) u. (1992) und Friedrich (1992) zur Markierung des Schweigens im ‚Gesang‘ der modernen Lyrik; vgl. auch Stulpe (2001) zur ‚unendlichen Melodie‘ frühromantischer Poesie bei Novalis. 305 Blasberg (2000), S. 144. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben in diesem und den folgenden Absätzen beziehen sich ebenfalls auf Blasbergs Aufsatz. 306 Ein wichtiges Angriffsziel ist ihr dabei Stefan Breuers George-Studie, der sie „gewitzte[] Boshaftigkeit“ bescheinigt und zugesteht, diese sei „derart unterhaltsam, daß man es gelegentlich verzeiht, wenn George-Zitate um der Pointe willen verkürzt und entstellt werden“ (Blasberg (2000), S. 112 f.) – aber eben nur ‚gelegentlich‘. Umgekehrt mag man der ausgewiesenen George-Expertin Blasberg, nicht zuletzt wegen ihrer im folgenden zu präsentierenden Einsichten zur – in ihrer Terminologie – medialen „Charismatisierung“ und zu „charismatisierten“ Medien, gerne verzeihen, wenn ihr methodologischer Haupteinwand gegen Breuer, er beziehe sich in seiner Argumentation in unzulässiger Weise auf Quellen des George-Kreises, die er doch aufgrund seines psychopathologischen Ansatzes für „nicht wahrheitsfähig“ halten müsse, nicht greift (Blasberg (2000), S. 113, vgl. S. 130). Breuer selbst, der in einer späteren Veröffentlichung Blasbergs Darlegung der kalkulierten Selbstinszenierung Georges zustimmend aufgreift (vgl. Breuer 2002: 110), hat diesen Einwand in seiner Begründung des narzißmuspsychologischen Ansatzes vorwegnehmend entkräftet – wenn auch mit einem ähnlich zweifelhaften Einwand gegen ein „freudianische[s] Vorgehen“ (Breuer (1995), S. 7). Denn die von Blasberg wie Breuer herangezogenen Selbstauskünfte des George-Kreises werden von Breuer nicht als ‚unwahr‘ diskreditiert, sondern als Selbstbeschreibungen analysiert, die als solche Auskunft geben über die Binnenbeziehungen und Selbstverständnisse des Kreises. Ob man diese dann als narzißtisch-pathologisch oder als modernes Gesamtkunstwerk bezeichnet, ist eine andere Frage, die – konstruktivistisch betrachtet – von der Forschungsperspektive abhängt; entscheidend ist, daß sich die Ergebnisse prinzipiell nicht ausschließen, sondern, perspektivisch bedingt, unterschiedliche Aspekte desselben Forschungsobjektes sichtbar machen können. Der medientheoretische Blick Blasbergs zeitigt beispielsweise im Falle ihrer Analysen der fotografischen Darstellung Georges (vgl. Blasberg (2000), S. 137 ff.) nicht minder subtile Interpretationsleistungen, als sie sich dem psychoanalytisch-narzißmustheoretisch informierten Blick „des Soziologen Stefan Breuer“ (Blasberg (2000), S. 112) bei der Textanalyse verdanken. Es tut der Modernität des Georgeschen Werkes im Sinne Blasbergs keinen Abbruch, wenn man diesem eine besondere Attraktivität für narzißtisch gestörte Persönlichkeiten konzediert. Allerdings ist zu betonen, daß sich seine soziale Geltung bzw. semantische Bedeutung nicht – zumindest nicht in wissenssoziologisch adäquater Weise – psychologisch erklären läßt. Anhand der im vorliegenden Kontext stets zugrundeliegenden Unterscheidung von sozialen (also: Kommunikations-) Systemen und psychischen Systemen wird dies deutlich. Kommunikationstheore-

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merk auf dem zweiten Diskurs die Beobachtungen der medialen Inszenierungspraktiken zu verdanken sind, die im vorliegenden Kontext der vierten typischen Strategie charismatifikatorischer Kommunikation zugerechnet werden. Im Georgeschen „Gesamtkunstwerk“ – aus symbolistischer Lyrik, Meister-Jünger-Bund und ihren verschiedenen Inszenierungen in Druck und Bild – findet demnach eine „Überlagerung des neuen, durch technische Medien herausgeforderten simulatorischen Weltverhaltens um 1900 mit dem gleichzeitig revitalisierten traditionsreichen Charisma-Diskurs“ statt, und die Frage, die sich an diesen Befund anschließt, lautet, „welche Bedeutung der charismatische Diskurs für die mediale Inszenierung von Dichtung und Dichter hatte.“ (S. 130) Die entscheidende Leistung der medialen Inszenierung besteht demnach in der „Charismatisierung“307 einerseits des Dichters durch die Medien, andererseits der Medien selbst, so daß diese die Anwesenheit des Dichters auch in dessen Abwesenheit virtuell präsentieren können. „Insofern, als Georges ‚Kreis‘ die ‚Geltung‘ der symbolistischen Poesie und ihres ‚Meisters‘ zu beglaubigen hatte, stand George als leibhafter ‚Herrscher‘ und somit sterbliche Person im Brennpunkt des Charisma-Diskurses; die Gefahr, daß die ‚virtuelle Welt‘ nach seinem Tod zusammenbrach, war demnach groß und bedrohte das nicht auf irdische Zeitrechnung verpflichtete Projekt der symbolistischen Poesie. George mußte folglich [. . .] bestrebt sein, die Stellvertretermedien zu ‚charismatisieren‘.“ (S. 130 f.) Er mußte demnach sein eigenes Charisma, das er aus der „Selbstinszenierung als ‚Meister‘-Dichter“ (S. 123, vgl. S. 121 ff.) gewonnen hatte – hierzu gehörte in zentraler Weise die Meister-Jünger-Konfiguration des Kreises selbst und deren Thematisierung in dessen Schrifttum, also charismatifikatorische Kommunikation des dritten (und teilweise zweiten) strategischen Typs,308 aber auch „eine Art Interpretationskartell“ von anerkannten „prominente[n] Kulturwissenschaftlern“, die die „Geltung“ des Meistertisch mag man dann jene Attraktivität bestimmter Semantiken für gewisse psychische Dispositionen für soziologisch irrelevant halten – bestreiten indes kann man sie nicht. 307 Blasberg (2000), S. 113, 118, 131, 141 u. ö. 308 Daß diese auch nach Georges Tod weitergeführt wurde, zeigt exemplarisch die folgende Passage aus einem auf den 12. Juli 1960, Georges zweiundneunzigsten Geburtstag, datierten Nachwort Robert Boehringers zu einer Auswahl mit Gedichten Stefan Georges. Boehringer schreibt über George: „Wie er mit befreundeten Menschen durch Landschaft und Jahreszeiten ging, wie Liebe ihm keimte, blühte, welkte, wie er das Göttliche schaute und die grossen Gestalten der Dichtung und Geschichte, wie er über seine Zeit urteilte und die Zukunft ahnte, wie er Jünger gewann, lehrte, reifen liess und sie fürs Leben härtete: all das steht in seinen Versen und in seinem Antlitz. Jeder, dem es verliehen ist, kann dies selber darin lesen.“ (Boehringer (1960), S. 81) In der Gabe, die Größe des Charismatikers zu erkennen, bewährt sich die charismatische Qualifikation der Jünger, als Zeichen ihrer Auserwähltheit: „Des sehers wort ist wenigen gemeinsam“ (George (1897), S. 17).

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Werkes im Sinne der ersten Strategie bekräftigten (S. 122) – auf jene Stellvertretermedien gleichsam übertragen. Charismatisierung des Dichters und Charismatisierung der Medien stehen dabei in einem wechselseitigen Steigerungsverhältnis. Unter dem Aspekt der Selbstreferentialität symbolistischer Dichtung im Sinne des L’art pour l’art erscheint der Dichter selbst als „Medium einer sich durch ihn äußernden Sprache“ (S. 124); in der charismatisierenden Deutung dieses Verhältnisses wird der Dichter zum Schöpfer der Dichtung (vgl. S. 123 f.). Analog werden die Medien meisterdichterischer Selbstverlautbarung zum Über-Träger von Charisma. Die von Blasberg konstatierte ‚Übergängigkeit‘ von Medien- und Charisma-Diskurs äußert sich in einer Übergängigkeit von Mediatisierung von Charisma und Charismatisierung von Medien in jenem „poetisch-sozialen Experiment [. . .], als das man Georges ‚Kreis‘ bezeichnen kann“ (S. 126): „[D]er ‚Kreis‘ autorisiert George zum charismatischen Medium der Sprache, wie umgekehrt dem Charismatiker George die Aufgabe zukommt, seine Schüler zu Interpreten zu begnaden.“ (S. 126 f.) Die Lyrikproduktion bleibt dabei auch dort, wo Georges Gedichte etwa in Gestalt von Initiationsphantasien oder in der Maximin-Epiphanie den Charisma-Diskurs am deutlichsten artikulieren und damit eine antimodernistische Haltung (Marktund Technikfeindschaft) – in Breuers Terminologie: eine fundamentalistische Zeitablehnung309 – zum Ausdruck bringen, dem symbolistischen Projekt poetisch-selbstreferentieller Simulation verpflichtet (vgl. S. 127 ff.). „Georges Gedichte sind im Sinne der symbolistischen Poesie ‚offene‘ Kunstwerke, die eine Vielzahl widerstreitender Lektüren provozieren.“ (S. 127) Diese Vieldeutigkeit verweigert fremdreferentielle Eindeutigkeit, die Poesie verkündet in dieser Hinsicht keine Botschaft außer ihrer eigenen Selbstreferentialität: „[A]bgesehen von der Negation einer identifizierbaren ‚Wirklichkeit‘ enthalten auch die ‚charismatisch‘ zu lesenden Gedichte keine Botschaft – sie inszenieren einen Aufbruch ohne Ziel.“ (S. 128 – H. i. O.) Allerdings ist zu bedenken, daß unter den Bedingungen von reziproker Charismatisierung und Mediatisierung der Dichter George selbst als charismatisches Medium der Dichtung in deren Selbstreferentialiät miteinbezogen ist: Der poetisch inszenierte ‚Aufbruch‘ zielt auf die Individualität des Charismatikers George und dessen Verehrung. Es geht nicht um die Verkündung irgendeiner positiven Heilslehre, vielmehr ist der Meister selbst Verkörperung des Heils. Im Zentrum jenes ‚poetisch-sozialen Experiments‘ steht somit der Charismatiker George, der gleichsam als charismatisches Leitmedium fungiert.310 309

Vgl. Breuer (1995), S. 19, 212 ff.; Breuer (2002), S. 13 f. In der Blasbergschen Fügung ‚poetisch-sozial‘ steckt nach Maßgabe der vorgeschlagenen Unterscheidung von ‚hypothetischer‘ und ‚nicht-hypothetischer‘ All310

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An den Charismatisierungs-Beziehungen dieses Leitmediums zu seinen ‚Stellvertretermedien‘ und der Funktionsweise letzterer läßt sich in typischer Weise die vierte Strategie charismatifikatorischer Kommunikation beobachten, insbesondere die erwähnten Elemente der Oszillation von sinnlicher Wahrnehmung und kommunikativem Verstehen, der Kommunikation von Inkommunikabilität, der Konstruktion des Exklusiven und Geheimnisvollen, sowie der Inszenierung von Abwesenheit. Zunächst ist an die „geradezu mittelalterliche Distributionsweise der frühen George-Bücher“ zu denken (S. 132): „Georges lyrische Werke erschienen nämlich erst 1898 auf dem öffentlichen Buchmarkt und wurden zuvor im Freundes- und Verehrerkreis weitergereicht,“ – wie übrigens auch Fotografien Georges, die „wie Ikonen im Freundeskreis gehandelt wurden“ (S. 134, vgl. S. 135 f.) – „wobei diese Vorgeschichte auch beim späteren Verkauf der Bücher bewußt gehalten wurde. [. . .] Die kalkulierte Kassiberqualität der Bücher trug das Ihre Einzigkeit die Differenz ums Ganze: charakterisierte man dieses ‚Experiment‘ des George-Kreises als eindeutig und ausschließlich ‚poetisch‘ und nicht zugleich ‚sozial‘, so wäre es ein rein künstlerisch-ästhetisches Projekt, ein Spiel und keine Sekte, und somit der Seite des Hypothetischen zuzuschlagen, in dem die typischen charismatifikatorischen Strategien im Modus des Als-Ob zu beobachten sind. Dies ist in der Tat typisch für die Artikulation Hypothetischer All-Einzigkeit in Kunst, Fiktion, Spiel und in der Ironie: der All-Einzige wird dann, auch als Typus des Charismatikers, hypothetisiert, zur fiktionalen oder Kunst-Figur gemacht, u. U. auch ironisiert, was im Hinblick auf reale Charismatiker zur ironischen Brechung ihres Autoritätsanspruchs führt. Entscheidend ist für den hypothetischen Modus der Charismatifikation – also einer Variante der Konstruktion Hypothetischer All-Einzigkeit – daß sie auf der Differenz von Virtualität und Aktualität, bzw. Fiktion und Wirklichkeit oder Spiel und Ernst beruht und auf der je erstgenannten Seite dieser Unterscheidung stattfindet, also der virtuellen bzw. fiktionalen oder spielerischen, und dies reflektiert. Das bedeutet etwa für einen in diesem Sinne hypothetischen ‚Charismatiker‘, daß er keinen realen, sozial-wirklichen Anspruch auf Autorität und Verehrung behauptet; der charismatische Meister und die ihn verehrenden Jünger wären dann Figuren in einem Spiel, wie in einem Roman, oder eben: in einem poetischen, nicht sozialen Experiment. Das scheint beim George-Kreis allerdings nicht der Fall gewesen zu sein: Wie ernst dieses Experiment war, zeigt nicht zuletzt – neben anderen Todesfällen – die Bereitschaft des Claus Schenk Graf von Stauffenberg (1907–1944), für das ‚Heilige Deutschland‘ im Widerstand gegen die Barbarei eines anderen charismatischen All-Einzigen zu sterben. Jedenfalls verdeutlicht Blasberg bei allen Hinweisen auf den symbolistischen und mediendiskursiven Gehalt des Georgeschen Experiments durch dessen Kennzeichnung als poetisch-sozial, daß diesem Experiment, soweit es insgesamt als Kunst zu verstehen ist, zumindest ein Kunstverständnis zugrundeliegt, das jene konstitutive Differenz von Virtualität und Aktualität negiert und der Kunst und dem Künstler die Verwirklichung gesellschaftlicher Heilsprojekte überantwortet; dies entspricht der Breuerschen Beschreibung des ästhetischen Fundamentalismus (vgl. Breuer (1995), bes. S. 8). Und damit fällt auch die Differenz von (poetischem) Spiel und Sekte; und der ‚Meister‘ wird als wirklicher Heilsbringer mit wirklichen Herrschaftsansprüchen gehandelt, nicht als Kunstfigur innerhalb des modernen Funktionssystems der Kunst.

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dazu bei, den ‚weihe‘-vollen Inhalt als eine Art Geheimbotschaft auszuweisen – die man las, aber nicht verstand. [. . .] Selbst als Georges Bücher längst käuflich waren, haftete ihnen der Reiz an, das Verfügbare unverfügbar zu halten.“ (S. 132 f.)311 Dieser Effekt verdankte sich insbesondere auch der Buchgestaltung: die „prunkvolle graphische Ausstattung der (privaten) Erstausgabe vom Teppich des Lebens“ von 1899, die der zeitweilig mit George befreundete Maler und Graphiker Melchior Lechter ebenso wie die Privatausgabe von Das Jahr der Seele (1897) „zu kostbaren Bild-Ornament-Schrift-Artefakten modelliert [hatte], in denen genaue Korrespondenzen zwischen Bildelementen und Schriftzügen vorherrschten“ (S. 131 f.), aber auch die „betont schlichte Gestaltung“ späterer und früherer Veröffentlichungen – „in schmuckloser Antiqua-Schrift auf graugelbe[m] resp. rötlich getönte[m] Bütten“ (S. 131) – unterstrichen einerseits die Exklusivität der Bücher. Andererseits betonten sie die sinnliche Qualität des Mediums – neben der vorherrschenden visuellen auch die haptische, soweit es etwa um besondere Papiersorten geht312 – als einer ‚eigenwertigen‘ Bedeutung, also als eines eigenständigen Kunstwerkes, das mehr ist als bloß „funktionelle[r] Ideenträger“ (S. 132) und als solches Wahrnehmung in Anspruch nimmt. Das derart gestaltete Medium erzeugt jene für die vierte Strategie charismatifikatorischer Kommunikation typische Oszillation zwischen sinnlicher Wahrnehmung und kommunikativem Verstehen. „Georges Buchgestaltung macht [. . .] deutlich, daß die Medien Schrift und Buch zwar niemals das sich ihnen a priori entziehende Geheimnis der Sprache übermitteln können, daß sie den Leser/Betrachter aber ihrerseits in ein faszinierendes Wechselspiel zwischen sinnlicher Sensation und intellektueller Bedeutungssuche hineintreiben.“ (S. 133) Die Leistung des Buches für die Lyrik war demnach derjenigen des Kreises für den Dichter äquivalent: „Es suggerierte Relevanz, es stattete mit Autorität aus und schuf ‚Geltung‘, es charismatisierte.“ (S. 131) Das Buch fungierte somit als charismatisiertes Medium der Charismatisierung. Das gleiche Charismatisierungsprinzip des „Wechselspiel[s] zwischen sinnlicher Sensation und intellektueller Bedeutungssuche“, bzw. die charismatifikatorische Funktion der Oszillation von Wahrnehmung und Kommunikation läßt sich an „Georges durch Haartracht, Kleidung und ‚Pose‘ inszenierter Gestalt und ihrer fotografischen Repräsentation“ beobachten (S. 133). „Mit denselben Mitteln, die Georges Selbstinszenierung ersann, um den in311 Auch heute läßt sich beobachten, wie Distributionsbegrenzungen den auratischen Wert von Datenträgern (Bücher, CDs, Videospiele, DVDs usw.) erhöhen können, ob gewollt, z. B. im Falle von Auflagen-Limitierungen, oder ungewollt, z. B. im Falle von Indizierungen und anderen zensurähnlichen Maßnahmen. 312 Und neben dem Blick ist es ja vor allem die Berührung des Charismatikers, der besondere magische Qualitäten zugeschrieben werden, wie viele Beispiele zeigen.

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dividuellen Körper, das physisch Leibhafte in den Brennpunkt des Interesses zu rücken, erreichte sie, daß dessen Zeichen-Qualität und Mehrdeutigkeit manifest wurden.“ (S. 134) – Was auch immmer die „enganliegende[n] schwarze[n] Anzüge“ (S. 134) oder das bei Schwabinger Maskenfesten von George als Kostüm getragene „Gewand des Seher-Dichters Dante“ (S. 140) zu bedeuten hatten: bedeutungsvoll waren sie; nur der Nichtbegnadete hält sie für Verkleidungen. Und auch bei einem Foto Georges, „dessen Betrachtung Reminiszenzen an die christliche Ikonographie“ weckt, sucht, gerade „dadurch, daß das Foto nur ein Minimum an Referenz“ bietet, „der Betrachter mit maximalem Ehrgeiz nach einer Bedeutung“, die wiederum die „Bedeutung des Mediums“ ist (S. 140). „Georges Fotos [. . .] charismatisieren den Dargestellten, indem sie ihm die für das Medium charakteristischen Eigenschaften übertragen, diesen Simulationseffekt aber durch kunstvolle Rochaden als herrschaftliche Wirkung des abgebildeten Mannes selbst erscheinen lassen.“ (S. 141) Potenzieren läßt sich dieser Effekt noch dadurch, „daß ein charismatisierender, ‚Geltung‘ verschaffender Kontext, konkret: die vom Dichter ‚begnadete‘ Interpretationsgemeinschaft mit ins Bild kommt.“ (S. 141) Blasberg exemplifiziert dies eindrucksvoll an einem bekannten Foto vom Herbst 1924, das Stefan George mit den Brüdern Claus und Berthold von Stauffenberg zeigt (vgl. S. 141 ff.), von Stefan Breuer wiederum pietätlos als „Imperatives Weltbild vor Blümchentapete“ betitelt.313 Blasbergs Augenmerk gilt dagegen nicht der Blümchentapete als solcher, sondern einerseits dem Schatten Georges, der auf diese am linken Bildrand fällt, und andererseits dem in der entgegengesetzten, rechten Bildhälfte sichtbaren, über den Köpfen der Stauffenbergs an der (blümchentapezierten) Wand hängenden gerahmten Portrait-Foto des Dichters. Rechts sitzen die beiden Jünglinge, in Richtung des weißhauptigen Meisters blickend, der in der linken Bildhälfte zu sehen ist, dicht an der von seinem Schatten markierten Wand sitzend, sein Blick von den Jungen abgewandt. Über die dargestellte Nähe Georges zu seinem Schatten führt Blasberg unter Berücksichtigung der Bildkomposition insgesamt aus: „Gewiß ist dieser [Schatten-] Effekt ein Zufall und der bei diesem Foto zunächst als unklug grell erscheinenden Lichtregie geschuldet, doch läßt sich der Eindruck nicht abschütteln, der mit allen Spuren des Alters gezeichnete Mann gehöre schon mehr zur Welt der Schatten und des 313

Breuer (1995), S. 238. – Man mag Breuers Würdigung des ‚ästhetischen Fundamentalismus‘ gleichwohl auch als Kommentar zu diesem Foto lesen: „Der ästhetische Fundamentalismus kann für sich in Anspruch nehmen, eine derart mißglückte Kreuzung von Charisma und Bürokratie, wie sie das NS-Regime verkörperte, niemals gewollt zu haben; und es bleibt ihm die Ehre, in der Person Stauffenbergs dagegen aufgestanden zu sein, zu einem Zeitpunkt, als die meisten schon resigniert hatten.“ (Breuer (1995), S. 240).

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Todes als zu jener der lebendigen jungen Männer, die ihm, leicht nach links geneigt, als müßten sie den Entschwindenden (der doch ruhig dasitzt) aufhalten, sehnsuchtsvoll und wie abschiednehmend nachschauen. Die begehrenden Körper und der begehrte sind durch einen de facto kleinen, indes durch die starken Lichtreflexe für unüberwindlich erklärten Abstand getrennt. Diese Lichteffekte bringen die Präsenz des (fotografischen) Mediums im Bild zum Bewußtsein, mehr noch: Sie sind es die einen ‚realen‘ und einen imaginären Raum, einen konventionellen und einen neuen, medial beherrschten Wahrnehmungsmodus voneinander trennen. Im Grunde zeigt die Bild-im-Bild-Struktur des Fotos bereits an, daß es Abbildlichkeit und Medialität selbst zum Motiv erhebt.“ (S. 144) Wieder kommt es zu einer Verschränkung von Mediatisierung und Charismatisierung, indem das Foto mediale Repräsentationen des Charismatikers – Schatten und Porträt – in einem charismatisierenden Szenario – Meister und Jünger – medial repräsentiert: und zwar bildkompositorisch so, daß die dargestellten Elemente der beiden Diskurse, des Medien- und des Charismadiskurses, miteinander gekreuzt werden: „Dadurch, daß das gerahmte Bild des Dichters der Sphäre der Jungen zugeordnet ist, spricht das Foto ein Vermächtnis aus: Die durch Augenzeugen beglaubigte ‚Geltung‘ des charismatisch interpretierten Phänomens George soll auf das alterslose und unsterbliche Bild übertragen und schließlich dem Foto des Fotos zuteil werden.“ (S. 144) Dadurch soll gewährleistet werden, daß auch nach Georges Tod, wie überhaupt in seiner leiblichen Abwesenheit, sein Charisma durch das charismatisierte Medium, also der mediatisierte Charismatiker „ikonisch überdauern“ kann (S. 144). Das Foto simuliert also in seiner medialen Selbstreferentialität ein Szenario, in dem der Charismatiker anwesend ist und zugleich seine Abwesenheit antizipiert wird – aber ebenso wird die simulatorische Anwesenheit durch das charismatisierte Medium gezeigt – und das im Zuge der Charismatisierung dieses Mediums. Aufgrund der Selbstreferentialität wird das Foto, das als Medium dieser charismatisierenden Inszenierung fungiert, selbst in diese Inszenierung einbezogen und: charismatisiert.314 Dieser – hier sehr raffinierte – Umgang mit der Differenz von Anwesenheit und Abwesenheit des leiblichen Charismatikers und seiner medialen Simulation kann als typisches Merkmal charismatifikatorischer Kommunikation gelten. Als Beschwörung des Abwesenden gleicht dieser Typus charismatifikatorischer Kommunikation einer magischen Praktik, die die übernatürliche Macht des Charismatikers zur Geltung bringt. Und diese Magie wird gleich314 Eine ähnliche Figur findet sich an einer zentralen Stelle, der Höhlensituation, in Novalis’ Romanfragment Heinrich von Ofterdingen, dort bezogen auf die Magie poetischer Kommunikation und das Medium Buch; vgl. hierzu Stulpe (2001), S. 104 ff.

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sam verbreitungsmedial und erfolgsmedial eingesetzt bzw. in funktionaler Äquivalenz zu Verbreitungs- und Erfolgsmedien.315 Denn dadurch kann einerseits der Charismatiker selbst in transinteraktionellen Zusammenhängen, bei seiner leibhaftigen Abwesenheit gleichsam symbolisch-repräsentativ316 bzw. virtuell vergegenwärtigt werden (Verbreitung). Und andererseits kann dessen Abwesenheit charismaverstärkend inszeniert werden (Erfolg): durch Verlesenlassen einer Botschaft (auch ein Brief ist ja ein Zeichen für Abwesenheit), durch symbolisches Freilassen einer – zentralen – Raumstelle, oder auch, zeitdimensional gewendet, durch Erwartungsspannung aufbauende Verzögerung eines Veranstaltungsbeginns.317 Ein wichtiger Effekt hier315 Dabei ist an einen entscheidenden Unterschied zwischen dem Einsatz symbolisch-generalisierter Kommunikationsmedien – z. B. in Form einer geldvermittelten Transaktion – und dem Einsatz von Charisma – auch in transinteraktionellen Zusammenhängen – in Gestalt charismatischer Kommunikation zu erinnern: Die komplexitätsreduktive Funktion der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien besteht darin, daß sie von dem, was die charismatische und charismatifikatorische Kommunikation in ihrer Funktionsweise gerade ins Zentrum stellen, abstrahieren: die konkrete Individualität von bestimmten Personen. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien, wie Geld, Macht, Wahrheit usw., kann prinzipiell jeder – ohne Ansehen der Person – einsetzen, sie sind die großen Gleichmacher der Moderne – an die dann freilich Differenzierungen anschließen können, etwa in Hinblick auf Ungleichverteilungen von Macht, Geld usw. –, die nichts und niemanden ausschließen; sie sind nivellierend und amoralisch. „Geld [. . .] zwingt das sich Widersprechende zum Kuß“ (Marx (1844), S. 567) – non olet: Geld, wie die anderen symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien, funktioniert unabhängig davon, wer es benutzt. Das Gegenteil gilt für charismatische Kommunikation: Sie steht und fällt mit der – knapp gehaltenen – charismatischen Individualität, auf die sie sich beruft. Ihre maximale Reichweite ist zwar nicht durch Interaktionen beschränkt, setzt aber die Geltung jenes charismatischen Individualitäts-Images – das Produkt charismatifikatorischer Kommunikation – voraus. Daher ist sie, anders als die mediale Kommunikation unter weltgesellschaftlichen (modernen) Voraussetzungen, nicht universell, sondern an partikulare semantische Kontexte gebunden. 316 Vgl. Göhler (2000). 317 Letzteres ist in verschiedenen Varianten für den all-einzigen Inflationsheiligen Haeusser dokumentiert: „Größter Saal der Stadt. Eintrittspreise von 10 DM bis 50 Pf. Erwerbslose kostenlos. Der Saal ist überfüllt. Haeusser ist schon da, mit wallendem Bart, in Mönchskutte erschienen, umgürtet, barfuß in Sandalen. Er sitzt auf dem Podium, den Zuschauern den Rücken zugekehrt und liest in einer übergroßen Zeitung. Er hat sich ein Glas Grog servieren lassen. Ungeduld und Rufe: ‚Haeusser anfangen, es ist schon 9 Uhr!‘ Der dreht sich langsam um und sagt deutlich vernehmbar: ‚Das Gesindel hier ist noch nicht reif.‘“ (Ludwig C. Wang, zit. n. Linse (1983), S. 177) – „Allmählich aber wurden einige ungeduldig und fragten, ob Haeusser nicht bald spräche. Die Antwort seines Versammlungsleiters war: Er spricht erst, wenn die Versammlung für Ihn reif ist. (. . .) Die Jünger versuchten nun, sich still zu verhalten, um für Ihn reif zu erscheinen. Verschiedene Male betrat Er den Saal, verließ ihn jedoch immer wieder, da noch nicht alles ruhig war. Als Er wieder eintrat, war alles still, da hustete einer. Haeusser kehrte um. Da brüllte einer der langbehaarten Jünger diesen Störer an: ‚Du Esel, huste zu Hause, damit der

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bei ist die Verknappung der leibhaftigen Präsenz des Charismatikers, die gleichermaßen seine Außeralltäglichkeit wie auch die Exklusivität des Zugangs zu ihm unterstreicht, so daß – selbst unter Bedingungen von Massenansprachen – das Arkanum symbolisch mittransportiert wird. Kommunikations- und medientheoretisch betrachtet, wird so die Not der leiblichen Absenz des Charismatikers, wie sie sich aus der interaktionszentrierten psychologischen Perspektive darstellt, zu einer Tugend im Sinne des charismatifikatorischen Erfolgs. Dieses inszenatorische Muster ist beispielhaft an einer von 7000 bis 8000 Teilnehmern besuchten Wahlkampfkundgebung Hitlers im Oktober 1932 in Günzburg zu beobachten. Kershaw betont, daß die „Atmosphäre der Veranstaltung und die Verehrung Hitlers [. . .] wie immer bei Hitlers Kundgebungen durch das lange Warten auf seine Ankunft aufgeputscht waren“.318 Es handelt sich also bei dieser propagandistisch durchgeplanten Inszenierung des Außeralltäglichen um eine routinierte (massen)manipulativ intendierte Technik, derer sich mutatis mutandis auch andere Charismatiker bedienten und bedienen. Kershaw führt als Beleg einen „stilisierten Bericht des Völkischen Beobachters“319 an, der über einzelne Elemente der Inszenierung Aufschluß gibt: „In den Mittagsstunden beginnt die große Völkerwanderung. Zu Fuß, mit Fahr- und Motorrädern, mit Fuhrwerk und Auto strömen die Menschen von allen Seiten herbei . . . Lange vor Beginn sind die beiden großen Hallen überfüllt . . . Tausende müssen draußen stehen . . . Dann kommt der Führer. Kaum kann ihm die SA den Weg frei halten durch die Menschenmassen. Jubelnde Heilrufe begrüßen ihn. Das dreijährige TöchterGroße sprechen kann.‘ Endlich um 10 Uhr geruht Er zu reden. Der Vorsitzende verkündet, ein Großer wird sprechen.“ (Freie Jugend, zit. n. Linse (1983), S. 60 – H. i. O.) – „Ich erinnere mich zunächst daran, wie eines Tages im Central-TheaterFestsaal (in Leipzig) eine Menge Volks ‚Ihn‘ erwartete. Bevor ‚Er‘ erschien, kletterte ein mit dichtem, schwarzen Haar behafteter Mann auf das Podium und schrie in ekstatischem Sächsisch: ‚Heißer is zeitlos! Uf den mißt Ihr warten bis er kommt!‘ Die Masse war nach diesem ebenso weisen und gerechten wie aufklärenden Ausspruch auf einige Zeit wieder befriedigt und beruhigt. Sie mumelte für sich weiter und wartete. Auf ‚Ihn‘. ‚Er‘ aber saß inzwischen im Kaffeehaus Korso und labte sich an Mokka und dicken Zigarren. Er hatte keineswegs vergessen, daß er im C.T.-Festsaal eine Versammlung angesagt hatte, aber da er seine Zeitlosigkeit kannte, so war er nicht vergebens der Überzeugung, daß besonders seine Mitmenschen dieses sein Ewigkeitsempfinden mit auskosten sollten. So erschien er also statt, wie angesagt, um 8, erst um 9 Uhr. Mit ruhigen Schritten, in etwas elegischer Haltung wanderte der Prophet Haeusser durch den Saal, eine Zigarette rauchend, stieg er langsam auf das Podium, warf die Zigarette zu Boden, trat den glimmenden Rest aus und betrachtete etwas ironisch das versammelte Volk.“ (Leipziger Arena, zit. n. Linse (1983), S. 176). 318 Kershaw (2002), S. 60. 319 Kershaw (2002), S. 60 – H. i. O.

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chen des Burgauer Sturmführers Schmalzgruber überreicht ihm einen großen Blumenstrauß, das sechsjährige Söhnchen des SA-Mannes Linder ein Bild. Und wieder sehe ich, wie schon so oft, jenes frohe Leuchten in des Führers Augen, als er seine Hand auf den Scheitel der Kinder legt“.320 Zu beachten sind hier – neben dem Quellenwert zur charismatifikatorischen Kommunikation des vierten Strategietyps: das Wartenlassen der Massen, die Ovationen, der Einsatz von Kindern – auch wiederum die charismatifikatorischen Aspekte des Textes selbst, also die dritte Strategie.321 Interes320

Völkischer Beobachter, 13. Oktober 1932, zit. n. Kershaw (2002), S. 60. Wie die Beispiele zeigen, erfährt man vieles über diese vierte Strategie charismatifikatorischer Kommunikation aus Textzeugnissen, die als Erlebnisberichte von Anhängern des jeweiligen Charismatikers selbst der dritten charismatifikatorischen Strategie zuzurechnen sind, und teilweise auch der zweiten, soweit es sich bei diesen Quellen zur Inszenierung und Performanz des Charismatikers zugleich z. B. um biographische Anekdoten oder auch Darstellungen seiner äußeren Erscheinung – etwa in Physiognomie, Bewegung, Tonfall, Kleidung usw. – handelt. Die für die Strategien charismatifikatorischer Kommunikation angeführten Beispiele enthalten ja oft auch Elemente der je anderen Strategien. Die Würdigung des visionären Werkes und seine Erklärung aus der Genialität seines Schöpfers im Sinne der ersten Strategie bedient sich typischer Elemente der zweiten; und die Stilisierung der Persönlichkeit enthält in ihrer umfassend biographischen Vorgehensweise immer auch Belege für die eindrucksvolle Wirkung des jeweiligen Individuums auf andere, sei es in der physiognomischen Beschreibung oder in der Charakterisierung von persönlichen Beziehungen. Wie diese individuellen Eigenschaften des Charismatikers sowie seine Handlungen und Äußerungen – und auch der rituelle Rahmen, in denen sie vollzogen werden – auf seine Anhängerschaft wirken, ist zugleich der zentrale charismatifikatorische Aspekt der dritten Strategie; und Berichte, die dies dokumentieren, geben auch Auskunft über die vierte Strategie. Dies verdeutlicht den idealtypologischen Charakter dieser Unterscheidungen; die Empirie historischer Texte – im Verlauf des 20. Jahrhunderts zunehmend auch audiovisueller Texte – bietet Realtypen in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen, die sich anhand der vier idealtypischen Strategien analysieren und bezüglich ihrer Komplementärwirkung beobachten lassen. Man kann auch bezüglich der Konstruktionsgeschichte eines bestimmten Charismatikers beobachten, ob und wenn ja welche charismatifikatorischen Strategien schwerpunktartig – und dies wiederum sozialkontextuell und historisch differenzierbar – zum Einsatz gekommen sind und dies mit anderen Fällen vergleichen. Bei aller Komplementarität und textempirischen Vermischung dieser idealtypischen Strategien ist ihre Unterscheidung daher analytisch hilfreich – und angesichts der Nachweisbarkeit von Dokumenten, die jeweils bestimmte Aspekte der charismatifikatorischen Kommunikation im Sinne der Idealtypologie akzentuieren, auch nicht beliebig: Eine überschwengliche Rezension kann dem ersten strategischen Typus zugeordnet werden, ohne daß sie Elemente der anderen drei enthält. Ein biographischer Bericht über die Kindheit eines Genies oder seine Ernährungsgewohnheiten gibt nicht notwendig Auskunft über dessen Werk oder seine Wirkung auf spätere Gefolgsleute oder die inszenatorischen Strategien seiner Selbstdarstellung. Der Bericht eines Jüngers, er habe aufgrund seiner Begegnung mit dem Charismatiker seine bürgerliche Existenz aufgegeben, um diesem zu folgen seine Familie verlassen, diesem sein Vermögen überschrieben usw., ist deutlich dem dritten strategi321

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sant sind die Parallelen zu Salins Erweckungs-Szenerie beim ersten Treffen mit George.322 Dort, 1913 in Heidelberg, wie auch 1932 in Günzburg, wird zunächst über den ‚Strom‘ der Menschenmassen berichtet. ‚Dann kommt der Führer‘ (Hitler) bzw. ‚mit einem Mal [. . .] kam ein Einzelner des Wegs‘ (George). Während für George sich – offenbar aufgrund seiner ehrfurchtgebietenden Aura – eine Gasse bildet (‚alle wichen zur Seite‘), muß für Hitler – offenbar aufgrund seiner magnetischen Aura – ‚die SA den Weg frei halten durch die Menschenmassen‘; und sie schafft dies mit Not, denn die Anziehungskraft des Führers ist stark. Beide Berichte schließen mit einem intimen Blick der Berichterstatter in die Augen des jeweiligen Charismatikers, von denen, mit einem ‚flüchtigen Lächeln‘ verbunden, ein ‚Strahl‘ (George) bzw. ‚jenes frohe Leuchten‘ (Hitler) ausgeht. Die strukturelle Analogie beider charismatifikatorischer Berichte verdeutlicht einerseits die Stereotypie dieses Textgenres, andererseits den Spielraum in der Konstruktion der konkreten Charismatikerfigur im Hinblick auf ihren Adressatenkreis: die wenigen Auserwählten im Falle Georges, die Menschenmassen im Falle Hitlers, die aber, wie das Wort von der ‚Völkerwanderung‘ verrät, sich als nicht weniger auserwählt wähnen dürfen, nur eben nach völkischen Kriterien.323 In beiden Fällen bleibt aber der spezifische Kontrast zwischen der Personifikation des Außeralltäglichen in Gestalt des Charismatikers und der Masse, über die er plötzlich hereinbricht. Dieser Kontrast ruft zum Abschluß dieses Kapitels die sozialdimensionale Asymmetrie in Erinnerung, die für die Struktur der All-Einzigkeit konstitutiv ist und der die kosmische Egozentrizität des All-Einzigen mit seinem omnipotent-grandiosen Anspruch entspricht. Diese all-einzige Struktur wird im folgenden Kapitel anhand Stirner-rezeptionsgeschichtlichen Textmaterials eingehend untersucht. Der Zusammenhang der All-Einzigkeit mit den bisherigen modernitätsdiagnostischen, narzißmus- und charismatheoretischen Überlegungen läßt sich zuvor kurz rekapitulieren: All-Einzigkeit läßt sich demnach verstehen als narzißtisch-regressive Position der Abwehr einer kränkenden Realität. Der All-Einzige stellt sich als kosmisches Zentrum schen Typus zuzuordnen, der die Macht des Charisma beglaubigt, ohne damit Leben und Werk des Charismatikers zu thematisieren. Und als Quellen für die vierte typische Strategie kommen schließlich nicht nur Zeugnisse von Anhängern des jeweiligen Charismatikers in Betracht, sondern auch distanzierte Zeitzeugenberichte, Zeitungsartikel, Fotografien, die Auskunft geben über die Inszenierung des Charismatikers, ohne deswegen die Charismatifikation fortzuschreiben. 322 Siehe oben, III. 4. c) cc). 323 ‚Völkerwanderung‘ rückt die Veranstaltungsteilnehmer in einen mythischen Zusammenhang mit der ‚gemeinsamen‘ germanischen Vergangenheit und beschwört die von den Nationalsozialisten dem deutschen Volk zugedachten Aufgaben der nahen Zukunft: wieder werden Germanen das Antlitz Europas neuzugestalten haben, auf der Suche nach ‚Lebensraum‘ und im ‚Rassenkampf‘.

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III. Narzißmus und Charisma

dar und leugnet damit die reale Dezentriertheitserfahrung der Moderne, wie sie prominent im narzißtischen Kränkungsbefund formuliert wird. In der charismatischen und charismatifikatorischen Kommunikation hat All-Einzigkeit ihren sozialen Beglaubigungsraum; hier gelingt die Übersetzung des All-Einzigkeitsanspruchs in die Form der asymmetrischen Sozialbeziehung zwischen dem Charismatiker und seinen Verehrern, durch die eine kränkungsabweisende Realität konstituiert wird. Das Ausmaß an Realismus dieser Realität variiert; die hermetische Realität der Sekte, die in ihren extremsten Ausprägungen an die wahnhafte und antisoziale Krankheitsisolierung des Psychotikers gemahnt, ist nur eine von vielen Varianten der Realitätskonstruktion in der modernen, polykontexturalen Gesellschaft; und sie ist unter den sozialen Realitätskonstruktionen gewiß diejenige, deren Mangel an Realismus sich am leichtesten zeigen läßt, und zwar sowohl aus psychopathologischer als auch konstruktivistisch-wissenssoziologischer Perspektive. Der soziale Erfolg von All-Einzigkeit ist zwar nicht auf die hermetische Realität einer Sekte beschränkt, aber aufs engste verknüpft mit charismatischen Beziehungen, die im Extremfall zur Sektenbildung führen. An der Deutung der charismatischen Vergesellschaftung des George-Kreises nach dem psychoanalytischen Übertragungsmodell, demzufolge in einem Komplementärverhältnis von Spiegelübertragungen und idealisierenden Übertragungen narzißtische Größenimagines aktiviert und die damit verbundenen Wunschphantasien ausagiert werden, läßt sich schließen, daß narzißtisch-grandiose Selbstkonzeptionen konstitutiv sind für die charismatische Beziehung. Übersetzt in die vorgeschlagene wissenssoziologische Terminologie heißt dies, daß die semantische Struktur der All-Einzigkeit einen unverzichtbaren Bestandteil charismatischer und charismatifikatorischer Kommunikation darstellt. Ebenso, wie die narzißtischen Wünsche nach Spiegelung des eigenen Größen-Selbst bzw. die Bedürfnisse nach Verschmelzung mit einem grandiosen Selbst-Objekt ihre Befriedigung in der charismatischen Beziehung finden, ist ein solcher charismatischer Zusammenhang auch der erfolgversprechendste Artikulationsraum für die Position der AllEinzigkeit. Darin liegt die je nachdem regressiv-kränkungsabwehrende oder auch kränkungskompensatorische Bedeutung des Charisma-Phänomens und seine besondere Attraktivität in der Moderne, die ihrem Individuum soviel an narzißtischer Kränkung zumutet; und zwar, wie oben ausführlich dargestellt,324 einerseits durch die Last an kulturellen Wunschversagungen, das Ausmaß an Dezentrierungen und Enttäuschungen und den Mangel an Kompensation im Angesicht der existentiellen Bedrängnis – und andererseits deswegen, weil erst die Moderne dieses Individuum kennt, auf dessen Individualität die Gesellschaft die Kosten ihrer Modernisierung externalisiert. 324

Siehe II. 2. und 3.

4. Soziale Konstruktion von Charisma

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Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, wenn das Individuum sich gegen diese Zumutungen empört und zur Position der All-Einzigkeit aufschwingt. Ob es mit diesem Anspruch isoliert bleibt oder sozial erfolgreich ist, hängt, wie dargestellt, von den Konstruktionsbedingungen des Charismas ab, in jedem Fall aber ist der Preis ein graduell abstufbarer Realitätsverlust, der mit den sozialen Erfolgschancen in Zusammenhang steht. Auch die extremsten Konzeptionen von All-Einzigkeit müssen nicht notwendig sozial scheitern, aber je grandioser ein All-Einzigkeitsanspruch ist, desto prekärer sind vermutlich seine sozialen Erfolgschancen. Der Anspruch etwa, der absolute Mittelpunkt des Universums zu sein, wird vermutlich, wenn er nicht ignoriert wird und als ernstgemeint behandelt wird, abgelehnt werden325 – soziale Akzeptanz ist in diesem Fall äußerst unwahrscheinlich – und dementsprechend psychopathologisch unter Größenwahn, Paranoia o. ä. verbucht werden, wie im nächsten Kapitel zu sehen ist.

325 Eine weitere Möglichkeit besteht darin, daß er gerade wegen seiner ostentativen Irrealität als z. B. überzeichnende Provokation oder Ironie oder Gedankenspiel oder sonst eine nicht wörtlich zu verstehende Äußerung aufgenommen wird: als etwas Fiktives, Virtuelles, Spielerisches, das sich seiner Irrealität bewußt ist. Dies ist das Feld der ‚hypothetischen All-Einzigkeit‘. In ihm artikuliert sich ein bezüglich des Einzigen höheres soziales Reflexionsniveau dergestalt, daß die Position des AllEinzigen eingenommen wird im Wissen um ihre Irrealität, das heißt im Wissen um die Pluralität von Einzigen. Daher läßt sich die Hypothetische All-Einzigkeit auch als ‚inwendige Je-Einzigkeit‘ bezeichnen. Denn sie setzt die Je-Einzigkeit, derzufolge ein jedes Individuum ein Einziger ist, zumindest der Möglichkeit nach, als Weltzustand voraus, behandelt sie aber nicht als solche, thematisiert insbesondere nicht die dem Reflexionsniveau der Je-Einzigkeit eigentümlichen Problemkomplexe – die Frage nach der Möglichkeit von Gemeinsamkeit zwischen Einzigen, als Kommunikation, Wahrheit, Sozialität usw. (siehe unten, insbesondere VI. 5. und VII. 1.) –, sondern tritt auf, als ob sie all-einzig wäre. Dies ist das Reich des Spiels und der Kunst.

IV. Der Wahnsinn, die Genialität und das Böse Die Neurosen zeigen einerseits auffällige und tiefreichende Übereinstimmungen mit den großen sozialen Produktionen der Kunst, der Religion und der Philosophie, andererseits erscheinen sie wie Verzerrungen derselben. Man könnte den Ausspruch wagen, eine Hysterie sei ein Zerrbild einer Kunstschöpfung, eine Zwangsneurose ein Zerrbild einer Religion, ein paranoischer Wahn ein Zerrbild eines philosophischen Systems. Diese Abweichung führt sich in letzter Auflösung darauf zurück, daß die Neurosen asoziale Bildungen sind; sie suchen mit privaten Mitteln zu leisten, was in der Gesellschaft durch kollektive Arbeit entstand. [. . .] Genetisch ergibt sich die asoziale Natur der Neurose aus deren ursprünglichster Tendenz, sich aus einer unbefriedigenden Realität in eine lustvollere Phantasiewelt zu flüchten. In dieser vom Neurotiker gemiedenen realen Welt herrscht die Gesellschaft der Menschen und die von ihnen gemeinsam geschaffenen Institutionen; die Abkehrung von der Realität ist gleichzeitig ein Austritt aus der menschlichen Gemeinschaft. Sigmund Freud1 Nie fürchte ich mich mehr vor mir selbst als in der Fertigkeit und Abgeschlossenheit eines fremden Wahns, den ich begreife. Elias Canetti2

1. Der Einzige in der Nervenheilanstalt: Ernst Schultzes „Stirner’sche Ideen in einem paranoischen Wahnsystem“ Im Januar 1903 berichtet der Psychiater Ernst Schultze im Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten über den Fall der 1860 geborenen Patientin S., die im Rahmen eines gerichtlichen Entmündigungsverfahrens „1895 der Bonner Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt [. . .] zur Beobachtung 1 2

Freud (1912/13), S. 363. Zit. n. Erdheim (1997), S. 20.

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überwiesen“ worden war.3 Das besondere psychiatrische Interesse an der diagnostizierten „Psychose“ der Patientin (S. 817), das Schultze zur Veröffentlichung des Artikels über Stirner’sche Ideen in einem paranoischen Wahnsystem veranlaßt, der Ausarbeitung eines im Mai 1902 gehaltenen Vortrages, begründet er damit, daß ihm „ein auch nur annähernd ähnlicher Fall von Paranoia bisher nicht aufgestossen ist“ und auch nach Rücksprache mit „zahlreiche[n] ältere[n] und erfahrenere[n] Irrenärzte[n] [. . .] dieser Fall kein gewöhnlicher ist.“ (S. 793) Hierfür spricht zweierlei: Erstens das „Ueberwiegen[] des begrifflichen Denkens bei der Kranken“ (S. 793), das sich in den mündlichen und schriftlichen Auskünften der Patientin S. zu ihrer „Lebensanschauung“ (S. 802) beobachten läßt, der Schultze insgesamt eine bemerkenswerte innere Stringenz, eine „strenge[], unerbittliche[] Logik“ und „Consequenz“ attestiert, abgesehen freilich von einigen, allerdings gerade für den Wahncharakter ihres „in sich geschlossenen, festgefügten System[s]“ signifikanten Brüchen (S. 807). Zweitens bietet der in diesem paranoischen System artikulierte „krasse[] Egoismus“ (S. 806) der Patientin Anlaß zum Vergleich „mit den Anschauungen eines seit einem Jahrzehnt recht modern gewordenen Philosophen aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts“ (S. 793), nämlich mit dem philosophischen „Egoismus in seiner äussersten Form“, wie ihn Max Stirner, „der Vertreter des extremsten Individualismus“ lehrt (S. 810). Psychiatrisch bemerkenswert und berichtenswert ist also, so lassen sich beide Punkte zusammenfassen, die sowohl formale als auch inhaltliche Ähnlichkeit dieses paranoischen Wahnsystems mit einem zeitgenössisch populären philosophischen System. Zugleich dient aber die Stirnersche Philosophie Schultze als Kontrastfolie, die die spezifischen Differenzen zwischen Wahn und Logos an diesem Beispiel erkennbar macht. Die ‚Stirner’schen Ideen‘ haben eben innerhalb des ‚paranoischen Wahnsystems‘ eine andere Bedeutung als außerhalb, in der Philosophie; gleichwohl sind sie im Wahnsystem als philosophische Ideen zu identifizieren. Der Unterschied zwischen Paranoia und Philosophie, auf den es Schultze hier ankommt, läßt sich an einer spezifischen „Verrückung des Standpunktes“ festmachen (S. 802), an einer Verschiebung in der Wahrnehmung und Deutung der sozialen Umwelt, die bezüglich der Frage nach dem Wahn die Differenz ums Ganze ausmacht: „Das ist ja gerade das Charakteristische für den Paranoiker, dass seine Stellung verschoben, verrückt wird.“ (S. 814) Und darin besteht die Isolation der Paranoia gegenüber der sozialen Umwelt und deren akzeptierten Realitätsdeutungen. Im Unterschied zum paranoischen System der Patientin S. ist dagegen das philosophische System Stirners „vom 3 Schultze (1903), S. 794. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich im vorliegenden Abschnitt ebenfalls auf Schultzes Artikel.

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IV. Der Wahnsinn, die Genialität und das Böse

psychiatrischen Standpunkte einwandsfrei“ (S. 815), wie sich Schultzes Befund vorwegnehmen läßt. Die Frage nach dem Verhältnis von paranoischem Wahn und philosophischem System, die Schultze am Falle der auszugsweise über sieben Seiten wiedergegebenen (vgl. S. 795 ff.) und dann kommentierten Aufzeichnungen der Patientin S. im Vergleich mit einschlägigen Passagen aus Stirners Einzigem (vgl. S. 808 ff.) erörtert, liegt seiner Ansicht nach „gewiss sehr nahe“ (S. 807). Sie ist auch vor dem zeitgenössischen psychiatrisch-diskursiven Hintergrund der nosologischen Vorschläge Emil Kraepelins4 zu verstehen, der die Paranoia gegenüber anderen psychotischen Erkrankungen durch das Vorliegen eines systematisierten Wahns bei Fehlen von Intelligenzabnahme kennzeichnete.5 Diese Präzisierung distanzierte die Paranoia als wahnhaftes Deutungssystem – worunter nicht nur der alltagsprachlich assoziierte Verfolgungswahn, sondern insbesondere auch der Größenwahn, aber auch andere systematisierte Wahnformen zu fassen sind – begrifflich von anderen, schlecht systematisierten Wahnformen, wie sie etwa an der Schizophrenie zu beobachten sind.6 Zugleich rückte diese auf der psychopathologischen Seite vorgenommene Distanzierung von Paranoia und Schizophrenie (‚Dementia praecox‘) die paranoische Psychose in die Nähe nichtpsychotischer Deutungssysteme. Denn wenn der paranoische Wahn im Hinblick auf seine Deutungsfunktion und seine innere Systematik – bei zudem noch unbeeinträchtigter Intelligenz seines Schöpfers bzw. seiner Schöpferin – zu charakterisieren ist, dann drängt sich die Vermutung einer strukturellen Analogie, zumindest einer Vergleichbarkeit mit anderen, nichtpsychotischen Weltdeutungen, insbesondere philosophischen Systemen und abstrakten Theoriegebäuden auf – und damit auch die Frage nach dem Unterschied.7 4

1856–1926. Vgl. Laplanche/Pontalis (1973), S. 365 ff., 370 f. 6 Vgl. Laplanche/Pontalis (1973), S. 365 ff., 453 ff. 7 Auch die Theorie ist ja eine Abstraktion von der Wirklichkeit mit dem Anspruch, diese in wahrer Form zu deuten – im Unterschied etwa zur künstlerischen Fiktion –, wobei sie sich selektiv auf empirische Evidenzen beruft. Das systematisierte und in sich kohärente Wahngebäude ist freilich (soziologisch betrachtet), im Gegensatz zur wissenschaftlichen Theorie, nur dem Wahn-Sinnigen und u. U. Gleich-Gesinnten plausibel, die typischerweise geltend machen, sie könnten geheime, verborgene Zusammenhänge durchschauen. Damit hängt auch die paranoide Vorliebe für unsichtbare Entitäten und Kräfte zusammen (‚Erdstrahlen‘ u. ä., also pseudowissenschaftlich eingekleidete magische Vorstellungen), deren Existenz praktisch nicht falsifizierbar ist. Freilich gibt es, nicht zuletzt in jüngster Zeit durch den verbreitungsmedialen Faktor Internet begünstigt, Grenzfälle von paranoiden Deutungssystemen, insbesondere in der Paranoikern kongenialen Form der Verschwörungstheorie, die vergleichsweise große Anhängerschaften finden; allerdings dürfte auch hier der prinzipielle Sektencharakter solcher Deutungsgemeinschaften aufweisbar sein, ihre hermetische Verriegelung gegen plausible Einwände. Das typische kli5

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Dies schwingt auch in Freuds Diktum vom „paranoische[n] Wahn [. . .] [als] Zerrbild eines philosophischen Systems“8 mit. Dessen konkreten Hintergrund bildet die Beschäftigung mit dem ehemaligen sächsischen Senatspräsidenten Daniel Paul Schreber und dessen 1903 – im gleichen Jahr wie Schultzes Stirner’sche Ideen in einem paranoischen Wahnsystem – veröffentlichten und in psychiatrischen Kreisen vielbeachteten Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken,9 über die Freud selbst 1911 seinen Artikel Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides) publizierte, in dem er in seinen eigenen nosologischen Erörterungen auch auf Kraepelin10 bezug nimmt.11 Auch bei Freud verweist die „Verzerrung“ auf die „asoziale Natur“ des paranoischen Wahnsystems – ähnlich wie bei Schultze die Verschiebung oder ‚Verrückung‘ der sozialen Selbstverortung –, die sich aus der „ursprünglichste[n] Tendenz“ jeglicher „Neurose“12 erklären läßt: „sich aus einer unbefriedigenden Realität in eine lustvollere Phantasiewelt zu flüchten.“13 Die Vermeidung oder Leugnung der Unlust erzeugenden Realität führt in die Privatheit der Krankheitsisolation mit ihrer, dem fluchtauslösenden Konflikt entsprechend verzerrten, asozialen (Ersatz-)Realität von Wahnbildungen, Halluzinationen usw.,14 einer Realität, die das erkrankte Individuum mit den sozialen Anderen nicht teilt. Aus der Berücksichtigung der Sozialdimension läßt sich somit ein Kriterium für die Unterscheidung formal ähnlicher Deutungssysteme im Hinblick auf ihren psychopathologischen Status gewinnen. Etwa in Gestalt einer an den Schöpfer oder die Schöpferin eines solchen in sich stringenten Deutungssystems (hypothetisch) zu stellenden Frage: Wie hältst Du’s mit den sozialen Anderen? – Gewissermaßen die psychopathognostische Gretchenfrage, nämlich die Frage nach dem sozialen Reflexivitätsniveau, oder genauer: nach der Reflexion der Sozialdimension – also dem Verhältnis von Ego und Alter – in dem in Frage stehenden Sinnangebot:15 Läßt Ego auch nische Wahnsystem ist freilich selten auf dem Niveau akzeptierter philosophischer und theoretischer Systeme angesiedelt und bleibt sozial isoliert, eine Privatsache des Paranoikers. Eine die Regel bestätigende Ausnahme ist hingegen der Antisemitismus, worauf verschiedentlich zurückzukommen sein wird. 8 Freud (1912/13), S. 363. 9 Vgl. Freud (1911a), S. 97 f. 10 Den Freud übrigens, wie Peter Gay bemerkt „als seine[n] Feind[] betrachtete“ (Gay (1995), S. 323). 11 Vgl. Freud (1911a), S. 163 ff.; vgl. Gay (1995), S. 314 ff. und Erdheim (1997). 12 Hier begrifflich nicht im Unterschied zu Psychosen, sondern diese mitumfassend verwendet. 13 Freud (1912/13), S. 363. 14 Vgl. Freud (1924a) u. (1924b).

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IV. Der Wahnsinn, die Genialität und das Böse

für Alter, den Anderen, gelten, was es für sich selbst beansprucht, oder beansprucht Ego eine herausgestellte Sonderposition? Stellt Ego an sich selbst die gleichen Erwartungen wie an Alter, oder nimmt Ego sich selbst aus? Die Frage nach der Selbstexemption ist die Frage nach der ‚Verrücktheit‘ des Standpunktes.16 Schultze empfiehlt in diesem Sinne, die Frage zu stellen, welche „Beurtheilung [. . .] die S. ihren eigenen Handlungen und denen fremder Personen angedeihen lässt.“ (S. 802 – H. v. A. S.) Mit dieser Fragestellung ist ein Vergleichgesichtspunkt gewonnen, den Schultze stark macht, um bezüglich der beiden ihm vorliegenden „Lehren“ (S. 811), zwischen dem „psychiatrisch einwandsfrei[en]“ ‚philosophischen System‘ Stirners einerseits und dem ‚paranoischen Wahnsystem‘ der Patientin S. zu unterscheiden (S. 815). Daß ein solcher Vergleich von Wahn und Philosophie möglich wird, und daß umgekehrt ein Kriterium notwendig wird, um überhaupt zwischen beiden unterscheiden zu können, ist bemerkenswert.17 Die von Schultze be15

Dies betrifft wiederum unterschiedliche Aspekte, etwa die Frage nach der eigenen Position und Bedeutung im Verhältnis zum sozialen Andern, und die Frage nach den sozialen Akzeptanzchancen des Sinnangebotes, was nicht zuletzt den Realismus des Deutungsangebotes betrifft: wenn beispielsweise jemand von sich behauptet, er könnte ohne technische Hilfsmittel fliegen oder sich unsichtbar machen o. ä., so wird diese Behauptung nicht dadurch weniger verrückt, daß er diese Kompetenz jedem anderen auch zugesteht. 16 Stirner-interpretationsschematisch entspricht dieser Frage, wie noch weiter auszuführen sein wird, die Differenz von All-Einzigkeit und Je-Einzigkeit, denn der All-Einzige beansprucht die Einzigkeit nur für sich, während er sie den sozialen Anderen abspricht. Je-Einzigkeit bedeutet dagegen, daß auf beiden Seiten der sozialdimensionalen Unterscheidung von Ego und Alter mit Einzigkeit zu rechnen ist und daß dies auch reflektiert wird. Siehe oben, III. 1.; siehe auch unten, VII. 1. 17 Wissenssoziologisch ist dies auch symptomatisch für die moderne Erkenntnislage nach der resonanzträchtig mit Nietzsche verbundenen Zerstörung der Metaphysik und allen daran anschließenden Skeptizismen und Relativismen, und am Vorabend des in den zwanziger Jahren einsetzenden Streites um die Mannheimsche Wissenssoziologie (in Meja/Stehr [Hg.] (1982a) dokumentiert), die den klassischsoziologischen Beitrag zur Infragestellung der strikten Unterscheidbarkeit von wahren und unwahren Realitätsbeschreibungen lieferte. All dies läßt sich als semantischer Reflex jener die moderne Gesellschaft auszeichnenden polykontexturalen Beobachtungsstruktur deuten, die über keine gesellschaftsweit unumstrittene Position verbindlicher Realitätsdeutung verfügt (vgl. Luhmann (1990c), S. 92; (1990e), S. 42 ff.; (1994a), S. 5 f.; (1994b), S. 666 ff.; (1995b), S. 392, 494 f.; sowie Fuchs (1997b), S. 100 ff., 108 ff.). Bei unüberschaubar vielen und gegensätzlichen philosophisch-weltanschaulichen Deutungssystemen, die je für sich mehr oder weniger kohärent argumentieren, wird auch die Frage nach dem Wahn- oder Wahrheitscharakter von Realitätsbeschreibungen enttrivialisiert (vgl. auch Erdheim (1997), S. 15 ff.). Unter vormodernen Bedingungen war sie dagegen leicht zu beantworten – in einer Weise freilich, die sich wiederum rückblickend als Fehleinschätzung, mitunter als Kollektivwahn, darstellen mag.

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währte Trennschärfe dieses Kriteriums bestätigt somit einerseits die prinzipielle Annäherung von Wahn und Philosophie in Form ihrer Vergleichbarkeit, verdeutlicht aber andererseits unmißverständlich ihren Unterschied. Nach der extensiven Wiedergabe der schriftlich fixierten Anschauungen der Patientin S. konstatiert Schultze, „dass diese wörtlichen Auslassungen der S. ihre Geistesstörung unzweifelhaft darthun, und ebensowenig braucht bewiesen zu werden, dass es sich um eine Paranoia handelt. Diese Diagnose kann selbst dann aufrecht erhalten werden, wenn man mit Kräpelin die bisher so beliebte und fast alltägliche Diagnose der Paranoia auf die Fälle einschränkt, in denen sich ganz langsam ein dauerndes, unerschütterliches Wahnsystem bei vollkommener Erhaltung der Besonnenheit und der Ordnung des Gedankenganges heranbildet.“ (S. 802 – H. i. O.) Auch mit diesem Verweis auf die nosographische Spezifikation der Paranoia durch Kraepelin bekräftigt Schultze die strukturelle Ähnlichkeit des paranoischen Wahnsystems der S. mit einem philosophischen System. Und auch darauf gründet er seine abschließenden differentialdiagnostischen Einschätzungen der Patientin S.: Entgegen einem früheren Gutachten „war und ist [sie] nichts weniger als schwachsinnig.“ (S. 816) Die Frage, „ob heute die Entmündigung wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche angebracht wäre“, entscheidet Schultze dementsprechend zugunsten der „Geisteskrankheit“, denn an „ihrer Psychose“, wie übrigens auch daran, daß sie „im höchsten Grade gemeingefährlich“ ist und überdies „nicht in der Lage, ihre Angelegenheiten zu besorgen“, besteht kein Zweifel (S. 817). Und es besteht ebenfalls kein Zweifel daran, „dass der Ausdruck ‚Blödsinn‘ grade bei ihr wenig angebracht“ ist, weil bei ihr „neben dem Egoismus das logische Denken die ausgeprägteste Eigenschaft ist“ (S. 817). Sie leidet an Paranoia, nicht an Demenz.18 In psychiatrie-diskursgeschichtlicher Hinsicht dokumentiert Schultzes Stirner’sche Ideen in einem paranoischen Wahnsystem also in exemplarischer Weise die Bemühungen um die Vermessung und Klassifizierung des Wahns um 1900, die Durchsetzung bestimmter nosologischer Deutungsangebote und die Konstruktion entsprechender Typen von Kranken. Stirners ‚extreme Philosophie‘ dient hierbei als Kontrastmittel, das einerseits die Paranoia als spezifische Wahnform von anderen schweren psychiatrischen Erkrankungen unterscheidbar macht und das andererseits dabei helfen soll, den ‚systematisierten Wahn‘ in seinem Verhältnis zum ‚philosophischen System‘ zu verorten, also die Grenze von ‚Wahn und Wahrheit‘, ‚Wahnsinn 18

Möglich, daß eine heutige Diagnose wiederum anders ausfallen würde und der S. eine vergleichsweise leichtere, nichtpsychotische Form der Selbst-Pathologie bescheinigen würde; aber dies ist hier nicht zu entscheiden, und auch nicht entscheidend. Wichtig ist, daß am Anfang des 20. Jahrhunderts die Patientin S. als Stirnerianerin und Paranoikerin beobachtbar war.

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und Vernunft‘ zu bestimmen. Hiermit öffnet die im engeren Sinne klinischpsychiatrische Fragestellung den weiteren Horizont epistemologischer Reflexion, und die Thematisierung Stirners in diesem fachwissenschaftlichen Kontext wird somit zugleich zum wissenssoziologisch symptomatischen Ausdruck einer gesellschaftlichen Bewußtseinslage, die sich semantisch auch im psychiatrischen Diskurs niederschlägt, sich aber keineswegs auf diesen beschränkt. Unter diesem Aspekt ist Stirner’sche Ideen in einem paranoischen Wahnsystem von exemplarischer Relevanz für die wissenssoziologische Beobachtung des modernen Selbstverständnisses, und zwar sowohl bezüglich der in ihren Selbstbeschreibungen zum Ausdruck kommenden Verunsicherung der modernen Gesellschaft in der Wahrheitsfrage als auch bezüglich der verstärkten Aufmerksamkeit für das Individuum und die Problematisierung von Individualität; beides verdichtet sich in der Frage nach der Differenz zwischen dem Einzigen als Psychotiker und dem Einzigen als Philosoph bzw. zwischen der Paranoia der Patientin S. und dem ‚extremen Individualismus‘ Stirners. In spezifisch Stirner-rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht schließlich ist Schultzes Artikel in mehrfacher Hinsicht von Interesse: a) als Quelle zum frühen konjunkturellen Verlauf der Stirner-Rezeptionsgeschichte und zu ihrer zeitgenössischen Wahrnehmung; b) als psychiatrische Konstruktion einer psychisch devianten Individualität als Fall von Stirnerianismus; c) als psychopathologischer Befund zu Stirner und seiner Figur des Einzigen; d) als strukturanalytisch anschlußfähige Beschreibung der Differenz von All-Einzigkeit und Je-Einzigkeit; e) als schematische Anwendung des Einzigen zur sozialphänomenologischen Beobachtung und typologischen Erfassung von Individuen.19 19 Es gibt jedenfalls gute Gründe, in der vorliegenden Studie die Auswertung der rezeptionsgeschichtlichen Stirner-Interpretationen mit diesem Text zu beginnen, die sich der wissenssoziologischen Perspektive und dem Interesse an der Individualitätssemantik verdanken. Andere, auch neuere Arbeiten zu Stirner nehmen typischerweise wenig mehr als den Titel von Schultzes Aufsatz zur Kenntnis, dessen relative Bekanntheit in der Stirner-Literatur (vgl. z. B. Arvon (1954), S. 185) vermutlich wesentlich auf die ablehnende Erwähnung in der Einleitung zur dritten Auflage von Mackays Stirner-Biographie von 1914 zurückgeht (vgl. Mackay (1898), S. 21 f.). Je nach Orientierung der jeweiligen Autoren erscheint Schultzes Aufsatz dann als philosophiegeschichtlich unbedeutende Kuriosität oder als absurder, anti-stirnerianischer Denunziationsversuch (vgl. z. B. Petschko (1996), S. 42; vgl. Sveistrup (1932), S. 100). Der Ideologiekritiker Hans G. Helms wiederum läßt es sich zwar nicht nehmen, auf diesen Titel zu verweisen, weiß aber im Grunde mit dem – für die Wissenssoziologie der Individualitätssemanik ertragreichen – klinisch-psychopathologischen Gedankengang nichts anzufangen; für sein ideologiekritisches Beweisziel ist z. B. der Fall des Stirnerianers Mussolini, trotz magerer Quellenlage, weitaus dankbarer (vgl. z. B. Helms (1966), S. 324 f., 552). Positive Erwähnung findet Schultzes Artikel immerhin bei Hermann Schultheiss, der ihn als das „vielleicht [. . .] interessanteste Stück in der ganzen Stirnerliteratur“ bezeichnet (Schultheiss (1906), S. 38, vgl. S. 37).

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a) Stirners Bekanntheit und ihre Ursachen Schultzes Text ist zunächst eine Quelle zum konjunkturellen Verlauf der Stirner-Rezeptionsgeschichte, wie sie sich um die Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert darstellte. Dabei ist der Publikationskontext einer psychiatrisch-neurologischen Fachzeitschrift eine wichtige Signatur des Quellenwertes bezüglich des zeitgenössischen Bekanntheitsgrades, den der Autor Schultze dem „seit einem Jahrzehnt recht modern gewordenen Philosophen“ Max Stirner zuweist. Schultze unterstellt, daß „der Inhalt des Stirner’schen Werks der Mehrzahl der Leser als bekannt vorausgesetzt werden darf“, weswegen er um Nachsicht bittet, daß er dennoch „die wichtigsten Sätze“ aus dem Einzigen nochmals in Erinnerung ruft, wobei er selbst sich ausdrücklich nicht als Fachmann für Philosophie versteht (S. 807 – H. i. O.). Bei allem Zugeständnis an ein mögliches Understatement Schultzes, an ein Kokettieren im Hinblick auf seine eigene Stirner-Kennerschaft im Verhältnis zu derjenigen seiner Zuhörer bzw. Leser, kann zumindest davon ausgegangen werden, daß die Annahme einer prinzipiellen namentlichen Bekanntheit Stirners als eines Philosophen, der „den Egoismus in seiner äussersten Form lehrt“ und ein „Vertreter des extremsten Individualismus“ ist (S. 810), eine zeitgenössische Hintergrundgewißheit zum Ausdruck bringt. Denn erstens war Schultze ja in der interaktionellen Situation seines ursprünglichen Vortrages unmittelbar mit möglichen Korrekturen dieser Kenntniszuschreibung konfrontiert; und offenbar bot ihm die Erfahrung mit seinem Auditorium keine Veranlassung, in der Druckfassung diese Kenntniszuschreibung, die hier ein viel größeres und unbestimmteres, anonymes Publikum betrifft, zu unterlassen. Zweitens darf gerade aufgrund der textinternen Argumentation, in der Schultze auch die konkrete Frage nach der Stirner-Kenntnis der Patientin S. aufwirft, erwartet werden, daß seine Einschätzung der damaligen generellen Bekanntheit Stirners realistisch ist. Drittens handelt es sich bei dem Publikum, dem Schultze die Kenntnis Stirners – vermutlich zurecht – zuschreibt, nicht um Fachphilosophen, Strafrechtler, Künstler oder Anhänger politischer Gruppierungen, denen ein gleichsam professionelles Interesse an Stirner als einem Philosophen, Nietzsche-Vorläufer oder Anarchisten unterstellt werden könnte; dann würde sich Schultzes Feststellung, daß Stirner in Mode und allgemein bekannt sei, auf einen engeren Kreis von Experten beziehen. Offensichtlich bezieht sich die Zuschreibung dieser Hintergrundgewißheit aber auf ein Publikum von Psychiatern und Neurologen, so daß man vermuten kann, daß Schultzes Feststellungen zur Bekanntheit Stirners zumindest für ein akademisch Gebildetes und lesendes Publikum gelten. Wenn somit sogar den ‚Irrenärzten‘ eine grundsätzliche Vertrautheit mit Stirner zugeschrieben werden konnte, dann ist dies eine weitere Bestätigung der wissenssoziologischen These von

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der Symptomatizität und Exemplarizität der Stirner-rezeptionsgeschichtlichen Hochkonjunktur. Es gab nicht nur eine quantitative Zunahme einschlägiger Publikationen, sondern diese waren auch Ausdruck eines allgemeineren Interesses an Stirner, der offenbar auch jenseits von Expertendiskursen zur Kenntnis genommen wurde.20 Schultze gebraucht zwar noch nicht das Wort von der „Stirnerrenaissance“21, um den gegenüber früheren Jahrzehnten immens gesteigerten Bekanntheitsgrad und die Popularität Stirners seit den 1890er Jahren zu kennzeichnen, aber er betont in diesem Sinne, daß Stirner zuvor „lange Zeit, man darf wohl sagen, recht unbekannt“ war, „besonders in weiteren Kreisen“ (S. 812). Daß dem jetzt, 1903, nicht mehr so ist, daß Stirners Werk „in dem letzten Jahrzehnt bekannter geworden [ist] als vordem“ (S. 807), führt Schultze auf vier Faktoren zurück. Erstens hat die „billige[] Reclam’sche Ausgabe“ (S. 807 – H. i. O.) des Einzigen von 1892 „Stirner dem grösseren Publikum zugänglich gemacht“ (S. 812 – H. i. O.). Zweitens kam Stirner in den Fokus strafrechtlicher „Studien über Anarchismus“ (S. 807).22 Drittens ist die neue Bekanntheit Stirners „zum Theil durch die NietzscheStrömung“ bedingt (S. 807 – H. i. O.). Viertens kommt auch der StirnerWiederentdecker John Henry Mackay, auf dessen Ausführungen zur Biographie Stirners Schultze sich stützt, zu seinem Recht; denn „den Arbeiten von Mackay muss man es wohl neben dem Nietzsche-Cultus zuschreiben, dass Stirner jetzt mehr gelesen wird.“ (S. 812 – H. i. O.) In der Berufung auf diese Evidenzen gibt Schultzes Erklärung für die Ursachen der Bekanntheit Stirners gewissermaßen den zeitgenössischen Common sense wieder, auch wenn bei anderen Beobachtern die einzelnen Faktoren teilweise anders gewichtet, um weitere Aspekte ergänzt oder in umfassenderen, zeit- und gesellschaftsdiagnostischen Zusammenhängen interpretiert werden.23 Insgesamt läßt sich jedenfalls davon ausgehen, daß Schultze am Anfang des 20. Jahrhunderts die Bekanntheit Stirners als selbstverständlich voraussetzen 20 Lexikonartikel aus dieser Zeit, die sich Stirner widmen, aber auch beiläufige Erwähnungen seines Namens in anderen Publikationen, die auf die weitere Explikation des Stirnerschen Denkens verzichten, weil es offenbar als bekannt vorausgesetzt werden konnte, fungieren in ähnlicher Weise als Indikatoren dieser basalen Bekanntheit Stirners. 21 Friedell (1927–31), S. 1073; vgl. Helms (1966), S. 296. 22 Den ereignisgeschichtlichen Hintergrund bilden terroristische Anschläge von anarchistischen ‚Propagandisten der Tat‘, die sich im Ende des 19. Jahrhunderts häuften. Siehe hierzu ausführlich unten, insbesondere V. 1. und 2. 23 Beispielsweise war die Stirner-Wiederentdeckerschaft Mackays nicht unumstritten, und neben dem ‚Nietzsche-Cultus‘ und dem strafrechtlich relevanten Anarchismus wurden bereits zeitgenössisch für das Interesse an Stirner auch weitere ideologische, soziale, zeitgeistige und künstlerisch-literarische Tendenzen und Strömungen verantwortlich gemacht. Siehe z. B. unten, VI. 1., 2. und 3.

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konnte, ebenso wie das Wissen um den ‚Nietzsche-Cultus‘ und um die thematische Relevanz des Anarchismus. Außerdem wird der Status der Makkayschen Stirner-Monographie von 1898 als Standardwerk deutlich.24 Was die von Schultze zitierte Reclam-Ausgabe betrifft, so ist sie nicht 1892, sondern 1893 erschienen. Allerdings zeigt sich Schultze auch in diesem Fehler noch als repräsentativ, denn diese „falsche Datierung“ ist „allgemein üblich“ und auf das Datum der Einleitung der 1893er Reclam-Ausgabe, die mit „Leipzig, 1892“ unterschrieben ist, zurückzuführen.25 b) Eine leibhaftige Einzige In Schultzes Augen handelt es sich bei der von ihm dokumentierten und analysierten „Weltanschauung“ (S. 807) der Patientin S. um einen spektakulären Fall von Stirnerianismus. Dementsprechend ist die Patientin S. als eine Einzige Gegenstand psychiatrischer Beobachtung. Diese Beobachtung objektiviert sie einerseits und führt im Ergebnis zur Legitimation ihrer Entmündigung. Andererseits wird sie zugleich durch die psychiatrische Beobachtung subjektiviert: Schultzes Abhandlung macht die Patientin S. zur Autorin, deren Text präsentiert und philologisch analysiert wird – bezüglich ihrer Begriffsverwendung, orthographischer Feinheiten (vgl. S. 812), und schließlich sogar im Vergleich mit der ‚Lehre‘ des zwar umstrittenen, aber anerkannten Philosophen Stirner. Darüber hinaus wird sie in der psychiatrischen Beobachtung auch, im Hinblick auf ihren Lebensweg und ihre Persönlichkeit, individualisiert. Sie bekommt eine Biographie, und Schultze betont hierbei wiederholt ihre Originalität und Kreativität, ihre vergleichsweise hohe Bildung und Intelligenz (vgl. S. 814, 816 f.): 1860 geboren, wächst die Patientin S. „fern von der Stadt, auf dem Lande, in einfachen Verhältnissen auf; sie besucht nur eine Elementarschule, wenn auch sicherlich mit gutem Erfolge, mit einem besseren als ihre Gefährtinnen; eine wei24 Mackay zeichnet auch für die im selben Jahr erfolgte Herausgabe von Max Stirner’s Kleinere Schriften verantwortlich, auf die sich Schultzes Würdigung der Arbeiten Mackays offensichtlich ebenso bezieht – und vermutlich außerdem auch auf dessen außerordentlich erfolgreichen Roman Die Anarchisten (1891), der Makkays Ruhm als Autor begründete (siehe hierzu ausführlicher unten, VI. 3.). 25 Helms (1966), S. 510. – Es handelt sich hierbei bereits um die zweite Ausgabe des Einzigen nach der (mit 1845 datierten) Erstveröffentlichung von 1844 bei Otto Wigand Leipzig; der erste Nachdruck war 1882 erschienen, als zweite Auflage im selben Verlag (vgl. Helms (1966), S. 510). Allerdings dürfte die Reclam-Ausgabe tatsächlich die wirkungsmächtigere gewesen sein, nicht nur wegen ihres Verkaufspreises, sondern auch wegen ihrer Auflagenstärke; sie wurde von 1893 an „wahrscheinlich alljährlich bis 1914 neu gedruckt“, wie Hans G. Helms aufgrund seiner Recherchen angibt (Helms (1966), S. 510). Dies spiegelt eine Nachfrage wider, die sich nicht aus der verlegerischen Entscheidung erklären läßt.

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tere Ausbildung erfährt sie nicht; später bleibt sie auf dem Lande oder nimmt eine untergeordnete Stellung, sagen wir: als besseres Dienstmädchen an. Auch späterhin ist sie nie mit Personen oder Kreisen zusammengekommen, die sich ihre weitere Ausbildung hätten angelegen sein lassen.“ (S. 814) Allerdings hat sie, wie Schultze hervorhebt, „sicherlich viel, sehr viel gelesen“ (S. 812); und außerdem „schrieb sie während ihres Anstaltsaufenthaltes sehr viel“ (S. 795). Dort führte sie „ein sehr zurückgezogenes Leben“ und verhielt sich auch „den Aerzten gegenüber [. . .] recht abweisend“ (S. 795). Sie „war schon in der Jugend auffallend still und zurückgezogen, [. . .] dabei [. . .] reizbar, empfindlich, leicht heftig. [. . .] Später litt die S., die übrigens immer zart und schwächlich war, an Bleichsucht, häufigem Nasenbluten, Herzklopfen.“ (S. 794) Die Auskunft, daß ihr „Vater [. . .] in der Jugend epileptische Anfälle gehabt haben“ und ihre Mutter „schwachsinnig gewesen sein [soll]“, zitiert Schultze allerdings mit Vorbehalt, vermutlich aufgrund seiner Erfahrung mit der Fehl-Diagnose „angeborenen Schwachsinns“ bei der Patientin S., die er ja korrigiert (S. 794). Gleichwohl bleibt die Patientin S. auch bei Schultze eindeutig eine Psychotikerin: ‚Leben und Werk der S.‘ erscheinen ausschließlich als „Anamnese“ (S. 794) und „Krankengeschichte“ (S. 812). Diese stirnerianische Autorin ist eine Geisteskranke. Als Erwachsene „zeigte sie ein finsteres, verschlossenes Wesen und vermied den Verkehr mit anderen Mädchen; sie war leicht und ohne ersichtliche Ursache gereizt, unzufrieden und machte ihren Launen in zerstörungssüchtiger Weise Luft; sie ermangelte jeder Selbstbeherrschung.“ (S. 794) Die Vorgeschichte ihrer 1892 gerichtlich beschlossenen Entmündigung veranschaulicht ihre zuvor irrenärztlich attestierte Neigung „zu impulsiven Handlungen“ (S. 794). Im Juli 1885 „versuchte sie nach einem Streite mit dem Bruder das Haus anzuzünden“, in dem die Geschwister zusammen wohnten, „und machte einen Selbstmordversuch“ (S. 794). In dieser Zeit, „Mitte der 80er Jahre“, trug sie sich bereits „mit ihren Wahnideen“ (S. 812). 1886 wurde sie wegen Reizbarkeit und Gewalttätigkeit erstmals „einer Irrenanstalt übergeben“, aus der sie „nach ca. dreiviertel Jahren [. . .] versuchsweise entlassen werden konnte“ (S. 794). Aber im September 1891 „entwendete sie ihrem Bruder über 13000 Mark und machte damit, ohne übrigens viel Geld auszugeben, eine planlose Reise nach Köln, Ostende, London, Frankfurt, Berlin, wo sie schließlich verhaftet wurde.“ (S. 794) Daraufhin folgte die erneute Einweisung in die Irrenanstalt und die Entmündigung 1892. Zum Zwecke der gutachterlichen Prüfung ihres Antrages auf „Wiederaufhebung der Entmündigung“ (S. 818) wurde sie 1895 „[s]eitens eines am Niederrhein gelegenen Amtsgerichts [. . .] der Bonner Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt [. . .] zur Beobachtung überwiesen“ (S. 794), mit dem bekannten Ergebnis der Bestätigung ihrer „Entmündigungsreife“ aufgrund des von Schultze ausführlich dargelegten psychiatri-

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schen Befundes einer Psychose (S. 817), und zwar, im Gegensatz zu früheren Gutachten, einer Paranoia mit stirnerianischem Wahnsystem. Schultze präsentiert dem Publikum mit der Patientin S. also eine Einzige aus Fleisch und Blut. c) Die Philosophie der Einzigkeit als Wahn und die Grammatik narzißtischer Pathologie Schultzes Artikel Stirner’sche Ideen in einem paranoischen Wahnsystem behandelt nicht nur den Fall der psychotischen Patientin S., sondern er ist zugleich auch eine psychopathologische Würdigung Stirners und seines Einzigen. Auch wenn Schultze zwischen dem Wahnsystem der Patientin S. und dem philosophischen System Stirners psychopathognostisch differenziert, macht er doch als Psychiater den Autor Stirner und dessen Text, der zeitgenössisch als philosophisch relevant anerkannt war, gleichfalls zum Gegenstand psychiatrischer Beobachtung. Der oben beschriebenen Möglichkeit, ein systematisiertes Wahnsystem auf seine philosophischen Gehalte und Strukturen hin zu betrachten, korrespondiert die Möglichkeit, in gleichsam umgekehrter Richtung ein philosophisch-weltanschauliches System auf seine psychopathologischen Gehalte und Strukturen hin zu analysieren. Schultze tut beides. So kommt also auch das Individuum Stirner selbst als psychiatrisches Objekt in Betracht. Was über dessen Leben bekannt ist, findet Schultze in John Henry Mackays Stirner-Biographie. Aber dies ist „herzlich gering“, insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Verwertbarkeit „zur Beurtheilung seiner Persönlichkeit vom psychiatrischen Standpunkte aus“, auch wenn manche Handlungen Stirners „uns recht sonderbar und auffallend vorkommen“, und sich die „Frage, ob Stirner selbst geisteskrank war, [. . .] sich dem Psychiater gar zu leicht aufdrängen“ wird (S. 815 – H. i. O.). Auch Stirners Mutter war, wie diejenige der Patientin S., „geisteskrank. Dass bei ihr im 50. Lebensjahre die Psychose auftrat, ist aber auch wieder alles, was darüber bekannt ist.“ (S. 816)26 Stirner selbst war, „[a]bgesehen von einer hohen Stirn“, die ihm „den Namen Stirner“ eintrug,27 „unauffällig in jeder 26

Vgl. Mackay (1898), S. 21, 207. Der Hinweis auf die Auffälligkeit der – gerne von Stirnerianern wie Rolf Engert im Zusammenhang mit ‚Empörerschaft‘ markierenden Redewendungen wie ‚die Stirn bieten‘ oder ‚die Stirn haben‘ mystifizierten (vgl. Helms (1966), S. 20) – Stirnerschen Stirn evoziert phrenologische und physiognomische Assoziationen; siehe oben, III. 4. c) bb). Seit den Physiognomischen Fragmenten des Schweizer Theologen Johann Casper Lavater (1741–1801) kommt der Stirn auch eine besondere Bedeutung in der Genie-Diagnostik zu (vgl. Lavater (1775–78), S. 298 ff.). Lavater hatte auch ein Stirnmeßinstrument erfunden und damit den Weg der Schädel27

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Weise, ohne Bedürfnisse und Leidenschaften, mit einer leichten Neigung zur Pedanterie“ (S. 816 – H. i. O.). Psychiatrisch bedenklich ist – eine weitere Parallele zur einzelgängerischen Patientin S. – „dass er gar keine Freunde hatte.“ (S. 815) Bemerkenswert ist zudem Stirners „geistige Ueberlegenheit“ (S. 816). Dies zusammengenommen besagt, „dass Stirner nichts weniger als ein Durchschnittsmensch war, ein Schluss, zu dem schon die von ihm verfasste Arbeit berechtigte“, allerdings ist „mit diesem Urtheile [. . .] nicht viel gesagt“, und „noch viel weniger [ist] die Frage endgültig zu beantworten, ob er geisteskrank war.“ (S. 816 – H. i. O.) Im Hinblick auf Stirner bleibt also der psychiatrische Befund offen, im Hinblick auf sein Werk ist er negativ; gleichwohl sind es ‚Stirnersche Ideen‘, die sich zu einem paranoischen Wahnsystem fügen. Stirners System mag also insgesamt psychiatrisch unbedenklich sein, aber es enthält offenbar Elemente, die den Kern eines paranoischen Wahnsystems ausmachen (vgl. S. 814 f). Schultze führt demnach vor, daß bestimmte Aspekte des Stirnerschen Egoismus psychotisch sind. Dabei legt Schultze wert auf die Feststellung, daß dies auf einer typisch ‚verrückten‘ Vereinseitigung beruht. Diese ‚Verrückung des Standortes‘ im Wahn der Patientin S. betrifft aber, wie ausführlicher zu zeigen ist, nur die Sozialdimension des Stirnerschen Egoismus. Die Sachdimension dieses ‚philosophischen‘ Egoismus, seine begrifflichen und konzeptionellen Formen und seine argumentativen Grundmuster, findet sich Schultze zufolge praktisch unverfälscht im paranoischen Egoismus der Patientin S. Da die Paranoia eine Form der Psychose ist, lassen sich anläßlich dieser Betrachtung des Einzigen einige der bisherigen Überlegungen28 zum Zusammenhang von Narzißmus, Egoismus und Wahnsinn in bezug auf Stirner verknüpfen und bestätigen. Als Psychose ist die Paranoia eine ‚frühe Störung‘ oder narzißtische bzw. „Selbst-Pathologie“.29 Freud hatte in seiner Schrift Über libidinöse Typen auf die Neigung des narzißtischen Typus zu psychotischen Zuständen in der Regression hingewiesen und auf dessen diesbezügliche Gefährdung bei Wunschversagungen seitens der Realität.30 Die Psychose wird ausgelöst durch eine als unerträglich empfundene narzißtische Kränkung, in deren Folge das Ich, die eigentliche Realitätswahrnehmungsinstanz der psychischen Struktur, der widerständigen äußeren Realität die Treue aufkündigt und sich auf die Seite des Lustbefriedigung fordernden Es ziehen läßt; das Ich tritt voll in den Dienst des Es und untermessung bereitet, den der deutsche Arzt Franz Joseph Gall (1758–1828) mit seiner Phrenologie erschloß (vgl. Siegrist (1984), S. 383). 28 Siehe oben, insbesondere II. 3., III. 1., 2. b) und 3. a). 29 Kohut (1981), S. 166; vgl. Kohut (1976), S. 22 ff. 30 Vgl. Freud (1931), S. 186 ff.

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wirft sich dessen Triebansprüchen. Die narzißtisch kränkende, wunschversagende Realität wird abgewehrt und geleugnet, wie es den Trieberfordernissen entspricht. Der Realitätsverlust wird in intrapsychischen konstruktiven Prozessen, etwa im Aufbau eines Wahnsystems, kompensiert. Der Wahn fungiert somit als Ersatz für die verworfene Realität, und genauer: als eine gegenüber der geleugneten kränkenden, äußeren Realität befriedigendere, wunscherfüllende, autoplastisch erzeugte ‚innere‘ Realität. Der Wahn offenbart so immer die Spuren des Konfliktes zwischen den Anforderungen des Es und den Zumutungen der Realität, zwischen denen das Ich nicht vermitteln konnte und sich infolge dessen von der Realität zurückzog, um dann die wahnhafte Realität im Dienste des Es zu kreieren.31 Eine Pointe dieser Betrachtungsweise besteht darin, daß auch die psychotische Megalomanie, z. B. auch das stirnerianische Wahnsystem der Paranoikerin S., also der alleinzige Egoismus nichts ist als der wahnhafte Ausdruck von Es-Herrschaft und Ich-Schwäche.32 Dies läßt sich im einzelnen an den stirnerianischen Ideen der S. innerhalb ihrer Selbst- und Weltdeutung zeigen. Alles zielt auf die Delegitimierung jeglicher Wunschversagung, die Abwertung einer jeden diesbezüglich widerständigen Instanz, die Leugnung ihrer Ich-Schwäche durch megalomane Selbststilisierung und gleichzeitige Rechtfertigung einer uneingeschränkten Es-Herrschaft. Unabhängig von solchen klinisch-pathologischen Fragen zur Persönlichkeit der Patientin S. sensibilisiert dieser Fall von ‚Stirnerianismus als Paranoia‘ oder ‚Einzigkeit als Selbst-Pathologie‘ in der Analyse der StirnerRezeptionsgeschichte für die textimmanente Beobachtung der Motivwelt des Narzißmus, dessen Kränkung und deren Abwehr. Dabei richtet sich die wissenssoziologische Perspektive auf den Text der Patientin S. als eine Deutung des Einzigen, die exemplarisch auf Individualitätssemantik verweist, im Unterschied zu einer psychopathologischen Perspektive, die im Interesse an der Patientin S. deren Text als Ausdruck ihrer Wahnerkrankung betrachtet. Die wissenssoziologisch perspektivierte Textanalyse ist keine Psychoanalyse, aber sie bezieht bei der Beobachtung der stirnerianischen Selbst-Darstellung und Selbst-Konzeption der Paranoikerin S. die psycho31 Vgl. Freud (1924a) u. (1924b); sowie Freud (1940), S. 67 ff., 97 ff. Dieser psychotischen Lösung steht die neurotische gegenüber, bei der das Ich, unterstützt bzw. genötigt vom Über-Ich, auf die Anforderungen des Es mit Verdrängung reagiert. Die Über-Ich-Struktur fehlt dagegen bei der psychotischen Disposition oder ist defizient. 32 Vgl. Kernberg (1983), S. 41 ff., 153 ff., 188 ff., zum Begriff „Ichschwäche“ und seiner Spezifikation, u. a. bezüglich mangelhafter Impulskontrolle, mangelhafter Sublimierungsfähigkeit und Schwächung der Realitätsprüfung. Demnach gehören zu den mit diesem strukturellen Defekt verbundenen primitiven Abwehrmechanismen Projektion, Verleugnung, Entwertung und Allmachtsphantasien.

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analytische Individualitätssemantik mit ein: nicht um die Patientin S. zu analysieren, sondern um die Figur des Einzigen zu analysieren und vor dem modernen semantischen Hintergrund der Kränkungsdiagnose und Narzißmustheorie zu verstehen.33 Im Einzigen, wie er sich im Wahnsystem von Schultzes Paranoikerin manifestiert, wird in dieser Perspektive, auch unabhängig von der darin vermutlich ebenfalls zum Ausdruck kommenden persönlichen psychischen Problematik der Patientin S., ein archaischer Narzißmus mit seinen Omnipotenz-Ansprüchen und Abwehrstrukturen erkennbar. Dieser schützt sich gegen die Kränkungen, Wunschversagungen und Enttäuschungen einer unbehaglichen Realität durch die regressive Erzeugung eines grandiosen Selbstbildes, das die eigene mangelhafte Selbstkontrolle und die faktische Ohnmacht gegenüber der widerständigen Außenwelt leugnet und zugleich den Anspruch auf Wunscherfüllung rechtfertigt. Das läßt sich im einzelnen an den Ausführungen der Patientin S. zeigen. Als Leitdifferenz ihres Egoismus fungiert die Unterscheidung ‚Recht vs. Unrecht‘ bzw., damit deckungsgleich, ‚Vernunft vs. Unvernunft‘; hinzu kommen derivative Unterscheidungen wie ‚anständig vs. unanständig‘, ‚gut vs. böse‘, ‚gesund/normal vs. krank/schwachsinnig‘ usw. Entscheidend für die egoistische Selbst-Zentrierung der Patientin S. ist, daß sie selbst prinzipiell nur auf der jeweils ersten, positiven Stelle dieser Unterscheidungen vorkommt. Recht, Vernunft usw. sind mit ihr, d. h. mit ihrem Willen identisch, „weil ich nie was will oder etwas thue, das nicht recht ist“34. Was immer sie getan hat, durfte sie, „und das war Recht, da es jedesmal mein Wille war“35. Ihr Wille ist die Quelle allen Rechts, und damit zugleich der einzige Maßstab zur Unterscheidung von Recht und Unrecht. Recht ist, was aufgrund ihres Willens geschieht, Unrecht alles andere: „Alles dasjenige, was ohne meinen Willen ist oder gegen denselben von anderen mir zugefügt worden ist, oder zugefügt wird, das ärgert und reut mich auch, weil solches alles nicht recht gewesen ist.“36 Der Identifikation ihres Willens mit dem allgemeinverbindlichen Recht entspricht dem Anspruch, privilegiert über ihre Umwelt zu verfügen und diese omnipotent zu kontrollieren: „Nur in den Fällen dürfen andere Menschen auch thun, was ich thun darf, wenn ich es ihnen entweder erlaubt oder sie es geheissen habe, oder ihre 33 Siehe auch oben, z. B. I. 4., II. 3. und III. 1. – Mit der gleichen Kontraintuitivität, wie psychoanalytisch dieser Egoismus als Ich-Schwäche erkennbar wird (gewissermaßen ein ‚Id-ismus‘), erweist sich dann wissenssoziologisch dieser Einzige als Utopie – im Sinne einer eskapistischen Semantik, die das „Heil in der Flucht“ (Neusüss (1992); vgl. Neusüss (2007), S. 15 ff.) vor den Kränkungen der Moderne sucht. 34 Zit. bei Schultze (1903), S. 796. 35 Zit. bei Schultze (1903), S. 796. 36 Zit. bei Schultze (1903), S. 798 – H. i. O.

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schon ausgeführten Handlungen meine Billigung und Gutheissung finden.“37 In der Anwendung dieses Rechtsgrundsatzes auf ihren Eigentumsbegriff zeigt sich der infantile Anspruch auf unmittelbare und widerstandsfreie Wunscherfüllung und der archaisch-narzißtische Glaube an die Allmacht ihrer Gedanken: „Wenn ich aber stehle, so bin ich deshalb doch kein Dieb, da ich immer nur stehle, was mein ist, ich also ein Recht dazu habe, weil ich dasjenige, was ich stehle, vorher, ehe ich es nehme, zu meinem Eigenthum gemacht habe, dadurch, dass ich es begehrte, wünschte und haben wollte. Daher führe ich den Diebstahl auch nur aus, um mein Eigenthum in meinen Besitz zu bringen.“38 Bereits die gedankliche Inbesitznahme eines Objektes und der bloße Wunsch, darüber zu verfügen, begründen für diese Einzige ihren Rechtsanspruch. Ihr Wille und Wunsch ist identisch mit dem Recht und dem sittlich Guten, egal, was der Inhalt dieses Willens ist. Daß dieser Inhalt regelmäßig gerade der Negation dessen entspricht, was außerhalb des Wahnsystems der Patientin S. gemeinhin als rechtmäßig oder moralisch richtig gilt, bezeugt zunächst deren paranoischen Anspruch, die Realität der Anderen vollständig ihrer Deutungshegemonie und Willenssouveränität zu unterwerfen. In den Beispielen, die die Patientin S. für ihr ‚Rechtsverständnis‘ und ‚sittliches Empfinden‘ gibt, kommt darüber hinaus der antisoziale Charakter ihrer Phantasien und Wünsche zum Vorschein: „Wenn ich lüge oder stehle oder tödte oder ehebreche oder mich theilweise oder ganz entblösse, so bin ich doch deshalb kein Lügner, kein Dieb, kein Mörder, kein Ehebrecher und keine gemeine oder unanständige Person, sondern ehrlich und anständig.“39 Was immer ihr die Wunscherfüllung versagt oder – wie reifere psychische Strukturen, die das regressive Begehren kontrollieren – versagen könnte, wird dagegen als ‚unrechtmäßig‘ und ‚unmoralisch‘ abgewertet und abgewehrt. So betrachtet sie den bereits erwähnten unmodifizierten Exhibitionismus als ihr Geburtsrecht, das nach der gleichen Logik prinzipiell jede Befriedigung aus dem polymorph perversen Spektrum infantiler Lust gestattet. „[I]ch durfte nicht allein nackend sein, als ich geboren wurde, sondern durfte mich auch beschmutzen, wie alles mögliche andere thun; auch darf ich mich jetzt noch beschmutzen, so ich es will, und ist es dann gut, wenn ich es thue.“40 Schultze stellt dementsprechend das Fehlen von Gewissen 37

Zit. bei Schultze (1903), S. 798 – H. i. O. Zit. bei Schultze (1903), S. 797 – H. v. A. S. 39 Zit. bei Schultze (1903), S. 797. 40 Zit. bei Schultze (1903), S. 797 f. – Solche, im Anfang des 20. Jahrhunderts als unzweifelhaft psychotisch eingestuften Vorstellungen, erinnern im Rückblick nach hundert Jahren an die in einigen Segmenten der ‚antiautoritären Bewegung‘ der späten 1960er und 1970er Jahre, etwa in der sich bald zur „Psychokommune“ entwickelnden „Kommune 2“, durchgeführten ‚revolutionären‘ „Erziehungsexperi38

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und internalisierten Idealstrukturen fest: „sittliche Motive sprechen kein Wort mit. Wille, Laune und Recht sind bei ihr ein und dasselbe. [. . .] Reue kennt sie ebensowenig, wie es für sie Pflichten irgend welcher Art giebt.“ (S. 803) Für die Patientin S. wäre jegliche Form von Gewissensdruck, jede Form von innerer Spannung, die ihre Selbstzufriedenheit stört, ein Unrecht: „Weil ich stets im Leben alles recht gemacht habe, darum habe und thue ich auch nichts bereuen von dem, was ich gemacht habe, da es unvernünftig und unrecht wäre, so man etwas bereuen wollte, was recht gewesen ist.“41 Äußern darf sie Reue selbstverständlich, wenn sie das will, empfinden darf sie aber keine. Denn „[d]ass ich nicht immer denke, wie ich spreche, das darf ich ja!“42 Falsch wäre es aber, wenn sie etwas, was sie getan hat, „in Wirklichkeit [. . .] bereute“43. Die bloße Existenz einer Schuldbewußtsein erzeugenden und das Lustprinzip suspendierenden intrapsychischen Instanz – eine idealisierte verinnerlichte Struktur von Werten und kritischer Selbstbeobachtung – gälte ihr als ein Unrecht.44 Wie eine solche innere Instanz für die Patientin S. ein Unrecht wäre, so ist auch generell jeder Widerstand durch die soziale wie die natürliche äußere Realität gegen ihren Willen für sie ein Unrecht und „schlecht, [. . .] gemein und unanständig“45. Beispielsweise wäre es „nicht recht“, wenn sie „sterben müsste“,46 obwohl sie dies nicht will. Der moralische Negativwert mente“, in denen kleine Kinder aktiv von Erwachsenen dazu angehalten wurden, ihren „frühkindlichen erotischen Impulsen“ zu folgen (Koenen (2001), S. 162 und S. 165 f., vgl. S. 161 ff.). Siehe auch unten, VIII. 3. a) cc). 41 Zit. bei Schultze (1903), S. 799 – H. i. O. 42 Zit. bei Schultze (1903), S. 799. 43 Zit. bei Schultze (1903), S. 799 – H. i. O. 44 Vgl. Breuer (1994), S. 193 ff., zur sozialphänomenologischen Symptomatik solcher psychischen Strukturdefekte und zu ihrem sozialpathologischen Bedeutungszuwachs in den letzten hundert Jahren. Im Anschluß an Kohuts narzißmustheoretische Studien führt Breuer die in der modernen Gesellschaft beobachtbare Zunahme selbst- wie fremdschädigenden Verhaltens von Individuen, z. B., mit Blick auf die seit Anfang der 1990er Jahre zunehmenden rechtsextremistischen Gewalttaten, die „jüngste nachtmahrische Erscheinung eines vorwiegend aus männlichen Jugendlichen bestehenden Mobs, der seine brüchige Identität zu stabilisieren versucht, indem er Ausrottungsfeldzüge gegen die Personifikationen seiner unbewußten Ängste führt“, auf das „Fehlen jener psychischen Instanz, in die Werte sich implantieren lassen“, zurück, also auf die Zunahme von Selbst-Pathologien bzw. auf psychischen „Strukturabbau“ infolge mißlungener Primärsozialisationsprozesse (Breuer (1994), S. 193). Breuer verbindet die individualpsychologische Beobachtung narzißtischer Störungen – v. a. Scheitern von Internalisierungsprozessen im Bereich der Idealisierung –, sozialpsychologisch vermittelt mit der soziologischen Beobachtung der modernen Gesellschaft zu einer global düsteren Gegenwartsdiagnose. Die massenmediale Realitätsbeschreibung gibt ihm tagtäglich in vielen Einzelbeobachtungen des Zusammenhanges von Delinquenz und psychischer Abnormität recht. 45 Zit. bei Schultze (1903), S. 797.

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dient der Abwehr der Kränkung durch Abwertung, hier am „heikelste[n] Punkt des narzißtischen Systems“,47 der individuellen Sterblichkeit als Inbegriff naturnotwendiger Einschränkungen, aber auch gegenüber allen Formen der kulturellen Versagung. Der Abwertung der widerständigen Realität entspricht auf der anderen Seite, also auf der Seite ihres Willens, eine grandiose Selbstaufwertung durch die Identifikation ihres Willens, oder ihrer „Laune“ (S. 796) und ihres Rechts, mit der Vernunft, die ihrerseits naturalisiert wird. „Meine vollständige, vollkommene Vernunft sowie mein vollständiges und vollkommenes Recht ist mit mir geboren und besass ich es vom ersten Augenblick; ich hatte bloss noch nicht sofort die Fähigkeit, von allem persönlich vollständigen Gebrauch machen zu können, weil der Körper erst wachsen musste.“48 Daraus folgt unmittelbar ein Anspruch auf unbedingte Zuwendung und Wunscherfüllung durch die soziale Umwelt, der sie sich in grandiosem Exhibitionismus präsentiert: „Mein nackender Eintritt in die Welt war meine erste Ausübung meines Rechts. Sofort als ich da war, hatte ich die zweite Ausübung meines Rechts, die Forderung an meine Umgebung zu stellen, alles Nöthige an Hülfe, Nahrung und Kleidung mir zu geben“.49 Dieser infantile „Anspruch auf Hülfe, Erhaltung und Pflege meines Körpers und Lebens“50 besteht in unmodifizierter Weise fort und richtet sich insbesondere an „die Obrigkeit“, aber auch an alle anderen Menschen, ausgenommen allerdings die „Schwachsinnigen, [. . .] weil denen die Fähigkeit, Urtheile und Rechtsbegriffe zu haben und zu bilden, abgeht“.51 „Wenn nun aber die Obrigkeit mich verhaftet, so ich ein Recht ausübe und nackend umherlaufe, oder stehle oder morde, so handelt sie pflichtwidrig und dumm, weil sie, die doch dazu da ist, mein Recht zu schützen, sich anmaasst, Mich und mein Recht zu verfolgen, und sind normale Menschen, die mein Recht nicht anerkennen oder es nicht glauben wollen, dass ich alles thun darf, böse Menschen.“52 Schultze bringt diesen Gedanken auf den Punkt: „Für die S. giebt es nur Rechte, für alle andern nur Pflichten oder vielmehr nur eine Pflicht, nämlich die, den Willen der S. zu erfüllen.“ (S. 805) Dies ist eine Vorschrift jener ihr angeborenen Vernunft, die für die Patientin S. allein maßgeblich ist: „[I]ch brauche gar nichts zu thun, was die Gebote Gottes oder die Gesetze der Obrigkeit vorschreiben, sondern ich 46 47 48 49 50 51 52

Zit. bei Schultze (1903), Freud (1914a), S. 67. Zit. bei Schultze (1903), Zit. bei Schultze (1903), Zit. bei Schultze (1903), Zit. bei Schultze (1903), Zit. bei Schultze (1903),

S. 798. S. S. S. S. S.

797. 797 – H. i. O. 798. 799. 799.

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habe mich nach den Gesetzen der Vernunft zu richten, welche bei mir höher steht als Gott und die Obrigkeit.“53 Die Konzeption von der Angeborenheit ihrer Vernunft und Rechte unterstreicht zum einen die Unantastbarkeit ihres grandiosen Vollkommenheitsanspruchs, zum anderen identifiziert sie diese Perfektion mit der infantilen Bedürfnisstruktur, deren Drängen auf unmittelbare Befriedigung dadurch rationalisiert wird. Unverzügliche Wunscherfüllung ist vernunftgemäß. Denn ihre Vernunft ist ihr nicht „anerzogen oder beigebracht [. . .] durch Erziehung. Nein, die Vernunft ist in mir selbst und mir angeboren, [. . .] mit meinem Körper war [. . .] meine Vernunft zur Welt gekommen.“54 Ihre vernünftige und moralische Vollkommenheit schließt die Möglichkeit einer auch nur situativen Irrationalität ihres Willens aus: Mit ihrer grandiosen Selbstkonzeption leugnet sie die Möglichkeit eines pathologischen Mangels an Selbstkontrolle. Und sie wehrt diesbezügliche Einwände der sozialen Umwelt ab, indem sie diese für irrelevant erklärt und sich so gegen narzißtische Kränkungen ihres Selbstbildes immunisiert. Sie leugnet die Realität, wie die sozialen Anderen sie deuten, indem sie diese Anderen abwertet. „[W]er mich als eine schlechte Person bezeichnet oder als krank, der ist selbst schlecht oder krank, denn ein ehrlicher und gesunder Mensch wird mich nie als schlecht oder krank bezeichnen. Ich bin weder eine kranke noch eine schlechte Person, sondern ich bin eine gesunde, vernünftige, ehrliche und rechtschaffene Person.“55 Dies ist ein ähnlicher Mechanismus, wie er, in sozialisierter Form, bei der hermetischen Realitätskonstruktion von Sekten anhand der Unterscheidung von Auserwählten und Unqualifizierten beobachtbar ist: wer das Charisma des Führers nicht anerkennt, dem ist eben nicht zu helfen, der gehört nicht dazu, ist unwürdig; wer den Charismatiker verehrt, erweist sich darin als selbst charismatisch qualifiziert. Dementsprechend fordert auch die Patientin S. die vorbehaltlose Affirmation ihres Selbstbildes und die diesem gemäße Unterwerfung unter ihren Willen. „[V]on normalen Menschen fordere und verlange ich, dass sie mein Recht anerkennen und in Schutz nehmen, wie es auch die Pflicht der Obrigkeit ist.“56 „[S]o denke ich [. . .], dass ich von jedem Menschen die Gutheissung meiner Behauptung und das Glauben an dieselben zu fordern berechtigt bin.“57 Im Sinne der oben entwickelten Terminologie läßt sich dies als charismatisches Kommunikationsangebot bezeichnen,58 das freilich in diesem Fall scheitert; es prallt gleichsam an den Mauern der Nervenklinik ab. 53 54 55 56 57

Zit. Zit. Zit. Zit. Zit.

bei bei bei bei bei

Schultze Schultze Schultze Schultze Schultze

(1903), (1903), (1903), (1903), (1903),

S. S. S. S. S.

797. 798. 799. 799 – H. i. O. 799.

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Das Ausbleiben dieser Bestätigung führt aber nicht zu einer realistischen Korrektur ihrer Selbstkonzeption: „Ich selbst bin und bleibe bei meiner inneren Ueberzeugung und Gesinnung, dass ich alles darf, was mich gelüstet, und ich darf es auch gradeaus sagen, dass ich nicht schlecht bin, wohl aber zu allem fähig.“59 Ihre diesem narzißtischen Omnipotenzanspruch entgegenstehende reale Ohnmacht leugnet sie in ihrer grandiosen Selbstkonzeption einerseits durch den Verweis auf ihre moralische Superiorität: „[I]ch thue nicht darum nicht alles, was ich darf, weil ich mich fürchtete, sondern aus Wohlwollen und Gutheit gebrauche ich nicht jedes meiner Rechte.“60 Andererseits droht sie bei fortbestehender Zurückweisung ihrer Ansprüche mit dem Entzug ihres Wohlwollens und ergeht sich in Rachephantasien. „Denn ebenso kühn, boshaft und muthig, wie ich stets war, gerade so bin ich auch noch, und ich werde es auch bleiben; denn dazu habe ich das Recht, böse und boshaft zu sein, und es ist auch ganz gut, dass ich es bin. Und so gutmüthig, wohlwollend und theilnehmend wie ich bin, gerade so böse, rachgierig und streitsüchtig kann ich auch sein, und werden, so es gilt, für mein Recht einzutreten.“61 – Der Befund der höchstgradigen Gemeingefährlichkeit der Patientin S. und ihres „querulatorischen Charakter[s]“ (S. 817) stützt sich nicht zuletzt darauf, daß der psychiatrische Gutachter Schultze diesen zuletzt formulierten Aspekt der Selbsteinschätzung seiner Patientin S. für realistisch hält, im Gegensatz zu allen anderen ihrer Selbststilisierungen. Schultze bemerkt zusammenfassend zur Sachdimension des Wahnsystems der Patientin S., also ihrer Identifikation von „Vernunft, Wille, Recht“ (S. 806) in Differenz zu allem, was nicht ihrem Willen entspricht und daher unrecht, unvernünftig usw. ist: „Eine erstaunlich einfache Lebensmaxime, dass sie alles thun und alles lassen darf, was sie nur will“ (S. 803 – H. i. O.). Mit ihrem absoluten Willen befindet sich diese Einzige, vollkommen vernünftig und mit einem Rechtsanspruch auf Omnipotenz, allen Dezentrierungen, Versagungen und Kränkungen trotzend, grandios im Zentrum der Welt. Die Absolutheit ihres Willens in seiner vollkommenen Vernunft und moralischen Perfektion gilt ebenso in der Zeitdimension, also im Verhältnis der Gegenwart zur Vergangenheit und Zukunft. So wie sich ihr absoluter Wille in der Gegenwart nicht einschränken läßt, bzw. jeder gegenwärtige Widerstand gegen diesen Willen illegitim ist, so legt sich dieser Wille auch im Blick auf Vergangenheit und Zukunft keine Beschränkungen auf. Und dies bedeutet, daß sich die Patientin S. auch nicht durch vergangene eigene 58 59 60 61

Siehe oben, III. 4. b). Zit. bei Schultze (1903), S. 799 f. Zit. bei Schultze (1903), S. 800. Zit. bei Schultze (1903), S. 800.

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Entscheidungen oder zukünftige Ziele binden läßt. Ihr absoluter Wille ist immer der gegenwärtige Wille, für den seine eigene Vergangenheit und Zukunft nur insoweit gelten, als diese die gegenwärtige Absolutheit bekräftigen: die Vergangenheit ihrer angeborenen Vernunft und Rechtsansprüche begründet die Absolutheit ihres gegenwärtigen Willens, und dieser Absolutheit entspricht ein Interesse an der auch zukünftigen Garantie ihrer Rechte, aus der sich konkret die Unrechtmäßigkeit und Unvernünftigkeit ihrer Entmündigung ableitet. Das bedeutet aber nicht, daß sich der absolute Wille an dauerhaften Präferenzen orientierte, die ja die Souveränität seiner absoluten Gegenwart – seine Spontaneität und Impulsivität – negieren würden: Vernünftig ist, was die Patientin S. jetzt, augenblicklich will, und daher wäre es unvernünftig, aufgrund vergangener oder im Blick auf zukünftige Willensbekundungen, diesen gegenwärtigen Willen nicht zu realisieren. Selbstverständlich ist auch, was immer sie in der Vergangenheit wollte und in Zukunft wollen wird, vernünftig, aber es muß nicht mit dem gegenwärtig Gewollten übereinstimmen. Deswegen kann sie beispielsweise Arbeitsstellen wechseln und „ausser Dienst“ bleiben, so oft sie will, weil sie ja „berechtigt [ist], ganz nach meinem Willen und meiner Laune darin zu handeln“,62 ohne daß die bei Stellenantritt eingegangene Verpflichtung hierbei eine Rolle spielen könnte; denn so wie sie damals die Stelle wollte, so will sie sie jetzt eben nicht mehr. Und „dass ich die Entmündigung aufgehoben wissen will“, dazu sieht sie sich zwar sogar „verpflichtet [. . .], weil ich sonst Unrecht thäte und mein Recht vernachlässigte“,63 denn, wie Schultze betont, sie will „sich für die Zukunft hinsichtlich ihrer Handlungen nicht die mindeste Beschränkung auferlegt wissen“ (S. 806); nicht für die Zukunft, aber eben auch nicht durch die Zukunft: Wenn sie will, darf sie sich „selbst körperlich krank machen“,64 sich „absichtlich verstümmel[n]“ oder sich sogar „absichtlich das Leben nehme[n]“,65 ohne Rücksicht auf die Folgen für die zukünftige Ausübung ihrer Rechte. An dieser Ablehnung jeglicher die Gegenwart überschreitenden Selbstbindung des Willens – weder aufgrund seiner Vergangenheit, noch im Hinblick auf seine Zukunft – tritt das Problem ihrer Zurechnungsfähigkeit und Selbstbeherrschung in aller Deutlichkeit hervor. Die grandiose Selbstkonzeption, die vollkommene Vernünftigkeit ihres Willens und der damit verbundene Anspruch auf dessen vollständige Ungebundenheit rechtfertigt einen gleichsam primär-narzißtischen „Absolutismus der Wünsche“66, dem 62 63 64 65 66

Zit. bei Schultze (1903), S. Zit. bei Schultze (1903), S. Zit. bei Schultze (1903), S. Zit. bei Schultze (1903), S. Blumenberg (1979), S. 14.

796. 800 f. 802. 798 – H. i. O.

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die Patientin S. nicht nur ihre Umwelt, sondern auch sich selbst unterwirft. Die Rationalisierung eines prinzipiellen Anspruchs auf spontanes Impulshandeln, das nicht nur Fremd- sondern auch Selbstbindung ausschließt, zur ‚vernünftigen‘ Selbstbestimmung, leugnet den faktischen Mangel an Selbstkontrolle bzw. Selbstbeherrschung. Dadurch wird eine potentiell kränkende Selbsteinsicht abgewehrt.67 Daß es, wie Schultze betont, „für sie keinen Unterschied giebt zwischen Vernunft und Wille“, legitimiert zwar ihren Willen in all seiner Unberechenbarkeit als „ihr einziges Motiv des Handelns“ und zugleich als Instanz, die „über Recht und Unrecht Aller entscheidet“ (S. 806) – und all dies „mit einer strengen, unerbittlichen Logik“ (S. 807). Aber „[s]ie verschliesst sich der Einsicht, dass ihr System practisch nicht durchführbar ist.“ (S. 807) Ihr archaischer Omnipotenzanspruch ist unrealistisch, insbesondere vor dem Hintergrund ihrer faktischen Lebenssituation. Im Grunde artikuliert dieses Wahnsystem den absolut-narzißtischen Allmachtsanspruch nicht nur der frühen Kindheit, sondern auch des phylogenetisch archaischen Urvaters – aber auch seiner modernen Wiedergänger in Gestalt von (Sekten-)Führern, deren Willen unmittelbare Verbindlichkeit für die Anhängerschaft besitzt; letzteres relativiert zwar Schultzes prinzipiellen Einwand der Impraktikabilität, verdeutlicht aber den regressiven und pathologischen Charakter derartiger sozialer Phänomene in der Moderne. Insgesamt stellt nun Schultze bis hierher fest, daß – von der „nicht unwesentliche[n] Abweichung[]“ in der Frage der Erziehung abgesehen, die die Patientin S. für sich als schlechthin „überflüssig“ sieht, während Stirner sich zwar ebenfalls „von der üblichen Erziehung herzlich wenig verspricht“, diese aber durch eine eigene „Pädagogik ersetzen“ will (S. 813)68 – „die 67

Man könnte mit Freud von einer psychotisch verzerrten Abwehr der ‚dritten Kränkung‘ sprechen (vgl. Freud (1915–17), S. 226; Freud (1917a), S. 190 ff.): die Einsicht, daß das Ich nicht Herr im eigenen Hause ist, die nach dem psychoanalytischen Aufklärungsverständnis die Voraussetzung dafür ist, dieses Ich zu stärken und ihm so zur Herrschaft zu verhelfen – „Wo Es war, soll Ich werden“ (Freud (1933), S. 81; vgl. Freud (1923), S. 292) – wird dadurch negiert, daß sich das Ich vorbehaltlos mit den Ansprüchen des Es identifiziert, so daß die faktische Es-Herrschaft gewissermaßen zur Ich-Herrschaft erklärt wird – ‚mein Wille = Vernunft‘ –, allerdings um den Preis des Realitätsbezuges des Ichs, das sowohl auf die kränkende Selbsterkenntnis seiner Schwäche als auch auf die Chance seiner Stärkung verzichtet. 68 Man kann hierin die Differenz ums Ganze bezüglich der Legitimität unmodifizierter archaischer Wünsche sehen: In der von Schultze nahegelegten Deutung Stirners würde dieser für einen ‚reifen‘ Willen optieren, dessen Inhalte zumindest teilweise andere wären, als die infantilen Wünsche, die die Patientin S. artikuliert. Es stellt sich dann allerdings die Frage, wie es zu einer solchen Reifung kommen kann und nach welchen Kriterien diese beurteilt werden könnte. In einer berüchtigten

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Lehre Stirner’s [. . .] dem Gedankengange unserer Kranken ganz ausserordentlich gleicht.“ (S. 810 – H. i. O.) Dies demonstriert Schultze anhand von einschlägigen Zitaten aus Stirners Einzigem (vgl. S. 808 ff.) und in Rekapitulation des Stirnerschen Egoismus „in aller Kürze“: „Was Stirner vermag, das darf er; an die Stelle des Begriffs ‚Recht‘ ist bei ihm der Begriff ‚Macht‘ gestellt. Er kennt nur Rechte, keine Pflichten, Staatliche Gesetze, kirchliche Gebote, sittliche Normen sind für ihn eitel Spuk, Einbildung; er ist überhaupt an keine Autorität gebunden. Was er heute will, kann er eben morgen widerrufen, wenn’s ihm passt und vorteilhafter erscheint. In die Rechte Anderer darf er eingreifen, soviel und soweit er vermag, und deren Handlungen sind ihm recht, soweit sie nicht seine Interessen durchkreuzen.“ (S. 810 – H. i. O.) Von einigen terminologischen Details – der „Wille“ der Patientin S. entspricht der „Macht“ Stirners, aber beide sind rechtsbegründend (S. 810 f.) – und dem unterschiedlichen begrifflichen Niveau der Argumentationen abgesehen (vgl. S. 813), stimmt also, Schultze zufolge, Stirners Egoismus grundsätzlich mit dem paranoischen Wahnsystem der Patientin S. überein – allerdings nicht in einem entscheidenden Punkt, auf den bereits hingewiesen wurde, nämlich die Konzeption der Sozialdimension, des Verhältnisses von Ego und Alter. „Trotz aller Uebereinstimmung in den Grundzügen der beiden Lehren besteht [. . .] ein principieller Unterschied. Was die S. sagt, das gilt nur für sie allein, für keinen andern Menschen; die Stellung aber, die Stirner für sich in den Darlegungen seines Werkes beansprucht, räumt er auch jedem andern ein; und wenn er immer seine eigene Person reden und handeln lässt, so sieht er sich dabei nur als ein Beispiel an.“ (S. 811 – H. v. A. S.) Aussage Stirners, die auch Schultze zitiert, kommt diese Problemverschiebung pointiert zum Ausdruck: „Ich aber bin durch Mich berechtigt zu morden, wenn Ich Mir’s selbst nicht verbiete“ (zit. n. Schultze (1903), S. 808; bei Stirner, EE, S. 208). Warum sollte dieses Ich sich aber selbst verbieten zu morden? Arnhelm Neusüss hat in einem anderen Zusammenhang (mündliche Auskunft, Mitte 1990er Jahre) die Antwort vorgeschlagen: ‚Weil Ich so sozialisiert worden bin.‘ Dies entspräche einer Lesart des Einzigen, die von einem reifen Ich ausgeht, dessen Selbstaneignung darin besteht, daß es sich mit sich selbst als dem Ergebnis eines auch heteroplastischen Sozialisationsprozesses identifiziert, also auch mit den in diesem Prozeß erworbenen – beispielsweise auch Mord verbietenden – Idealen. Dieses Ich wird sich so der Internalisierung dieser Ideale bewußt, eignet sie sich darin an und überwindet die Heteronomie in der selbstgewählten Akzeptanz der Idealstruktur – im Gegensatz zu ihrer projektiven Abstoßung in Verbindung mit der Externalisierung von Schuld. Dieser Einzige übernähme dann generell die Verantwortung für sein Sosein, in einer radikalen Selbstverantwortlichkeit, die sich auch die Folgen heteronomer Einflüsse auf die eigene Existenz in einer bewußten Fiktion selbst zurechnet. Eine solche (existentialistische) Lesart des Einzigen steht an dem der hier behandelten Deutung des Einzigen bei Schultze entgegengesetzten Ende des Interpretationsspektrums. Siehe z. B. unten, VII. 3. b) aa) (1).

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d) All-einzige Selbstexemption vs. je-einzige Sozialreflexivität und die Paranoia als psychiatrisches Individualidentitätsangebot Ernst Schultzes Text thematisiert also die im vorliegenden Untersuchungszusammenhang mit ‚All-Einzigkeit vs. Je-Einzigkeit‘ bezeichnete, interpretationsschematische Unterscheidung, anhand derer sich die verschiedenen rezeptionsgeschichtlichen Deutungen des Einzigen bezüglich ihres jeweils darin transportierten Verständnisses der Sozialdimension, also der Ego-Alter-Relation, ordnen lassen. Der Begriff der All-Einzigkeit wurde oben (siehe III. 1.) zur Bezeichnung einer sozial asymmetrischen Relation eingeführt, bei der nur eine Seite der sozialdimensionalen Unterscheidung von Ego und Alter ‚einzig‘ ist; der Einzige hat dann keinen anderen Einzigen gegenüber, sondern ist als Einziger allein: der alleinige Einzige, also All-Einzige. Je-Einzigkeit dagegen bezeichnet eine in dieser Hinsicht sozial symmetrische Relation, bei der beide Seiten der sozialdimensionalen Unterscheidung von Ego und Alter als ‚einzig‘ markiert sind; jeder Einzige hat es dann allenthalben mit anderen Einzigen zu tun, von denen jeder je für sich ein Einziger ist, also Je-Einziger, wobei jeder Je-Einzige um diese JeEinzigkeit weiß, also jedes einzige Ego um die Einzigkeit Alters und umgekehrt. Insofern bezeichnet Je-Einzigkeit ein höheres soziales Reflexivitätsniveau als All-Einzigkeit. Der konzeptionelle Fluchtpunkt der All-Einzigkeit ist die solipsistische Extremposition der Leugnung bzw. Annihilierung der Sozialdimension überhaupt: eine Position, in der der All-Einzige nicht nur der alleinige Einzige in einer Welt von Nicht-Einzigen ist, sondern allein in der Welt bzw. mit dieser identisch, als All-Einiger: als einziges Ego in einer Welt ohne Alter. Typischerweise befindet sich aber, wie im Fall des Charismatikers, der All-Einzige in einer Welt von nicht-einzigen, daher von diesem als minderwertig betrachteten und behandelten Individuen. In dieser, dem all-einzigen Überlegenheitswahn entsprechenden Abwertung des sozialen Anderen liegt die konstitutiv antisoziale Struktur der All-Einzigkeit, wie dies zunächst exemplarisch an Schultzes Paranoikerin S. zu sehen ist. Für beide Interpretationsschemata finden sich Textevidenzen in Stirners Einzigem, für die All-Einzigkeit69 wie für die Je-Einzigkeit70, auf die sich die verschiedenen rezeptionsgeschichtlichen Auslegungen des Einzigen, die Gegenstand der vorliegenden Arbeit sind, jeweils selektiv beziehen können, 69 „Ich bin aber nicht ein Ich neben andern Ichen, sondern das alleinige Ich: Ich bin einzig.“ (Stirner, EE, S. 406) „Ich bin Eigner der Menschheit, bin die Menschheit“ (S. 271). 70 „Etwas hat nun aber Jeder vor dem Andern voraus, nämlich sich selbst oder seine Einzigkeit: darin bleibt Jedermann ausschließlich oder exklusiv.“ (Stirner, EE, S. 227) „[W]erdet Egoisten, werde jeder von Euch ein allmächtiges Ich.“ (S. 181 – H. i. O.).

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um ihre Deutungen der All- bzw. Je-Einzigkeit als Stirner-Interpretationen zu plausibilisieren. In ähnlicher Weise wie Schultze die Differenz von Je-Einzigkeit und AllEinzigkeit fokussierend, konstatiert beispielsweise auch Eduard von Hartmann71 in Stirners Verherrlichung des Egoismus: „Die Frage ist zuletzt dahin zu stellen, ob Jeder ein Einziger sei [. . .], oder ob nur Ich es bin; wenn es Jeder ist, so ist ja die Einzigkeit nichts mehr, was ich vor den andern voraus habe, sondern etwas abstrakt Allgemeines. Soll ich der wahrhaft Einzige sein, so darf kein anderer neben mir sein, der auch einzig ist, so müssen die andren Ichs ein blosser Spuk in Mir und für Mich sein und ich allein die Welt.“72 Während Schultze diese zweite, all-einzige Auslegung nur dem ‚verrückten‘ Standpunkt seiner Paranoikerin S. zuschreibt und in Stirner den Vertreter der ersten von Hartmann beschriebenen, je-einzigen Position erkennt, ist also für Hartmann bereits die von Stirner selbst entwickelte Konzeption als All-Einzigkeit zu verstehen: „Wahrhaft folgerichtig und in sich geschlossen ist Stirners Weltanschauung nur, wenn man sie als absoluten Illusionismus deutet. Ich als Bewusstseinsform bin dann absolut, weil ich das einzige Bewusstsein des Welttraumes bin, der kein Subjekt mehr hinter sich hat, sondern als Traumillusion auf dem Nichts ruht. Ich als Selbstbewusstsein oder als leibliches Ich bin dagegen nur die erste Person im Traume, und als solche ebenso illusorisch wie die übrigen, unter denen sie sich zu bewegen scheint. Ich als Bewußtseinsform des Welttraumes darf dann mit all Meinem Inhalt nach Belieben spielen, weil ich es nur mit Traumeinbildungen zu thun habe, Niemand verletzen und Keinem wehe thun kann.“73 Hartmann legt damit ein solipsistisches Verständnis des (All-)Einzigen nahe, wie es im folgenden Abschnitt im Zusammenhang mit der All-Einzigkeits-Deutung Oskar Panizzas in seiner Struktur und seinen Konsequenzen ausführlicher zu betrachten sein wird. Für Schultze indes, als Befürworter einer je-einzigen StirnerDeutung, ist die Unterscheidung von All-Einzigkeit und Je-Einzigkeit – oder die Frage: ‚Gestehe ich jedem anderen Einzigkeit zu wie mir selbst?‘ – sowohl pathognostisches Kriterium als auch Maßstab der wahren Stirner-Interpretation. Seine Patientin S. vertritt eine all-einzige Position: Einzigkeit „gilt nur für sie allein, für keinen andern Menschen“ (S. 811). Die Paranoikerin S. ist also eine All-Einzige. Der Philosoph Stirner dagegen propagierte mit seinem „extremsten Individualismus“ (S. 810), Schultze zufolge, eine Einzigkeit, die „er auch jedem andern ein[räumt]“, also die Je-Einzigkeit, für die er sich selbst „nur als Beispiel an[gibt]“ (S. 811). Insofern ist der recht verstandene Stirner, der ‚wahre Stirner‘, für Schultze ein Je-Einziger. 71 72 73

1842–1906. Hartmann (1897), S. 90 – H. i. O. Hartmann (1897), S. 89 f.

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Diese sozialdimensionale Unterscheidung ist das systematische Zentrum in Schultzes psychopathologischer Betrachtung. „[D]ie S. beansprucht für sich allein die Stellung, die Stirner nicht nur sich, sondern auch jedem seiner Mitmenschen einräumt. Durch diese Umgestaltung wird aber das Stirner’sche System zu einem System paranoischer Natur, da der Träger der Ideen für sich eine ganz besondere Stellung, eine objektiv nicht gerechtfertigte, durch Thatsachen nicht gestützte Bevorzugung gegenüber der Mitwelt verlangt“ (S. 814 – H. i. O.). Der Hinweis auf die Möglichkeit einer objektiv durch Tatsachen gestützten Rechtfertigung eines Einzigkeitsanspruches impliziert, daß bestimmte Individuen aufgrund der sozialen Wertschätzung, die ihre Handlungen, Fähigkeiten und Werke im Lichte gesellschaftlich gültiger Wertmaßstäbe genießen, oder aufgrund ihrer sonstigen sozial zugeschriebenen Bedeutung in ihren grandiosen Ansprüchen zurecht affirmiert werden, der Deutsche Kaiser beispielsweise oder die ‚großen Persönlichkeiten‘, die im Mittelpunkt des im ausgehenden 19. Jahrhunderts blühenden Genie-Kultes standen;74 hier setzt dann, soziologisch betrachtet, das Phänomen der Konstruktion von Charisma an.75 Ernst Schultze verfolgt diesen Gedanken allerdings nicht weiter, denn schließlich beansprucht seine Paranoikerin S. ihre „gradezu majestätische[] Stellung“ (S. 812) zu Unrecht und in vollkommen unrealistischer Weise. „Das ist ja gerade das Charakteristische für den Paranoiker, dass seine Stellung verschoben, verrückt wird. Davon kann aber bei Stirner keine Rede sein, da ja allen Individuen von ihm die gleiche Stellung eingeräumt wird, wenn auch diese neue Stellung durchaus von der bisher den einzelnen Individuen zugebilligten Stellung abweicht. Stirner lässt eben keine Unterschiede mehr gelten, sondern concediert jedem das gleiche Recht und deshalb ist sein System vom psychiatrischen Standpunkte einwandsfrei, was von dem der S. nicht gilt.“ (S. 814 f. – H. i. O.) Die Unterscheidung von All-Einzigkeit und Je-Einzigkeit ist bei Schultze also deckungsgleich mit der klinischen Unterscheidung von Krankheit und Gesundheit.76 Damit ist allerdings noch nichts zur „Frage der practischen Brauchbarkeit und der inneren Berechtigung der Stirner’schen Ideen“ gesagt; vom ethischen Standpunkt betrachtet, erscheint die Verwirklichung der Stirnerschen Ideen nicht nur in ihrer paranoischen, sondern auch in ihrer philosophischen Version äußerst dubios: „Wenn die Ansichten der S. in die Wirklichkeit übersetzt würden, wäre die practische Folge ein Kampf der S. gegen die ganze Welt, während aus der Uebertragung der Stirner’schen Ideen in die Praxis ein Kampf Aller gegen Alle resultiren würde.“ (S. 811 – H. i. O.) Je74 75 76

Vgl. Breuer (1994), S. 145 f. Siehe oben, III. 4., insbesondere c). Man könnte auch reflexionslogisch sagen: Selbstexemption ist Wahnsinn.

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denfalls erweist sich auch in dieser Hinsicht die Unterscheidung von AllEinzigkeit und Je-Einzigkeit als folgenreich, auch wenn die psychiatrische Unbedenklichkeit der Je-Einzigkeit nicht gleichbedeutend ist mit politischer Ungefährlichkeit. Für die konstruktivistisch-wissenssoziologische Beobachtung der StirnerRezeptionsgeschichte ist Schultzes Text daher einerseits wegen dieser Grundunterscheidung von All-Einzigkeit und Je-Einzigkeit von Bedeutung. Bei anderen Stirner-Interpreten werden Variationen dieser Grundunterscheidung, wie sie bei Schultze sowohl als pathognostisches Kriterium als auch als Maßstab angemessener Stirner-Interpretation vorliegt, zu beobachten sein.77 Andererseits ist Schultzes Text wegen der ausführlichen Darstellung der einen Seite dieser Unterscheidung wichtig, nämlich einer Extremposition der All-Einzigkeit: Was sich bereits aus der Logik des absoluten Willens der Patientin S., ihren egozentrischen Äußerungen und aus den diesbezüglichen Ausführungen Schultzes erschließen ließ, wird von ihr auch explizit formuliert: Außer ihrer Vernunft, sagt die Patientin S., gehen „[a]lle sonstigen Gesetze [. . .] mich nichts an und gelten nicht für mich, sondern nur für andere Menschen, weil alle andern Menschen aus sich nicht wissen, was Recht ist, bloss ich, und weil die anderen Menschen alle Sünder sind, bloss ich nicht. Das heisst: in solchen Fällen sind sie alle Sünder, wo sie Handlungen begangen haben, die ich sie nicht geheissen habe, oder erlaubt habe, oder die ich nicht recht und gut heissen kann.“78 Nur sie kann entscheiden was recht oder unrecht ist, weil nur sie Vernunft hat – und deswegen ist auch sie allein, bzw. all-einzig, rechtlich privilegiert: „Und andere Menschen dürfen deshalb nicht Alles, was ich darf, weil ich das Recht von meiner Vernunft als mein eigenes bekommen habe, und mein Recht kein allgemeines Recht ist.“79 Vernunft und Recht kommen ausschließlich ihr zu, als ihr nicht mit Anderen teilbares Eigentum. Dementsprechend spricht sie sich auch deutlich gegen eine sie selbst dezentrierende Vorstellung von Je-Einzigkeit aus: Es wäre „unrecht und unvernünftig, so jedermann und die Allgemeinheit 77 So etwa im folgenden Abschnitt bei Oskar Panizza und Eduard von Hartmann, die beide eine all-einzige Interpretation Stirners vertreten, wobei ersterer die pathognostische Differenz am sozialen Erfolg bzw. Mißerfolg der All-Einzigkeit festmacht, während letzterer, ebenso wie Schultze, die Differenz beider Interpretationsschemata thematisiert, Stirner aber, anders als Schultze, auf der all-einzigen Seite verortet. Die meisten anderen, in den späteren Kapiteln (siehe v. a. VI. und VII.) zu behandelnden Deutungen des Einzigen optieren dagegen für das je-einzige Interpretationsschema, allerdings in unterschiedlichsten Ausgestaltungen und teilweise auch, wie sich am Typus des partikularistischen Individualismus zeigen wird, in Einschränkung der Je-Einzigkeit auf Gruppen von ‚Wenigen‘ im Gegensatz zu den ‚Vielen‘; siehe unten, VI. 5. b). 78 Zit. bei Schultze (1903), S. 797, vgl. S. 804. 79 Zit. bei Schultze (1903), S. 798.

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das, was ‚mein‘ Eigenthum ist wie mein Recht und meine Persönlichkeit, auch als ihr Eigenthum betrachten und in Anspruch nehmen wollten.“80 Die soziale Asymmetrie ihrer All-Einzigkeit wird durch die Negation der sozial symmetrischen Vorstellung von Je-Einzigkeit bekräftigt.81 Wissenssoziologisch handelt es sich bei dieser spezifischen Deutung der All-Einzigkeit als klinische Paranoia um ein vollinklusives Individualidentitätsangebot. Die Patientin S. wird durch ihre Biographisierung inklusive der Zuerkennung ihrer lebensanschaulichen Autorschaft individualisiert und erhält eine – formal anonyme – Adresse als ‚Patientin S.‘, also den Status einer kommunikativen Zuschreibungseinheit. Diese Adresse hat sie aber ausschließlich in der Psychiatrie, wie bereits die psychiatrische Inklusionsformel ‚Patientin‘ markiert. Dieser vollinklusiven Individualidentität entspricht in diesem Falle eine vollständige Exklusion aus allen anderen Funktionssystemen. Die psychiatrische Beobachtung individualisiert die Patientin S., und zwar zu einer Psychotikerin; und diese Diagnose begründet ihre Exklusion aus dem Rechtssystem, dem Wirtschaftssystem, dem politischen System usw., denn sie bestätigt ihre Einstufung als unzurechnungsfähig und stellt ihre „Entmündigungsreife“ fest (S. 817). Die Patientin S. ist also kein Rechtssubjekt, nicht geschäftsfähig, und sie kommt auch nicht als Künstlerin oder Wissenschaftlerin bzw. Philosophin in Betracht usw.82 Stattdessen bedarf sie „der dauerhaften Anstaltspflege“ (S. 817), d. h. die psychiatrische Vollinklusion, die der Exklusion aus allen anderen sozialen Bereichen entspricht, kommt gleichsam räumlich und materiell zur Darstellung in der Internierung des Körpers der Patientin S. Und nur in dieser Internierung ist dieser Körper zugleich ein Individuum, mit einem Namen, einer Lebensgeschichte, einer eigenen Perspektive usw. 80

Zit. bei Schultze (1903), S. 798 – H. i. O. Sie läßt eine Ausnahme zu, ein wegen der Bedeutung dieses Rechts in ihrem Wahnsystem nicht unerhebliches Zugeständnis an die Anderen: „Dass andere Menschen auch nackend sind, wenn sie zur Welt kommen, das heisse ich auch recht, und das dürfen sie auch.“ (Zit. bei Schultze (1903), S. 797) Aber die Argumentation macht deutlich, daß es sich hierbei nicht um eine basale soziale Symmetrie handelt, sondern um einen souveränen Rechtsetzungsakt, der auf der Asymmetrie ihrer AllEinzigkeit beruht: sie hat den anderen Säuglingen das Recht auf Nacktheit verliehen, weil sie es will. 82 Wahlberechtigt war sie als Frau 1903 ohnehin nicht. Daran sei auch im Blick auf zeitgenössische semantische Angebote erinnert, die die natürliche Inferiorität der Frau behaupten, vgl. z. B. Möbius (1900), und damit einerseits die Exklusion der Frauen aus dem politischen System ideologisch legitimierten, andererseits als semantischer Abwehrreflex auch gegen die von der Frauenbewegung vertretenen Partizipationsansprüche zu betrachten sind (vgl. Frederiksen (1981a), S. 35 ff.). – Davon abgesehen bedeutet diese Form psychiatrischer Vollinklusion mit Entmündigung in jedem Falle die Exklusion aus dem politischen System, also 1903 auch bei Männern; und ab 1919 machte dies auch bei deutschen Staatsbürgerinnen einen Unterschied. 81

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Es handelt sich somit bei dieser Variante der All-Einzigkeit um den Grenzfall eines modernen Individualidentitätsangebotes.83 Diese All-Einzigkeit gibt nicht in semantischer Komplementarität mit der spezifisch modernen Inklusions-Exklusionsordnung Auskunft darüber, was ein Individuum in Absehung von seinen funktionssystemischen und sonstigen sozialen Inklusionsrollen – als Rechtssubjekt, Berufstätige usw. –, also außer seiner allgemeinen Inklusionsfähigkeit als Person84 sonst noch ist. Vielmehr ist diese All-Einzigkeit eine Individualität, die mit Personalität – im Sinne allgemeiner sozialer Inklusionsfähigkeit und kommunikativer Zurechnungsfähigkeit, also Adressabilität85 – inkompatibel ist. Die von Schultze beobachtete AllEinzigkeitskonzeption der Patientin S. ist ein gleichsam a-soziales Individualidentitätsangebot und als solches zugleich Außenseite von gesellschaftlich inklusionsfähiger, allgemein adressabler Personalität. Die Unterscheidung von All-Einzigkeit und Je-Einzigkeit markiert hier also die Grenze zwischen sozial anschlußfähigen Individualidentitätskonzeptionen, die Personen bezüglich ihrer Individualität bestimmen einerseits, und Körpern, die in einem fest umschriebenen sozialen Rahmen – hier: der Psychiatrie – bezüglich ihrer Individualität beobachtbar sind, aber gesamtgesellschaftlich nicht als Personen vorkommen, andererseits.86 Diese Grenzziehung markiert in diesem Fall also das Spektrum sozial akzeptabler Individualidentitätsangebote. Und es zeigt zugleich, womit bei Grenzüberschreitungen zu rechnen ist, sowohl gesellschaftlich wie individuell: Das betroffene Individuum hat mit der Inklusionsordnung der Psychiatrie – Internierung und Entmündigung – zu rechnen, die Gesellschaft z. B. mit einem „deutlichen querulatorischen Charakter“, der „im höchsten Grade gemeingefährlich“ ist (S. 817). Im weiteren Verlauf dieser Arbeit werden weitere interpretatorische und sozialphänomenologische Varianten der All-Einzigkeit auch jenseits der Anstaltsmauern zu beobachten sein. Bezüglich der von der Patientin S. verkörperten extremen Position der All-Einzigkeit läßt sich spekulieren, inwiefern sie heute mittlerweile innerhalb des Spektrums sozial anschlußfähiger Individualidentitätsangebote vorkommt, oder ob sie weiterhin die Gestalt des modernen Individuums ex negativo zu profilieren hilft. Aber auch dann bleibt sie, bzw. der in ihr sich manifestierende Grenzfall eines Individualidentitätsangebots, für die – wissenssoziologisch exemplarisch an der Stirner-Rezeptionsgeschichte beobachtbare – semantische Reflexion moderner Exklusionsindividualität nicht weniger unabdingbar.

83 84 85 86

Zumindest wissenssoziologisch also ein ‚borderline-case‘. Vgl. Luhmann (1996a), S. 429 ff.; Luhmann (1991b). Vgl. Fuchs (1997a). Vgl. Luhmann (1995c), bes. S. 260 ff.

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e) Askriptive Stirner-Deutung und Einzigkeit als Beobachtungsschema Schultze legt nahe, daß die Patientin S. bezüglich der All-Einzigkeit eine Fehlinterpretation Stirners liefert, ohne Stirner überhaupt selbst gelesen zu haben, also somit auch: ohne Stirner zu interpretieren.87 Ihr Stirnerianismus wäre gleichsam unbewußt. Dies hält Schultze aus verschiedenen Gründen für wahrscheinlich: Erstens leugnete die Patientin S. auf Nachfrage sowohl Schultze als auch später einem anderen „Anstaltsarzte“ gegenüber „ganz entschieden“, sich „mit Stirner beschäftigt“ zu haben (S. 811 – H. i. O.). Auch wenn man aus naheliegenden Gründen „ihre Aussagen nur mit einer gewissen Vorsicht verwerthen darf“ (S. 811), hält Schultze diese Auskünfte angesichts ihrer konkreten Umstände für glaubwürdig.88 Zweitens weist er 87

Sie hat ihn nicht interpretiert, und dann auch noch falsch! Allerdings erschiene es in einer adaptionistischen Auslegung des Einzigen nur als folgerichtig, die eigene Stirner-Kenntnis zu leugnen, um die eigene Originalität nicht zu relativieren bzw. um sich als Einziger bzw. als Einzige auch Stirners Weltanschauung konsequent anzueignen. So weist auch Dieter Lehner mit Blick auf die im engeren Sinne literarische Stirner-Rezeption auf „grundsätzliche[] Schwierigkeiten“ hin, hier zweifelsfrei einen „Wirkungszusammenhang“ nachzuweisen: „Diese liegen in erster Linie im Selbstverständnis eines extremen Subjektivismus begründet, den die Apperzeption des Stirnerschen Gedankengutes beim einzelnen Künstler evoziert. Dadurch, daß diese Ideologie alles der Willkür, dem ‚Willen‘, des überlegenen ‚Einzigen‘ unterwirft, ‚objektive Weltanschauung‘ mithin radikal ablehnt, wird sie nicht nur schwer greifbar, sie ist auch kaum nachweisbar. weil jedes Bekenntnis zu ihr bereits wiederum negiert wird, um der Gefahr einer erstarrten ‚dogmatischen Einbildung‘ aus dem Weg zu gehen. Bei der Erforschung der Geschichte der Stirnerrezeption stößt man daher unweigerlich auf das zunächst merkwürdig anmutende Phänomen, daß bei vielen Autoren ein Zusammenhang mit individualanarchistischen Auffassungen vermutet werden kann, daß aber eine explizite positive Bezugnahme auf Stirner entweder ganz vermieden wird oder nur eine beiläufige Erwähnung Stirners aufzufinden ist.“ (Lehner (1988), S. 16 – H. i. O.; vgl. S. 18) Anzumerken bleibt hierzu, daß erstens der ‚extreme Subjektivismus‘ mit diesen Konsequenzen nur eine Auslegungsmöglichkeit des Stirnerschen Einzigen bleibt, und nicht wenige Interpreten sich offen zur ‚Weltanschauung‘ Stirners bekennen; und daß zweitens, in wissenssoziologischer Betrachtung, der Nachweis eines Wirkungszusammenhanges sekundär bleibt: Bezeichnend ist in dieser Perspektive überhaupt das häufige Vorkommen von mutmaßlich ‚stirnerianischen‘ Topoi, Motiven und Figuren in literarischen Texten des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts, was, jenseits hermeneutisch-philologischer Fragestellungen nach der konkreten StirnerKenntnis dieser Autorin und jenes Autors, ein Beleg für die wissenssoziologische These ist, daß der Einzige – in den Gestalten, in denen die moderne Gesellschaft ihn erkannt bzw. in denen sie sich aus ihm etwas gemacht hat – im Hinblick auf den Registraturbedarf und die Reflexionsnötigungen der modernen Individualität den ‚Nerv der Zeit‘ getroffen hat. In dieser Perspektive ist denn auch nicht vorrangig nach ‚Wirkungszusammenhängen‘ zu fragen, auch wenn der Niederschlag der Stirner-Renaissance in der Literatur nicht nur literarhistorisch von Interesse ist, son88

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IV. Der Wahnsinn, die Genialität und das Böse

darauf hin, daß die Patientin S. ihre Wahnideen schon deutlich vor der Veröffentlichung der Reclam-Ausgabe des Einzigen entwickelt hat, in deren Erscheinungsjahr 1892 (eigentlich 1893) sie ja entmündigt wurde und sich bereits in der Irrenanstalt befand (vgl. S. 812). Drittens schreibe Stirner in auffälliger Weise „principiell Ich, Mir, Mich immer gross“ (S. 812). Diese Schreibweise aber findet sich bei der Patientin S. nur „an einigen wenigen Stellen“, wie Schultze mit philologischer Akribie vermerkt, „und da scheint es mir“, fährt der Psychiater fort, daß sie „einer momentan stärkeren Affectbetonung sich hingab, indem sie ihrer gradezu majestätischen Stellung auch diesen rein äusserlichen Ausdruck angedeihen liess.“ (S. 812)89 Viertens hält Schultze es für unwahrscheinlich, daß die Patientin S. die zum Studium des Einzigen „nothwendige Langmuth und Geduld gehabt“ hat (S. 813). Fünftens verweist er auf die bereits dargestellten begrifflichen und konzeptionellen Abweichungen sowie den prinzipiellen Unterschied zwischen Stirners System und demjenigen der S. (vgl. S. 813 f.). „Das sind alles Gesichtspunkte und Erwägungen, die es mir mehr oder weniger unwahrscheinlich erscheinen lassen, dass das kranke Gehirn der S. mit Stirner’dern eben auch selbst ein wichtiger Beleg für den konjunkturellen Verlauf der Stirner-Rezeptionsgeschichte und deren wissenssoziologische Analyse. In dieser Perspektive hat dann aber die Nachweisbarkeit expliziter Stirner-Referenzen in historischen Texten primär eine symptomatische Bedeutung, die die semantische Exemplarizität der mit dem Einzigen zeitgenössisch-interpretatorisch verbundenen Motive, Figuren usw. bezeugt. Wo letztere ohne ausdrückliche Stirner-Erwähnung vorkommen, bestätigen sie in jedem Falle diese Exemplarizität des Einzigen, auch dann, wenn eine unmittelbare Stirner-Rezeption nicht nachweisbar sein sollte. Der in der vorliegenden Arbeit verfolgte wissenssoziologische Ansatz bedient sich der StirnerRezeptionsgeschichte gleichsam als einer Sonde, die in die historische Semantik der Individualität eingeführt wird und dabei die Grenzen anderer historischer Diskurse, z. B. fachdisziplinärer, literarischer oder um bestimmte philosophische Ideen zentrierter Art, überschreitet, schneidet und kreuzt. In der Beschränkung auf die Untersuchung solchen Textmaterials, in dem ausdrücklich auf Stirner bezug genommen wird, liegt daher die Chance, die Vielfalt von Diskursen und Individualidentitätsangeboten beobachten zu können, die sich am Einzigen gleichsam auskristallisieren. Daß das hierbei Beobachtete auch jenseits des engeren Stirner-rezeptionsgeschichtlichen Zusammenhanges von Bedeutung ist, wird im Sinne der wissenssoziologischen Exemplarizitäts-These ausdrücklich angenommen. Und daß es darüber hinaus in der Stirner-Rezeptionsgeschichte auch noch gleichsam subkutane Effekte, latente Wirkungszusammenhänge – und möglicherweise sogar individuell unbewußte ‚Verdrängungen‘ und bewußte ‚Verschweigungen‘ von Stirner-Kenntnissen; vgl. Laska (1993) u. (2000) – geben mag, ist damit nicht bestritten. 89 In ähnlicher Weise werten später die psychiatrischen Gutachter der Inflationsheiligen Louis Haeusser und Leonard Stark u. a. auch deren Schriftbild als symptomatisch für deren „Hypomanie“: „In dieses Bild passe das stark gehobene Kraftund Selbstgefühl und das unumstößliche Größenbewußtsein, [. . .] der Schreib- und Rededrang, [. . .] die übergroßen Schriftzüge in den Briefen, die darin gehäuften Unterstreichungen und Ausrufungszeichen.“ (Linse (1983), S. 65).

1. Der Einzige in der Nervenheilanstalt

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schem Material gearbeitet hat.“ (S. 813) – Und doch hat sie ein Wahnsystem mit „Stirner’schen Ideen“ erzeugt. Für Schultze bestätigt dies die Intelligenz, Originalität und Kreativität seiner Patientin, und damit das Außergewöhnliche dieses Falles von Paranoia, wobei er zugleich darauf hinweist, daß selbst der Nachweis der Kenntnis Stirners die konstruktive Eigenleistung der Patientin S. nicht schmälern würde (vgl. S. 813 f.). Hierzu hebt Schultze, neben der ‚Verrücktheit‘ ihrer All-Einzigkeits-Konzeption, hervor, daß die Patientin S. während ihres Anstaltsaufenthaltes nachgewiesenermaßen „ohne jede Hülfsmittel irgendwelcher Art“ ihr System nicht nur „aus dem Kopfe“ niedergeschrieben hat (S. 813), sondern hierbei auch Einwände, mit denen sie konfrontiert wurde, „in einer so geschickten und zu ihrem sonstigen System durchaus passenden Weise“ diesem einfügte, „dass man immer auf’s Neue erstaunt war“ und „dass man den auswärtigen Ursprung gar nicht mehr errathen konnte“ (S. 814). Ob die Patientin S. somit Stirner kennt, oder nicht, wie sie selbst behauptet, ist für die psychiatrische Bedeutung des Falles relativ unwichtig (vgl. S. 813). „Bewiesen ist weder das eine noch das andere“ (S. 813), ähnlich übrigens wie bei der Frage nach der geistigen Gesundheit Stirners (vgl. S. 816). Fest steht indes, und Schultze neigt dazu, dem Glauben zu schenken, daß die Stirnerianerin S. selbst „jede Kenntniss von Stirner entschieden in Abrede stellte“ (S. 811). Sie beansprucht nicht, eine Deutung des Stirnerschen Einzigen zu liefern – selbst, falls sie ihn doch gelesen haben sollte. Das bedeutet aber in jedem Fall, daß der Stirnerianismus der Patientin S., also die Deutung der Patientin S. als eine All-Einzige, dem Psychiater Schultze als dessen Interpretation zuzurechnen ist. Denn nicht die Patientin S. behauptet, man könne Stirner im Sinne ihres Systems deuten, sondern Schultze behauptet und weist nach, daß man Stirner so deuten kann: Deswegen kann er ‚Stirnersche Ideen im paranoischen Wahnsystem‘ der Patientin S. beobachten. Man kann in diesem Sinne von einer ‚askriptiven Stirner-Interpretation‘ sprechen. Daß der der Patientin S. so vom Psychiater zugeschriebene Stirnerianismus in dessen Augen ein ‚verrückter‘ und hermeneutisch inadäquater ist, ändert nichts daran, daß es offenbar plausibel ist, im systematisierten Wahn der S. eine Variante des Stirnerschen Egoismus bzw. des im Einzigen formulierten ‚extremsten Individualismus‘ zu sehen – selbst, wenn die Schöpferin dieses ‚krass egoistischen‘ Wahnsystems davon nichts wissen will. Dies ist in dreifacher Hinsicht von Bedeutung: Erstens handelt es sich auch bei der All-Einzigkeit der S. um eine im engeren Sinne der StirnerRezeptionsgeschichte angehörende Stirner-Interpretation, auch wenn diese Stirner-Interpretation als solche nicht von der Patientin S., sondern von ih-

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IV. Der Wahnsinn, die Genialität und das Böse

rem Psychiater Schultze generiert wurde. Denn dieser hat erst den Zusammenhang zwischen den Wahnideen seiner Patientin und der Philosophie Stirners hergestellt. Zweitens handelt es sich deshalb auch um eine wissenssoziologisch relevante Interpretation des Einzigen, die Schultze unter Berufung auf Textevidenzen und anamnetische Details plausibel machen konnte. Die Interpretation der Patientin S. als Stirnerianerin (wider Willen) war plausibel, denn sie wurde als anschlußfähiger Beitrag – zunächst als Vortrag, dann als Artikel in einer Fachzeitschrift – im Wissenschaftssystem kommuniziert.90 Drittens legt Schultze mit dieser Zuschreibung von stirnerianischen Deutungsmustern ein Beobachtungsschema vor, dessen generalisierte Anwendung eine Ausweitung der Stirner-Rezeptionsgeschichte gestattet. Es lassen sich damit auch dort Strukturen von Einzigkeit erkennen, wo von einer unmittelbaren Rezeption des Stirnerschen Textes nicht ausgegangen werden kann. ‚Der Einzige‘ wird dann im Sinne einer sozialphänomenologischen Typenbezeichnung verwendet, ohne daß damit die Lektüre des Einzigen oder das Bekenntnis zu Stirner vorausgesetzt wird. Beispiele für diesen beobachtungsschematischen bzw. sozialphänomenologisch typisierenden Umgang mit der Figur des Einzigen finden sich regelmäßig in der Stirner-Rezeptionsgeschichte – wie die folgenden Kapitel zeigen werden –, wenn Stirner-Interpreten auf sozialphänomenologische bzw. zeitgenössische Evidenzen für Stirner jeweils interpretatorisch zugeschriebene Haltungen, Weltanschauungen und Verhaltensweisen auch in solchen Fällen oder Kontexten verweisen, in denen Stirner nicht explizit genannt wird.91 Die in der vorliegenden wissenssoziologischen Studie vertretene gegenwartsdiagnostische These von der Ubiquität des Einzigen beruht auf einer solchen Überlegung: Wenn man zeigen kann, was der Einzige ist, dann kann man ihn auch dort aufspüren, wo er unbekannt – oder vergessen – zu sein scheint (siehe unten, VIII. 2. und 4.). Den zweiten Schritt kann diese Studie selbstverständlich allenfalls punktuell umsetzen: im Aufweis von gegenwärtigen semantischen Strukturen, die der Figur des Einzigen in bestimmten Aspekten entsprechen, ohne daß diese Figur des Einzigen oder gar Stirner selbst als Referenz angegeben wird. Hierzu kommt es auf den ersten Schritt an: zu zeigen, wer oder was der Einzige bei Stirner und im 90 Vgl. Luhmann (1994b), S. 200 f., 446, 670 f. – Hätte dagegen die Patientin S. selbst – und nur sie selbst – von sich behauptet, Stirner zu interpretieren, so wäre dies u. U. wissenssoziologisch weniger relevant gewesen; dann jedenfalls, wenn dieser Anspruch kommunikativ isoliert geblieben wäre. 91 Neben vielen anderen Beispielen ist hierfür etwa Ernst V. Zenkers Bezeichnung Eugen Dührings als eines Einzigen exemplarisch – siehe hierzu unten, V. 3. a) dd) – oder Hans G. Helms’ Bezeichnung des nationalsozialistischen ‚Dritten Reiches‘ als das „Reich des Einzigen“, mit der dieser seine Generalthese vom prototypischen faschistoiden Mittelstandsideologen Stirner veranschaulicht (Helms (1966), S. 473, vgl. S. 4 f.); siehe unten, VIII. 1. c).

2. Metaphysische Innenansichten

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Kontext seiner explizit sich auf diesen beziehenden Rezeptionsgeschichte ist. Einige Aspekte des Einzigen wurden bereits in Ernst Schultzes Stirner’sche Ideen in einem paranoischen Wahnsystem sichtbar.

2. Metaphysische Innenansichten, soziale Erfolgsaussichten und Extremismus des All-Einzigen nach Oskar Panizza Während Schultzes Darstellung seiner Patientin S. deren Internierung innerhalb psychiatrischer Anstaltsmauern und komplementäre Ausschließung aus der Gesellschaft als zwingende Konsequenz des antisozialen Wahns und der Krankheitsisolation der all-einzigen Paranoikerin einleuchten ließ, thematisiert Oskar Panizza92 die Möglichkeit sozial erfolgreicher All-Einzigkeit und artikuliert eine metaphysische Rechtfertigung all-einziger Antisozialität. In seinen an den italienischen Psychiater und Kriminologen Cesare Lombroso93 anschließenden Beiträgen zum ‚Genie-und-Wahnsinn‘-Diskurs diskutiert Panizza Psychopathie und Genialität als zwei nicht so sehr psychologisch unterscheidbare, sondern lediglich in ihrer sozialen Akzeptanz unterschiedliche Aggregatzustände derselben all-einzigen Individualitätsstruktur; das Genie, der Held, der Prophet und andere charismatische Individuen erscheinen demnach bloß als die sozial erfolgreiche Variante dessen, was im Ablehnungs- und Mißerfolgsfall als Psychopath gilt.94 Und in 92

1853–1921. 1836–1909. 94 Bereits 1891 hatte Panizza den Vortrag Genie und Wahnsinn veröffentlicht. Genie und Wahnsinn ist in mehrfacher Hinsicht exemplarisch für diesen Diskurs: Einerseits im Ausgang von Cesare „Lombroso, de[m] bekannte[n] italienische[n] Psychiater“, der nicht nur Panizza als der „modernste Vertreter der Lehre von der Identität von Genie und Wahnsinn“ gilt (Panizza (1891), S. 105); vgl. auch Steiner (1892a), S. 505; (1892b), S. 507; (1900), S. 426; siehe auch unten, VI. 4. b) ee) und ff); andererseits in den obligatorischen Fallbeispielen, die als Evidenzen für diese Lehre herangezogen werden und damit zugleich einen Beitrag zur Charismatifikation der hierbei genannten Individuen leisten. Bei Panizza sind dies im einzelnen u. a. Sokrates, an dessen „daimon“ er später terminologisch anschließen wird (Panizza (1891), S. 110; vgl. Panizza (1895), S. 166), der Prophet „Muhamed“, die quasi sprichwörtliche Lieblingsikone aller Größenwahnsinnigen: Napoleon I, Hölderlin und Newton, insbesondere auch Descartes, aber ebenso Schiller – als Genie im Gegensatz zum bloß talentierten Goethe –, in gewisser Weise auch Beethoven, und vor allem und immer wieder: Martin Luther (Panizza (1891), S. 114 ff., vgl. auch S. 88 f., 92 ff., 99 ff, 103, 108 ff., 112 ff.): „Luther’s Lehre, daß wir nicht durch gute Werke oder Buße, sondern nur durch die Gnade Gottes Erlösung erlangen können – der Grund- und Eckstein der gesammten Reformation – war der direkte Ausdruck seiner geistigen Krankheit und der zuletzt gefundenen Heilung. [. . .] Ohne die Melancholie in der Erfurter Kloster-Zelle keine Reformation!“ (Panizza (1891), S. 116) 1898 folgten dann Christus in psicho-patologischer Beleuchtung 93

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IV. Der Wahnsinn, die Genialität und das Böse

seiner – an Eduard von Hartmanns bereits 1869 und 1879 in der Philosophie des Unbewussten und in der Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins vorgelegten Stirner-Interpretation orientierten – Auslegung von AllEinzigkeit sucht Panizza, den Nachweis der Irrelevanz einer zum Schein herabgesetzten sozialen Welt gegenüber dem solipsistischen Durchsetzungsdrang des All-Einzigen zu führen; diese Argumentation entfaltet er insbesondere in der dem „Andenken Max Stirner’s“ gewidmeten Schrift Der Illusionismus und Die Rettung der Persönlichkeit. Skizze einer Weltanschauung (1895), in der er sich die Perspektive des Einzigen zu eigen macht und insofern eine adaptionistische Stirner-Interpretation liefert – eine Interpretation, in der sich der Interpret mit dem Einzigen als dessen Inkarnation identifiziert.95 Einer in seinem Tagebuch vermerkten Selbstauskunft aus dem Sommer 1897 zufolge war Panizza „kein künstler“, sondern ein „psichopate“, der „nur hie und da die künstlerische form“ benutzt, „um mich zum ausdruck zu bringen.“96 An anderer Stelle in seinem Tagebuch sagt Panizza, er sei in seiner Identität als „künstler und denker“ ein „anarchist“: Er bekenne sich zu dem „prinzip, dass es in der menschlichen natur impulse gibt, die gegenüber den sozjalen und staatenbildenden fähigkeiten, die man als herdeninstinkte bezeichnen mag, die tieferen, entscheidenderen, das wesen des menschen eigentlich begründenden sind, und dass ihr hervorbrechen in form von individualistischer gewalt, verschwörung, umsturz, mord dann nötig erscheint und von selbst ausgelöst wird, wenn die sozjal-organisatorischen sich abgenützt haben oder ihre verwendung zu staatenbildungen in verknöcherung und sterilität überzugehen droht“.97 Im Sinne dieses antisozialen Verständnisses von Anarchismus als ‚individualistische Gewalt‘, das sich auf die zeitgenössische Evidenz der ‚tat-propagandistischen‘ Mordanschläge im Ende des 19. Jahrhunderts bezieht,98 empfiehlt er: „in allen dingen, die dein rein ideales streben betreffen, sei gegen deinen gegner rasch, rücksichtslos, beschimpfe und beschmutz ihn auf jede unerlaubte weise und schlage ihm, wenn irgend möglich, gleich den schädel ein“.99 und die satirische Psichopatia Criminalis, beide im Selbstverlag. Letztere war auf den Korrekturbögen mit einer Widmung an den Deutschen Kaiser Wilhelm II versehen: „dem großen megalomanen in tiefster ehrfurcht dargebracht der psichjater“ (zit. n. Panizza (1985), S. 27). 95 ‚Adaptionistisch‘ in diesem Sinne waren nicht nur die All-Einzigkeits-Interpretationen von Inflationsheiligen wie Haeusser, sondern auch diejenige, die Ernst Schultze seiner Patientin S. zuschrieb, so daß sich dieser bezüglich von einer ‚askriptiven adaptionistischen Stirner-Deutung‘ sprechen läßt. 96 Zit. n. Panizza (1985), S. 20. – Panizzas eigentümliche Orthographie kann selbst als formaler Ausdruck dieses ‚psichopatischen‘ Anspruchs verstanden werden. 97 Zit. n. Panizza (1985), S. 8. 98 Siehe hierzu ausführlich unten, V. 1. und 2. 99 Zit. n. Panizza (1985), S. 25.

2. Metaphysische Innenansichten

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Stirner-rezeptionsgeschichtlich sind Panizzas Genie-Psychopathologie und deren weltanschauliche Erweiterung zu einer all-einzigen Position, die sich als solipsistische Metaphysik und individualistischer Extremismus charakterisieren läßt, unter folgenden Aspekten von Interesse: a) Panizza thematisiert Stirner selbst als Genie, indem er ihn im Rahmen seiner charismadiskursiven Psychopathologie eine zentrale Position in der Reihe der ‚großen Paranoiker‘ bzw. ‚kriminellen Psychotiker‘ zuweist – eine Reihe, die Panizza auf sich selbst zulaufen läßt. Stirner ist hierin also sowohl Gegenstand der Charismatifikation als auch Beispiel für den von Panizza konzipierten Typus, den er auf seine historischen Erfolgsbedingungen hin untersucht. b) Seine Stirner-Rezeption in der Illusionismus-Schrift war theoretisch folgenreich für die Fortentwicklung seiner Genie-Psychopathologie und auch für seine damit einhergehende eigene Selbststilisierung zum genialen Psychopathen und Anarchisten. Panizzas in Der Illusionismus und die Rettung der Persönlichkeit gegebene Skizze einer Weltanschauung kann als adaptionistische Interpretation des Einzigen verstanden werden, aus der eine spezifische Verschiebung innerhalb der Panizzaschen Genie-Psychopathologie resultiert. In diesem Sinne erscheint hier nicht nur der Autor Stirner, sondern auch dessen theoretische Figur, der Einzige, als genialer Psychopath; dadurch wird Stirner implizit zum Genietheoretiker100 – aber auch zum Einzigen. Ebenso wie Panizza: In der stirnerianischen Illusionismus-Schrift hat er den rein psychiatrischen Standpunkt verlassen und artikuliert stattdessen reflexiv die Position des genialen Psychopathen. Damit sprengt Panizza zugleich den engeren genie-psychopathologischen Rahmen. Seine Deutung des Einzigen in der Illusionismus-Schrift läßt sich im Rahmen seiner hier ‚skizzierten Weltanschauung‘ als Individualidentitätsangebot analysieren: c) Panizza präsentiert hier eine – in verschiedener Hinsicht antisoziale, grandiose und kränkungsabwehrende – Konzeption von All-Einzigkeit, die sich, angelehnt an die programmatischen Abschnittstitel der Illusionismus-Schrift, zunächst zeit- und sachdimensional als Aufhebung eines solipsistischen „Illusionismus“101 in einem metaphysischen „Dämonismus“102 beschreiben läßt. d) In sozialdimensionaler Hinsicht fungiert dieser Argumentationsgang dann als Gründung eines extremistischen „Individualismus“103. Das Ergebnis ist das all-einzige Individualidentitätsangebot des ‚Psychopathen‘ bzw. ‚Anarchisten‘ als eines ‚idealistischen Individualisten‘. Sozialphänomenologisch läßt sich hierin etwa der mit Sendungsbewußtsein ausgestattete Fanatiker erkennen, der sowohl als charismatischer Prophet als auch als terroristischer (Selbstmord-)Attentäter auftritt: als Heiliger, Märtyrer und Weltvernichter. 100 101 102 103

Vgl. auch Stirner, EE, S. 179 f. Panizza (1895), S. 150 ff. Panizza (1895), S. 168 ff. Panizza (1895), S. 193 ff.

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IV. Der Wahnsinn, die Genialität und das Böse

Insgesamt wird hiermit, erstens, ein Individualismus begründet, der sich in – gemessen an Stirners Ideen-Feindschaft und Ablehnung alles Heiligen: – kontraintuitiver Weise mit Offenbarungswahrheiten und fundamentalistischen Ideen verbinden kann. Zweitens wird damit ein Charismatiker-Typus vorgezeichnet, der sich dann tatsächlich, gewissermaßen als fleischgewordener All-Einziger, im weiteren Verlauf der Stirner-Rezeptionsgeschichte fand, etwa in Gestalt der Inflationsheiligen Haeusser und Stark (siehe oben, III. 1.). Und drittens entwirft Panizza hiermit theoretisch eine antisoziale All-Einzigkeit, die sich als Individualidentitätsangebot – im Gegensatz etwa zu Ernst Schultzes psychiatrisierter All-Einziger – auch jenseits von Anstaltsmauern, und auch jenseits der Stirner-Rezeptionsgeschichte im engeren Sinne, beobachten läßt. Die antisoziale Struktur dieses Einzigen wird zum Abschluß dieses Kapitels anhand der Stirner-rezeptionsgeschichtlichen Reflexionen über ‚das Böse‘ eingehend analysiert, und weitere Aspekte der sozialen Phänomenologie des antisozialen Einzigen werden im folgenden Kapitel betrachtet. a) Stirner und andere geniale Paranoiker: der infektiöse Wahn als Wahrheit Der Illusionismus und die Rettung der Persönlichkeit (1895) markiert bei Panizza den Beginn sowohl der charismatifikatorischen Behandlung Stirners als Genie als auch seiner genie-psychopathologischen Stirner-Adaption. In Genie und Wahnsinn (1891) findet Stirner noch keine Erwähnung. Vermutlich wurde Panizza erst durch die oben von Ernst Schultze als rezeptionsgeschichtlich ausschlaggebend eingeschätzte 1893er Reclam-Ausgabe des Einzigen mit dessen Autor und Lehre bekannt.104 Im Vorwort zur Stirner gewidmeten Illusionismus-Schrift schildert Panizza diese Bekanntschaft nach Art eines persönlichen Erweckungserlebnisses und mit der Begeisterung des Genie-Entdeckers: „Ich war immer der Meinung, dass es, um in filosofischen Dingen das Wort zu ergreifen, eines gewissen Kauderwelsches von ausländischen Termini bedürfe [. . .] – da las ich Stirner; Stirner, diesen Lazarus unter den Filosofen, der plözlich wieder auferstanden ist, und uns gezeigt hat, dass Denken unter Umständen mehr ist, als Mikroskopiren, Schädelmessen, Gehirne-Wiegen und experimentelle Psichologie-Treiben; Stirner, der Schriftsteller, der in seiner knappen, konzisen, flinken und oft burschikosen Form bewiesen hat, dass Leichtigkeit und Flüssigkeit des Vortrags ein Vorteil sei für die Behandlung abstrakter Disziplinen gegenüber dem zähen Asfalt-Brei aus dem Munde patentirter Sanskritisten. – Ihm ver104 In Psichopatia Criminalis annotiert Panizza, daß das „Buch Stirner’s [. . .] für 20 Pfennig in der Reklam-Bibliothek zu haben“ ist (Panizza (1898a), S. 77).

2. Metaphysische Innenansichten

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danke ich vor Allem die Aufmunterung zu der vorliegenden Schrift. Und deswegen habe ich in Dankbarkeit seinen Namen dem Werkchen vorgesezt. Dass ich auch inhaltlich in manchen Dingen von Stirner beeinflusst worden bin, wird der Kundige bald erspähn.“105 Die Prädikation Stirners als „Lazarus“ ist nicht nur eine dramatischere Variante der Stirner-Renaissance-Metapher, sondern schreibt dem Autor des Einzigen darüber hinaus den Status eines Heiligen zu.106 Da der Heilige Lazarus wegen seiner Wiederauferstehung von den Toten107 als „den Tod überwindendes Symbol“ gilt,108 beinhaltet diese Stilisierung Stirners eine ausgesprochen hohe charismatifikatorische Besetzung, die auf KränkungsAbwehr am bekanntlich „heikelste[n] Punkt des narzißtischen Systems“109 zielt, die ‚Kränkung des Überlebtwerdens‘110. Neben dieser metaphorischen Ebene liegt hier der Hauptakzent auf dem ersten der oben rekonstruierten Strategietypen charismatifikatorischer Kommunikation,111 in dem der Charismatiker unter Berufung auf die Größe seiner Leistung, die Genialität seines Werkes konstruiert wird. Panizzas Anspruch, diese Größe des Stirnerschen Werkes zu erkennen und selbst in dessen Sinne fortzuwirken, zeitigt zudem einen quasi reziprok-charismatifikatorischen Effekt: Denn nicht jeder ist dazu berufen oder auch nur fähig, das Genie zu erkennen und in dessen Fußstapfen zu treten. Panizza empfiehlt sich bereits hiermit als StirnerNachfolger. Und Stirner selbst wiederum steht – diese zugleich mit Panizza verbindend – in einer Reihe mit Genies wie dem Weltveränderer und – eine weitere Parallele – Sprachschöpfer Martin Luther, „diesen Cherusker in der Sprache“, ohne dessen „Jähzorn [. . .] die deutsche Sprache nimmer das geworden [wäre], was sie ist.“112 Neben Luther, Descartes und anderen ist Stirner damit an prominenter Stelle in Panizzas psychopathologisches Universum der Charismatiker aufgenommen, sein Pandämonium der „Schenies“, „Religionsstifter“, „Heiligen“ und anderen Visionäre, der „Uebermenschen“ und „Geistesgewaltigen“.113 Panizzas satirische Psichopatia Criminalis. Anleitung um die vom Gericht für notwendig erkanten Geisteskrankheiten psichjatrisch zu eruïren 105

Panizza (1895), S. 147 – H. i. O. Und dies ist bei Panizza nicht ironisch gemeint, anders als seinerzeit bei Marx und Engels („Sankt Max“) in der Deutschen Ideologie (vgl. Marx/Engels (1845/46), S. 101 ff.). 107 Vgl. Joh. 11, 1–45. 108 Keller (2001), S. 374. 109 Freud (1914a), S. 67. 110 Vgl. Blumenberg (1986), S. 76 ff. 111 Siehe oben, III. 4. c) aa). 112 Panizza (1891), S. 116. 113 Panizza (1898b), S. 208 ff., 212. 106

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IV. Der Wahnsinn, die Genialität und das Böse

und wissenschaftlich festzustellen,114 veröffentlicht 1898, nennt „Martin Luther aus Eisleben“ als den „hier eigentlich zunächst in Betracht kommenden Halluzinanten“115 innerhalb einer „geistige[n] Ahnen-Reihe“116, die „überall den Samen eines aufrührerischen, frechen, sich emanzipierenden Denkens ausstreute“117, bis hin zur „Empörung“, den „freche[n] Ideen Schiller’s und Stirner’s“.118 Stirner wird in der Psichopatia Criminalis wiederholt als Beispiel für diese „individualistischen Starrköpfe[]“ angeführt:119 „solche Einzelne, die, den Gedanken des Umsturzes mit unglaublicher Frivolität erwägend, die Zukunft einer neuen Gesellschaftsorganisazjon sozusagen mit spielender Fantasie sich ausmalen, und so die Schwachen und Widerstandslosen, die ‚Kinder‘ des Volkes, die Frauen, die Dumben, die Künstler, die Dichter für sich gewinnen. Eine Zukunfts-Gesellschaft, die noch gar nicht existiert, die gar nicht existieren kann, für die es in der realen Welt gar keinen Anhaltspunkt gibt, rein aus der Idee, sozusagen aus dem Nichts“.120 Darüber hinaus erfährt Stirner schließlich eine besondere Würdigung in Form einer Fallbeschreibung im Stile der zeitgenössischen psychiatrischen Literatur, in der er als Beispiel für die „Paranoia [. . .] als lezte Äusserungsform der psichopatia criminalis“121 erscheint: „Beobachtung 5. [. . .] Megalomanische Uebersättigung des ‚Ichs‘ auf Hegel’scher Grundlage. Schrankenloser Grössenwahn. [. . .] Stirner bietet das flagranteste Beispiel jener Vorstellungskrankheiten, die Schüle so präzis als ‚Förderung der IchGruppe‘, ‚Erweiterung des persönlichen Ichs‘ bezeichnet. [. . .] Dieser Wahnsinnige schrieb SICH gross und meinte sogar, die Gedanken, ‚die so umherflögen, seien nicht vogelfrei, sondern seien seine Gedanken‘. – Es ist klar, dass bei solcher Erweiterung des Untertanen-Ichs der Monarch und seine heiligen Rechte zu kurz kommen müssen. [. . .] Doch zulezt erlosch der Vulkan von selbst. Und ein trauriges Schlakenmeer perverser Ich-Erweiterungen und erkalteter Majestäts-Gedanken-Verbrechen traf der Tot an, als er die von keinem Adler-Orden geschmükte Leiche des frechen Denkers am 26. Juni 1856 in Berlin berührte.“122 114 Bereits der Titel parodiert Richard Freiherr v. Krafft-Ebings (1840–1902) berühmten Klassiker der psychiatrischen Literatur, die erstmals 1886 erschienene Psychopathia sexualis; vgl. Panizza (1898a), S. 31, 44; siehe unten, VI. 3. b) aa). 115 Panizza (1898a), S. 38 – H. i. O. 116 Panizza (1898a), S. 40 – H. i. O. 117 Panizza (1898a), S. 39. 118 Panizza (1898a), S. 41 – H. i. O. – Panizza bemerkt mit gespielter Entrüstung, daß nicht nur Stirners Einziger, sondern auch „Schiller’s ‚Räuber‘ von jeder unschuldigen Seele für 20 Pfennig gekauft werden“ können (Panizza (1898a), S. 74 – H. i. O., vgl. S. 77). 119 Panizza (1898a), S. 36, vgl. S. 39, 41, 56, 76 f. 120 Panizza (1898a), S. 36 f. 121 Panizza (1898a), S. 70.

2. Metaphysische Innenansichten

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Der Fall Stirner gibt dem Autor der Psichopatia Criminalis Anlaß, über „eine Krankheit, [. . .] die seit mindestens 100 Jahren bei uns im Abendland besteht“,123 in der Terminologie der zeitgenössischen Psychiatrie zu resümieren:124 „Findet sich, dass ein Einzelner, der sich speziell mit Denken abgibt, Herrscher-Gedanken in sich nährt (während er Untertan ist), und solche im Volke bei seinesgleichen verbreiten will, so leidet er offenkundig an ‚erweitertem Ich‘ (Schüle). [. . .] Findet sich, dass seine Krankheit bis zum ‚Sprung in’s Objektive‘, bis zur ‚Objektivierung seiner Innerlichkeit in der Aussenwelt‘ (Schüle) fortgeschritten ist, und hat dieselbe antimonarchischen [. . .] Charakter, so ist die psichopatia criminalis manifest.“125 Dieser grandiose Anspruch des Ichs, das nichts über sich duldet – jene ‚majestätische Stellung‘, die Ernst Schultze im Wahnsystem der Patientin S. als stirnerianisch klassifizierte und auf die Panizza in seiner unveröffentlichten Widmung an den Deutschen Kaiser Wilhelm II anspielte, indem er diesen als den „großen megalomanen“126 titulierte – ist in Panizzas ‚Beobachtung 5‘ der Kern der Stirnerschen Paranoia.127 Und diese wiederum ist ein typischer Fall für die „psichopatia criminalis“; denn „besonders unter dem Bild der paranoia entwikeln sich vielfach die Krankheitssimptome dieser kriminellen Psichose.“128 Panizza stellt hiermit Stirner als Paradebeispiel für die gleiche Psychose vor, die er im selben Jahr an Christus diagnostiziert: „Der psichjatrische Terminus, unter dem sich Christus uns darbietet, ist die paranoia“.129 Aus dem Umstand, daß Christus in psicho-patologischer Beleuchtung kein satirischer Text wie die Psichopatia Criminalis ist, wird ersichtlich, daß sich die satirische Distanzierung in der Psichopatia Criminalis, in der Panizza seine persönlichen Ikonen Luther, Schiller, Stirner zu Psychotikern erklärt, sich nicht auf den psychopathologischen Befund als solchen, sondern nur auf die verballhornte schulpsychiatrische Form und vor allem die parodierte politisch-juristische Bewertung dieser Fälle als ‚kriminelle Psychose‘ bezieht. Es geht Panizza um die Neubewertung der Psychose als schöpferische, emanzipatorische und potentiell geschichtsmächtige Kraft im Sinne seiner Genie-Psychopathologie, wenn er Christus und Stirner als Paranoiker vorführt, wodurch zudem letzterer und sein Nachfolger Panizza nochmals eine weitere charismatifikatorische Aufwertung erfahren sollen. 122 123 124 125 126 127 128 129

Panizza (1898a), S. 76 f. – H. i. O. Panizza (1898a), S. 79. Vgl. Panizza (1898a), S. 70 f. Panizza (1898a), S. 78 – H. i. O. Panizza (1985), S. 27. Vgl. Panizza (1898a), S. 76. Panizza (1898a), S. 81 f. Panizza (1898b), S. 207.

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IV. Der Wahnsinn, die Genialität und das Böse

Über die Paranoia führt Panizza in seiner Christus-Schrift aus: „Eine starke Innerlichkeit läßt die eigene Persönlichkeit als über die Maasen wichtig, die Welt als voller Beziehungen auf das eigene Ich erscheinen. Bald kommen Halluzinazionen, doch mehr innerlicher Art, als sog. ‚innere Stimmen‘, die das längst gehegte und gepflegte innere Stimmungsbild auch äußerlich manifestiren; so die unumgänglich notwendige äußerliche Gewißheit von der Realität der inzwischen übermäßig angewachsenen Persönlichkeit und ihrer Anexa in der Außenwelt feststellend.“130 So war für Panizza „Christus in psicho-patologischer Beleuchtung“ ein „echter Paranoiker, der, troz der in seiner Psiche wuchernden grandiosen und graßen Wahnideen, seinen Intellekt zu einer scharfen, ja glänzenden Verteidigungswaffe umgeschmiedet hatte.“131 Gerade deswegen war er Panizza zufolge „ein Geistesheld, der mit der ganzen zähen, nie wankenden Kraft des paranoïschen Wahns seine Ideen bis zum lezten Blutstropfen verteidigt; indem er als Märtirer fält, die Maßen mit dem Inhalte seines Wahns anstekt, und so der ‚Geisteskrankheit‘ eine fast 2000jährige Dauer von ‚Wahrheit‘ verschaft.“132 Die argumentative Stoßrichtung ist hier nicht die Diffamierung der christlichen Religion, die durch diesen „wunderbaren Anarchisten“133 in die Welt kam, dem Panizza einen „unauslöschlichen Ruhmestitel“134 zuspricht. Panizza geht es vielmehr, im Sinne seiner Psychopathologie des Genies, um die Relativität der Unterscheidung von pathologischem Wahn und visionärer Wahrheit, von krankhafter Halluzination und heiliger Offenbarung oder genialer Inspiration.135 Als weitere Beispiele solcher „paranoïschen Geister“, die „von einer fabelhaften geistigen Selbstsucht geplagt[]“ sind, nennt Panizza u. a. Luther, den Heiligen Franziskus und den Propheten Mohammed:136 „Die Halluzinationen und Visionen Mahomed’s bilden die reale Grundlage für das islamitische Glaubenssistem.“137 In diesen und ähnlichen Fällen handelt es sich für Panizza um den Auserwähltheits- und Größenwahn von Paranoikern, die sich in ihrer Grandiosität präsentieren und ‚von den Massen‘ angenommen werden, die sich von dem Wahn infizieren lassen. „Religionen sind relative Geisteswerte und -Wahrheiten, die einen günstigen Boden zum Fortwuchern finden. Es gibt keine absolute Wahrheiten. Es gibt nur das relative Maas von Selbst-Offenbarung im Menschen, und die Anstekung durch die Maßen.“138 Panizza beschreibt 130 131 132 133 134 135 136 137

Panizza (1898b), S. 207 f. Panizza (1898b), S. 214. Panizza (1898b), S. 222. Panizza (1898b), S. 222. Panizza (1898b), S. 223. „Als ob man das scheiden könne!“ (Panizza (1898b), S. 216). Vgl. Panizza (1898b), S. 211. Panizza (1898b), S. 216.

2. Metaphysische Innenansichten

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hiermit einen Vorgang, der sich soziologisch mit dem oben eingeführten Terminus der ‚charismatischen Kommunikation‘ erfassen läßt:139 Ein kommunikatives Angebot wird mit dem sozial erfolgreichen Anspruch auf die Grandiosität seines Urhebers beglaubigt. Anders als in der konstruktivistisch-wissenssoziologischen Perspektive ist allerdings für Panizza diese Grandiosität des Charismatikers kein durch charismatifikatorische Kommunikationsprozesse bedingtes soziales Konstrukt, sondern eine psychopathologische Tatsache, die entweder als Genialität erkannt, oder zur bloßen Geisteskrankheit vereinseitigt und damit verkannt wird. Charismatische Kommunikation erscheint bei Panizza als sozialer Erfolg des Paranoikers, während in konstruktivistisch-wissenssoziologischer Perspektive dieser Erfolg, wie oben dargestellt, durch die rekursive Vernetzung charismatischer und charismatifikatorischer Kommunikation140 und die hierdurch entstehenden Strukturen (hermetische Realitätskonstruktion in Sekten u. ä.) bedingt ist.141 Die satirische Form der Psichopatia Criminalis, die Stirner als einen ebensolchen Paranoiker vorführt, trägt der polemischen Stoßrichtung des Anarchisten Panizza gegen die herrschende politische Ordnung und insbesondere – in der satirischen Distanzierung – gegen die Ordnung des psychiatrischen Wissens Rechnung. Panizza persifliert den psychiatrischen Duktus, um in seinem Interesse als Anarchist und Psychopath die historisch-soziale Relativität der Differenz von Genie und Wahnsinn zu demonstrieren, und zugleich seiner Überzeugung von ihrer ontologischen Identität Ausdruck zu geben. Die seinerzeit im Genie-Diskurs durchaus konventionelle Annahme, die Weltgeschichte sei wesentlich durch das Wirken großer Persönlichkeiten bestimmt,142 wird zu der Vorstellung zugespitzt, es handle 138

Panizza (1898b), S. 217. Siehe oben, III. 4. b). 140 Siehe oben, III. 4. c). 141 Während Panizza sich zum sozialen Vorgang charismatischer Kommunikation in einer distanzierten Beobachterposition befindet, ist er in die charismatifikatorischen Kommunikationsprozesse involviert: Aus seiner Perspektive des (verkannten) genialen Psychopathen ist die Genie-Geltung von der sozialen Akzeptanz abhängig, das Genie-Sein hingegen nicht; wenn ein Individuum als Genie gilt, dann ist dies für ihn nicht etwa das Ergebnis sozialer Konstruktionsprozesse, sondern nur die Anerkennung des vorsozial gegebenen Genie-Seins. Die metaphysischen Grundlagen dieser Sichtweise werden in seiner Illusionismus-Schrift deutlich. Panizza ist, wie dort zu erkennen ist, kein soziologischer Konstruktivist, weil seine psychologische Argumentation dort, wo konstruktivistische Ansätze vorhanden sind, ihn aufgrund seines metaphysisch-ontologischen und kausalistischen Argumentationsschemas in einen erkenntnistheoretischen Solipsismus führen, aus dem er sich wiederum nur durch einen metaphysischen Sprung – in den noch eingehender zu betrachtenden ‚Dämonismus‘ – retten kann. 142 Vgl. z. B. Hartmann (1871), S. 725 f. 139

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IV. Der Wahnsinn, die Genialität und das Böse

sich bei diesen Heroen grundsätzlich um Psychopathen, die die bestehende Ordnung – in rechtlicher, moralischer, politischer, metaphysischer, epistemischer und sonstiger Hinsicht –, aus ihrem Wahn heraus und von pathologischen Zwängen getrieben, angreifen und danach trachten, diese umzuwälzen: „Die Zeit der Reformation und des deutschen Bauernkriegs liefern Beispiele in Masse, um zu zeigen, wie durch das verwegene Denken Einzelner und die krankhaften Fantasien gewisser rabjater Köpfe, die ruhigen, friedlichen gesättigten Volksmassen aufgerührt und zum Umsturz des Bestehenden getrieben werden.“143 Die Erfolge von „Halluzinanten“ wie Luther144 und anderen führen die „grosse Anstekungsfähigkeit“ der ‚psichopatia criminalis‘ vor Augen, „ihre Infekziosität für die Massen. Man hat immer in der Geschichte beobachtet, dass es wenige abnorm veranlagte, von Haus aus auf Abwege geratene Menschen waren, mit explosiblen Gedankenreihen – ‚Erleuchtete‘ nennen sie ihre Anhänger – die den Zündstoff für die grossen Volksbewegungen abgaben.“145 Es ist dieser historisch-soziale Erfolg, der die Gesellschaft veranlaßt, derartige Paranoiker als Genies, Religionsstifter usw. im Unterschied zu anderen ‚kriminellen Psychotikern‘ einzustufen. Gleichwohl bleiben sie für Panizza im Erfolgs- wie im Mißerfolgsfalle, was sie seiner Darstellung nach sind: Psychopathen – wie er selbst seiner Selbsteinschätzung nach.146 Mit dieser Überlegung wird nicht nur die Differenz von ‚Genie und Wahnsinn‘ relativiert, sondern auch die gesellschaftliche Ordnung mit ihren Unterscheidungen von Gut und Böse, Recht und Unrecht usw. als historisch-kulturell relativ zur Disposition gestellt. Denn der ‚kriminelle Psychotiker‘ stellt sich ja gegen und über die jeweils herrschenden Rechts- und Moralvorstellungen, und wenn er mit diesem kriminellen Angriff auf die bestehende Ordnung erfolgreich ist und sich durchsetzt, d. h. seine ‚psichopatia criminalis‘ epidemisch wird, dann gelten die alten Rechts- und Moralvorstellungen, gegen die er sich gerichtet hatte, nicht mehr. Die gesellschaftliche Wahrheit ist demnach der sozial durchgesetzte Wahn „[e]inzelne[r] verirte[r] Geister“147: „Im Mittelalter wäre es z. B. keinem Menschen eingefallen, das freie Verfügungsrecht des von Gott eingesezten Fürsten über Leib, Leben und Gedanken seiner Untertanen anzuzweifeln. [. . .] Als 143

Panizza (1898a), S. 38. Panizza (1898a), S. 38. 145 Panizza (1898a), S. 36 – H. i. O. 146 Stirner-interpretationsschematisch ist also für Panizza das Kriterium für die Unterscheidung sozial anschlußfähiger von ausgeschlossenen Individualidentitätsangeboten nicht, wie bei Schultze, gleichbedeutend mit der Differenz von Je-Einzigkeit und All-Einzigkeit, sondern mit der Unterscheidung von faktischem sozialen Erfolg oder Mißerfolg eines All-Einzigen. 147 Panizza (1898a), S. 81. 144

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aber vor 200 Jahren die englischen free-thinkers, die Frei-Denker in England [. . .] ihre feindliche Geistestätigkeit begannen, [. . .] verdichteten sich diese dissoluten, aufrührerischen Meinungen zu der Tese: als gäbe es ‚Menschenrechte‘ [. . .] Ein ganz wahnhaftes, luftiges Gedankengebilde; das Resultat jener englischen und französischen Denker und entgleisten Gesellen, die nicht rechtzeitig in ein lunatic asylum, oder in die Bastille, gebracht wurden“.148 So kann generell das, was gegenwärtig als recht gilt, in der Vergangenheit ein Unrecht gewesen sein (und umgekehrt) – mit der Konsequenz, daß es im Hinblick auf die Zukunft zur Disposition steht; es kommt dann nur auf den kriminell-psychotischen Versuch einer erneuten Umwertung der Werte an. Die Maßstäbe für Krankheit und Gesundheit, Recht und Unrecht, Gut und Böse, Wahrheit und Wahn usw. sind demnach für Panizza nichts als der Ausdruck des jeweils gesellschaftlich vorherrschenden – und damit als Wahrheit geltenden – Wahnsystems. Und der Psychopath kann sich aufgerufen fühlen, seinen eigenen Wahn dagegen zu setzen:149 „Das ist nämlich das Eigentümliche des Geistigen, dass es – da, wo es sich ausserhalb der Irrenanstalten zeigt – wo es sich selbst manifestirt, wo es sich in der Öffentlichkeit kundgibt, wo es seine Anstekungsfähigkeit im Hinblik auf die Massen erprobt hat, dass es wie ein fressendes Feuer um sich greift“.150 Mit der Figur des ‚infektiösen kriminellen Psychotikers‘, legt Panizza das Individualidentitätsangebot des sozial erfolgreichen ‚genialen Psychopathen‘ vor, also des Paranoikers, der sich – im Unterschied etwa zu Schultzes entmündigter und internierter Patientin S. – ‚außerhalb der Irrenanstalten zeigt‘ und Anhänger findet. Für diese Figur ist Stirner in Panizzas Sicht nicht nur ein herausragendes und leuchtendes Beispiel; sondern sie ist auch Ergebnis seiner theoretischen Beschäftigung mit Stirner, deren Niederschlag sich zuerst in der Illusionismus-Schrift von 1895 findet. In diesem Sinne verdankt sich auch die Figur des Paranoikers, als welchen Panizza Stirner neben Christus stellt, jenem Einfluß Stirners, zu dem sich Panizza im Vorwort des Illusionismus bekennt. Wie und mit welchen Folgen sich dieser Einfluß in dieser Schrift niederschlägt, so daß von einer adaptionistischen Interpretation des Einzigen die Rede sein kann, und inwiefern es sich hierbei um All-Einzigkeit handelt, wird im folgenden dargelegt. 148

Panizza (1898a), S. 80 f. – H. i. O. Es läßt sich leicht sehen, daß Panizza selbst mit seiner psychopathisch-anarchistischen Neuordnung des Wahnsinns im Verhältnis zur gesellschaftlichen Wahrheit, mit seiner Figur des ‚kriminellen Psychotikers‘ einen solchen Umwertungsversuch unternimmt, dabei als Psychopath und Psychopathologe auf die „grosse Anstekungsfähigkeit“ der ‚psichopatia criminalis‘, dieser „hartnäkige[n] und anstekungsfähigste[n] aller Psichosen“ hoffend (Panizza (1898a), S. 36 und S. 32). 150 Panizza (1898a), S. 39. 149

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IV. Der Wahnsinn, die Genialität und das Böse

b) Geniale Inspiration, psychotische Halluzination und gesunde Wahrnehmung aus psychopathologischer und psychopathischer Perspektive: Außen- und Innenansicht des Einzigen In seiner vor-stirnerianischen Schrift über Genie und Wahnsinn beschäftigt sich Panizza aus psychiatrischer Perspektive mit dem Genie, mit der „Art seiner seelischen Verfassung und seine[r] Verwandtschaft zu den Seelen-Erkrankungen“.151 In einer differenzierten Argumentation, die sich gegen die einfache Identifizierung von Genialität und Geisteskrankheit richtet (vgl. S. 105 f.), entfaltet Panizza hier die These, daß es eine „unverkennbare Aehnlichkeit“ von Genie und bestimmten „Arten von Psychosen“ gebe, die sich aus der „Analogie dieser [. . .] Psychosen mit gelegentlichen, aber ausschlaggebenden Zuständen bei genialen Menschen“ erklärt (S. 106). Diese Analogie sieht Panizza im „autochthone[n] Auftreten eines Phantasiegebildes oder eines Gedankens“ (S. 89), einer Vorstellung, die sich des Bewußtseins „unvermittelt, unerwartet, zufällig, wie von Außen kommend“ bemächtigt und „als etwas Neues, Plötzliches und Fremdartiges [. . .], und als etwas vom gewöhnlichen Denken grundsätzlich Verschiedenes“ erlebt wird (S. 87).152 In ähnlicher Weise wie im Wahn wird das Bewußtsein beim „Eintreten des genialen Augenblicks“ (S. 87) mit Vorstellungen, Ideen und Bildern konfrontiert, die ihm nicht als die eigenen erscheinen, die ihm unverfügbar sind und ihm äußerlich und fremd anmuten, obwohl sie keine Realität in der Außenwelt haben. Eine Erklärung für die Herkunft der äußerlich nichtexistenten, und dennoch dem Bewußtsein wie selbständige und unkontrollierbare Phänomene vorkommenden Wahn- und Trugbilder, Visionen und Inspirationen sieht Panizza in der psychologischen Konzeption des Unbewußten: „Seit wir wissen, daß ein Teil unserer Vorstellungen unbewußt ablaufen kann, ist der plötzliche Einbruch des genialen Einfalls leichter zu erklären: Nach einer Reihe unbewußter Vorstellungs-Akte tritt mit einemmal der geniale Gedanke bewußt zur Erscheinung, und der Betreffende ist über die Herkunft selbst im Zweifel und nennt es Einfall“ (S. 88).153 151

Panizza (1891), S. 86. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben in diesem und den folgenden Absätzen beziehen sich ebenfalls auf Panizza (1891). 152 „Eingebungen“ und „Inspirationen“, „ein plötzlicher seelischer Stoß von unerhörter Gewalt, dessen Nachzittern das Gemüth nicht mehr zur Ruhe kommen läßt“ und „für die ganze Lebenszeit“ entscheidet; und im Falle etwa eines Genies wie Descartes bringt darüber hinaus solch „ein einziger Moment, der vielleicht in weniger als einer halben Stunde abspielt, [. . .] Lösung und Arbeitsplan für ein halbes Säculum.“ (Panizza (1891), S. 100). 153 Panizza beruft sich u. a. auf Eduard von Hartmanns erstmals 1869 erschienene Philosophie des Unbewussten (vgl. Panizza (1891), S. 87), und man kann spekulieren, ob er durch diese zeitgenössisch vielbeachtete Schrift auf Stirners Einzigen, „ein Buch, das Niemand, der sich für practische Philosophie interessiert, ungelesen

2. Metaphysische Innenansichten

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Es sind in dieser Hinsicht die gleichen psychischen Vorgänge, die sowohl den Zuständen des Traumes und des Rausches (vgl. S. 106 ff.) als auch dem genialen Einfall und dem durch diesen ausgelösten Schöpfungsvorgang und eben auch bestimmten psychotischen Phänomenen zugrunde liegen – namentlich den Zuständen der „frischen Halluzinanten, also [. . .] neuerdings an Sinnestäuschungen Erkrankenden“, und der „psychische[n], geistige[n] Epilepsie“, jenem „eigenthümliche[n] Zustand von Persönlichkeitswechsel mit Bewußtseinsstörung und Auftreten von visionären Delirien“ (S. 106 – H. i. O.). In diesem Sinne ist Genialität nicht vollständig identisch mit Geisteskrankheit, aber dennoch dieser verwandt: So, wie sich der Haschischrausch als ‚experimentelle Geisteskrankheit‘ verstehen lasse – denn man „kann mit Haschisch innerhalb einer halben Stunde einen gesunden Menschen bis zu den turbulentesten Illusionen und Sinnestäuschungen bringen, ihn experimentell geisteskrank machen“ (S. 108) –, könne man die Genialität als „stehengebliebene Geisteskrankheit“ bezeichnen, die nicht notwendig den „Verlauf bis zum Wahnsinn oder Idiotismus [. . .] durchmacht, sondern stationär bleibt“ (S. 104). Die „Gleichartigkeit aller dieser seelischen Prozesse ist es, was uns die Berechtigung gibt, von der Identität bestimmter Zustände beim Genie mit halluzinatorischem Irrsinn, also mit Geisteskrankheit, zu sprechen.“ (S. 108) Dementsprechend nennt Panizza etliche Beispiele „halluzinatorische[r] und psycho-epileptische[r] genialer Menschen“ (S. 114 – H. i. O.), die in ihren genialen Momenten erwiesenermaßen z. B. „Gehörs-, Geruchs- und Geschmacks-Halluzinationen“ (S. 110) oder „schwere epileptische Attaquen“ mit den „lebhaftesten Visionen“ hatten (S. 114). lassen sollte“, aufmerksam gemacht wurde (Hartmann (1870), S. 646, vgl. S. 647 f.; vgl. Hartmann (1871), S. 716 ff.), so wie Hartmann selbst dies von Nietzsche behauptet (vgl. Hartmann (1891), S. 61) – aber ebenfalls spekulativ, denn bekanntlich gibt es keine Äußerungen Nietzsches zu Stirner –, der sich seinerseits in der zweiten seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, spöttisch auf just jene Passage aus Hartmanns Buch bezieht, in der dieser sich mit Stirner befaßt (vgl. Nietzsche, KSA 1, S. 313 ff.). Hartmann selbst gründete darauf gegen John Henry Mackay seinen Anspruch, der wahre und erste Stirner-Entdecker – und übrigens auch Stirner- (wie auch Nietzsche-)Überwinder zu sein (vgl. Hartmann (1897), S. 70; vgl. Hartmann (1922), S. 6, 137, 314 ff., 607 ff.). Im übrigen wird in diesem Zusammenhang auch immer gerne auf Nietzsches Kenntnis von Friedrich Albert Langes (1828–1875) Geschichte des Materialismus verwiesen, in dem auch ein Abschnitt über Stirner zu finden ist (vgl. Lange (1866), S. 528 f.) – und das auch bei Panizza zitiert wird (vgl. Panizza (1895), S. 178 f.). Siehe auch unten, VI. – Panizzas spätere Illusionismus-Schrift (1895) spielt im Titel auf ein aufklärungstheoretisches Konzept Eduard von Hartmanns in der Philosophie des Unbewussten an, in der dieser Stirners Einzigen dem gegenwärtigen, „Dritte[n] Stadium der Illusion“ zurechnet (Hartmann (1870), S. 645, vgl. S. 646 ff., bes. S. 649 f.; vgl. Hartmann (1871), S. 714 ff., 721 ff.).

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IV. Der Wahnsinn, die Genialität und das Böse

Diese psychiatrisch objektive Nähe von Genie und Wahnsinn macht zudem verständlich, wieso so viele Biographien genialer Persönlichkeiten zugleich Pathographien sind. Die psychopathologisch beobachtbare Analogie der genialen Inspiration und Vision mit der psychotischen Zwangsvorstellung und Halluzination begründet in psychiatrischer Sicht die erhöhte psychotische Anfälligkeit des Genies und erklärt die psychopathologisch einschlägigen Episoden im Leben genialer Individuen (vgl. S. 114 ff.). Nicht nur der statistische, sondern auch der psychiatrische Befund legt Panizza zufolge nahe, daß das Genie dem Wahnsinn näher ist als der geistigen Gesundheit. Genialität und Geisteskrankheit sind demnach zwar nicht per se gleichbedeutend, insbesondere ist nicht jeder Psychotiker genial; aber den genialen Visionär und den psychotischen Halluzinanten verbindet eine psychische Gemeinsamkeit, die sie in deutliche Distanz zum normalen – gesunden und nichtgenialen – Durchschnittsmenschen bringt. Diese „plötzliche Erleuchtung, dieses Hereinbrechen eines fast überirdischen Einflusses, an dem die betreffenden wie an eine fremde Macht glauben, das Hinaushorchen des genialen Menschen auf die fremde Stimme [. . .], das Phantom [. . .], dieser ganze Status, – erst langsames, dumpfes Hinbrüten, dann fiebernde Angst und Erregung – bringt die Genies psychologisch in dichteste Nähe mit einer Klasse perverser Geistesmenschen, die man allgemein unter dem Namen Halluzinanten zusammenfaßt.“ (S. 102 – H. i. O.) Der Begriff der Halluzination kennzeichnet somit die Identität von Genie und Wahnsinn in Differenz zur psychischen Normalität, wie sie der – noch nicht stirnerianisch ‚infizierte‘ – Psychiater Panizza in Genie und Wahnsinn beschreibt. Die genialen bzw. psychotischen Vorstellungen sind halluzinatorisch, im Unterschied zur normalen Wahrnehmung der Außenwelt. Der „beginnende Halluzinant stutzt genau anfangs wie das Genie über den fremden Eindringling [. . .]; aber meist häufen sich dann die Sinnesbilder so stürmisch, daß der Verstand Kontrolle und Kritik verliert, und das wilde Meer der Imagination den ganzen Menschen wie ein steuerloses Schiff hin- und herwirft. Beim genialen Menschen ist es im Ganzen selten, daß die plötzlichen Bilder seiner Phantasie wirklich bis zur Stärke von Sinnestäuschungen anwachsen, daß dieselben als Gestalten, Worte, Gerüche in die Außenwelt projicirt, und von dort zur Rechenschaft gezogen werden, wie es bei Luther (in seinen laut geführten Gesprächen mit dem Teufel), bei Schuhmann, Tasso, Byron, Cromwell, Socrates und vielen anderen der Fall war. Häufiger besteht jener Zustand, wo die aufsteigenden Bilder der Phantasie zwar als fremd, aber doch im eigenen Kopfe vorgehend, erkannt werden [. . .]. Umgekehrt beim Halluzinanten ist, wie das Wort sagt, das Anwachsen des unbewußt geborenen Phantasiegebildes bis zur Halluzination, bis zur Sinnestäuschung die Regel. Aber Beides kommt bei Beiden vor.“ (S. 107 f. – H. i. O.)

2. Metaphysische Innenansichten

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Festzuhalten ist, daß es sich bei diesen Halluzinationen um „unbewußt geborene Phantasiegebilde“ handelt und daß aufgrund der Projektion in die Außenwelt das psychische Unterscheidungsvermögen zwischen Innen und Außen – systemtheoretisch könnte man sagen: die Fähigkeit des psychischen Systems, zwischen Selbst- und Fremdreferenz zu unterscheiden154 – gestört ist. Dies zeigt sich auch an einem „weitere[n] Symptom von nicht zu unterschätzender Bedeutung, welches genialen Menschen wie Halluzinanten gemeinsam ist“, nämlich an den „laut geführten Selbstgespräche[n].“ (S. 111 – H. i. O.) „Der einzige Unterschied, in der Tat, zwischen einem Mit-Sich-selbst Redenden und einem Halluzinanten ist nur der, daß Ersterer noch Kenntnis davon hat, daß das unsichtbare Wort, dem er antwortet, noch in ihm selbst vorgeht, während der Letztere das schon nicht mehr weiß, sondern die Quelle draußen sucht.“ (S. 111) Zu Letzterem gehören die „Unterhaltungen Luthers mit dem Teufel (der ihn unter Anderem fragte, ‚was er mit den Klöstern angefangen‘)“ und auch „Socrates hatte nicht nur Gehörs-Halluzinationen, sondern er personifizirte sie bis zur Annahme einer überirdischen Person, die er daimon, Gottheit nannte, und von der er die Grundsätze seiner philosophischen Lehre erhalten haben wollte.“ (S. 110 – H. i. O.) In ihren intensivsten genialen Momenten waren also der mit dem Teufel streitende Luther und der mit seinem Daimon konferierende Sokrates jenseits der Grenze zur halluzinatorischen Psychose. Und darin sieht Panizza das genie-psychopathologisch Typische, denn bei „vielen genialen Menschen verstärken sich [. . .] diese inneren Anregungen zu wirklichen sinnlichen Bildern, die nach außen verlegt werden, also zur wirklichen Sinnestäuschung.“ (S. 110) Aus psychiatrischer Perspektive besteht also das Identische von genial-inspirierten oder visionären und halluzinatorischen oder psychisch-epileptischen Zuständen im Unterschied zur normalen und gesunden Geistestätigkeit in der Aufhebung des Unterscheidungsvermögens zwischen psychischem Innen und Außen. Eine fremd und unverfügbar erscheinende Zwangsvorstellung tritt ins Bewußtsein und wird in die Außenwelt projiziert, so daß sie dem Bewußtsein als ebenso real vorkommt, wie die Objekte der Außenwelt, die das normale und gesunde psychische Bewußtsein wahrnimmt. Das geniale oder halluzinatorische Bewußtsein kann indes nicht zwischen seinen eigenen Halluzinationen und den allgemein erfahrbaren Wahrnehmungen unterscheiden, und dies unterscheidet es vom Bewußtsein des psychiatrischen – wie auch jedes anderen normalen und gesunden – Beobachters. Der Psychiater kann von außen erkennen, daß die Diffusion der Grenze zwischen psychischem Innen und Außen im psychotischen Zustand auf dem Einbruch von unbewußten Vorstellungen ins Be154 Vgl. Luhmann (1985), S. 64 ff.; (1996a), S. 354 ff.; vgl. auch Luhmann (1992b).

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IV. Der Wahnsinn, die Genialität und das Böse

wußtsein beruht, die der Betroffene nach außen projiziert und die in ihm die Illusion von eigenständigen, ihm äußerlichen Objekten erzeugen. Panizza setzt also in seinen psychiatrischen Betrachtungen in Genie und Wahnsinn eine – von normalen Individuen wahrnehmbare – Außenwelt im Unterschied zum psychischen Innen voraus; und die normale Psyche kann zwischen diesem Innen, also sich selbst, und dem Außen, der äußeren Realität, unterscheiden, also zwischen Selbst- und Fremdreferenz. Im Unterschied zu diesem normalen bzw. gesunden Bewußtsein verfügt das halluzinatorische Bewußtsein des Psychotikers oder Genies nicht über dieses Unterscheidungsvermögen: Seine Halluzinationen erscheinen ihm als in der Außenwelt real existierende Objekte; es projiziert Objekte in die Außenwelt, die ihm ebenso real erscheinen wie diejenigen, die vom normalen Bewußtsein in der Außenwelt wahrgenommen werden. Das psychopathische Bewußtsein unterscheidet also nicht zwischen Wahrnehmung und Halluzination, es unterscheidet nicht zwischen der wahrgenommenen Außenwelt und der projizierten Innenwelt – im Unterschied zum gesunden Bewußtsein des Psychiaters. In Der Illusionismus und die Rettung der Persönlichkeit nähert sich Panizza dem in Genie und Wahnsinn exponierten Problem des Verhältnisses des Bewußtseins oder Denkens zur Außenwelt und zur Halluzination aus einer veränderten Perspektive, aus der er nun selbst die Differenz von Innen und Außen und diejenige von Wahrnehmung und Halluzination in Frage stellt. Man könnte, in Anlehnung an Ernst Schultze, diesbezüglich von einem verschobenen oder ‚verrückten‘ Standort sprechen. Gleichermaßen Ausdruck wie Folge dieser Standortverschiebung ist, daß Panizza hier auf die Differenzierungen sowohl innerhalb des psychopathologischen Bereichs, als auch insbesondere zwischen Genie und Wahnsinn verzichtet;155 ihm geht es hier um die prinzipielle Identität der psychischen Vorgänge. Die Einteilung in unterschiedliche Typen von Genies in ihrer abgestuften Ähnlichkeit zu unterschiedlichen Formen der Geisteskrankheit, die Differenz zwischen manifesten Psychosen einerseits und der ‚stationären Geisteskrankheit‘ des Genies andererseits, die pathographische Kasuistik von klinisch einschlägigen Episoden bei einigen Genies im Unterschied zu psychiatrisch gesunden Genies – all dies ist hier nicht von Bedeutung. Die einschlägigen großen Persönlichkeiten bzw. Genies, Descartes, Luther, Sokrates, Mohammed usw. werden allerdings angeführt, und sie spielen als „reine Triebmenschen“ eine zentrale Rolle.156 Sie sind herausragende Beispiele für den von Panizza in der Illusionismus-Schrift exponierten ‚Individualisten‘, der nur seinem „Dämon“ gehorcht, im Unterschied zum nichtgenialen „Plattköpfigen“.157 Der von seinem „psichischen, elementaren 155 156

Vgl. z. B. Panizza (1895), S. 156. Panizza (1895), S. 202, vgl. S. 157 f., 198.

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Zwang“158 getriebene Individualist entspricht dem in Panizzas 1898er Schriften entworfenen Typus des ‚kriminellen Psychotikers‘ bzw. ‚Paranoikers‘.159 Hieran zeigt sich einerseits die thematische Kontinuität, andererseits kommt die perspektivische Standortverschiebung im Vergleich zu Genie und Wahnsinn zum Ausdruck. Panizza beobachtet den Psychopathen im Illusionismus nicht mehr aus der Außensicht des Psychiaters, sondern aus der Innensicht des Psychopathen. Diese perspektivische ‚Verrückung‘ verdankt sich dem Einfluß Stirners,160 auf den sich Panizza im Vorwort beruft. Sie ist das Ergebnis der von Panizza beanspruchten Aktualisierung Stirners. Denn ein halbes Jahrhundert nach der Erstveröffentlichung des Einzigen ist die politische und geistesgeschichtliche Lage in einer Weise verändert, der Panizza mit Der Illusionismus und die Rettung der Persönlichkeit meint Rechnung tragen zu müssen, um sich das Anliegen des ‚Einzigen‘ zu eigen machen zu können;161 daher betont er „den prinzipiellen Unterschied des Ausgangspunktes in beiden Sistemen“,162 seines eigenen und demjenigen Stirners: „Stirner seufzte unter dem elendigen Joch der Reakzion der Vierziger Jahre. Und seine formellen Lehrmeister im Denken waren: Hegel, Fichte, Ludwig Feuerbach. Wir Heutigen [. . .] stehen, nach der Richtung der Erforschung des Menschen, unter dem Zeichen der Naturwissenschaft und der biologischen Disziplinen. Und hier im speziellen Fall ist der Ausgangspunkt die Psichiatrie, das patologische Denken, das kranke Sensorium, die psichologische Selbst-Beobachtung. Und was die politische Maxime anlangt, die sich in solche Darlegungen ohne unser Zutun einschleicht, so wird sie Der, der Augen hat zu sehen, schon finden.“163 Die historischen Voraussetzungen haben sich also verändert, die Feinde haben eine andere Gestalt – aber die Front ist die gleiche: Stirner hatte als Einziger die Allmachtsansprüche seiner konkreten Individualität gegenüber 157

Panizza (1895), S. 202. – „Die Anwendung von Moral auf reine Triebmenschen ist daher ein Unding und kann nur von Plattköpfigen versucht werden, die von der elementaren Wirkung des Dämonischen keine Vorstellung haben.“ (Panizza (1895), S. 202). 158 Panizza (1895), S. 202. 159 Vgl. Panizza (1898a) u. (1898b). 160 Vgl. auch Stirner, EE, S. 381. 161 Zu dieser Zeit ging man überdies noch von dem in der Erstausgabe des Einzigen gedruckten Erscheinungsjahr 1845, nicht 1844, aus, so daß neben allen sonstigen Stirner-Referenzen und -Reverenzen Panizzas außerdem Der Illusionismus und die Rettung der Persönlichkeit. Skizze einer Weltanschauung von 1895 als eine Art Jubiläumsschrift zu verstehen ist. 162 Panizza (1895), S. 147. 163 Panizza (1895), S. 147 f. – H. i. O.

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IV. Der Wahnsinn, die Genialität und das Böse

der Welt als seinem Eigentum behauptet und sich gegen die Zumutungen des ‚Liberalismus‘ und aller anderen Formen von ‚Besessenheit‘ bzw. ‚Gespensterherrschaft‘ empört, indem er die idealistische Dialektik ad absurdum führte, und so die ‚abstrakten, fremden, fixen Ideen‘ – ‚Staat‘, ‚Gesellschaft‘, ‚Moral‘, ‚Menschheit‘ usw. –, die ihn zu unterwerfen beanspruchten, zu bloßen Einbildungen erklärte und vernichtete.164 Panizza sieht sich fünfzig Jahre später einer materialistischen „Naturwissenschaft“ gegenüber, „unter deren ausschließlichen und nüchternen Bann, man kann sagen, alles moderne Denken seit bald einem halben Jahrhundert steht“, deren „Göttlichkeit“ und „Herrschaft“ aber „dem Ende zugeht“.165 So, wie Stirners Einziger die historisch letzte Form der ‚Besessenheit‘, den junghegelianischen ‚humanen Liberalismus‘ überwindet, indem er diesen dessen eigener Religionskritik aussetzt und sich schließlich selbst als der Einzige an die vormals von Gott, der Vernunft und dem Menschen beanspruchte Stelle des Allmächtigen setzt: eben so beansprucht Panizza, als „Denker“166 „von seinem Denken ausgehen[d]“167, die mechanistisch-naturwissenschaftliche Psychologie zu überwinden, wobei er sich argumentativ auf deren psycho-physiologische Erkenntnisse beruft, um die „Omnipotenz“168 seines Denkens gegen die Zumutungen dieser „gegenwärtigen Psichofisiker“169 zu behaupten. Denn „die Psichologen und Fisiologen, der psicho-fisische Materjalismus, die Vertreter der experimentellen Psichologie auf materjalistischer Grundlage und jener auf hipnotistisch-psichologischer Grundlage, die psicho-fisischen Parallelisten und filosofisch-materjalistischen ‚Monisten‘ “,170 sie alle wollen sein Denken degradieren zu einer „molekülaren Bewegung der Nervenelemente“, zur Wirkung von „Muskelzusammenziehungen“,171 zu einer physiologischen „Nebensache“,172 zur „überflüssige[n] Begleiterscheinung zentraler Gehirn-Prozesse“.173 Was „die Materjalisten am liebsten los wären, – ist das Denken. [. . .] Ihre Teorie verlangt absolute Einhaltung des Programms, dass das gesamte Dasein des Menschen in materjellen Vorgängen sich abspiele, seine gesamte Persönlichkeit in Gehirn-Reflexen 164

Vgl. z. B. Stirner, EE, S. 36 ff., 42 ff., 46 ff., 105 ff., 127 ff., 136 ff., 158 ff., 353 ff. Vgl. auch, Panizza als maßgebliche zeitgenössische Sekundarliteratur zu Stirner vorliegend, Hartmann (1870), S. 646 f.; Hartmann (1871), S. 716 f. 165 Panizza (1895), S. 148. 166 Panizza (1895), S. 191. 167 Panizza (1895), S. 155 – H. i. O. 168 Panizza (1895), S. 156. 169 Panizza (1895), S. 151. 170 Panizza (1895), S. 151. 171 Panizza (1895), S. 153. 172 Panizza (1895), S. 155. 173 Panizza (1895), S. 152.

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sich erschöpfe.“174 So wie Stirner seinerzeit seine konkrete sinnliche Individualität durch abstrakt-allgemeine Ideen negiert sah und diese seinerseits als Einziger vernichtete, sieht Panizza seine Persönlichkeit als Denker durch den Materialismus negiert – und trachtet nun seinerseits danach, diesen zu vernichten.175 Dies ist für Panizza gleichsam die neue Kampflinie des Einzigen: Gegen die materialistische „Vorstellung, dass sein gesamtes Dasein als Mechanismus beschlossen sei“, rettet er sich und seine Persönlichkeit „in sein Denken“, das er für seine „Hauptsache“ hält.176 Und „von seinem Denken ausgehen[d] – nicht von der Materje; denn von hier aus ist die Erreichnung des Denkens ausgeschlossen“ –177 begründet er schließlich seinen uneingeschränkten, nicht durch moralische, rechtliche oder sonstige Rücksichtnahmen modifizierten Verfügungsanspruch als Denkender über die Welt. Von diesem Standpunkt des in Panizza wiedererwachten Einzigen erscheint folgerichtig die im Titel angekündigte ‚Rettung der Persönlichkeit‘ unter dem letzten Abschnittstitel als „Individualismus“178. Dieser Standpunkt aber, von dem aus Panizza zu dieser „Weltanschauung“179 gelangt, ist, wie bereits zitiert, „das patologische Denken“, also „die psichologische Selbst-Beobachtung“ des Psychopathen,180 der hier als der Denker par excellence erscheint, und zwar des Psychopathen in der ersten Person Singular: „Wer die gesamte Welt vom Denken aus konstruiren will, muss es von seinem Denken aus tun. Und wer es von seinem Denken aus unternehmen will, muss es von einem persönlichen Erlebnis in seinem Denken aus tun.“ Und 174

Panizza (1895), S. 154 f. – H. i. O. Anmerken läßt sich, daß das berechtigte Anliegen, die Autonomie des Psychischen gegenüber einem neurophysiologistischen Absolutismus bzw. Reduktionismus zu behaupten – wie auch gegen andere Reduktionismen z. B. biologistischer oder soziologistischer Art –, in dem Moment quasi übers Ziel hinausschießt und seinerseits in einen Absolutismus umschlägt, da, wie dies bei Panizza der Fall ist, ‚Autonomie‘ mit ‚Omnipotenz‘ gleichgesetzt wird. Bei Panizza nimmt dies, wie noch genauer zu sehen sein wird, die Gestalt eines Solipsismus an, der auf seinem metaphysischen, zwischen Wesen/Sein und Erscheinung/Nichts unterscheidenden Beobachtungsschema beruht. Mithilfe der systemtheoretischen Leitdifferenz von ‚System‘ und ‚Umwelt‘ läßt sich hingegen ebenso von der Autonomie psychischer Systeme wie von derjenigen neurophysiologischer oder sozialer Systeme ausgehen, womit zugleich die Omnipotenz dieses oder jenes Systems ausgeschlossen ist. Insbesondere läßt sich hiermit die für die soziologische Perspektive konstitutive Autonomie des Sozialen theoretisch begreifen, ohne daß damit die Eigenlogik oder gar die Existenz von beispielsweise psychischen Systemen oder Organismen geleugnet wäre. 176 Panizza (1895), S. 155. 177 Panizza (1895), S. 155 – H. i. O. 178 Panizza (1895), S. 193. 179 Panizza (1895), S. 155. 180 Panizza (1895), S. 148 – H. i. O. 175

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IV. Der Wahnsinn, die Genialität und das Böse

„[d]asjenige im Denken [. . .], welches mich bei meiner Untersuchung [. . .] am intensivsten von der Omnipotenz dieses merkwürdigen, inneren Erlebnisses [. . .] von der ausschlaggebenden Wichtigkeit, von dem Primat, meines Denkens überzeugen“ wird, „dasjenige persönliche Erlebnis in uns, welches uns am entschiedensten, am direktesten, oft in erschreckender Weise, den Gedanken von der Genuität, von der Ursprünglichkeit des Denkens nahelegt“ ist für Panizza „[d]er Zwangs-Gedanke. Die Inspirazion. Die Halluzination.“181 Eine entscheidende Konsequenz dieser Bestimmung des halluzinatorischen Denkens als Ausgangspunkt der Weltkonstruktion – in Analogie zur Weltaneignung vom Standpunkt des Einzigen – wird darin zu sehen sein, daß die Welt im ganzen zur Halluzination bzw. Illusion des Denkers erklärt wird, der darin seine Unabhängigkeit gegenüber der materiellen Welt behauptet, indem er diese vernichtet. Gegenüber Genie und Wahnsinn ist also der Standpunkt in Der Illusionismus und die Rettung der Persönlichkeit verschoben, von der Außensicht des Psychiaters auf die Innensicht des halluzinierenden Psychopathen; und dieser ‚verrückte‘ Standpunkt ist der Standpunkt Panizzas in der Perspektive des Einzigen: einerseits insoweit, als Panizza seiner Selbstauskunft nach diese Schrift der Anregung und dem Einfluß seiner Stirner-Lektüre verdankt; andererseits insoweit, als er sich das seiner Interpretation zufolge ‚individualistische‘ Anliegen Stirners unter veränderten historischen Bedingungen zueigen macht und fortzuführen beansprucht.182 Der Illusionismus ist demnach eine Artikulation des Einzigen in der Interpretation Panizzas. Insofern ist diese Schrift eine im engeren Sinne rezeptionsgeschichtlich relevante Deutung des Einzigen in Gestalt einer adaptionistischen Interpretation, die sich im Unterschied zu etwa philologischen Textexegesen nicht mit hermeneutische Korrektheit bezeugenden Einzelnachweisen aufhalten zu müssen meint, sondern insgesamt eine Umsetzung ‚im Geiste des Werkes‘ sein will. Panizza legt als Interpret seine eigene Version des Einzigen vor – und man könnte argumentieren, daß eine solche An-Eignung des Stirnerschen Einzigen durch die in Stirners Buch vertretene Auffassung gedeckt ist;183 In jedem Fall entspricht dies dem Standpunkt des ‚Psychopathen‘, der im Illusionismus artikuliert wird.184 181

Panizza (1895), S. 156 – H. i. O. Der Einfluß Stirners zeigt sich außerdem auf der sprachlich-stilistischen Ebene. Das ist nicht unbedeutend, denn nicht zuletzt auf ihrer Sprach-Schöpfungskraft gründet ja Panizzas Bewunderung für Luther und Stirner; seine eigene, eigenwillige Orthographie, die bezeichnenderweise im 1891er Vortrag des Psychiaters noch nicht vorliegt, unterstreicht die Bedeutung dieser Ausdrucksebene für den schriftstellernden ‚Psichopaten‘ Panizza. Nicht wenige der im folgenden zitierten Passagen der Illusionismus-Schrift gemahnen im Duktus stark an den Einzigen. 183 Vgl. z. B. Stirner, EE, S. 376 ff. 182

2. Metaphysische Innenansichten

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c) Die solipsistische Metaphysik illusionistisch-dämonistischer All-Einzigkeit und ihre narzißtisch-kränkungsregressiven Implikationen Panizzas im Illusionismus gegenüber Genie und Wahnsinn stirnerianisch verschobener Standort läßt sich an drei signifikanten Unterschieden der Illusionismus-Schrift gegenüber Genie und Wahnsinn kennzeichnen, von denen aus zunächst die Formbestimmung dieser adaptionistischen Interpretation des Einzigen, also die sachdimensionale Unterscheidung von Innen und Außen, und die Zeitdimension zu beschreiben sind: Erstens geht es, wie der Titel bereits annonciert, im Illusionismus um die Skizze einer Weltanschauung, nicht mehr bloß um das psychiatrische Spezialthema Genie und Wahnsinn, wenngleich dieses systematisch im Zentrum der Illusionismus-Schrift steht. Dies ist unmittelbare Folge der Standortverrückung, denn hier beobachtet nicht mehr – wie oben gezeigt – der Psychiater von außen den genialen Psychopathen, sondern hier beobachtet das ‚psychopathische Denken‘ sich selbst und konstruiert aus sich heraus die ganze Welt. Der Psychopath beschränkt sich nicht auf das Fachgebiet des Psychiaters, sondern liefert eine Weltanschauung. Er präsentiert sich als „Denker“,185 der dem Typus des ‚Paranoikers‘ oder ‚kriminellen Psychotikers‘ aus den 1898er Schriften entspricht,186 als welchen er dort u. a. Stirner präsentiert. Und als „Denker“, der „von Desillusion zu Desillusion“ zu schreiten habe,187 beruft sich Panizza hier wiederum explizit auf Stirner: „Nagt an Dir ein Gedanke: Denke ihn weg (Stirner); verzehre ihn, indem Du ihn intensiv in die Arbeit nimmst, und er ist weg; du bist frei; die Illusion zerstört. – Eine andere rükt nach? – Selbstverständlich! Aber die erste ist fort. Und 184 Gerhard Lehmann bezeichnet drei Jahrzehnte später Stirner als den Ausgangspunkt Panizzas: „Wird das immanente Prinzip durchbrochen und dennoch der Anspruch auf einen (metaphysischen) Solipsismus nicht aufgegeben, so tritt eine gewisse Bindung zwischen Individualismus und Solipsismus ein, die wir besonders bei einigen Denkern beobachten können, welche, wie Schellwien von Schopenhauer, Panizza von Stirner, Simmel von Nietzsche ausgehen, also jedenfalls erkenntnistheoretisch unbelastet sind.“ (Lehmann (1926), S. 33 – H. i. O.) Neben der in den folgenden Ausführungen zu Panizza noch weiter zu betrachtenden Verbindung von Individualismus und Solipsismus und der damit einhergehenden Stirner-Referenz ist hieran insbesondere bemerkenswert, daß Panizza hier nicht als Literat oder Satiriker, sondern als ‚Denker‘ gewürdigt und in eine Reihe mit Robert Schellwien und Georg Simmel gestellt wird. Auf letztere wird im Zusammenhang mit dem Individualismus- und ‚Stirner-und-Nietzsche‘-Diskurs der Jahrhundertwende noch näher einzugehen sein; siehe unten, VI. 6. b) aa) und cc). 185 Panizza (1895), S. 197. 186 Vgl. Panizza (1898a) u. (1898b). 187 Panizza (1895), S. 197. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich im vorliegenden und folgenden Unterabschnitt ebenfalls auf Panizza (1895).

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IV. Der Wahnsinn, die Genialität und das Böse

mit der zweiten mach es ebenso. Das erwarte Du nicht, dass Du auf dieser Welt zu einem Ziel gelangest! [. . .] was Du errichtet, Glüklicher, darfst Du wieder zerstören. [. . .] Denn Dein Wesen, Mensch, ist Bewegung, nicht Ruhe. Tief in Dir lebt unauslöschlich der Destrukzionstrieb des Tieres.“ (S. 195) Dementsprechend korrigiert Panizza dann auch – analog der Stirnerschen Versicherung, dessen prinzipienfeindlicher und ideenzerstörender Einziger sei weder Prinzip noch Idee188 – den ‚weltanschaulichen‘ Status seines Denkens: „Unser Sistem ist kein Bestehendes, sondern ein Bewegtes; kein Kredo, sondern Insinuazion. Kein Lehrsaz, sondern eine Funkzion; keine Weltanschauung, sondern ein Weltprozess; nichts, was sich für Jeden schikt, sondern eine Aufmunterung an Jeden zur Untersuchung an Sich Selbst; [. . .] kein Vorschlag zur Generalisirung, sondern zur Individualisirung; keine Einladung zum Sich-Einschlichten, sondern zum Frontmachen!“ (S. 197). In der anarchistischen Stoßrichtung dieses ‚weltprozeßhaften Systems‘ artikuliert sich der Psychopath Panizza, nicht mehr der Psychiater. Zweitens wird von diesem ‚verrückten‘ Standpunkt, der Innenansicht des Psychopathen, mitgeteilt, daß es ein Außen gar nicht gibt: „Leugnung der Aussenwelt! – In der Tat ist dies die selbstverständliche und unvermeidliche Konsequenz unserer Anschauung.“ (S. 179) Dies erschließt den spezifischen Sinn der Behauptung, bei dieser Welt-Anschauung handle es sich eigentlich um einen „Weltprozess“ (S. 197), wenn Panizza fordert, „die Aussenwelt als einen im Denken gegebenen, mit ihm gleichzeitigen, identischen Prozess anzusehen“ (S. 175). Damit wird zum einen die Möglichkeit der psychiatrischen Außen-Perspektive geleugnet, auf der die Unterscheidung von normalem und psychopathischem Denken beruht. D. h. die Perspektive des Psychopathen ist die einzig verfügbare. Von außen läßt er sich nicht beobachten. Zum anderen wird mit dieser Leugnung einer vom Denken unabhängigen Außenwelt eine erkenntnistheoretisch solipsistische Position behauptet, und zwar auf dem Wege der Gleichsetzung von Wahrnehmung und Halluzination.189 Die in Genie und Wahnsinn explizit vorausgesetzte Unterscheidung von Innen und Außen des Denkens entfällt zugleich mit der Unterscheidung von Wahrnehmung und Halluzination. 188

Vgl. z. B. Stirner, EE, S. 163 ff., 188 ff., 400 ff.; vgl. auch Stirner (1845). Stirner wird von Kritikern immer wieder des Solipsismus bezichtigt – Ernst Bloch (1885–1977) beispielsweise bezeichnet, entgegen anderslautenden Einschätzungen im Prinzip Hoffnung (vgl. Bloch (1959 II), S. 662 ff.), in seiner Tübinger Einleitung in die Philosophie „Stirners verrücktes Meinsein“ als „ganz solipsistisch“ (Bloch (1963/64), S. 238 und S. 370) – und ebenso häufig gegen diesen Vorwurf in Schutz genommen, wie etwa die Ausführungen Hans Sveistrups (1932) zeigen; siehe hierzu unten, VII. 3. a) bb) (2). Panizza aber dekliniert in seiner adaptionistischen All-Einzigkeits-Deutung nicht nur eine solipsistische Position durch – mit der dabei erreichbaren Konsequenz –, sondern befürwortet sie auch. 189

2. Metaphysische Innenansichten

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Von der Halluzination aus begründet Panizza den ‚illusionistischen‘ Solipsismus, unter Berufung auf die wissenschaftlichen „Kentnisse[] über Nerven-Fisiologie“ (S. 160): „Die Halluzination ist ein Einbruch in mein Denken, der [. . .] mit einer Projekzion in die Aussenwelt verknüpft ist, also in den Bereich der Erscheinung fält. Ueber ihr fisiologisches Entstehen sind Alle, Psichiater wie Psichologen, soweit einig, dass sie [. . .] fisiologisch identisch ist mit der durch Sinnesperzeption, in Folge ‚äusseren‘ Reizes entstandenen Wahrnehmung“, denn beide, Halluzination wie Wahrnehmung, entstünden „zentral [. . .] in der Vorstellung“ bzw. seien Produkte neurophysiologischer Prozesse „in der Hirnrinde“ (S. 160). Um die Frage nach beispielsweise dem „Unterschied zwischen einem wirklichen und einem halluzinierten Baum, da der zentrale Prozess der Wahrnehmung ja für die Halluzination wie für die normale Sinnes-Empfindung der gleiche ist“, negativ beantworten zu können, negiert Panizza die Bedeutung und Existenz des äußeren Reizes beim Wahrnehmungsvorgang, und erklärt so die Halluzination wie die Wahrnehmung gleichermaßen als bloße Projektion: „[N]ormale Sinnes-Wahrnehmung wie Halluzination [werden] in gleicher Weise aus dem Innern in die Aussenwelt projizirt [. . .]. Da aber dann der vorausgehende Weg des Eindringens der Aussenwelt in mein Inneres bei der normalen Sinnes-Wahrnehmung überflüssig wird – auch wenig wahrscheinlich ist, und auch sinnfällig nicht stattfindet; denn der Baum dringt doch nicht in meinen Kopf – so ist die Welt Halluzination.“ (S. 161 – H. i. O.) Demnach gibt es keinen Unterschied zwischen Wahrnehmung und Halluzination, beide sind als Projektionen identisch; wie die Wahrnehmung selbst, so ist dann auch die Vorstellung einer wahrnehmbaren Welt, also einer vom psychischen Innen unterschiedenen Außenwelt eine Halluzination; mithin ist „die Welt [. . .] [e]ine Illusion“ (S. 162 – H. i. O.), und demnach ist auch die Unterscheidung von Innen und Außen eine Illusion: Es gibt kein Außen, denn „die gesamte Aussenwelt stekt in meinem Innern.“ (S. 169) Damit wird auch die in Genie und Wahnsinn dem gesunden oder normalen Bewußtsein zugeschriebene Unterscheidung von Selbst- und Fremdreferenz zur Illusion erklärt. Die gesamte Welt gilt dem ‚Illusionisten‘ Panizza vom ‚psychopatischen‘ Standpunkt als mit seinem Bewußtsein identisch.190

190 Vom konstruktivistischen Standpunkt aus beruht dieser solipsistische Fehlschluß offensichtlich darauf, daß Panizza nicht zwischen Beobachtung und Operation unterscheidet (vgl. Luhmann (1990b), bes. S. 37 ff., 55 ff.; Luhmann (1997a), S. 1109 ff., bes. S. 1120), und daß er, aufgrund seines metaphysisch-ontologischen Beobachtungsschemas (Sein/Wesen vs. Nichts/Erscheinung) jeden im Ansatz konstruktivistischen Befund nihilistisch kurzschließt, indem er Konstrukte – z. B. psychischer oder neurophysiologischer Systeme – zu nichtigen Illusionen erklärt, weil er sie nicht auf der Sein/Wesen-Seite seines metaphysisch-ontologischen Beobachtungsschemas verorten kann (vgl. z. B. Panizza (1895), S. 178 f.); ähnlich wie der

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IV. Der Wahnsinn, die Genialität und das Böse

Alle in dieser „Erscheinungswelt“ wahrgenommenen materiellen Objekte sind bloß Halluzinationen, Traumgebilden gleich, das Ergebnis projektiver Prozesse. Das gilt in folgenreicher Weise insbesondere auch für die sozialen Andern, „meine[] der Erscheinungswelt angehörenden Nebenmenschen“ (S. 165), ebenso wie für den eigenen Körper: „Mit der Zurüknahme der Aussenwelt in mein Denken nehme ich aber natürlich ebenfalls den Raum zurük, eine Bestimmung, die, wie sie unvermeidlich mit der Projekzion in etwas ausser mir gegeben war, nunmehr beim Zusammenfallen meiner räumlichen Halluzination mit meinem Denken in Nichts zerfällt. – Und da mein Körper, mein Kopf, mein Hirn, meine Ganglienzelle und der Gehirn-Reflex, den ich hier beachte, Teile der Aussenwelt sind und Illusions-Produkte, wie Alles andere ausser mir, so ziehe ich mich auf mein Denken zurük“ (S. 172 – H. i. O.). Das bedeutet zunächst, daß dieser Denker der einzige Denker ist, denn die sozialen Andern sind bloße Illusion; sie sind nicht real. Er ist der einzige Halluzinant, die Andern sind, ebenso wie sein Körper, Halluzinationen, und zwar seine Halluzinationen. Mit dieser solipsistischen Pointe, die sich wie ein Kommentar zur Schlußpassage des Stirnerschen Einzigen liest – insbesondere des Satzes: „Im Einzigen kehrt selbst der Eigner in sein schöpferisches Nichts zurück, aus welchem er geboren wird“191 –, präsentiert sich Panizza hier als All-Einziger. Die All-Einzigkeit charakterisierende sozialdimensionale Asymmetrie zwischen dem einzigen Ich und den nicht-einzigen sozialen Anderen nimmt hier die Gestalt einer Asymmetrie zwischen dem Halluzinanten und seinen Halluzinationen, den bloß halluzinierten Anderen (und sonstigen Objekten) an. Die Folgen dieser konzeptionellen Verschiebung gegenüber Genie und Wahnsinn für den von Panizza propagierten ‚Individualismus‘ sind noch eingehender zu betrachten. Drittens verwirft Panizza im Illusionismus das psychologische Konzept des Unbewußten, von dem er in Genie und Wahnsinn noch ausgegangen war, als eine „der kindischsten und puerilsten Leistungen in unserem zeitgenössischen Denken. Wer sagt uns, dass es ‚unbewusste Vorstellungen‘ gibt? Ungedachtes Gedachtes ist eine contradictio in adjecto; eine Verneinung bei gleichzeitiger Behauptung. [. . .] Denn nur in dem Charakter der Bewusstheit kennen wir Geistiges.“ (S. 158, vgl. S. 162 f.) Die Konsequenz ist, daß Panizza die Halluzination nicht mehr, wie noch in Genie und Wahnsinn, als Projektion des Unbewußten erklären kann. Dies ist für ihn ein systematisch zentrales Problem, da ja für ihn Halluzination und Wahrnehmung identisch sind, nämlich Illusionen, die keine Entsprechung in der Außenwelt haben, denn diese ist als ganze ebenfalls „illudorisches MachNihilist, der aus dem Befund des ‚Gottestodes‘ schließt, daß nun ‚nichts wahr‘ und ‚alles erlaubt‘ sei. 191 Stirner, EE, S. 412 – H. i. O.

2. Metaphysische Innenansichten

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werk“ (S. 168). Insofern sind beide, Halluzination wie Wahrnehmung, gleichermaßen als Projektionen zu verstehen, nur eben nicht als Projektionen eines Unbewußten; als Projektion seines bewußten Denkens kann er die Welt indes auch nicht erklären, denn dann erschiene sie ihm nicht als wahrnehmbare Außenwelt. Seine Frage lautet daher: „Wie kommt die Welt als Illusion in meinen Kopf? Wie komme ich dazu, in meinem Denken die Welt als Wahrnehmung zu halluzinieren?“ (S. 162) Er muß erklären, wieso ihm die Welt, inklusive der in ihr vorkommenden Objekte, als etwas Eigenständiges, von seinem Denken Unabhängiges erscheint, obwohl er als Solipsist bzw. ‚Illusionist‘ davon meint ausgehen zu können, daß es sich dabei bloß um Halluzinationen handelt. Und er kann die Erfahrung einer widerständigen, ihm unverfügbaren Realität weder aus einem seinem Denken intransparenten und unverfügbaren Unbewußten erklären, noch aus einer seinem Denken äußerlichen, selbständigen materiellen Außenwelt, denn letzteres hieße, die Identifizierung von Wahrnehmung und Halluzination als Projektion zurückzunehmen (vgl. S. 163 ff.). In beiden Fällen würde er die aus der solipsistischen Derealisation der „Erscheinungswelt“ gewonnene, in ihr bewiesene Omnipotenz seines Denkens aufgeben. „Auf die Frage also: was kann hinter meinem Denken für eine Quelle liegen, die nach den angestelten Untersuchungen weder bewusste noch materjelle Qualität an sich haben darf [. . .] kann ich die Antwort geben: Es ist ein transzendentaler Grund. Es ist eine transzendentale Ursache. Ein Prinzip. Irgend Etwas. Ein Ding, das ich benamen kann, wie ich will“ (S. 165 – H. i. O.). Um die Widerständigkeit der Außenwelt erklären zu können, ohne dieser Außenwelt eine eigenständige Realität zuschreiben zu müssen und so seine solipsistische Position aufzugeben, postuliert Panizza also „ein metafisisches Prinzip, für das Jeder sich einen ihm adäquater dünkenden Namen wählen könte.“ (S. 166) Er selbst will diese „transzendentale Causa [. . .] aber Dämon nennen, einmal: weil ich damit den Begriff eines schaffenden, wirksamen, eingebenden, vordrängenden Prinzips verbinden möchte; zweitens: weil ich damit in Erinnerung an Sokrates den Charakter des Halluzinatorischen, oder Halluzinatorisch sich Aeussernden verbinden möchte; drittens, weil ich den Begriff des Individuellen (hier, als Ausgangspunkt meiner Untersuchung, des Genius-Artigen) damit verknüpfen will: denn mein Denken will ich erklären; nicht das der andern Leute; auf meine Eingebungen bin ich angewiesen, nicht auf die meiner Nebenmenschen.“ (S. 166 – H. i. O.) In dieser letzten Wendung verdichtet sich gegenüber Genie und Wahnsinn Panizzas Standortverschiebung im Illusionismus unter dem Einfluß Stirners: bezüglich der thematischen Kontinuität, der ‚verrückten‘ Perspektive und der dementsprechend veränderten Konsequenzen bezüglich des Anspruchs, der Welt- und der Selbst-Deutung dieser Panizzaschen Version des Einzigen. Der metaphysische „Dämonismus“ (S. 168 ff.)

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IV. Der Wahnsinn, die Genialität und das Böse

stellt hierbei das textarchitektonische wie systematische Bindeglied zwischen dem solipsistischen „Illusionismus“ (S. 150 ff.) und dem extremistischen „Individualismus“ (S. 193 ff.) dieses All-Einzigen dar. Sachdimensional, also bezüglich der Unterscheidung von Innen und Außen bzw. der Form nach, handelt es sich bei diesem All-Einzigen um das Bewußtsein, das sich von seinem Dämon unterscheidet. Der Dämon ist als metaphysisches Prinzip die „transzendentale causa“ des psychischen ‚Ich‘ und seiner Illusion von der physischen Außenwelt. Da „die gesamte Aussenwelt [. . .] in meinem Innern“ steckt (S. 169), kann das Ich seine Form nicht in Abgrenzung zu dieser von ihm als seine eigene Halluzination erkannten, und insoweit mit ihm identischen Außenwelt bestimmen, sondern es muß seine Form in Differenz zu einem metaphysischen Andern gewinnen, das ‚hinter ihm‘ liegt (vgl. S. 164): „Also stelle ich den Dämon an die Grenze“, die die eigene Form markiert (S. 168). „Der Dämon ist also ein aus dem Transzendentalen gewonnener Faktor, um mein mit Kausalbedürfnis ausgestattetes diesseitiges Denken und die an ihm hängende Erscheinungswelt zu erklären.“ (S. 168) Der dämonistische Standpunkt „externalisirt“ den Denker „von der Erscheinungswelt und macht ihn zu einem weltfremden Geschöpf“ (S. 202), das gleichsam über den Dingen – und ‚Nebenmenschen‘ – der Erscheinungswelt steht und diese als Illusion durchschaut. Mit diesem metaphysischen Postulat begegnet Panizza auch einem offensichtlichen Einwand gegen seine Gleichsetzung von Wahrnehmung und Halluzination: Gegen die naheliegende sozialdimensionale Differenz zwischen der nur dem Halluzinanten erscheinenden Halluzination und der allen Menschen zugänglichen Wahrnehmung behauptet er, daß, von jenem höheren Standpunkt aus betrachtet, die der menschlichen Wahrnehmung zugängliche „Aussenwelt nicht real existirt, sondern unsere Halluzination ist, wie wir dem Halluzinanten sagen, dass seine Gestalt nicht existiert, sondern seine Halluzination ist.“ (S. 170) Der die höhere, dämonistisch-metaphysische Außensicht beanspruchende Denker unterscheidet qualitativ nicht zwischen den Halluzinationen einzelner und den Halluzinationen vieler, zumal er diese vielen Anderen ohnehin selbst als für ihn unmaßgebliche, der Erscheinungswelt angehörende Illusionen betrachtet. In diesem Zirkelschluß vollzieht sich die metaphysische Grundierung des solipsistischen Illusionismus im Dämonismus.192 Der Dämon ist das Andere 192

Ganz generell gilt, daß es um den Nachvollzug der internen Logik dieses Deutungssystems geht, nicht um eine kritische (und schon gar nicht affirmative) Aneignung; dies schließt aber nicht aus, daß dabei Brüche dieser internen Logik sichtbar werden; interessant ist in diesen Fällen allemal, was für Theorie-Elemente dagegen aufgeboten werden, auch wenn diese dann – was wissenssoziologisch irrelevant ist – nicht überzeugen. Wissenssoziologisch relevant hingegen ist, daß, wie sich auch an den ähnlichen, freilich Stirner-kritischen Ausführungen Hartmanns zeigt

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des Ich, sein „alter ego“, sein „bessere[s] Ich“ (S. 174); außer dem Ich und seinem Dämon ist Nichts, nur Illusion. Und weil das Ego im Dämon sein Alter Ego hat, braucht es keinen sozialen Andern. „Hast Du aber Deinen Dämon gefunden, dann bist Du nicht mehr allein auf der Welt. Du darfst Zwiegespräch halten, und bist einem Anderen, der Dein Denken leitet und antreibt, verantwortlich. [. . .] Nenne ihn ‚Gewissen‘, ‚Eingebung‘, ‚Inspirazion‘, ‚Impuls‘, ‚innerer Befehl‘, oder wie auch immer [. . .] Du bist ihm verantwortlich und musst ihm Rede stehn, wenn er zu Dir spricht. Mag er geartet sein, wie immer; und mag er vom Standpunkt einer hiesigen Moral ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ genannt werden.“ (S. 174) Der Dämon fungiert als Erklärung und Ersatz für die derealisierte Welt, insbesondere als eine a(nti)soziale Quelle der Identität und Handlungsorientierung des Ich, das mit Blick auf seinen nichtsozialen Anderen, den Dämon, von sich sagen kann: „ich bin nicht allein.“ (S. 191) Die erkenntnistheoretisch-solipsistischen Implikationen des Illusionismus werden im Dämonismus also einerseits entschärft, um die Evidenzlücken zu füllen. Es gibt das Andere des Bewußtseins, das diesem unverfügbar ist und für die Erfahrung von realen Widerständigkeiten verantwortlich ist; das Ich ist daher nicht allein mit sich selbst, sondern mit seinem Dämon. Andererseits rettet der Dämonismus dadurch den Illusionismus für den Individualismus, so daß jegliches Agieren in der „Erscheinungswelt“ unter dem Vorbehalt der illusionistischen „Reserve“ stattfindet, „dass es ein Spuk ist“ (S. 193; vgl. S. 187 f., 194), was insbesondere bezüglich der Sozialdimension dieses All-Einzigen folgenreich ist, wie sich bereits an der von Panizza betonten Amoralität des ‚Dämon‘ sehen läßt, als dessen Agent in der ‚Erscheinungswelt‘ er sich weiß. Nicht nur, wie viel Panizzas adaptionistische Stirner-Interpretation Eduard von Hartmanns Deutung des Einzigen verdankt, sondern auch, daß diese extreme Auslegung von All-Einzigkeit zeitgenössisch durchaus kommunikativ anschlußfähig war und insofern unter wissenssoziologischen Gesichtspunkten als plausibles Einzigkeits-Deutungsangebot zu behandeln ist, das sich nicht nur auf Evidenzen des Stirnerschen Originaltextes berufen konnte, sondern in beobachtungsschematischer Anwendung auch zur Entschlüsselung sozialphänomenologischer Evidenzen erprobt wurde, belegen einige Passagen aus Hartmanns Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins und seines diese Überlegungen später, im Zuge der Stirner-Renaissance wiederaufnehmenden Aufsatzes über Stirners Verherrlichung des Egoismus. Als diesbezüglich wichtigste „Voraussetzung“ des Stirner „eigentümlichen absoluten Egoismus“ gibt Hartmann hier die Vorstellung von der „alleinigen (vgl. Hartmann (1922), S. 315 f., 608 ff., 632 ff.; Hartmann (1897), S. 74 f., 89 f.), der Einzige in dieser Weise plausibel interpretiert werden konnte und darin eine Möglichkeit lag, das Problem des modernen Individuums zuzuspitzen.

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Wirklichkeit des Ich und der Abhängigkeit alles Übrigen vom Ich“ an,193 aufgrund welcher die Welt zur Illusion und auch die sozialen Anderen in dieser zu „Schein-Ichs“194 degradiert werden. In dieser – nicht nur insgesamt an Panizzas adaptionistische, sondern zumindest bezüglich einiger ihrer praktischen Konsequenzen auch an die askriptive Stirner-Interpretation der Patientin S. erinnernden – Deutung der All-Einzigkeit im Sinne eines „absoluten Illusionismus“ ist das „Ich als Bewusstseinsform“ das „einzige Bewusstsein des Welttraumes“ und die Welt damit eine „Traumillusion“, in der das „Ich als Selbstbewusstsein oder als leibliches Ich“ als „erste Person im Traume“ vorkommt und „als solche ebenso illusorisch wie die übrigen“ Ichs ist.195 Hartmanns Unterscheidung von ‚Ich als einzigem Bewußtsein des Welttraumes“ und ‚leiblichem Ich‘ entspricht der Unterscheidung von ‚Dämon‘ und ‚Ich‘ bei Panizza, denn dessen ‚Ich‘ fungiert ebenfalls als ‚erste Person‘ in der vom ‚Dämon‘ geschickten ‚traumillusorischen‘ Welt. Aufgrund dieser metaphysischen Vorstellung wird, wie Hartmann bereits 1879 in seiner Stirner-Deutung in der Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins ausgeführt hatte,196 die „ganze Welt [. . .] zum gleichgültigen Spielzeug, mit dem der selbstherrliche Eigenwille rücksichtslos sein Spiel treibt: zum rechtlosen Eigentum des Ich und seiner Launen.“197 Demnach verbindet Stirner, „der auf den Trümmern aller zerstörten Illusionen nur eine einzige Illusion bestehen ließ: die Realität des Ich“198 – und wie Hartmann 193

Hartmann (1897), S. 87. Hartmann (1897), S. 75. 195 Hartmann (1897), S. 89. 196 Auch die Traumanalogie verwendet Hartmann hier bereits: „Das Verhältnis ist ähnlich wie im Traume: ich sehe träumend mich und andere Menschen handeln und sprechen, obwohl ich und diese anderen ruhig in ihren Betten liegen und schlafen; die erste, zweite und dritte Person im Traume sind also rein imaginäre Illusionen, und bloß der Traum selbst ist im Verhältnis zu diesen eine reelle Illusion zu nennen: und zwar nicht der Traum von Hinz oder Kunz, sondern der Traum, den ich träume. So ist auch mein unmittelbares geistiges Leben im Vergleich mit den dabei auftretenden handelnden Personen eine relativ reelle Illusion zu nennen, welche tilgen wollen das Leben des Absoluten selbst tilgen hieße. Die handelnden Personen aber, welche in dem wachen Traumleben meines Bewußtseins auftreten und agieren, sind, mich selbst eingerechnet, imaginäre Illusionen, welche ich als Schein vertilgen oder doch praktisch verleugnen muß, wenn ich mein praktisches Verhalten mit meiner theoretischen Einsicht in Einklang bringen will.“ (Hartmann (1922), S. 633 f.) – Hilary Putnam verwendet ein Jahrhundert später ein ähnliches Bild im Gedankenexperiment von den ‚Gehirnen im Tank‘, um hiermit die ‚illusionistische‘ Entwertung bzw. Derealisation der Welt zu entkräften (vgl. Mühlhölzer (1991), S. 469 ff.). Popkulturellen Ausdruck findet die illusionistische Vorstellung – neben etlichen weiteren metaphysischen, mystischen, religiösen und philosophischen Eklektizismen – im 1999 erschienenen Spielfilm „The Matrix“ und seinen Sequels; vgl. Seeßlen (2003); Balzer (2003). 197 Hartmann (1922), S. 315 f. 194

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später hinzufügt: auch Nietzsche199 – hiermit das „Prinzip der formellen Freiheit oder Willkür“,200 den „Kultus der Willkür“,201 mit der „Verabsolutierung des Ich“ zu einem „absoluten Größenwahn[]“,202 dessen Beschreibung bei Hartmann in aller Deutlichkeit die Struktur der All-Einzigkeit in einer ihrer typologisch extremsten Ausprägungen hervortreten läßt: „nur mein Bewußtsein ist göttliches Bewußtsein“,203 „[m]ein Bewußtsein ist das einzige Bewußtsein des Absoluten, mein Bewußtseinsinhalt ist das einzige Universum, [. . .] das Absolute bin ich, und zwar in dem eminenten Sinne, daß ‚kein Ich neben mir‘ ist. Ich bin als Ich der Einzige, und die Welt und ihre Herrlichkeit ist mein Eigentum, denn sie ist meine Schöpfung. Es gehört mit zu den imaginären Illusionen meines Bewußtseinsinhaltes, daß Ich Mich anschauen muß als ein Ich unter vielen; aber in abstracto durchschaue Ich diese Illusion und weiß mich als den Einzigen, als den Gott, der keine Götter neben sich hat. Mit den Illusionen, die Ich für Mitmenschen halte, mit dem Abstraktum der Humanität, das Ich von diesen imaginären Menschen abgezogen habe, schalte Ich, der Einzige, als mit Meinem rechtmäßigen Eigentum; auf dem Trümmerhaufen der sittlichen Ideen und der imaginären Realitäten sitze Ich als der einzige lachende Erbe, als der vergängliche Schöpfer, der endlich von seinen Geschöpfen Besitz ergreift.“204 Auf die im Zitierten bereits sichtbar werdenden antisozialen Implikationen und die soziale Phänomenologie dieser All-Einzigkeit wird noch ausführlicher zurückzukommen sein. Hartmann verweist an dieser Stelle auf den aus dieser Position praktisch folgenden „absoluten sittlichen Indifferentismus“205 und vor allem auf „die Zügellosigkeit der souveränen Laune des Individuums, dem sein Leben als das absolute Leben gilt.“206 198

Hartmann (1922), S. 330. Vgl. Hartmann (1922), S. 137, 316. 200 Hartmann (1922), S. 316, vgl. S. 314 f. 201 Hartmann (1922), S. 330. 202 Hartmann (1922), S. 316, vgl. S. 632 ff. 203 Hartmann (1922), S. 633 – H. i. O. 204 Hartmann (1922), S. 634 – H. i. O. 205 Hartmann (1922), S. 632. 206 Hartmann (1922), S. 634. – Hartmanns Beschreibung der Konsequenzen des „Prinzips der formellen Freiheit“ (Hartmann (1922), S. 315), also der Willkürfreiheit (vgl. auch Hegel, Werke IV, S. 225 f.; Werke VII, S. 65 ff.; Werke VIII, S. 285 f.), die „der Vernunft“ „spottet [. . .] und [. . .] auf ihre schrankenlose Selbstherrlichkeit“ „pocht“ entspricht nicht zuletzt der von Schultzes Patientin S. für sich – und nur für sich – in der Identifikation ihres je situativ verspürten ‚Willens‘ mit ‚Vernunft‘ und ‚Recht‘ beanspruchten Impuls-‚Freiheit‘. „Dieses Prinzip hat das Eigentümliche, daß ihm jeder Inhalt gleichgültig und zufällig ist, daß es also auch keine inhaltliche Stetigkeit des Wollens verbürgt. Wenn der Mensch seine eigene Wohlfahrt oder Vollkommenheit oder die seiner Mitmenschen zu fördern sucht, so steht das außer allem Zusammenhang mit dem Prinzip; es kann ihm ebensogut be199

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Der grundsätzliche Unterschied zwischen Hartmanns und Panizzas Deutungen der All-Einzigkeit liegt somit, von Detailfragen abgesehen, weniger in deren Beschreibung als in deren Bewertung. Für Hartmann ist seine Interpretation zugleich die Evidenz, mit der er seine Ablehnung der „menschenwidrige[n] Ungeheuerlichkeit“ und „inhumane[n] Monstrosität“ begründet, die Stirner als „Ideal“ des Einzigen proklamiert.207 Panizza dagegen identifiziert sich in seiner adaptionistischen Stirner-Interpretation mit dem darin durchweg affirmativ konzipierten All-Einzigen und begründet aus seiner Darstellung, worin für ihn die Attraktivität der All-Einzigkeit besteht. Auf die selbstgestellte Frage, was er „durch diese ganze Darlegung [gewinne]“, antwortet Panizza: „Den Schlüssel zu meiner ganzen Posizion. Die Identität von Körper und Geist, das Zusammenfallen von Ausgedehntem und Gedachtem, die Gleichzeitigkeit von Wahrnehmung und Aussenwelt. Ich denke und verwirkliche das Gedachte nicht nur a tempo, im gleichen Zeitmoment, sondern auch – bildlich gesprochen – ad un luogo, am gleichen Ort.“ (S. 171) Der Gewinn ist also die Identität von Ich und Welt – in Differenz zum Dämon –, was dem eingangs artikulierten Anspruch Panizzas entspricht, in der Selbstbeobachtung des psychopathischen Denkens dessen Omnipotenz zu behaupten. Analysiert man den Argumentationsgang vom Illusionismus über den Dämonismus zum Individualismus nach dem Schema des Realitätsverlustes und -ersatzes in der Psychose208, dann werden hieran die narzißtischen und spezifisch kränkungs-regressiven Implikationen dieses illusionistisch-dämonistischen Individualismus erkennbar.209 Die den Narzißmus der GedankenAllmacht kränkende Realität des Materialismus wird durch die illusionistische Leugnung der Außenwelt „anihilirt“ (S. 172). Im illusionistischen Theorem, dem zufolge „die gesamte Aussenwelt Illusion“ des Denkenden ist lieben, dieselbe zu hemmen, sich und andere zu quälen, zu verdummen und zu vertieren, und dann hat er ebenso recht, dieser Laune zu folgen, und verstößt gegen das Prinzip, wenn er aus Rücksicht auf andere Prinzipien oder Ideen seine Willkür einschränkt. [. . .] Endlich harmoniert auch das in gleichem Maße mit dem Prinzip, ob sein Wille so geartet ist, daß er mit stetiger Ausdauer ein und dasselbe Ziel unverrückt verfolgt, oder so, daß er in wankelmütiger Launenhaftigkeit seine Ziele jeden Augenblick wechselt. Es kommt niemals darauf an, was er will, sondern nur darauf, daß er sich durch keine Rücksicht davon abbringen läßt, das zu tun, was er gerade will.“ (Hartmann (1922), S. 315 – H. i. O.). 207 Hartmann (1922), S. 137. 208 Vgl. Freud (1924a) u. (1924b). 209 Dies ist wiederum als wissenssoziologisch perspektivierte Analyse eines semantischen Individualidentitätsangebotes zu verstehen, und nicht als individualpsychopathologische Betrachtung Panizzas, dessen psychiatrischer Status hier ohne Belang ist – auch wenn bereits Schopenhauer meinte, daß Solipsisten ins Tollhaus gehörten (vgl. Schischkoff (1982), S. 644).

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(S. 189 – H. i. O.), wird dessen Omnipotenz wunschgerecht wiederhergestellt, allerdings zunächst um den Preis des Verlustes einer Realität, die in ihrer Widerständigkeit voller Gegenevidenzen gegen die wahnhaft behauptete allmächtige Verfügungsgewalt des Denkenden über die Welt im ganzen ist. Diese Gegenevidenzen werden dämonistisch in das Deutungssystem integriert, um einen Realitätsbezug wiederzugewinnen: vom Standpunkt des Dämon erscheint die (realistisch kontraintuitive) Gleichsetzung von Wahrnehmung und Halluzination sinnvoll, und die Unverfügbarkeit der eigenen Projektionen scheint erklärbar. Der dämonistisch erweiterte Illusionismus kann dadurch als wahnhafte Ersatzrealität fungieren: als relativ kohärentes Deutungssystem, das eine wunschgerechte Realitätskonstruktion erzeugt, die die eigene Position narzißtisch aufwertet, und das zudem mit der illusionistischen Reserve einen Mechanismus der Kränkungsabwehr bereit hält. Die archaische Omnipotenz des Denkens, die sich in der illusionistischen (magischen) Kompetenz äußert, aufgrund derer „ich ehedem die Leistung [. . .] der Welt-Projekzion vollbrachte, [. . .] die gewaltig ist“ (S. 171), geht auf das „alter ego“ über: auf den Dämon, das idealisierte „bessere[] Ich“ (S. 174), der so als allmächtiges und grandioses Selbst-Objekt fungiert, als dessen Teil und Projektion der Denkende sich versteht.210 Darin erhält der Denkende sich einen Teil seiner ursprünglichen Allmacht, die er, wenn er mit seinem „Dämon d’accord“, also verschmolzen ist, von diesem bezieht und die seine eigene Position grandioser Unabhängigkeit begründet: „Du musst [. . .] Dich auf ihn stüzen. Er ist für Dich da. Und mit ihm vereint darfst Du diese blöde, dumme Welt herausfordern; darfst diese Larven mit wasserblauen Augen, die Dich hier umgeben, verachten“ (S. 175 – H. i. O.). In der Verschmelzung mit seinem Dämon weiß der Denkende sich im Schutze und im Zentrum der Aufmerksamkeit dieser idealisierten allmächtigen Instanz, auf die „als lezte causa efficiens“, als All-Schöpfer, „die ‚Ordnung der Dinge‘ in dieser Welt [. . .] zurückzuführen ist.“ (S. 175) Mit dieser narzißtischen Position geht also auch eine kosmische Rezentrierung einher, die die erste Kränkung durch die neuzeitliche Wissenschaft, die kosmologische Kränkung durch den kopernikanischen Heliozentrismus bzw. Geo-Dezentrismus, abwehrt.211 Die dritte, psychologische Kränkung, die Freud in der psychoanalytischen Konzeption des Unbewußten erkannte, wird bei Panizza quasi prospektiv mit der kategorischen Verwerfung jeglicher Vorstellung eines psychischen Unbewußten abgewehrt.212 Die in dieser Reihe zweite, biologi210

Erinnert sei in diesem terminologischen Zusammenhang auch an Kohuts narzißtischen Übertragungstypus der Alter-Ego-Übertragung (vgl. Kohut (1976), S. 140); siehe oben, III. 3. a). 211 Siehe oben, II. 2., zu den Kränkungen. 212 Panizzas metaphysische Ersatzkonstruktion, der Dämon, ist psychoanalytisch ambivalent: Einerseits begründet er im Zusammenhang mit dem Ich dessen gran-

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sche Kränkung durch Darwins zeitlich dezentrierende Ent-Täuschung der Schöpfungs-Teleologie wird in einer solipsistischen Weltzeit-Konstruktion – also der Identifikation von Welt- und Lebenszeit213 – abgewehrt. Panizza führt seine Konzeption der Identität von Welt- und Lebenszeit explizit – darin die Darwinsche Kränkung evozierend – als „biologische Frage, eine entwiklungsgeschichtliche Untersuchung“ ein, und zwar gegen den „Einwurf [. . .], wieso es komme, dass ich nie zur Erkentnis meiner Welt-Halluzinationen komme, wie es doch der Halluzinant manchmal komt.“ (S. 170) Als projektives Zentrum der Welt ist er mit dieser gleichzeitig existent, mit ihm beginnt und mit ihm endet seine vom Dämon veranlaßte „Welt-Projekzion“ (S. 171). Er ist nicht bloß Krone der Schöpfung, sondern selbst ihr Schöpfer, auch wenn „in der geschichtlichen Zeit, da ich begann, diese Welt selbsttätig zu kreïren, aus mir zu projiziren, ich“ dies nicht wußte (S. 171). Er ist also damit auch ‚entwicklungsgeschichtlich‘ rezentriert. Und die zeitdimensionale Differenzierungsmöglichkeit zwischen Wahrnehmung und Halluzination, also die Möglichkeit, daß ein Halluzinant mitunter im nachhinein seine Halluzination als Halluzination erkennen kann, unterläuft Panizza mit der Auskunft, daß die Zeit bzw. die zeitdimensionale Unterscheidung von vorher und nachher – oder Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – ihrerseits nichts ist als seine eigene Illusion. Der Einwand wird also analog dem sozialdimensional argumentierenden Einwand abgewehrt: So wie die Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und Halluzination unter Berufung auf die sozialen Anderen verworfen wird, indem erstens die sozialen Anderen ebenfalls zu Illusionen erklärt werden und zweitens der dämonistische Standpunkt als Instanz angeführt wird, von der aus dies offenkundig wäre, so wird die Unterscheidung zwischen Halluzination und Wahrnehmung mittels des zeitlichen Nachher dadurch verworfen, daß erstens die Zeit zur Illusion erklärt wird und zweitens vom dämonistischen Standpunkt die absolute Gleichzeitigkeit der Welt-Projektion mit ihrem projektiven Schöpfer, einem vom Dämon erzeugten „illusion-erzeugende[n] Aparate“ (S. 191)214 behauptet wird. Mit dieser illusionistisch-dämodiose Omnipotenzposition gegenüber der Welt und insbesondere gegenüber den darin vorkommenden, vermeintlich bloß ‚illusorischen‘ bzw. ‚illudorischen‘ sozialen Anderen; andererseits ist er dem Ich unverfügbar und dieses vollständig von ihm abhängig, so daß er als Inbegriff psychischer Heteronomie erscheinen muß. Entscheidend ist, daß Panizza diese Form der Heteronomie nicht als etwas Kränkendes faßt, sondern aufwertet und dementsprechend Unterwerfung des Ich unter seinen Dämon fordert; die Unterwerfung führt zur Verschmelzung mit dem Dämon und diese garantiert wiederum die Überlegenheit gegenüber der Welt und die Unangreifbarkeit in dieser. 213 Vgl. Blumenberg (1986), bes. S. 80 ff. 214 In die späten 80er und 90er Jahre des 19. Jahrhunderts fallen die Pioniertage und -taten der Kinematographie. Die ersten Projektionssysteme wurden bereits Ende

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nistischen Einsicht „nehme ich [. . .] auch die Zeit zurük, und erkenne sie als ein – zwangsmässiges – aber illudorisches meiner Wahrnehmung anhaftendes Merkmal. Und ich befinde mich in der Situazion jenes Schläfers, der, als in der Frühe an seine Tür geklopft wurde, rasch noch einen Traum träumte [. . .] und nach mehreren Episoden [. . .] erwacht; und nun erkent, die Traumstreke, die sich anscheinend zwischen zwei Endpunkten abgespielt hat, falle überhaupt mit dem einzigen Klopfmoment zusammen, und erweise sich seiner irdischen Zeitmessung gegenüber geradezu anihilirt“ (S. 171 f. – H. i. O.). So wie die geträumte „Zeitstreke“ (S. 172) ist demnach auch die Zeit der Erscheinungswelt eine Illusion. Die ganze Erscheinungswelt ist in ihrer ‚Illudorität‘ Panizza zufolge einem Traum zu vergleichen, den ihm der Dämon schickt. Ein zeitliches Vorher oder Nachher dieses Traumes gibt es nicht, weil die Zeit selbst ein Traumgebilde ist, das außerhalb des Traumes nicht existiert. Und ein soziales Außerhalb gibt es ebensowenig, weil auch die sozialen Andern ebensolche Traumgebilde sind. Außen gibt es nichts als den Dämon, das ‚alter ego‘. d) Der all-einzige Individualist als grandioses Individualidentitätsangebot: Idealisten, Helden, Heilige, Märtyrer und die Lizenz zum Töten Da Panizza mit der Leugnung der Außenwelt auch den sozialen Andern leugnet, also die sozialdimensionale Unterscheidung von Ego und Alter zur Illusion erklärt, ist bezüglich der Sozialdimension seines illusionistisch-dämonistischen Individualismus zunächst der performative Status dieses kommunikativen Angebotes klärungsbedürftig. Denn nicht nur der argumentative Bezug auf die ‚Andern‘ und ‚Nebenmenschen‘, sondern die Tatsache seiner Publikation selbst – die ja, selbst wenn er den Leser nicht gelegentlich als ‚Du‘ anspräche, als Mitteilung einer Information zu verstehen ist, also als Kommunikation – setzt die Sozialdimension, das Verhältnis von Ego und Alter voraus. Der Logik seiner Argumentation zufolge ist aber diese sozialdimensionale Relation von Ego und Alter vollständig in der ‚illudorischen‘ Erscheinungswelt anzusiedeln, denn die sozialen Andern sind für Panizza ja bloß Halluzinationen. Die gesamte Sozialdimension ist gleichsam, im Sinne jener „Reserve“215, illusionistisch eingeklammert. Daß der 80er Jahre in den USA und Europa entwickelt, und just im Jahre 1895 präsentierten die Gebrüder Auguste und Louis Lumière erstmals ihren spektakulären Cinématographen in öffentlichen Vorführungen (vgl. Monaco (2002), S. 235 ff., 285 ff.). Auch diese rezente technologische Entwicklung mit ihrem faszinierenden, weltenerschaffenden und Realität simulierenden Potential dürfte Panizza – vielleicht neben Platons Höhlengleichnis – bei der Vorstellung vom Individuum als ‚Illusion erzeugendem Apparat‘ vor Augen gestanden haben.

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er sich kommunikativ mit den halluzinierten sozialen Anderen einläßt, erklärt er aus einem „Kompromiss, den ich mit meinem Denken schliesse“ (S. 188). Dieser Kompromiß ist notwendig, „um mich mit meinen Nebenmenschen zu verständigen“ (S. 189); beispielsweise frage „[i]ch [. . .] meinen Nachbar, wieviel Uhr es ist, mit der Reservazion: Nehmen wir einmal an, die Uhr, der Nachbar und ich existierten als Erscheinung wirklich in der Aussenwelt.“ (S. 188) Die „Aussenwelt [. . .] leugne ich ja [. . .] – Trozdem kann ich [. . .] hinabsteigen und mich auf eine Diskussion über dieses illusorische Geschehene einlassen – mit der für mein Denken gegebenen Reserve“ (S. 187). Die Nebenmenschen, auch der als Du angesprochene Leser, existieren also nicht wirklich, und werden von Panizza nur so behandelt, als ob sie existierten; tatsächlich sind sie Halluzinationen, die ihm sein Dämon schickt.216 Weil Panizza aber seinem Dämon gehorchen muß, gibt er sich mit diesen Halluzinationen ab, dabei allerdings immer im Bewußtsein seiner Rück215 Panizza (1895), S. 187, 193. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich im vorliegenden Unterabschnitt weiterhin auf Panizza (1895). 216 Im Lichte der Stirner-interpretationsschematischen Analytik handelt es sich bei dieser All-Einzigkeit Panizzas um die Umkehrung dessen, was als Hypothetische All-Einzigkeit oder Inwendige Je-Einzigkeit gefaßt werden kann, nämlich um eine ‚hypothetische Je-Einzigkeit‘ oder ‚inwendige All-Einzigkeit‘: Panizza tut so, von seinem „Standpunkt des Kompromisses“ aus (Panizza (1895), S. 189), als ob die Anderen existierten, also als ob Je-Einzigkeit vorläge, während in seiner Sicht die tatsächliche Situation dem Standpunkt reiner All-Einzigkeit entspricht. Der ‚Hypothetisch All-Einzige‘/‚Inwendig Je-Einzige‘ hingegen präsentiert sich, als ob er All-Einziger wäre, und reflektiert damit die tatsächliche Je-Einzigkeit als Voraussetzung. Die typische Form, in der die Figur des Hypothetisch All-Einzigen artikuliert wird, ist die fiktionale, künstlerische oder spielerische: Sie setzt jeweils die Unterscheidung Fiktionaliät, Kunst, Spiel vs. Aktualität, Wahrheit, Ernst in der gesellschaftlichen Realität voraus, um auf der einen Seite, der spielerischen bzw. fiktionalen, die All-Einzigkeit als in diesem Sinne ‚hypothetische‘, also im Modus des Alsob zu artikulieren, während ‚ernsthaft‘ bzw. ‚in Wahrheit‘ von Je-Einzigkeit ausgegangen wird, also die andere Seite als je-einzig markiert ist. Auf dieser Grenze innerhalb der gesellschaftlichen Realität basiert beispielsweise auch die Figur des Künstlers, und daß Panizza sich selbst als ‚Psychopath‘ im Gegensatz zum Künstler bezeichnet, ist symptomatisch dafür, daß er diese Grenze – als innergesellschaftliche Grenze – leugnet. Denn für ihn ist die gesellschaftliche Realität als Ganze, mit ihrem bloß ‚illudorischen‘ Status, ein Spiel; mit dem Wort „illudorisch“ (Panizza (1895), S. 168, 188 u. ö.), das Panizza häufig neben „illusorisch“ (Panizza (1895), S. 191) verwendet, erinnert er an die etymologische und postuliert eine semantische Gemeinsamkeit von ‚Illusion‘ (Schein) und ‚Ludus‘ (Spiel). Die Außenseite der ‚Erscheinungswelt‘, also der ‚illudorischen‘ sozialen Andern und des eigenen Lebens als Spiel, ist für Panizza der Dämon: hier ist die Wahrheit, der aktuale Ernst. Und diese ‚wahre Welt‘ (vgl. Nietzsche, KSA 6, S. 80 f.) ist für ihn all-einzig, und in dieser Form die Grundlage für eine ‚hypothetische Je-Einzigkeit‘ in der ‚scheinbaren Welt‘.

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zugsoption: „Du nimst also die Illusion an. Du hälst die Halluzination für wirklich gegeben. Und für Deine Sinne ist sie wirklich. Und Du gebrauchst dann die Merkmale dieser Welt, die Signale und Lichter Deines Geistes, die Siegel und Simbole Deiner Sprache, mit deren Anwendung Du schon mitten in der Illusion drinstekst, mit jener Reserve [. . .]: Du kanst sie jeden Moment zurüknehmen und den Spuk auflösen [. . .] aber innerhalb des Illusionismus, und sobald ich ihn annehme, steht es mir nicht frei, den Schein zu zerstören, willkürlich zu ändern; [. . .] ich [kann] die scheinbare KausalReihe die innerhalb des Illusionismus waltet, für mich den Getäuschten waltet, nicht aufheben, ohne die Täuschung aufzuheben. Ich will aber die Täuschung gelten lassen.“ (S. 194 – H. i. O.) Einerseits läßt er sich also auf die Erscheinungswelt ein, als ob diese real wäre; andererseits reklamiert er für sich, diese Welt der Körper, der sozialen Anderen und der gesellschaftlichen Normen nicht als für sich verbindlich betrachten zu müssen. Der höhere Standpunkt des Dämonisten, der „Standpunkt meines Denkens“ (S. 189) erlaubt es ihm, herabzuschauen auf die von seinem Dämon halluzinatorisch, „nur indirekt durch mich geschaffene Welt [. . .], für die ich vielleicht nur Mitleid und Verachtung habe“ (S. 172). Das entscheidende Ergebnis der illusionistisch-dämonistischen Argumentation besteht demnach in der Begründung eines „Individualismus“, aufgrund dessen das Ich zum einen die soziale Welt als seinen Handlungsbzw. Verwirklichungsraum beansprucht, und sich dabei zum andern vorbehält, auf dessen normative Ordnung keine Rücksicht nehmen zu müssen, weil es den Vorgaben einer höheren, amoralischen Instanz folgt, von deren Standpunkt aus die sozialen Normen ebenso wie die sozialen Andern bloß ‚illudorisch‘ sind. „Die Moral ist etwas Hiesiges, der Welt der Erscheinungen Angehöriges. Der Dämon etwas Jenseitiges und rein Dinamisches. Obwohl die Welt der Erscheinungen und sonach auch die Moral, in lezter Linie Ausfluss des Dämonischen, der lezten Causa ist, so wäre doch ein Versuch, moralische Prinzipien, als eine Ordnung der Erscheinungswelt, auf das Urprinzip, den Dämon anzuwenden eine rückläufige Bewegung, die, wie wir gezeigt haben, ein Unding ist“ (S. 202 – H. i. O.). Mithilfe der illusionistischen Reserve werden die Zumutungen gesellschaftlicher Versagungsinstanzen ebenso abgewehrt wie die Möglichkeit narzißtischer Kränkungen durch soziale Mißachtung, weil die sozialen Andern bei Bedarf zur Illusion entwertet werden können – „was gehen mich die Andern an?“ (S. 188) –, was diesen gegenüber eine affektuelle Distanz garantiert, die sich in Extremfällen zu emotionaler Kälte und Empathiefreiheit steigert. Der durch deren illusionistische Derealisation bewirkte emotionale Abstand zu den sozialen Andern – der in Verbindung mit der dämonistischen Gewissenlosigkeit für eine psychopathische Disposition charakteri-

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stisch ist – fungiert in diesem individualistischen Extremismus als Abwehrstruktur, als Verpanzerung der eigenen Vulnerabilität. Die Derealisation der Welt hat zur Folge, daß das Ich in ihr keine Verletzungen zu fürchten hat, denn es muß nicht ernstnehmen, was ihm in der Erscheinungswelt widerfährt: „Alles stekt in mir, und ist mein persönliches Spielzeug, mein Spuk, ist mein Stuss“ (S. 190). Der illusionistisch-dämonistische Individualist befindet sich mit seinem Leben in der Erscheinungswelt gleichsam in einem Spiel, hinter dem der Dämon steckt. Er ist gleichsam – als Agent oder Alter Ego des Dämons in der Erscheinungswelt – eine Spielfigur des Dämons, die sich allerdings als solche weiß. Er weiß, daß sein Leben bloß ein Spiel ist, dessen Außenseite, das Ernsthafte, der Dämon ist. Und daher erkennt er die sozialen Anderen in diesem Sinne ebenfalls als Spielfiguren, bzw. als ‚Spielzeug‘, wie alle seine Illusionen: „In der Erscheinungswelt trift sich also der Dämon von zwei Seiten, maskirt, wie auf einem Maskenball. In zwei einander gegenüberstehenden Menschen, die sich messen, spielt also der Dämon mit seinem ‚alter ego‘; beide in Maske. Und ich, der sinliche Erfahrungsmensch, bin nur gut zum Maskenspiel. Wir sind nur Marjonetten, gezogen an fremden und unbekanten Schnüren. Unser Glük: die Illusion, wir bewegten uns selbst. Wenigstens für den vulgären Menschen. Der Denker weiss genau, wie er dran ist. Deshalb ist er unglücklich, verbittert, resignirt.“ (S. 191 – H. i. O.) Angesichts dieser praktischen Konsequenz des illusionistisch-dämonistischen Individualismus treten seine problematischen erkenntnistheoretischen Implikationen in den Hintergrund: Selbst die – letztlich auch für die Einschätzung des solipsistischen Status des illusionistischen Dämonismus entscheidende – Frage, ob die Andern dem Ich als Projektionen seines eigenen Dämons erscheinen, oder ob diese Andern das Ergebnis der ‚kreatorischen‘ Tätigkeit ihres je eigenen Dämons sind, oder aber ob alle die halluzinatorischen Geschöpfe ein und desselben Dämons sind – und für alle Lesarten gibt es Belege (vgl. S. 188 f., 189 f.) – spielt für Panizza keine Rolle: „Mag der Dämon ein Einfaches oder Vielfaches sein. Er ist da. Er tritt mir gegenüber. Wohl nur in Maske.“ (S. 191) Denn in Absehung von der erkenntnistheoretischen Problematik macht dies für die ‚individualistische‘ Praxis keinen Unterschied. Das Ich weiß sich nämlich in jedem Falle einzig seinem Dämon verbunden und agiert in diesem Sinne. Die Beziehung zu seinem Dämon ist für das Ich die einzig verbindliche, egal, ob auch andere eine Beziehung zu demselben Dämon haben, oder ob sie ihren je eigenen Dämonen folgen: Für den dämonistischen Individualisten gibt es nur seinen Dämon – und alles andere ist Illusion. Dementsprechend läßt sich auch bei der ‚schwächsten‘, nicht-solipsistischen Deutung des Dämonismus von einer Variante der All-Einzigkeit spre-

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chen. Denn die für dieses Interpretationsschema spezifische soziale Asymmetrie bleibt auf der sozialdimensional bei Panizza entscheidenden Ebene der ‚Erscheinungswelt‘ erhalten: als Überlegenheitsanspruch des der Stimme seines Dämons ohne Rücksicht auf die „Widerstände in der Welt der Erscheinungen“ folgenden „reine[n] Triebmenschen“, wie Luther, Sokrates usw., gegenüber den „gewöhnliche[n] Mensch[en]“ (S. 202) in ihrer „Plattköpfigkeit“ (S. 199). Wenn daher Panizza am Ende von der ursprünglichen solipsistischen Konzeption abweicht, und schließt, daß „die Welt das Resultat des Dämons der Einzelnen“ ist (S. 203), so begründet er dies gleichwohl nur aus der charismatischen All-Einzigkeit der außergewöhnlichen, dämonisch getriebenen Individuen – der Helden, Heiligen, Genies – in sozialer Asymmetrie zu den gewöhnlichen und bedeutungslosen „Tausend Andere[n]“ (S. 202). Nur deshalb, weil „wir die Menschheit nach ihren starken Exemplaren beurteilen müssen, nicht nach ihren schwachen, [. . .] müssen wir im Dämon das Urprinzip des Handelns bei allen Menschen suchen“, auch, wenn „es bei den Meisten bis zur Unkentlichkeit abgeschwächt erscheinen“ mag (S. 203 – H. i. O.). Im Gegensatz zur „starken“, dämonischen Persönlichkeit bleibt das „schwache[]“ Massenexemplar, das, wie die „Meisten“, ohne Zugang zum Dämon „nur im Bereich der Erscheinungen stekt und keine Spur einer inneren Stimme kent, [. . .] bedeutungslos“ (S. 203). Denn die Erscheinungswelt kann ihre Bedeutung nur vom Dämon beziehen; sie ist dessen Projektionsfläche, der illudorische Raum, der einzig dem Zweck dient, seinem Dämon Geltung zu verschaffen. Davon abgesehen, ist diese illudorische Welt wert- und bedeutungslos. So nimmt Panizza zufolge nur der ‚Schwache‘, der ‚vulgäre Mensch‘, der davon nichts weiß, weil er ausschließlich „im Bereich der Erscheinungen stekt“, die Gesetze und Institutionen dieser Welt ernst, ebenso wie das Leben, das der Andern wie das eigene, um das er fürchtet. Im Gegensatz dazu geht es dem dämonistischen Individualisten darum, seine Persönlichkeit gerade dadurch zu retten, daß er sich eben jenen illudorischen Charakter der Welt, inklusive seines Körpers und Lebens, beweist, indem er die Illusionen als solche auflöst. Sein Leben ist ihm hierfür Mittel zum Zweck: „Was ist nun der Zwek Deines Lebens?: Den Spuk aufzulösen. Ihn denkend zu verzehren. Zu wissen, dass Du halluzinirst. Und damit zu Dir zurükzukehren.“ (S. 193) Mit dieser Mediatisierung des Lebens gewinnt Panizzas Einziger für sich, im Sinne der illusionistischen Reserve, eine Position der Unangreifbarkeit, von der aus er hemmungs- und rücksichtslos den Impulsen seines Dämon folgen kann – und muß: „Zur Befreiung von Deiner Illusion darfst Du Alles wagen. Denn nicht hier im Bereich Deiner Erscheinungen darfst Du für Konsequenzen fürchten, sondern bei Dir musst Du fürchten. [. . .] Deine Seele musst Du retten. Hier gibts nichts für Dich zu retten. Hier gibts für Dich nur Illusionen und ihre Zerstörung. ‚Staat‘,

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‚Gesellschaft‘, ‚Religion‘, ‚Ehe‘, [. . .] ‚Moral‘, das sind Illusionen, gegen die Du ankämpfen, und die Du zerstören darfst. Wenn Du kanst. Wenn Du musst. Wenn Dich Dein Dämon treibt, Deine letzte Instanz, auf die Du hören musst.“ (S. 198) Einzig der Dämon verleiht dem Leben Sinn, und dementsprechend ist der Wert des Lebens nur ein vom Dämon abgeleiteter. Das Leben ist nicht um seiner selbst willen zu leben, sondern nur im Auftrag des Dämon. „Und nur dann darfst Du am Schluss Deines Lebens Deine Mission erfült sehen, wenn Du Dir sagen kanst, Du hast Deinen Dämon in der Welt zum Ausdruk gebracht. Das ist Dein kategorischer Imperativ. Handle, wie Dir Dein Dämon vorschreibt. Schrekst Du vor den Konsequenzen in der Welt der Erscheinungen zurük, dann ist sie stärker wie Du. Sezt Du Dich durch, dann bist Du Obsiegender. Du gehst vielleicht zu Grund. Aber zu Grunde zu gehen in der Welt der Erscheinungen, ist ja das Loos von uns Allen.“ (S. 203) Die Entwertung und Verachtung der Erscheinungswelt, die generell als Kränkungsabwehrstruktur fungiert, bezieht sich mithin, wie der letzte Satz deutlich macht, auch auf den „heikelste[n] Punkt des narzißtischen Systems“,217 die individuelle Sterblichkeit. Der Tod, gewissermaßen die existentielle Signatur des Lebens-Ernstes, als Inbegriff der Fragilität des Lebens und all dessen, was in ihm zu verlieren ist, wird in der Metaphysik des dämonistischen Individualismus gleichsam zum Tod im Spiel des Lebens umgedeutet, der deswegen als solcher ebenfalls nicht ernstzunehmen ist. Der Tod ist nur der letzte Vollzug jenes Lebenszweckes, dem sich der dämonistische Individualist ohnehin verschrieben hat, nämlich der „Zerstörung der Illusion“ (S. 197), den „Spuk dieser Welt aufzulösen“ (S. 193), und der tote Körper ist – ebenso wie der lebende – seinerseits nichts als Illusion: Der „Tod macht dem Spuk ein Ende. Für mich ein Ende. Denn Alles spricht dafür, dass ich, mein Denken, nichts weiss, dass mein Leichnam – ein illusionistisches Produkt – stinkend dort liegt, ein Schauspiel der Andern. Der Dämon zieht sich zurük. Die kreatorische Tätigkeit stelt er ein. Und die Hülse, die Maske, verfault zusehends im illusorischen Genuss – der Andern, Ueberlebenden.“ (S. 191 – H. i. O.) Der Tod der Anderen ist also bloß eine Illusion, während der eigene Tod lediglich diese und alle anderen Illusionen beendet; und dies gilt für den gewaltsamen Tod nicht weniger als für den natürlichen. Insofern ist auch der Selbstmord bloß ein „fisiologischer Akt“ – „wie das Niesen, das Spuken“ – (S. 197), in dem der Suizidant ein für allemal seine Illusionen zerstört, die er „anders nicht losbringen kann“ (S. 196). Er „will nur [. . .] sein Ich davon befreien. [. . .] Er handelt also ganz razionell. Dass er im Fall des Gelingens des Schusses die weitere Funkzion seines Ichs, die Möglichkeit, überhaupt noch Illusionen zu haben, damit zerstört, ist eine Sache, die ei217

Freud (1914a), S. 67.

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gentlich ausserhalb seines Kalküls liegt, ist eine Nebensache, ein Abfallprodukt seiner geistigen Arbeit, die ihn nichts angeht. Man darf daher den Selbstmörder weder so tragisch, noch so transzendental, noch so moralisch kompliziert nehmen, wie wir gewöhnlich tun. Jedenfalls nicht tragischer, als er sich selbst nimt. Er nimt sich aber rein – wie soll ich sagen? – fisiologisch.“ (S. 196) Er macht nur in rationaler und endgültiger Weise von seiner mit der illusionistischen Reserve gegebenen Exit-Option Gebrauch, weil er die Frustrationen der Erscheinungswelt nicht mehr ertragen will. Immerhin liegt aber im Verzicht auf die Möglichkeit, weitere Illusionen zu haben und zu zerstören, auch ein Verlust, nämlich der finale Verlust der Erscheinungswelt und der mit ihr gegebenen ‚Spiel‘-Optionen (vgl. S. 190). Deswegen ist, sowenig ‚tragisch‘ der Tod zu nehmen ist, dennoch die Bereitschaft, in der Erscheinungswelt die eigene körperliche Unversehrtheit und das eigene Leben – also die Fähigkeit, Illusionen zu haben – aufs Spiel zu setzen, und damit zu riskieren, aus dem Spiel aussteigen zu müssen, obwohl darin noch Gratifikationen zu erwarten sind, etwas Heroisches, nämlich die Bereitschaft zum Opfer; und zwar zum wohlverstandenen Selbst-Opfer im Dienste der eigenen Mission, für die eigene Idee, also in Befolgung des dämonistischen Kategorischen Imperativs. „Wenn ich mich für meine Idee opfere, ist es meine Idee und meine Opferung. Ich opfere mich nicht für Andere [. . .] Ich bin in der Verfolgung meiner Idee ein ebenso rücksichtsloser Egoïst, wie der Verbrecher in der Verfolgung seines Mordanschlags. Und ich finde an der eigenen Zerfleischung ebenso grosse Freude und Befriedigung, wie jener an der Fremder; resp. wir betrachten sie beide als das unvermeidliche Mittel, zum Ziel zu gelangen; da die Idee stärker ist, als dieses blutige Hindernis. Sonst könnte ich ja niemals diese Grausamkeit vollbringen.“ (S. 200) Weil, wie die letzte Wendung nochmals verdeutlicht, diese Selbstopferung, als ‚grausame Selbstzerfleischung‘, Überwindung kostet, ist sie ein Martyrium, allerdings nicht so, „wie es die Nachwelt ansieht“ (S. 200): kein Martyrium aus selbstloser Hingabe, sondern ein Martyrium aus einem rücksichtslos egoistischen Willen, die eigene Idee durchzusetzen. Diese Entschlossenheit bis zur letzten Konsequenz läßt den Egoisten zugleich als Idealisten erscheinen und begründet in Panizzas Augen dessen Stärke und Unbezwingbarkeit. „[W]er seiner Ueberzeugung auch sein Leben zum Opfer bringt, gegen dessen schrankenlosen Idealismus können wir nicht aufkommen.“ (S. 201) Der egoistische Idealist, der als Märtyrer seiner Überzeugung „sein Leben für seine Idee hingiebt ist immer ein Heiliger, ein von seiner Idee Besessener“ (S. 201). Der wahre und wahrhaftige Individualist, der konsequent egoistisch im Sinne des von Panizza postulierten Kategorischen Imperativs seinem Dämon bis zur Selbstaufopferung folgt, ist also, als Heiliger und Idealist, ein ‚Besessener‘.

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IV. Der Wahnsinn, die Genialität und das Böse

Der ‚Besessene‘ ist bei Panizza somit nicht, wie der ‚Besessene‘ in Stirners Text von 1844, der Antitypus zum Einzigen,218 sondern dessen höchste Verkörperung. Er unterwirft sich nicht dem ‚Heiligen‘, sondern macht sich selbst zum Heiligen. Dieser Stirner-interpretatorischen Pointe korrespondiert in der beobachtungsschematischen Anwendung dieser All-Einzigkeits-Deutung auf die sozialphänomenologischen Evidenzen moderner Individualität der – überraschende – Befund, daß gerade der fanatischste Idealist und leidensfähigste Märtyrer als der egoistischste Individualist erscheint. Als solche Heiligen und Idealisten will Panizza, mit Blick auf die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts gehäuft auftretenden anarchistischen Terroranschläge,219 insbesondere auch den Attentäter verstanden wissen, der, von seiner Idee besessen, diese in einem egoistisch-rücksichtslosen Verzweiflungsakt zur Geltung bringt: bei einem Mordanschlag, bei dessen Durchführung er seinen eigenen Tod in Kauf nimmt. „Ihr schreit, wenn Einer dieser Verzweifelten, indem sie mit sicherem Blik dem Tod in’s Angesicht schauen, sich noch einen mit hinüber in’s Schattenreich nimt, und sich eine prominente Persönlichkeit aussucht – denn was ist es anderes vor versammeltem Volk Einen niederstossen, als: auf’s Schafott gehen, und den Niederzustossenden mitnehmen?“ (S. 200 f.) Der Idealismus, für den der Attentäter sogar sein eigenes Leben zu opfern bereit ist, rechtfertigt auch die Ermordung des Andern, als einen Akt zur Manifestation dieses Idealismus: „Einer, der seinen Kopf freiwillig hinlegt und sich aufopfert, [muss] wenigstens in diesem lezten Moment das Recht haben [. . .], seinen Idealismus durch irgend einen Akt, in irgend einer Form, zu manifestiren. Und Idealismus ist doch der ‚Anarchismus‘. Gesteigerter, potenzierter Idealismus. Eine idealistische Tat, gegen die aller Idealismus unserer Dichter und Denker schlechtes Talmi ist.“ (S. 201) Der Terroranschlag ist für Panizza ein ebenso egoistischer wie idealistischer Akt. Daher verdient die schrankenlos idealistische Opferbereitschaft der modernen Attentäter die gleiche Würdigung wie diejenige der als Freiheitskämpfer, Tyrannenmörder und Märtyrer verherrlichten legendären und historischen Heroen; sie sind „psichisch gleichgeartete[]“ Typen (S. 203): „Wir können nicht heute in der Schule lehren, dass Mucius Skävola, Wilhelm Tell, Harmodios und Aristogeiton, die Mörder des Tirannen Hipparchos, Brutus u. a. Helden waren und unsere Gimnasiasten mit dem sitlichen Rot auf den Wangen ihr ‚trecenti nos conjuravimus!‘ deklamiren lassen, und morgen in die Zeitung schreiben: die Ravachol, Wera Sassulitsch, Caserio u. a. seien gemeine Mordbuben. Aut, aut! Caserio hatte den Zunamen Santo. Mit Recht! Wer sein Leben für seine Idee hingiebt, ist immer ein 218 219

Vgl. Stirner, EE, S. 36 ff., 164 ff. Siehe hierzu ausführlich unten, V. 1. und 2.

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Heiliger, ein von seiner Idee Besessener, heisse er Hödel, Kullmann, Nobiling, Sand, Charlotte Corday, Huss, Giordano Bruno, oder Arnold von Brescia.“ (S. 201 – H. i. O., vgl. S. 203)220 Auch der Attentäter ist für Panizza primär ein Märtyrer seines dämonistisch-individualistischen Idealismus, der diesem sein eigenes Leben zum Opfer bringt. Vor dem Heroismus dieser Tat fällt nicht ins Gewicht, wenn er das Leben anderer ebenfalls seinem ‚rücksichtslosen, idealistischen Egoismus‘ opfert. Im Gegenteil: angesichts der Größe seines Selbstopfers steht ihm deren Opfer zu. Hierin zeigt sich wiederum die sozialdimensionale Asymmetrie dieses All-Einzigen: Sein Idealismus begründet die Höherwertigkeit seines Lebens gegenüber dem Leben der sozialen Anderen. Die Größe seines Idealismus bekundet sich in seiner Bereitschaft, seine körperliche Unversehrtheit und sein Leben für seine Ideen aufs Spiel zu setzen – und deswegen, nicht wegen des Inhaltes seiner Ideen, ist er für Panizza ein Heiliger, der dem dämonistischen Kategorischen Imperativ bis zur letzten Konsequenz folgt. In seinem Selbstopfer erweist er sich als „starke[s] Exemplar[]“, dessen Dämon über die „Welt der Erscheinungen“ und die ‚Plattköpfigkeit‘ derjenigen, die daran hängen bzw. darin befangen sind, triumphiert (S. 202 f.). Und genau deswegen erscheint die mit dem heroischen Selbstopfer des Attentäters verbundene Op220 Zur Marat-Mörderin Charlotte Corday vgl. Gaehtgens (1999), zum KotzebueMörder Karl Ludwig Sand vgl. Schulze (1999). Zur späteren Marxistin Wera Sassulitsch, die 1878 den St. Petersburger Polizeichef Trepov bei einem Attentat schwer verletzte und von einem Geschworenengericht unter dem Beifall des Publikums freigesprochen wurde – der Attentatsversuch war ein Racheakt für die Auspeitschung eines Studenten wegen Grußverweigerung: eine Wilhelm-Tell-Geschichte – vgl. Torke (1999), S. 308 ff. Zu Geronimo Caserio, dem Mörder des Französischen Präsidenten Carnot (1894), zu dem ebenfalls seinerzeit kultisch verehrten, 1892 guillotinierten Dynamitero Ravachol und anderen zeitgenössischen Attentätern vgl. B. Demandt (1999) und Torke (1999); sowie generell Demandt (1999b), z. B. S. 544 ff., u. a. zu Gaius Mucius Scaevola, der seine rechte Hand ins Feuer legte, Harmodios und Aristogeiton, Wilhelm Tell und Brutus, die humanistische Ikone des Tyrannenmörders. – An dieser Aufzählung wird bereits deutlich, daß Panizza nicht nur zeitgenössisch, sondern auch historiographisch paradigmatische Beispiele gewählt hat. Dies ist ausführlicher anhand der zeitgenössischen Quellen zu der Attentats-Epidemie in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zu behandeln, denen u. a. zu entnehmen ist, daß Max Hödel und Karl Eduard Nobiling 1878 nacheinander – Hödel am 11. Mai, Nobiling am 2. Juni – zwei Attentatsversuche auf den Deutschen Kaiser Wilhelm I unternahmen; Hödel wurde hingerichtet, Nobiling erlag seinen selbst beigebrachten Verletzungen; siehe auch unten, V. 1. und 2. sowie 3. a) cc). Eduard Kullmann (1853–1892) verübte am 13. Juli 1874, vor dem Hintergrund des Kulturkampfes katholisch motiviert, mit einer Pistole einen Anschlag auf Bismarck und wurde daraufhin zu einer Zuchthausstrafe von 14 Jahren verurteilt, die dann nach Ablauf wegen „Unbotmäßigkeit“ verlängert wurde; er starb in Haft (Meyer (1903–09 XI), S. 785). – Die übrigen drei von Panizza genannten Idealisten wurden wegen Häresie und Insubordination verbrannt (Jan Huss 1415, Giordano Bruno 1600), bzw. gehängt und verbrannt (Arnold von Brescia 1155).

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IV. Der Wahnsinn, die Genialität und das Böse

ferung anderer Individuen als legitim. Sie entspricht dem – von Panizza in Anlehnung an Kant so genannten – „kategorische[n] Imperativ“ dieses extremistischen Individualismus: „Handle, wie Dir Dein Dämon vorschreibt.“ (S. 203) Dieser ethisch sich präsentierende ‚kategorische Imperativ‘ enthält offensichtlich kein Kriterium, mittels dessen sich zwischen legitimen und illegitimen ‚Missionen‘ des Dämon unterscheiden ließe; er fordert nur deren unbedingte Verwirklichung. Insofern ist dieser Individualismus ein Individualismus der unbedingten und rücksichtslosen ‚Selbstverwirklichung‘. Der Dämon, das eigene, nicht-soziale Alter Ego ist die höchste Wertorientierung, der alles andere untergeordnet wird – und alle Anderen.221 Panizza entwirft hiermit die – in Stirnerscher Terminologie paradox erscheinende222 – Figur eines ‚idealistischen Egoisten‘, eines ‚besessenen Einzigen‘. Aber dieser Einzige ist eben einzig von seinen eigenen Ideen, seinem Dämon, seinem Alter Ego besessen – und insofern ist die Paradoxie in einer extremen Variante von All-Einzigkeit aufgelöst. Der Dämon ist Panizzas expliziter Intention und Beschreibung zufolge, wie dargestellt, eine individuelle und prä- bzw. a-soziale Instanz, die somit innerhalb des Konzepts des illusionistisch-dämonistischen Individualismus die Unabhängigkeit des All-Einzigen von den sozialen Anderen gewährleisten soll, und zwar sowohl bezüglich seiner Identitätsbestimmung als auch im Hinblick auf seine Handlungsorientierung. Die individuelle Identitätsbestimmung erfolgt strikt antisozial: Das Individuum erkennt sich selbst ausschließlich in seinem Al221 In dieser Asymmetrie bestätigt sich die prinzipielle Abwertung und Derealisation der sozialen Andern zu illudorischen Geschöpfen des Dämonisten, der hier in aller Deutlichkeit als selbstgerechter und empathiefreier All-Einziger hervortritt. Innerhalb des illusionistisch-dämonistischen Systems ist weniger die Verachtung der Attentatsopfer erklärungsbedürftig, denn es geht ja um die Vernichtung von bloß illudorischen Körpern, sondern die Emphase des Selbst-Opfers – denn auch im Suizid wird ja bloß eine Illusion zerstört. Warum ist also das Leben des Attentäters mehr wert als dasjenige seines Opfers, könnte man fragen, und hinzufügen: ‚Aut, aut!‘ – entweder Mitleid mit dem Attentäter und seinem Opfer, oder Verachtung beider, zumindest auf der prinzipiellen Ebene, auf der Panizza argumentiert. Panizzas Antwort würde wohl lauten, daß das Leben des Attentäters wertvoller ist als dasjenige seines Opfers, weil der Attentäter in seinem ‚Verzweiflungsakt‘ demonstriert, daß er sein Leben ganz seinem Dämon verschrieben hat; deswegen ist sein Tod der Verlust von etwas Wertvollem, derjenige seines Opfers bloß die Zerstörung einer Illusion, und diese Zerstörung erfolgt zudem im Dienste des Dämon, der den Attentäter treibt. Wenn aber der Tod eines Attentäters das größere Opfer darstellt, weil das Leben dieses ‚idealistischen Triebmenschen‘ darin seinen höheren dämonistischen Wert offenbart, dann müßte allerdings die Konsequenz dieser Asymmetrie sein, daß dieses dämonisch getriebene Leben bewahrenswerter ist – und deswegen müßte der Attentäter, gewissermaßen im Sinne eines ‚dämonistischen Optimums‘, alles daran setzen, selbst mit dem Leben davonzukommen. 222 Siehe oben, I. 1.

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ter Ego, dem Dämon, und nicht etwa in der mehrstufigen rekursiven Beobachtung der sozialen Andern im Hinblick auf es selbst und seine Selbstbeobachtung.223 Und es erkennt seine ‚Mission‘, den Sinn und Zweck seines Lebens und seine Handlungsorientierungen, ausschließlich im Horchen auf die innere Stimme seine Dämons, und nicht etwa in der (kritischen) Aneignung sozialer Sinnangebote und möglicherweise ihrer diskursiven Prüfung in Kommunikation mit den sozialen Andern.224 Die sozialen Andern sind vielmehr strukturell entwertet, entsprechend der sozial asymmetrischen Konzeption des All-Einzigen, was wiederum diesen gegenüber eine Haltung der Verächtlichkeit und Bereitschaft zur Integritätsverletzung begünstigt, letzteres insbesondere dann, wenn der extremistische Individualist seine Verachtung für die Scheinwelt demonstrieren muß, etwa, um sich selbst zur Kränkungsabwehr seine Unabhängigkeit gegenüber den bloß illudorischen Andern zu beweisen, oder um diesen gegenüber seine Überlegenheit als starke Persönlichkeit vorzuführen und der Bedeutung seiner dämonischen Mission Geltung zu verschaffen. Ein wichtiges Ergebnis dieser dämonistischen All-Einzigkeitskonzeption ist daher, daß Gestalten wie der sendungsbewußte Charismatiker und der terroristische Fanatiker, die im Dienste einer höheren Sache aufzutreten – zu predigen, zu kämpfen, zu sterben, zu morden – beanspruchen, als sozialphänomenologische Ausprägungen eines extremistischen Individualismus erkennbar werden. An Panizzas dämonistischem Individualismus zeigt sich, wie ein extremer Individualitätsanspruch sich mit der fanatischen und opferbereiten – ‚heroischen‘ – Unterwerfung unter eine höhere, idealisierte Instanz verbinden läßt. Entscheidend ist, daß das Individuum diese Instanz als sein nichtgesellschaftliches Alter-Ego auffassen kann, in dessen Auftrag es handelt. Und dann kann es sich in seiner außergewöhnlichen Individualität als begnadeter, also charismatischer Auserwählter begreifen – und seiner Sendung folgen, einzig seiner Idee verpflichtet, ohne Rücksicht auf Verluste, allerdings mit der Chance auf narzißtische Gratifikationen bei entsprechender sozialer Resonanz.225 223

Ein modernes Individuum könnte sich bezüglich seiner Individualität beispielsweise dadurch bestimmen, daß es Andere im Unterschied zu sich selbst beobachtet, daß es sich beobachtet, wie es sich selbst und Andere beobachtet, und nicht zuletzt dadurch, daß es beobachtet, wie es von Anderen beobachtet wird und wie es diese Fremdbeobachtungen seiner selbst beobachtet (vgl. Luhmann (1987a), S. 132 ff.; (1993b III), S. 215; (1997a II), S. 880 f.). – In Panizzas dämonistischem Individualismus entfällt diese gesamte sozialreflexive Individualitätsbestimmung zugunsten einer sozial fremdreferenzlosen Selbstbeobachtung; hier wird nur das Alter Ego als das Andere im prä-sozialen Selbst beobachtet. 224 Vgl. Habermas (1991), S. 105 ff. 225 Vgl. instruktiv zur mentalen und historischen Typologie des Attentäters und zur Mythologie bzw. Rezeptionspsychologie des Attentats: Demandt (1999b), der

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IV. Der Wahnsinn, die Genialität und das Böse

Nach diesem all-einzigen Deutungsschema wird beispielweise auch ein radikal anti-modernistischer Fundamentalismus als Spielart dieses extremistischen Individualismus erkennbar. Gerade die strikt anti-soziale Form, in der dieser Individualismus seine Mission beglaubigt, nämlich im Sinne des dämonistischen Kategorischen Imperativs Panizzas (‚Handle, wie Dir Dein Dämon‘ – und nur er! – ‚vorschreibt‘), begründet eine wahlverwandtschaftliche Nähe und bevorzugte Kompatibilität dieses all-einzigen, anti-sozialen Individualismus zu fundamentalistischen Weltdeutungen, die sich ebenfalls diskursiven Rechtfertigungsverpflichtungen gegenüber den sozialen Anderen entziehen: die Identitätsbildung durch die Verwendung harter, unüberschreitbarer Unterscheidungen und Grenzen zwischen dem fundamentalistischen (auch: Kollektiv-)Ego und dem durch ‚Ungläubigkeit‘, ‚rassische‘ und anderweitige ‚Minderwertigkeit‘ abqualifizierten Alter bedingt, daß letzteres der Mühe kommunikativer Überzeugungsarbeit oder anderer verbaler Auseinandersetzung nicht wert, gegebenenfalls aber zu vernichten ist.226 Auch liegt es nahe, in Panizzas Überlegungen zum Zusammenhang von Idealismus, Martyrium, Selbstmord und Attentat mehr als bloß eine typologische Vorahnung des terroristischen Selbstmordattentäters zu erkennen. Denn Panizza hatte diesen Typus zeitgenössisch vor Augen, etwa in Gestalt der Narodniki, die am 1. März 1881 das (insgesamt bereits sechste und letzte) Attentat auf den Russischen Zaren Alexander II. verübten und wußten, daß sie nur geringe Chancen hatten, den Mordanschlag selbst zu überleben.227 Wissenssoziologisch bemerkenswert ist gerade hierbei, wie auch wie Panizza u. a. Mucius, Tell, Harmodios und Aristogeiton, Brutus, Corday, Sand und Sassulitsch als Beispiele anführt, wobei die rezeptionspsychologischen Überlegungen zur Mythologie – wie z. B. ein Attentäter ex post zum Helden oder Verbrecher wird – Vorgänge beschreiben, die im vorliegenden wissenssoziologischen Zusammenhang in das Untersuchungsfeld ‚charismatifikatorischer Kommunikation‘ fallen, wie sie sich wiederum exemplarisch an Panizzas Glorifizierung des Attentäters bzw. der Attentäterin beobachten läßt. 226 Vgl. Luhmann (1997a), S. 796 f. 227 Denn „[i]hre Bomben waren so konstruiert, daß sie nur in einem ganz geringen Umkreis Schaden anrichteten, damit nicht zu viele Umstehende getroffen würden. Das bedeutet aber auch, daß die Attentäter dicht an ihr Opfer herangehen mußten und selbst keine Chance hatten zu entkommen: Tod oder Verhaftung war ihr Schicksal.“ (Torke (1999), S. 311) Der letztlich als Mörder des Zaren zum Zuge kommende polnische Student I. I. Hriniewicki kam dann auch selbst mit dem Zaren und drei weiteren Opfern ums Leben; 17 weitere Personen wurden bei dem Anschlag verletzt und fünf Mitverschwörer Hriniewickis einen Monat danach gehängt (vgl. Torke (1999), S. 300, 311 f.; vgl. Demandt (1999b), S. 544). Wenn auch die in der geringen Sprengkraft der Bomben sich manifestierende relative Rücksichtnahme der Zarenmörder auf ‚Unschuldige‘ diese Zeitgenossen Panizzas von den gegenwärtigen Selbstmordattentätern unterscheiden mag, so ist doch, formal betrachtet, die Mentalität – für ein höheres Ziel aus persönlichem Sendungsbewußtsein sich selbst zu opfern und dabei über Leichen zu gehen – offenbar vergleichbar. Wem gegen-

2. Metaphysische Innenansichten

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anti-modernistisch auftretende Individualidentitätsangebote sich in ihrer internen semantischen Struktur – als extremistischer Individualismus – mit den modernen sozialstrukturellen Bedingungen der Exklusionsindividualität vereinbaren und im Zusammenhang mit der spezifisch modernen Semantik der narzißtischen Kränkung rekonstruieren lassen, so daß sie auch hieraus ihre Plausibilität beziehen. Es sind, mit anderen Worten, zumindest der wissenssoziologischen Analyse zufolge, Individualidentitätsangebote, mit deren Konjunktur weiterhin zu rechnen ist.228 Bei all diesen egoistischen Märtyrern und individualistischen Heiligen handelt es sich offensichtlich um Variationen jener Figur, die Panizza andernorts als ‚kriminellen Psychotiker‘, ‚Paranoiker‘ oder ‚Psychopathen‘ bezeichnet. Aufgrund der a-sozialen Amoralität und insofern moralischen Unbestimmtheit des absolut verhaltensbestimmenden Dämons umfaßt das sozialphänomenologische Spektrum dieses extremistischen Individualismus aber auch solche Idealisten, die der Anarchist Panizza nicht in die Reihe seiner Lieblingshelden aufnimmt, weil sie ihr Leben offensichtlich Ideen verschrieben haben, die sich nicht mit seinem eigenen anarchistischen Freiheitsideal vereinbaren lassen. Hinzu kommen außerdem solche ‚Triebmenschen‘, die nur sehr kontraintuitiv als ‚Idealisten‘ durchgehen und deren „Dämon“ weniger als idealistisches „Gewissen“, visionäre „Eingebung“ oder geniale „Inspirazion“, sondern als im engeren Sinne psychopathischer „Impuls“ bezeichnet zu werden verdient (S. 174). Denn was diese „Triebmenschen“ zu ihren Taten bewegt, ist prinzipiell „innerhalb der Welt der Erscheinungen [. . .] unverständlich“ und kann nicht nach deren Maßstäben beurteilt werden. Und es „handelt sich durchaus nicht um sogenante Lauterkeit oder Unlauterkeit der Motive, sondern um psychischen Zwang. [. . .] Die Anwendung von Moral auf reine Triebmenschen ist daher ein Unding und kann nur von Plattköpfigen versucht werden, die von der elementaren Wirkung des Dämonischen keine Vorstellung haben.“ (S. 202) Offensichtüber als ‚Unschuldigem‘ man Rücksicht nimmt, wessen Tod man als ‚Kollateralschaden‘ billigend in Kauf nimmt und wer als eigentliches Anschlagsziel getötet werden soll, ist eine Frage der jeweiligen Beglaubigungsideologie, die die Terroristen mit Feindbestimmungen und potentiellen Anhängern versorgt. – Siehe hierzu insbesondere unten, V. 1. c) und 2. a), b), c). – In der Logik von Al-Qaida und palästinensischen Terrororganisationen sind beispielsweise die zivilen Opfer der Selbstmordattentate in Israel und der Anschläge von Washington und New York vom 11. September 2001 ebenfalls Element des eigentlichen Anschlagszieles, wie seinerzeit Alexander II. für die Narodniki, und eben keine ‚Unschuldigen‘. Die massenmörderische Destruktivität gehört hier ebenso zur symbolischen Intention dieser Anschläge – Verachtung des westlich-menschenrechtlichen Wertes des Lebens –, wie seinerzeit der Zar auch als Symbolgestalt der verhaßten Herrschaftsordnung angegriffen wurde (vgl. auch Demandt (1999b), S. 539 ff.). 228 Siehe unten, VIII. 2. und 4.

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IV. Der Wahnsinn, die Genialität und das Böse

lich gilt Panizzas Sympathie zwar, und hierin ist auch jene eingangs angekündigte politische Stoßrichtung zu sehen, dem Anarchisten als Idealisten, als von seiner Idee besessenem Heiligen; und diesem konzediert er auch das Recht, Andere zu töten. Aber die interne Logik des dämonistischen Individualismus enthält keinen normativen Maßstab, um zwischen idealistischen und ‚rein verbrecherischen‘ Motiven – niederen Beweggründen – zu unterscheiden. Dies wird deutlich, wo Panizza sich in seinem ‚rücksichtslosen Egoismus‘ mit dem Mörder vergleicht, der aus Lust Grausamkeiten verübt, während er selbst im Unterschied zu diesem die Grausamkeit nur in der Verfolgung seiner Idee begehen kann (vgl. S. 200). So wird mit der Differenz zwischen dem verbrecherischen Triebtäter und dem idealistischen Triebmenschen zugleich deren Ähnlichkeit konstatiert: Beide folgen einem ‚psychischen Zwang‘, sind von ihrem ‚Dämon getrieben‘, der eine dazu, Andere zu quälen und zu töten, der andere dazu, ohne Rücksicht auf Andere seine Idee zu verfolgen und dabei aber gleichfalls, wo er dies für notwendig erachtet, Grausamkeiten zu begehen.229 Gerade weil der Dämon als amoralisch bestimmt ist, werden mit der Figur des von seinem Dämon besessenen Individualisten normativ unterschiedlich zu bewertende Typen strukturell vergleichbar: Mahatma Gandhi wäre demnach nicht weniger ein von seinem Dämon Besessener und die229 Für den ersten Typus wäre beispielsweise an den sadistischen Triebtäter zu denken, der seine Befriedigung unmittelbar aus der Angst, der Demütigung und dem Schmerz seines Opfers und der Verfügung über dessen Körper bezieht (siehe hierzu unten, VI. 4. b) ee), mit Blick auf Nietzsche-Stirner, Hermann Türcks Horror-Szenario), für den zweiten beispielsweise an den Attentäter, der sich um seiner Mission willen berechtigt und verpflichtet wähnt zu töten (für Beispiele siehe unten, V. 1. und 2.), aber beispielsweise auch an politische Visionäre wie Lenin oder Mao, die Millionen für ihre Idee massakrieren lassen – für die Idee ihrer Herrschaft. Das typologische Unterscheidungsmerkmal wäre also zunächst, ob die Verletzung bzw. Vernichtung des Anderen Selbstzweck oder Mittel zur Erreichung des ‚dämonisch‘ diktierten Ziels ist. – Siehe hierzu auch den folgenden Abschnitt dieses Kapitels. – Als Mischtypen in diesem Sinne können Figuren wie Hitler oder der psychotische Mörder gelten, die sich aufgrund von halluzinierten Stimmen oder Wahnvorstellungen (‚die Vorsehung‘) zum Mord beauftragt glauben. Ein Beispiel aus jüngerer Zeit ist das notorische „Satanisten-Ehepaar“ Manuela und Daniel Ruda, die, ihrer Aussage zufolge „auf Befehl Satans“, am 6.6.2001 im nordrhein-westfälischen Witten einen Arbeitskollegen Daniel Rudas mit 66 Messerstichen und Hammerschlägen ermordeten und vor Gericht – ihren 15-minütigen, durch massenmediale Aufmerksamkeit erzeugten Ruhm sichtlich genießend – auf ‚nicht schuldig‘ plädierten, da sie „keine Mörder“ seien, sondern nur als „Werkzeuge des Teufels“ gehandelt hätten (Nordhausen (2002b), S. 3). Gutachter bescheinigten ihnen eine aufgrund ihrer schweren narzißtischen Persönlichkeitsstörungen eingeschränkte Schuldfähigkeit, aufgrund derer sie zwar nicht zu lebenslangen, aber zumindest zu 15- und 13-jährigen Freiheitsstrafen verurteilt und auf unbestimmte Zeit in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen wurden; vgl. Nordhausen (2002a) u. (2002c).

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sem erfolgreich Ausdruck Verschaffender als sein Zeitgenosse Adolf Hitler. Aus einer strukturellen Gleichheit läßt sich offensichtlich nicht auf normative Gleichwertigkeit schließen. Dies scheint zunächst trivial, angesichts der Absurdität einer normativen Gleichsetzung etwa von Gandhi und Hitler. Genau dieser Fehlschluß läßt sich aber bei Panizza beobachten, wenn er den dämonistisch-individualistischen „kategorische[n] Imperativ“ aufstellt – „Handle, wie Dir Dein Dämon vorschreibt“ (S. 203) – und feststellt, daß diejenigen, die dem folgen, zu Recht als Heilige verehrt werden (vgl. S. 201). So begründet Panizza in einem doppelten Fehlschluß auf der Amoralität eine Moral. Der erste Fehlschluß entspricht dem typischen Nihilismus des Metaphysikers nach dem Schema ‚Wenn Gott tot ist, dann ist Alles erlaubt‘: Wenn alle gesellschaftliche Moral der Erscheinungswelt angehört, dann hat sie keine Verbindlichkeit; und dies wird bei Panizza nochmals metaphysisch mit der Figur des Dämon abgesichert, der gleichsam ‚befiehlt‘, daß in der gesellschaftlichen Erscheinungswelt ‚alles erlaubt‘ ist, denn er ist die einzig verbindliche Instanz, und diese Instanz ist jenseits des gesellschaftlichen ‚Gut und Böse‘. Ein zweiter Fehlschluß Panizzas besteht nun darin, auf dieser Amoralität des Dämon eine dämonistisch-individualistische Moral zu gründen: Weil vom Standpunkt des Dämon die gesellschaftliche Unterscheidung von Gut und Böse unverbindlich ist, ist es gut, dem Dämon zu folgen. Der erste, nihilistische Fehlschluß hätte – bei aller nicht nur normativen, sondern auch theoretischen Fragwürdigkeit – die Position eines moralischen Relativismus nahegelegt. Mit der Kants praktischer Philosophie entlehnten Formel vom ‚kategorischen Imperativ‘ begibt sich Panizza aber explizit in das Reich des Ethischen.230 Demnach ist derjenige, der den Forderungen seines Dämon gemäß handelt, gut und ethisch den ‚gewöhnlichen‘, an der Erscheinungswelt und ihren Normen und Körpern hängenden ‚Plattköpfigen‘ überlegen. Dies wird umso deutlicher, als das Kriterium des sozialen Erfolges für Panizzas moralische Beurteilung keine Rolle spielt: Du sollst Deinem Dämon folgen, egal ob Du daran in der Erscheinungswelt zu Grunde gehst oder nicht, also auch: egal, ob Du sozial erfolgreich damit bist oder nicht. Mit diesem zweiten, normativistischen Fehlschluß – von einem deskriptiven Befund über das Sein zu einer präskriptiven Aussage über das Sollen – begründet Panizza seine individualistische Ethik. Weil ein Individuum seinem Dämon folgt, ist sein Handeln ethisch wertvoll, egal, welche Folgen dies in der Erscheinungswelt hat. Mit dieser Argumentation 230 Den Dämon setzt Panizza auch im theoretisch-erkenntnistheoretischen Bereich ein, um explizit an Kant anzuschließen, wenn er als den „Dämon [. . .] das ‚Ding an sich‘ “ erklärt (Panizza (1895), S. 189 – H. i. O.) oder die Möglichkeit diskutiert, den Dämon „Denken a priori oder reine Vernunft [zu] nennen“ (Panizza (1895), S. 166).

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IV. Der Wahnsinn, die Genialität und das Böse

kommt man nicht nur von der (deskriptiven) Beschreibung struktureller Analogien zu einer normativen Gleichsetzung verschiedener ‚idealistischer‘ Individualisten, sondern auch zur Begründung eines Individualismus, dessen einziger Wert die – als eine vom ‚Dämon‘ aufgetragene Mission verstandene – individuelle ‚Selbstverwirklichung‘ ist.231 Wenn Panizza in diesem Sinne feststellt, daß ein „von seiner Idee Besessener“, der in unbeirrbarem und opferbereitem Heroismus gegen die ganze Welt antritt, „immer ein Heiliger“ ist, „gegen dessen schrankenlosen Idealismus [. . .] wir nicht aufkommen“ können (S. 201), dann beschreibt er zudem die charismatische Anziehungskraft einer grandios-narzißtischen Selbst-Präsentation, in der der Besessene sein Leben untrennbar mit seiner Idee verknüpft, was in der Opferbereitschaft zum Ausdruck kommt, wodurch er seine Idee narzißtisch aufwertet, was wiederum seiner Idealisierung zugute kommt. Sein Leben und Werk sind eins, er lebt nur für seine Idee. Hierin liegt eine strukturelle Erklärung für die historischen Erfolge und die Faszination bestimmer ‚dämonischer Idealisten‘, und zwar unabhängig von der normativen Bewertung ihrer Ideen und Taten. Gerade die Rücksichtslosigkeit der ‚starken Exemplare‘ gegen sich und Andere, die als Ausweis der Hingabe an ihre Ideen und damit der Großartigkeit dieser Ideen interpretiert werden kann, begründet deren potentiellen Ruhm – aber sie polarisiert typischerweise auch. Die offensichtliche normative Problematik dieses dämonistischen Individualismus wird auch darin sinnfällig, daß in dessen sozialphänomenologischem Referenzbereich neben die Genies, Propheten, Märtyrer, idealisti231 Angesichts der modernen Selbstverständlichkeit einer Ethik der Selbstverwirklichung als Wert ‚an sich‘ ist der Hinweis auf die Problematik jenes Schlusses von gleichartigen Individualitätsstrukturen auf normative Gleichwertigkeit – also die Gleichsetzung von Individualität mit einer normativ achtenswerten Konzeption des Guten – keineswegs trivial. Dies führt zu moralphilosophischen Fragen nach der Unterscheidung von moralisch zulässigen und achtbaren Konzeptionen des Guten einerseits und moralisch inakzeptablen Individualitätsentwürfen andererseits. Dies kann an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden (siehe hierzu unten, VI. 5.), aber die Brisanz und Relevanz solcher Fragestellungen wird durch den wissenssoziologisch-modernitätsdiagnostischen Befund deutlich. Denn es entspricht der internen Logik wie den sozialstrukturellen Bedingungen der modernen Individualitätssemantik, daß sie immer auch im jeweils kulturell gültigen Grenzbereich sozial akzeptabler Individualidentitätsangebote artikuliert wird: sei es, um Anerkennung für deviante Individualidentitätsangebote einzufordern, sei es, um durch Normverstöße Individualität auszudrücken (siehe unten, VI. 2. und 3.). Auch das läßt sich an Panizzas Figur des dämonistischen Individualisten sehen. Dieser verschafft seinem Dämon auch durch Normverstöße Geltung, indem er zeigt, daß er über die gesellschaftliche Konvention erhaben ist; und er zielt darauf, seinen Dämon in der Erscheinungswelt durchzusetzen, d. h. sich in seiner dämonischen Besessenheit zur Anerkennung zu bringen.

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schen Attentäter und sonstigen Helden auch ein seelisch abartiger Persönlichkeitstypus tritt, der ausschließlich durch Destruktivität und Delinquenz auffällig wird. Hier impliziert die in Panizzas Argumentation geleistete Entwertung des sozialen Anderen zur Illusion den Verfügungsanspruch und die Mitleidlosigkeit des gewissenlosen Psychopathen gegenüber einem Körper, der nicht als eigenständige reale Person und leidensfähiges Individuum anerkannt wird. Und weil die sozialen Werte der derealisierten Erscheinungswelt dem Psychopathen als unverbindlich gelten, kann er sie ohne Schuldund Reuegefühle bewußt – im Bewußtsein ihrer Geltung für Andere, sich selbst aber ausnehmend – verletzen: wenn sein ‚Dämon‘ – z. B. seine abseitige Phantasie – ihn dazu treibt. Dieser Individualismus schließt somit zwar die Möglichkeit, daß der Dämon die Achtung der Integrität des Andern befiehlt, nicht aus – aber ebensowenig, daß der Dämon Massenmorde und andere Greueltaten verlangt.232 Der von Panizza formulierte Kategorische Imperativ ‚Tu, was Dein Dämon Dir befiehlt‘ erweist sich damit als das Credo eines radikal antisozialen und amoralischen, extremistischen Individualismus, der sich mit der Konstruktion des Dämon einerseits eine metaphysische Beglaubigung verschafft, andererseits aber dem Umstand Rechnung trägt, daß es sich bei diesem nur seinem eigenen Wollen bzw. demjenigen des Dämon folgenden Individuum nicht um ein autonomes Subjekt handelt, sondern um einen heteronomen ‚Triebmenschen‘.233 Angesichts der postulierten absoluten Verpflichtung gegenüber dem sozial unzugänglichen Dämon und der dieser korrespondierenden prinzipiellen sozialen Indifferenz und Amoralität, kann Panizzas dämonistisch-individualistischer Einziger zwar sozial angepaßt sein, er bleibt aber unberechenbar. Von ihm ist immer zu erwarten, daß er in Form ostentativ anti-moralischer, krimineller und terroristischer Akte auffällig wird, um seine Verachtung für die soziale Erscheinungswelt, und zugleich dieser gegenüber seinen dämonistisch höheren, amoralisch-übermenschlichen Standpunkt zu demonstrieren: Zunächst, um sich zu behaupten und seinen Dämon in der Erscheinungswelt durchzusetzen, sodann, um im Falle des Scheiterns die Nichtigkeit dieser Welt zu bekräftigen, die ihm den Erfolg und die Anerkennung versagt.

232 Vgl. auch Hartmann (1922), S. 315. – Auch das Verständnis des Selbstmordes als eines ‚physiologischen Aktes‘, verbunden mit Panizzas Appell, man möge Verständnis dafür haben, wenn ein solcher Suizidant noch andere mit in den Tod reiße, schließt beispielsweise die Möglichkeit eines Amoklaufs mit ein. 233 Schultzes Patientin S. hatte im Grunde für sich eine vergleichbare Konzeption, indem sie das Recht für sich in Anspruch nahm, rücksichtslos ihren jeweiligen Impulsen zu folgen, verbrämte diese aber zur vernünftigen Willensäußerung und stilisierte sich selbst damit zum autonomen Subjekt.

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IV. Der Wahnsinn, die Genialität und das Böse

3. Das Böse und die all-einzige Struktur der Antisozialität Wie im vorangegangenen Kapitel dargelegt wurde, liegt dem sozialpsychologischen Phänomen des Charismas eine Konstellation zwischen Individuen zugrunde, die sich psychoanalytisch als reziproke Verschränkung narzißtischer Übertragungsvorgänge und kommunikationstheoretisch als rekursiver Zusammenhang charismatischer und charismatifikatorischer Kommunikationsprozesse beschreiben läßt, innerhalb derer – als psychisch und kommunikativ konstruierte, hermetische (Sekten-)Realität – jeweils das grandiose Selbstbild des Charismatikers als realistisch gilt, so daß dieses und die damit verbundenen Ansprüche auf Macht und Verehrung in einem limitierten Rahmen sozial erfolgreich sind. Stirner-interpretationsschematisch entspricht dem der Fall des sozial erfolgreichen All-Einzigen, also des Ego, das in seinem All-Einzigkeits-Anspruch von Alter beglaubigt wird; die für die All-Einzigkeit spezifische sozialdimensionale Asymmetrie – ‚Ich allein bin einzig, die Anderen nicht‘ – nimmt in diesem Fall die Gestalt eines grandiosen Ego an, dem sich Alter bereitwillig unterwirft und dessen Großartigkeit und Macht es affirmiert, wodurch Alter, gleichsam im Gegenzug, der Herrlichkeit Egos teilhaftig wird. Sozialphänomenologisch entspricht dem das Verhältnis des Charismatikers als Genie, Prophet, Heiliger zu seinen Verehrern, Jüngern, Gläubigen, die sich ihrerseits gegenüber denjenigen, die die Großartigkeit des Charismatikers nicht erkennen, den ‚Ungläubigen‘ und ‚Nichtwissenden‘, als ‚Auserwählte‘ wähnen und überlegen fühlen. Sie sind mit dem All-Einzigen verschmolzen oder dienen ihm als Spiegel und bilden so mit diesem zusammen eine sektenartige Gemeinschaft der außeralltäglich Begnadeten. In dieser charismatischen Vergemeinschaftung wird die prinzipielle sozialdimensionale Asymmetrie der All-Einzigkeit intern stabilisiert und durch die hermetische Schließung gegenüber den ‚Unbegnadeten‘ nach außen hin wiederholt.234 Der All-Einzige hat es also einerseits mit solchen Anderen zu tun, die ihren Wert daraus beziehen, daß sie ihn verehren und ihm folgen, andererseits mit solchen Anderen, die dies nicht tun und folglich vollkommen wertlos sind – für ihn und die Seinen, die in dieser Wiederholung der Asymmetrie für ihre relative Entwertung entschädigt werden: sie sind weniger wert als der All-Einzige, als dessen Teil sie sich empfinden, aber letzteres bedingt in der wahnanalogen, hermetischen Sektenrealität, daß sie mehr wert sind als diejenigen Anderen, die dessen Großartigkeit nicht erkennen. Diese Entwertung der ‚Nichtwissenden‘, ‚Nichteingeweihten‘ fungiert nicht nur als narzißtische Gratifikationsquelle, sondern zugleich als effekti234 Das bedeutet nicht, daß jede charismatische Vergemeinschaftungsform intern antiegalitär strukturiert sein muß.

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ver Abwehrmechanismus, der die hermetische Realitätskonstruktion gegen äußere Einwände bzw. kommunikative Widerstände immunisiert, indem er diejenigen, die sie vorbringen (könnten), als irrelevant abqualifiziert und als (potentielle) Feinde behandelt. Die soziale Stabilisierung des charismatischcharismatifikatorischen Kommunikations- und narzißtischen GratifikationsZusammenhanges in Gestalt einer all-einzigen hermetischen Realitätskonstruktion erfolgt um den Preis einer paranoiden Abschottung. Daher ist sie nicht nur unter dem Aspekt der Realitätsprüfung und unter moralischen Gesichtspunkten, sondern auch bezüglich ihrer Stabilität selbst prekär. Die Möglichkeit der Implosion durch den Abfall von ‚Eingeweihten‘ oder aufgrund mangelhafter Nachwuchsrekrutierung oder durch das Versagen der Abwehrmechanismen bleibt stets gegenwärtig. So ist eine solche, sozial stabilisierte All-Einzigkeit nicht nur von außen als gewissermaßen sozial expandierte paranoide Struktur erkennbar, sondern sie ist auch strukturell gefährdet, auf eine nur noch individuell paranoide Struktur zusammenzuschrumpfen: auf ein all-einziges Ego, das sich in seinen Größenphantasien durch kein Alter affirmiert sieht und deswegen alle sozialen Anderen als wertlos, gegebenenfalls als Feinde betrachtet – und von diesen, falls es seine all-einzigen Ansprüche artikuliert, als arrogant, herablassend, anmaßend größenwahnsinnig, vielleicht auch als kriminell und gefährlich, eingestuft wird. Beispielhaft hierfür war der Fall der Patientin S., aber auch die von Panizza angestellten Überlegungen zur Figur des ‚kriminellen Psychotikers‘ bzw. ‚Psychopathen‘, dessen faktischer sozialer Erfolg, dessen ‚Massenansteckungskraft‘ darüber entscheidet, ob er als Genie, Held, Märtyrer usw. Anerkennung findet oder nicht, wobei Panizza dies aus der all-einzigen Perspektive des illusionistisch-dämonistischen Individualisten formulierte. Damit gewährte er zugleich, wie zuvor auch schon Schultzes Darstellung der Paranoikerin S., Einblicke in die strukturelle Antisozialität des All-Einzigen. Diese potentielle Antisozialität des Einzigen liegt in der sozialdimensionalen Asymmetrie der interpretationsschematischen All-Einzigkeit begründet. Sie ist, wie sich aus dem bereits Entwickelten ergibt, auch bei sozial erfolgreichen All-Einzigen beobachtbar, etwa bei Charismatikern wie Haeusser und, offensichtlicher noch, Hitler, und zwar vor allem in deren Beziehungen zu jenen als ‚absolut wertlos‘ betrachteten nicht-einzigen sozialen Anderen, die die Grandiosität des jeweiligen All-Einzigen nicht anerkennen und sich dessen omnipotenten Verfügungsansprüchen entziehen. Sozialphänomenologisch kommt die Antisozialität immer dort zum Vorschein, wo das all-einzige Ego entweder mit seinem Anspruch, vom sozialen Alter affirmiert zu werden, scheitert oder wo es diesen Anspruch gar nicht erst erhebt und seine All-Einzigkeit unter Mißachtung sozialer Gratifikationschancen unmittelbar ausagiert, d. h. den sozialen Andern vorsätzlich, reue-

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los, ohne Mitleid und Gewissensnöte schädigt. Die Schädigung des sozialen Andern wird als legitim betrachtet und betrieben, weil dieser aufgrund der all-einzigen Asymmetrie zwischen Ego und Alter von vorneherein vom AllEinzigen als minderwertig betrachtet wird.235 ‚Antisozial‘ bezieht sich im vorliegenden Zusammenhang also auf die systematische Mißachtung und Verletzung der persönlichen Integrität des sozialen Anderen. Im Zentrum des Konzepts der Antisozialität steht die Schädigung des sozialen Anderen, die dessen strukturelle Entwertung, wie sie die sozialdimensionale Asymmetrie der All-Einzigkeit impliziert, zur Grundlage hat. Dem sozialen Alter wird vom antisozialen Ego die Unverletzlichkeit seiner psychischen und physischen Integrität dadurch in fundamentaler Weise abgesprochen, daß Alter für Ego kein eigenständiges, von Ego unabhängiges Existenzrecht besitzt und insofern unter Egos Verwertungsvorbehalt steht. Der basale reziproke moralische Verpflichtungszusammenhang zwischen Ego und Alter wird hierdurch geleugnet, so daß der soziale Andere vorbehaltlos belogen, bestohlen, manipuliert, mißbraucht, gequält und getötet werden kann. Antisozialität im hier gemeinten Sinne ist also nicht generell gegen die Gesellschaft oder deren (dominierende) Normen gerichtet, sondern gegen den konkreten sozialen Anderen. Dies geht oft mit der Verletzung sozial geltender Normen einher, kann aber auch gesellschaftlich unauffällig und sogar vordergründig konform vonstatten gehen. Vor allem aber ist umgekehrt nicht jede gesellschaftliche Normverletzung gleichbedeutend mit Antisozialität. Letzteres ist gerade mit Blick auf die vielen Stirner-rezeptionsgeschichtlich entfalteten und noch zu behandelnden distinktionsbewußten, nonkonformistischen, individualistischen, revolutionären Individualidentitätsangebote zu betonen.236 Obwohl diesen die Bereitschaft zur Verletzung gesellschaftlicher Normen und Konventionen eingeschrieben ist, sind sie nach dem hier vorgeschlagenen Konzept keineswegs als antisozial einzustufen. Denn sie beruhen, auch wo sie sich, z. B. als ‚aristokratischer Individualismus‘, elitär geben und antiegalitäre Ordnungskonzeptionen propagieren, gemäß dem jeeinzigen Stirner-Interpretationsschema auf der reziproken Anerkennung von sich als eigenständige und eigenwertige Individualitäten wissenden Indivi235 Im Fall der charismatischen Beziehung schützen die narzißtisch-identifikatorischen Verschmelzungs- und Spiegelungsprozesse den vom All-Einzigen als dessen Selbst-Objekt – und insofern Teil des grandiosen all-einzigen Selbst – wahrgenommenen Anderen zwar tendenziell vor der Vernichtung, solange die Übertragung aufrechterhalten wird, aber nicht vor dessen tyrannischem Verfügungsanspruch; und auch nicht davor, in Ungnade zu fallen und dann unter Umständen umso heftiger von dessen, von narzißtischer Wut befeuerten Vernichtungsgelüsten bedroht zu werden. 236 Siehe unten, VI. und VII.

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duen. Diesen gegenüber besteht das Spezifische der Antisozialität in der Verbindung von all-einziger Selbstüberhöhung Egos, komplementärer Abwertung Alters und der daraus resultierenden Selbstermächtigung Egos, Alter nach Belieben Schaden zuzufügen.237 Diese Möglichkeit liegt beispielsweise in der von Panizza all-einzig vorgenommenen illusionistisch-dämonistischen Derealisation und Entwertung der sozialen Anderen zu ‚illudorischen‘ Projektionen und wertlosen ‚Plattköpfigen‘, mit denen seinem ‚dämonischen‘ Trieb entsprechend zu schalten und walten der ‚genial-psychopathische Individualist‘ keine Vorbehalte zu haben braucht. Zwar darf unterstellt werden, daß die Glorifizierung der Antisozialität nicht Panizzas Hauptanliegen war – Panizza ging es primär darum, den Individualisten gegen Kränkungen durch die soziale Umwelt zu immunisieren, dessen Unbeirrbarkeit zu rechtfertigen, ihn in der Verfolgung seiner Überzeugungen zu stärken und zur Verwirklichung eines individuellen Selbst-Entwurfes zu ermutigen –, aber sie liegt gleichwohl in der Konsequenz seiner in der dargelegten adaptionistischen Stirner-Interpretation versuchten ‚Rettung der Persönlichkeit‘. Eindeutiger in der Benennung und Verurteilung dessen, was sie als die antisozialen Konsequenzen Stirnerscher Einzigkeit herausarbeiten, sind dagegen Eduard von Hartmann in seiner bereits herangezogenen Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins und Josef Clemens Kreibig in seiner im Jahr nach Panizzas Illusionismus-Schrift erschienenen Geschichte und Kritik des ethischen Skepticismus. Für sie zeigt sich in der Leugnung des reziproken moralischen Verpflichtungszusammenhanges zwischen Ego und Alter, in der fundamentalen Mißachtung der persönlichen Integrität des sozialen Anderen das Böse. a) Josef Clemens Kreibig Kreibig geht von der Feststellung aus, daß „[v]or das ethische Forum [. . .] nur jene Gesinnungen, Handelnde und Handlungen [gehören], die mit dem Wohl und Wehe eines anderen oder vieler anderer Subjecte in Beziehung stehen“,238 und gewinnt im Anschluß daran das „ethische Kriterium“, 237 Der Terminus ‚antisozial‘ ist wiederum der psychoanalytischen Psychopathologie des Narzißmus entlehnt (vgl. z. B. Kernberg (1983), S. 35 f., 137 ff., 164, 261 ff., 291 f., 301 f.), bezieht sich aber im vorliegenden Zusammenhang sozialtheoretisch auf sozialphänomenologische Individualitätskonstrukte und semantische Individualidentitätsangebote und ist auf deren Beobachtung und Analyse zugeschnitten, ohne daß damit eine diesbezügliche Komplementarität mit psychischen Systemen oder begriffliche Überschneidungen und gemeinsame Referenzobjekte mit der psychoanalytischen Perspektive ausgeschlossen wären; siehe auch unten, VIII. 4. b). 238 Kreibig (1896), S. 2. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich im vorliegenden Unterabschnitt ebenfalls auf Kreibigs Abhandlung.

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die Differenz von „Gut und Böse“ (S. 2), aus der Kombination der Ego-Alter-Relation mit der Unterscheidung von Lust- und Schmerzerwartungen als Handlungsmotiv: „Die Lust aus vorgestellter fremder Lust heisst Mitfreude, der Schmerz aus vorgestelltem fremden Schmerz Mitleid. Mitfreude und Mitleid sind die beiden Seiten des Mitgefühls. [. . .] Die Lust aus vorgestelltem fremden Schmerz heisst Grausamkeit, der Schmerz aus vorgestellter fremder Lust Neid. Grausamkeit und Neid sind die beiden Seiten der Bosheit. [. . .] Das ethische Kriterium lautet: Gut ist jene Gesinnung, derzufolge aus Mitgefühl Handlungen erfolgen, die eine Lustvermehrung oder Schmerzverminderung in anderen Subjecten zum vorgestellten Ziele haben, böse dagegen jene Gesinnung, derzufolge aus Bosheit Handlungen erfolgen, die auf eine Lustverminderung oder Schmerzvermehrung anderer Subjecte abzielen.“ (S. 3 – H. i. O.) Entsprechendes gilt für die „Erweckung und Beseitigung fremder Gefühle“ und für das „Unterlassen von Handlungen“ (S. 3 – H. i. O.).239 Außerdem ist das ethische Kriterium nicht nur auf die Gesinnungen selbst – „der Terminus Gesinnung als dauernde Willensrichtung verstanden“ (S. 113) –, sondern auch auf die dadurch bestimmten Subjekte und Handlungen anzuwenden (vgl. S. 3, 113). Wichtig ist, daß zur „guten Qualität gehört, dass nicht die Beseitigung der eigenen Unlust aus dem Mitleid oder die Erweckung von Freude aus der Mitfreude als Zweck der Handlung vorgestellt wird, sondern die Beseitigung oder Erweckung, Abschwächung oder Steigerung fremden Gefühls.“ (S. 3 – H. i. O.) Die ethisch positive oder ‚sittliche‘ Gesinnung ist also durch das Wohl des sozialen Anderen motiviert, nicht ‚egoistisch‘ durch das eigene – was, wie noch deutlicher wird, keineswegs ausschließt, daß die gut handelnde Person sich dabei wohlfühlt; entscheidend ist aber, daß die Motivlage durch den vorgestellten Zustand des Anderen bestimmt ist (vgl. S. 2, 113, 115). Hiermit und mit der Feststellung, daß dagegen „Handlungen, welche eigene Lust und eigenen Schmerz bezwecken, ohne mit fremden Gefühlen in Wechselbeziehung zu stehen, [. . .] ethisch indifferent“ sind (S. 4), betont Kreibig nochmals die konstitutive Bedeutung, die der Reflexion der EgoAlter-Relation für moralisch-ethische Fragestellungen und Bewertungen zukommt. Eine Konsequenz davon ist, daß im Falle eines „Conflict[s] zwischen (vorgestellter) Lust und Schmerz aus eigenen und fremden Zuständen“ die ethische Wertigkeit von Gesinnungen, Personen und Handlungen mit der Einsatz- und Opferbereitschaft zugunsten einer Zustandsveränderung im sozialen Anderen variiert, und zwar im Guten wie im Bösen: Je größer das eigene Opfer und je kleiner der dadurch bewirkte „Vortheil“ 239

Zum „Mitgefühl“, merkt Kreibig an, gehört als „besondere Aeusserung“ das „Wohlwollen“, zur „Bosheit“ entsprechend das „Uebelwollen“ und die „Schadenfreude“ (Kreibig (1896), S. 3).

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oder aber „Schaden“ des Anderen – also je ungünstiger die Kosten-NutzenRelation –, desto moralisch wertvoller oder aber verdammenswerter ist die Tat bzw. das Subjekt und seine Gesinnung (S. 5): Wer auch um nur einer kleinen Wohltat für den Anderen willen viel auf sich nimmt bzw. auf viel verzichtet, ist offensichtlich gut, ebenso wie derjenige böse ist, der entsprechenden Aufwand betreibt, um dem Anderen zu schaden, selbst bzw. gerade dann, wenn er diesem dadurch nur geringen Schaden zufügen kann.240 Dabei wird das „Gute [. . .] vom sittlichen Individuum aus innerem Zwang, aus dem (das Wesen seiner Gesinnung ausmachenden) Mitgefühl gethan und dem Bösen vorgezogen. Für den Guten sind die Handlungen 240 Eine weitere Konsequenz ist, daß die ethische Wertigkeit von guten wie bösen Gesinnungen sich mit dem Umfang des Kreises von sozialen Anderen, deren vorgestellte Zustandsveränderungen zum Handlungsmotiv werden, variiert (vgl. Kreibig (1896), S. 5). Auf die ethisch positive Seite bezogen, nutzt Kreibig dieses „Interessenkreis“ genannte Merkmal – sowie drei weitere: „Erregungsgrund[]“ und „Intensität“ des Mitgefühls, außerdem „Inhalt[] des Lustbringenden“ – für die Aufstellung eines „evolutionistischen“ Stufenmodells moralischen Lernens (S. 5 f., 158 f.), das er im Sinne des biogenetischen Grundgesetzes und unter Berufung auf Herbert Spencer für den „Entwicklungsgang der Gattung wie auch des Einzelnen“ postuliert (S. 7). Die Entwicklungsrichtung läßt sich bezüglich der vier genannten Merkmale stichwortartig als Universalisierung, Abstraktion, Aktivität und Sublimierung bzw. Idealisierung fassen: „[Interessenkreis:] Das Mitgefühl erstreckt sich auf der niedrigsten Moralstufe nur auf die Familie, später auf die Horde, den Stamm, das Volk. Die höchste Stufe wird das Mitgefühl mit allen Menschen und fühlenden Wesen überhaupt darstellen. [. . .] [Erregungsgrund:] Auf der elementarsten Stufe wird das zur Handlung führende Mitgefühl unmittelbar durch das Wahrnehmen (meist Sehen oder Hören) der Anzeichen fremden Schmerzes oder Lustgefühls erregt. Auf der nächsten Stufe genügt das reproducierte Bild, dass jemand leide oder sich freue, um ein Motiv zu erwecken, und damit beginnt der Impuls in das Stadium einer bleibenden Disposition einzutreten. Endlich wird das Mitgefühl an die allgemeinen Begriffe des Wohls und Wehs gegenwärtiger und zukünftiger Generationen geknüpft. In diesem Entwicklungszustand erscheint der Impuls zu einer bleibenden, gewohnheitsmäßigen Willensrichtung, d. h. zu einer psychischen ‚Disposition‘ ausgereift, welche in festen, selbstgeschaffenen Regeln, ‚Maximen‘ ihren Ausdruck finden kann. [. . .] [Intensität:] Der Intensität nach ist das Mitgefühl einer Abstufung vom passiven Theilnahmsgefühl bis zum begeisterten Opfermuth fähig. [. . .] [Inhalt] Während tiefstehende Naturen schon durch Beseitigung körperlichen Unbehagens und Befriedigung materieller Bedürfnisse glücklich gemacht werden können, liegt für hochgeartete Menschen das höchste Wünschenswerte in der Möglichkeit, alle geistigen Kräfte frei entfalten und bethätigen zu können und ein schaffensreiches, intensives Leben zu geniessen.“ (S. 5 f.) Die Individuen variieren demnach im Hinblick auf die jeweils von ihnen ontogenetisch erreichte Moral-Stufe, also im Hinblick auf ihre jeweilige Nähe bzw. Distanz zum phylogenetisch zu einem historisch gegebenen Zeitpunkt erreichten Niveau moralischer Entwicklung. „Die verschiedenen Individuen erreichen verschiedene Entwicklungsstufen“, aber das „Mitgefühl ist [. . .] das constante Moment in der Ethik, der Interessenkreis, der Erregungsgrund, die Intensität und das Glückbringende entwickelt sich nach Zeit und Umständen im Sinne der allgemeinen Evolutionsgesetze.“ (S. 7).

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des Mitgefühls zugleich die Quellen der höchsten, reinsten und dauerndsten eigenen Lust, die er zu genießen fähig ist.“ (S. 7) Diese psychische Disposition zum Mitgefühl – „Mitfreude und Mitleid“ – ist Kreibig zufolge das „Fundament der Moral“, weil sie den quasi natürlichen Vorzug des Guten vor dem Bösen begründet und absichert (S. 7 – H. i. O.). Die psychische Struktur des sittlichen Individuums enthält einerseits mit der „moralischen Disposition“ zum Mitgefühl eine verinnerlichte und dauerhafte Orientierung auf das ethisch Gute und andererseits mit dem „Gewissen“ die „Seelenfunction des Urtheilens“, die als internalisierte Sanktions- und Gratifikationsinstanz „beabsichtigte oder vollzogene Handlung[en]“ nach Maßgabe jener intrapsychischen ethischen Idealstruktur bewertet (S. 6). „Aus dem Innewerden des Uebereinstimmens einer vollzogenen Handlung mit der moralischen Disposition fliesst das Gefühl innerer Befriedigung, aus dem Gegenfalle Reue.“ (S. 6) Der „Unsittliche[]“ dagegen, der „keine Lust am Wohlthun hat, sondern in der Quälerei seiner Mitmenschen Genuss findet, besitzt das innere Fundament der Moral nicht“, seine psychische Struktur ist defizitär ausgebildet (S. 7). Er verfügt weder über die internalisierte Urteilsfunktion bzw. Sanktions- und Gratifikationsinstanz, noch über die Fähigkeit zum Mitgefühl und die damit verbundene ethische Idealstruktur, weswegen ihm auch jenes aus der Harmonie von ‚Gewissen‘ und ‚moralischer Disposition‘ erwachsende ‚Gefühl innerer Befriedigung‘ ebenso wie jenes der aus beider Widerstreit entstehenden ‚Reue‘ zu erleben versagt bleibt. Die formale Symmetrie von ‚Gut‘ und ‚Böse‘ auf der ‚moraldogmatischen‘ Ebene des ‚ethischen Kriteriums‘ (vgl. S. 1 ff.), die sich aus der dargestellten Kombination der Ego-Alter- und Lust-Schmerz-Konstellationen ergibt, weicht also in der moralpsychologischen Begründung des ‚Fundaments der Moral‘ einer Asymmetrie im Verhältnis von ‚sittlichem‘ und ‚unsittlichem‘ Individuum: dieses ist nicht einfach jenem strukturanalog unter umgekehrten Vorzeichen, sondern in seiner psychischen Struktur deviant, defizient, deformiert oder degeneriert. Diese psychologische Differenz ist – anders als beispielsweise bei Panizzas Figur des dämonistischen Individualisten, der bald humanistischen Idealen folgt, bald Massenmorde begeht, je nachdem, was konkret seine Mission ist – bei Kreibig also strukturell, nicht bloß inhaltlich bestimmt. Kreibigs Verortung des Einzigen in diesem Zusammenhang ergibt sich aus der von ihm Stirner zugeschriebenen Bedeutung, einer der profiliertesten Vertreter des „ethische[n] Skepticismus der neusten Zeit“ zu sein, und aus der damit einhergehenden Anwendung der skizzierten Kategorien auf Stirners „egoistische[n] Individualismus“ (S. 100 – H. i. O.).241 Die Fürspre241 Philosophiegeschichtlich führt Kreibig in zitierwürdiger Weise Stirner als ein den Eintritt in die Moderne vollendendes Reflexivwerden der Feuerbachschen Reli-

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cher des ‚ethischen Skeptizismus‘ leugnen generell, mit unterschiedlichen Akzentsetzungen, einerseits die Begründbarkeit des ‚ethischen Kriteriums‘, andererseits die Existenz des ‚Fundaments der Moral‘, und somit insgesamt die Verbindlichkeit und den ‚Wertvorzug‘ des Guten gegenüber dem Bösen (vgl. S. 10 f.). Ein in diesem Verständnis „entschieden skeptisches Merkmal“ ist daher „die ausdrückliche Leugnung jeder Beziehung des Begriffes ‚gut‘ zu einem fremden Ich“ (S. 11), weil damit einerseits die sozialdimensionale Ableitung des ethischen Kriteriums unterlaufen, andererseits die gionskritik ein: „[G]erade Feuerbachs Kampfmittel des nil admirari zeitigte eine überaus gefährliche skeptische Reaction, die ihre Spitze gegen ihn selbst richtete: Den ‚Einzigen‘ Max Stirners. Mit dieser Erscheinung überschreiten wir die Schwelle unserer Zeit und treten in die Gedankenkreise, welche die Gegenwart bewegen.“ (Kreibig (1896), S. 99) Den „schärfsten Ausdruck und die höchste Gewalt, welche die wechselvolle Geschichte der Moralphilosophie überhaupt kennt“, finden diese ‚Gedankenkreise‘, die „individualistische[] Skepsis“, Kreibig zufolge in den Werken von „drei bedeutenden Männer[n]“, nämlich in „Stirners egoistische[m] Individualismus“ und, „[i]hm verwandt, doch ungleich tiefer angelegt,“ in „Nietzsches Verherrlichung der kraft- und machtvollen Persönlichkeit im Gegensatz zu den modernen Nivellierungs-Principien und zur Moral des Mitleids. Der dritte im Bunde der individualistischen Skeptiker ist Peter Krapotkin, der Anarchist, der Erzfeind unserer staatlichen Organisation.“ (S. 100 – H. i. O.) Auf die Verortung Stirners im Anarchismus und im Verhältnis zu anderen Anarchisten, wie u. a. auch Kropotkin (so die heute geläufige Schreibweise), und nicht zuletzt auf Kropotkins Einschätzung Stirners und Nietzsches wird im folgenden Kapitel ausführlich eingegangen (siehe auch VII. 2.), auf das Thema ‚Stirner und Nietzsche‘ im sechsten Kapitel. – Kreibig bemerkt zu letzterem, daß Stirners Einziger „an aufreizender Kraft und – leider missbrauchter – Genialität nur mit den flammenden Ergüssen dieses jüngeren Gesinnungsbruders [Nietzsche] verglichen werden“ kann (S. 101). Im Hinblick auf Leben und Werk beider sieht er eine – als Ironie des Schicksals anmutende – Parallele: „Es liegt eine seltsame Tragik darin, dass der Mann, dessen Lehre auf die Spitze zulief ‚die Welt ist Mein Eigenthum und Ich benütze sie als Selbstgenuss‘ in Dürftigkeit zugrunde ging. Der schwerkranke Nietzsche dagegen kann nur durch das Walten des von ihm verhöhnten Mitleids sein Leben fristen.“ (S. 101) Und mit dieser in der Kontrastierung von Leben und Werk der beiden ‚bedeutenden Männer‘ gewonnenen Tragik verknüpfen sich charismatifikatorisch wiederum die zeitgenössisch populären Gedanken zur Psychopathologie der – von Kreibig auch Stirner bescheinigten – Genialität. Mit Blick auf Nietzsche schreibt Kreibig, dabei das von Schultze und Panizza bekannte Motiv der ‚Standort-Verrückung‘ mitführend: „Es liegt eine seltsame Tragik darin, dass Genie und Irrsinn – die abnorme Steigerung der psychischen Kräfte und deren krankhafte Verschiebung – überhaupt nahe verwandte Phänomene sind, besonders beklagenswert aber gestaltet sich diese Beziehung, wenn sich gerade die Irrsinnsform der Zerstörungswuth bei einem Genie ankündigt, dessen schöpferische Urkraft zu grossen positiven Leistungen hätte führen können. Friedrich Nietzsche hatte als Philologe einen glänzenden Anlauf genommen und erweckte, als er zur Philosophie überging, überschwengliche Hoffnungen. Da keimte eine krankhafte Sucht in ihm auf, zu entwurzeln, was Jahrhunderte lang gewachsen, zu sprengen, was viele Geschlechter gebaut und gehütet. Sein Zerstörungsobject war die Moral und deren wissenschaftliche Theorie, die Ethik.“ (S. 122).

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IV. Der Wahnsinn, die Genialität und das Böse

moralpsychologisch rekonstruierte Fundamentierung jenes Wertvorzuges des Guten für irrelevant erklärt wird. Der „entscheidende Punkt der moralischen Skepsis“ liegt daher „in einem Losreissen des Ethischen von der logischen und psychischen Nothwendigkeit: Der Begriff des Guten wird etwas Zufälliges, Relatives, Aeusserliches, dem an sich kein höherer Werth als dem Gegensatze zukommt.“ (S. 10) Gegenwärtig, „in eine[r] Periode des Cults machtvoller Persönlichkeit“ (S. 101, vgl. S. 99), steht diese philosophiegeschichtlich altehrwürdige und, wie Kreibig hervorhebt, für den Fortgang der moralphilosophischen Reflexion unentbehrliche Tradition (vgl. S. 12 f.) „unter dem Zeichen des Individualismus“, woraus sich die „neuerliche allgemeine“ Aufmerksamkeit für „Stirners [. . .] Evangelium des radicalsten frechsten Egoismus und Individualismus“ erklärt (S. 100 f.).242 Der von diesem propagierte Einzige oszilliert, gemessen an den im Zusammenhang mit Kreibigs Begründung und Bestimmung des ethischen Kriteriums entwickelten Kategorien, zwischen „Indifferentismus“ (S. 116) und dem „Bösen“ (S. 114). Ersteres ist dort der Fall, wo der Einzige in seinem ‚egoistischen‘ Desinteresse am Gefühlszustand des sozialen Anderen mit dessen Wohlergehen nicht in Konflikt gerät, weil beider Interessen entweder konvergieren oder einander nicht berühren (vgl. S. 113, 115 f.). Letzteres ist dort der Fall, wo sein Egoismus im engeren Sinne bedeutet, daß er sein eigenes Wohlergehen ohne Rücksicht auf soziale Andere und gegebenenfalls auf deren Kosten verfolgt. „Als Egoismus im engen richtigen Begriffsumfang [. . .] verstehen wir eine Gesinnung, vermöge welcher die Lust und der Schmerz aus eigenen Zuständen übermässige Motivkraft im Vergleiche zu wettbewerbender Lust und Schmerz aus fremden gleichartigen Zuständen entwickelt. [. . .] Wenn beispielsweise ein Gesättigter von der Erwartung des Genusses einer Speise bestimmt wird, dieselbe einem Hungrigen, dessen intensive Lust aus der Sättigung vorgestellt wird, vorzuenthalten und sich zuzuführen, so nennen wir die Gesinnung, aus der eine solche Handlungsweise hervorgeht, Egoismus. [. . .] In der geringen Intensität des Mitgefühls und grossen des Gefühls aus eigenen Zuständen liegt also der egoistische Charakter der Gesinnung jener Person. 242 Die laut Kreibig „zwei granitene[n] Grundpfeiler“ (Kreibig (1896), S. 110) der Stirnerschen Fassung dieses „moderne[n] skeptische[n] Individualismus“ (S. 100 – H. i. O.) lauten demnach: „Das Ich schafft die Welt – die Grundthese der theoretischen Philosophie Stirners – das Ich schafft die Werte – die Grundthese seiner praktischen Philosophie.“ (S. 110 – H. i. O.) Daraus folgt, „dass die Dinge dadurch, dass sie als Erzeugnisse des Ichs erkannt werden, aufhören, Wesenheiten ausser uns zu sein, also als Existenzen an sich zerstört werden.“ Und deshalb kann, wichtig bezüglich der skeptischen Infragestellung des sozialdimensional ausgerichteten ethischen Kriteriums, für Stirner in Kreibigs ähnlich wie auch in Panizzas Interpretation eine „Bewertung [. . .] nur mit Beziehung auf das Ich stattfinden“ (S. 110; vgl. S. 100 ff.).

3. Das Böse und die all-einzige Struktur der Antisozialität

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Der potenzierteste Egoismus läge vor, wenn die Vorstellung vom Zustande des Hungernden keinen Schmerz im Gesättigten hervorriefe – der Grenzfall zum Bösen, welches darin bestünde, wenn der Gesättigte sogar Lust daraus empfände, den Hungernden leidend vorzustellen.“ (S. 114 – H. i. O.) Die Gesinnung des Einzigen ist in Kreibigs Sicht also günstigstenfalls ‚ethisch indifferent‘, schlimmstenfalls ‚böse‘, keinesfalls allerdings ‚gut‘ im anspruchsvollen Sinne des – von Stirner nicht widerlegten (vgl. S. 112 ff., v. a. S. 116) – ethischen Kriteriums: dafür mangelt es dem Einzigen Kreibig zufolge an der Bereitschaft, sich altruistisch durch die Vorstellung vom Wohlergehen des Anderen motivieren zu lassen, ohne dies unter den Vorbehalt des eigenen Nettonutzenkalküls zu stellen (vgl. S. 115 f.). Stattdessen beobachtet Kreibig an Stirner sogar eine ausgesprochene „Parteilichkeit“ für das Böse: „Für jede bösgeartete Individualität weiss er ein beschönigendes, vertheidigendes Wort zu finden, für den Mädchenverführer im Priesterrock, für Nero, für den Elternverächter und so manchen argen Gesellen, nur das sittliche Individuum vermag keine Gnade vor ihm zu finden.“ (S. 117) Diese Parteilichkeit für das Böse ergibt sich demnach zwar nicht zwingend aus Stirners ‚egoistischem Individualismus‘, aber sie dient argumentativ dem ‚ethisch-skeptizistischen‘ Ziel, das „Fundament[] der Ethik“ ins Wanken zu bringen, nämlich in Frage zu stellen und zu leugnen, daß „das Gute dem Bösen vorzuziehen sei.“ (S. 116) Dies kann Stirner aber nur, indem er die von Kreibig moralpsychologisch rekonstruierte, in der psychischen Struktur des gesunden Individuums wurzelnde Quasi-„Evidenz“ leugnet, daß „das Gute in einer Rücksicht auf fremdes Wohl und Wehe bestehe“ und als solches „besser als das Böse sei“. Diese „ethischen Grundbewertungen [. . .] gelten“, darin den logischen „Denkgesetzen“ vergleichbar, „für die Gesammtheit der psychisch homogen organisierten Individuen des genus Mensch“ aufgrund der psychisch-strukturellen Disposition zum Mitgefühl in Verbindung mit der internalisierten Urteilsfunktion des Gewissens (S. 120).243 „Mag sein, dass allem Raissonement, allem Hinweis auf Selbst243 Mit dieser psychologisch-anthropologischen Begründung universell geltender ethischer Grundbewertungen begegnet Kreibig zugleich metaphysikkritischen Einwänden, indem er ausdrücklich zugesteht, daß jene „ethischen Grundbewertungen [. . .] gewiss nicht ausserhalb des Menschen, abgesehen von ihm, in einer Welt an sich“ gelten (Kreibig (1896), S. 120), aber dies widerlegt eben nicht deren Geltung in der Menschenwelt. Die von Kreibig dargelegten ethischen Grundbewertungen mögen spezifisch menschliche Konstrukte sein, aber mit diesem – in metaphysikkritischer Absicht zeitgenössisch prominent beispielsweise von Nietzsche geführten – Nachweis werden sie nur für denjenigen nichtig, der, entsprechend der ontologischmetaphysischen Leitdifferenz ‚Sein/Wesen‘ vs. ‚Nichts/Schein‘, metaphysische Geltungsgründe fordert. Die berüchtigte, von Kreibig und vielen anderen zeitgenössischen Autoren zur Charakterisierung des von Nietzsche propagierten Nihilismus zitierte Formel „Nichts ist wahr, alles ist erlaubt!“ (Kreibig (1896), S. 135 – H. i. O.;

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IV. Der Wahnsinn, die Genialität und das Böse

beobachtung zum Trotz ein Stirner noch immer behauptet: Von dem Vorzug Eurer Fundamental-Bewertung gegenüber der entgegengesetzten spüre ich nichts in mir. Dann kann dies aber nur als eine psychische Krankheit (moral insanity) oder als bloßer flatus voci angesehen werden. Und ebenso, wie die Mathematik nicht durch die Behauptung eines Verrückten, dass das Urtheil 2  2 = 4 nicht evident sei, ihrer notwendigen Allgemeingiltigkeit beraubt wird, ebenso wenig wird das ethische Fundament zum Spuk, Gespenst, Sparren, weil der ‚Einzige‘ sein Nego dagegen setzt.“ (S. 120 f.) Mit seiner Leugnung des ethischen Fundaments widerlegt der Einzige dieses also nicht, sondern disqualifiziert sich vielmehr unter ethischen und psychologischen Aspekten selbst. Der ethische Indifferentismus des Einzigen und seine Nähe zum Bösen erweisen sich als Folge einer psychisch-strukturellen Defizienz, der Mitgefühls- und Gewissenlosigkeit. Im Einzigen propagiert Stirner demnach das ‚unsittliche‘ Individuum, ohne daß deswegen, wie Kreibig zugesteht, Stirner selbst unter moralpsychologischen Aspekten als ein solches zu betrachten ist. Der ethische Skeptiker muß nicht an ‚moral insanity‘ leiden, aber sein Skeptizismus redet, indem er das moralische Fundament leugnet – und sei es nur aus prahlerischer Provokationslust –, der ‚moral insanity‘ das Wort. So macht er sich, nach dem Maßstabe des ethischen Kriteriums, zu einem Fürsprecher des Bösen. b) Eduard von Hartmann Während also Kreibig dem Einzigen einen Indifferentismus zuschreibt, der strukturell in dessen Mangel an Mitgefühl begründet ist und der dort die durch das ethische Kriterium definierte Grenze zum Bösen überschreitet, wo die Gleichgültigkeit gegenüber dem Wohlergehen des sozialen Anderen zu einem durch Grausamkeit motivierten Genuß an dessen Leiden umschlägt – eine Tendenz, die Kreibig zufolge mit der im Einzigen von Stirner betriebenen Glorifizierung des unsittlichen Individuums gegeben und durch dessen Parteinahmen für das Böse bezeugt ist –, erkennt Eduard von Hartmann bereits in der reinen Selbstbezüglichkeit, die jene Indifferenz des Einzigen gegenüber dem sozialen Anderen bedingt, das Böse schlechthin: „die Wurzel des Bösen, das radikal Böse oder Urböse“, nämlich den „souverän sein wollende[n] Eigenwille[n]“.244 Im Einzigen – wie dann auch in Nietzsches ‚Übermenschen‘245 – „erhebt sich“, wie Hartmann in der vgl. Nietzsche, KSA 4, S. 340; KSA 5, S. 399) beruht auf eben diesem metaphysischen Fehlschluß der Metaphysikkritik, wie er beispielsweise auch in Panizzas Versuch einer dämonistisch-individualistischen Moralbegründung zu beobachten war. 244 Hartmann (1922), S. 610. 245 „Nietzsche hat die Stellungnahme Stirners erneuert [. . .]. Immerhin ist seine Stellungnahme ganz individuell bedingt: nämlich durch seinen Glauben, als Lehrer

3. Das Böse und die all-einzige Struktur der Antisozialität

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Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins ausführt, „zum letzten Male der Widersacher: der Böse in eigenster Person, d. h. der souveräne Eigenwille, dem alle seine (normalen oder abnormen) Zwecke als Zwecke für zufällig, und nur als seine Zwecke für wesentlich und wichtig gelten.“246 Der Standpunkt des Einzigen „ruht auf der Souveränität des Ich, oder theoretisch ausgedrückt: auf dem Glauben an die Absolutheit des Ich“, und deswegen „haßt“, Hartmann zufolge, der Einzige alles, was ihm einen „Verzicht auf seine Souveränität zumutet, eine Unterordnung seiner Willkür unter Zwecke, die nicht seine Zwecke sind“, deswegen empört er sich gegen „Gott“, „Vernunft“ und „Sittlichkeit“.247 Für die ethisch böse Qualität des im Einzigen verkörperten Eigenwillens ist demzufolge dessen inhaltliche Bestimmung sekundär. Ob der souverän über die Welt zu verfügen beanspruchende Einzige in seinem konkreten Handeln gegenüber dem sozialen Anderen durch Grausamkeit motiviert ist, oder ob letzterer schlicht der Gleichgültigkeit des Einzigen zum Opfer fällt, etwa, weil er diesem zufällig im Wege steht, ist für die ethische Qualifizierung von nachgeordneter Bedeutung.248 Der Anspruch des Einzigen, „keine anderen Zwecke als die seinigen“ zuzulassen, der ihm „als praktische Verkörperung seiner Selbstherrlichkeit“ gilt,249 sieht die für die sittliche Gesinnung gebotene Rücksichtnahme und das Mitgefühl gegenüber den sozialen Anderen nicht vor. Denn dies hieße, den eigenen Absolutheitsglauben zu relativieren und den eigenen Souveränitätsanspruch einzuschränken. Dagegen ist die willkürliche Durchsetzung eigener, aber ansonsten inhaltlich beder ewigen Wiederkunft auf der Mittagshöhe dieser Weltperiode (und damit auch aller vergangenen und künftigen) zu stehen, der einzige Übermensch, der Dionysos, der Märtyrer, Erlöser und Heiland der Menschheit zu sein; nur dieses Selbstgefühl macht seine Stellungnahme zum Weltleid für ihn erträglich, indem sie ihm eine dasselbe überragende Befriedigung gewährt.“ (Hartmann (1922), S. 609 – H. v. A. S.) – Hartmann benutzt hier, ähnlich wie dies bereits an Schultze zu sehen war, den Einzigen als Beobachtungsschema, um Nietzsche als All-Einzigen – oder auch ‚dämonistischen Individualisten‘ im Sinne Panizzas – zu charakterisieren, der sich durch seine eigene Größenphantasie und sein grandioses Selbstgefühl regressiv gegen die Kränkung immunisiert, die er der nicht-einzigen Restmenschheit in seinen Nihilismus-Befunden zufügt. 246 Hartmann (1922), S. 609 – H. i. O. 247 Hartmann (1922), S. 608 f. – H. i. O. 248 Die zweite Variante der Indifferenz gegenüber dem sozialen Anderen entspricht jenem „grauenhafteste[n] Zustand, der sich denken läßt“, dem „Standpunkt der völligen Gleichgültigkeit gegen allen und jeden Zweck [. . .] in seiner totalen Ausgebranntheit“ (Hartmann (1922), S. 607) sogar noch vollkommener als die erste Variante der Grausamkeit, da in dieser Ego in seinem eigenen Gefühlszustand abhängig bleibt von demjenigen Alters: Egos Lust beruht hier auf dem Leid Alters – bzw. der Vorstellung davon. 249 Hartmann (1922), S. 609.

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IV. Der Wahnsinn, die Genialität und das Böse

liebiger Zwecke, auch und gerade gegen den Widerstand Anderer – also unter Einsatz von Macht – und auch und gerade auf deren Kosten, geeignet, den Glauben an die eigene Absolutheit und Souveränität und das damit einhergehende Omnipotenzgefühl zu bestärken. Diese, für Hartmann im Einzigen sich manifestierende, aber auch mit den adaptionistischen bzw. askriptiven All-Einzigkeitsdeutungen Panizzas und der Patientin S. kompatible, unbeirrbare Selbstherrlichkeit ist, gleich welche konkreten Zwecke sie verfolgt, das Böse. Das Böse ist für also Hartmann, anders als für Kreibig, nicht erst durch die inhaltliche Bestimmung, die ‚grausame‘ Motivation gegeben, sondern es ist der Omnipotenzanspruch einer archaischen Kraft in Gestalt des ‚Eigenwillens‘, der sich im Bestreben, seine Selbstbezüglichkeit zu bewahren, gegen die ihm kulturell aufgenötigten Relativierungen seiner Position und die damit verbundenen Entsagungen wehrt. Die „Auflehnung des Eigenwillens gegen die Zumutung des formellen Verzichtes auf seine Souveränität ist aber nicht etwa ein ungewöhnliches, absonderliches Phänomen, sondern es ist das radikal Böse selbst, jene tiefinnerste Wurzel des Bösen, die in jedem Herzen wuchert, wenn auch nicht in jedem ihre Schößlinge unbeschnitten ans Licht kommen. Wie sehr auch das Ich die Vernunft als die eine Seite seiner Selbst [. . .] anerkennen mag: es bleibt doch immer im verborgensten Winkel des Bewußtseins ein dunkleres oder deutlicheres Widerstreben gegen die Unterwerfung unter die Forderungen der Vernunft zurück, welches in dem anderen Attribut seines Wesens, im blinden Willen wurzelt und sich in der Individuation als Eigenwille verdichtet. Jetzt erst zeigt der ‚Egoismus‘ sein wahres Gesicht, nachdem er sich von allen ihm anhaftenden Inkonsequenzen gereinigt und sich auf sein eigentliches Prinzip, die praktische Absolutheit seines Wollens für ihn und ‚seine‘ Welt, besonnen hat. [. . .] Jetzt erst wirft er die[] Masken einer unbewußten oder bewußten Verstellung ab und läßt sein wahres Antlitz erkennen; jetzt erst sehen wir, daß er in allen Verhüllungen der verborgen lauernde Erzfeind war, der darum auch schonungslos unter seinen liebenswürdigen und respektablen Masken bis aufs äußerste zu bekämpfen ist.“250 Diesen „Erzfeind“, „den Widersacher“,251 verkörpert Hartmann zufolge der Einzige. Ohne hier näher auf die mit Kreibigs und Hartmanns Verwendung des Begriffs des Bösen implizierten moralphilosophischen – und auch theologischen bzw. metaphysischen252 – Kontroversen einzugehen, läßt sich zunächst festhalten, daß das, was diese beiden Autoren diesbezüglich am Ein250

Hartmann (1922), S. 609 f. – H. i. O. Hartmann (1922), S. 610. 252 Hartmann folgt in seiner willensphilosophischen Bestimmung des Bösen offensichtlich Hegel (vgl. z. B. Hegel, Werke VII, S. 260 ff.; Werke XVI, S. 76 f.). 251

3. Das Böse und die all-einzige Struktur der Antisozialität

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zigen kritisieren, dem entspricht, was sich mit dem hier vorgeschlagenen Konzept der Antisozialität beschreiben läßt. Die von Hartmann und Kreibig jeweils akzentuierten Bestimmungen des Bösen – bei Hartmann die aus reiner Selbstbezüglichkeit resultierende Gleichgültigkeit gegenüber dem Anderen, bei Kreibig die Lust an dessen Leid – eignen sich dann, das sozialphänomenologische Spektrum antisozialer Motivlagen zu markieren. Je nach der Bedeutung des sozialen Anderen als Objekt antisozialer Aktivitäten und nach der jeweiligen Funktion der konkreten Schädigung des Anderen in der antisozialen Vorstellungswelt lassen sich typologisch drei Positionen unterscheiden. Die Schädigung Alters kann, erstens, als ein Ausagieren sadistischer und anderer perverser und aggressiver Impulse Egos erscheinen. Die Schädigung des sozialen Anderen ist in diesem Fall als Selbstzweck und Quelle des Lustgewinns interpretierbar. Die Schädigung Alters kann auch, zweitens, der Herstellung, Bekräftigung oder Restabilisierung eines grandios-omnipotenten Selbstgefühls Egos dienen. Der soziale Andere wird aus selbstmitleidig und selbstgerecht empfundenen Rachegelüsten geschädigt, als Macht- und Überlegenheitsdemonstration, aus Ressentiment und Idiosynkrasie, zur Abwendung von Ohnmachtsempfindungen und Minderwertigkeitsgefühlen, weil die unabhängige und differente Existenz des Anderen als Infragestellung der eigenen Grandiosität betrachtet wird. Die Schädigung Alters kann schließlich, drittens, auf der Indifferenz und Selbstbezüglichkeit Egos beruhen und aus Opportunitätsgründen erfolgen. In diesem Fall wird der soziale Andere entweder zu einem Mittel von außerhalb seiner Schädigung liegenden Zwecken, oder er wird einfach als ein Hindernis in der Verfolgung dieser Zwecke beiseitegeräumt. Der soziale Andere wird aus Rücksichtslosigkeit und Empathiemangel bei Bedarf dieser oder jener Zielvorstellung geopfert. Beispiele für die beobachtungsschematische Anwendung dieser Typen von antisozialer Einzigkeit zur Erklärung von zeitgenössisch als ‚individualistische‘ Exzesse und Extremismen gedeuteten sozialen Phänomenen werden im folgenden Kapitel behandelt.

V. Der Einzige, der Anarchismus und die Gewalt: soziale Phänomenologie der Antisozialität Es wäre freilich ungerecht, die anarchistische Theorie oder die Ansichten ihrer Exponenten nach solchen Phänomenen zu beurteilen, doch es bleibt eine Tatsache, daß der Anarchismus vieles anzieht, was an der Grenze von Wahnsinn und gemeinem Verbrechen angesiedelt ist. Daran muß man sich zugunsten der Autoritäten und der gedankenlosen Öffentlichkeit erinnern, die oft aus dem gleichen Abscheu die Parasiten der Bewegung mit den heroischen und edel gesinnten Menschen verwechseln, die die Theorien des Anarchismus erarbeitet und ihrer Verbreitung Bequemlichkeit und Erfolg geopfert haben. Bertrand Russell1 Die Revolte mündet nochmals in die Rechtfertigung des Verbrechens ein. Stirner hat diese Rechtfertigung nicht nur versucht (in dieser Hinsicht findet sich seine direkte Nachkommenschaft in den terroristischen Formen der Anarchie wieder), sondern sich an den Perspektiven, die er damit eröffnete, sichtlich berauscht. [. . .] Um einzig zu sein, muß, wer nicht den Tod auf sich nimmt, auf sich nehmen zu töten. Albert Camus2

1. Terrorismus und Anarchismus: zeitgenössische Evidenzen Wie bereits Ernst Schultze bemerkte,3 fiel die Stirner-Renaissance der 1890er Jahre in eine Zeit, in der dem Anarchismus im öffentlichen Bewußtsein eine verstärkte Aufmerksamkeit zuteil wurde. Diese besondere Beachtung spiegelt sich in symptomatischer Weise etwa in literarischen Arbeiten wie Mackays erstmals 1891 veröffentlichtem Bestseller Die Anarchisten oder in Przybyszewskis sechs Jahre später erschienenen Anarchisten-Roman 1 2 3

Russell (1918), S. 54 f. Camus (1951), S. 54 f. Siehe oben, IV. 1. a).

1. Terrorismus und Anarchismus

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Satans Kinder wider.4 Signifikant für das Interesse am Anarchismus ist insbesondere auch die sprunghafte Zunahme sich diesem Thema widmender wissenschaftlicher Publikationen im Fin de siècle, die ihrerseits ihren Teil zur Verstärkung dieser Aufmerksamkeit beitrugen und in maßgeblicher Weise an der kommunikativen Konstruktion des Anarchismus als eines relevanten, politischer und wissenschaftlicher Auseinandersetzung bedürftigen sozialen Phänomens beteiligt waren. Eine entscheidende Ursache für diese thematische Konjunktur war die europaweit beachtete Welle terroristischer Anschläge im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, die mit den Bombenattentaten der französischen Anarchisten François-Claude Ravachol (1892), Auguste Vaillant (1893) und Émile Henry (1894) und mit der Ermordung des Französischen Präsidenten Carnot durch den Italiener Geronimo Caserio (1894) spektakuläre Höhepunkte in den 90er Jahren hatten.5 Bereits 1878 war der Deutsche Kaiser Wilhelm I. zum Ziel zweier Attentatsversuche auf dem Berliner Boulevard Unter den Linden geworden. Am 11. Mai 1878 feuerte der Anarchist Max Hödel6 mit seinem Revolver auf den Kaiser, am 2. Juni verwundete Karl Eduard Nobiling7 den Monarchen mit einer Schrotflinte, mit der er sich danach selbst tödliche Verletzungen zufügte; Hödel wurde hingerichtet.8 Bismarck nahm die Anschläge auf das Leben des Kaisers zum Anlaß, den Reichstag aufzulösen, und konnte die mit der allgemeinen Hysterie gewonnene anti-sozialistische Stimmungslage nutzen, um mit der Mehrheit des neugewählten Reichstages das – bereits seit langem vorbereitete – Sozialistengesetz gegen die Sozialdemokratie durchzusetzen.9 Drei Jahre später, am 1. März 1881, wurde der Russische Zar Alexander II. von einem Mitglied der terroristischen Untergrundorganisation ‚Narodnaja volja‘ (‚Volksfreiheitswillen‘) ermordet; es war bereits der achte Anschlag auf das Leben des Zaren. Der Attentäter, der polnische Student Hriniewicki, hatte seinen eigenen Tod bei der Durchführung des Mordanschlages – ein Bombenwurf direkt vor die Füße des Zaren – einkalkuliert und entspricht insofern dem Typus des von Panizza konzipierten Selbstmordattentäters;10 mit ihm und dem Zaren kamen insgesamt fünf Personen ums Leben, sieb4

Siehe hierzu unten, VI. 3. a). Vgl. Holitscher (1925); Neumann (2000), S. 211 ff. – Camus zufolge sah allein das Jahr 1892 „mehr als tausend Sprengstoff-Attentate in Europa, an die fünfhundert in Amerika.“ (Camus (1951), S. 135). 6 1857–1878. 7 1848–1878. 8 Hödel war vormals Sozialdemokrat und Nobiling galt als ‚sozialistisch agitiert‘. Seinen schweren Kopfverletzungen erlag er erst nach drei Monaten; seine Familie durfte sich in ‚Edeling‘ umbenennen. Vgl. Meyer (1903–09 IX), S. 408; Meyer (1903–09 XIV), S. 725; Leonhardt/Schurich (1999), S. 67 f., 172 ff. 9 Vgl. Groh (1992); Zippelius (1996). 10 Siehe oben, IV. 2. d). 5

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V. Der Einzige, der Anarchismus und die Gewalt

zehn weitere wurden verletzt; von Hriniewickis Mitverschwörern wurden fünf einen Monat später, am 3. April, gehängt, darunter Sofija Perovskaja, die Tochter des ehemaligen russischen Innenministers.11 Die Ermordung Alexanders II. durch die Narodniki wurde auch von anarchistischer Seite gefeiert. Eine „Brutustat“ nannte sie Johann Most12, ein ehemaliger sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter, der in der Zeit der Sozialistengesetze zu den Anarchisten übergewechselt war und fortan zu den umtriebigsten Agitatoren und Gewalt-Propagandisten zählte: „Uns ist dieser Schrecken ein Hochgenuß, gleichwie wir mit den freudigsten Gefühlen die Heldentat jener Sozialrevolutionäre von St. Petersburg vernommen haben, welche am letzten Sonntag einen Tyrannen schlachteten.“13 „Der Wurf war gut! Und wir hoffen, daß es nicht der letzte war.“14 Mitte der achtziger Jahre verfaßte Most das Handbuch Revolutionäre Kriegswissenschaft, mit Anleitungen zur Herstellung von Spreng- und Brandsätzen, Gift usw. Seit 1879 gab er in London die Zeitschrift Freiheit heraus, in der auch der Artikel erschien, in dem sich Most am Terroranschlag der Narodniki – und an den „gräßlichen Schmerzen“ ihres Opfers, das er zum „Scheusal“ und zur „Bestie“ entmenscht – ergötzte,15 was ihm eine sechzehnmonatige Haftstrafe einbrachte. Nach deren Verbüßung verlagerte er 1882 seine Aktivitäten von England in die USA, bis zu seinem Tod 1906 die neue Heimat der Freiheit.16 Dort zeichnete Most für die Prinzipienerklärung des Pittsburgher Sozialistenkongresses von 1883 verantwortlich, in der die revolutionäre Gewalt zum einzigen Mittel des Klassenkampfes erklärt wurde. Zu einer weiteren Haftstrafe wurde er im Zusammenhang mit dem Bombenanschlag auf dem Chicagoer Haymarket verurteilt, bei dem am 4. Mai 1886 im Anschluß an eine Demonstration mehrere Polizisten getötet und verwundet wurden. Die Demonstration selbst war die Reaktion auf ein von der Chicagoer Polizei am 1. Mai unter streikenden und demonstrierenden Arbeitern angerichtetes Blutbad. In Folge der ‚Haymarket affair‘ wurden langjährige Haftstrafen und mehrere Todesurteile gegen Arbeiterführer ausgesprochen, die dann 1893 rückwirkend vom neuen Gouverneur Altgeld für unrechtmäßig erklärt und aufgehoben wurden: die verurteilten Arbeiter seien einer korrupten Jury, einem befangenen Richter und einer zur Hysterie aufgestachelten öffentlichen Meinung zum Opfer gefallen. Zumindest für fünf der unschuldig Verurteilten kam diese Einsicht zu spät: ei11 12 13 14 15 16

Vgl. Torke (1999), S. 299 ff., 307 ff. 1846–1906. Most (1881), S. 294. Most (1881), S. 296. Most (1881), S. 292 f. und S. 296, vgl. S. 295 f. Vgl. Neumann (2000), S. 213; Oberländer (1972), S. 227 f.

1. Terrorismus und Anarchismus

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ner hatte kurz nach dem Urteilsspruch in seiner Zelle Selbstmord begangen, vier weitere waren bereits am 11. November 1887 – fünfeinhalb Jahre vor ihrer Rehabilitation – gehängt worden.17 „Für den Justizmord hatte es ausgereicht, Anarchist zu sein oder als Anarchist zu gelten.“18 In besonderer Weise waren es die Attentate der berühmt-berüchtigten „Dynamiteurs“ Ravachol, Vaillant und Henry, die die öffentliche Wahrnehmung des Terrorismus wie des Anarchismus in den 1890er Jahren prägten.19 Und in dem Maße, wie Stirner als Anarchist, und, wie von einigen Autoren explizit auch: als Befürworter ‚revolutionärer‘ Gewalt verstanden wurde, bestimmte das Bild dieser Anarchisten auch die Deutungen des Einzigen. Ravachol, Vaillant, Henry und ihre Epigonen repräsentierten um die Jahrhundertwende den Typus des politischen Gewalttäters. Sie zählten zu den wichtigsten Evidenzen von Individualidentitätsangeboten, in denen dieser Typus – je nach Perspektive: als Terrorist, Märtyrer, Held, Fanatiker, Krimineller, Psychopath – gedeutet wurde. Deshalb ist auf sie zunächst ausführlicher einzugehen. Danach wird exemplarisch anhand der bereits zeitgenössisch als sehr instruktiv wahrgenommenen enzyklopädischen Ausführungen Georg Adlers das sozialwissenschaftliche Wissen um einen destruktiven und antisozialen Anarchismus als zeitgenössisches Phänomen, empirisches Forschungsobjekt und theoretisches Explanandum rekapituliert (2.). Dies wird anschließend unter Hinzuziehung weiterer Perspektiven und Auskünfte zeitgenössischer Beobachter, unter Berücksichtigung der wissenschaftlichdiskursiven und politischen Kontexte des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts, weiter analysiert. Im Zentrum der Untersuchung stehen hierbei die Thematisierungen Stirners und des Einzigen unter dem Aspekt antisozialer Individualidentitätsangebote, wie sie sowohl im bürgerlich-wissenschaftlichen Diskurs über den Anarchismus (3.) als auch in den revolutionär-antibürgerlichen Diskursen des Anarchismus und des Marxismus konstruiert wurden (4.).

17

Vgl. zu Most und den Chicagoer Ereignissen Neumann (2000), S. 213 f.; Adler (1890), S. 264; Adler (1898), S. 314; Encyclopædia (1910–11 I), S. 917; Encyclopædia (1965 V), S. 481. 18 Neumann (2000), S. 214. 19 Rammstedt (1969), S. 96; Oberländer (1972), S. 227. – In ähnlicher Weise, wie hundert Jahre später die Wahrnehmung von Terrorismus und Islamismus durch die Anschläge von Selbstmordattentätern, insbesondere durch die Anschläge vom 11. September 2001 geprägt ist.

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V. Der Einzige, der Anarchismus und die Gewalt

a) Ravachol Ravachol,20 ein „kleiner, untersetzter Mann“ von damals 32 Jahren,21 verübte 1892 in Paris zwei Aufsehen erregende Sprengstoffanschläge, den ersten am 11. März auf das Haus des Richters Benoit am Boulevard St. Germain, den zweiten am 27. desselben Monats auf ein Wohngebäude in der Rue de Clichy, in dem der Staatsanwalt Bulot lebte (vgl. S. 26 f.). Kurz darauf wurde Ravachol verhaftet: er hatte sich unvorsichtigerweise im Restaurant Véry einem Kellner gegenüber mit den Anschlägen gebrüstet und insbesondere die Zerstörungskraft der zweiten Explosion gerühmt, bei der es zahlreiche Verwundete gegeben hatte (vgl. S. 28). Mit seinen Taten wollte Ravachol, wie er vor Gericht ausführte, Decamp und Dardare, die „Märtyrer von Clichy“ rächen (S. 26), zwei Arbeiter, die 1891 nach einer in Ausschreitungen und einen Schußwechsel zwischen Demonstranten und Ordnungshütern mündenden Mai-Demonstration in Polizeigewahrsam mißhandelt und anschließend von Benoit auf Antrag Bulots zu fünf bzw. drei Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden waren (vgl. S. 24 ff.). Bei seinem ersten, in Paris stattfindenden Prozeß rechtfertigte Ravachol „die Schreckensakte, die ich begangen habe“ als „ein Signal für das Bürgertum [. . .]: daß wir leben, und daß man uns erkennen sollte als das, was wir sind: die einzigen Verteidiger der Unterdrückten“; und als Belehrung der „Staatsjustiz [. . .], daß ihrer Härte unsere Härte gegenübersteht.“ Dem fügte er hinzu, daß zwar „die unschuldigen Opfer meiner Taten zu beklagen“ seien: er selbst sei sogar „der erste, der sie beklagt“; aber er bekräftigte zugleich, daß er „im Namen der Anarchie gehandelt“ habe, und diese werde „eines Tages die große Familie der Menschheit bedeuten“.22 Allerdings hatte Ravachol bereits in den Jahren 1886–1891, noch bevor er seine Berufung zum anarchistischen Rächer und ‚Verteidiger der Unterdrückten‘ erkannte, weniger idealistisch motivierte und bis dato ungesühnte Straftaten begangen, darunter die Schändung des Grabes einer älteren Dame, in dem er – fälschlicherweise – größere Mengen an Wertgegenständen vermutet hatte, und zwei Raubmorde, einen davon an einem alten Mann, Brunel, der als fürbittender und weissagender ‚Eremit‘ vom Aberglauben und der Mild20 „Sein richtiger Name war Franz August Königstein, aber Ravachol hatte den Namen seiner Mutter angenommen, weil er es ablehnte, in Frankreich als ein Deutscher herumzulaufen.“ (Holitscher (1925), S. 29) – Man kann spekulieren, ob sich dies eher gegen Deutschland oder eher gegen den Vater richtete. In jedem Fall trug wohl auch der Klang dieses Namens zur Mythenbildung um den Mörder Königstein bei (vgl. Holitscher (1925), S. 39). 21 Holitscher (1925), S. 29. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich im vorliegenden und folgenden Unterabschnitt ebenfalls auf Holitscher (1925). 22 Zit. n. Holitscher (1925), S. 37 – H. i. O.

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tätigkeit der benachbarten Landbevölkerung lebte; im Juni 1891 fiel Brunel Ravachols Habgier zum Opfer, als dieser ihn erwürgte (vgl. S. 30 ff.). Es waren die Raubmorde – schon fünf Jahre zuvor hatte Ravachol in der Nähe von St. Chamond den alten Rivollier umgebracht (vgl. S. 31) –, nicht die anarchistischen Anschläge, aufgrund derer Ravachol in einem zweiten Prozeß, in Montbrison, von einem Schwurgericht zum Tode verurteilt wurde. Gleichwohl wurde er von seinen Anhängern als anarchistischer Heiliger und „Rächer[] der Armen“ verehrt und in Liedern – „Dansons la Ravachole, / Vive le son d‘ l’explosion!“, „Dansons, chantons: / Dynamitons, dynamitons!“ – besungen.23 Er selbst hatte ein blasphemisches Lied auf den Lippen, als er am 10. Juli 1892 zur Guillotine geführt wurde (vgl. S. 36 ff.). Um Ravachol zu rächen und seine terroristischen Aktionen fortzusetzen, hatten Sympathisanten seit seiner Verhaftung weitere DynamitAnschläge verübt – bereits am Vorabend des Pariser Prozesses kamen bei einem Bombenattentat auf das Restaurant, in dem Ravachol verhaftet worden war, der Wirt Véry und ein Gast ums Leben –, die seine Prozesse begleiteten und nach seiner Hinrichtung fortgesetzt wurden (vgl. S. 34, 40). b) Vaillant Eine den Anschlägen Ravachols vergleichbare öffentliche Resonanz fand im Folgejahr das Attentat des Auguste Vaillant, der am 9. Dezember 1893 von der Besuchergalerie des vollbesetzten Sitzungssaales im Pariser Palais Bourbon, in dem Parlament und Regierung tagten, eine Bombe warf, die in der Hauptsache dem Ministerpräsidenten Casimir-Périer und dem Parlamentspräsidenten Dupuy galt.24 Dupuy, selbst vormaliger Ministerpräsident, und sein Nachfolger Casimir-Périer, der als Besitzer eines der größten französischen Grubengebiete den Beinahmen des „Blutsaugers von Anzin“ trug (S. 45), galten als in der Arbeiterschaft verhaßte Reaktionäre (vgl. S. 41 ff.). Beide überstanden die Explosion unversehrt, während zahlreiche Besucher auf der Galerie von umherfliegenden Projektilen verletzt wurden. Dupuy ließ in seiner Eigenschaft als Kammerpräsident die Sitzung unmittelbar nach dem Anschlag fortsetzen. Ministerpräsident Casimir-Périer legte zwei Tage später ein Gesetz (‚Lex Vaillant‘) zur umfassenden Verfolgung publizistischer, organisatorischer und sonstiger anarchistischer Aktivitäten vor, aufgrund dessen innerhalb der nächsten Wochen im breiten Umfang Haussuchungen, Briefkontrollen und Verhaftungen von bekennenden und mut23 Holitscher (1925), S. 39 f.; vgl. Russell (1918), S. 54. – „Sein Name wurde zugleich zu einem symbolträchtigen Verb umgeformt: ravacholiser (‚in die Luft sprengen‘).“ (Neumann (2000), S. 212). 24 Vgl. Holitscher (1925), S. 41 f. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich in diesem Unterabschnitt weiterhin auf Holitscher (1925).

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maßlichen Anarchisten vorgenommen wurden (vgl. S. 42 ff.; 80). Vaillant selbst wurde in einem gegen den Protest seines Anwalts in aller Eile bereits auf den 10. Januar angesetzten Prozeß in einer einzigen Gerichtssitzung zum Tode verurteilt (vgl. S. 46 f.) und am 5. Februar 1894 enthauptet. „Die Worte, die er am Fuße des Schafotts ausrief, wie berichtet wird mit starker und jubelnder Stimme: Tod der bürgerlichen Gesellschaft, lang lebe der Anarchismus! fanden einen Widerhall überall, wo um das Menschenrecht gestritten wurde.“ (S. 50) Dieses Schnellverfahren und die Repressalien im Zuge der ‚Lex Vaillant‘ wurden in Teilen der Öffentlichkeit kritisch betrachtet, führten zu Protesten und trugen darüber hinaus mit zur Stilisierung Vaillants zu einem ‚Märtyrer der Anarchie‘ bei, wozu er schon aufgrund seiner Vorgeschichte, Persönlichkeit und Selbsterklärung prädestiniert war. Anders als Ravachol war Vaillant, ein frühverwitweter alleinerziehender Vater, kein Berufsverbrecher, sondern ein trotz vieler Schicksalsschläge offenbar bis dahin unbescholtener und von Zeugen als insgesamt rechtschaffen beschriebener Arbeiter, den die materielle Not um die halbe Welt getrieben hatte (vgl. S. 43 f.). Seiner Selbstauskunft vor Gericht zufolge wollte er mit seiner Verzweiflungstat diejenigen treffen, die er „als in erster Linie verantwortlich für die Leiden der Allgemeinheit erachte[te]“, und damit zugleich „der Not einer ganzen Klasse, die bald den Schrei des einzelnen übertönen wird“, Ausdruck verleihen.25 In seiner Rechtfertigungsrede unterschied Vaillant zwischen „zwei Arten von Ausgebeuteten“, von denen die einen, „als Sklaven geboren“, ihr Leiden still ertragen, während die anderen, zu denen er sich selbst zählte, mit ihren Leidensgenossen mitfühlen, „die Ursache der sozialen Ungerechtigkeit“ erkennen, sich „in den Kampf“ werfen und „als Rächer der allgemeinen Bedrückung ihren Mann“ stellen.26 In seinem Abschiedsbrief schreibt er seiner Tochter Sidonie, „daß das einzige Ziel des Lebens ist, seinem Nächsten nicht wehe zu tun“ und „das Glück der Menschheit“ zu verfolgen; er selbst sterbe, mit „Genugtuung erfüll[t]“, „für all jene, die man die Verdammten in der Hölle dieser Gesellschaft nennen muß!“27 Aus einem Tagebuchblatt Vaillants vom Vorabend seines Anschlages geht hervor, daß er plante, für die Anarchie zu sterben, damit „bei der Auflösung meines Leibes alle meine Atome sich in der Menschheit verbreiten und ihr dieses Ferment des Anarchismus einimpfen mögen, damit die Gesellschaft der Zukunft endlich Wirklichkeit werde.“28 Der im (wiederum faktisch:) Selbstmordattentat inszenierte eigene Tod wird so zum Ga25 26 27 28

Zit. Zit. Zit. Zit.

n. n. n. n.

Holitscher Holitscher Holitscher Holitscher

(1925), (1925), (1925), (1925),

S. S. S. S.

48 f. 47 f., vgl. S. 49 f. 52 f. 53.

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ranten der Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens; und in der Phantasie von der eigenen atomaren Auflösung und bewußtseinsstiftenden Fortexistenz wird dieser Tod zur Antizipation der individuellen Unsterblichkeit. Die individuelle Märtyrer-Phantasie Vaillants wurde nach seinem Tode sozial affirmiert. Eines der Gedichte, die sich zwischen Blumen auf Vaillants Grab fanden, endete mit der Zeile: „O Martyr, tu seras vengé!“ (S. 51). c) Henry Vaillant wurde in der Tat vielfach gerächt: Der Dolch Geronimo Caserios traf am 24. Juni 1894 den Präsidenten der Französischen Republik Carnot, der Vaillants Todesurteil unterzeichnet hatte; Caserio selbst wurde zwei Monate später, am 26. August 1894 enthauptet.29 Und bereits wenige Tage nach der Hinrichtung Vaillants, am 12. Februar 1894,30 schleuderte Émile Henry eine Bombe in das Pariser Café Terminus, deren Detonation zwei Tote und mehrere, zum Teil schwer Verletzte forderte. Anschließend versuchte er, sich mit einem Revolver den Weg freizuschießen.31 Bei seiner Vernehmung gestand er freimütig, auch für einen bereits im November 1892 verübten und bis dato ungeklärten Bombenanschlag verantwortlich zu sein, bei dem sechs Menschen ums Leben gekommen waren.32 Der damalige Anschlag hatte einem Wohnhaus gegolten, in dem sich auch die Geschäftsräume einer Bergwerksgesellschaft, der ‚Compagnie de Carmaux‘, befanden, die das erklärte Ziel des Attentats war. In seiner zum Abschluß seines Gerichtsverfahrens verlesenen Selbsterklärung führt Henry aus, wieso er den Tod der unbeteiligten Hausbewohner billigend in Kauf genommen hatte: Da das Gebäude „nur von Bourgeois bewohnt“ war, würde es „also keine unschuldigen Opfer geben. Die Bourgeoisie in ihrer Gesamtheit lebt von der Ausbeutung, so soll sie auch in ihrer Gesamtheit ihre Verbrechen sühnen. So legte ich in absoluter Gewißheit über die Legitimität meines Handelns meinen Sprengkörper vor die Türe zu den Geschäftsräumen der Gesellschaft.“33 Die Bombe wurde allerdings entdeckt und in das Polizeikommissariat in der Rue des Bons Enfants gebracht, wo sie dann explodierte.34 Im Hinblick auf den 1894er Anschlag auf das Café Terminus sagte 29

Vgl. Holitscher (1925), S. 47, 69, 84. Vgl. Fabbri (1951), S. 43. 31 Vgl. Henry (1894), S. 96; Holitscher (1925), S. 53 f. 32 Vgl. Henry (1894), S. 96; Holitscher (1925), S. 57 f. – Die genauen Opferzahlen weichen bei Holitscher, der nach eigener Auskunft zu dieser Zeit in Paris gewesen ist, und Henry, der sich auf diese Zahlen in seiner Selbsterklärung vor Gericht bezieht, leicht ab; vermutlich rechnet Holitscher diejenigen, die erst später ihren Verletzungen erlagen, nicht zu den Todesopfern. 33 Henry (1894), S. 100. 30

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Henry während des Prozesses aus, daß er gerade dieses gutbesuchte Lokal ausgewählt habe, „weil er möglichst viele Bürger zu töten beabsichtigte“,35 die in ihrer Gesamtheit Henrys Überzeugung zufolge die Schuld tragen an dem von ihm tief empfundenen Leiden an und in dieser „korrupten, zerfallenden Gesellschaft“,36 „in der alles gemein, alles feige ist, alles die Entfaltung der menschlichen Leidenschaften, der großmütigen Neigungen des Herzens und des freien Gedankenspiels verhindert.“37 Mit dieser Zielbestimmung – eine möglichst hohe Zahl unbestimmter Opfer – hat Henry konzeptionell eine größere Nähe zu den heutigen Selbstmordattentätern als seine Zeitgenossen Vaillant oder die Mörder Alexanders II. Die Terroristen der Narodnaja volja wurden deshalb faktisch zu Selbstmordattentätern, weil ihre Bomben so konstruiert waren, „daß sie nur in einem ganz geringen Umkreis Schaden anrichteten, damit nicht zu viele Umstehende getroffen würden“ und folglich der Attentäter so dicht wie möglich an sein Opfer herankommen mußte, um den gewünschten Tötungseffekt zu erzielen, was wiederum seine Chancen, selbst zu entkommen, minimierte.38 Während also die Selbstmordanschläge der Narodniki, ähnlich wie derjenige Vaillants, auf die Ermordung bestimmter Zielpersonen ausgerichtet waren, wobei man ‚Kollateralschäden‘ durchaus in Kauf nahm, zielte Henrys Anschlag auf das Café Terminus, darin den heutigen Selbstmordattentaten z. B. der palästinensischen und tschetschenischen Terrororganisationen oder den Al-Qaida-Anschlägen von New York und Washington (2001), Madrid (2004) und London (2005) ähnlich, auf eine möglichst große, weil erschrekkende Zahl unbestimmter Opfer, deren einzige Qualifikation als Anschlagsziel aus terroristischer Sicht darin besteht, einer verhaßten und pauschal für alles Unrecht verantwortlich gemachten Bevölkerungsgruppe zugerechnet werden zu können.39 Das allerdings auch bei Vaillant elaborierte – und bei Panizza theoretisch antizipierte – Motiv des Martyriums ist offenbar generell typisch für Selbstmordattentäter, unabhängig vom konkreten Anschlagsziel, 34 Henry stilisiert dies zu einer Art ‚Plan B‘ – und damit sich selbst in seiner Überlegenheit, in der er alles unter Kontrolle hat, indem er alle Eventualitäten antizipiert: „Ich habe im Laufe der Verhandlungen erklärt, wie sehr ich hoffte, daß mein Werkzeug, sollte es noch vor seiner Explosion entdeckt werden, möglichst im Polizeikommissariat losgehen und damit immer noch meine Feinde treffen würde.“ (Henry (1894), S. 100). 35 Holitscher (1925), S. 61. 36 Henry (1894), S. 103. 37 Henry (1894), S. 98. 38 Torke (1999), S. 311. 39 Dieselbe Logik findet sich bekanntlich in allen Formen des Rassismus, Sexismus und Antisemitismus: die Aberkennung von individuellen Lebenschancen durch die Konstruktion einer ‚objektiven‘ Zugehörigkeit zu einer insgesamt entwerteten Gruppe.

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und unabhängig auch davon, ob sie sich in ihrer Beglaubigungsstrategie religiöser oder säkularer Ideologien bedienen.40 Henrys Selbsterklärung ist ein klassisches Dokument terroristischer Selbstrechtfertigung, dessen argumentative Grundlinien sich bis heute in terroristischen Verlautbarungen jeglicher Couleur finden. Henry führt hier aus, wie er „der Feind einer kriminellen Gesellschaft wurde“41 und aufgrund welcher Einsichten er, anders als Ravachol und Vaillant, selbst „einer Familie der höheren Bourgeoisie“ entstammend,42 zum Anarchisten und Attentäter wurde: „Man hatte mir gesagt, daß dieses Leben einfach und für die Intelligenten und Tatkräftigen weit offen sei, und die Erfahrung zeigte mir, daß nur die Unverschämten und die Kriecher einen guten Platz ergattern können. Man hatte mir gesagt, daß die sozialen Institutionen auf Gerechtigkeit und Gleichheit beruhen, doch ich stieß überall nur auf Lug und Trug. Jeder Tag raubte mir aufs neue eine Illusion [. . .] Bald verstand ich, daß die großen Worte, die man mich verehren gelehrt hatte: Ehre, Demut, Pflicht nur eine Maske waren, um schamlose Niederträchtigkeiten zu verbergen.“ (S. 97) Ausgangspunkt ist also die Enttäuschung über die Widerständigkeit einer komplexen gesellschaftlichen Realität, die ihren eigenen Idealen nicht gerecht wird, indem sie bei der Verteilung von Prestige, Macht und Wohlstand die ethisch minderwertigen Charaktere begünstigt. Entscheidend für die spezifisch terroristischen Konsequenzen dieser Sichtweise ist aber erstens die konkrete Zuschreibung von Verantwortlichkeit für diese ungerechten Verhältnisse auf Personengruppen und zweitens deren totale Entwertung, aufgrund derer sie prinzipiell zur Vernichtung freigegeben werden. Alle, die von der ungerechten, also ‚kriminellen‘ Gesellschaft profitieren und sie tragen, sind selbst kriminell, also schuldig an dem Unrecht und Elend, und sie verdienen „ihren Anteil Strafe“: „[A]lle, die mit der gegenwärtigen Ordnung zufrieden sind, die das Vorgehen der Regierung billigen, es befürworten und sich zu ihrem Komplizen machen, diese Angestellten mit 300 und 500 Francs im Monat, die noch mehr als die dicken Bürger das Volk hassen, diese dumme und ehrgeizige Masse, die sich immer auf die Seite des Stärkeren schlägt, Stammpublikum des Terminus und anderer Cafés.“ (S. 102) Drittens schließlich ist für die exemplarisch an Henrys 40 Mittlerweile liebäugeln selbst Neonazis mit dem ‚Märtyrertod‘. Die Berliner Zeitung berichtet am 26. April 2004 (S. 6), daß einer „in München verhafteten Neonazi-Gruppe [. . .] ein Mädchen an[gehört], das zu einem Selbstmordanschlag bereit war. Die heute 18-Jährige aus Baldham bei München berichtete [. . .] in Polizeivernehmungen, dass sie ihren Komplizen vorgeschlagen hatte, sich mit einem Sprengstoffgürtel auf dem Marienplatz vor dem Rathaus in die Luft zu sprengen.“ 41 Henry (1894), S. 96. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben in diesem und den folgenden Absätzen beziehen sich ebenfalls auf Henry (1894). 42 Holitscher (1925), S. 58, vgl. S. 54 ff.

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Auskünften beobachtbare Haltung die Selbstgerechtigkeit charakteristisch, die sich aus der spezifisch all-einzigen Selbstexemption ergibt, wie sie in paradigmatischer Reinform in der Analyse von Schulzes Paranoikerin, der Patientin S., zutage trat: ‚Alle Anderen sind minderwertig, unvernünftig, böse usw., nur Ich nicht‘. Der fremdreferentiellen Schuldzuschreibung und totalen Entwertung der Anderen entspricht selbstreferentiell ein grandioses Selbstbild moralisch-ethischer und intellektueller Vollkommenheit, aufgrund dessen sich das all-einzige Individuum berechtigt glaubt und berufen fühlt, über die Anderen zu richten – und sie in letzter Konsequenz auch physisch zu vernichten. Henry versteht sich als einen Gerechten in einer Welt von Schuldigen, ein Leitmotiv jedes terroristischen Fanatikers. Im Prozeßverlauf vom Richter auf seine offen zur Schau getragene Kälte und Indifferenz gegenüber seinen Opfern angesprochen, „die Sie hier, verstümmelt und zu Schaden gekommen, auf der Zeugenbank sitzen sehen“, entgegnete Henry dementsprechend: „Allerdings; diese Leute sind mir vollkommen gleichgültig [. . .]. Diese Leute sind Bourgeois, die Leiden und Unglück verursachen. Ihre Misère, was geht die mich an.“43 Dem Haß auf die Gesellschaft und der pauschalen Verachtung und Mitleidlosigkeit gegenüber den sozialen Anderen – und auch der erstaunlichen Realitätsverkennung im Abweis seiner persönlichen Verantwortung für die Leiden seiner Opfer – entspricht Henrys Selbstdarstellung als intellektuell wie moralisch überlegenes und unabhängiges Individuum. Wer dieses Selbstbild nicht akzeptiert, bezeugt darin nur – erwartungsgemäß – seine intellektuelle Unterlegenheit bzw. ist ein Opfer böswilliger Manipulation. Damit wird jeder mögliche Einwand abgewehrt, diese Welt- und Selbstsicht sei unrealistisch; in der Antizipation der Ablehnung durch die sozialen Anderen beglaubigt Henry für sich seine überlegene Einsichtsfähigkeit:44 „Gewiß, ich mache mir keine Illusionen. Ich weiß, daß mein Handeln noch nicht verstanden wird von den zu wenig vorbereiteten Massen. Selbst unter den Arbeitern, für die ich kämpfte, halten mich viele, irregeleitet durch Eure Zeitungen, für ihren Feind. Aber das stört mich kaum. Ich kümmere mich nicht um das Urteil anderer.“ (S. 102) Der systematische Kern der Selbstgerechtigkeit und Unbeirrbarkeit, der Entwertung der sozialen Anderen und der Gesellschaft insgesamt, der darauf bezogenen Vernichtungsphantasien, der Empathielosigkeit gegenüber den Terroropfern, der Verachtung nicht nur der ‚Bourgeoisie‘, der Henry ja selbst entstammt, sondern auch der ‚Massen‘, für die zu handeln er beansprucht, ist eine grandiose Individualitätskonzeption, die, auch wenn der Name Stirners 43

Zit. n. Holitscher (1925), S. 61 f. Siehe hierzu oben, III. 4. b), die Überlegungen zur charismatischen Kommunikation und hermetischen Realitätskonstruktion. Siehe auch oben, IV. 3. 44

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in diesem Zusammenhang von Henry nicht genannt wird, an das Credo des Einzigen erinnert:45 „[I]ch unterstehe nur einem Gericht, mir selbst, und das Urteil jedes anderen ist mir gleichgültig.“ (S. 97) Als Konsequenz dieses antisozialen Individualismus stellt Henry auch die anarchistische Aktionsform dar, für die er sich entschieden hat, nachdem er sich anfänglich „vom Sozialismus angezogen“ gefühlt hatte: Aber „[m]eine Liebe zur Freiheit war zu groß, ich hatte zuviel Respekt vor der individuellen Initiative, zuviel Widerstand gegen die Mitgliedschaft, um Nummer in der Armee des Vierten Standes zu sein.“ (S. 97 f.) Die Ideen des Anarchismus dagegen bestätigten und präzisierten, was an Erkenntnissen und Einsichten ohnehin bereits in ihm ‚angereift‘ war (vgl. S. 97 f.). „Wissenschaftliche Studien“ hatten ihn den Glauben an Gott wie an jede andere „höhere Macht“ als „Trugschluß“ „durchschauen lassen“, und er begriff, daß jede „autoritäre Moral“, sei sie nun religiös oder sozialistisch, verschwinden müsse und die „gegenwärtige Gesellschaftsstruktur“, die „schlecht ist“, zu zerstören ist (S. 98). Nach der ‚Widerlegung‘ Gottes mußte er selbst für Gerechtigkeit sorgen. Und so sah Henry sich berufen, als „Propagandist[] durch die Tat“ (S. 103) der „Bourgeoisie [zu] zeigen, daß ihre Vergnügungen nicht länger vollkommen sein würden, [. . .] daß ihr Goldenes Kalb auf seinem Sockel schwanken und daß der letzte Stoß es schließlich in Dreck und Blut hinabstürzen würde.“ (S. 100) „Die Bourgeoisie soll endlich begreifen, daß die, die gelitten haben, ihrer Leiden müde sind; sie zeigen die Zähne und, je brutaler man mit ihnen umgeht, um so brutaler schlagen sie zurück. Sie kennen keine Achtung vor dem Menschenleben, weil die Bourgeoisie selbst es auch nicht respektiert. [. . .] Sie schonen weder Frauen noch Kinder, weil die Frauen und Kinder derer, die sie lieben, auch nicht geschont werden.“ (S. 102) Entsprechend dieser Logik war die „Bombe im Café Terminus [. . .] die Antwort auf alle Eure Verletzungen der Freiheit, Eure Verhaftungen, Eure Verfolgungen, [. . .] auf Eure Guillotinaden.“ (S. 101) Den Angriff auf die „friedliche[n] Konsumenten“ (S. 101) will Henry als Rache sowohl für Vaillant und die anderen anarchistischen ‚Märtyrer‘ verstanden wissen (vgl. S. 101, 103), als auch für all jene, die im Zuge der ‚Lex Vaillant‘ „en masse“ verfolgt wurden, nur weil sie „in irgendeiner Beziehung zum Anarchismus stand[en]“ (S. 101), ohne selbst mit Vaillants Anschlag etwas zu tun gehabt zu haben:46 „Da Ihr so eine ganze Partei für die Taten eines 45

Holitscher allerdings, der sich am Anfang seines Buches unter Berufung auf (den unten, V. 3. und VII. 2. a) bb), noch zu behandelnden) Eltzbacher (1900) auch auf Stirner, neben Bakunin und v. a. Kropotkin, als anarchistischen Gewalt-Theoretiker bezieht (vgl. Holitscher (1925), S. 10 f., vgl. S. 8 ff.), nennt Henry einen „ungewöhnlichen, in vielen Beziehungen einzigen Menschen“ (Holitscher (1925), S. 63 – H. v. A. S.). Vgl. auch Camus (1951), S. 53 ff., 126 ff., insbes. S. 54, 135. Siehe auch die diesbezüglichen Ausführungen zu Georg Adler im folgenden Abschnitt.

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Einzelnen verantwortlich macht, da Ihr en bloc zuschlagt, schlagen auch wir en bloc.“ (S. 101) „Deshalb habe ich in die Menge geschlagen, ohne meine Opfer vorher auszuwählen“ (S. 102), denn als bourgeoise Unterstützer und Nutznießer einer ‚kriminellen‘ Gesellschaft verdienen sie in seinen Augen allemal den Tod.47 Mit seinem dergestalt demonstrierten moralischen Rigorismus beeindruckte der zum Zeitpunkt seiner Hinrichtung im Mai 1894 erst zweiundzwanzigjährige Henry seine Anhänger als „St. Juste des Anarchismus“.48 Mit diesem Ehrennamen bestätigten sie Henrys eigenen moralischen Vollkommenheitsanspruch und seine komplementäre Entwertung der Gesellschaft, zu deren „erbarmungslosen“ und ‚todbringenden‘ „Feind“ (S. 97, 103) er sich erklärt hatte.49 Zugleich zeigt sich daran, daß er in der Erwartung auf eine affirmative Resonanz seiner Taten nicht fehl ging. Im April 1894 hatte Henry vor Gericht seine Gewißheit bekundet, daß „mein Kopf nicht der letzte unter Eurem Beil“ sein werde; „andere werden fallen, denn die am Hungertuch Nagenden fangen an, den Weg zu Euren Cafés und Grand-Restaurants zu finden: zum Terminus und zum Foyot.“ (S. 103)50 46 In diesem Zusammenhang bezeichnet Henry, dem die Opfer seiner eigenen Gewalttaten nach eigenem Bekunden gleichgültig sind und für deren ‚Misere‘ – Verstümmelungen infolge seines Anschlages – er sich nicht verantwortlich fühlt, die „bourgeoise Presse“, weil sie die „Vernichtung“ der Anarchisten forderte, projektiv als „gemeinen Sklaven der Gewalt“ (Henry (1894), S. 101). 47 Analog liest sich die Argumentation in einem Bekennerschreiben des islamistischen Terrornetzwerks Al-Qaida zu den Bombenanschlägen auf Pendlerzüge in Madrid am 11. März 2004, bei denen 200 Menschen ums Leben gekommen sind und 1500 verletzt wurden: „Wir erklären unsere Verantwortung für das, was genau zweieinhalb Jahre nach den Anschlägen in New York und Washington in Madrid geschehen ist. Das ist eine Antwort auf Eure Kollaboration mit dem Verbrecher Bush und dessen Alliierten. Es ist die Antwort auf die Verbrechen, die Ihr in der Welt und vor allem in Afghanistan und im Irak begangen habt. [. . .] Wir fühlen kein Mitleid mit so genannten Zivilisten. Ist es okay für Sie, unsere Kinder, Frauen, alte Menschen und Jugendliche in Afghanistan, im Irak, in Palästina und in Kaschmir zu töten? Ist es verboten, die Ihrigen zu töten?“ (Berliner Zeitung, 15. März 2004, S. 2). 48 Holitscher (1925), S. 60; vgl. Rammstedt (1969), S. 96. 49 Holitscher erwähnt nicht nur die „Kälte, die er [Henry] den Opfern seines Attentates gegenüber zur Schau trug“, sondern beschreibt ihn auch, unter Berufung auf Zeugen, als ‚außergewöhnlich intelligenten‘ (Holitscher (1925), S. 59), „ernsten, gewissenhaften, nur in seinen politischen Zielen überreifen und intransigenten Menschen“ (S. 62). Die Empathiefreiheit, charakterliche Rigidität und Unbeirrbarkeit in den eigenen Handlungsorientierungen bilden die psychisch-strukturelle Entsprechung zu diesem Rigorismus und dem daran anschließenden terroristischen Fanatismus, die so auch in ihrer Rationalisierungsfunktion für diese psychische Struktur erkennbar werden. 50 Das Restaurant Foyot war ebenfalls Ziel eine Sprengstoffanschlages, bei dem auch der Dichter Laurent Tailhade schwer verletzt wurde, der noch kurz zuvor das Attentat Vaillants gepriesen hatte: „Was will der Verlust einiger gleichgültiger Opfer

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Als er im folgenden Monat zur Guillotine schritt, rief der die Worte: „Kameraden, Mut, es lebe die Anarchie!“51 Bereits im Folgemonat ermordete Geronimo „Santo“ Caserio den Französischen Präsidenten Carnot.52 Bei aller mutmaßlichen Unterschiedlichkeit der Persönlichkeitsprofile und individuellen Motivstrukturen dieser prominenten Attentäter, die bei einer psychologischen Betrachtung differenziert zu behandeln wären, weisen sie doch sozialphänomenologische Gemeinsamkeiten auf, die nicht nur für den Typus des anarchistischen Attentäters, für den sie zeitgenössisch repräsentative Geltung hatten, sondern für den Typus des Terroristen generell von Bedeutung sind.53 Die Attentäter erschienen stets als von einem Sendungsbewußtsein getragene Individuen mit einem elitären Selbstverständnis, die sich kraft individueller Berufung die Sache der Unterdrückten zueigen gemacht hatten und dies in den Anschlägen Aufmerksamkeit erheischend inszenierten. Hieran konnte wiederum, in der Stilisierung zu Heiligen und Märtyrern, ein Bedürfnis nach Heroisierung und Glorifizierung – eine Variante des ‚Kaiserverlangens‘ in der Moderne54 – in Form charismatifikatorischer Kommunikation anschließen. Dafür waren sowohl die symbolischen Qualitäten der Anschlagsziele als auch die unterschiedlichen persönlichen Qualitäten der Täter geeignet: die Intellektualität und der moralische Rigorismus Henrys, die lebensgeschichtliche Tragik Vaillants – und auch die kriminelle Vorgeschichte und Devianz Ravachols, die ihn als grandios gefährlichen, übermenschlich amoralischen Rebellen erscheinen ließen. Ravachol steht als Figur, wie kein anderer unter den anarchistischen Attentätern der 1890er Jahre, für den archaischen Narzißmus des in seiner aggressiven Abwehr jeglicher Wunschversagung oder Einschränkung seiner individuellen Großartigkeit teils furchteinflößenden, teils Bewunderung abnötigenden Urvaters, der im Ravachol-Kult, wie in der regressiven Führer-Masse-Konstellation, imaginär wiederbelebt wird und bei den entsprechenden Dispositionen eine bezwingende Attraktivität entfaltet.55 besagen – wenn nur die Geste schön ist!“ (zit. n. Holitscher (1925), S. 71). – „Qu’importe les victimes si le geste est beau“ (zit. n. Kreuzer (2000), S. 309). Das „berühmt-berüchtigte Bonmot“ wurde zeitgenössisch häufig und in verschiedenen Varianten kolportiert (Kreuzer (2000), S. 309; vgl. z. B. Adler (1898), S. 315; Plechanow (1911), S. 82). – Auch die Anschläge vom 11. September 2001 wurden bekanntlich Gegenstand ästhetizistischer Kommentare; vgl. z. B. Speicher (2001). 51 Zit. n. Holitscher (1925), S. 64. 52 Holitscher (1925), S. 69. 53 Ausgenommen vermutlich der Staats-Terrorismus mit seinen vom Terrorismus von Untergrundorganisationen oder Einzeltätern verschiedenen Funktionsbedingungen, etwa bezüglich der Machtressourcen, Gewalt- und Propagandamittel. 54 Vgl. Neusüss (1992). 55 Passend hierzu – wenn auch bezogen auf den ehemaligen Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland Helmut Kohl – zitiert der Psychoanalytiker Hans Jür-

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Kaum eine der zeitgenössischen Abhandlungen zum Anarchismus verzichtete darauf, auch mit dem Hinweis auf die Attentate der Pariser ‚Dynamiteurs‘ und ihrer Sympathisanten die Relevanz ihres Themas zu begründen, oft mit dem Anspruch, gegen die im öffentlichen Bewußtsein gängige Gleichsetzung von Anarchismus und Terrorismus Aufklärungsarbeit zu leisten und den Zusammenhang differenziert zu behandeln.56 Erklärungsbedürftig erschien, neben den Terrorakten selbst, auch die kultische Verehrung der Attentäter,57 die ihrerseits Nachahmungstaten motivierte.58 Exemplarisch für letztere ist die Ermordung der Kaiserin Elisabeth von Österreich (‚Sissi‘) durch den Italiener Luigi Lucheni59 am 10. September 1898 in Genf, die europaweit Bestürzung und Trauer auslöste. Der damals 25jährige Lucheni wollte mit dem Mord an der politisch völlig unbedeutenden Kaisegen Wirth (2002) in seiner Studie über Narzissmus und Macht den Kollegen Jürg Willi, der hiermit allgemein den ‚Typus des Narzißten‘ und dessen Wirkung auf Andere charakterisiert: „Die Radikalität, Kompromißlosigkeit und Unerschrockenheit, mit der Narzißten ihre Feinde bekämpfen und sich von ihnen absetzen, imponiert vielen Menschen als Festigkeit und Selbständigkeit. Viele sehen in ihnen starke Führer, oft auch Märtyrer, Opfer ihrer Feinde, was ihnen bedingungslose Anhängerschaft derjenigen verschafft, die aus ähnlicher Struktur heraus sich mit einem Narzißten zu identifizieren suchen. Sie nehmen den Narzißten zu ihrem Idol, stellen sich ganz in seinen Dienst, werden ihm hörig und sind zu totaler Hingabe bereit.“ (Zit. n. Wirth (2002), S. 186; siehe auch oben, III. 2. b) und 3.) – Man findet diesen Typus unter politischen Führern wie unter Terroristen, und auch unter diesem Aspekt ist es wenig erstaunlich, daß einige politische Führer als Terroristen angefangen haben und es mitunter geblieben sind. 56 So z. B. Zenker (1895) oder Stammler (1894); vgl. dagegen Plechanow (1911). 57 Vgl. Neumann (2000), S. 211 ff.; B. Demandt (1999), S. 340 ff. 58 Auch hier drängen sich wieder die Parallelen zu den gegenwärtigen Thematisierungen des islamistischen Terrorismus auf: den einfachen Gleichsetzungen von Islamismus oder sogar Islam und Terrorismus stehen differenzierende Betrachtungen von Experten gegenüber, die darauf hinweisen, daß Islamismus nicht per se terroristisch sei und die religiöse Offenbarung des Islam nichts mit Gewaltverherrlichung zu tun habe. Entsprechendes gilt für die soziale Utopie einer herrschaftsfreien Gesellschaft, auf die sich die Anarchisten beriefen. Und auch hier gibt es kulturalistische Erklärungsmuster, die einen Zusammenhang zwischen terroristischem Fanatismus und der muslimischen Welt nahelegen, so wie hundert Jahre zuvor der Terrorismus als – wie noch zu sehen sein wird – originär russisches Phänomen diskutiert werden konnte – aber auch, damals wie heute, die Erklärung des Terrorismus entweder als Armutsfolge oder aber als Konsequenz absoluter Geltungsansprüche von religiösen oder quasi-religiösen Ideologien. – Die vorliegenden Analysen legen nahe, daß der moderne Terrorismus nicht primär als notwendige Konsequenz ideologischer oder religiöser Absolutheitsansprüche zu verstehen ist, sondern als praktischer Ausdruck von individuellen Allmachtsbestrebungen und Grandiositätsansprüchen – also eines all-einzigen Individualismus – die sich, je nach Zeitgeist bzw. Resonanzerwartungen, ebensogut politisch-ideologischer wie religiös-fundamentalistischer Rechtfertigungen bedienen können. 59 1873–1910.

1. Terrorismus und Anarchismus

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rin, die einst als schönste Frau Europas vergöttert worden war,60 seinen inbrünstig verehrten Vorbildern Ravachol, Vaillant und Henry nacheifern; vor allem wollte er, ebenso wie diese, als ‚Märtyrer der Anarchie‘ hingerichtet werden. Im Prozeß wurde Lucheni dann auch vorgeworfen, den Mord aus herostratischer Ruhmsucht begangen zu haben und „das anarchistische Verbrechen als neue Form des Selbstmordes“ inszenieren zu wollen.61 Seine diesbezüglichen Hoffnungen und Wünsche blieben aber unerfüllt: Genf hatte die Todesstrafe bereits 1871 abgeschafft, und Luchenis Antrag, in Luzern zum Tode verurteilt zu werden, wurde abgelehnt.62 Selbst sein – die Pariser Attentäter kopierender – Ausruf „Evviva l’Anarchia“ nach der Urteilsverkündung („Lebenslanges Zuchthaus unter Tragung der Kosten“) fand keine Resonanz.63 „Als er sich am 19. Oktober 1910 in seiner Zelle mit seinem Gürtel erhängte, nahm kaum einer vom Ende dieses armseligen Lebens Notiz.“64 Im Prozeß hatte Lucheni ausgesagt, er hätte eigentlich den Italienischen König Umberto I. töten wollen, allerdings habe es ihm an Geld für die Fahrt nach Italien gemangelt.65 Selbst darin zeigt sich noch 60

Vgl. B. Demandt (1999), S. 323, 330 f. B. Demandt (1999), S. 343. 62 Vgl. B. Demandt (1999), S. 340 ff. 63 B. Demandt (1999), S. 345. 64 B. Demandt (1999), S. 346. 65 Vgl. B. Demandt (1999), S. 342 ff. – Daß Lucheni die Kaiserin mit einer Feile erstach (vgl. B. Demandt (1999), S. 334), ist nicht nur für seine Mittellosigkeit symptomatisch, sondern auch für die rohe, archaische Wut und haßerfüllte Destruktivität, die er in seiner Tat ausagierte. Anders als die Dynamiteurs suchte er die unmittelbare, körperliche Konfrontation mit seinem schutz-, harm-, arg- und wehrlosen Opfer, das wohl weniger zufällig gewählt war, als Lucheni selbst behauptete, als er aussagte, er hätte Elisabeth anstelle des Prinzen von Orléans ermordet, weil er diesen – selbst als Ersatz für Umberto I. gedacht – nicht habe auffinden können (vgl. S. 342). Bereits der neunjährige Luigi soll in einem grandiosen Affekt vor den Augen seiner Mitschüler ein Bildnis der Kaiserin zerstört haben (vgl. S. 317). Das ideologische Legimitationsdefizit des Mordes an der politisch machtlosen Elisabeth, die Grausamkeit und die Verachtung, die noch in der Wahl des Mord-Werkzeuges zum Ausdruck kommt, all dies läßt vermuten, daß auch die Wahl des Opfers vor allem von dem Impuls geleitet war, den Gegenstand der Bewunderung von vielen zu zerstören. So hoffte Lucheni, das ungewollte Kind, dessen Mutter wegen seiner unehelichen Geburt ihr Heimatdorf verlassen mußte, wenigstens einmal selbst im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, nachdem sein Leben von der vergeblichen Suche nach Zuwendung geprägt war (vgl. S. 343 ff.). Er ermordete die Person, die für ihn der Inbegriff all dessen gewesen sein muß, was er an Zuneigung und Verehrung für sich begehrte – von den ernsthaften persönlichen Problemen der Kaiserin konnte er ja nicht wissen –, und erhoffte, hierfür von anarchistischen Genossen als Held gefeiert zu werden, von denen zumindest einige sich unmittelbar nach der Tat durch – anonyme – Beifallsbekundungen mit seinem mörderischen Ressentiment identifizierten und ihm so für kurze Zeit die erhofften Gratifikationen verschafften (vgl. S. 340). 61

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V. Der Einzige, der Anarchismus und die Gewalt

die Epigonalität Luchenis: Umberto I. war bereits kurz zuvor einem Anschlag entgangen, wurde dann aber im Juli 1900 in Monza ermordet, von Luchenis Landsmann Gaetano Bresci. Am 6. September des Folgejahrs fiel der Amerikanische Präsident McKinley in Buffalo dem Attentat Czolgoscz’ zum Opfer und bereits 1897 war der Spanische Ministerpräsident Cánovas ermordet worden.66 Das Gespenst des anarchistischen Attentäters schien allgegenwärtig.

2. Georg Adlers Bestandsaufnahme: Anarchismus und individualistische Gewalt Wie prägend diese und andere terroristische Akte für die zeitgenössische Wahrnehmung des Anarchismus und damit auch für die Interpretation Stirners bzw. des Einzigen waren, nachdem dieser einmal dem Anarchismus zugerechnet worden war, läßt sich zunächst an den beiden 1890 und 1898 von Georg Adler für die erste und zweite Auflage des Handwörterbuchs der Staatswissenschaften geschriebenen Artikeln zum Anarchismus beobachten, auf die sich die zeitgenössische Fachliteratur immer wieder bezieht.67 Im Hinblick auf die antisozialen und spezifisch destruktiven Aspekte des Einzigen ist hier insbesondere der von Adler herausgestellte Zusammenhang des von ihm als ein extremer Individualismus gedeuteten Anarchismus mit Terrorismus und genereller Gewaltbereitschaft von Interesse. Der Stellenwert dieses Themas nimmt in Umfang und Art der Behandlung von der ersten zur zweiten Fassung des Artikels zu und spiegelt darin die einschlägigen Ereignisse der 90er Jahre und die daraufhin einsetzenden und ihre Relevanz verstärkenden diskursiven Thematisierungen wider. So rekurriert Adler 1898 sowohl auf die öffentliche Resonanz der Taten Ravachols, Vaillants und Henrys als auch auf einschlägige kriminologische und psychopathologische Erklärungsansätze. Darüber hinaus läßt sich im Vergleich beider Fassungen aber auch der Niederschlag der Stirner-Renaissance beobachten. Während Adler Stirner 1890 lediglich als obskure Randerscheinung innerhalb der anarchistischen Theoriegeschichte erwähnt, räumt er ihm in der insgesamt erheblich erweiterten und überarbeiteten Fassung seines Anarchismus-Artikels von 1898 eine bedeutsame Sonderposition in der ideologischen Tradition und Phänomenologie des Anarchismus ein. Stirner erscheint nun mit seinem von Adler so genannten „antimoralische[n] A[narchismus]“68 als einer der großen Theoretiker der Anarchie, 66 Vgl. B. Demandt (1999), S. 336, 340; Neumann (2000), S. 212; Encyclopædia (1910–11 I), S. 917; vgl. auch Lösche (1986), S. 429; Camus (1951), S. 135. 67 So beispielsweise Zenker (1895), Eltzbacher (1900), Kropotkin (1910) und andere, auch in den folgenden Abschnitten noch zu behandelnde Autoren. 68 Adler (1898), S. 305.

2. Georg Adlers Bestandsaufnahme

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mit eigener Programmatik und auf einer Ebene mit Autoren wie Pierre-Joseph Proudhon69, Michail Bakunin70 und Peter Alexandriewitsch Kropotkin71. In diesem Stirner zugeschriebenen Bedeutungszuwachs von der 1890er zur 1898er Auflage des Handwörterbuchs kommt einerseits der erhöhte Bekanntheitsgrad Stirners zum Ausdruck, der Adler offenbar veranlaßt hatte, sich eingehender mit Stirner als einer der nun anerkanntermaßen zentralen und für den Gelehrten daher unumgänglichen Figuren der anarchistischen Tradition zu beschäftigen. Andererseits wird diese beginnende Kanonisierung Stirners als Klassiker der Anarchie auch durch den diesem bei Adler nun zuerkannten Stellenwert konfirmiert. Und auch hier findet sich die für die Zeit der Stirner-Renaissance typische Bemerkung, daß Stirners Werk in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts „in vollständige Vergessenheit“ geraten war, „der es erst neuerdings wieder entrissen worden ist.“72 a) Individualismus, Anarchismus und die ‚Propaganda der Tat‘ Den im Anarchismus beobachtbaren Zusammenhang von Individualismus und Gewalt stellt Georg Adler bereits in der ersten, 1890er Fassung seines Anarchismus-Artikels heraus. Zunächst gilt ihm der Anarchismus insgesamt – als politische Theorie wie auch als soziale Bewegung, in seinen gewaltfreien wie destruktiven Erscheinungsformen – als ein individualistisches Phänomen. Gemäß dem seit Proudhon in der anarchistischen Tradition gültigen „sozialen Ideal“ des Anarchismus, aufgrund dessen sich die Anarchie „als ‚Gesellschaftsordnung ohne Staat und ohne Lohnsystem mit denkbar größter Autonomie der Individuen‘“ definieren läßt,73 können „die Anarchisten als extreme Individualisten“ bezeichnet werden. „Erwägt man, daß bis zum Auftreten des Anarchismus die radikal egalitären Schulen [. . .] zumeist extrem-kommunistischen Tendenzen huldigten, welche auf das Prinzip der Staatsallmacht und des Zwanges hinausliefen, so begreift man, daß im Zeitalter der Herrschaft des Prinzips der individuellen Initiative eine Lehre kommen mußte, welche die Notwendigkeit der Freiheit und der Autonomie des Individuums gegenüber dem Gesamtwillen betonte, dabei aber doch zugleich auf dem Standpunkte des unverbrüchlichen Gleichheitsprinzips und der Gegnerschaft gegen das Lohnsystem stand. Hierin liegt der doktrinäre Kern des Anarchismus, und ist daher diese Lehre als eine natürliche proletarische Reaktion gegen den reinen Staatskommunismus aufzufassen.“ Der 69 70 71 72 73

1809–1865. 1814–1876. 1842–1921. Adler (1898), S. 306. Adler (1890), S. 252.

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V. Der Einzige, der Anarchismus und die Gewalt

Anarchismus erscheint also als sozialrevolutionärer Individualismus, der einerseits, wie der Sozialismus, in seinen sozialrevolutionären Forderungen als Reaktion auf „das Elend der arbeitenden Klassen unter der Herrschaft des nicht genügend gebändigten Kapitalismus“ zu verstehen ist. Erst wenn „an die Erfüllung der berechtigten Forderungen des Proletariats herangetreten wird“, wird daher der Terrorismus, diese „Giftpflanze des modernen Anarchismus verdorren, weil ihr der fruchtbare Nährboden des verzweifelnden Elends entzogen sein wird!“ Andererseits ist das „Aufkommen der anarchistischen Lehre“ in ihrem spezifisch individualistischen Gegensatz zum Sozialismus durch eben jenes kapitalistische „System des ökonomischen Individualismus begünstigt“ worden.74 Der Anarchismus entspricht in dieser (der Sache nach) wissenssoziologischen Deutung Adlers somit, als extrem-individualistische Fassung einer sozialrevolutionären Ideologie, der „individualistischen Ökonomie“, die „sich daran gewöhnt [hatte], stets aus dem Standpunkte der wirtschaftlichen Souveränität des Individuums zu urteilen“.75 Der Anarchismus nimmt diesen Gedanken der „ökonomischen Selbstherrlichkeit des menschlichen Subjekts“ auf, negiert aber die kapitalistische Eigentumsordnung und radikalisiert in dieser Beziehung deren individualistische Implikationen. Auch wenn diese ‚extrem individualistische Doktrin‘ nicht zwangsläufig zur Propagierung von Gewalt führen muß, wie gerade das Beispiel Proudhons zeige, so brauche man sich dennoch nicht zu wundern, „daß die anarchistische Partei, deren theoretisches Prinzip schon die vollkommenste Souveränität des Individuums proklamierte, auch die Partei der individuellen Gewaltakte und der rohesten Selbsthilfe geworden ist“.76 Die von den russischen Anarchisten Bakunin und Netschajew propagierte „Vernichtung alles Bestehenden“ und der „roh-destruktive[], glühende Haß gegen alle Ordnung“77 ist Ausdruck eines Fanatismus, der die anarchistische „Idee mit Erdrosselung aller übrigen ausschließlich durch brutale Gewalt zum Siege führen“ will. In dieser Unmittelbarkeit und Rücksichtslosigkeit zeigt sich „ein arger Rückfall in eine rohe Souveränität des Individuums und zugleich [eine] maßlose Selbstüberschätzung“.78 Dieser ‚Rückfall‘ ist gewissermaßen die äußerste Konsequenz einer individualistischen Selbstverabsolutierung, in der das Individuum regressive Allmachtsphantasien und moralisch-kognitive Grandiositätsansprüche in destruktiver Weise ausagiert. 74

Adler (1890), S. 268 – H. i. O. Adler (1890), S. 268. – „Der Anarchismus ist somit ein notwendiges Entwicklungsprodukt in der Volkswirtschaft so gut wie der Giftpilz in der Natur.“ (Adler (1890), S. 268). 76 Adler (1890), S. 268. 77 Adler (1890), S. 268. 78 Adler (1890), S. 267. 75

2. Georg Adlers Bestandsaufnahme

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Stirner wird trotz dieser Betonung des Individualismus – für den Anarchismus als Ideal wie auch für seine terroristischen Auswüchse – in Adlers Artikel von 1890 nur beiläufig erwähnt. Über ihn bemerkt Adler lediglich, daß er „[g]anz abseits von den geschilderten Bewegungen“ des „ältere[n], an Proudhon anknüpfende[n] Anarchismus“ – namentlich vertreten durch Moses Heß, Karl Grün sowie den Proudhonisten Wilhelm Marr – stand,79 und daß Stirners „Lehre [. . .] sich in die Worte zusammenfassen [läßt]: Jeder soll machen, was er will; an Stelle der Gesellschaft, welche [. . .] für den Einzelnen stets mit Zwang verbunden ist, soll die beliebig freie Vereinigung der Individuen treten.“80 Stirner erscheint hier noch als theoretisch naive und wenig ergiebige Randfigur des älteren Anarchismus, der im übrigen, wie Adler insbesondere für den „Begründer der anarchistischen Theorie Proudhon“ betont, mit jener individualistischen Gewaltverherrlichung noch nicht zu verbinden ist.81 Diesem älteren Anarchismus stellt Adler die Protagonisten der „modernen anarchistischen Partei“ gegenüber, allen voran Michail Bakunin als ‚Begründer des modernen Anarchismus‘.82 Hier werden nun die destruktiven Konsequenzen des extremen Individualismus sichtbar. Alles, was den Anarchismus „so berüchtigt gemacht“ hat und „ihn als extremste Partei der Weltgeschichte“ charakterisiert, nämlich seine „originelle Taktik“, die terroristische ‚Propaganda der Tat‘, ist als gewaltlegitimierende und -verherrlichende Theorie eine Errungenschaft des modernen Anarchismus; und zwar im Unterschied zum älteren Anarchismus wie auch im Unterschied zu allen anderen politischen Bewegungen: „Die anarchistische Partei ist nämlich nicht bloß revolutionär wie so viele andere Parteien der Vergangenheit und Gegenwart; sie ist nicht bloß prinzipiell gegen jeden gesetzlichen Weg und für Attentate und jegliche Gewaltthätigkeit gegen die Träger der bestehenden Ordnung, wie einige andere Parteien auch; sie ist nicht bloß für Beschaffung des zur Agitation erforderlichen Geldes auf dem Wege des Raubes, wie sie von den Nihilisten ein paar Mal praktiziert worden ist: – sondern sie hat auch noch eine Taktik, die ihr ausschließliches Eigentum ist: die von Netschajew ‚entdeckte‘ Propaganda durch die That, d. h. Gewalttha79

Adler (1890), S. 255 f. Adler (1890), S. 256. 81 Adler (1890), S. 267. – Allerdings zitiert Adler (1890) Wilhelm Marrs Beschwörung der „‚furchtbare[n] und blutige[n] Rache‘, welche das Volk an den ‚Reichen und Mächtigen‘ nehmen sollte“ (Adler (1890), S. 256). Hieran, wie auch an anderen Vernichtungsphantasien des Anarchisten Marr, läßt sich bereits – freilich ex post – die paranoide Mentalität des späteren Antisemiten Marr erkennen (vgl. Marten (1987), S. 73 ff.), worauf auch Zenker (1895) abstellt, auf den im nächsten Abschnitt zurückzukommen sein wird. 82 Adler (1890), S. 256. 80

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V. Der Einzige, der Anarchismus und die Gewalt

ten jeder Art, ausschließlich zur Verbreitung der Idee des Anarchismus.“83 Die Gewalt wird demnach mit ihrer Werbewirksamkeit legitimiert. Der Grundgedanke, daß unter Bedingungen einer nachrichtenwertorientierten massenmedialen Realitätskonstruktion durch spektakuläre, tabubrechende und normverletzende Aktionen Aufmerksamkeit in Anspruch genommen werden kann,84 erweist sich insbesondere in seiner Reflexion auf die verbreitungstechnologischen Bedingungen dieser Aufmerksamkeitserzeugung als spezifisch modern: „Eine jede solche That – räsonnieren die Anarchisten – werde bei dem heutigen Verkehrs- und Zeitungswesen binnen wenigen Stunden in der ganzen Welt bekannt; man spreche in jeder Werkstatt, in jedem Wirtshaus, in jeder Hütte darüber; die Gründe der That würden erwogen; man käme auf den Thäter und damit auf die Grundsätze zu sprechen, denen zulieb er die Handlung vollbracht: das sei eine Agitation, wie sie durch Reden und Schriften nimmermehr erzielt werden könnte.“85 Auffallend ist der formalistische Charakter dieser Konzeption, die sich, wenn auch historisch im Anarchismus entwickelt, im Verlaufe des 20. Jahrhunderts mit verschiedenen Inhalten verbinden konnte. Als ‚Tat‘ ist prinzipiell jede Aktion geeignet, die Aufsehen erregt – die also einen herausragenden Nachrichtenwert hat –, wobei für den Tat-Propagandisten zudem zweckrationale Effizienz-Erwägungen eine Rolle spielen dürften, etwa bezüglich des für die Aktion notwendigen Aufwandes im Verhältnis zur ‚propagandistischen‘ Effizienz, also Resonanzträchtigkeit. Und egal, für welches (ideelle) Anliegen der Propagandist durch seine Tat zu werben beansprucht: immer steht nicht zuletzt er selbst, als Täter, im Mittelpunkt des Interesses. Dies entspricht zum einen der konzeptionellen Überlegung, aufgrund derer der Täter die durch die Tat geweckte Aufmerksamkeit auf sich zieht, so daß hierdurch seine Motive, also im klassischen Fall die Ideen des Anarchismus, Beachtung finden sollen; zum anderen wird dieses – individualistische – Element in der Propaganda der Tat durch die personalisierenden 83

Adler (1890), S. 267 – H. i. O. Vgl. Luhmann (1996b); Luhmann (1997a), S. 1096 ff.; Gerhards (1995), S. 157 f.; Schulz (1994), S. 327 ff. 85 Adler (1890), S. 267. – Die Zeitgenossen konnten auch am Beispiel des ersten massenmedial konstruierten – und nicht zuletzt deswegen auch heute noch berühmten – Serienmörders ‚Jack The Ripper‘ sehen, wie insbesondere – in diesem Fall vor allem aufgrund ihrer Grausamkeit und ihres Mystifikationspotentials – spektakuläre Gewalttaten den Bekanntheitsgrad ihrer Urheber immens steigern und das öffentliche Interesse für deren Beweggründe erwecken. „Jack was born just as the popular press was finding its feet and they helped each other immeasurably. He gave them murders to boost their circulation and they, in turn, made him into a legend.“ (Whitehead/Rivett (2001), S. 9) – Kreibig spricht von „Jack dem Aufschlitzer“ (Kreibig (1896), S. 150), ebenso Mackay, der zudem auf jene enorme öffentliche Aufmerksamkeit reflektiert (vgl. Mackay (1891), S. 6). 84

2. Georg Adlers Bestandsaufnahme

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Tendenzen in der massenmedialen Realitätskonstruktion verstärkt. Unter diesen Bedingungen haben beispielsweise tat-propagandistisch konzipierte Terroranschläge jenseits aller ideologischen Codierungen und Absichtserklärungen auch die herostratische Bedeutung individueller Irrelevanzkompensationen,86 indem sie denjenigen, die sie begehen, einen vom Ausmaß des Verbrechens abgeleiteten Ruhm verheißen. Ein bevorzugtes Medium hierzu sind Bekennerschreiben, in denen die Urheber von Anschlägen die hierdurch massenmedial auf sie gelenkte Aufmerksamkeit, gleichsam ihren ‚fünfzehnminütigen Ruhm‘ im Sinne Andy Warhols, nutzen, um sich selbst in Gestalt ihrer Beweggründe und Anschauungen öffentlich zu exponieren: endlich finden sie Gehör und Beachtung, und zwar in unabweisbarer Dringlichkeit.87 Welcher ideologischen Provenienz die hierbei vorgebrachten Rechtfertigungen sind, ist unter diesem Aspekt eine Frage historischer Konjunkturen.88 Daß das originär anarchistische Konzept der Propaganda durch die Tat in der post-anarchistischen Tradition des Terrorismus – bis hin zum islamistischen Terrorismus der Gegenwart – fortgeführt wurde, belegt zum einen dessen formalistischen, mit verschiedensten ideologischen Inhalten kompatiblen Charakter. Zum anderen spiegelt dies aber auch dessen strukturelle Affinität zu bestimmten, all-einzig-individualistischen Dispositionen, für die in ihrem herostratischen Aufmerksamkeitsbegehren die Methode wichtiger ist als die vorgeblich damit verfolgten ideologischen Ziele. Im historischen Entstehungskontext der Propaganda der Tat, dem Anarchismus als einer radikal individualistischen Ideologie, ist beides schwer zu trennen, zumal auch innerhalb dieses Kontextes die Positionen zu Gewalt, Terrorismus und Propaganda der Tat sich unterschieden. So hat beispielsweise Bakunin, wie Adler betont, auch wenn er in seiner für den Anarchismus paradigmatischen unerbittlichen „Feindschaft gegen den Staat“89 revolutionäre Gewalt leidenschaftlich einforderte, dennoch „eindringlich vor ‚Menschenmord‘ gewarnt“.90 Allerdings waren es Bakunins Anhänger, die im Anschluß an sei86

Vgl. auch Fuchs (2003), S. 50. Dies beinhaltet eine fatale Steigerungslogik: Die Wiederholung, die dem Vergessenwerden entgegenwirken soll, und die durch die erzielten Aufmerksamkeitserfolge inspirierten Nachahmungstaten bergen in sich die Tendenz zur Inflationierung der Taten und Anonymisierung der Täter und bedingen dadurch den Drang, Vorangegangenes überbieten zu wollen. 88 Allerdings ist von einem nichtbeliebigen Zusammenhang zwischen konkreter Legitimationsideologie, exponiertem Selbstverständnis und terroristischer ‚Handschrift‘ – bevorzugten Attentatszielen (‚weich‘ oder ‚hart‘), symbolischen Komponenten (Ankündigungen, Vorwarnungen, Verzicht auf Bekennerschreiben, zeitliche Synchronisierung usw.), Feindbestimmung bzw. Opfergruppen (Bourgeoisie, Besatzer, Ungläubige, Ausländer usw.) – auszugehen. 89 Adler (1890), S. 256. 87

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nen zeitweiligen Mitarbeiter Sergej Netschajew91, der 1869 in Moskau ein Mitglied seiner eigenen Verschwörer-Organisation, den Studenten Iwanow, als vermeintlichen Verräter ermordete,92 die „Propaganda durch die That [. . .] predigt[en]“,93 anarchistische Agitatoren wie der Schweizer Paul Brousse,94 der Österreicher Josef Peukert und der oben bereits erwähnte Exil-Deutsche Johann Most.95 „[B]is zu welcher Bestialität dieses barbarische Faustrecht führt, zeigt der Raubmord an Unschuldigen, welchen der moderne Anarchismus in sein Programm aufgenommen hat.“96 Daneben nennt Adler auch profilierte zeitgenössische Anarchisten, namentlich Elysée Reclus97 und Peter Kropotkin, die zwar „wenigstens die extremste Konsequenz des Anarchismus – den Totschlag aller Besitzenden und die Raubattentate – nicht für angebracht erachten“,98 aber dennoch, wie etwa „Fürst Krapotkin“ die „Propaganda durch die That“ auch in ihrer terroristischen Ausprägung prinzipiell befürworten.99 b) Stirners ‚antimoralischer Anarchismus‘ und die anarchistische Gewalttradition In diesen Zusammenhang von Anarchismus, Individualismus und Gewaltverherrlichung, den Adler bereits 1890 sieht, wird Stirner in der 1898er Fassung des Artikels explizit mit seinem ‚antimoralischen Anarchismus‘ einbezogen. Für den Stirner als anarchistischem Theoretiker zuerkannten Bedeutungszuwachs ist nicht nur die Tatsache dieser eigenen klassifikatorischen Profilierung als solcher symptomatisch, sondern auch deren spezifischer Inhalt. Denn sowohl in der Darstellung der einzelnen Theoretiker des Anarchismus wie auch in der abschließenden Gesamtkritik macht Adler deutlich, daß das anarchistische Ideal der herrschaftslosen Gesellschaft – also die soziale Utopie der Anarchie im Unterschied zur anarchistischen 90

Adler (1890), S. 267, vgl. S. 256 f., 258. 1847–1882. 92 Vgl. Zenker (1895), S. 115; Scherrer (1987), S. 224 f.; Neumann (2000), S. 211; Gerigk (1977), S. 816 f.; vgl. auch Lösche (1986), S. 428 ff. Netschajew war auch das empirische Vorbild für die literarische Figur des Pjotr Stepanowitsch Werchowenskij in F. M. Dostojewskijs Roman Die Dämonen von 1871/72 (vgl. Gerigk (1977), S. 816 ff.). 93 Adler (1890), S. 267, vgl. S. 257 ff. 94 Vgl. Adler (1890), S. 259 f. 95 Vgl. Adler (1890), S. 261 ff. 96 Adler (1890), S. 267. 97 1830–1905. 98 Adler (1890), S. 267. 99 Adler (1890), S. 260. 91

2. Georg Adlers Bestandsaufnahme

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Taktik und Strategie zur Überwindung der gegenwärtigen Gesellschaft – aus Sicht der anarchistischen Theoretiker immer eine moralische Veredelung der Menschen zur Funktionsbedingung hat, mit der man aber ohnehin als quasi zwangsläufiger Folge des Wegfalls von Herrschaft meint rechnen zu können: sei es aufgrund einer optimistischen Anthropologie, die von natürlichen solidarischen Empfindungen der Menschen ausgeht, sei es aufgrund eines erzieherisch oder durch zivilisatorische Entwicklungen unter Bedingungen der Herrschaftsfreiheit erwirkten moralischen und rationalen Fortschritts. Nicht zuletzt aufgrund dieses naiven Moralismus gehört demnach für Adler das anarchistische Ideal „in das Reich märchenhafter Utopien“.100 Gerade darin aber zeigt sich die exzeptionelle Position des „antimoralischen Anarchismus Stirners“ (S. 305). Stirner ist demnach der einzige Theoretiker der Anarchie, der auch in seinem Idealentwurf die Moral ablehnt. Während andere Anarchisten, die ebenfalls für eine Strategie revolutionärer, auch terroristischer Gewalt optieren, nur die gegenwärtig herrschende Moral mißachten und dies mit dem Ziel rechtfertigen, nur so zu einer idealen Gesellschaft mit einer höheren Moral zu gelangen, verdammt Stirner die Moral schlechthin als Fremdbestimmung des Individuums. Stirner faßt das für den Anarchismus wesensbestimmende „Prinzip der individuellen Autonomie [. . .] als totale Befreiung von jeder Fessel, jedem selbst bloss geistigen Zwange, jeder anders als rein egoistisch gearteten Idee“ auf (S. 305 – H. i. O.). Das „einzelne empirische Individuum als das einzige Reale, was existiert, wird als Ausgangs- und Endpunkt alles Denkens, Fühlens und Hoffens proklamiert. Von hier aus giebts natürlich keine moralische Rücksicht auf irgend einen anderen: das Individuum, das sich als einzig fühlt, will alle seine Bedürfnisse, soweit möglich, befriedigen, handelt also als reiner Egoist“ (S. 305 f. – H. i. O.). Um Einziger zu werden, hat der Einzelne sich demnach von allen „geistigen Mächten, die nur seine kranke Phantasie geschaffen, innerlich zu befreien, – und ferner der ihn bedrängenden äusseren Gewalt ebenfalls Gewalt entgegenzusetzen!“ (S. 306 – H. i. O.) In der von Stirner propagierten antimoralischen Anarchie ist der „Einzelne [. . .] total pflichtenlos, er kann soviel machen, als seine Macht, seine Gewalt reicht: und weil er einsieht, dass er isoliert wenig Macht hat, verbindet er sich mit anderen zum ‚Verein der Egoisten‘.“ (S. 306) Dieser „Verein von Ichen“ dient nur den Egoismen der Individuen, und er ist in seiner Existenz nur dadurch garantiert, daß sein Bestand im eigennützigen Interesse der davon profitierenden Egoisten liegt (S. 306). Stirners antimoralischer Anarchismus will also, 100

Adler (1898), S. 321. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich in diesem und den beiden folgenden Unterabschnitten ebenfalls auf Adlers Artikel von 1898.

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fernab jeder ethischen Fundierung, „ausschliesslich mit dem Egoismus rechnen, allen Leidenschaften des Menschenherzens, aller individuellen Gewaltthätigkeit freie Bahn schaffen und als einzige Schranke die thatsächliche Ohnmacht anerkennen.“ (S. 321 – H. i. O.) In seiner Ablehnung eines naiven Moralismus und anthropologischen Optimismus ist Stirner Adler zufolge realistischer als die anderen anarchistischen Theoretiker (vgl. S. 321). Gerade sein anthropologischer Realismus aber macht diesen antimoralischen Anarchismus für Adler um so fragwürdiger. Das gilt zunächst für Stirners angesichts des Komplexitätsniveaus der modernen Gesellschaft soziologisch naives Ideal, den Verein der Egoisten, der weder in angemessener Weise die Bedürfnisbefriedigung, noch die Sicherheit vor Gewalttätigkeiten garantieren könne (vgl. S. 321). Und das gilt erst recht für die Strategie, die sich Stirner für „[d]ie Einführung seiner Ordnung dachte“, nämlich „die Empörung aller unter der heutigen Tyrannei leidenden Egoisten: Die Millionen Armer sollten sich zusammenthun und mit aller Gewalt, ja mit allen wie auch immer unmoralischen Mitteln den Staat wie alle anderen Institutionen in Grund und Boden vernichten.“ (S. 306) Angesichts dieser Strategie und der antimoralisch-anarchistischen „Todfeindschaft gegen jedes ethische Prinzip“ kommt Adler zu der Einschätzung, daß „Stirner der Begründer jener anarchistischen Doktrin geworden [ist], die alle Exzesse der Revolutionäre, alle Orgien der Individuen rechtfertigt und anpreist.“ (S. 306) Somit steht für Adler nun Stirner, nicht Netschajew, am Anfang der Tradition anarchistischer Gewaltverherrlichung. Die ‚extremen Individualisten‘, die als ‚Propagandisten durch die Tat‘ Terroranschläge, Morde und andere anarchistisch verbrämte Gewalttaten verüben, erscheinen nun als Einzige. Stirner wird zum Vordenker Ravachols, Henrys und der anderen Terroristen. Anarchistische Gewaltapostel wie Netschajew, Brousse, Peukert und Most erscheinen als Nachfolger Stirners. Bei aller konzeptionellen Originalität der Propaganda der Tat bei Netschajew (vgl. S. 308), steht deren spezifische Begründung doch somit im Kontext einer umfassenderen Rechtfertigung und Verherrlichung von Gewalt und Zerstörung, die einerseits bei Netschajews terroristischen Epigonen in Adlers Darstellung einen immer höheren Stellenwert einnimmt, andererseits auch auf die Stirners ‚antimoralischem Anarchismus‘ zugeschriebene ‚Anpreisung aller Exzesse der Revolutionäre‘ zurückverweist (vgl. S. 305 f.). Dabei ist bei Adlers Verortung Stirners und der anderen Anarchisten im Motivkomplex von Individualismus, Anarchismus und Gewalt nicht nur, wie Adler herausstellt, zwischen der Ebene des Ideals und derjenigen der Strategie zu unterscheiden; auch auf der Ebene der Taktik und Strategie ist zwischen verschiedenen Aspekten der Rechtfertigung und Beglaubigung von Gewalt zu differenzieren, zwischen der im engeren Sinne tat-propagandisti-

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schen Konzeption und spezifisch terroristischen Kalkülen, wie etwa der psychologischen Kriegsführung, und der Tendenz, Gewalt und Verbrechen in umfassender Weise als ‚revolutionär‘ zu legitimieren oder als Recht des Individuums zu reklamieren. Die Begründung der Propaganda der Tat im engeren Sinne bleibt historisch mit dem Namen Netschajew verbunden. „Netschajew war der Erste, welcher Attentate, Putsche, Krawalle etc. [. . .] als Mittel der Propaganda ins Werk zu setzen anriet“, also die klassische Begründung der „Propaganda der That“ lieferte (S. 308 – H. i. O.), wie sie dann „besonders energisch“ von dem französisch-schweizerischen Anarchisten Paul Brousse vertreten und argumentativ begründet wurde (S. 309). „Thaten – führte er [Brousse] aus – werden allseitig besprochen; nach der Ursache der Thaten fragen die sonst indifferenten Massen, werden aufmerksam auf die neue Lehre und diskutieren sie. [. . .] Daher wird Empörung, Revolte und Attentat angelegentlichst empfohlen, nicht etwa, weil dadurch an sich das bestehende System gestürzt werden könnte, sondern nur zum Zwecke der Propaganda. – Demgemäss erklärte auch ein Kongress der ‚Fédération jurassienne‘ die Attentate Hödels und Nobilings auf den deutschen Kaiser für ‚revolutionäre Akte, die seine volle Sympathie hätten‘.“ (S. 309)101 Der tat-propagandistisch gerechtfertigte Gewaltakt beansprucht also nicht, die Herrschaft des Feindes unmittelbar erschüttern oder materiell schwächen zu können. Das unterscheidet ihn typologisch sowohl vom im Bürgerkrieg herbeigeführten Umsturz als auch von der Guerilla-Taktik von Partisanen, die auf die effiziente Zerstörung der militärisch relevanten Infrastruktur des Feindes abzielt – auch wenn bei diesen beiden realiter auch tat-propagandistische und terroristische Strategien und Aktionen eine Rolle spielen.102 Die Konzeption der Propaganda der Tat legitimiert den Gewaltakt im Hinblick auf die von diesem erwartete öffentliche Aufmerksamkeit und diesem zugeschriebene psychologische Wirkung: nicht der materielle bzw. militärische, sondern der symbolische Erfolg zählt. Daraus ergibt sich nicht nur eine breites Spektrum legitimer Aktionsformen und Angriffsziele sowie spezifisch darauf bezogene Rationalitätskalküle, sondern insbesondere auch die Chance für Einzeltäter und kleine Gruppen, ohne großen logistischen Aufwand aktiv zu werden. Zu den wichtigsten evolutionären Bedingungen der Propaganda der Tat in ihrem terroristischen Verständnis gehören daher, neben der schon angesprochenen sozialstrukturellen Voraussetzung eines nachrichtenwertorientierten Systems von Massenmedien,103 technolo101

Adler bemerkt hierzu, daß „Nobilings [. . .] Attentat [. . .] mit dem Anarchismus nichts zu schaffen [hatte]: es entsprang nur herostratischer Ruhmsucht“ (Adler (1898), S. 310). – ‚Fédération jurassienne‘ bezieht sich auf die jurassische Schweiz, die französischsprachige Westschweiz im Gebiet des Jura-Gebirges. 102 Vgl. Waldmann (1989a) u. (1989b). 103 Vgl. Luhmann (1996b).

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gische Errungenschaften, die individuelle Akteure in die Lage versetzen, mit relativ geringem Aufwand öffentlichkeitswirksame Normverletzungen zu inszenieren; historisch konnte das in den 1860er Jahren von Alfred Nobel erfundene Dynamit diese Funktion erfüllen.104 Zwei weitere entscheidende Faktoren im modernen Syndrom des tat-propagandistischen Terrorismus sind psychologischer und semantischer Art: einerseits solche Persönlichkeitsstrukturen, wie sie unter denjenigen Individualidentitätsangeboten registriert und reflektiert werden, die in der vorliegenden Studie unter dem Stirner-Interpretationsschema der All-Einzigkeit verbucht und analysiert werden; andererseits semantische Angebote, die antisoziales Agieren ideologisch rechtfertigen und überhöhen und dadurch den Einzeltäter nicht nur in seinem Selbstverständnis mit positiven Selbstdeutungen versorgen, sondern – entscheidend für die soziale Dynamik des Terrorismus – diesen und dessen Tat zugleich aus der Isolation holen, indem sie ihm positive Resonanz bei Sympathisanten und Gesinnungsgenossen garantieren und ihm so narzißtische Gratifikationen bescheren, aber auch Nachahmungstäter motivieren. Dies war beispielhaft am Fall Ravachol zu beobachten. Zu diesen ideologischen Komponenten gehören zum einen polemisch strukturierte absolute Weltdeutungen, in denen der terroristische Aktivist sich selbst gegenüber ‚Freund und Feind‘105 verorten kann. In diesem polemischen Dreieck – Terrorist, feindlicher und befreundeter Adressat des Terrors – lassen sich dann die Gründe für Freund- und Feindschaft eintragen, aus ihm lassen sich Terrorziele und Solidaritätserwartungen ableiten. Diese Ebene wird vom Anarchismus des Fin de siècle bis zum gegenwärtigen Islamismus, als einem „Typus politisierter Religion“106, typischerweise von politischen Ideologien bedient; sie bestimmen wesentlich das konkrete Erscheinungsbild des Terrors, sein Profil. Zum anderen gehören zu den ideologischen Komponenten die von Adler an Stirner, Netschajew und ihren Nachfolgern beobachteten Konzeptionen, die die Anwendung von Gewalt überhaupt erst rechtfertigen. In dem berühmt-berüchtigten Katechismus des Revolutionärs von 1869, dessen Autorschaft nicht zweifelsfrei geklärt ist,107 von Adler aber eindeutig Netschajew zugeschrieben wird – während andere Bakunin als federführend sahen108 –, wird der „Revolutionär“ aufgefordert, sich „[w]eder um Gesetz, noch um Moral, noch um Sitten [. . .] zu kümmern. ‚Wenn er in dieser Welt fortlebt, so geschieht es nur, um sie desto sicherer zu vernichten. [. . .] Tag und Nacht darf er nur einen Zweck haben – die unerbittliche Zerstörung.‘“ 104 105 106 107 108

Vgl. Neumann (2000), S. 212. Vgl. Schmitt (1932). Bielefeldt/Heitmeyer (1998), S. 12. Vgl. Neumann (2000), S. 226. Vgl. Zenker (1895), S. 104, 112 ff.; vgl. Adler (1898), S. 307 f.

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(S. 308) Dafür seien ‚alle Mittel recht‘: „Gift, Dolch, Strick etc.“ und vor allem seien „diejenigen, welche der revolutionären Organisation und ihrer Thätigkeit am meisten im Wege stehen, aus der Welt zu schaffen.“ (S. 308) Mit diesem letzten Gedanken konnte Netschajew auch den kurz darauf von ihm selbst verübten Mord an dem ‚Verräter‘ Iwanow rechtfertigen (vgl. S. 308). Aber diese Zielbestimmung enthält noch eine zusätzliche Dimension der Netschajewschen Propaganda der Tat, eine Überlegung zur psychologischen Kriegsführung: Durch den Angriff auf „eine Person, eine Sache, ein Verhältnis, das die Volksemanzipation hindert“, müsse man in Form „verwegener, ja übermütiger Unternehmungen in das Leben des Volkes einbrechen und ihm den Glauben an seine eigene Macht einflössen, es erwekken, vereinigen und zum Triumph seiner eigenen Sache hinführen.“109 Die Propaganda der Tat zielt also einerseits darauf, als Mittel der ‚Bekanntmachung‘ ein öffentliches Bewußtsein für die Existenz der anarchistischen Ideen zu wecken. Andererseits soll sie, als Mittel psychologischer Kriegsführung, beim potentiellen revolutionären Subjekt, bei den ‚Unterdrückten‘ das Bewußtsein ihrer eigenen Macht und der Besiegbarkeit der Autoritäten wecken und sie so zum Kampf motivieren; die Tat ist als Erweckungssignal an einen „zu interessierenden Dritten“110 gerichtet, den – nach Maßgabe des ideologisch konstruierten polemischen Dreiecks – befreundeten Adressaten. Beim anderen, feindlichen Adressaten der psychologischen Kriegsführung, nämlich bei den ‚Herrschenden‘ bzw. ‚Unterdrückern‘ als potentiellen und tatsächlichen Zielen des Terrors, soll sie Angst und Schrecken hervorrufen, ihnen ihre Angreifbarkeit und Verwundbarkeit vorführen und sie dadurch demoralisieren. Dies steckt in der Netschajewschen Evokation und Glorifizierung der „schreckliche[n], totale[n], unerbittliche[n] und allgemeine[n] Zerstörung“111, die zu bewirken die vordringliche Aufgabe der Revolutionäre sei. Zu diesen zählt Netschajew ausdrücklich auch – darin wiederum an Stirner und seine Verherrlichung des Verbrechers gemahnend112 – die „Räuber; das Räubertum wird nämlich von Netschajew für ‚eine der ehrenhaftesten Formen des russischen Volkslebens‘ erklärt.“ (S. 308) In den 1870er und 80er Jahren, nach dem Austritt der Anarchisten aus der Internationalen Arbeiter-Assoziation (der Ersten Internationale) auf dem Haager Kongreß 1872,113 wurde die Propaganda der Tat vor allem in den romanischen Ländern – Spanien, Frankreich, Italien und der jurassischen Schweiz – weiterverbreitet (vgl. S. 309 ff.): in einschlägigen Aktionen wie 109 110 111 112 113

Netschajew, zit. n. Adler (1898), S. 308. Münkler (2002), S. 180 f.; vgl. Schlichte (2005). Netschajew, zit. n. Adler (1998), S. 308. Vgl. z. B. Stirner, EE, S. 207 ff., 219 ff., 264 ff. Vgl. Adler (1898), S. 308 f.; vgl. auch Abendroth (1973), S. 49 f.

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auch publizistisch, sowohl in programmatischen Stellungnahmen, etwa bei Kropotkin,114 als auch durch konkrete Hinweise zur Vorbereitung von Anschlägen, etwa durch den Abdruck von „Rezepte[n] zur Bereitung und Verwendung von Sprengstoffen“ in der 1880 in Paris gegründeten Révolution sociale, dem „erste[n] Organ des Anarchismus in Frankreich“.115 Auch hieran zeigt sich, ergänzend zur Nachrichtenwert-Orientierung der Propaganda der Tat, wie die seinerzeit neuen verbreitungsmedialen Strukturen116 in die terroristische Strategie miteinbezogen wurden.117 Im April 1877 demonstrierte eine etwa dreißigköpfige Gruppe italienischer Anarchisten unter der Führung von Carlo Cafiero118 und Errico Malatesta119 eine nicht-terroristische Auslegung der Propaganda der Tat, als sie erfolgreich „ein paar Dörfer in der Nähe von Benevent“120 aufwiegelten und dort „den Staat für abgeschafft“ erklärten – wenn auch nur bis zum Eintreffen einer Truppenabteilung, die diesem „Sturm im Wasserglase [. . .] bald ein jähes Ende“ bereitete (S. 310). Die vorherrschende Tendenz in der agitatorischen Entwicklung der Propaganda der Tat, also in ihrer strategischen Begründung und ideologischen Rechtfertigung, läßt sich aber, Adlers Darstellung zufolge, einerseits als eine immer stärkere Verengung auf die terroristischen Implikationen des Konzepts beschreiben. Und andererseits tritt das spezifisch propagandistische Begründungsmuster, das die (nicht konzeptionell notwendig, aber faktisch doch meist) terroristische Aktion als drastisches Mittel zur Bekanntmachung anarchistischer Ideen rechtfertigte, zugunsten anderer Formen der Gewaltapologie in den Hintergrund. Am Ende erscheinen Terror 114 Vgl. Adler (1898), S. 311; vgl. auch Kropotkin (1887), S. 70 ff.; Kropotkin (1890), S. 79 ff.; Kropotkin (1913), S. 116 f. 115 Adler (1898), S. 311. – Eine Kuriosität am Rande (die gleichwohl an eine heutige Praxis der Verfassungsschutzbehörden erinnert): Die Révolution sociale wurde, vermittelt über einen in die nichtsahnende Redaktion eingeschleusten V-Mann, bis Herbst 1881 vom damaligen Polizeipräfekten Andrieux finanziert, „der später sein Verhalten damit begründete, dass er nur auf diese Weise etwaige Attentate habe eruieren können.“ (Adler (1898), S. 311; vgl. Plechanow (1911), S. 77). 116 Zu den wichtigsten technologischen Errungenschaften, die die Entstehung einer auf einen möglichst breiten und großen Rezipienten-Kreis ausgerichteten Massenpresse im 19. Jahrhundert ermöglichten und förderten, gehören der 1860 erfundene Rotationsdruck, der 1872 in Gebrauch kam, die 1869 erfundene Setzmaschine sowie weitere Innovationen im drucktechnischen Bereich in den 80er und 90er Jahren; vgl. Wilke/Noelle-Neumann (1994), S. 435 f.; vgl. auch, mit Blick u. a. auf Nachrichtenflüsse beschleunigende und verbreiternde technologische Innovationen wie elektrische Telegraphie, Funktechnik und Telefon, Schulz (1994), S. 309 ff. 117 Entsprechendes läßt sich gut ein Jahrhundert später im Internet beobachten. 118 1846–1892. 119 1853–1932. 120 Gemeint ist offensichtlich das italienische Benevento, nordöstlich von Neapel, nicht das französische Benevent zwischen Bordeaux und Périgeux (vgl. auch Plechanow (1911), S. 73).

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und Destruktion nicht mehr als Strategie im klassischen Sinne der Propaganda der Tat, sondern als Medium individueller Selbstverwirklichung oder Selbstbefreiung, als direkter Angriff im revolutionären Kampf, als gerechte Rache oder sonstiger Selbstzweck – und sogar, wie Adler besonders angewidert feststellt, als Gegenstand der Ästhetisierung. c) Terrorismus, Individualismus, Gewaltverherrlichung und Décadence im Fin de siècle Insgesamt verschärft sich die Agitation im Verlaufe der 80er und 90er Jahre immer mehr zu jener – bereits von Stirner vorgedachten121 – antimoralisch-individualistischen Gewaltverherrlichung, die auf die „Entfesselung der bestialischen Instinkte im Menschen, die Anwendung der brutalsten Mittel und de[n] Rückfall in die roheste Souveränität des Individuums“ zielt (S. 326). Der in den 80er Jahren als Herausgeber mehrer Zeitschriften in Österreich-Ungarn einflußreiche anarchistische Agitator Josef Peukert verbreitete programmatisch in seinem Pester Sozialist, man wolle „nur für die ‚gewaltsame, blutige und schonungslose Revolution und daher für die Entfesselung aller wilden Instinkte im Volke‘ arbeiten“ (S. 312). Die ebenfalls in den 80er Jahren in Pest erscheinende anarchistische Zeitschrift Radikal zitiert Adler mit der „wörtlich für den Kampf gegen die herrschende Klasse ausgegeben[en]“ Losung: „Es lebe die Bestialität!“ (S. 312). Gewalt wird als Akt und als Mittel der Selbstbefreiung verherrlicht. Das nächste Ziel sei die „Zerstörung, bis der letzte Ausbeuter und Faullenzer durch Proletarierhand fällt, und sollte dies mit dem Leben vieler Millionen Proletarier bezahlt werden“.122 So wie die Radikal ergötzt sich auch der Sozialist an maßlosen Vernichtungs- und Rachephantasien: „Für jede Thräne, die in einer Arbeiterfamilie fliesst, soll Heulen und Zähneklappern getragen werden in zehn Bourgeoisfamilien.“123 Während bei dem Agitator der Radikal auffällt, daß er für sein imaginiertes grandioses Vernichtungswerk mit der gleichen Grandiosität über die „Leben vieler Millionen Arbeiter“ verfügt, die er zu opfern bereit ist, und damit jede strategische Rationalität im Sinne der Propaganda der Tat außer Acht läßt, läßt sich in der Stellungnahme des Sozialist jenes strategische Kalkül der psychologischen Kriegsführung erkennen, das auf die den Feind demoralisierende Verbreitung von Angst und Schrecken zielt: „Der ‚Sozialist‘ proklamierte buchstäblich den ‚Terrorismus‘.“ (S. 312) Gleichwohl tritt 121

Vgl. Adler (1898), S. 306. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich im vorliegenden Unterabschnitt weiterhin auf Adler (1898). 122 Zit. n. Adler (1898), S. 312. 123 Zit. n. Adler (1898), S. 312.

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die im engeren Sinne propagandistische Dimension der Gewalt gegenüber der Vorstellung eines direkten revolutionären Angriffs auf den Feind und einer physischen wie psychischen Bestrafung der Unterdrücker in den Hintergrund. Damit wird jedes Verbrechen, prinzipiell unabhängig vom propagandistischen Wert, gerechtfertigt, solange die Opfer ‚ausbeuterische und faulenzende Bourgeois‘ sind. In „Cisleithanien“124 folgte der „Agitation in Wort und Schrift [. . .] bald die Propaganda durch die That. Einige anarchistische Gruppen unternahmen die Ermordung [von] missliebige[n] Polizeibeamten, andere – und damit beginnt eine neue Phase der anarchistischen Thaten – versuchten die für die anarchistische Propaganda benötigten Gelder auf dem Wege des Raubes herbeizuschaffen.“ (S. 312) Auch die Raubmorde wurden als revolutionäre Taten gerechtfertigt. Unter dem strategischen Aspekt psychologischer Kriegsführung legt allerdings das terroristische Kalkül eine Präferenz für sowohl symbolisch aufgeladene als auch insbesondere ‚weiche‘ Ziele nahe, die vergleichsweise ungeschützt sind und dadurch einerseits leicht und ohne großes Eigenrisiko erreichbar sind, deren Verletzung bzw. Vernichtung andererseits gerade deswegen dem ‚Feind‘ in besonders nachhaltiger und verstörender Weise seine Hilflosigkeit und sein Ausgeliefertsein vor Augen führt. Beispielhaft für diese Überlegungen sind Johann Mosts Empfehlungen für den „GuerillaKrieg“.125 Most hatte bereits in dem 1881 in seiner Freiheit erschienen Jubel-Artikel auf die Ermordung Alexanders II. seine Vorliebe für symbolisch gehaltvolle Terror-Aktionen gezeigt. Nach Verbüßung seiner 16monatigen Haftstrafe in England und seiner Übersiedlung in die USA126 feierte Most in seiner nun in New York erscheinenden Freiheit „[m]it jubelndem Beifall [. . .] die gerade damals jenseits des Ozeans stattfindenden Raubattentate und forderte stürmisch zur Nachahmung auf [. . .]. Unermüdlich predigte er 124 Der der Leitha diesseitige Teil Österreich-Ungarns, also geographisch etwa die heutige Republik Österreich. 125 Adler (1898), S. 314. – Bekanntlich stilisierte sich, hundert Jahre später, in ähnlicher Weise auch die terroristische ‚Rote Armee Fraktion (RAF)‘ in der Bundesrepublik Deutschland zur „Stadtguerilla“, allerdings unter Berufung auf Mao Tsetung (vgl. Neumann (2000), S. 214). – Vgl. auch Waldmann (1989a) u. (1989b) hierzu und allgemein zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden von ‚Guerilla‘ und ‚Terrorismus‘. Der Begriff ‚Guerilla‘ stammt aus dem frühen 19. Jahrhundert und kennzeichnete ursprünglich die spanischen Freiwilligenverbände, die nach der Niederlage der regulären spanischen Armee im französisch-spanischen Krieg von 1808– 14 den siegreichen Franzosen durch Sabotageakte und Überfälle zusetzten (vgl. Waldmann (1989a), S. 320). 126 Die Freiheit war zwischenzeitlich in der Schweiz von dem später wegen Beteiligung an den 1882–1884er Raubmorden und Attentaten in Österreich hingerichteten Anarchisten Stellmacher redigiert worden (vgl. Adler (1898), S. 312). – Most selbst hatte zuvor auch deutsche und später dann amerikanische Gefängnisse von innen gesehen (vgl. S. 311, 320).

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den ‚Guerilla-Krieg‘ gegen die herrschenden Klassen und unerschöpflich war er in der Angabe der verschiedenen Mittel, mit denen man der ‚Eigentumsbestie‘ beizukommen trachten sollte. So riet er den Dienern, vergiftete Nägel in die Stühle ihrer Brotherren zu drücken, und den Köchinnen, bei recht zahlreicher Gesellschaft die Speisen zu vergiften etc.“ (S. 314). Gerade die Heimtücke eines solchen ‚Guerilla-Krieges‘ ist im Sinne des terroristischen Kalküls: der Feind soll sich nirgends, weder im öffentlichen Raum von Cafés, Restaurants usw., noch in der Privatheit der eigenen vier Wände sicher fühlen können. Um eine Atmosphäre ständiger Bedrohung und Angst zu erzeugen, bedarf es keiner sichtbaren Massenbewegung, sondern lediglich der – seinerzeit in Publikationen wie der Freiheit, der Radikal usw. und in ‚tätiger Propaganda‘ dann und wann bestätigten – Gewißheit, daß es einige Individuen gibt, die dieser extremistischen Weltsicht anhängen und sich durch sie zu derartigen Taten berechtigt fühlen. Und angesichts der programmatischen Diffusität der terroristischen Angriffsziele – jeder kann jederzeit einem Anschlag zum Opfer fallen, sofern er irgendwie der verhaßten Bourgeoisie oder ihren Helfern (oder einer anderen Gruppe von bösen Objekten) zugerechnet werden kann, oder aber sich einfach zur falschen Zeit am falschen Ort aufhält – bietet diese Gewißheit auch keine Möglichkeit für Präventivmaßnahmen. Sobald der Terrorist glaubhaft machen kann – und auch diesen Sinn haben die in den einschlägigen Publikationen verbreiteten minutiösen Anweisungen für die Durchführung von Anschlägen aller Art in Verbindung mit den verbalen Vernichtungs-, Zerstörungs- und Entmenschungs-Orgien –, daß er bereit und in der Lage ist, diesen ‚Worten Taten folgen zu lassen‘,127 hat er bereits einen ersten Sieg in der psychologischen Kriegsführung errungen. Der feindliche Adressat des von ihm angekündigten Terrors weiß sich diesem prinzipiell schutzlos ausgeliefert und geht damit partiell seines Weltvertrauens verlustig: Er mag zwar keinen Grund haben, die von den terroristischen Agitatoren in ihrer Größensucht beschworene Revolution zu fürchten, aber er hat allen Grund, sich um seine persönliche Unversehrtheit zu sorgen, weil einige – verwirrte, extremistische usw. – gewaltbereite Individuen in ihrem so dokumentierten Sendungsbewußtsein es genau auf diese abgesehen haben und erwiesenermaßen in der Lage sind, Schaden anzurichten.128 In diesem Sinne ist bereits die terroristische Agitation, nicht erst der 127 Eine ähnliche Formulierung verwendet Netschajew in seiner klassischen Begründung der Propaganda der Tat (vgl. Adler (1898), S. 308). 128 Genau auf dieses psychologische Kalkül reagiert ein von Adler zitiertes „Gesetz gegen die Exzesse der anarchistischen Propaganda“ (Adler (1898), S. 319), das in der Schweiz – mit ihrer großen ‚Expat-Community‘ von exilierten Anarchisten und anderen politischen Flüchtlingen – unmittelbar nach der Ermordung Carnots erlassen wurde: „Dieses bestraft nicht bloss alle, welche Sprengstoff-Attentate vorbe-

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terroristische Anschlag, ein Moment der psychologischen Kriegsführung des Terrorismus.129 Zu diesem Kalkül der psychologischen Kriegsführung gesellt sich aber auch bei Most die Lust an der Zerstörung und am vorgestellten Leid der Unterdrücker, die, wie etwa bei Peukert, vordergründig mit dem emanzipatorischen Ziel gerechtfertigt und in einer brutalen, sozialhygienische Vorstellungen evozierenden Ausrottungsrhetorik artikuliert wird: Adler zufolge dekretierte Most, „der Sieg des Anarchismus könne nur dann ein endgültiger sein, wenn zuvor die Besitzenden mit Stumpf und Stiel ausgerottet seien.“ (S. 312) Konnte man Netschajews ursprünglicher Programmatik der Propaganda der Tat – und ihm darin folgend auch Brousse und Kropotkin – noch zugestehen, daß sie – zynisch genug – den terroristischen Akt als ein besonders geeignetes Mittel empfahl, um die Aufmerksamkeit auf die Ideen des Anarchismus zu ziehen, so erscheint bereits in den Begründungszusammenhängen bei Peukert und Most der Anarchismus immer mehr als ideologischer Vorwand für die Gewaltanwendung als solche. Dabei werden allerdings immerhin die explizit gemachten Motive der Gewaltanwendung – Vernichtung und Demoralisierung des Feindes, Rache und Geldbeschaffung – im Rahmen der anarchistischen Zielsetzung rationalisiert. Mit Ausnahme der Rache dient alles der Revolution und damit der Herbeiführung glücklicher und gerechter Verhältnisse; die Rache erscheint dann als ein legitimer Vorschein dieser Gerechtigkeit, in deren Namen der ‚tätige Propagandist‘ agitiert und agiert. Zudem wird, wie etwa von Peukerts Sozialist proklamiert, auch die – an die Stirnersche ‚Empörung‘ in Adlers Lesart gemahnende – Entfesselung der wilden Instinkte und irrationalen Leidenschaften als energetisches Moment revolutionärer Subjektivität im Volke betrachtet. Insofern kann jeder Verstoß gegen die ohnehin illegitime, herrschende rechtliche wie moralische Ordnung prinzipiell als revolutionäres Movens gerechtfertigt werden. Das Ziel, um dessentwillen Terror, Gewalt und Verbrechen als opportun erscheinen, bleibt aber die revolutionär, also durch Gewalt und Chaos herbeizuführende Anarchie im Sinne einer herrschafts- und gewaltfreien, harmonischen sozialen Ordnung: Auch für Most rechtfertigt sich der ‚GuerillaKrieg‘ nur im Lichte eines – stark sozialistisch geprägten – „Zukunftsideal[s]“, dem Adler „eine[] gewisse[] Originalität“ bescheinigt (S. 312) und das er sogar für die „verhältnismäßig rationellste Form der anarchistireiten [. . .], sondern auch schon diejenigen, welche ‚in der Absicht, Schrecken zu verbreiten oder die allgemeine Sicherheit zu erschüttern, zu Verbrechen gegen die Sicherheit von Personen oder Sachen aufmuntern oder Anleitung geben‘, mit Gefängnis nicht unter 6 Monaten oder mit Zuchthaus“ (S. 319 – H. v. A. S.). 129 Ähnlich, wie bereits die Androhung von Folter gegenüber einem Gefangenen eine Form der Folter ist; vgl. Averesch (2003).

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schen Gesellschaft“ hält (S. 323). In Folge verzeichnet Adler aber in der anarchistischen Agitation eine noch weitergehende Verherrlichung der Gewalt als Selbstzweck, der selbst Most nicht mehr folgen wollte, und sich stattdessen auf seine alten Tage – allerdings wenig erfolgreich – dem Theaterspielen zuwandte, um wenigstens auf diesem Wege, wie Adler hervorhebt, seiner „Eitelkeit und Sensationslust [. . .] Genüge [zu] leisten“ (S. 320).130 Der bereits bei der Einschätzung des ‚herostratischen‘ Nobiling suggerierte ‚individualistische‘ Motivkomplex der Eitelkeit und Sensationslust erweist sich im Verlaufe der 90er Jahre in Adlers Darstellung immer mehr als das eigentlich treibende Motiv anarchistischer Gewalttaten und ihrer Verherrlichung. Demnach fand zum einen „die Eitelkeit des gemeinen Mannes im Anarchismus ihre Befriedigung“ (S. 315). Faktisch unbedeutende und machtlose Individuen imaginieren sich als gefährliche Umstürzler und genießen sich in diesen Größenphantasien. Mit Blick auf die französischen „groupes anarchistes“ mit ihren verwegen klingenden Namen bemerkt Adler, daß „die Mitglieder [. . .] etwa des ‚Panthers von Batignolles‘, des ‚wilden Ebers der Marne‘, der ‚Brandfackel von Belleville‘ [. . .] sich schließlich selbst wie grimme Wärwölfe vorkommen [mussten], bestimmt, dem ‚infamen Kapital‘ den Hals umzudrehen.“ (S. 315) Die Bereitschaft solcher Gruppen, sich mit Taten wie denjenigen Ravachols zu identifizieren, dem es gewissermaßen stellvertretend gelang, die Bourgeoisie zu schockieren, und ihn dafür zu bewundern und ihm nachzueifern, um ein Teil dieser großartigen Bewegung zu sein, trug zur zeitweilig „reissende[n] Verbreitung“ des Anarchismus bei (S. 315). Zum anderen aber leisteten die „Geistesströmungen der neuesten Zeit“, in denen sich die Sensations-, Provokations- und Distinktions-Lust eines bestimmten Typus von jungen Intellektuellen spiegelt, der „Annahme und Verbreitung“ der gewalttätigen „‚anarchistischen‘ Taktik“ in jüngster Zeit, Adler zufolge, Vorschub (S. 325). 130 Wie sehr auch bereits seine Gewaltverherrlichung dieser persönlichen Eitelkeit und Sensationslust geschuldet sein mag, so macht doch Mosts letzte von Adler zitierte Auskunft zum Problem revolutionären Terrors deutlich, daß er diesen nicht als Selbstzweck betrachtete, sondern – freilich extensiv und mit Lustgewinn – nur im ideologisch rationalisierten Rahmen eines strategischen Kalküls zulassen wollte. Offensichtlich in Reaktion auf die Pariser Ereignisse um Ravachol sah sich Most „bemüssigt, abzuwiegeln und namentlich vor einer zu weit getriebenen ‚Propaganda der That‘ zu warnen. ‚Jede That, die Effekt haben soll – schreibt [. . .] Most am 23. IV. 1892 in der ‚Freiheit‘ – muss populär sein, muss von einem beträchtlichen Teile des Proletariats mit Beifall aufgenommen werden. Ist das nicht der Fall oder erregt eine That gar das allgemeine Missfallen jener Bevölkerungskreise, so ist das Resultat umgekehrt, der Anarchismus macht sich verhasst. Jeder, der mittels Thaten propagieren will, übernimmt daher eine schwere Verantwortlichkeit.‘“ (Adler (1898), S. 320).

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„Eine zersetzende litterarische Richtung wie in Frankreich die sog. ‚Décadence‘, die auf neue, unerhörte Sensationen ausgeht, konnte in der Politik nur im Anarchismus ein einigermaßen ausreichendes Ideal sehen und musste so auch ihrerseits Proselyten für die Propaganda der Tat werben. In Deutschland wiederum, dessen jetziger Modephilosoph [Nietzsche] eben die Parole ‚Nichts ist wahr, alles ist erlaubt!‘ in die Welt geschleudert hatte, – durfte man sich nicht wundern, wenn manche Geister im Anarchismus die proletarische Interpretation jener Formel erblickten.“ (S. 325 – H. i. O.)131 Besorgt wurde diese Interpretation in Deutschland von „junge[n] Anarchisten mit akademischer Bildung“, die zum Umfeld des von Gustav Landauer redigierten Berliner Sozialist gehörten, und „die zum Anarchismus auf dem Umwege über – Nietzsche gelangt waren: hier war der Anarchismus der Bastard der widernatürlichen Paarung des demokratischen Radikalismus mit der Lehre vom kraftstrotzenden Individuum, das selbstherrlich nicht Gesetz, noch Recht achtet.“ (S. 318) An dieser Stelle erwähnt Adler Stirner nicht namentlich, allerdings liegt zeitgenössisch die Stirner-Nietzsche-Assoziation generell nahe – bis hin zur Gleichsetzung beider gerade bezüglich ihres Individualismus bei einigen Autoren.132 Insbesondere verweist Adlers Zuspitzung Nietzsches auf die Lehre vom selbstherrlich über Wahrheit und Recht stehenden Individuum auch auf seine eigene Stirner-Interpretation: auf den Einzigen als das jede ideelle Fessel sprengende souveräne Individuum des ‚antimoralischen Anarchismus‘, den ‚Todfeind jedes ethischen Prinzips‘ (vgl. S. 305 f.). Auch die von Adler für diese modischen Geistesströmungen ausgemachte soziale Trägerschicht, die er insbesondere mit Blick auf Frankreich in ihren psychischen und habituellen Dispositionen genauer charakterisiert, bildet eine typische Zielgruppe für Stirner als Boheme-Philosoph.133 Das französische Pendant dieser modischen Spiel-Art des Anarchismus bzw. ein als Resonanzverstärker funktional äquivalenter Individualismus findet sich – selbstverständlich – in Paris, das „deshalb ein ganz besonders günstiges Terrain“ für die Eskalation anarchistischer Gewalttaten und die kultische Verehrung der Täter bot. Denn „gerade dort [gibt es] in der Bour131

Vgl. Nietzsche, KSA 4, S. 340; KSA 5, S. 399. – Hierauf wie generell auf die diskursive Relationierung der ‚Modephilosophen‘ der Jahrhundertwende, Stirner und Nietzsche, unter dem „Epochenwort ‚Individualismus‘“ (Fähnders (1987), S. 12) sowie auf ‚den Individualismus‘ selbst und die in den folgenden Absätzen angesprochenen Zusammenhänge wird ausführlich im nächsten Kapitel zurückzukommen sein. 132 Vgl. z. B. Kropotkin (1902); Türck (1899); Hartmann (1891); Lucchesi (1906). Hierzu ausführlich im folgenden Kapitel, siehe insbesondere VI. 1. und 4. 133 Vgl. Kreuzer (2000); Fähnders (1987); Machinek (1986), S. 97 ff.; Lehner (1988), S. 51 ff.; Asholt/Fähnders (1993b), S. 421 ff. Siehe auch unten, VI. 2.

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geoisie eine breite Schicht blasierter, aber zugleich geistig regsamer und nervös-sensibler Naturen [. . .], welche die ganze Sehnsucht müder Nerven nach neuen, nie empfundenen Reizen haben. Diese Stimmung hat die ‚folie sensationniste‘ erzeugt und ihren litterarischen Ausdruck in der sog. ‚Décadence‘ gefunden, welche die feinsten und heimlichsten Nuancen der Gefühle zu belauschen, den vollen Taumel der Sinne zu erfassen und in alle Geheimnisse der europäischen Seele, zumal soweit sie entartet und krank, einzudringen sucht. Das war die schwüle und mit Miasmen aller Art geschwängerte Atmosphäre, in welcher die Giftpflanze des Anarchismus gedeihen musste. Denn für die ‚dekadente‘, den phosphoreszierenden Glanz der Fäulnis atmende Generation, die nach neuem, unerhörten Sensationen lüstern oder gar von perversen Trieben gepeitscht war, spielte der Anarchismus die Rolle eines geistigen Haschisch.“ (S. 315 – H. i. O.)134 Adler betont den spielerischen Charakter der Verherrlichung anarchistischer Gewalttaten, wie sie effekthascherisch von diesen „junge[n] élégants“ betrieben wurde, die „in den Salons als Leute comme il faut galten“ und die dementsprechend auch die anarchistischen „Versammlungen von Lumpenproletariern nie anders denn in Lackschuhen und mit einer Gardenie im Knopfloch besuchten“ (S. 315). Attentate wurden von diesen ‚Salon-Anarchisten‘ weniger unter dem strategischen Aspekt des – propagandistischen, terroristischen oder direkt revolutionären – Kampfes für die Verwirklichung der Anarchie betrachtet, sondern primär als willkommener und interessanter Anlaß begrüßt, sich durch witzig-geistreiche und provokative Kommentare selbst in Szene zu setzen und so das Interesse auf den eigenen, in der Gewaltverherrlichung zur Schau getragenen Esprit und Nonkonformismus zu ziehen.135 Die Gewaltverherrlichung dient hier demnach weniger der Gewalt-Entfesselung, als vielmehr der Selbst-Inszenierung der großartigen Individualität, die mit der kalkuliert amoralischen Geste ihre Überlegenheit und Unabhängigkeit von der herrschenden – und vor allem: mittelmäßigen – 134

Adler spielt hier möglicherweise mit dem Assoziationsbogen, der sich vom Haschisch über die ‚Haschisch-Leute‘, die Assassinen (arab. Haschîschiyya bzw. Haschîschiyyûn) – die vom 11. bis 13. Jahrhundert aktive orientalische AttentäterSekte des ‚Alten vom Berge‘, denen nachgesagt wurde, sie hätten die Mordanschläge (daher frz. l’assassin, l’assasinat; engl. assassin, assassination) unter Drogeneinfluß begangen – (vgl. Halm (1999), insbes. S. 92), bis zu Nietzsche zieht, der oben mit der Parole ‚Nichts ist wahr, alles ist erlaubt‘ (aus Also sprach Zarathustra) gekennzeichnet wird, die wiederum – auch von Nietzsche selbst – als Motto den Assassinen zugeschrieben wird (vgl. Türck (1899), S. 335; Nietzsche, KSA 5, S. 399; KSA 4, S. 340). 135 In gewisser Weise eine später dann in extenso von den Dadaisten betriebene Individualisierung und Überführung des Grundgedankens der Propaganda der Tat aus dem Bereich physischer Gewalt. Mit den Worten des ‚Oberdada‘ Johannes Baader (1875–1955): Reklame für mich (Baader (1919); vgl. Bergius/Riha (1977), S. 169 ff.; vgl. auch Lehner (1988), S. 199 ff.; Linse (1983), S. 75 ff.).

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Bourgeois-Moral zelebriert. Dabei sind die Anlässe für die Provokationen dieser Individualisten und die weltanschaulichen Materialien ihrer distinktionsbetonten Selbstdarstellungen im Grunde beliebig, vorausgesetzt, sie bieten Gelegenheit, sich vom Juste-Milieu des Bürgers abzusetzen: „Diese Leute wurden Anarchisten wie andere ihrer Gesellschaft Buddhisten, Isisten, Kabbalisten, Satanisten, Magier, Druiden oder ‚Sarsen‘. Bei der ‚dekadenten‘ Bohême war der Anarchismus natürlich im Grunde nur eine geistreich-malerische Pose, eine künstlerisch-kokette Attitüde. Als Typus dieses anarchistischen Dandytums kann Laurent Tailhade, der Dichter der ‚Décadence‘, gelten. Nach dem Bombenattentat Vaillants auf die französische Kammer, unter dem frischen Eindrucke der ruchlosen und zwecklosen That, rief er auf einem Bankett der Gesellschaft ‚La Plume‘ aus: ‚Was scheren uns die Opfer, wenn nur die Geste schön ist? Was kommt’s auf den Tod unbestimmten Menschenvolks an, wenn sich durch ihn das Individuum bekräftigt?‘“ (S. 315 – H. i. O.).136 Geradezu verwerflicher noch als die Gewalt überhaupt erscheint Adler hier die Art ihrer Verherrlichung und die dieser zugrunde liegende individualistische Disposition eitler Beliebigkeit. Allerdings demonstriert der ‚anarchistische Dandy‘ Tailhade mit seinem „ästhetizistisch-individualistische[n] Bonmot“137 zur realen Gewalttat unter ostentativer Mißachtung aller moralischen oder politischen Implikationen seine Überlegenheit nicht nur über die bourgeoise Moral-Konvention, sondern auch seine Distanz zum Objekt seiner Stilisierung, dem anarchistischen Attentäter und seinen Motiven. Denn in dessen Selbstverständnis ist die Botschaft seiner Tat ja gerade kein ästhetizistisches ‚Fiat ars, pereat mundus‘, und auch nicht bloßer Ausdruck seiner eigenen individuellen Selbstherrlichkeit. Tailhade liest Vaillants Attentat also gegen dessen Intentionen – gleichsam ‚gegen den Strich‘138 – und verfügt damit in seiner individuellen Souveränität über den Anarchisten, dessen Tat und dessen Ideale, die er zum Material seines eigenen künstlerischen Gestaltungswillens und seiner Selbstinszenierung macht. Inhaltlich konvergiert dabei Tailhades Interpretation der ‚wahren‘ Bedeutung der Tat – individuelle Selbstbekräftigung des Attentäters auf Kosten 136

‚Sarsen‘ bezieht sich im vorliegenden Zusammenhang möglicherweise auf an Stonehenge (‚Sarsen stones‘) und ähnlichen mutmaßlich keltisch-druidischen KultKontexten orientierte Neopaganisten, was gut zu den anderen Esoterika paßt, die sich ja, wie beispielsweise Kabbalismus und Buddhismus, gerade in jüngerer Zeit wieder einer besonderen Beliebtheit bei der modischen Ausstattung von Individualitätsentwürfen mit Originalität und Spiritualität erfreuen. 137 Kreuzer (2000), S. 309. 138 Kongenial dem Titel des 1884 erschienenen Romans von Joris-Karl Huysmans (1848–1907), À Rebours, der ästhetizistisch-dekadenten ‚Bibel des Fin-de-siècle‘; vgl. Momm (1991).

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der Opfer – der von Adler nahegelegten individualismustheoretischen Erklärung anarchistischer Gewalt schlechthin. Darüber hinaus wird in Tailhades ästhetizistischer Vereinnahmung dieses – vom Täter als politisch-emanzipatorischer Akt gemeinten – Attentates als selbstzweckhaft ‚schöne Geste‘ die ideelle Legitimationsbasis der anarchistischen Propaganda der Tat insgesamt demontiert, der Terrorismus wird gleichsam ideologisch entkernt: In seiner Sinnlosigkeit läßt er sich nur ästhetisch rechtfertigen, nicht durch die hehren Ideale, um derentwillen er Mord und Zerstörung befürwortet. Ihre ästhetizistisch-individualistische Verherrlichung dementiert den humanistischen, universal-emanzipatorischen Anspruch der Tat. Adler würdigt allerdings nicht diese ästhetizistische Subversion der terroristischen GewaltApologetik,139 sondern weist auf die gefährlichen Folgen von verantwortungsloser, aus individualistischer Profilierungssucht geborener Gewaltverherrlichung hin: „Eine solch gesinnungslose Spielerei hatte [. . .] den praktischen Erfolg, dass dem Anarchismus eine Zeit lang espritvolle Federn, künstlerische Talente und nennenswerte Geldsummen zur Disposition gestellt wurden, und dass seine verbrecherischen Gedanken fortwucherten, um bei naiven Gemütern Glauben und bei urteilslosen Tollköpfen Begeisterung zu wecken.“ (S. 315)140 Als beispielhaft für diese Form anarchistischer „Agitation“, die „eine reiche Drachensaat ausstreute, die noch unheimliche Frucht tragen musste“ (S. 317), nennt Adler die seit 1891 in Paris erscheinende Wochenschrift L’Endehors. „Der ‚Endehors‘ war der Sammelplatz jenes anarchistischen Dandytums, das im Strudel des Lebens von Begierde zu Genuss geeilt und nun – von schlimmster Skepsis angefressen – dem zügellosesten Individualismus anheimgefallen war, sich an der Zerstörung als der schönsten Lust bass ergötzte, teils aus Eitelkeit und Cynismus, teils aus künstlerischer 139

Und ohne Rücksicht auf die Ironie in Tailhades Bonmot – die ironische Brechung der politisch-revolutionären Gewaltapologetik durch die ästhetizistische Gewaltverherrlichung – weist Adler hämisch auf die „Ironie der Weltgeschichte“ hin, die es „wollte [. . .], dass bei dieser Explosion“ – gemeint ist hier die von Henry herbeigeführte Explosion im Café Terminus, und nicht diejenige im Foyot, bei der Tailhade, nach Auskunft sowohl Holitschers als auch Plechanows, verwundet wurde (vgl. Holitscher (1925), S. 70; Plechanow (1911), S. 80) – auch „Tailhade, jener Freund der schönen Geste um jeden Preis, schwer verwundet wurde. Im Hospital, wo er nur jammerte und stöhnte, erinnerte ihn ein Wärter an seine intellektuelle Mitschuld. ‚Ach, ich hab‘ solche Schmerzen, wimmerte er, bringen Sie mir Chloral.‘“ (Adler (1898), S. 317 – H. i. O.). 140 Bei aller wirkungsmäßigen Ambivalenz des Tailhadeschen Bonmots wird man es doch fairer Weise nach den von ihm selbst in Anspruch genommenen, d. h. ästhetischen Maßstäben bewerten müssen: daß es nicht moralisch zu verdammen ist, bedeutet noch nicht, daß es geschmackvoll, witzig und geistreich ist; als definitiv abgeschmackt wird man wohl die meisten epigonalen Variationen des Tailhadeschen Originals bewerten können, die das 20. und 21. Jahrhundert hervorgebracht haben.

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Laune, und jetzt die Evolutionen des Anarchismus mit den Grimassen und Kapriolen eines Clown begleitete. So betrieb diese entartete Jugend die Zerstörung alles Bestehenden mit Hussahruf und Hörnerschall als höchsten irdischen Sport und verkehrte den frechen Wahlspruch ‚Nach uns die Sündflut‘ in den noch frecheren ‚Herbei mit der Sündflut‘.“ (S. 316 – H. i. O.) Das anarchistische ‚Hic et nunc‘, mit dem die revolutionäre Herbeiführung der herrschaftsfreien Ordnung als prinzipiell jederzeit erreichbar, weil lediglich vom subjektiven Willen der Unterdrückten abhängig, konzipiert wird – also unter Absehung von objektiven historisch-gesellschaftlichen Entwicklungsgesetzen, wie sie etwa der Marxismus als notwendige Bedingung revolutionärer Veränderung postuliert –,141 wird hier auf den Augenblick der Zerstörung selbst reduziert: Die Vernichtung alles Bestehenden, wie sie, mit unterschiedlichen Emphasen, von Bakunin bis Most als Mittel der Durchsetzung und somit Bedingung der zukünftigen, herrschaftsfreien sozialen Ordnung propagiert wurde, wird hier nun zum eigentlichen Zweck und zur unmittelbaren Wunscherfüllung erklärt. Das Glück der ‚Anarchie‘ soll im Akt der Gewalt selbst ausgelebt werden. Es geht nicht um eine „entfernte bessere Zukunft“, vielmehr könnten „Alle, [. . .] die sich von der Gesellschaft im tiefsten Innern ihres Wesens gepeitscht fühlen“ und „instinktiv den heissen Durst nach Rache“ verspüren, „jene Freude schon heute voll [. . .] geniessen: mit Leidenschaft zerstören (détruire passionnément). [. . .] [W]ir kämpfen nur aus Freude am Kampf und träumen nicht von einer besseren Zukunft. Was scheren uns spätere Jahrhunderte, was unsere Enkel? Den Augenblick wollen wir geniessen, und außerhalb (en dehors) aller Gesetze, aller Regeln und aller – selbst anarchistischer – Theorien wollen wir uns immer nur durch unser Gefühl, unsern Schmerz, unsere Wut und unsern Instinkt leiten lassen, stolz darauf, wir selbst zu sein.“142 In dieser „dekadente[n] Spielart des Anarchismus“ (S. 316) findet Adler jenen Zusammenhang zwischen einem antimoralischen Anarchismus, einem extremen Individualismus und der Verherrlichung von Gewalttaten um ihrer selbst willen affirmativ expliziert. Hier wird im Namen der uneingeschränkten Souveränität des Individuums das unmittelbare Ausleben gerade der rohesten und primitivsten Leidenschaften und Instinkte – Aggressions- und Zerstörungslust, Neid und Ressentiment – als anarchistische Befreiungstat und individualistische Selbstbehauptung eifrig begrüßt. Dabei wird die Verherrlichung der Regression mit Rache- und Vernichtungsphantasien verbunden, die wie die Zitation der ernstgemeinten terroristischen Agitation etwa des Radikal anmuten und diese ins Groteske steigern, so daß – mit einer effektiv ähnlichen Konsequenz wie bei Tailhade – die ideologische Rationali141 142

Vgl. Mannheim (1929), S. 189 f., 195 ff., 205 ff. L’Endehors, zit. n. Adler (1898), S. 316 f. – H. i. O.

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sierungsstrategie anarchistischer Gewalt in ihrer beliebigen, einzig der individuellen Disposition des jeweiligen Täters geschuldeten Feindbestimmung ad absurdum geführt wird. Adler gibt als Beispiel die vom L’Endehors – als das „Tollste“ – betriebene „Verherrlichung des Ausspruches eines spanischen Anarchisten vor seinen Richtern in Xeres: er habe einen Passanten getötet, weil er behandschuht gewesen! ‚Wohlan, Bruder von Xeres – bemerkt der ‚Endehors‘ triumphierend – Du hast Recht gehabt! Der Unbekannte, den Du in Deinem klarsehenden Zorne erschlagen, hatte Handschuhe! An diesem Zeichen erkanntest Du ihn als Feind; Du hast ihn getötet, – und Du hast recht gethan! Lange genug hat Dich die Elite der ‚Zivilisierten‘, deren Joch wir tragen, durch die Strahlen ihres Wissens und ihrer Kleidung, des äusseren Symbols ihrer Ueberlegenheit, geblendet ... Plündere, zerstöre, töte, – und kümmere Dich nicht um das Uebrige [. . .]. Deine Freiheit und damit Dein Glück hängen von Deiner unversöhnlichen Rücksichtslosigkeit gegen alle jene ab, die intellektuell oder materiell über Dir stehen. [. . .] Darum: schlage auf alles, auf Zylinderhut und reinen Dialekt, vor allen anderen auf mich selbst, wenn’s sein muss; wenn Du auch zu Deiner Rechtfertigung nichts anderes hättest als das Prinzip, das jener gläubige General während der Massakres unter den Ketzern von Béziers verkündete: ‚Tötet, so viel Ihr könnt, Gott wird die Seinen schon erkennen.‘ ‘“ (S. 317 – H. i. O.) Es liegt nahe, spätestens in der Wendung, mit der dieser ‚anarchistische Agitator‘ sich selbst seinen Genossen als Objekt destruktionistischer Selbstverwirklichung anpreist (‚wenn’s denn sein muß‘), eine ironische Brechung der Gewaltverherrlichung zu sehen – und ein reflexives Moment des in diesem Zusammenhang propagierten extremen Individualismus.143 Und auch, 143 Diese Wendung ist zugleich ironische Brechung der Gewaltverherrlichung und Reflexion der eigenen Position in einer Welt so verstandener Individualisten. Die für die ernsthaften Apologeten, Agitatoren und Agenten des Terrors und ihre selbstgerechte Größenposition, von der aus sie über Leib und Leben der Anderen verfügen, charakteristische Selbst-Exemption wird hier negiert. Stirner-interpretationsschematisch handelt es sich also hierbei wie auch bei Tailhade um eine Position, die sich als ‚hypothetische All-Einzigkeit‘ oder ‚inwendige Je-Einzigkeit‘ fassen läßt. Der all-einzige Anspruch einer rücksichtlosen Selbstverwirklichung des souveränen Individuums wird unter den Vorbehalt des ästhetizistischen Spiels und der intellektuellen Provokation gestellt und in diesem Sinne ironisiert; und damit wird einerseits der naiv all-einzige Standpunkt der grandiosen Rächer und Revolutionäre demontiert, andererseits die Je-Einzigkeit implizit als KommunikabilitätsBedingung dieser Ironie vorausgesetzt bzw. in der reflexiven Wendung des Endehors (‚Außerhalb‘) – in der er gerade nicht ‚außerhalb‘ bleibt – negativ thematisiert: das Recht auf individuelle Selbstverwirklichung ohne Rücksicht auf Andere proklamieren heißt, auch selbst als Opfer der individuellen Selbstverwirklichung anderer in Frage kommen zu wollen; und weil dies die Konsequenz eines solchen Individualismus unter der Bedingung der Pluralität von Individuen ist, kann bereits die Proklamation dieses Individualismus nicht ernst gemeint sein – es sei denn,

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wenn dies primär als paradoxales Spiel zur Verblüffung der Rezipienten und als dekadenzgerechte Inszenierung der eigenen Untergangssehnsucht gemeint ist,144 so wird hierdurch, wie auch durch die Referenz auf die ‚Massakres von Béziers‘145 die ideologische Legitimationsbasis der anarchistischen Gewalt-Taktik wiederum – ähnlich wie in Tailhades Ästhetizismus – effektiv subvertiert. Dabei mag die Subversion der Gewalt-Apologetik genauso wenig in der Absicht dieser individualistischen Provokateure gelegen haben, wie die Eskalation realer Gewalttaten, die Adler durch das von dem ‚zügellosen Individualismus‘ der Décadence heraufbeschworene Klima begünstigt sieht.146 Adler sieht hier einen direkten Zusammenhang. „Seit 1892 jagten die Attentate einander förmlich, bald Einbrüche, um der anarchistischen Kasse Geld zuzuführen, bald – und zwar wurde dies mit besonderer Vorliebe gepflegt – Dynamitexplosionen zunächst gegen Beamte, dann gegen das Parlament, schliesslich gegen alles ‚mit Zylinderhut und man ignoriert die Faktizität jener Pluralität; dann freilich wäre der Appell des Endehors-Redakteurs, der ‚Bruder von Xeres‘ möge ihn als nächsten erschlagen, nur als absolut selbstnegatorische Unterwerfungsgeste gegenüber einem grandiosen AllEinzigen zu verstehen. 144 Vgl. auch Kreuzer (2000), S. 309. 145 Im Zuge des 1208 von Papst Innozenz III. veranlaßten Kreuzzuges gegen die Albigenser bzw. Katharer töteten Kreuzfahrer im Juli 1209 in der südfranzösischen Stadt Béziers „siebentausend in eine Kirche geflüchtete Frauen, Kinder und Greise, plündern und verbrennen die Stadt, angefangen mit der Kathedrale“ (Le Goff (1965), S. 246 f.). 146 Kreuzer betont die ihrer individualistischen Disposition geschuldete Neigung der Boheme zu politischen Radikalismen jeglicher Couleur generell, aber insbesondere zum Anarchismus (vgl. Kreuzer (2000), S. 301 ff.). Die Begeisterung für die spezifisch terroristischen Ausprägungen radikaler Ideologien deutet Kreuzer auf derselben Linie, und bestätigt damit Adlers individualismustheoretische Sicht. Der von Adler beschriebene Décadence-Anarchismus der Boheme des Fin de siècle erscheint so als Paradigma jeglicher ‚bohemischen‘, möglicherweise auch jeder überhaupt von Intellektuellen betriebenen Verherrlichung politischer Gewalt (so wie die anarchistische Agitation für die ‚Propaganda der Tat‘ paradigmatisch für den modernen Terrorismus, gleich welcher ideologischen Provenienz, ist). In seiner Beschreibung des motivationalen Spektrums nennt Kreuzer neben anderen individualistischen Topoi auch (an erster Stelle) den Stirnerschen ‚Selbstgenuß‘: Die „‚Lust der Zerstörung‘ wurde literarisch ausgekostet, das Attentat, die ‚Propaganda der Tat‘, als eine Form des Selbstgenusses und der Ich-Steigerung, als eine Tat revolutionärer Frömmigkeit, als künstlerische Handlung oder als radikalste Form des Antikonformismus interpretiert und glorifiziert. [. . .] Die Subjektivierung eines Absoluten in der Aggressivität der Terroristen imponierte als extremer Gegensatz zum Juste-Milieu. [. . .] Noch typischer als das unernste, genüßlich-sensationalistische Gedankenspiel mit der Bombe oder das ästhetizistisch-individualistische Bonmot über sie (Qu’importe les victimes si le geste est beau [Tailhade]) ist eine Mischung von Rebellions- und Mitleidsimpulsen (mit viel verhülltem Selbstmitleid), eine Auffassung der Attentäter als soziale Opfer und Märtyrer, in denen der Bohemien sich selber pathetisch feiert und beklagt“ (Kreuzer (2000), S. 309 f. – H. i. O.).

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reinem Dialekt‘. Die Namen Ravachol (1892) – Vaillant (1893) – Henry (1894) bezeichnen diese Etappen. Anfangs jubelten die Anarchisten. Ravachol wurde noch wie ein Heiliger verehrt, und mit ihm in Wort, Schrift und Bild ein förmlicher Kultus getrieben; bei Vaillant stutzte man; nach Henrys Bombe, die im Café Terminus platzte, wurden viele kopfscheu und wollten von dieser ‚Propaganda der That‘ nichts mehr wissen.“ (S. 317) d) Psychopathologie anarchistischer Antisozialität Abseits von allen ästhetizistisch und provokatorisch bedingten Ambivalenzen der rebellisch-unernsten und dennoch in Adlers Sicht folgenreichen Gewaltverherrlichung des anarchistischen Dandytums bzw. des dekadenten Anarchismus der Boheme, und auch abseits von den ideologischen und strategischen Rationalisierungen des Terrors von Netschajew bis Most, sieht Adler schließlich noch eine in London ansässige Gruppe exilierter deutscher „Anarchisten einer Richtung, wie sie so pervers selbst in der Geschichte des Anarchismus noch nicht dagewesen. [. . .] Der bisherige Anarchismus war in seinen extremsten Ausläufern höchstens soweit gegangen, dass er Einbrüche, Raubmorde und andere Verbrechen verherrlichte, wenn sie sich wenigstens den Anschein anarchistischer Akte zum Zwecke der Bereicherung irgend einer Parteikasse gaben. Jetzt aber (seit 1893) gab es eine Gruppe, die direkt den Diebstahl und Einbruch sans phrase, also ohne jeden Nebenzweck, als Rettungsmittel anpries und solchermassen verschiedene anarchistische Spitzbubenzeitungen wie ‚Kommunist‘, ‚Revolutionär‘, ‚Rache‘, ‚Einbrecher‘ u. a. herausgab.“147 Hier wird der Anarchismus endgültig zum Vorwand für die Aufwertung jeglichen antisozialen Verhaltens und für die grandiose Selbststilisierung von Individuen degradiert, die ‚in roher Selbsthilfe‘ auf unmittelbare Wunscherfüllung und Bedürfnisbefriedigung aus sind. Diesen liefert der Anarchismus Feindbilder, die als Projektionsschemata für die Bestimmung von Objekten fungieren, an denen aggressive und destruktive Impulse ungehemmt ausagiert werden.148 Als beispielhaft hierfür betrachtet Adler die ‚Spitzbubenzeitschrift‘ Einbrecher; auffällig ist hierbei der betont unbekümmert-naive, an Kinder-Reimen orientierte sprachliche Duktus, der die regressive Simplizität und den Infantilismus dieses ‚anarchistischen‘ Feindbestimmungs- und Versagungsabwehr-Schemas unterstreicht. „Der wesentliche Inhalt besteht in der Aufzählung einer Reihe grossartiger Einbrüche. ‚Darum auf – heisst es dann weiter – und vorwärts zur individuellen Expropriation mit Dietrich, Brecheisen und Chlo147 Adler (1898), S. 319. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich im vorliegenden Unterabschnitt weiterhin auf Adler (1898). 148 Darin paranoiden Ideologien wie dem Antisemitismus und bestimmten Spielarten des Fundamentalismus strukturanalog und funktional äquivalent einsetzbar.

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roform, die Geldschränke unserer Unterdrücker inspektiert und alles genommen, was einen Wert hat. [. . .] Haut mit Messer und mit Dolch – auf den Polizisten-Strolch! [. . .] Sing‘ von Rache, Kampf und Galgen, – Fackel, Bomben Gift und Dolchen, – Sing‘ von dem Tyrannengrab, – Oder steh‘ vom Singen ab.‘ Und die Zeitung schliesst mit den Worten: ‚Frisch auf! zum Wachs! zum Dietrich! zum Brecheisen! [. . .] zum Dolch! zum Revolver! zum Petroleum! zur Bombe! Feuer!! Hurrah!!!‘ Zur Charakteristik dieser Blätter, die korrekt offenbar nur von einem Psychiater geschildert werden können, gehört übrigens auch, dass ihr sonstiger Inhalt so schmutzig ist, dass davon einen Begriff zu geben ein Ding der Unmöglichkeit ist“ (S. 319 f. – H. i. O.). Bevor Adler zur psychiatrisch-kriminologischen Einschätzung der mit Stirners ‚antimoralischem Anarchismus‘ begonnenen Tradition anarchistischer Gewaltverherrlichung als Experten Richard von Krafft-Ebing hinzuzieht,149 ergänzt er seinen eigenen individualismustheoretischen Ansatz um völkerpsychologische Betrachtungen, um zu erklären, wieso „nicht alle modernen Kulturvölker [. . .] dem anarchistischen Giftpilz die gleiche Möglichkeit der Entwicklung“ gewähren (S. 325). Während beispielsweise die „angelsächsische Rasse“ infolge „ihrer ungewöhnlich praktischen Veranlagung“ gegen den Anarchismus „immun“ ist, ist es angesichts des „heissblütige[n] Naturell[s] des Romanen“, das der „Ausdauer und Entsagung“ fordernden „systematischen Reformarbeit, [. . .] deren Früchte nur langsam reifen, abgünstig ist“, keineswegs erstaunlich, daß die „Chancen“ für das anarchistische Hic-et-nunc gerade in Italien, Spanien und Frankreich „ganz besonders günstig“ liegen (S. 325, vgl. S. 315). „Dort muss das anarchistische Programm, das eine Lösung von so brutaler Einfachheit verspricht, zeitweise eine magische Attraktionskraft ausüben, und da, wo die jäh auflodernde Leidenschaft zu schnellen Akten der Gewalt und des Heroismus führt, muss auch die ‚Propaganda der That‘ den günstigsten Nährboden finden.“ (S. 325) In gewisser Weise sind somit „Temperament und Charakter des Romanen“, dem die Konzeption von der „mit einem Schlage Befreiung“ versprechenden, „plötzlich auflodernde[n] That“ zusagen muß (315 – H. i. O.), besonders empfänglich für die einschlägige Agitation eines „Fanatikers“ wie des russischen „Fürst[en] Krapotkin“, und zwar nicht zuletzt wegen der unsystematisch-aphoristischen Form „seine[r] anarchistischen Abhandlungen“: „fällt doch dem Slaven das methodische Denken schwer!“ (S. 319) Ganz im Gegensatz dazu hat in der (nicht-romanischen) Schweiz, der zeitweiligen Hochburg exilierter Anarchisten, „der Anarchismus unter der einheimischen Bevölkerung nach wie vor keine rechte Wurzel fassen können, was dem 149 Adler bezieht sich außerdem auf Césare Lombroso, vgl. Adler (1898), S. 325 f., 327. Siehe auch oben, IV. 2. a), und unten, VI. 3. b) aa).

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Kenner des schweizerischen Nationalcharakters nicht weiter verwunderlich erscheint.“ (S. 319) Den Sonderfall einer extrem individualistischen Theorie des Anarchismus bei gleichzeitig verhaltener Praxis stellt hingegen Deutschland dar, das nicht nur den terroristischen Agitator Johann Most und die exilierten Redakteure der Londoner ‚Spitzbubenzeitschrift‘ Einbrecher hervorgebracht hat, sondern auch Nietzsche und vor allem: Stirner. Hier „mag zwar der theoretische Anarchismus, schon wegen der zum Grübeln geneigten Natur des Deutschen Anhänger finden, und mancher mag dann vom theoretischen Prinzip der vollkommensten Souveränetät des Individuums zur Rechtfertigung der individuellen Gewaltakte und der rohesten Selbsthilfe fortschreiten.“ (S. 325) Da aber bei den Deutschen „der Weg vom Kopf zum Arm [. . .] lang“ ist, „findet man hier wenig aktive Propaganda der That“ (S. 325 – H. i. O.). Insgesamt kommt Adler zu der Einschätzung, „dass der Anarchismus – zumal seine ‚praktischen‘ Thaten – unmittelbar als eine Erkrankung der Volksseele angesehen werden muss“, und leitet damit zur Diskussion der individual-psychopathologischen Deutungsmuster über (S. 325). Da der Anarchismus „Erscheinungen zu Tage gefördert [hat], deren korrekte Analyse schon in den Bereich der Psychiatrie fällt“, hat „der namhafteste Lehrer dieses Faches, v. Krafft-Ebing, seine Forschungen auch auf das Gebiet des ‚politischen Irrsinns‘ ausgedehnt und hier in erster Linie die Anarchisten berücksichtigt. Er weist darauf hin, daß es unter uns eine Menge Menschen mit intellektuellen, ästhetischen oder moralischen Defekten giebt, die sich zur Rolle der Weltverbesserer berufen fühlen.“ (S. 325 f. – H. i. O.) Derer gibt es nicht wenige, und unter geeigneten Umständen werden sie auffällig und stellen dann eine ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung dar, einerseits wegen ihrer Aggressivität, andererseits wegen ihrer mitunter magnetischen Wirkung auf andere. In diesem Sinne zitiert Adler Krafft-Ebing: „Viele dieser abnormen Menschen verbleiben zeitlebens auf der Stufe politischer Kannegießer, aber diese Stufe ist die Vorstufe zu einer schweren unheilbaren geistigen Krankheit, zur Paranoia expansiva. Leicht geschieht es solchen Individuen, dass sie unter der suggestiven Wirkung anderer oder unter dem Einfluss aufgeregter Zeiten den Rest ihrer Besonnenheit verlieren. Dann fühlen sie sich getrieben, im Sinne ihrer Ideen handelnd aufzutreten ... Bemerkenswert ist, dass solche Volkstribunen, Demagogen und Umsturzmänner in Zeiten hochgehender Gemütserregung die Massen mit sich fortreissen, durch ihre Beredsamkeit, Originaliät und Exzentrizität kaptivieren, durch ihren wahnsinnigen Fanatismus entflammen können“.150 150 Zit. n. Adler (1898), S. 326 – H. i. O. – In diesem Zusammenhang zitiert Adler auch den französischen Senator Ranc, der bezüglich der Attentäter von „eine[r] besondere[n] Neurose, etwas dem Verfolgungswahn Analoges“ spricht. „Der anarchistische Verbrecher glaubt sich jedenfalls von der ganzen Gesellschaft verfolgt.

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So wird mittelbar auch der Einzige als extremer Individualist nicht nur als potentieller politischer Gewalttäter und Fanatiker vorgestellt, sondern – wie bei Panizza (siehe oben, VI. 2.), diesmal aber nicht affirmativ – auch in die Nähe des (potentiell charismatischen) Psychopathen gerückt: der Einzige als prototypische Verkörperung jenes antimoralischen Anarchismus, mit dem Stirner theoretisch die äußersten Konsequenzen aus dem Prinzip der Souveränität des Individuums gezogen hat. Adler gibt zwar bezüglich der psychopathologischen Bewertung des Anarchismus zu bedenken, daß Krafft-Ebings klinischer „Begriff des politischen Irrsinns, unseres Erachtens, nur auf den kleinsten Teil der Anarchisten anwendbar“ ist (S. 326). Dennoch können „bei der Suggestibilität der Massen [. . .] gerade diese Vertreter des Anarchismus den Anstoss zu einer mächtigen Bewegung geben, und der anarchistische ‚Thatendrang‘ kann epidemisch werden.“ (S. 326) Das bereits von Krafft-Ebing angesprochene und auch von Panizza bekannte Motiv der Infektiosität und des Magnetismus des von seiner eigenen Größe eingenommenen, sendungsbewußten Individuums klingt auch bei Adler an, der hier allerdings ausschließlich die destruktive Seite dieser ‚Ansteckung‘ betont, wenn er die „Phasen“ der „anarchistischen Agitation“ beschreibt: „zunächst die laute Agitation für ‚revolutionäre Taktik‘, – dann immer lauteres Geschrei und Empfehlung immer schärferer Mittel, zumal der Propaganda der That, in ihren verschiedenen, sich immer mehr steigernden Formen; die Massen fangen an, auf den Anarchismus aufmerksam zu werden [. . .] – schliesslich [. . .] ein Aufsehen erregender Akt der Propaganda der That, der im anarchistischen Lager lebhaftes Echo findet; die Idee, mit der Bombe die Gebresten der Gesellschaft aus der Welt zu schaffen, steckt die Köpfe, die nur noch eines degenerierten Idealismus fähig sind, an; und so führt die Suggestibilität zahlreicher Individuen zu einer häufigeren Nachahmung jenes ruchlosen Aktes, so dass die Attentate Schlag auf Schlag folgen.“ (S. 326) Diese pathologischen Auswüchse des Anarchismus als ‚Erkrankung der Volksseele‘ lassen sich daher vor allem durch zwei Arten von Maßnahmen unterbinden. Zum einen empfiehlt Adler, durch „Präventivmaßregeln“, nämlich durch die konsequente strafrechtliche Verfolgung und Unterdrükkung der anarchistischen Agitation für Gewalt und Terror – nicht der theoretischen Publikationen zur „Herrschafts- und Staatenlosigkeit als Ideal“ – die „anarchistische Giftquelle [zu] verstopf[en]“ (S. 326). Zum andern aber sieht Adler die „energische[] Fortführung der sozialen Reform“ als unabdingbar an, „welche vor allem die verzweifelnden Haufen der unverschulDarum ist es ihm gleich, welche Brust durch die Splitter seiner Bombe zerrissen wird. [. . .] Dazu kommt eine ungeheure Eitelkeit, eine Art Grössenwahn, der Herostratismus.“ (Adler (1898), S. 326).

3. Konjunkturen, Konstruktionen und Konturierungen des Anarchismus

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det Arbeitslosen zu versorgen streben muss.“ (S. 327) Dies allein ist „das wahre Heilmittel gegen alle anarchistischen Umsturzbestrebungen“, auch wenn „[v]ereinzelte[] anarchistische[] Verbrechen [. . .] trotz alledem sich auch später noch ereignen können“ (S. 327); diesen wäre dann aber zumindest der soziale Resonanzboden soweit entzogen, daß die Gefahr einer ‚epidemischen‘ Ausbreitung entfällt. Der anarchistische Gewaltakt wäre dann, ob als Ausdruck ‚politischen Irrsinns‘ oder als Konsequenz eines ‚extremen Individualismus‘, eine soziale Randerscheinung. Dem Anarchismus wäre sein sozialrevolutionäres Potential genommen, er wäre nur noch ein übersteigerter Individualismus. Und als solcher wäre er in Adlers Kalkül nur noch für wenige überspannte Intellektuelle und Künstlernaturen von Interesse, vielleicht wäre er auch noch der Selbststilisierung von Verbrechern und anderen antisozialen Charakteren dienlich, aber nicht mehr massenkompatibel.

3. Konjunkturen, Konstruktionen und Konturierungen des Anarchismus und seiner Antisozialität im wissenschaftlichen Diskurs der Jahrhundertwende So wie die Attentate, insbesondere diejenigen der Pariser ‚Dynamiteurs‘, auf der ereignisgeschichtlichen Ebene für die Wahrnehmung des Anarchismus zur Zeit der Stirner-Renaissance prägend waren, waren Adlers Handbuch-Artikel für den wissenschaftlichen Anarchismus-Diskurs ein wichtiger Bezugspunkt. Diskursgeschichtlich sind sie daher von exemplarischer Bedeutung. Als enzyklopädische Überblicksdarstellungen waren sie formal dazu bestimmt, in repräsentativer Weise einen Überblick über den wissenschaftlichen Kenntnisstand zum Anarchismus zu geben. Dementsprechend tauchen sie auch regelmäßig als Standard-Referenz in den wissenschaftlichen Apparaten anderer Autoren auf.151 Auch inhaltlich spiegeln Adlers 151 Vgl. z. B. Stammler (1894), S. 27, und Zenker (1895), S. VI, 253 – dieser zitiert auch jenen (vgl. Zenker (1895), S. 84 f.) –, die wiederum, zusammen mit Plechanow (1894) (im vorliegenden Zusammenhang nach der unveränderten dritten Auflage, Plechanow (1911), zitiert) bei Adler (1898), S. 327, aufgenommen sind, der sich seinerseits, wiederum neben Stammler (1894), Plechanow (1894) und Zenker (1895) in Eltzbacher (1900), S. VII, X ff., 2 ff., findet. Letzterer wird von Kropotkin in seinem Anarchism-Artikel für die 11. Auflage der Encyclopædia Britannica als „[t]he best work on Anarchism, and in fact the only one written with full knowledge of the Anarchist literature“ gewürdigt; unmittelbar im Anschlußsatz bemerkt Kropotkin über „Prof. Adler’s article ‚Anarchismus‘“, dieser sei „less accurate for modern times than for the earlier periods“ – eine verständliche Retourkutsche des russischen Fürsten Kropotkin gegen Adler – gerade in der Kontrastierung zu Eltzbachers Buch, das in fast alle „chief European languages“, aber bedauerlicherweise ausgerechnet ins Englische noch nicht übersetzt sei (Kropotkin (1910),

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V. Der Einzige, der Anarchismus und die Gewalt

Artikel – die sehr viel ausführlichere aktualisierte Fassung von 1898 mehr noch als die erste Fassung von 1890 – das zeitgenössische Problembewußtsein bezüglich des Anarchismus als eines relevanten gesellschaftlichen Phänomens wider, das einerseits mit Verbrechen und Terrorismus in Zusammenhang steht und somit eine gefährliche antisoziale Seite hat, das aber andererseits als politische Ideologie bzw. Idee nach Ansicht der meisten Experten allzu häufig in der öffentlichen Wahrnehmung auf jene Destruktivität reduziert wird.152 Rudolf Stammler beispielsweise beginnt 1894 seine Abhandlung über Die Theorie des Anarchismus mit den Worten: „Die sich mehrenden Mordanschläge und verbrecherischen Attentate, die in neuester Zeit von anarchistischer Seite ausgegangen sind, haben in weiten Kreisen die Vorstellung erwecken müssen, als ob man es beim Anarchismus nur mit einer Bande halbverrückter und vertierter Fanatiker zu thun habe. Es ist ganz in Vergessenheit gerathen – oder vielleicht niemals besonders weit bekannt geworden – daß es eine Theorie des Anarchismus giebt, welche [. . .] von diesen jetzigen Anarchisten nicht sowohl in eine fluchwürdige Praxis umgesetzt, als vielmehr in sich ganz und gar verzerrt und widersinnig gelehrt wird“.153 Symptomatisch für den in den zeitgenössischen Sozialwissenschaften wahrgenommenen theoretischen Differenzierungsbedarf in der Betrachtung des Anarchismus ist auch das von dem Hallenser Rechtswissenschaftler Paul Eltzbacher in seiner schlicht Der Anarchismus betitelten Studie aus dem Jahre 1900 vorgelegte Klassifikationsschema zur vollständigen begrifflichen Erfassung des Anarchismus und seiner Arten.154 Eltzbacher stellt hier – in einem „innerlich feindliche[n], aber in der Ausführung korrekt genaue[n] Buch“155 – die Lehren ausgewählter Autoren dar, die allgemein unter ExS. 919) –, der Kropotkin ja nicht nur als ‚düsteren Fanatiker‘ charakterisiert hatte, sondern mit Blick auf dessen theoretisches Werk überdies angemerkt hatte: „fällt doch dem Slaven das methodische Denken schwer!“ (Adler (1898), S. 319) Eltzbacher dagegen stellt „die von glühender Menschenliebe erfüllten Ausführungen Kropotkins“ dem „wirre[n] Gerede Bakunins“ und den „selbstgefälligen Klügeleien Stirners“ gegenüber (Eltzbacher (1900), S. 15). Auch Zenker (1895) findet bei Kropotkin Erwähnung (vgl. Kropotkin (1910), S. 919). 152 Siehe ausführlich unten, VII. 2., für die Betrachtung der sozialprogrammatischen bzw. -theoretischen Anschauungen des Anarchismus und insbesondere Stirners nach dem Interpretationsschema der Je-Einzigkeit, wo neben den im Folgenden genannten Autoren Stammler und Eltzbacher u. a. auch Georg Adler mit einer entsprechenden Stirner-Deutung nochmals zu Wort kommt. 153 Stammler (1894), S. 1 – H. i. O. Vgl. v. a. auch Zenker (1895), S. V; Eltzbacher (1900), S. 2 f., 261 f., 271; Kropotkin (1910), S. 916 f.; vgl. aber auch Plechanow (1911) für eine gegenüber dem Anarchismus weniger wohlwollende Betrachtung jenes Zusammenhanges; siehe hierzu ausführlich unten. 154 Vgl. Eltzbacher (1900), S. 6 ff., 258 ff. 155 Nettlau (1932), S. 223.

3. Konjunkturen, Konstruktionen und Konturierungen des Anarchismus

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perten als herausragende Vertreter des Anarchismus gelten, und analysiert diese jeweils im Hinblick auf ihre theoretischen Grundlagen, ihr Verhältnis zu Recht, Staat und Eigentum, sowie ihre Konzeption der Verwirklichung der Anarchie.156 Aufgrund der damit gewonnenen begrifflichen Unterscheidungen charakterisiert Eltzbacher beispielsweise Stirners Lehre als: ‚kritisch-eudämonistisch-egoistischen‘, ‚anomistischen‘, ‚spontanistischen‘, ‚indoministischen‘ und ‚revolutionär-insurgenten‘ Anarchismus, wobei sich „revolutionär“ – im Unterschied zu „reformatorisch“ – auf die „Verletzung von Rechtsnormen“ des gegenwärtigen „verneinten Zustandes“ bezieht und „insurgent“ dabei – im Gegensatz zu „renitent“ – die „Anwendung von Gewalt“ bezeichnet.157 In diesem Sinne ‚revolutionär‘ und „[i]nsurgent sind die Lehren von Stirner, Bakunin und Kropotkin; und zwar denken sich Stirner und Bakunin nur den Übergang [zum bejahten Zustande] selbst unter Anwendung von Gewalt, Kropotkin aber auch dessen Vorbereitung (Propaganda der That).“158 In der Grundtendenz bestätigt also Eltzbacher in der Gewaltfrage Georg Adlers dargelegte Einschätzung sowohl Stirners als auch Bakunins und Kropotkins. 156

Vgl. Eltzbacher (1900), S. 11 ff., 244 ff. Eltzbacher (1900), S. 255 f. – „Kritisch“ meint in begründungstheoretischer Hinsicht normativ, im Gegensatz zu quasi-‚naturgesetzlichen‘ Ableitungen wie denjenigen Bakunins und Kropotkins, die Eltzbacher als „genetisch“ bezeichnet; „eudämonistisch“ meint glücksorientiert, im Gegensatz zu „idealistisch“ im Sinne von pflichtorientiert; der Gegenbegriff zu „egoistisch“ ist, ganz geläufig, „altruistisch“, bezeichnet aber bei Eltzbacher inetwa das, was andere Autoren auch – unschärfer – als „individualistisch“ fassen, während Eltzbacher das Prädikat „individualistisch“ nur – im Unterschied zu „kollektivistisch“ und „kommunistisch“ – zur Bezeichnung von Eigentumsverhältnissen verwendet wissen will. Demnach ist gerade Stirner für ihn kein „individualistischer“ Anarchist, weil er Eigentum schlechthin negiere (Eltzbacher (1900), S. 94 ff., 252) – ‚Eigentum‘ verstanden freilich als Rechtstitel – und in diesem Sinne „Indominist“ ist; nur die Eigentum grundsätzlich bejahenden, ‚doministischen‘ Lehren werden in „individualistische“, „kollektivistische“ und „kommunistische“ eingeteilt. „Anomistisch“ meint: das Recht grundsätzlich, auch im zukünftig angestrebten Idealzustand verneinend, im Gegensatz zu „nomistisch“; mit dieser auf das Recht in der anarchistischen Ordnung verbundenen Unterscheidung praktisch deckungsgleich ist die von „spontanistisch“ und „föderalistisch“; letzteres bezeichnet einen auf freiwilligen Rechtsverhältnissen beruhenden nichtstaatlichen Zustand, ersteres „ein geselliges Zusammenleben der Menschen ohne jedes Rechtsverhältnis“ (S. 250, vgl. S. 244 ff.). Die Unterscheidungen bezüglich des Eigentums (indoministisch/doministisch) und des Rechts (anomistisch/nomistisch) sind Eltzbacher zufolge keine notwendigen, und demnach auch keine spezifischen Bestimmungen der Arten des Anarchismus, insbesondere die gängige – eigentumsbezogene – Einteilung in ‚individualistisch‘, ‚kollektivistisch‘ und ‚kommunistisch‘ ist demnach nebensächlich (vgl. S. 268 f.); entscheidend sind für ihn die Begründungsebene, die Konzeption des allen Anarchismus-Arten gemeinsamen nicht-staatlichen Zustandes und die Strategien der Verwirklichung dieses Zustandes. – Siehe auch unten, VII. 2. a). 158 Eltzbacher (1900), S. 256. 157

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V. Der Einzige, der Anarchismus und die Gewalt

Aber nicht nur bezüglich der Gewalt-Thematik zeigen Adlers Artikel insgesamt einen breiten Ausschnitt aus dem Thematisierungsspektrum des Anarchismus im zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskurs. Das betrifft zunächst die in diesem Zusammenhang als Haupt-Theoretiker des Anarchismus namentlich genannten und diskutierten Autoren, von Godwin159 und Proudhon über Bakunin und Kropotkin bis zu Tucker160 – und eben auch Stirner;161 dazu kommen regelmäßig die besonders radikalen Agitatoren von Netschajew bis Most, sowie prominente zeitgenössische Publizisten und Aktivisten wie Kropotkins Freunde und Mitstreiter Élisée Reclus, Errico Malatesta und Carlo Cafiero.162 Stirner wird um die Jahrhundertwende im wissenschaftlichen Diskurs über den Anarchismus typischerweise entweder als herausragender Theoretiker einer bestimmten Variante des Anarchismus behandelt, wie z. B. in Adlers zweitem Artikel und Eltzbachers Monographie zum Anarchismus. Oder er wird sogar als insgesamt für die anarchistische Theorie paradigmatisch vorgestellt, etwa bei Zenker und Plechanow, die unten noch ausführlicher zu betrachten sind. Ebenfalls in diesem Sinne verwendet Rudolf Stammler zu Beginn seiner Abhandlung Stirnersche Kategorien, um den Anarchismus definitorisch vom Sozialismus abzugrenzen: Demnach wendet sich der Sozialismus „gegen den Inhalt des bestehenden Rechts, vor allem gegen das überlieferte Privateigentum an den Produktionsmitteln [. . .] Ganz anders der Anarchismus. Er wendet sich 159

William Godwin (1756–1836) gilt für seine Enquiry concerning the Principles of Political Justice, and its Influence on General Virtue and Happiness (1793) gemeinhin als erster Theoretiker des Anarchismus, auch wenn er den Begriff der Anarchie bzw. des Anarchismus nicht verwendet hatte – dieses Verdienst kam Proudhon zu – (vgl. Neumann (2000), S. 165), und wird als solcher in den meisten der hier behandelten einschlägigen Texte aufgeführt. – Außerdem war Godwin der Vater der Frankenstein-Schöpferin Mary Wollstonecraft Shelley (1797–1851) und dementsprechend Schwiegervater von Percy Bysshe Shelley (1792–1822), dem Schöpfer der „unvergleichliche[n] ‚Ode to the West Wind‘, eines der schönsten und kunstvollsten Gedichte der englischen Sprache.“ (Gelfert (2005), S. 210). 160 Benjamin R. Tucker (1854–1939) propagierte seit Beginn der 1880er Jahre von Boston aus mit seinem Journal Liberty die amerikanische Spielart eines Individualanarchismus, wie er auch von seinem Freund, dem Stirner-Wiederentdecker John Henry Mackay propagiert wurde; siehe auch unten, VI. 3. a) cc). Tucker zeichnet auch für die erste amerikanische Ausgabe des Einzigen von 1907, The Ego and His Own, verantwortlich. Vgl. Adler (1898), S. 314; Helms (1966), S. 358 f., 513; Neumann (2000), S. 173 f. 161 Im Zusammenhang mit Stirner wird auch Nietzsche von den Anarchismus-Experten oft erwähnt, aber in der Regel als dem Anarchismus im engeren Sinne nicht zugehörig klassifiziert (vgl. z. B. Zenker (1895), S. 154 f.; Kropotkin (1910), S. 917 f.). Siehe auch unten, VI. 4. 162 Vgl. Adler (1890) u. (1898); Zenker (1895); Eltzbacher (1900); Kropotkin (1910); Plechanow (1911). Stammler (1894) konzentriert sich vor allem auf Proudhon und Stirner.

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gegen die rechtliche Zusammenfassung überhaupt [. . .] er feindet das Bestehende an, weil überhaupt eine Zwangsorganisation da ist. [. . .] Recht und Gerechtigkeit sind nur Hirngespinste; es sind Illusionen, denn alle angebliche rechtliche Anordnung kann gar nichts anderes sein als rohe Macht jeweiliger Machthaber.“163 Mit Stammlers sehr stark an Stirner orientierter Anarchismus-Definition ist ein weiterer diskursiver ThematisierungsSchwerpunkt neben der Gewalt-Problematik und damit der strategischen Ebene der ‚anarchistischen Taktik‘ angesprochen: die Frage nach der ideellen Identität des in so vielen unterschiedlichen Ausprägungen, u. a. in ‚idealistischen‘, ‚antimoralischen‘, ‚kollektivistischen‘, ‚kommunistischen‘, ‚dekadenten‘ Varianten beobachteten Anarchismus. Typischerweise werden drei, auch bei Adler deutlich erkennbare Elemente zur Identitätsbestimmung des sozialen Phänomens ‚Anarchismus‘ herangezogen: die sozialrevolutionäre Ideologie, der Individualismus und der Antietatismus. Diese drei Elemente tauchen regelmäßig in allen wissenschaftlichen Analysen auf, allerdings in unterschiedlichen Gewichtungen. Stammler und Eltzbacher beispielsweise deuten den Anarchismus bezüglich seiner ideellen bzw. theoretischen Identität als – wissenschaftlich prinzipiell berechtigte und logisch sinnvolle – „rechtsphilosophische“ Position der „Verneinung des Staates“164 bzw. als „radikalste[n] Skeptizismus in Sachen der Rechtsordnung“165 und betonen so den Antietatismus, ohne dabei den Individualismus und den sozialrevolutionären Anspruch des Anarchismus in Frage zu stellen. Zenker, Plechanow und, wie dargestellt, Georg Adler erklären den Individualismus zum identitätsbestimmenden ideellen Prinzip des Anarchismus, allerdings, wie bezüglich Zenkers und Plechanows noch zu zeigen sein wird, mit je unterschiedlichen Erklärungsansätzen und verschiedenen Konsequenzen, sowohl in der Bewertung des Gesamtphänomens als auch bezüglich einzelner Autoren, insbesondere auch in der Deutung des Einzigen. Der Antietatismus und die sozialrevolutionären Ambitionen des Anarchismus erscheinen hier als Folge und Ausdruck der utopistischen Übersteigerung des individualistischen Prinzips. Kropotkin, der seinerzeit unbestrittene Führer und bis heute anerkanntermaßen profilierteste Theoretiker des kommunistischen Anarchismus bzw. anarchistischen oder libertären Kommunismus,166 akzentuiert den sozialrevolutionären Anspruch des Anarchismus in besonderer Weise. Durch diese 163

Stammler (1894), S. 2 f. – H. i. O. Eltzbacher (1900), S. 266. 165 Stammler (1894), S. 36. 166 Vgl. Neumann (2000), S. 190 ff.; Göhler/Klein (1993), S. 595 ff.; Lösche (1986), S. 438 f.; Oberländer (1972), S. 221 ff.; vgl. auch Kropotkin (1892) und Kropotkin (1910), S. 918. 164

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stärkere Betonung einer spezifisch antikapitalistischen Stoßrichtung grenzt er sich einerseits von den letztgenannten Deutungen ab, die teils den Anarchismus als ‚bürgerlich-utopistischen‘ Individualismus denunzieren (Plechanow), teils den ‚wahren‘ individualistischen Anarchismus gegen den kollektivistischen und kommunistischen Anarchismus polemisch ausspielen und die letztgenannten Spielarten faktisch aufgrund ihrer ‚anti-individualistischen‘ Tendenzen aus dem Anarchismus ausgrenzen (Zenker). Andererseits dient bei Kropotkin der sozialrevolutionäre Antikapitalismus auch zur Abund Ausgrenzung von bestimmten ‚bürgerlichen‘ Formen des Individualismus, während das individualistische und antietatistische Moment polemisch auch gegen den ‚autoritären Sozialismus‘ gerichtet ist. In seinem Anarchism-Artikel für die Encyclopædia Britannica definiert Kropotkin zu Beginn „Anarchism“ als „contrary to authority“, nämlich „a principle or theory of life and conduct under which society is conceived without government“. In dieser herrschaftsfreien, insbesondere in Fragen von „production and consumption“ auf „free agreements“ beruhenden Sozialordnung werde der Mensch „be able to reach full individualization, which is not possible either under the present system of individualism, or under any system of state-socialism“. Dabei betont er, daß „Anarchist writers consider, [. . .] that their conception ist not a Utopia“, sondern Ergebnis der wissenschaftlichen Analyse realer historisch-gesellschaftlicher Prozesse. „In common with most Socialists, the Anarchists recognize that, like all evolution in nature, the slow evolution of society is followed from time to time by periods of accelerated evolution which are called revolutions; and they think that the era of revolutions is not yet closed.“ Der Anarchismus ist demnach primär definiert als sozialrevolutionäre Bewegung und Theorie, die „capitalism altogether“ bekämpft, aber auch „with the same energy the state, as the main support of that system.“167 Mit diesem sozialrevolutionären (Selbst-)Verständnis des auf wohlverstandene ‚Individualisierung‘ zielenden Anarchismus grenzt Kropotkin den vermeintlichen ‚individualistischen Anarchismus‘ als faktisch ‚liberalen‘ bzw. ‚bürgerlichen Individualismus‘ aus,168 während der Antietatismus insbesondere der Abgrenzung von den ‚autoritären Sozialisten‘ dient; in diesem Sinne sind die Anarchisten „the left wing“169 des Sozialismus. Ein weiterer, exemplarisch an Adlers Artikeln sichtbarer inhaltlicher Schwerpunkt in den wissenschaftlichen Anarchismus-Beobachtungen der Jahrhundertwende ist schließlich die Diskussion der unterschiedlichen wissenschaftlichen Ansätze zur Erfassung des Phänomens, in der sich einer167 168 169

Kropotkin (1910), S. 914 – H. i. O. Vgl. Kropotkin (1910), S. 916 f. Kropotkin (1910), S. 914.

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seits der Diskurs selbst thematisiert und in der andererseits je spezifische Deutungsangebote zur Erklärung des Anarchismus in seinen unterschiedlichen ideologischen und sozialphänomenologischen Facetten nahegelegt werden. Bei Georg Adler, dem historisch-materialistisch informierten Nationalökonomen,170 überwiegt, vor allem in der 1890er Erstfassung des Artikels, die ökonomisch-sozialwissenschaftliche Perspektive, die aber in der 1898er Fassung, neben zeitdiagnostischen und geistesgeschichtlichen Erweiterungen, um die seinerzeit beliebten kriminologisch-psychopathologischen und völkerpsychologischen Erklärungsansätze ergänzt wird. Letztere finden sich, wie noch zu sehen sein wird, auch bei Zenker, während die Juristen Stammler und Eltzbacher beide die anarchistische Theorie als rechtsphilosophische Position rekonstruieren und dabei einen, wie Stammler mehrfach betont, ‚sozialwissenschaftlichen‘ Geltungsanspruch formulieren bzw., wie Eltzbacher für sich in Anspruch nimmt und auch dem Kollegen Stammler zubilligt, die disziplinären Perspektiven von „Rechtswissenschaft, Wirtschaftslehre und Philosophie“171 vereinigen. Im Unterschied zu diesen quasi interdisziplinären Ansätzen nimmt der Marxist Plechanow den Anarchismus monistisch vom Standpunkt des ‚wissenschaftlichen Sozialismus‘ in den Blick, von dem aus sich alle psychologischen oder sonstigen ergänzenden Perspektiven erübrigen. Daß generell die verschiedenen Autoren bezüglich der gleichen Thematisierungen unterschiedliche Akzentuierungen und Bewertungen vornehmen, zeugt, vor allem dort, wo sie sich explizit gegenseitig aufeinander beziehen (egal, ob zustimmend oder kritisch), von der Einheit dieses wissenschaftlichen Diskurses über den Anarchismus und damit auch von der semantischen Exemplarizität der diesem angehörenden Texte. Offenbar waren beispielsweise die psychopathologische Thematisierung des Anarchismus, der damit verbundene klinische Terminus des ‚politischen Irrsinns‘, die Behandlung von Terroristen und Fanatikern als extreme Individualisten oder auch die Klassifizierung Nietzsches – und Stirners – als Anarchisten diskussionswürdige und insoweit plausible Angebote zur Deutung der sozialen Realität, auch wenn nicht jeder wissenschaftliche Experte jeder einzelnen dieser Deutungen zustimmen mußte. In gleicher Weise gilt dies für die in diesem diskursiven Feld vorgenommenen Deutungen Stirners und die damit verbundenen Individualidentitätsangebote: daß Stirner in irgendeiner Beziehung zum Anarchismus – wie auch zum Individualismus – steht, war ebenso unbestritten wie beispielsweise die Tatsache, daß der Anarchismus eine destruktive Seite hat. 170 Georg Adler hatte 1887 Die Grundlagen der Karl Marxschen Kritik der bestehenden Volkswirtschaft veröffentlicht, ein typisches Zeugnis der seinerzeit beginnenden akademischen Marx-Rezeption (vgl. Kallscheuer (1986), S. 519). 171 Eltzbacher (1900), S. 3 f.

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V. Der Einzige, der Anarchismus und die Gewalt

Was für ein Anarchismus bzw. Individualismus von Stirner propagiert wird und für welche Individualidentitätsangebote der Einzige steht, wird innerhalb des Kontingenzspielraumes, den der wissenschaftliche Diskurs über den Anarchismus erzeugt, unterschiedlich interpretiert. Nicht alle Anarchismus-Experten rechnen, so wie Adler und Eltzbacher, Stirner explizit der anarchistischen Gewalt-Tradition zu, und einige, beispielsweise Stammler und Zenker, nehmen ihn ausdrücklich davon aus, wobei letzterer allerdings, wie sogleich näher zu betrachten sein wird, dennoch spezifisch antisoziale Züge des Einzigen hervorhebt und ihn diesbezüglich nach dem Interpretationsschema der All-Einzigkeit deutet. Dagegen deuten Stammler und Eltzbacher, trotz gegensätzlicher Auskünfte zur Gewaltbereitschaft des Einzigen, diesen doch beide gleichermaßen nach dem Interpretationsschema der JeEinzigkeit.172 Stammler bezeichnet Stirner sogar als Begründer des „sozialen Anarchismus“173 und sieht in dessen „Verein von Egoisten“174 das Paradigma der als ‚Anarchie‘ projektierten sozialen Organisationsweise, die „Ordnung im menschlichen Zusammenleben und [. . .] Harmonie des gesellschaftlichen Daseins“175 auf der Basis von „Konventionalregel[n]“ garantieren soll.176 Und Eltzbacher betont – darin besteht in seiner Terminologie der ‚kritische‘ (d. h. normative) ‚egoistische Eudämonismus‘ des Stirnerschen Anarchismus –, daß „[n]ach Stirner [. . .] für jeden von uns sein eigenes Wohl höchstes Gesetz“ ist:177 „Ein jeder von uns ist ‚einzig‘“.178 Für die soziale Durchsetzung dieses Anspruchs ist Stirner Eltzbacher zufolge gleichwohl in bedenklicher Weise bereit, antisoziale Impulse zu mobilisieren und destruktive Energien zu entfachen: im sozialrevolutionären „Kampfe“ ist „Stirner jedes Mittel recht“.179 Die Landsleute Kropotkin und Plechanow dagegen stellen – aus jeweils ähnlichen Gründen, aber von in ihren Selbstverständnissen entgegengesetzten ideologischen Positionen – den sozialrevolutionären Anspruch und emanzipatorisch-antibürgerlichen Gehalt des Stirnerschen Individualismus 172

Siehe hierzu ausführlich unten, VII. 2. a) aa) und bb). Stammler (1894), S. 18. 174 Stammler (1894), S. 19. 175 Stammler (1894), S. 4. 176 Stammler (1894), S. 23. – Die Ordnung der Konventionalgemeinschaft beruht demnach auf der Freiwilligkeit des Zu- und Austritts und damit auf der freiwilligen Befolgung der „Konventionalnormen“, im Unterschied und Gegensatz zu der von den Anarchisten abgelehnten ‚gesatzten Rechts-Ordnung‘, die durch „Rechtszwang“ zustande kommt (Stammler (1894), S. 20 ff., bes. S. 26, vgl. S. 39 ff.). – Siehe hierzu und generell zur je-einzigen Anarchismus-Deutung ausführlicher unten, VII. 2. a) und 3. a) aa). 177 Eltzbacher (1900), S. 84 – H. i. O. 178 Eltzbacher (1900), S. 87. 179 Eltzbacher (1900), S. 99. 173

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schlechthin in Frage und betonen generell die antisozialen Implikationen des Einzigen. Deren im nächsten Abschnitt näher zu betrachtende Stirnerund Anarchismus-Interpretationen runden, zusammen mit den zunächst zu behandelnden Auskünften Zenkers, das im Anarchismus-Diskurs180 konstruierte Bild von den antisozialen und destruktiven Aspekten des (All-)Einzigen ab – und beleuchten damit zugleich dessen Beobachter. a) Ernst Zenker Ernst Victor Zenker181 deutet in seinem Buch Der Anarchismus. Kritische Geschichte der anarchistischen Theorie (1895) den Anarchismus als individualistisches Phänomen, so wie Adler, dessen Artikel er positiv hervorhebt und mit dem er in vielen Hinsichten übereinstimmt.182 „Die ‚Anarchie‘ bedeutet der Idee nach die vollständige, unbeschränkte Selbstherrschaft des Individuums und sonach die Abwesenheit jeglicher Fremdherrschaft. Diese Grundformel, welche im Wesen allen wirklichen und eigentlichen Anarchisten der Theorie gemeinsam ist, enthält alles, was nur irgend zur Kennzeichnung dieser merkwürdigen Geistesrichtung nötig ist.“ (S. 3) Anders als Adler versteht er den extremen Individualismus des Anarchismus aber nicht als zugespitzten Ausdruck eines dominanten individualistischen Zeitgeistes, sondern, im Gegenteil, als Opposition und – in gewisser Weise auch wünschenswertes – Korrektiv gegenüber der zeitgenössischen Vorherrschaft kollektivistischer Tendenzen in allen gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen, den „centralistische[n] Zug und de[n] coercitive[n] Charakter der Vergesellung“, für den der Vormarsch des „alles verheerenden Socialismus“ (S. 212), neben entsprechenden „militaristischen“ und „auf Bevormundung [. . .] hinstrebenden“ Tendenzen des Staates (S. 210), nur ein, allerdings besonders bedrohliches Beispiel ist (vgl. S. 210 ff.). aa) ‚Freiheit statt Sozialismus‘: das individualistische Ideal Zenker, der ausdrücklich „kein Hehl aus meiner Gegnerschaft gegen den Anarchismus“ macht,183 spricht diesem wegen der antikollektivistischen 180 Die Antisozialität des Einzigen hebt besonders drastisch beispielsweise auch der im Kontext des Stirner-Nietzsche-Diskurses zu betrachtende Hermann Türck hervor; siehe unten, VI. 4. b) ee). 181 Max Nettlaus Auskunft zufolge ein Wiener Journalist, der hiermit ein „unzulängliche[s] Buch“ vorgelegt hat (Nettlau (1932), S. 223). 182 Vgl. Zenker (1895), S. VI. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich in diesem Unterabschnitt ebenfalls auf Zenker (1895). 183 Zenker (1895), S. VII. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich in diesem Unterabschnitt weiterhin auf Zenker (1895).

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Stoßrichtung gar eine „Culturmission“ zu (S. 210).184 Man könne davon ausgehen, „dass der Anarchismus an der Ueberwindung des Socialismus dereinst mitzuwirken haben wird, wenn auch nicht durch die Anarchie, so doch durch die Freiheit.“ (S. 210) Daher dürfe man „die anarchistische Theorie nicht für unbedingt wertlos halten“, bloß „weil sie an sich ein Irrthum und in ihrer Hauptforderung undurchführbar ist.“ (S. 212) Denn jenseits ihrer quasi-religiösen Dogmen und ihrer unrealistischen anthropologischen Prämissen (vgl. S. 3, 210), enthält die anarchistische Theorie „zumindest ebensoviele brauch- und nutzbare Elemente, wie der Socialismus.“ (S. 212) Beiden gemeinsam ist aber eben auch, daß sie nicht Wissenschaft, sondern „Idolatrie“ und „Gesellschaftsmysticismus“ sind und die „unmittelbare Einrichtung eines irdischen Eden, eines Landes der absoluten Idee (heisse sie nun Freiheit oder Gleichheit)“ empfehlen (S. 3 f.). Sie sind „moderne Chiliasten“, die „ihr Eden rückwärts suchen [. . .]: sie meinen den Fortschritt, und bedeuten den Rückschritt.“ (S. 4)185 Beide sind antimoder184 Zenker charakterisiert seine Haltung als ‚wissenschaftlich-kritisch‘, „kühl beobachtend[] und beurtheilend[]“, woraus zwar „notwendig“ eine „sachliche Verurtheilung des Anarchismus fliesst“; aber deswegen richtet er sich auch ausdrücklich gegen jeden anderen politischen „Parteistandpunkt“ und vor allem den „Parteieifer“ (Zenker (1895), S. VIII), der zu der ungerechtfertigten und ungerechten Gleichsetzung der anarchistischen Theorie und Ideale mit ‚aktionsanarchistischen‘ Anschlägen wie Vaillants „Bomben-Attentat[] auf das französische Parlament“ geführt habe (S. V). Zenker geht es „einzig und allein [um] die Aufklärung“, und nicht um „Parteizwecke“, die zu verfolgen er der sonstigen, ohnehin nur „geringe[n] Literatur über den Anarchismus“ vorwirft (S. V), mit Ausnahme des 1890er Artikels von Georg Adler (vgl. Zenker (1895), S. VI). „Die Anarchisten werden mir daher die Eignung, über ihre Sache zu schreiben, einfach absprechen und mein Buch abscheulich reactionär nennen, die Socialisten werden mich allzu manchesterlich, die Liberalen allzu tolerant gegen die socialistischen Störenfriede finden; die Reactionären endlich werden mich selbst für einen verkappten Anarchisten erklären.“ (S. VIII). 185 An anderer Stelle bezeichnet Zenker ausdrücklich „[u]nsere Anarchisten“ als „nicht einmal so originell[e] [. . .] modernisierte Auflage der Chiliasten vor mehr als tausend Jahren“, wobei der wesentliche Unterschied darin besteht, daß diese ihre „Träumereien durch die Berufung auf die Religion“ rechtfertigten, während jene, „unsere eigenen Chiliasten“, sich hierfür „auf die moderne Wissenschaft“ berufen (Zenker (1895), S. 207). – Den Hinweis auf einen geistesgeschichtlichen Traditionszusammenhang zwischen den chiliastischen bzw. millenaristischen Häretiker-Sekten des Mittelalters und dem Anarchismus der Moderne gibt auch Adler (vgl. Adler (1898), S. 298 ff.), der hierbei insbesondere auf die Zusammenhänge zwischen einem „radikalen spiritualistischen Subjektivismus“ und ‚Mystizismus‘ (S. 298), ekstatischen Praktiken und „chiliastische[n] Schwärmereien“ (S. 300), dem dieser „extrem subjektivistischen Gedankenrichtung“ (S. 299) entsprechenden Prinzip „absolutester Machtvollkommenheit des Individuums“ (S. 298) und der (anti-kirchlichen) Sektenform hinweist. Mit Weber ist zudem an die für Sekten – als, im Gegensatz zur Gnaden-Anstalt Kirche, Veranstaltung Begnadeter – spezifischen (vgl. Weber (1922), S. 721 ff.), oben in Kapitel III. behandelten charismatischen Inklusionsmuster zu erinnern, die, dem von Adler konstatierten „religiösen Subjektivismus“ ge-

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nistisch, indem sie ihre jeweilige „Utopie“ (S. 209) nach dem „Muster längst überwundener Culturstandpunkte bilden“ (S. 4), und in diesem Sinne teilen sie das Selbstmißverständnis, ‚progressiv‘ zu sein, obwohl sie tatsächlich regressiv sind. Davon abgesehen, unterscheidet sich aber der Anarchismus „grundsätzlich von seinem Antipoden, dem Socialismus, der eine andere Figur aus der grossen Trimurti der französischen Revolution, die ‚Gleichheit‘ als die einzige Gottheit auf den Sockel erhoben hat.“ (S. 3) Der Anarchismus dagegen hat mit seiner Forderung nach der „unbedingte[n] Verwirklichung der Freiheit“ eine gewisse Nähe zum Liberalismus, von dem er sich aber durch seinen strikten Antietatismus unterscheidet und durch die Radikalität, mit der er „das liberale laisser faire auf alle Handlungen des Menschen ausgedehnt wissen“ will (S. 3). In diesem Sinne versteht Zenker, anders als Adler, den Anarchismus auch nicht als eine auf die massenhafte Verelendung im Kapitalismus reagierende soziale Bewegung und Ideologie, die mit dem Sozialismus die proletarische Klassenbasis und die Kritik an der kapitalistischen Klassengesellschaft teilt – und deren gewaltförmigen Auswüchsen am besten dadurch die Grundlage entzogen wird, daß man den berechtigten Forderungen des Proletariats durch soziale Reformen entspricht. Vielmehr richtet sich der Anarchismus, Zenker zufolge, als ein anti-autoritärer Individualismus gegen jede Form von staatlicher oder sonstiger Bevormundung des Einzelnen und gegen die modernen Nivellierungs- und Vermassungstendenzen, wie sie sich auch in der Organisation und Programmatik der sozialistischen Parteien zeigen. Er ist eine „Gegenwirkung“ gegen das Bestreben der Gesellschaft, „sich in eine industrielle Kaserne umzuwandeln“, gegen die Zunahme der „autoritären, religiösen Richtungen“ und die Abnahme der „Berücksichtigung der persönlichen Freiheiten“ (S. 211 f.). Der Anarchismus erklärt sich demnach nicht primär aus dem materiellen Elend, sondern aus dem Mangel an Gerechtigkeit und Freiheit: „Wir haben schon wiederholt darauf hingewiesen, dass der Anarchismus nicht allein durch den Pauperismus zu erklären sei. Der Pauperismus rechtfertigt allenfalls den Socialismus, allein diese antiautoritäre Bewegung, die gerade nicht überall den Namen Anarchismus führt,186 die aber heute weiter verbreitet ist, als man vielfach glaubt, sie mäß (Adler (1898), S. 300 – H. i. O.), auf die individuelle charismatische Qualifikation, die Auserwähltheit und persönliche Berufung eines Individuums abstellen. – Abgesehen von diesem Hinweis auf den Zusammenhang von Individualismus, Charisma und Sektenform – und All-Einzigkeit – verweist die thematische Verknüpfung von Anarchismus und Chiliasmus auf die später von Karl Mannheim wissenssoziologisch betrachteten strukturellen Analogien des chiliastischen mit dem anarchistischen und ‚fascistischen‘ Hic-et-nunc (vgl. Mannheim (1929), S. 116 ff., 184 ff., 214; (1928b), S. 352 f.). 186 Bezogen auf die ‚wahren‘, ‚rein individualistischen Anarchisten‘, die „äusserste Linke“ (Zenker (1895), S. 207), die als Anhänger bzw. in der Nachfolge Proud-

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lässt sich nur durch ein gestrichenes Mass von Ungerechtigkeiten und Missbräuchen erklären, welcher sich der bürgerliche Staat besonders gegen die Schwachen täglich und stündlich schuldig macht.“ (S. 214) Es ist nicht, wie bei Adler, ein individualistischer Zeitgeist, sondern im Gegenteil die antiindividualistische Repressivität einer illiberal verfaßten Gesellschaft, die das Erstarken des Anarchismus geradezu provoziert: „Wie viele wurden Anarchisten, weil sie wegen freier Ansichten von der Gesellschaft geächtet wurden? Der Anarchismus kann aitiologisch definiert werden als der Unglaube an die Zweckmässigkeit der constituierten Gesellschaft.“ Deshalb kann man „[e]ine solche Bewegung, wie es der Anarchismus ist, [. . .] nicht mit Gewalt und Ungerechtigkeiten, sondern nur durch Freiheit und Gerechtigkeit besiegen.“ (S. 215) Deutlicher noch als bei Adler wird so bei Zenker der Individualismus zum wesensbestimmenden Merkmal des Anarchismus. Statt der punktuellen programmatischen und sozialen Nähe zum Sozialismus, um derentwillen Adler dem gewaltfreien Anarchismus und seiner Agitation eine gewisse Berechtigung konzediert, betont Zenker die vollständige Unabhängigkeit des Anarchismus vom Sozialismus, und diese Eigenständigkeit besteht eben in der strikt individualistischen Theorie. Für diese Einschätzung gelten Zenker insbesondere Proudhon und Stirner als Kronzeugen. Wie Adler unterscheidet Zenker historisch zwischen dem „älteren Anarchismus“, als deren theoretische Leitfiguren er Proudhon und Stirner vorstellt, und dem „modernen“ bzw. „neueren Anarchismus“, der mit Bakunin beginnt.187 Anders als Adler erkennt Zenker aber nur in dem älteren Anarchismus Proudhons und Stirners – und einiger anderer, darunter auch Heß und Grün (vgl. S. 88 ff.) – den eigentlichen Anarchismus, während der neuere Anarchismus seit Bakunin das Ergebnis einer ideellen Verunreinigung, wenn nicht Verfälschung des älteren Anarchismus durch russisch-nihilistische Einflüsse und Beimengungen ist. Als „in den Sechziger Jahren mit der erwachenden socialdemokratischen Bewegung naturgemäss auch deren Gegensatz der ‚antiautoritäre Socialismus‘ wieder erwachte, gieng man daran, den von Proudhon und Stirner gelegten Bau zu vollenden. Was nach dieser Richtung hin geschehen ist, hat jedoch die Theorie des Anarchismus nicht nur um kein wesentliches Element vermehrt, sondern blos vielfach die Schärfe der Begriffsbegründung verwischt und in die Theorie Elemente eingeführt, welche ihr vollkommen fremd und widersprechend sind und ihr die für alle Theile wohltätige Möglichkeit, ruhig discutiert zu werden vielfach verkümmert haben. hons oder Stirners Selbstbezeichnungen wie ‚Mutualismus‘, ‚Antikratismus‘, ‚Freiland‘, ‚Voluntarismus‘ usw. vorziehen, um sich von dem gewalttätigen, kommunistischen Aktionsanarchismus zu distanzieren, dessen ‚Taten‘ ja das öffentliche Image des Anarchismus maßgeblich bestimmten (vgl. S. 143). 187 Zenker (1895), S. 68 ff., 92 f., 96 ff.

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Dieser Unterschied zwischen den älteren und den modernen Theoretikern der Anarchie ist wohl am einfachsten durch den mit Bakunin sich eindrängenden ‚russischen Einfluss‘ gekennzeichnet; mit Bakunin beginnt die Theorie der Agitation“, die mit ihren destruktionistisch-antizivilisatorischen Implikationen dem recht verstandenen individualistischen Ideal des Anarchismus widerspricht (S. 91 f.).188 Stirner und Proudhon, die Theoretiker des „ältere[n] Anarchismus“, waren als „Männer von verstiegenem Idealismus“ typische Vertreter „des civilisierten Westeuropa während der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts“, die, „durchtränkt von der westlichen Cultur [. . .] der Anarchie als dem Reiche der vollendeten freien und sittlichen Persönlichkeit ihr geistiges Dasein gegeben“ haben (S. 97; vgl. S. 110). Dagegen wird „die wirkliche Absicht, Alles, auch die ungezählten selbst von den theoretischen Anarchisten nicht geleugneten geistigen und materiellen Errungenschaften der Civilisation zu vernichten und auszutilgen, [. . .] stets nur einzelnen degenerierten Individuen kommen können, die sich ihrer eigenen sittlichen, intellectuellen und materiellen Naktheit wegen am liebsten vis-a-vis de rien befänden“ (S. 97). Demnach ist die Gewalt-Agitation geradezu die Antithese zum ideellen Kern des Anarchismus, da dieser auf die sittliche und intellektuelle SelbstVervollkommnung des Individuums in vollständiger Freiheit zielt. Und da Freiheit „Selbstregelung“ und „Selbstbeherrschung“ bedeutet, ist sie begrifflich nicht mit der Gewaltausübung gegen Andere vereinbar: „Zwischen Handlungen der Freiheit und Handlungen der Gewalt ist eine Grenzlinie zu ziehen, die beide ewig trennt.“ (S. 159) bb) Idealismus, Individualismus, Zivilisation vs. Nihilismus, Terrorismus, Barbarei: Stirner vs. Bakunin Die wahre Idee des Anarchismus findet sich in ihrer Reinheit daher bei individualistischen Theoretikern wie Proudhon und in radikalster Durchführung im „Stirnersche[n] Individualismus“.189 Bei wenigen decken sich „Egoismus und Anarchismus [. . .] so vollkommen wie bei Stirner“ (S. 86). „Aus der Schule Fichtes und Hegels hervorgegangen, trieb er den diesen eigenen individualistischen Zug bis hart an die Grenze der Carikatur, legte er förmlich eine Reincultur des Ich-Gedankens an“ (S. 71). Anders als in Adlers früherem Anarchismus-Artikel erscheint daher Stirner bei Zenker 188 Die „philosophische Periode war vorüber, Stirner war todt, Proudhon dem Tode nahe, an der Wiege des modernen Anarchismus standen – Russen Pathe.“ (Zenker (1895), S. 97). 189 Zenker (1895), S. 87. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich in diesem Unterabschnitt weiterhin auf Zenker (1895).

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nicht als unbedeutende und naive Randfigur des Anarchismus, sondern, wie auch beispielsweise Stammler und Plechanow in ihren Untersuchungen hervorheben, als derjenige, der zusammen mit Proudhon „den Grundstock der Lehre geschaffen“ hat (S. 204). Und anders als in Adlers späterem Anarchismus-Artikel ist Stirner bei Zenker nicht der Begründer eines ‚antimoralischen Anarchismus‘, sondern ein Großtheoretiker des ‚idealistischen Anarchismus‘, in dessen Buch „[v]on irgend einer agitatorischen Absicht [. . .] keine Spur“ ist (S. 69). Stirner wollte zum „Triumphe der Eigenheit“ die „vollkommene[] Emancipation des Ich“ von der „Begriffsherrschaft“ (S. 78), als deren letzte Form er bekanntlich die ‚liberale‘ „Besessenheit“ mit der „fixen Idee“ des „Menschen“ bekämpfte, um damit „als Prometheus einen neuen Menschen, den ‚Unmenschen‘ zu bilden, in dem zum Mikrokosmos vollendeten und als solcher vollkommen in sich abgeschlossenen, unabhängigen ‚Ich‘. Das ist in der That nicht der Unmensch, sondern der Uebermensch Prometheus selbst, die Idee des Menschen, die er bei Feuerbach bekämpfte.“ (S. 83 f.) Entgegen Stirners Selbstbekunden propagiert er Zenker zufolge im Einzigen gleichwohl ein Ideal, dasjenige eines ‚Über‘oder ‚neuen Menschen‘, der als vollendeter Individualist jede Fixierung an überindividuelle Ideen überwunden hat. Im Zeichen dieses Ideals – oder dieser Idee – ist Stirners Anarchismus ein ‚idealistischer‘. Mit diesem „reinen Individualismus“ (S. 142) ist Stirner, ebenso wie Proudhon, für Zenker kein Befürworter oder gar ‚Prediger‘ revolutionärer oder sonstiger Gewalt (vgl. S. 204). Und auch generell leitet sich der terroristische ‚Aktionsanarchismus‘ nicht aus dem anarchistischen Prinzip größtmöglicher individueller Souveränität ab (vgl. S. 142 f.). Die „‚Propaganda der That‘ entspringt nicht der folgerichtigen Weiterentwicklung der ProudhonStirnerschen Idee, sondern lässt sich auf gar keine Weise aus dieser herauspressen, herausklügeln“ (S. 100). Der „Terrorismus“ (S. 99) ist bei Zenker keine Folge des Individualismus: Er ist ein dem individualistischen, älteren Anarchismus fremdes Element, das dem „russischen Nihilismus“ entstammt und durch das „Dioskurenpaar[] Bakunin-Netschajew“ – die bezeichnenderweise beide keine „reine[n] Anarchisten“ waren, Netschajew noch weniger als Bakunin (S. 110, vgl. S. 100) – als „Actionsprogramm der anarchistischen Thatpropaganda“ in den modernen Anarchismus eingeführt, von ihren Anhängern verbreitet und seitdem zum Kennzeichen des modernen Anarchismus wurde (S. 110 f.; vgl. S. 99 f.). Der Terrorismus ist ein östliches Phänomen. „Der moderne Anarchismus der Bakunins, Netschajew, Kropotkin u. a. trägt das Kainszeichen der russischen Halbcultur, deren einziges Ziel nur die brutale Zerstörung alles Bestehenden ist“ (S. 97). Diejenigen, die dem neueren Anarchismus „die Sanction des Dolches, des Revolvers, des Petroleums und des Dynamits ertheilt haben, das waren weder Franzosen noch Deutsche, sondern halbgeleckte Barbaren des Ostens.“ (S. 97)

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Ähnlich wie Adler in seinem früheren Anarchismus-Artikel schreibt also Zenker die Gewaltverherrlichung und Gewaltbereitschaft dem modernen bzw. neueren Anarchismus zu (vgl. S. 106). Aber im Gegensatz zu Adler betrachtet Zenker den Terrorismus des modernen Aktionsanarchismus nicht als äußerste Konsequenz des anarchistischen Individualismus, sondern erklärt diesen gerade aus der Abkehr des modernen Anarchismus von der reinen anarchistischen Lehre des Individualismus. Und diese Abkehr vom Individualismus, diese „Vermischung“ des originären Anarchismus mit ihm fremden Elementen deutet Zenker kulturalistisch, insbesondere ‚russologisch‘, als „Resultat russischer Verhältnisse“ (S. 100), die den „breite[n] unterirdischen Strom des Nihilismus“ (S. 96), der in gewisser Weise den Anarchismus sich „einverleib[t]“ und durch das „Geschenk“ der „Propaganda der That“ korrumpiert hat (S. 99 f.), notwendig hervorbringen mußten. „Die politischen, wirtschaftlichen, geistigen und sittlichen Verhältnisse dieses weiten Barbarenreiches bieten auch nicht den leisesten Anlass, einen, wenn auch noch so mässigen Zug von Conservatismus aufkommen zu lassen. Was wäre an diesem im Zeichen des blutrünstigsten und rasenden Despotismus stehenden Leben, an diesen vom primitiven Clanstandpunkte sich kaum erhebenden sozialen Verhältnissen, an diesen verrotteten Zuständen der Ökonomie, der Industrie und des Handels, an diesem unter dem Banner der Orthodoxie und der Polizeiwillkür, der Popen und der Tschinowniks schmachtenden geistigen Leben, was wäre daran überhaupt zu conservieren, zu erhalten, zu verbessern? [. . .] Der Russe braucht nicht vor dem Gedanken zurückzuschaudern, dass alles Bestehende wirklich aus dem Leben geschafft werde, er findet nichts, wenn er um sich blickt, was sein Herz zu erhalten wünschte, und je höher in geistiger und sittlicher Beziehung seine Person steht, desto stärker muss begreiflicherweise in ihm dieses ‚nihilistische‘ Gefühl werden. [. . .] In der That ist nichts natürlicher – so beklagenswert es sein mag – dass unter Verhältnissen wie in Russland der revolutionäre Radicalismus jenen rein negativen, nihilistischen und jenen meuchlerisch destructiven Charakter annahm“ (S. 97 f.). Das hierbei verwendete antonyme Schema ‚westliche Civilisation und Cultur vs. östliche Barbarei und Halbcultur‘ (vgl. S. 97) wird also explanativ mit der Leitdifferenz ‚älterer, idealistisch-friedlicher, eigentlicher Anarchismus vs. moderner, agitatorisch-destruktionistischer, verfremdeter Anarchismus‘ verbunden, und diese wiederum entspricht der Entgegensetzung der Begründer beider Richtungen, ‚Proudhon-Stirner vs. Bakunin-Netschajew‘.190 Hinzu kommt die Unterscheidung zwischen dem auf die ‚Ideali190 Wobei Zenker im Hinblick auf Proudhon und Stirner sowohl die theoretische Gleichrangigkeit wie auch die Unterschiede beider betont, während er das Verhältnis Bakunins und Netschajews als eines der konzeptionellen Übereinstimmung der beiden Russen, gerade in der Gewaltfrage – damit steht Zenker im Gegensatz zu Adler

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sten‘ Proudhon und Stirner zurückgehenden „individualistischen Anarchismus“, z. B. des in Deutschland lebenden „naturalisierten Schotten John Henry Mackay“ (S. 154), einerseits und dem nicht nur in der agitatorischen Praxis, sondern bereits auf der theoretischen Ebene vom individualistischen Ideal abfallenden „anarchistischen Communismus“ andererseits, der eine besondere Affinität zur aktionsanarchistischen Gewalt hat (S. 142). cc) Germanen, Romanen und die Propaganda der Tat Die unterschiedliche regionale Verbreitung dieses ‚anarchistischen Communismus‘, dessen prominentester theoretischer Vertreter der Russe Kropotkin ist,191 beschreibt auch Zenker – ähnlich wie Georg Adler in seinem späteren Anarchismus-Artikel, aber mit entgegengesetztem Beweisziel – völkerpsychologisch. „Der anarchistische Communismus, an den sich wiederum die ‚Propaganda der That‘ heftet, scheint eine den romanischen Völkern (Franzosen, Spaniern und Italienern) fast ausschliesslich eigenthümliche Erscheinung zu sein, während die germanischen Völker mehr Neigung zum individualistischen Anarchismus zu haben scheinen. Wenn die territoriale Abgrenzung nicht genau stimmt, so hat man zu bedenken, dass auch die Anschauungen selbst nicht so haarscharf gesondert sind und dass besonders proudhonistische Einschläge den reinen Individualismus, wie ihn einst Stirner proclamirte, höchst selten machen. Der äusserliche Unterschied zwischen Individualisten und Communisten ist wohl am schärfsten durch die Verurtheilung der wahnwitzigen Propaganda seitens der ersteren gekennzeichnet“ (S. 142 f.). Bei Adlers völkerpsychologischen Erörterungen ging es um die Resonanzfähigkeit der jeweiligen Nationalcharaktere für den Anarchismus als einen sozialrevolutionären Individualismus und insbesondere für die – individualismustheoretisch gedeutete – Agitation zur unmittelbaren ‚rohen Selbsthilfe‘ des ‚souveränen Individuums‘. Zenker dagegen stützt sich zwar auf ähnliche nationale Stereotypen, will damit aber die Anfälligkeit insbesondere der romanischen Völker für als ‚anti-individualistisch‘ gedeutete Phänomene, für das dem reinen Individualismus fremde Moment des Terrorismus und für den anti-individualistischen Kommunismus, plausibilisieren. ‚Der Franzose‘ beispielsweise – sogar Proudhon – ist von „geringe[r] Eignung zum wahren Kriticismus“, „practisch[]“ veranlagt und hat die „specifische Eigenart“, seine individuellen Freiheitsansprüche letztendlich dem „gemeinschaftlichen Interesse“ unterzuordnen (S. 68). Von daher wird die romanische Neigung zur aktionsanarchistischen (1890) u. (1898) –, und der Unterordnung Netschajews charakterisiert, der „Geist vom Geiste seines Meisters“ war (Zenker (1895), S. 114, vgl. S. 110 ff.). 191 Vgl. Zenker (1895), S. 116 ff. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich in diesem Unterabschnitt weiterhin auf Zenker (1895).

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Agitation wie auch die Vorliebe für die kommunistische Variante des Anarchismus verständlich. Dagegen ist Stirner mit seinem ‚verstiegenen Idealismus‘ „der deutsche Denker“, der „weitab von den Pfaden des Lebens und der Wirklichkeit“ in seinem gedanklichen „Wolkenkukuksheim [. . .] als ‚Einziger‘ haust“ (S. 69). In seinem Individualismus ist Stirner „geradezu das ausgewachsene Exemplar jenes Deutschen, dem jener stolze und opferfreudige Ausblick auf das Leben der Gesammtheit, jenes Gefühl der Untrennbarkeit der Einzelnen vom Volkskörper – wie sie den Franzosen kennzeichnen – abgeht, der zu allen Zeiten an einem alles vernichtenden Separatismus krankte; er ist der typische Repräsentant jener Nation, welcher ihre besten Söhne die Fähigkeit eine Nation zu sein abgesprochen haben, die aber dafür mehr bedeutende Individualitäten aufzuweisen im Stande ist, [als] alle dermaligen Culturnationen zusammengenommen.“ (S. 7) Die Anomalie, daß der notorische Gewalt-Agitator Johann Most auch ein Deutscher ist, erklärt sich daraus, daß, „so verhängnisvoll und unheimlich seine Rolle in der Geschichte des Actionsanarchismus ist“ (S. 155), Most „nicht einmal reiner Anarchist ist“, also auch kein Individualist. Schließlich kommt er aus der Socialdemokratie, und ist so ein „Mittelglied“ zwischen dieser und dem Anarchismus, als dessen Repräsentant er demnach, wenn überhaupt, auf der „äusserste[n] Rechte[n]“192 zu verorten ist (S. 156). Insofern ist Mosts terroristische Agitation, die ihn zum „classische[n] Vertreter“ des „Actionsanarchismus“ macht und ihn „als Theoretiker der Gewalt, als Apostel der wüthendsten Propaganda unerreicht“ dastehen läßt (S. 156), weniger erstaunlich.193 Während also für Adlers individualismustheoretische Erklärung des Terrorismus die Entdeckung Stirners als Urheber theoretischer Gewaltverherrlichung gleichsam vorgezeichnet war, kann Zenker mit seinen ‚russologischen‘ und völkerpsychologischen Erklärungen den idealistischen Anarchismus Stirners wie auch den Individualismus als Kern des eigentlichen Anarchismus, der sich eben in der Stirnerschen Theorie in höchster Vollkommenheit zeigt, von terroristischen und anderen gewalttätigen Implikationen frei halten. Der terroristische Aktionsanarchismus gehört dem auf Bakunin zurückgehenden neueren Anarchismus an (vgl. S. 175). Und dieser Aktionsanarchismus konterkariert Zenker zufolge nicht nur in seiner ‚thatpropagandistischen‘ Praxis das individualistische Ideal der originären anar192 Die ‚anarchistischen Linken‘ sind für Zenker die reinen Individualisten (vgl. Zenker (1895), S. 207). 193 Daß Most sich gerade deswegen von der Sozialdemokratie getrennt hatte, weil diese ihm zu ‚legalistisch‘ war, und daß das Attentat Hödels auf Kaiser Wilhelm I. von Wilhelm Liebknecht im Namen der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion am 23. Mai 1878 als die „Tat eines Wahnwitzigen“ verurteilt wurde (Liebknecht (1878), S. 216), erwähnt Zenker nicht.

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chistischen Theorie, sondern er weicht bereits auf der theoretischen Ebene vom individualistischen Prinzip des Anarchismus ab, da er sich als ‚anarchistischer Communismus‘ versteht.194 Die gewalttätige Propaganda der Tat erklärt sich für Zenker somit nicht, wie bei Adler, aus einer konsequenten Verschärfung des individualistischen Prinzips, sondern, im Gegenteil, aus der Abkehr vom reinen Individualismus in Theorie und Praxis: Zwar ist „[d]ie Propagandalehre [. . .] als ständiger Begleiter zu einer gewissen Form der anarchistischen Theorie hinzugetreten“, sie „ist aber ein fremdes Element, welches in keinem inneren, nothwendigen Zusammenhang mit den Grundanschauungen der Anarchisten steht. Es ist dies einfach eine russischen Verhältnissen entlehnte Taktik, welche obendrein nur von einem Bruchtheil der Anarchisten – von den communistischen – acceptiert und von den allerwenigsten gebilligt wird; es ist die alte Taktik aller revolutionären Parteien aller Zeiten. Die Thaten Jaques Clements, Ravaillacs, Cordays, Sands und Caserios stehen auf einer und derselben Stufe; man wird heute kaum Jemanden finden, welcher die That Sands aus den Anschauungen der ‚Burschenschaft‘ oder die Clements aus dem Katholicismus ableiten wird, auch dann nicht, wenn er erfährt, dass Sand von seinen Gesinnungsgenossen wie ein Heiliger verehrt wurde, ebenso die Corday, ebenso Clement, und dass zahlreiche gelehrte Jesuiten wie Sa, Mariana u. A. cum licentia et approbatione Superiorum anknüpfend an Clements Attentat die Frage des Königsmordes in einer Weise erörtern, die einem Netschajew oder Most alle Ehre machen würde.“ (S. 204)195 194 Ähnlich Stammler: „Der kommunistische Anarchismus [. . .] gründet sich weniger auf die scharf erwogene Theorie des sozialen Lebens als vielmehr auf unklares gefühlsmäßiges Streben“ (Stammler (1894), S. 28). „Besonderen Anteil“ an der „Lehre und Verbreitung“ der kommunistisch-anarchistischen Richtung „haben russische Schriftsteller, vor allem der 1873 verstorbene Bakunin und dann Krapotkin; ihr hängt die Masse der französischen und überhaupt romanischen Anarchisten an; auch viele deutsche abtrünnige Sozialisten. Sie ist es, an die in der neueren Zeit ‚die Propaganda der That‘ sich anheftet“ (S. 28 f. – H. i. O.). „Der individualistische Anarchismus [. . .] kann ein größeres theoretisches Interesse beanspruchen“ (S. 29). „Aber auch bezüglich des praktischen Vorgehens waltet zwischen den beiden Gruppen der Anarchisten ein Gegensatz ob, indem die individualistische Richtung die Propaganda der That verwirft.“ (S. 31). 195 Der 22jährige Dominikanermönch Jacques Clément war der Mörder des Französischen Königs Heinrich III. (2. August 1589), François Ravaillac, ein 31jähriger Katholik, ermordete am 14. Mai 1610 dessen Nachfolger Heinrich IV. (vgl. Hansen (1999), bes. S. 159 ff.). Marie Anne Charlotte de Corday d’Armont (1768–1793) war die Mörderin Marats (13. Juli 1793); vgl. Gaehtgens (1999); Karl Ludwig Sand (1795–1820), der am 23. März 1819 Kotzebue ermordete – Anlaß für die Karlsbader Beschlüsse –, war auch von ihr inspiriert; vgl. Gaehtgens (1999), S. 222; Schulze (1999). – Zenkers Aufzählung, und auch die damit verbundene Argumentation, erinnert stark an diejenige bei Panizza (1895) – siehe oben, IV. 2. d) –, wenn auch mit anderen normativen Vorzeichen. Beide, Zenker wie Panizza, erklären die ‚Thaten‘

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Die terroristische Strategie des Aktionsanarchismus ist also nicht nur dem vor-bakunistischen, individualistischen Anarchismus fremd, sie ist, wie Zenker im Gegensatz zu Adler betont, nicht einmal ein Spezifikum des neueren Anarchismus. Dessen ‚Propaganda der Tat‘ benennt demnach nur ein altbekanntes Phänomen neu. Aber „so neu und wunderlich, wie sie den Meisten scheint, ist sie [. . .] nicht; sie ist ein altes Inventarstück aller Revolutionen, etwas modernisiert, einer neuen Zeit und einer neuen Doktrin angepasst.“ (S. 206) Zwar weist auch Zenker auf die Modernität der Mittel des anarchistischen Terrorismus hin. Aber anders als Adler sieht er hierin nicht die konzeptionelle Innovation, die den Anarchismus von allen revolutionären Bewegungen der Vergangenheit unterscheidet und die Propaganda der Tat – in ihrem engeren, auch bei Zenker zitierten Begründungszusammenhang bei Netschajew und Brousse (vgl. S. 114) – als spezifisch moderne Idee auszeichnet.196 Ähnlich schließlich wie Georg Adler in der zweiten Fassung seines Artikels rekurriert auch Zenker, damit auf eine „heute moderne“ Sichtweise der genannten Attentäter und der Attentäterin Corday formalistisch, nämlich unter Absehung der jeweils als Motivation bzw. Rechtfertigung angeführten ideologischen bzw. religiösen Inhalte; diese und andere Attentate sind demnach eine typische Ausdrucksform von ‚revolutionären Parteien‘ (Zenker), egal, welche konkreten Ziele damit bezweckt werden, oder von ‚idealistischen und individualistischen Individuen‘ (Panizza), gleich, welchen bestimmten Idealen diese anhängen – und als solche sind sie tatsächlich auch für Zenker gleichrangig, und außerdem alle gleichermaßen ungeeignet, den jeweils dafür in Anspruch genommenen ideologischen Hintergrund zu denunzieren. – Später spricht Zenker auch, bezogen auf Ravachol, Vaillant, Henry, Caserio und deren Anhänger und Nachahmer und auf den „Ravachol-Cultus“, von „Fanatikern, die nach den Lorbeeren des Martyriums lechzen“, und von „anarchistische[n] Attentate[n] [. . .] als Mittel zum indirecten Selbstmord“ bzw. generell von „politische[n] Attentäter[n] [. . .] als solch indirecte[n] Selbstmörder[n]“ (Zenker (1895), S. 213). Ein Deutungsschema bzw. Individualidentitätsangebot, dessen diskursive Etablierung in Verbindung mit den Praktiken der hier behandelten Attentäter – und Attentäterinnen – sich nicht nur an den Ausführungen Zenkers und Panizzas ablesen läßt, sondern auch beispielsweise an den oben zitierten Einschätzungen der Richter Luigi Luchenis. 196 Stattdessen verweist Zenker auf die Parallelen zur technologisch aufgerüsteten staatlichen Gewaltanwendung. Wenn die „verbrecherische Taktik der Anarchisten [. . .] furchtbarer und ungeheuerlicher ist, als diejenige der religiösen Dissenters der hereinbrechenden Neuzeit oder der politischen ‚Verbrecher‘ des Revolutionszeitalters war, so liegt der Grund eben in der Zeit, in der wir leben. Wir meinen, gerade diejenigen, welche alle Fortschritte der modernen Technik, Mechanik, Chemie usw. ausschliesslich dazu verwenden, um die Schrecknisse des organisierten Menschenmordes zu vermehren, um die Furien des Krieges unüberwindlich zu machen, gerade die sollten sich nicht so verwundert darüber stellen, wenn auch die Revolutionäre sich nicht wie ehedem mit einem alten Terzerol begnügen, sondern sich die Errungenschaften der Chemie zu nutze machen. Exempla trahunt.“ (Zenker (1895), S. 206).

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eingehend, auf die kriminologisch-psychiatrischen Untersuchungen Lombrosos und Krafft-Ebings, die die anarchistische Bewegung „als eine ‚pathologische Erscheinung‘“ betrachten.197 Zenker verweist unter Berufung auf diese Studien gerne darauf, daß „der grosse Antheil pathologischer und besonders geisteskranker Personen am verbrecherischen Actionsanarchismus festzustehen scheint.“ (S. 213) Während Zenker, so wie Adler auch, zugesteht, daß es sich bei einzelnen Tätern, sogar bei einem „grossen Teil“ der ‚Actionanarchisten‘, durchaus um Psychopathen handelt, spricht er sich jedoch nachdrücklich gegen den „falschen Schluss“ Lombrosos aus – den auch Adler nahelegt – daß „der Anarchismus selbst [. . .] eine pathologische Erscheinung“ sei (S. 4). Lombroso verwechselt Zenker zufolge einerseits „die individuelle Pathologie mit der socialen“, andererseits identifiziert er fälschlich den Anarchismus insgesamt mit seiner ideell ‚verunreinigten‘ Abart, dem ‚Actionsanarchismus‘ (S. 4). „In Wirklichkeit folgt aus seiner [Lombrosos] Beweisführung aber nur, dass sich dem Anarchismus zahlreiche krankhafte und verbrecherische Naturen anschliessen, was er selbst in den Satze zugiebt: ‚Das Verbrecherthum nimmt besonders an den Anfangsstadien von Aufständen und Revolutionen massenhaft theil, denn zu einer Zeit, wo die Schwachen und Unentschlossenen noch zaudern, überwiegt die impulsive Thatkraft der abnormen und krankhaften Naturen, deren Beispiel dann Epidemien von Ausschreitungen hervorruft.‘“ (S. 4 f., vgl. S. 205) Zwar beruht, wie Zenker zugibt, auf dieser unbestreitbaren „Thatsache“ das anarchistische „System der ‚Propaganda durch die That‘“; wollte man allerdings „diese Erscheinung als Symptome dafür gelten lassen, dass der Anarchismus selbst eine pathologische Erscheinung sei, auf welche revolutionäre Bewegung passte dann das Kriterium nicht, und was wäre sonach mit dem Worte gesagt?“ (S. 5) dd) Antisozialer Individualismus: die Pathologie des Antisemitismus und die All-Einzigkeit Einen trennscharfen sozialphänomenologischen Pathologie-Begriff will Zenker dagegen solchen „‚pathologischen‘ Gesellschaftserscheinungen“ vorbehalten, bei denen ein „abnormale[r], schwächliche[r] Habitus der Volksseele im Sinne eines gewohnheitsmässigen Denkfehlers der Massen“ vor197

Zenker (1895), S. 4, vgl. S. 204 ff., 213. – In für den damaligen Rang Lombrosos im wissenschaftlichen Diskurs bezeichnender Weise stellt Zenker seiner Arbeit zudem ein Zitat des italienischen Psychiaters und Kriminologen als Motto voran, mit dem Zenker auf den religiösen Charakter politischer Ideologien anspielt: „Für einen theologischen oder metaphysischen Satz finden sich hundert Fanatiker und für ein geometrisches Theorem nicht einer. Cesare Lombroso.“ (Zenker (1895), S. XV – H. i. O.).

3. Konjunkturen, Konstruktionen und Konturierungen des Anarchismus

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liegt, „wie dies etwa beim Antisemitismus der Fall ist.“198 Anders als der Anarchismus – der als Individualismus bloß die zwar „practisch unzulässige“, aber gleichwohl „folgerichtige [. . .] Weiterbildung längst bekannter und von der Mehrzahl der Culturmenschen anerkannter Anschauungen ist“ –, ist der Antisemitismus, „diese fragwürdige[] Bewegung“ (S. 91), mit der Zenker sich bereits an anderer Stelle eingehender befaßt hatte,199 durchaus eine „pathologische Erscheinung“ der „Volksseele“ (S. 5). Bei diesem Thema aber kommt überraschend der bisher – aufgrund seines mit den psychopathischen und destruktionistischen Auswüchsen des ‚communistischen Actionsanarchismus‘ unvereinbaren reinen Individualismus – systematisch von allen Antisozialitäts- und Aggressivitätsvorwürfen freigehaltene Stirner wieder ins Spiel, genauer und sehr präzise: der Einzige. Der Einzige dient nun zur Kennzeichnung eines antisozialen Persönlichkeitstypus bzw. zur Bezeichnung einer – in Zenkers Begrifflichkeit – pathologischen Erscheinung des Individualismus, derjenigen nämlich des Anarchisten und Antisemiten Eugen Dühring.200 Sah Zenker in dem von Stirner propagierten Ideal des nichts und niemandem verpflichteten Einzigen bereits eine geradezu karikaturistische Übersteigerung des Ich-Gedankens, so erscheint ihm Dühring nun als die grotesk verzerrte, dabei ebenso häßliche wie brutale reale Verkörperung dieses Einzigen. Das rein-individualistische Ideal schlägt in seiner Verwirklichung in krude Antisozialität um. Im sozialphänomenologischen Typus Eugen Dührings erweist sich der Einzige in Zenkers Augen als sozialpathologisches Individualidentitätsangebot. Dühring selbst hat zwar „von Stirner nichts gehalten, allein, so sehr auch sein Anhang sich dagegen sträuben mag, Dühring’s ‚Personalismus‘ ist nicht nur genau dasselbe, was Stirner’s ‚Einziger‘ ist, der grosse Meister von Zehlendorf selbst ist der Stirner-Einzige in seiner widerlichsten Illustration.“ (S. 149)201 Und obwohl vordergründig „ein Widerspruch wenigstens zwischen der Theorie des Anarchismus und dem Dühring’schen Antisemi198 Zenker (1895), S. 5. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich in diesem Unterabschnitt weiterhin auf Zenker (1895). 199 Zenker (1895), S. 5, verweist auf seine im Vorjahr erschienene Veröffentlichung Mysticismus, Pietismus, Antisemitismus am Ende des 19. Jahrhunderts. Culturhistorische Studie. 200 1833–1921. – Vgl. Zenker (1895), S. 146 ff.; vgl. Marten (1987), S. 75 ff. 201 Bereits Friedrich Engels weist in seinem berühmten, erstmals 1878 erschienenen, auch bei Zenker (1895), S. 148 – mit der dritten, 1894er Auflage – angegebenen ‚Anti-Dühring‘ (Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft) spöttisch auf einen Zusammenhang zwischen Dühring und dem Einzigen hin: Dührings „allgemeine menschliche Souveränetät“ und „Souveränetät des Individuums“ seien „wahre Prachtkolosse von Worten, gegen die Stirners ‚Einziger‘ mit seinem Eigentum ein Stümper bleibt, obwohl auch er sein bescheidnes Teil daran beanspruchen dürfte.“ (Engels (1894), S. 123).

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V. Der Einzige, der Anarchismus und die Gewalt

tismus zu obwalten [scheint]“ (S. 146),202 gehört doch Dühring mit seinem „Personalismus“ (S. 147) nicht nur für Zenker „unzweifelhaft unter die Anarchisten“ (S. 146). Dühring selbst hat „in seinem eigens für den DühringCultus herausgegebenen Blättchen [Der moderne Völkergeist] Anschluss an die von ihm so genannten ‚ehrlichen‘ Anarchisten“ gesucht und sich auch gegen seine Zuordnung zum Anarchismus „nie ernsthaft gewehrt“ (S. 146). So hat er es geschafft, „den Anarchismus mit der brutalsten Judenhetzerei zu verquicken“ (S. 150), indem er sein, eng an Proudhon angelehntes und diesen zugleich ‚verwässerndes‘, Programm des „Antikratismus“ und der „personalistische[n] Socialiät“ nicht nur „antimonarchistisch“, sondern insbesondere dezidiert „antireligionistisch“ entworfen hat (S. 147 f.), wobei „das Antireligionistische [. . .] für Dühring besonders etwas Antisemitisches ist“ (S. 148). In seinem Ideal-Entwurf soll „an die Stelle aller Religion und alles Religionsartigen die Wirklichkeits- oder Seins-Philosophie Dührings [. . .] treten“ (S. 148). Den „Antikratismus“ versteht dieser als „Verneinung aller ungerechten Gewaltübung und Herrschaftsanmassung“, was dann aber, wie Zenker sieht, in Dührings Vorstellung bedeutet, daß „Herr Dühring [. . .] den Massen sagen [wird], welche Gewalt gerecht und welche ungerecht ist, welche aufrecht zu erhalten ist und welche nicht, und die Massen werden sich beeilen, seinem Wahrspruche zu gehorchen. Herr Dühring, der grosse Leugner aller Metaphysik und apriorischen Begriffsbegründung, stellt auf einmal [. . .] einen absoluten Begriff ‚Gerechtigkeit‘ hin und modelt die Welt nach diesem Begriffe um. Wer lacht da?“ (S. 149) Dühring erscheint in seiner Selbststilisierung als das überlegene Individuum, das in seiner eigenen moralischen und intellektuellen Vollkommenheit gegen alle überkommenen Vorurteile und bestehenden Herrschaftsverhältnisse die Wahrheit verkündet – wobei in diesem Fall die Wahrheit die Wahrheit des Dühringschen Antisemitismus ist –, und somit ist der ‚Personalist‘ Dühring eine Ausprägung des Einzigen – wenn auch in seiner ‚widerlichsten‘, weil antisemitischen Gestalt. Der Antisemitismus ist für Zenker zwar keineswegs eine notwendige Konsequenz des Stirnerschen Individualismus, aber er ist mit diesem kompatibel. Der Antisemitismus paßt in seiner paranoiden Grundstruktur zu dem in Zenkers Augen durch Eugen Dühring repräsentierten Persönlichkeitstypus mit seiner pathologischen Größen-Selbst-Sucht, seiner Ent202

Zenker weist auch darauf hin, daß der (auch bei Adler erwähnte) Anarchist Wilhelm Marr sich „nach mannigfaltigen politischen Wandlungen zuletzt dem Antisemitismus in die Arme geworfen und sich das traurige Verdienst erworben [hat,] einer der literarischen Väter dieser fragwürdigen Bewegung zu sein.“ Allerdings soll er „[n]euerdings [. . .] auch dieser Gesinnung wieder abgeschworen“ haben und sich im „Greisenalter[]“ wieder „anarchistischen Idealen“ zugewandt haben (Zenker (1895), S. 91; vgl. Marten (1987), S. 73 ff.).

3. Konjunkturen, Konstruktionen und Konturierungen des Anarchismus

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wertungs- und Verkleinerungs-Sucht gegenüber Anderen und seinen aggressiven Projektionsbedürfnissen, die sich als „Idiosynkratie gegen die Juden“ äußern (S. 149); und diese grandiose Selbst-Konzeption und Selbstherrlichkeit ist durchaus als eine mögliche Auslegung des von Zenker als ‚prometheischen Übermenschen‘ gedeuteten Einzigen verstehbar. In diesem Sinne verkörpert der mit dem Gestus des Propheten auftretende Antisemit Dühring für Zenker eine ‚besonders widerliche‘, pathologische und antisoziale Variante dessen, was Stirner als ‚den Einzigen‘ konzipiert hatte – auch wenn Stirner es nicht so gemeint haben mag und Dühring selbst davon nichts wissen wollte. Dührings „hoffärtige[] und schiefe[] Urtheile über Proudhon, Stirner, Kropotkin – nur Bakunin, den Feind des ‚Hebräers‘ Marx lässt er gelten – sind wohl hinreichend aus der ganz beispiellosen Schwäche und Verkleinerungssucht dieses Mannes ohne Herbeiziehung sachlicher Motive zu erklären; Nacht muss es sein, wo seine Sterne strahlen“ (S. 146). Zenker deutet die Verkleinerungssucht des Einzigen Dühring als Abwehr einer Realität, die die großartigen Phantasien und insbesondere die grandiose Selbstimagination des tatsächlich schwachen Dühringschen Selbst in Frage stellen würde. Daß es sich hierbei um eine ‚Sucht‘ handelt, unterstreicht nicht nur den pathologischen Charakter dieser Realitätsflucht, das Wahnhafte, das in der prinzipiellen Entwertung des Anderen liegt, sondern verweist auch auf die existentielle Bedeutung, die die Verkleinerungssucht für Dührings Selbst-Stabilisierung angesichts seiner Schwäche haben muß, aufgrund derer er sich in die grandiose Selbst-Konzeption rettet.203 Deswegen muß alles, was geeignet wäre, dieses Selbst zu verkleinern, abgewehrt werden, und so vollzieht er in der suchtartigen Verkleinerung der Anderen an diesen genau das, was er selbst am meisten zu fürchten hat. In ähnlicher Weise entspricht die extreme Angreifbarkeit seiner unrealistischgrandiosen Position der paranoiden Einstellung des Antisemiten gegenüber den Juden: überall wittert er Feinde, die es auf ihn abgesehen haben. Der von Dühring in Zenkers Interpretation verkörperte Einzige ist also, Stirner-interpretationsschematisch betrachtet, ein All-Einziger, der sich selbst als den allen Anderen prinzipiell überlegenen, weil einzigen bzw. alleinigen Einzigen in der Welt konzipiert. Sein Verhältnis zu den sozialen Anderen ist dementsprechend als asymmetrisch zu charakterisieren: Macht der Andere einen Anspruch auf eigene Einzigkeit geltend – entweder symmetrisch als prinzipielle Gleichrangigkeit oder seinerseits asymmetrisch als Überlegenheit –, oder stellt anderweitig den Grandiositätsanspruch jenes All-Einzigen und dessen Selbst- und Weltsicht in Frage, so wird er ‚verkleinert‘, entwertet, ignoriert oder vernichtet. Dieser Einzige duldet keinen an203 Siehe hierzu und zu den anschließenden Überlegungen auch oben, III., insbesondere 1., 2. b), 3. a) und b), sowie 4. b).

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V. Der Einzige, der Anarchismus und die Gewalt

deren Einzigen neben oder über sich. Nur wer die überlegene All-Einzigkeit Dührings anerkennt und sich ihr unterwirft, also Teil des „Dühring-Cultus“ (S. 146) ist, wird seinerseits von diesem als Anhänger akzeptiert und in genau dieser Funktion, zur Affirmation seiner Herrlichkeit, für werthaft befunden. Der Anhänger, der die wahre Größe des All-Einzigen Dühring erkennt und mit diesem dessen Feinde bekämpft und dessen Verächter verachtet, ist ein Auserwählter. Zenker deutet eine Sekten-Struktur an, durch deren interne, hermetisch gegen Widerstände von außen abgeschirmte Realitätskonstruktion die Asymmetrie der Dühringschen All-Einzigkeit sozial stabilisiert wird. Der „Dühring-Cultus“ erzeugt für seine Anhänger jene ‚Nacht‘, in der ausschließlich die ‚Sterne Dührings leuchten‘: Da Dührings „Anhänger zumeist nichts als seine Schreibereien gelesen haben, erklärt sich sehr einfach der grosse Einfluss, den der Mann heute besonders auf die deutsche Jugend nimmt, und warum Dühring von gewissen Leuten für die einzige Geistesgrösse seit Socrates, für das unerreichteste Originalgenie gehalten wird, das er doch nach keiner Richtung hin ist.“ (S. 146) Der Einzige Dühring erscheint demnach als Typus des Charismatikers, der in charismatischer Kommunikation die Wahrheit verkündet, und dem es darin gelingt, seinem Anspruch auf All-Einzigkeit in einem begrenzten Maße soziale Geltung zu verschaffen; auf die charismatifikatorisch-kommunikativen Bedingungen dieses Erfolges verweist hier allerdings nur der von Zenker gegebene Hinweis, daß seine Anhänger Dühring für ‚das unerreichteste Originalgenie‘ halten. Vergleicht man Zenkers ‚Einzigen Dühring‘ und den ‚Dühring-Cultus‘ mit dem – wie z. B. Adler nahelegt – ‚Einzigen Ravachol‘ und dem ‚Ravachol-Cultus‘, so fallen einige Parallelen auf: In beiden Individualidentitätsangeboten spielen psychopathologische Erklärungsmuster eine Rolle, und auf der sozialphänomenologischen Ebene verbindet sich in beiden Fällen der charismatische Typus mit antisozialen und spezifisch destruktiven Tendenzen. Das charismatische Moment erscheint zwar bei Dühring organisierter und das destruktionistische Moment äußert sich nur bei Ravachol in Form physischer Gewalt. Gleichwohl war, wie immer wieder von verschiedenen Beobachtern betont wird, auch Ravachol ein Gegenstand kultischer Verehrung mit einer gleichsam ‚exemplarisch-prophetischen‘ Wirkung im Sinne Webers,204 und die Destruktivität Dührings läßt sich auf der ideologischen Ebene des Antisemitismus beobachten. Insofern erscheint der Dühringsche Antisemitismus als eine zufällige, aber nicht beliebige Ausprägung der Antisozialität eines auf die virtuelle oder aktuale Vernichtung des Anderen abzielenden All-Einzigen und ist darin den blutschwelgerischen Vernichtungsphantasien terroristischer Fanatiker wie Most strukturell analog, dessen Forderungen nach 204

Vgl. Weber (1922), S. 273. Siehe auch oben, III. 2. a).

3. Konjunkturen, Konstruktionen und Konturierungen des Anarchismus

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„Bestienvertilgung“ und ‚Ausrottung‘ des „Parasitengezücht[s]“ auch Zenker zitiert (S. 157). Zenkers Charakterisierung Dührings als eines Stirnerschen Einzigen ist noch in einer weiteren, eher formalen Hinsicht von Bedeutung für die Beobachtung der Deutungen des Einzigen als Individualidentitätsangebote. Denn, ähnlich wie der Psychiater Schultze seiner Patientin S. gegen deren Selbstauskunft eine Stirner-Interpretation zugeschrieben hat,205 so schreibt auch Zenker Dühring gegen dessen erklärte Stirner-Feindschaft – aber übereinstimmend mit Engels206 – eine Interpretation des Einzigen zu. Und in dieser askriptiven Interpretation verweist Zenker nicht nur auf die Parallelen des Dühringschen ‚Personalismus‘ mit Stirners Konzeption des Einzigen, sondern er sieht in dem Individuum Dühring selbst eine adaptive, individuelle Deutung und Verkörperung des Einzigen: Der anarchistische Antisemit Dühring – nicht bloß seine ‚personalistisch-antikratische‘ Lehre – ist eine Illustration des Einzigen, Dühring ist ein Einziger. Der Einzige fungiert somit als Typen-Bezeichnung, ähnlich wie der ihm zeitgenössisch verwandte ‚Übermensch‘. Der Einzige wird von Zenker als Rollenmodell beobachtet, das in unterschiedlicher Weise von lebenden Individuen adaptiert und verkörpert wird – nicht nur von Dühring. Andere sozialphänomenologisch beobachtbare leibhaftige Einzige in diesem Verständnis sind nicht so ‚widerlich‘ wie die Dühringsche ‚Illustration des Einzigen‘, haben aber in Zenkers Augen wenig mit dem recht verstandenen Stirnerschen Anarchismus zu tun. Dies betrifft für Zenker etwa die Gruppe, die bei Georg Adler als soziale Trägerschicht des ‚Décadence-Anarchismus‘ bzw. ‚anarchistischen Dandytums‘ benannt wurde,207 die sich somit in der ergänzenden Sicht Zenkers als eine typische Zielgruppe für das Rollenmodell des Einzigen darstellt. Und wie Adler verweist auch Zenker in eben diesem Zusammenhang auf Nietzsche. „Dass auch in Deutschland, wie in Frankreich, die literarische Bohéme, gewisse ‚starke Geister‘ mit Vorliebe sich als Anarchisten und Individualisten, als ‚Einzige‘ geben, versteht sich fast von selbst, nur darf man daraus nicht die Pflicht ableiten, uns hier mit Scribenten wie es Pudor, Bruno Wille u. A. sind näher zu befassen. Überhaupt möchten wir warnen, die Grenzen der anarchistischen Theorie allzusehr auszudehnen und dadurch zu verwischen. Unseres Erachtens ist es ganz unrichtig, jeden Schriftsteller, der wie etwa Nietzsche einen rein philosophischen Individualismus oder Egoismus predigt, ohne jemals an eine Anwendung auf die Reform der Gesellschaft gedacht zu haben, für einen theoretischen Anarchisten zu erklären. Wohin sollte das führen?“ (S. 154 f.)208 An205 206 207

Siehe oben, IV. 1. e). Vgl. Engels (1894), S. 123. Siehe auch unten, VII. 2. a) cc) (2).

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V. Der Einzige, der Anarchismus und die Gewalt

ders als der individualismuskritische Adler sieht Zenker im stirnerianisch sich gebenden Individualismus der literarischen Boheme und in den Individualismen Nietzsches oder auch Ibsens209 allerdings nichts ‚Zersetzendes‘ und auch sonst keine Gefahr, aber eben auch keinen Anarchismus. Insofern ist für Zenker zwar jeder reine Anarchismus individualistisch, aber nicht jeder Individualismus ist anarchistisch. Stirner ist in diesem Sinne mit seinem ‚reinen Individualismus‘ ein echter Anarchist. Dies gesteht Zenker auch dem Stirnerianer und ‚individualistischen Anarchisten‘ John Henry Mackay zu, auf dessen Roman Die Anarchisten (1891) – mit seinem Helden, dem „Stirner-Einzigen Auban“ – Zenker hinweist (S. 154).210 Viele andere aber, die sich am Einzigen als Rollenmodell orientieren, sind in Zenkers Augen zwar Individualisten, jedoch keine Anarchisten.211 208 Und in einer Anmerkung fügt Zenker, unter Berufung auf Schellwien (1892), hinzu: „Der Anarchismus Nietzsches auch nur im philosophischen Sinne ist überhaupt nur ein Märchen.“ (Zenker (1895), S. 155) Siehe auch unten, VI. 4. b) cc). 209 Vgl. Zenker (1895), S. 155. – Beide Autoren wurden zeitgenössisch gerne mit Stirner und dem Anarchismus in Verbindung gebracht; vgl. z. B. Türck (1899), S. 323 ff., 360 ff.; Stammler (1894), S. 29. – Siehe unten, insbesondere VI. 1., 2. und 4. – Zu Ibsen vgl. auch Detje (1999). 210 Auch Stammler bezieht sich auf Mackays „höchst interessante[s] Buch[]“ Die Anarchisten. Kulturgemälde aus dem Ende des XIX. Jahrhunderts, aus dem er ausführlich zitiert, um den Gegensatz von individualistischem und kommunistischem Anarchismus zu verdeutlichen, und dessen Lektüre ihm großes Vergnügen bereitet haben muß: „Eine ungewöhnliche Gabe plastischer Schilderung und eindringlichen Ausmalens wohnt dem Verfasser bei; und man kann nach seinem Werke London geradezu aus der Ferne kennen lernen.“ (Stammler (1894), S. 29, vgl. S. 29 ff.) Auch Plechanow nennt Mackays Roman als Beispiel für den zeitgenössischen anarchistischen Individualismus (vgl. Plechanow (1911), S. 57). – Mackays Stirner-Monographie Max Stirner. Sein Leben und sein Werk erschien erst 1898 und findet sich dementsprechend in den Literaturverzeichnissen Eltzbachers (1900), S. IX f., und auch Adlers (1898), S. 327, die aber auch weiterhin Die Anarchisten anführen – durchaus seinerzeit nicht nur ein Bestseller, sondern auch ein Standardwerk für den wissenschaftlichen Gebrauch. Siehe auch unten, VI. 3. a). 211 Damit ist für Zenker die Beobachtung des Einzigen als Typus – in unterschiedlichen Ausprägungen – auch jenseits des Phänomenbereichs des Anarchismus möglich. Stirner-interpretationsschematisch verweist diese Überlegung anhand der von Zenker als ‚Einzige‘ apostrophierten, aber nicht als ‚Anarchisten‘ klassifizierten Bohemiens auf die Position einer Hypothetischen All-Einzigkeit. Denn in Zenkers Sicht treten diese ‚Individualisten‘ weder mit dem ernsthaften All-Einzigkeitsanspruch eines Eugen Dühring auf, noch meinen sie, Zenkers Einschätzung zufolge, ihren ‚Anarchismus‘ ernst. Für ihn sind sie gerade deshalb keine Anarchisten, weil sie keine wirklich politisch-sozialreformatorischen – oder gar revolutionären – Absichten haben. Sie zelebrieren ihre grandiose Einzigkeit als „starke Geister“ literarisch, künstlerisch: im Modus des Als-Ob; ebenso, wie etwa der von Adler gescholtene ‚anarchistische Dandy‘ Tailhade und die anderen ‚eitlen‘ und ‚sensationslüsternen‘ dekadenten Provokateure. In dieser Hinsicht sind sie Beispiele für die spielerisch-inszenatorische oder fiktionale, und deshalb Hypothetische All-Einzig-

4. Revolutionäre Rivalitäten

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4. Revolutionäre Rivalitäten Den sozialphänomenologischen Typus des Boheme-Individualisten oder Décadence-Anarchisten, den Zenker – anders als Adler – als Spielart des Einzigen ebenso wie Nietzsche nicht dem Anarchismus zurechnet, hat auch Kropotkin als sozialen Resonanzboden für den „Individual Anarchism“ Stirners vor Augen. In diesem Punkt stimmt der russische Anarchist auch mit seinem marxistischen Landsmann Plechanow überein. Die Differenz ums Ganze zwischen diesen beiden Positionen äußert sich aber darin, wie sie die mit Stirners Einzigem bezeichnete dritte Position im Verhältnis zum Anarchismus bewerten. Der jeweils hierbei präsentierte Einzige wird darin zum Mittel der kritischen Auseinandersetzung einerseits mit der gegenwärtigen, ‚bürgerlich-kapitalistischen‘ Gesellschaft, deren Überwindung in einer anderen Moderne Anarchismus wie Marxismus projektieren, andererseits mit den jeweiligen politischen Feinden und Rivalen, mit denen man im Hinblick auf Entwurf, Umsetzungsmethoden und Leitung des Projekts konkurriert. a) Peter Kropotkin In seinem Anarchism-Artikel in der Encyclopædia Britannica vermerkt Kropotkin über den Stirnerschen Individualismus, daß dieser nicht bei den ‚arbeitenden Massen‘,212 sondern nur „in limited artistic and literary circles“213 Anhänger findet. Dabei geht Kropotkin noch einen Schritt weiter als Zenker, indem er nicht nur diese Literaten- und Künstler-Einzigen, als ‚bürgerlich-individualistische‘ „Ästheten“ und „Epikureer“,214 sondern auch Stirner selbst, den er in einem Atemzug mit Nietzsche nennt,215 aus dem Anarchismus exkommuniziert. Für Kropotkin repräsentiert Stirner nicht anders als Nietzsche, wie er bereits früher ausgeführt hatte,216 in typischer keit, die eine symmetrische Ego-Alter-Relation zur kommunikativen Bedingung hat und diese implizit als – deswegen: – Inwendige Je-Einzigkeit artikuliert. 212 Vgl. Kropotkin (1910), S. 917. 213 Kropotkin (1910), S. 916. 214 Kropotkin (1902), S. 144 u. S. 142. 215 Vgl. Kropotkin (1913), S. 97; (1910), S. 917; (1902), S. 149. 216 In Briefen (vgl. Kropotkin 1902) an den anarchistischen Historiographen Max Nettlau und Warlaam Cerkesov (1846–1925), letzterer ein russischer Exilant, der wie Kropotkin einer Adelsfamilie entstammte und zu den Gründern von Le Révolté zählt (vgl. Kropotkin (1997), S. 179). Außerdem wird im vorliegenden Zusammenhang auf Kropotkins in einer ersten Fassung bereits 1901 geschriebene und seitdem für verschiedene Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen (u. a. 1905/06 in Mosts berüchtigter Freiheit) immer wieder überarbeitete, erweiterte und in mehrere Sprachen übersetzte Schrift Moderne Wissenschaft und Anarchismus bezug genommen,

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V. Der Einzige, der Anarchismus und die Gewalt

Weise einen elitären „bürgerliche[n] Individualismus“,217 der privilegierte Minoritäten anspricht218 und der als anti-egalitärer „völlig egoistische[r] Individualismus“ ein „dummer Egoismus“ und „Pseudo-Individualismus“ ist.219 Denn dieser kann „nur unter der Bedingung der Unterdrückung der Massen, des Lakaientums, der Servilität gegenüber der Tradition, der Entwertung der Individualität sowohl im Unterdrücker selbst als auch in der unterdrückten Masse existieren [. . .]. Das ‚schöne blonde Tier‘ ist im Grunde [. . .] eine Nummer ohne Individualität in der Herde der Ausbeuter“220 und „nichts anderes als erstens eben ein Tier und zweitens – vor allem – ein Sklave [. . .] der eigenen Machtlosigkeit: er kommt um, sobald er niemanden mehr hat, den er berauben kann.“221 Im Sinne seiner oben zitierten Unterscheidung von (bürgerlichem) ‚individualism‘ und (im anarchistisch verstandenen Kommunismus stattfindender) ‚individualization‘ stellt Kropotkin daher fest: „Was man bis heute als Individualismus präsentiert hat, ist elend, engherzig, kleinlich, und das Schlimmste: er enthält die Verneinung des Ziels, die Verarmung der Individualität, oder zumindest die Verneinung dessen, was zur vollständigen Entfaltung des Individuums notwendig ist.“222 Dieses Ziel, die Bedingung der Möglichkeit wirklicher individueller Freiheit und Selbstverwirklichung eines jeden Individuums, dem der bürgerliche Individualismus entgegensteht und das der Anarchismus im Sinne Kropotkins projektiert, ist der Kommunismus.223 Denn das „vollständig“224 und wahrhaft „entwickelte Individuum kann nicht außerhalb des kommunistischen Lebens entstehen. Genauso wie der Einsiedler nicht hochmoralisch werden kann, genauso kann der Individualist keine hochentwickelte Individualität erreichen. Die Individualität entwickelt sich nur in der Auseinandersetzung mit der Masse der Menschen, indem sie eintaucht ins Leben aller, die ihm nah sind, und in den Vergleich, fühlend, kämpfend und arbeitend. Nietzsche und alle übrigen stellen die Persönlichkeit der Gesellschaft gegenüber.“225 Tatsächlich glorifizieren demnach diese „Angeber des Individualismus“ – die „leichtes Spiel“ haben, soweit sie sich „keine anderen Gegner“ suchen „als die die hier nach der deutschen Übersetzung der französischen Ausgabe von 1913 zitiert wird (vgl. die Einleitung von Heinz Hug in Kropotkin (1997), S. 7 ff., 18). 217 Kropotkin (1902), S. 143. 218 Vgl. Kropotkin (1913), S. 71, 97. 219 Kropotkin (1902), S. 143 f. 220 Kropotkin (1902), S. 143. 221 Kropotkin (1902), S. 149. 222 Kropotkin (1902), S. 144. 223 Vgl. Kropotkin (1913), S. 65; vgl. auch Kropotkin (1892). 224 Kropotkin (1902), S. 148. 225 Kropotkin (1902), S. 150.

4. Revolutionäre Rivalitäten

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christlichen Prediger, welche die Vernichtung der Persönlichkeit verlangen“ –226 nur die ‚antisoziale‘,227 „dumme Persönlichkeit, die sich anstrengt, über die Gesellschaft hinauszugelangen“.228 Im Gegensatz zum „kommunistische[n] Anarchist[en]“ verkennt daher der antisoziale Individualist, daß auch in seinem wohlverstandenen Interesse als Individuum alles darauf ankäme, „sich und die Gesellschaft zu befreien, sowohl von der Macht als auch von der Not“, und „gegen die Ungleichheit“ zu revoltieren. Stattdessen versucht er aus der Not und Unterdrückung der Beherrschten und Ausgebeuteten seinen Nutzen zu ziehen und „predigt die Ungleichheit“, die ihm seine Vorteile sichern soll.229 Vor dem Hintergrund dieses Individualismus-, Stirner- und Nietzsche-Verständnisses ist Kropotkins Einschätzung des Stirnerschen Individual-Anarchismus in der Encyclopædia Britannica zu verstehen: „[T]hat sort of Individual Anarchism [. . .] maintains that the aim of all superior civilization is, not to permit all members of the community to develop in a normal way, but to permit certain better endowed individuals ‚fully to develop‘, even at the cost of the happiness and the very existence of the mass of mankind.“230 Der Einzige steht demnach in Kropotkins Deutung für einen elitären, tendenziell antisozialen Individualismus, der, wie der ‚Übermensch‘ und die ‚Blonde Bestie‘ Nietzsches, die Mentalität des „Bourgeois“ idealisiert, der „behauptet, es bedürfe ihm für die Entfaltung seiner Persönlichkeit der Sklaven, er müsse die anderen sich opfern“.231 aa) Antisoziale und konterrevolutionäre Implikationen von Stirners Individualismus Stirners Individualismus, der „das ‚Recht zur vollständigen Höherentwicklung‘ für eine Minorität von Privilegierten“ verkündet,232 erscheint bei Kropotkin als ideologische Rechtfertigung einer antisozialen Disposition, wie sie ähnlich auch Zenker und Adler in ihren Deutungen des All-Einzigen beschreiben. Der Einzige nimmt demnach im Sinne eines ‚aristokratischen Individualismus‘,233 wie er auch von Nietzsche und dessen Anhän226

Kropotkin (1902), S. 145. Vgl. Kropotkin (1913), S. 65 f. 228 Kropotkin (1902), S. 150. 229 Kropotkin (1902), S. 150. 230 Kropotkin (1910), S. 916 – H. i. O. 231 Kropotkin (1902), S. 145. 232 Kropotkin (1913), S. 71. 233 Im Stirner-Nietzsche-Diskurs werden Begriff und Bedeutung des ‚aristokratischen Individualismus‘ differenzierter behandelt; siehe hierzu ausführlich unten, insbesondere VI. 1., 2 b), 4. b), v. a. aa) bis dd), und 5 b). 227

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gern vertreten wird, für sich selbst eine Einzigkeit in Anspruch, die er anderen Individuen abspricht und aufgrund derer er diese zum frei verfügbaren Material seiner eigenen grandiosen Souveränität und Selbstherrlichkeit zu degradieren beansprucht. Dieser Einzige ist aber für Kropotkin mehr als bloß ein pathologischer Einzelfall, er ist symptomatisch für die pathogenen Strukturen einer Gesellschaft, die diesen antisozialen Typus systematisch erzeugt. Anders als Adler und Zenker dementiert daher Kropotkin jede Aussicht, den pathologischen Individualismus des Einzigen und seine antisoziale Sozialphänomenologie innerhalb der gegenwärtigen Gesellschaftsformation erfolgreich bekämpfen und überwinden zu können. Für Kropotkin ist der Einzige Inbegriff eines falschen, antisozialen und anti-emanzipatorischen Individualismus, der sozialphänomenologisch der bürgerlich-kapitalistischen, staatlich verfaßten Gesellschaft angehört, die es revolutionär zu überwinden gilt:234 zugunsten einer herrschaftsfreien „egalitären Gesellschaft [. . .], die keinen Zwang irgendwelcher Art ausübt“ und dadurch „Freiheit im Handeln für das Individuum“ garantiert, „damit es alle seine natürlichen Fähigkeiten entfalten kann, seine Individualität“, unter der Bedingung der „vollständige[n] Gleichheit der Rechte für alle“.235 Dabei hat Kropotkin „trotz dieses Fehlens von Zwang [. . .] nicht die geringste Befürchtung, daß in dieser egalitären Gesellschaft die antisozialen Handlungen einiger Individuen einen bedrohlichen Umfang annehmen könnten. Eine Gesellschaft freier Menschen wird besser damit umzugehen wissen als unsere jetzigen Gesellschaften [. . .]. Vor allem wird eine freie Gesellschaft die antisozialen Handlungen zu verhindern wissen.“236 Die „anarchistisch-kommunistische Gesellschaft“237 wird, weil sie die sozialen 234 Daß Kropotkin dabei auch auf die Propaganda der Tat setzt, wurde bereits mehrfach, etwa bei Adler und Eltzbacher, hervorgehoben, wobei er insbesondere deren aufklärerischen Charakter betont: „Zuerst revoltieren isolierte Individuen, die von dem, was sie um sich herum sehen, zutiefst angeekelt sind. Viele von ihnen gehen, ohne daß sie etwas erreicht hätten, zugrunde. Doch die Gleichgültigkeit der Gesellschaft wurde durch diese verlorenen Wachposten wachgerüttelt. Die Zufriedensten und die Borniertesten müssen sich fragen: ‚Warum geben die jungen, ehrlichen, kraftvollen Menschen ihr Leben?‘ Es ist nicht möglich, weiterhin gleichgültig zu bleiben; man muß sich dafür oder dagegen aussprechen. Das Denken beginnt zu arbeiten. Nach und nach durchdringt der gleiche Geist der Revolte kleine Menschengruppen. Sie beginnen ebenfalls zu revoltieren, bald mit der Hoffnung auf einen Teilerfolg, z. B. demjenigen, einen Streik zu gewinnen, Brot für die Kinder zu erhalten oder sich von einigen verhaßten Funktionären zu befreien – bald aber ohne Hoffnung auf Erfolg: lediglich Revolten, weil es unmöglich wurde, länger zu warten. Nicht eine, zwei oder zehn ähnliche Revolten, sondern Hunderte von Erhebungen gehen jeder Revolution voran.“ (Kropotkin (1913), S. 116 f.). 235 Kropotkin (1913), S. 65 – H. i. O. 236 Kropotkin (1913), S. 65 f. 237 Kropotkin (1892), S. 235.

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Bedingungen für die Entwicklung gelungener Individualität garantiert, einerseits nicht in systematischer Weise pathologische Individualitäten hervorbringen, die auf die Beherrschung, Unterwerfung und den Mißbrauch der Anderen aus sind, wie dies in der gegenwärtigen Gesellschaft der Fall ist; andererseits wird sie dieser in der adäquaten Behandlung von gleichwohl erwartbaren Restbeständen individualpsychopathologisch erklärbarer Antisozialität überlegen sein. Die ideologisch im Einzigen verkörperte Antisozialität und der diese verherrlichende Individualismus sind, zusammen mit allen anderen durch staatliche Herrschaft und kapitalistische Ökonomie hervorgebrachten Sozialpathologien, nur revolutionär zu überwinden. Die Antisozialität des seiner Auffassung nach von Stirner wie Nietzsche propagierten Individualismus zeugt für Kropotkin aber nicht nur von der Überwindungsbedürftigkeit der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse. Sie ist zugleich eine Gefahr für die revolutionäre anarchistische Bewegung selbst. Wenn als ‚Individual-Anarchisten‘ auftretende Individualisten Nietzsche-Stirnerscher Couleur ihrerseits mit dem Anspruch auftreten, die gegenwärtige Gesellschaft zu überwinden, diskreditieren sie für Kropotkin damit den Anarchismus, spalten die revolutionären Kräfte und produzieren effektiv eine konterrevolutionäre Ideologie. Kropotkins Kritik an Stirner richtet sich auch gegen diese Rivalen und bringt damit seinen kommunistisch-anarchistischen Anspruch auf Deutungshegemonie innerhalb des Anarchismus zum Ausdruck. Der Kampf für die sozialrevolutionäre Durchsetzung einer anderen Moderne wird immer auch um die Frage geführt, wie und unter wessen Führung dies geschehen soll. Max Nettlau, der selbst, ähnlich wie Stammler und Eltzbacher, und anders als Kropotkin, Stirner nach dem sozialdimensional symmetrischen Interpretationsschema der Je-Einzigkeit deutet, berichtet, daß für Kropotkin in dieser Hinsicht Stirner und Nietzsche gleichermaßen ein ‚rotes Tuch‘ waren: „Kropotkin [. . .] hatte die Gewohnheit, meines Erachtens etwas zu schnell aktuelle anarchistische Strömungen, die ihm mißfielen, mit den Ideen Nietzsches zu identifizieren und sie dann zu bekämpfen, indem er dessen schwache Seiten bekämpfte. [. . .] Aber es war nicht möglich, mit Kropotkin darüber zu diskutieren; er sah rot, wenn der Name Nietzsche genannt wurde; und das selbe war der Fall hinsichtlich Max Stirner, der mir – genau betrachtet – ein sehr sozialer Individualist zu sein scheint, der sich vom aristokratischen Individualismus ziemlich unterscheidet.“238 Zwar differenziert auch Kropotkin zwischen „zwei hauptsächliche[n] Richtungen“ der „individualistische[n] Strömung“239 und legt damit eine 238 Nettlau, zit. n. Kropotkin (1997), S. 179. – Die Zitate stammen aus Nettlaus Anmerkungen zu Kropotkins 1902 verfaßten, erstmals 1926 auf spanisch und russisch veröffentlichten Briefen Über den Individualismus. – Zu Nettlaus Deutung des (Je-)Einzigen siehe unten, VII. 3. a) aa).

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Unterscheidung nahe, die konzeptionell derjenigen Nettlaus zwischen ‚aristokratischem‘ und ‚sozialem‘ Individualismus ähnelt. Aber im Gegensatz zu Nettlau schlägt Kropotkin explizit Stirner und Nietzsche bzw. deren Anhänger derselben, anti-egalitären Richtung zu. „Es gibt einerseits die reinen Individualisten im stirnerschen Sinne, die in der letzten Zeit durch die künstlerische Schönheit von Nietzsches Schriften eine Stärkung gefunden haben.“240 Andererseits gibt es die proudhonistische „Richtung der Individual-Anarchisten“, die aber aufgrund ihres Mutualismus „[i]n Wirklichkeit [. . .] nicht mehr individualistisch“ ist, sondern ein „Kompromiß zwischen Individualismus und Kommunismus“.241 Dieser „Dualismus“242 aber und der individualistische Einschlag ist letztlich eine Schwäche dieser – prinzipiell vom anarchistischen Standpunkt respektablen – Richtung, die deswegen vor allem eine Intellektuellen-Veranstaltung ist und als solche ohne viel Resonanz im Proletariat bleibt. Günstigstenfalls ist sie „ein Überbleibsel aus vergangenen Zeiten“,243 das der insbesondere durch das gegenwärtige Produktivitätsniveau bedingten Komplexität der modernen Gesellschaft nicht angemessen ist. Wegen dieses Mangels an Realismus ist diese individual-anarchistische Richtung zudem dafür anfällig, in Liberalismus oder wiederum in einen anti-egalitären Individualismus à la Stirner und Nietzsche umzuschlagen, wie Kropotkin am Beispiel des von Tucker propagierten amerikanischen ‚individualistischen Anarchismus‘ zeigt. „The Individualist Anarchism of the American Proudhonians finds, however, but little sympathy amongst the working masses. Those who profess it – they are chiefly ‚intellectuals‘ – soon realize that the individualization they so highly praise is not attainable by individual efforts, and either abandon the ranks of the Anarchists, and are driven into the Liberal individualism of the classical economists, or they retire into a sort of Epicurean a-moralism, or super-man-theory, similar to that of Stirner and Nietzsche.“244

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Kropotkin (1913), S. 97. Kropotkin (1913), S. 97. – Kropotkin betont damit nicht nur den paradigmatischen Status Stirners für diesen Individualismus und seinen in Nietzsche repräsentierten – bei aller ästhetischen Wertschätzung (vgl. auch Kropotkin (1910), S. 918) – bestenfalls künstlerischen Charakter, sondern hebt vor allem hervor, „wie metaphysisch und wie weit vom tatsächlichen Leben entfernt diese ‚Bestätigung des Individuums‘ ist und wie sehr sie das Gleichheitsgefühl – die Basis jeder Befreiung – verletzt. Man kann sich nicht befreien, solange man jemanden dominieren möchte.“ (Kropotkin (1913), S. 97). 241 Kropotkin (1913), S. 98. 242 Kropotkin (1913), S. 98. 243 Kropotkin (1913), S. 97. 244 Kropotkin (1910), S. 917 – H. i. O. 240

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bb) Punktuelle Allianzen und doppelte Frontstellung des anarchistischen Kommunismus: gegen autoritären Kommunismus und Individualismus Bezüglich der antisozialen Implikationen des Einzigen trifft sich Kropotkins Stirner-Interpretation in vielen Aspekten nicht nur mit derjenigen Georg Adlers, sondern auch mit derjenigen seines im folgenden noch näher zu betrachtenden Landsmannes und ideologischen Antipoden, des „Vater[s] des russischen Marxismus“245 Georg Walentinowitsch Plechanow246. Der fundamentale Unterschied zwischen dem Anarchisten und dem Marxisten besteht allerdings darin, daß Kropotkin Stirner gerade wegen dieser problematischen Seiten des Einzigen aus dem ‚wahren‘ Anarchismus ausschließt, während für Plechanow Stirner aus demselben Grunde zum anarchistischen Kronzeugen gegen den Anarchismus wird. Dabei behandeln die beiden russischen Sozialisten – der dem eigenen Selbstverständnis nach ‚linke Sozialist‘, nämlich anarchistische Kommunist Kropotkin und der ‚wissenschaftliche Sozialist‘, nämlich der Marxist Plechanow – Stirner, bei aller grundsätzlichen Kritik und Ablehnung seines ‚bürgerlichen Individualismus‘, durchaus differenziert: Kropotkin würdigt Stirners „remarkable works“247 für den darin vertretenen Antietatismus und die weitsichtige, vorausschauende Kritik an der „neue[n] Tyrannei, welche aufgezwungen würde, falls es dem autoritären Kommunismus gelänge, sich durchzusetzen“,248 und auch für seine prinzipielle Parteinahme für das Individuum. „Stirner [. . .] advocated, not only a complete revolt against the state and against the servitude which authoritarian Communism would impose upon men, but also the full liberation of the individual from all social and moral bonds – the rehabilitation of the ‚I‘, the supremacy of the individual,“ – aber eben auch, ähnlich wie in Georg Adlers Deutung des ‚antimoralischen Anarchismus‘ Stirners: – „complete ‚a-moralism‘, and the ‚association of the egotists‘“, welch letztere sich für Kropotkin nur als eine ‚aristokratische‘ Veranstaltung von ‚Möchtegern-Eliten‘ darstellen kann.249 Und Plechanow – der ‚autoritäre Kommunist‘ im Sinne Kropotkins – hebt neben Stirners gedanklicher Konsequenz positiv hervor, daß dieser offen für den Klassenkampf eintritt; aber dies geschieht aus Plechanows Sicht unter den falschen Prämissen einer bürgerlichen Ideologie und erweist sich daher als elitärer Individualismus mit einer objektiv affirmativen ideologischen Funktion250 – ähnlich also, wie in Kropotkins Kritik an der „final 245 246 247 248 249 250

Scherrer (1987), S. 242; Kallscheuer (1986), S. 528. 1856–1918. Kropotkin (1910), S. 916. Kropotkin (1913), S. 71. Kropotkin (1910), S. 916. Vgl. Plechanow (1911), S. 22 ff.

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conclusion“ des Stirnerschen „Individual Anarchism“ letzterer sich letztlich als „return to the most common individualism, advocated by all the wouldbe superior minorities“, entpuppt.251 Für Kropotkin liegt daher in der Logik dieser individualistischen Position als Bedingung und Konsequenz das Erfordernis der staatlichen Unterdrükkungsmaschinerie, die die gesellschaftliche Ungleichheit und das individualistische Selbstverwirklichungsmonopol der privilegierten Minderheit aufrecht erhält.252 Insofern ist der von diesen – für Kropotkin: vorgeblichen – Individual-Anarchisten angefeindete staatliche Herrschaftsapparat in seinem Bestand ‚tatsächlich‘ deren uneingestandene historisch-soziale Voraussetzung und somit unabdingbarer Ausgangspunkt dieses Individualismus. Auch hierin zeigt sich die soziale Blindheit dieser Individual-Anarchisten, die durch ihren sozialen Standort strukturell bedingte Unfähigkeit, die gesellschaftlichen Bedingungen ihrer eigenen Weltdeutung adäquat zu reflektieren; ihr Individualismus entpuppt sich mithin als typischer Fall eines in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsformation systematisch verzerrten, also ‚falschen Bewußtseins‘, das sein ‚soziales Sein‘ nicht erkennen kann: ein Paradebeispiel ‚ideologischer Verblendung‘. Kropotkin benutzt nicht die marxistische Terminologie der ‚autoritären Sozialisten‘, wendet aber in der Kritik der ‚individual-anarchistischen‘ Einzigen mutatis mutandis das gleiche ideologiekritische Schema an, wenn er auf deren ‚Selbstwiderspruch‘ hinweist: „Their individualism goes so far as to end in a negation of their own starting-point“, nämlich „the state and the rest, which these individualists combat“, also alle sonstigen, die Massen niederhaltenden repressiven Strukturen.253 Und nicht nur in diesem Reflexionsdefizit bezüglich seiner eigenen sozialen Möglichkeitsbedingungen läßt sich der ‚ideologische‘ Charakter des Stirnerschen Individualismus aufweisen, sondern auch an seiner ‚objektiven Unwahrheit‘:254 Der von ihm für den Einzigen propagierte Anspruch auf individuelle Selbstverwirklichung steht im Widerspruch zu der tatsächlichen „impossibility for the individual to attain a really full development in the conditions of oppression of the masses by the ‚beautiful aristo251

Kropotkin (1910), S. 916. Vgl. Kropotkin (1913), S. 71. 253 Kropotkin (1910), S. 916. 254 Hierin sind seit der Deutschen Ideologie von Marx und Engels (1845/46) die beiden Hauptmerkmale der ‚Ideologie‘ im Sinne historisch-materialistischer Ideologiekritik zu sehen: erstens in ihrer strukturell notwendigen Unfähigkeit bzw. Defizienz einer adäquaten Reflexion der eigenen sozialen Seinsbedingtheit, zweitens in der epistemologischen Unwahrheit der Inhalte dieser Bewußtseinsform, die in den strukturellen Limitationen des sie bedingenden sozialen Standortes gründet; diese beiden Merkmale zeichnen Ideologie als ‚objektiv notwendig falsches Bewußtsein‘ aus. Dieses ideologiekritische Beobachtungsschema ist im folgenden exemplarisch an Plechanows Beobachtung Stirners und des Anarchismus zu beobachten. 252

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cracies‘. His development would remain uni-lateral.“255 Der Einzige kann es in seiner einseitigen Entwicklung immer nur zu jener ‚elenden, engherzigen, kleinlichen, falschen und verarmten Individualität‘ und Antisozialität bringen,256 die im Sinne eines „individualismus Nietzscheanum“ auf die „Unterdrückung des Nachbarn“ zielt und ansonsten „das ‚schöne blonde Tier‘ zum Ochsen in der Ochsenherde reduziert“.257 Kropotkins Kritik am Einzigen und seinesgleichen richtet sich somit nicht nur gegen das antisoziale Individualitätsverständnis, sondern auch spezifisch gegen den darin implizierten Etatismus und Autoritarismus. Die sich selbst mißverstehenden ‚Individual-Anarchisten‘ sind für Kropotkin nicht weniger ‚autoritär‘ als die von ihm auf der anderen Seite der ideologischen Front befehdeten, mit seinem anarchistischen Kommunismus um den wahren Weg in eine andere Moderne rivalisierenden ‚autoritären Kommunisten‘ marxistischer Provenienz. In der Kritik am autoritär-etatistischen Individualismus des Einzigen verdichtet sich in gewisser Weise die doppelte Frontstellung, die die Position Kropotkins und seiner Anhänger im revolutionären Lager kennzeichnet. Ihre Selbstbezeichnung als ‚kommunistische Anarchisten‘ bzw. ‚anarchistische Kommunisten‘ beinhaltet jene doppelte polemische Abgrenzung: kommunistischer Anarchismus im Gegensatz zum ‚individualistischen Anarchismus‘, der sich aber, recht betrachtet, als bloßer bürgerlicher – und nicht anarchistischer – Individualismus herausstellt, also gar kein wirklicher Anarchismus ist;258 anarchistischer Kommunismus gegen den ‚autoritären Kommunismus‘ der Marxisten, die wegen ihres Etatismus und Autoritarismus bei der Verwirklichung des Kommunismus scheitern müssen: „Solange die Staatssozialisten ihren Traum von der Vergesellschaftung der Arbeitsinstrumente in den Händen des zentralisierten Staates nicht aufgeben, wird die zwangsläufige Folge ihrer staatskapitalistischen und staatssozialistischen Bestrebungen der Mißerfolg ihrer Träume und die Militärdiktatur sein.“259 Gleichwohl stehen in ihrer Gegnerschaft gegen den Individualismus des Einzigen beide, der Anarchist Kropotkin und der Marxist Plechanow, an ei255

Kropotkin (1910), S. 916. Vgl. Kropotkin (1902), S. 144 ff. 257 Kropotkin (1902), S. 144 – H. i. O. – Das gleiche ideologiekritische Schema wendet Kropotkin auch auf Nietzsche an: „Nietzsche konnte frei bleiben, wenn er seine Sklaven hatte, die ihm das Leben ermöglichten, und wenn er von ihrer Arbeit fürs Leben profitierte. Und gerade deshalb hat er von der ökonomischen Revolte der Arbeiter nichts verstanden. Der große Nietzsche, denn groß war er in einer gewissen Revolte, blieb der Sklave des bürgerlichen Vorurteils: welch schreckliche Ironie!“ (Kropotkin (1902), S. 147). 258 Vgl. auch Fabbri (1951), S. 57 ff. 259 Kropotkin (1913), S. 114; vgl. Kropotkin (1910), S. 914. 256

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ner Front. Beide vertreten politische Projekte, die auf die Überwindung des für sie im Einzigen verkörperten Individualismus zielen. Auf der Ebene von Individualidentitätsangeboten ist für sie der Einzige gleichsam der Inbegriff dessen, was die ihnen gegenwärtige, als bürgerlich-kapitalistisch verstandene moderne Gesellschaft so überwindungsbedürftig macht. Beide teilen die Kritik an dieser Form des für sie in Stirner verkörperten modernen Individualismus; ganz im Gegensatz etwa zu Zenker, der gerade im Individualismus das Heil erblickt, aber auch radikaler etwa als der in seiner Individualismuskritik gemäßigtere Georg Adler, der das Problem vor allem in den extremen Auswüchsen des Individualismus – auch des ökonomischen Individualismus in Form von Massenarbeitslosigkeit und Verelendung – sah, nicht im individualistischen Prinzip als solchem. Gerade der prinzipiellen Ebene aber, nämlich dem ihrer Analyse zufolge in der gegenwärtigen Gesellschaft verankerten Individualismus, gilt die Kritik Plechanows und Kropotkins. Der diesbezügliche Unterschied zwischen Plechanow und Kropotkin besteht vor allem darin, daß für Plechanow – wohlgemerkt nicht anders als für die meisten anderen zeitgenössischen Anarchismus-Experten – der Einzige bzw. Stirner außerdem noch ein Hauptvertreter des Anarchismus ist. Dadurch wird der auch von Kropotkin vertretene Anarchismus, also der ‚linke‘ Rivale um die sozialrevolutionäre Überwindung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und ihrer antisozial-elitären, individualistischen Ideologie, die sich im Einzigen verkörpert, von marxistisch-ideologiekritischer Seite zugleich dieser zu überwindenden Gesellschaft zugeschlagen und damit als sozialrevolutionäre Option disqualifiziert. Dieser für den Marxismus generell und insbesondere für den marxistischen Umgang mit Stirner durchaus typische Vorgang läßt sich paradigmatisch an Plechanows Anarchismus und Sozialismus nachvollziehen. b) Georg Plechanow Plechanows im Frühjahr 1894 im Auftrag der Berliner Buchhandlung Vorwärts geschriebene Broschüre über Anarchismus und Sozialismus wurde, nach Auskunft ihres Verfassers im Vorwort ihrer zweiten Auflage von 1904, „von der sozialdemokratischen Welt [. . .] mit sympathischer Teilnahme empfangen“.260 Ursprünglich in Französisch verfaßt, wurde Plechanows Schrift in viele Sprachen übersetzt – ins Deutsche von Eduard Bernstein, ins Englische von Marx’ Tochter Eleonore – und in den folgenden Jahrzehnten immer wieder neu aufgelegt.261 Das Ersterscheinungsjahr von 260

Plechanow (1911), S. I, vgl. S. III. Vgl. Plechanow (1911), S. I; Helms (1966), S. 545. – Im vorliegenden Zusammenhang wird nach der dritten deutschsprachigen Auflage von 1911 zitiert, in 261

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Anarchismus und Sozialismus (1894) fällt in die Gründungsphasen sowohl der russischen Sozialdemokratie als auch der Zweiten Internationale, und Plechanow war in beiden maßgeblich beteiligt. Er gilt dafür als „Vater des russischen Marxismus“262 und zählt, neben Karl Kautsky263 und Franz Mehring264 zu den „bedeutendsten Vertretern der ersten Marxistengeneration“, die das Marx-Engelssche Erbe des Historischen Materialismus zu einem umfassenden dogmatischen Lehrgebäude systematisierten und als politische Weltanschauung popularisierten.265 Seine Inblicknahme Stirners und des Anarchismus ist in diesen, im Folgenden kurz zu skizzierenden historischen Kontexten und den diese kennzeichnenden politischen und ideologischen Kämpfen zu verstehen, für die sie zugleich paradigmatische Bedeutung hatte. aa) Historisch-politische Kontexte: der Marxismus in Rußland und die Zweite Internationale In Rußland hatte sich 1879, bereits zwei Jahre vor der Ermordung Alexanders II. in St. Petersburg durch die Untergrundorganisation ‚Narodnaja Volja‘ (‚Volksfreiheitswillen‘), eine Gruppe dem Selbstverständnis nach ‚orthodoxer‘ Narodniki in der Gegen-Organisation ‚Neuaufteilung der schwarzen Erde‘ von den terroristischen und konspirativen Kampfmethoden der Narodnaja Volja distanziert, der sie vorwarfen, das ursprüngliche Programm des Narodnitschestwo – ‚ins Volk zu gehen‘ und mit dem Volk gemeinsam deren Vorwort Plechanow erklärt, daß und wieso er keine Veranlassung sah, Änderungen gegenüber der ersten Auflage von 1894 vorzunehmen (vgl. Plechanow (1911), S. III ff.). 262 Scherrer (1987), S. 242; Kallscheuer (1986), S. 528. 263 1854–1938. 264 1846–1915. 265 Göhler/Klein (1993), S. 551; vgl. Kallscheuer (1986), S. 521 ff. – Während, einer Mitteilung Engels’ zufolge, Marx von sich selbst gesagt haben soll: „Alles, was ich weiß, ist, daß ich kein Marxist bin“, um sich gegen die Dogmatisierung seines Denkens zu verwahren (Göhler/Klein (1993), S. 551), bezeichneten sich seine – und Engels’ – Schüler in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts selbstbewußt als ‚Marxisten‘ – und zwar in bewußter Umwertung und Aneignung des vormals von Marx’ Gegnern polemisch-abwertend verwendeten Ausdrucks ‚Marxismus‘ (vgl. Kallscheuer (1986), S. 521) –, um damit den doktrinären Anspruch der wissenschaftlichen und politischen Weltanschauung als Philosophie, sozialwissenschaftliche, insbesondere ökonomische Theorie und politische Programmatik nicht nur zur ‚Interpretation der Welt, sondern zu ihrer Veränderung‘ zu unterstreichen. Ganz im Sinne der berühmten elften Feuerbachthese, die Marx 1845 notiert hatte und die Engels 1888 im Anhang seiner eigenen Feuerbach-Schrift, ergänzt um ein vereindeutigendes „aber“, veröffentlichte: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern“ (Marx/Engels (1888), S. 535 – H. i. O.; vgl. Marx (1845), S. 7).

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den offenen sozialen Kampf zu führen – aufgegeben zu haben.266 Gegründet wurde diese anti-terroristische Gruppe von Plechanow und Vera Sassulitsch267, die im Januar des Vorjahres 1878 durch ihr Attentat auf den St. Petersburger Polizeichef Trepov bekannt und populär wurde. Das Attentat, bei dem Trepov schwer verletzt wurde, war ein Racheakt268 und zugleich die Initialzündung einer Reihe von Terrorakten in Rußland, deren Höhepunkt 1881 der Mordanschlag auf Alexander II. war.269 Zum Zeitpunkt der Ermordung des Zaren hatte Sassulitsch von Genf aus brieflich Kontakt mit dem in London weilenden, schwerkranken Marx aufgenommen, um die Frage zu klären, inwieweit eine kapitalistische Entwicklung in Rußland als Vorbedingung für die sozialistische Revolution notwendig sei. Ihre und Plechanows gegen die Narodnaja Volja gegründete Organisation löste sich im selben Jahr wieder auf, der personelle Zusammenhang bildete aber die Grundlage für die erste russische marxistische Organisation ‚Befreiung der Arbeit‘, die Plechanow, wiederum unter Mitwirkung Sassulitschs, mit weiteren Genossen 1883 in Genf gründete. Marx’ Todesjahr war somit zugleich das Gründungsjahr der russischen Sozialdemokratie in der Emigration, die fortan in Gestalt von Plechanows Gruppe von Genf aus in programmatischen Schriften den Marxismus propagierte. In Rußland selbst bildeten sich die ersten marxistischen Zirkel erst zu Beginn der 90er Jahre, immer noch in Konkurrenz zu den zeitweilig erstarkenden Narodniki. Mit der Zeit gewann der Marxismus, insbesondere durch den 1895 von Wladimir Iljitsch Lenin270 und Julius Martov271 gegründeten ‚Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse‘ in der revolutionären Bewegung Rußlands immer mehr an Einfluß. 1898 wurde schließlich in Minsk die ‚Russische Sozialdemokratische Arbeiter-Partei‘ (RSDRP) gegründet.272 Bereits 1903, auf ihrem zweiten Parteitag, kam es dann zur Spaltung der RSDRP in Bolschewiki und Menschewiki, zu denen der anfangs Lenin nahestehende Plechanow ein Jahr später überwechselte.273 266

Vgl. Scherrer (1987), S. 239. 1849–1919. 268 Weil Trepov „den verhafteten ehemaligen Studenten Bogoljubov (A. Emel’janov) wegen Grußverweigerung hatte auspeitschen lassen. Die Sensation war freilich weniger dieser Attentatsversuch“, als vielmehr Vera Sassulitschs „Freispruch vor einem Geschworenengericht, übrigens unter dem Beifall des Publikums einschließlich hoher Beamter und Generäle.“ (Torke (1999), S. 308) – Erinnert sei daran, daß Sassulitsch sich auch in Panizzas Auflistung der großen Idealisten und Individualisten findet. 269 Vgl. Torke (1999), S. 308 ff. 270 1870–1924. 271 1873–1923. 272 Vgl. Torke (1999), S. 314 f.; Scherrer (1987), S. 238 ff.; Abendroth (1973), S. 62, 81 f. 267

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In Lenins Rückblick auf die „Geschichte der russischen Sozialdemokratie“ in seiner die Spaltung der RSDRP programmatisch vorwegnehmenden Schrift Was tun? von 1902 ist das Jahr 1894, in dem Plechanows Anarchismus und Sozialismus erstmals erschien, dementsprechend der Scheitelpunkt zwischen der ersten und der zweiten Entwicklungsperiode des Marxismus in Rußland: „Die erste Periode umfaßt etwa zehn Jahre, ungefähr die Jahre 1884 bis 1894. Das war die Periode, in der die Theorie und das Programm der Sozialdemokratie entstanden und sich konsolidierten. [. . .] Die Sozialdemokratie existierte ohne Arbeiterbewegung und machte als politische Partei den Prozeß ihrer embryonalen Entwicklung durch. Die zweite Periode umfaßt drei bis vier Jahre, 1894 bis 1898. Die Sozialdemokratie tritt in Erscheinung als gesellschaftliche Bewegung, als Aufschwung der Volksmassen, als politische Partei. Das ist die Periode der Kindheit und des Knabenalters.“274 Als Kennzeichnend für diese Phase nennt Lenin u. a. die ‚epidemisch‘ sich verbreitende „Begeisterung für den Kampf gegen die Volkstümlerrichtung“,275 also die Narodniki als revolutionäre Hauptkonkurrenten der Sozialdemokraten in Rußland.276 Mit der Gründung der marxistischen Gruppe ‚Befreiung der Arbeit‘ war Plechanow bereits in der ersten Periode einer der Wortführer in diesem Kampf gegen die Narodniki,277 und 273

Vgl. Scherrer (1987), S. 254 ff. Lenin (1902), S. 527. – Die, von 1902 betrachtet, noch gegenwärtige, „dritte Periode“ seit 1898 kennzeichnet Lenin als „Periode der Zerfahrenheit, des Zerfalls, der Schwankungen. Im Knabenalter erfolgt beim Menschen der Stimmbruch“, führt er in androzentrischer Metaphorik aus. „Auch die Stimme der russischen Sozialdemokratie dieser Periode begann zu brechen, falsch zu tönen.“ (Lenin (1902), S. 528) Der „wissenschaftliche Sozialismus hörte auf, eine einheitliche revolutionäre Theorie zu sein [. . .]; die Losung ‚Klassenkampf‘ gab nicht den Anstoß zu einer immer breiter und immer energischer werdenden Tätigkeit, sondern diente als Beruhigungsmittel, da ja ‚der ökonomische Kampf untrennbar mit dem politischen verbunden ist‘; die Idee der Partei diente nicht als Aufforderung zur Gründung einer Kampforganisation der Revolutionäre, sondern rechtfertigte einen ‚revolutionären Kanzleibürokratismus‘ und ein kindisches Spiel mit ‚demokratischen‘ Formen. Wann die dritte Periode zu Ende ist und die vierte beginnt (die auf jeden Fall schon durch viele Anzeichen angekündigt wird), wissen wir nicht. [. . .] Aber wir haben die feste Überzeugung, daß die vierte Periode zur Festigung des streitbaren Marxismus führen wird, daß die russische Sozialdemokratie aus der Krise gestärkt und gereift hervorgehen wird, daß die Nachhut der Opportunisten ‚abgelöst‘ werden wird von der wahren Vorhut der revolutionärsten Klasse. Im Sinne einer Aufforderung zu dieser ‚Ablösung‘, und alles oben Gesagte zusammenfassend, können wir auf die Frage Was tun? die kurze Antwort geben: Die dritte Periode liquidieren.“ (Lenin (1902), S. 529 f.). 275 Lenin (1902), S. 527. 276 Während die dritte Periode weniger durch den Kampf gegen den äußeren Rivalen, sondern den innerparteilichen Richtungsstreit der RSDRP, aus Lenins Perspektive: gegen den inneren Feind gekennzeichnet war, der in der ‚vierten Periode‘, im Sieg der Bolschewiki, überwunden wurde. 274

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in seiner Auseinandersetzung mit Stirner und dem Anarchismus schwingen auch die Rivalitäten und Erfahrungen mit den agitatorischen Strategien der Narodniki mit.278 Im Hinblick auf die internationale Entwicklung der Arbeiterbewegung ist Anarchismus und Sozialismus im Kontext der Geschichte und Vorgeschichte der Zweiten Internationale zu verorten, an deren Gründungskongreß am 14. Juli 1889 in Paris auch Plechanow teilnahm.279 Dessen ideologiekritische Analyse Stirners steht unmittelbar im Zeichen der Konflikte und revolutionären Konkurrenz zwischen Marxisten und Anarchisten in der internationalen Arbeiterbewegung. Die seit Oktober 1890, nach dem Ende des Sozialistengesetzes, unter dem Namen ‚Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)‘ firmierende, stetig an Mitgliedern und Wählern zugewinnende deutsche Sozialdemokratie, an deren organisatorischem und programmatischem Vorbild sich die anderen Parteien der Zweiten Internationale orientierten, 277

Vgl. Scherrer (1987), S. 239 ff.; Fenske (1993), S. 750. Die Narodniki glaubten, ausgehend von ihrer Idealisierung der vorkapitalistischen, bäuerlichen Dorfgemeinschaft Rußlands (‚Mir‘) und unter Leugnung der vom Marxismus wissenschaftlich erkannten objektiven Gesetzmäßigkeiten der historischen Entwicklung, im industriell unterentwickelten, autokratischen Rußland die Revolution ohne eine bewußtseinsmäßig gereifte Arbeiterbewegung hic et nunc herbeiführen zu können (vgl. Fenske (1993), S. 750; Scherrer (1987), S. 221 ff., 239 ff.). Zur ‚jakobinisch-blanquistischen‘ und terroristischen Richtung innerhalb des Narodnitschestwo zählte auch der notorische Bakunin-Mitarbeiter Netschajew, Begründer der ‚Propaganda der Tat‘ und des im Katechismus des Revolutionärs entworfenen revolutionären Fanatismus (vgl. Scherrer (1987), S. 224 f.). Für den Marxisten und ehemaligen Narodnik Plechanow schwingt daher in der Kritik der anarchistischen Propaganda der Tat immer die russische Erfahrung mit der terroristischen Attentatsstrategie der Narodnaja Volja mit. Ebenso, wie die spätere menschewistische Kritik am ‚Jakobinismus‘ bzw. ‚Blanquismus‘ der Bolschewiki (vgl. Scherrer (1987), S. 249 ff., vgl. auch S. 247) auch vor dem Hintergrund der Konzeption des konspirativ arbeitenden Berufsrevolutionärs und der revolutionären Erziehungsdiktatur bei extremistischen Narodniki wie Netschajew und Tkatschev zu verstehen ist (vgl. Scherrer (1987), S. 224 ff.). – Plechanows Kritik des Anarchismus ist exemplarisch für seine zeitlebens, bereits gegen das Narodnitschestwo – in gewisser Weise auch später gegen die Bolschewiki – geäußerten Stellungnahmen gegen den revolutionären Subjektivismus und seine terroristischen Implikationen, vom Standpunkt eines für den orthodoxen Marxismus der Zweiten Internationale typischen Verständnisses der objektiv notwendigen, nicht voluntaristisch hintergehbaren Gesetzmäßigkeiten des durch die Dialektik von Produktivkraftentwicklung und Produktionsverhältnissen und durch den Klassenkampf vorangetriebenen historischen Entwicklungsprozesses (vgl. Kallscheuer (1986), S. 521 ff., insbes. S. 529 f.). 279 Man hatte bewußt den hundertsten Jahrestag des Sturms auf die Bastille gewählt – und prägte einen weiteren bedeutenden revolutionären Kampf- und Feiertag: mit dem Beschluß, am 1. Mai 1890 weltweit für die Einführung des achtstündigen Arbeitstages zu demonstrieren (vgl. Scherrer (1987), S. 240; Abendroth (1973), S. 64). 278

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hatte sich im Erfurter Parteiprogramm von 1891 offiziell zum Marxismus bekannt,280 drei Jahre, bevor im Februar 1894 der Vorwärts Plechanow den Auftrag gab, die Broschüre über Anarchismus und Sozialismus zu verfassen.281 Zwei Jahre später, 1896, wurde auf dem Londoner Kongreß der Zweiten Internationale der Ausschluß anarchistischer Gruppierungen beschlossen.282 Demnach wurden fortan nur solche Organisationen zugelassen, die „die Umwandlung der kapitalistischen Eigentums- und Produktionsordnung in die sozialistische Produktions- und Eigentumsordnung anstreben und die Teilnahme an der Gesetzgebung und die parlamentarische Tätigkeit anerkennen. Anarchisten sind mithin ausgeschlossen“.283 Die Auseinandersetzungen mit den Anarchisten hatten noch die vorangegangenen Kongresse der Zweiten Internationale gekennzeichnet, und in noch größerem Umfang waren sie prägend für die politisch-programmatischen Konflikte in der 1864 in London gegründeten Internationalen Arbeiter-Association, also der Ersten Internationale, zu deren Auflösung sie beigetragen haben.284 Spätestens 1866 in Genf, auf dem ersten öffentlichen Kongreß der Internationalen Arbeiter-Association,285 waren die programmatischen Gegensätze zwischen Marx und den Anhängern Proudhons in ihrer Unvereinbarkeit hervorgetreten.286 Dieser Konflikt dominierte vorerst die weiteren Zusammenkünfte der Internationale, bis er 1869 – die Proudhonisten waren im Vorjahr in Brüssel in der Frage der Sozialisierung der Produktionsmittel durch öffentlichen Zwang überstimmt worden – auf dem Baseler Kongreß beendet, aber sogleich durch den Konflikt zwischen Marx und Bakunin abgelöst wurde, der sich in Folge weiter verschärfte.287 Plechanow befindet in diesem Sinne: „Die innere Geschichte der Internationalen Arbeiter-Assoziation ist die Geschichte des Kampfes zwischen dem Proudhonismus und dem von Marx entwickelten modernen Sozialismus“.288 Der „linke Flügel der Proudhonistischen Armee“ bekannte sich nach dem Brüsseler Kongreß zum „Kollektivismus“, dessen „hervorragendste[r] Verfechter [. . .] damals Michael Bakunin“ war.289 Der Streit ging nun vor allem um die Frage der richtigen Strategie im proletarischen Kampf um die Überwindung des Kapitalismus mit dem Ziel der Abschaffung der Herrschaft 280 281 282 283 284 285 286 287 288 289

Vgl. Göhler/Klein (1993), S. 551 ff.; Abendroth (1973), S. 70 f. Vgl. Plechanow (1911), S. I. Vgl. Abendroth (1973), S. 65. Zit. n. Abendroth (1973), S. 65. Vgl. Abendroth (1973), S. 42 ff., 65; vgl. Guérin (1967), S. 73 ff. Vgl. Abendroth (1973), S. 38 ff. Vgl. Abendroth (1973), S. 42 ff. Vgl. Abendroth (1973), S. 42 ff.; vgl. Plechanow (1911), S. 43. Plechanow (1911), S. 42 f. Plechanow (1911), S. 42 f. – H. i. O.

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von Menschen über Menschen.290 Vor dem Hintergrund des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 und der jede Revolutionshoffnung nachhaltig dämpfenden Erfahrung der blutigen Niederschlagung der Pariser Commune im Mai 1871 setzte der von Marx geführte Generalrat auf der Londoner Konferenz der Internationale eine Resolution durch, die die europaweite Gründung legaler nationaler Arbeiterparteien forderte, die erst die Voraussetzungen für eine zukünftige sozialistische Revolution politisch erkämpfen sollten.291 Bakunin und seine Anhänger, für die – in ihrer kategorischen Ablehnung jeder ‚politischen‘ Arbeit durch Einflußnahme auf staatliche Gesetzgebung oder parlamentarische Mitarbeit – diese Strategie inakzeptabel war, wurden im Folgejahr, 1872 auf dem Haager Kongreß, aus der Internationalen Arbeiter-Association ausgeschlossen, die aber selbst infolge dieser Spaltung „zugrunde gehen sollte“ und 1876, im Todesjahr von Marx’ politischem Widersacher und persönlichem Rivalen Bakunin, auch formell ihr Ende erklärte.292 Vor dem Hintergrund dieser Geschichte läßt sich bereits die 1889er, von Marxisten initiierte „Wiedererrichtung der Internationale“293 als anti-anarchistische Gegengründung verstehen, in deren Konsequenz jener Unvereinbarkeitsbeschluß der Londoner Konferenz von 1896 lag, mit dem innerhalb der Internationale die Auseinandersetzungen mit dem Anarchismus endgültig beendet waren.294 Gleichwohl blieb der Anarchismus nach wie vor auf der Ebene der nationalen Arbeiterbewegungen, namentlich in den romanischen Ländern Spanien, Italien und Frankreich, insbesondere im gewerkschaftlichen Bereich und insofern als Anarcho-Syndikalismus, nicht ohne Einfluß.295 Nachdem sich die Zweite Internationale 1896 in London vom Anarchismus befreit hatte und sich 1900 in Paris organisatorisch eingerichtet hatte, u. a. durch die Schaffung eines Internationalen Sekretariats mit Sitz in Brüssel, konnten noch auf ihrer im August 1904 in Amsterdam abgehalten Konferenz „die Anarchisten [als] unsere schlimmsten Feinde“ bezeichnet werden, wie Plechanow im Vorwort zur im selben Jahre erschienen zweiten Auflage seiner Anarchismus-Schrift berichtet.296 Er selbst fügt modifizierend hinzu, daß „die direkten und offenen Verteidiger des Kapitalismus [. . .] keine geringere feindliche Macht [bilden] als dessen mittelbare Vertreter, die Anarchisten. Daß aber die Anarchisten unsere unversöhnlichsten Feinde sind, steht außer Zweifel.“297 290 291 292 293 294 295 296

Vgl. Göhler/Klein (1993), S. 607 f. Vgl. Abendroth (1973), S. 45 ff. Abendroth (1973), S. 49, vgl. S. 44 f., 49 f.; vgl. Göhler/Klein (1993), S. 590. Abendroth (1973), S. 64. Vgl. Guérin (1967), S. 76 f. Vgl. Göhler/Klein (1993), S. 555 ff.; Abendroth (1973), S. 65. Plechanow (1911), S. I; vgl. Abendroth (1973), S. 65, 72.

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bb) Ideologie und Wahrheit, Utopismus und Wissenschaft, Anarchismus und Sozialismus: das ideologiekritische Paradigma Plechanows Anarchismus-Schrift von 1894 steht somit im Zeichen der Durchsetzung des politischen und weltanschaulichen Führungsanspruchs des Marxismus innerhalb der internationalen und der russischen Arbeiterbewegung, verbunden mit der Etablierung einer – den Historischen Materialismus im Stile Kautskys deterministisch-objektivistisch interpretierenden – marxistischen Orthodoxie, die als „wissenschaftlicher Sozialismus“ mit Alleinvertretungsanspruch auf die Nachfolge von Marx und Engels ihr Monopol auf wahre Weltdeutung behauptet.298 In dieser Hinsicht liegt Plechanows Titel Anarchismus und Sozialismus die ideologiekritische Unterscheidung von ‚Ideologie und Wahrheit‘ zugrunde,299 die bei ihm spezifiziert als Unterscheidung des ‚utopistischen Standpunktes‘ von demjenigen des ‚wissenschaftlichen Sozialismus‘ zur Anwendung kommt. Plechanows daraus resultierende Einordnung des Anarchismus überrascht nicht: „Die Anarchisten sind Utopisten. Ihr Gesichtspunkt hat nichts gemein mit dem des modernen wissenschaftlichen Sozialismus.“300 Utopismus und Wissenschaft, utopistischer Anarchismus und wissenschaftlicher Sozialismus sind – wie Ideologie und Wahrheit – einander ausschließende, unversöhnliche Gegensätze. Plechanow definiert: „Utopist ist Jeder, der auf eine vollkommene soziale Organisation sinnt und dabei von einem abstrakten Prinzip ausgeht“ (S. 6 – H. i. O.). Im Gegensatz dazu ist der Ausgangspunkt der „Sozialwissenschaft und des Sozialismus unserer Zeit“, die beide von Marx in Kopernikanischer Weise revolutioniert worden sind (vgl. S. 13 ff.), „der der ökonomischen Wirklichkeit und der ihrer Entwicklung innewohnenden Gesetze.“ (S. 16 – H. i. O.) Plechanows Erläuterung der Entgegensetzung von ‚Utopismus‘ und ‚Sozialwissenschaft‘ ist typisch sowohl für das szientistische Selbstverständnis und doktrinäre Selbstbewußtsein der marxistischen Theoretiker der Zweiten Internationale als auch für ihre objektivistische Auslegung des Historischen Materialismus mit ihren geschichtsdeterministischen und dogmatischen Tendenzen.301 Der Utopismus geht von abstrakten Prinzipien aus, der wissenschaftliche Sozialismus bzw. Marxismus geht – als, wie Plechanow wiederholt betont, „Gesellschaftswissenschaft“ bzw. „soziale Wissenschaft“ (S. 13), 297

Plechanow (1911), S. I f. Vgl. Kallscheuer (1986), S. 521 ff.; Göhler/Klein (1993), S. 551 ff. 299 Vgl. zur ideologiekritischen Leitdifferenz und ihrer semantischen Tradition Barth (1974); Luhmann (1991a); Neusüss (1986). 300 Plechanow (1911), S. 72. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich in diesem und den folgenden Unterabschnitten ebenfalls auf Plechanow (1911). 301 Vgl. Göhler/Klein (1993), S. 552 ff.; Kallscheuer (1986), S. 521 ff. 298

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auf die die „große revolutionäre Partei unserer Zeit, die internationale sozialistische Demokratie“ sich stützt (S. 14) – von der sozialen Wirklichkeit aus und erkennt so die „ökonomische Notwendigkeit“ und den „Klassenkampf“ (S. 14 f.) als die „geheime Kraft, welche die geschichtliche Bewegung der Menschheit hervorbringt“ (S. 12). Seitdem Marx mit seiner „vollständig materialistische[n] Auffassung der Geschichte“, die „eine der größten Entdeckungen“ des 19. Jahrhunderts ist (S. 13), die Sozialwissenschaft auf eine der Naturwissenschaft vergleichbare „solide Basis“ gestellt und „ihr Grundproblem“ gelöst hat (S. 12 f.), ist der abstrakte Standpunkt des Utopismus einerseits wissenschaftlich überholt und andererseits als typische bürgerliche, nämlich sozial durch den Klassenstandpunkt der Bourgeoisie bedingte Ideologie erkennbar. Der Rückblick vom Standpunkt des wissenschaftlichen Sozialismus verdeutlicht die Charakteristiken und Transformationen des Utopismus als einer bürgerlich-ideologischen Bewußtseinsform, die durchaus ihre historischen Verdienste hatte. Die „utopistischen Sozialisten“ des 18. und frühen 19. Jahrhunderts gingen, sich hierin „in nichts von den Materialisten des achtzehnten Jahrhunderts“ unterscheidend, direkt oder indirekt vom „abstrakten Prinzip“ der „menschlichen Natur“ aus (S. 6 – H. i. O.). „Die menschliche Natur ist ihr unabänderliches Kriterium bei der Kritik der bestehenden Gesellschaft und ihren Untersuchungen über die soziale Organisation einer vollkommenen Verfassung, wie dieselbe sein sollte.“ (S. 6) Unter dem historisch-materialistischen „Gesichtspunkt des wissenschaftlichen Sozialismus“ (S. 11) läßt sich aber, erstens, erkennen – und den utopistischen Sozialisten wie den französischen Materialisten des 18. Jahrhunderts entgegenhalten –, daß nicht die menschliche Natur „jene Triebfeder, jene Kraft [ist], die die menschliche Gattung in Bewegung setzt, die sie von einer Stufe ihrer Entwicklung zur andern führt“ (S. 8 – H. i. O.), sondern der „gesellschaftliche[] Produktionsprozeß“: „Indem der Mensch, um seine Existenz zu fristen, auf die Natur außer ihm einwirkt, verändert er seine eigene Natur.“ (S. 13 – H. i. O.) „Natur“ spezifiziert Plechanow als die „Gewohnheiten“ der in durch den gesellschaftlichen Produktionsprozeß bedingten Beziehungen zueinander stehenden Menschen, „ihre Gefühle, ihre Neigungen, ihre Art zu denken und zu handeln. [. . .] So ist es also nicht die menschliche Natur, aus der sich die historische Bewegung erklärt, es ist die historische Bewegung, durch welche die menschliche Natur verschieden gestaltet wird.“ (S. 13 f. – H. i. O.) Zweitens läßt sich ganz im Sinne dieser Einsicht, in ideologiekritischer Anwendung des Satzes von der sozialen Seinsbedingtheit des Bewußtseins, erkennen, was der tatsächliche Inhalt der von den philosophischen Materialisten und utopistischen Sozialisten zur ‚menschlichen Natur‘ erklärten Abstraktion ist. „In Wirklichkeit hatten die französischen Philosophen beständig die ihnen vorliegenden ökonomischen

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und politischen Bedürfnisse des dritten Standes im Auge; dies war ihr tatsächliches Kriterium. Aber sie bedienten sich seiner unbewußter Weise“ (S. 5 – H. i. O.), und das gleiche gilt für die „Utopisten[, die] sich in Wirklichkeit [. . .] auf die idealisierte Natur des Menschen ihrer Zeit beriefen, die derjenigen Klasse angehörten, deren soziale Tendenzen sie vertraten.“ (S. 11 – H. i. O.) Der wissenschaftliche Standpunkt des Marxismus bewährt sich auch darin, diese strukturellen Latenzen, das durch ihre gesellschaftliche Position bedingte ‚Unbewußte‘ der bürgerlichen Utopisten zu erkennen. Als Vertreter der seinerzeit noch revolutionären Klasse der Bourgeoisie und mit ihrem für die damalige Wissenschaft paradigmatischen „Gesichtspunkt der menschlichen Natur“ (S. 8, vgl. S. 16) sind diese Utopisten gleichwohl als zu ihrer Zeit fortschrittlich zu bewerten.302 Beim gegenwärtigen Stand des historischen Entwicklungsprozesses, vom Standpunkt des wissenschaftlichen Sozialismus und des Proletariats als der neuen revolutionären Klasse, die die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft überwinden wird (vgl. S. 84), ist aber der vormals progressive utopistische Standpunkt nicht nur wissenschaftlich überholt, sondern auch als Ideologie objektiv konservativ, wenn nicht reaktionär bzw. konterrevolutionär. Und diese Bewertung (be)trifft die Anarchisten (vgl. S. 80), in denen Plechanow die Nachfolger jenes Utopismus erkennt. „Wie alle utopistischen Sozialisten gehen die Anarchisten bei ihren Deduktionen von einem abstrakten Prinzip aus. Ihr Prinzip ist das der absoluten Freiheit des Individuums.“ (S. VII) cc) Das individualistische Prinzip und die Praxis des Anarchismus: Antisozialität des Einzigen Übereinstimmend mit so verschiedenen nichtmarxistischen Interpreten wie Georg Adler, Kropotkin oder Zenker, erscheint also auch bei Plechanow der Anarchismus als Individualismus. Aus dem individualistischen Prinzip der absoluten Freiheit des Individuums folgt „die anarchistische Regel: ‚mache, was Du willst‘.“303 Diese Regel zeichnet den Anarchismus für Plechanow nicht nur als eine extrem individualistische Ideologie aus.304 Sie erklärt als individualistisches Prinzip zudem, ähnlich wie in Georg Adlers 302

Vgl. auch Marx/Engels (1848), S. 70. Plechanow (1911), S. 70 – H. i. O. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich im vorliegenden Unterabschnitt weiterhin auf Plechanow (1911). 304 Der Anarchismus teilt diese Regel – und übrigens auch die einschlägigen Referenzautoren Stirner und Nietzsche – mit seinem extremistisch-individualistischen Verwandten, dem Satanismus, wie er zur gleichen Zeit von dem Okkultisten Aleister Crowley (‚The Great Beast‘) unter der Formel: „Do what thou wilt shall be the whole of the law“ verkündet wurde (zit. n. Baddeley (1999), S. 26, vgl. S. 23 ff., bes. S. 28 f.; vgl. auch Dvorak (2000), S. 15 ff.). Siehe auch unten, VI. 3. a) bb). 303

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Argumentation, die antisozialen und spezifisch destruktiven Erscheinungsformen des Anarchismus in Gestalt der „Propaganda der Tat“, die, als Plechanow „im Frühjahr 1894“ seine Broschüre schrieb, „lebhafter als je am Werk war“, wie er sich im Vorwort zur dritten Auflage von Anarchismus und Sozialismus erinnert (S. III).305 So treten die Anarchisten „im Namen der individuellen Freiheit [. . .] alle Rechte ihrer Mitmenschen mit Füßen“ (S. 80 f. – H. i. O.). Der ‚halsbrecherische‘ Widersinn dieser „ganze[n] anarchistische[n] Doktrin“ wird augenscheinlich, wenn dieser „Logik“ gemäß „der erstbeste Besessene, blos weil es ihm so gefällt, soviel Menschen tödten darf, wie er will“ (S. 81 – H. i. O.). Wenn die Anarchisten „Fais ce que voudras – Thue was Dir beliebt“ proklamieren (S. 80), so liefern sie mit diesem Prinzip uneingeschränkter individueller Willkürfreiheit die ideologische Rechtfertigung für „die gemeinsten und widerlichsten Verbrechen“, wie sie etwa Ravachol beging (S. 78), aber auch dafür, „das Proletariat auszubeuten“, wie es „[d]er Bourgeoisie ‚beliebt‘“ (S. 80). Der Unterschied zwischen diesen beiden sozialphänomenologischen Varianten eines antisozialen Individualismus erscheint unter diesem Aspekt als bloß gradueller. „Die Moral der Anarchisten ist die von Personen, die jede menschliche Handlung vom abstrakten Gesichtspunkt der unbegrenzten Rechte des Individuums abschätzen, und die im Namen dieser Rechte die grausamsten Gewaltthaten, die abstoßendste Willkür für ‚nichtschuldig‘ erklären.“ (S. 80) Diese individualistische Moral des Anarchismus ist demnach die antisoziale Moral von Verbrechern – zumal „es nicht wenig Individuen giebt, die zu gleicher Zeit ‚Banditen‘ und Anarchisten sind. Ravachol ist durchaus keine Ausnahme“ (S. 79 – H. i. O.) – oder auch diejenige „der gekrönten Häupter: ‚sic volo!‘ ‚sic jubeo!‘ (So will ich, so befehle ich!)“ (S. 80). Als Beleg hierfür kann Plechanow noch 1911 im Vorwort zur dritten Auflage seiner Broschüre auf die Veröffentlichung von Gedanken des 1894 guillotinierten Émile Henry in einer aktuellen Ausgabe des anarchistischen Wochenblattes Le Libertaire hinweisen, die Ravachols Taten als diejenigen eines „bewußte[n] Rebell[en]“ feiern. Die „Tatsache, daß die Redaktion des ‚Libertaire‘ ohne Vorbehalt die [. . .] Gedanken Emile Henris reproduziert“, beweist, daß „für sie ein ‚bewußter Rebell‘ wie Ravachol das Recht hat, alles zu tun, was er will, weil er allein Richter über seine Handlungen – ein Uebermensch eigner Art ist. Hätte ich nicht das Recht zu sagen, daß heute, im Jahre 1911 des Herrn, es wie im Jahre 1894 Anarchisten gibt, deren Moral genau die der absoluten Monarchen ist?“ (S. V) 305

Georg Adler hatte ja bereits in der ersten Fassung seines Artikels (1890) in dieser Richtung individualismustheoretisch argumentiert und dies für die 1898er Fassung ausgebaut, offensichtlich auch durch Plechanows Ausführungen von 1894 inspiriert, von dem er teils Passagen fast wörtlich übernimmt (vgl. Plechanow (1911), S. 82 f., und Adler (1898), S. 315).

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Der Individualismus, als den Plechanow den Anarchismus insgesamt erkennt, entspricht also etwa demjenigen ‚autoritären‘ oder ‚elitären‘ Individualismus, den Kropotkin gerade aus dem Anarchismus ausschließt. Stirnerinterpretationsschematisch handelt es sich hierbei, wie durch Plechanows Verweis auf den ‚absoluten Monarchen‘ und durch seine Lesart des ‚Übermenschen‘ verdeutlicht wird, um die sozialdimensional asymmetrische Konzeption der All-Einzigkeit. Und so wie für Kropotkin (neben Nietzsche) insbesondere Stirner der Inbegriff dieses antisozialen, aber nicht-anarchistischen Individualismus ist, ist für Plechanow ebenfalls Stirner der Inbegriff dieses antisozialen Individualismus, den er aber – im polemischen Gegensatz zu Kropotkin – mit dem utopistischen Prinzip des Anarchismus schlechthin identifiziert. Plechanow kommentiert ein Zitat Kropotkins, in dem dieser Proudhon zum „Vater der Anarchie“ erklärt, „der sie im Jahre 1848 zum ersten Male auseinandergesetzt hat“, mit den Worten: „Wie es meinem liebenswürdigen Landsmann öfter passiert, hat Krapotkin da etwas behauptet, was nicht stimmt.“ (S. 17)306 Denn noch bevor Proudhon „daran gegangen war, die anarchistische Theorie ‚im Jahre 1848‘ auseinanderzusetzen, war die Arbeit schon von dem Deutschen Max Stirner (Pseudonym für Caspar Schmidt) im Jahre 1845, in dem Buche ‚Der Einzige und sein Eigenthum‘ besorgt worden. Max Stirner hat somit ein ziemlich wohlbegründetes Recht auf den Titel des Vaters der Anarchie.“ (S. 17 – H. i. O.) Und Stirner ist in der „historische[n] Entwicklung der anarchistischen Doktrin“ nicht nur derjenige, „der diese Theorie zum ersten Mal ‚auseinandergesetzt‘ hat.“ (S. 17) Er ist vor allem auch „der unerschrockenste, der konsequenteste der Anarchisten. Neben ihm ist Proudhon, den Krapotkin, wie alle lebenden Anarchisten für den Vater der Anarchie halten, nur ein steifkragiger Philister.“ (S. 26 – H. i. O.) Denn Stirner hat „den Muth seiner Meinung gehabt“, er hat „seine individualistische Theorie bis zum äußersten Ende verfolgt“ (S. 26). 306 Plechanows ‚liebenswürdiger Landsmann‘ Kropotkin wird, als prominentester zeitgenössischer Vertreter des Anarchismus in Form des „anarchistischen Kommunismus“ und als „Engel dieser Schule“ (Plechanow (1911), S. 58), von Plechanow bevorzugt mit derartigen Bemerkungen bedacht: Das Prädikat der ‚Liebenswürdigkeit‘ teilt „unser liebenswürdiger Landsmann“ Kropotkin mit „unsere[r] liebenswürdige[n] Kaiserin Katharina II.“ (S. 62) Wissenschaftlich bescheinigt Plechanow dem „‚gelehrte[n]‘ Krapotkin“ (S. 69) „‚absolute‘ Naivität“ (S. 68 – H. i. O.), „ohne auch nur die geringste Ahnung von dem [. . .], was die Methode der modernen Sozialwissenschaft ist“ (S. 62), um, mit Bezug auf dessen wirklichen akademischen Beruf, den „gelehrten Geologen Krapotkin“ (S. 76) als „de[n] beste[n] Geometer der Welt“ (S. 74) zu verspotten. Und mit Blick auf die „sogenannte anarchistische Taktik“ lästert Plechanow: „In ihren Träumen von Putschen und selbst von Revolutionen verbrennen die Anarchisten mit Leidenschaft und Entzücken die Eigenthumstitel und alle Regierungspapiere. Es ist besonders Krapotkin, der diesen ‚Autodafés‘ eine enorme Wichtigkeit beilegt. Man möchte sagen, ein rebellischer Bureaukrat.“ (S. 73 – H. i. O.).

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Stirners „anarchistische Theorie“ ist mithin nicht nur die erste, sondern in ihrem konsequenten Individualismus auch die reinste (S. 17). Und als solche ist sie ein „‚egoistische[s]‘ System par excellence. Es ist vielleicht das Einzige, das die Geschichte des menschlichen Gedankens überhaupt zu verzeichnen hat.“ (S. 21 – H. i. O.) Die Quintessenz dieses egoistischen Systems besteht in Plechanows Rekonstruktion in einem spekulativ-dialektischen Dreischritt von These, Antithese und Synthese: „Ich bin Ich, das ist Ausgangspunkt“ (S. 23 – H. i. O.), „nämlich das einzige reale Wesen, unser eigenes ‚Ich‘“ im Gegensatz zum Feuerbachschen „Wesen des Menschen“ und allen sonstigen Ideen (S. 19). Der nächste Schritt ist die Negation des Nicht-Ich durch das Ich: „Nicht-Ich ist nicht = Ich, das ist sein Resultat“ (S. 23 – H. i. O.). Deswegen sind „Religion, Gewissen, Moral, Recht, Gesetz, Familie, Staat [. . .] ebensoviel Joche, die man Mir im Namen einer Abstraktion auferlegt, sind ebensoviel Zwingherren, die ‚Ich‘, das Meiner eigenen ‚Sache‘ bewußte Individuum, mit allen mir zur Verfügung stehenden Mittel bekämpfe.“ (S. 19 – H. i. O.) Plechanow weist darauf hin, daß die „Schlüsse unseres Schriftstellers“ aufgrund ihres apodiktischen Charakters – gleichsam die logische Entsprechung dessen, was psychologisch als charakterliche Intransigenz und Idiosynkrasie erscheint – „unwiderleglich“ sind, „weil sagen: Ich erkenne nichts über Mir, schon behaupten heißt: Ich fühle mich durch jede Einrichtung unterdrückt, die mir irgend eine Pflicht auferlegt. Es ist dies eine einfache Tautologie.“ (S. 20 – H. i. O.) Diese einfache Tautologie wird schließlich zu einer vielfachen Tautologie summiert. Denn „es ist klar, daß kein ‚Ich‘ allein existiren kann. Stirner weiß das sehr wohl, und das ist auch der Grund, weshalb er seine ‚Vereine der Egoisten‘ predigt, das heißt freie Vereinigungen, in die jedes ‚Ich‘ eintritt und in denen es bleibt, wann und so lange dies mit seinen Interessen übereinstimmt.“ (S. 20 f. – H. i. O.) Und so lautet der dritte, ‚synthetische‘ Schritt: „Ich + Ich + Ich + etc. – das ist seine soziale Utopie. Es ist der in den Dienst der sozialen und politischen Kritik gestellte reine und einfache subjektive Idealismus.“ (S. 23 – H. i. O.) Und hierdurch läßt sich Stirner als nicht nur „der Theoretiker des Egoismus par excellence“ (S. 21) ausweisen, sondern auch als Anarchist im Plechanowschen Sinne, nämlich als ein individualistischer Utopist. dd) Stirners ideologiegeschichtliche Bedeutung, seine Epigonen und der soziale Standort des Anarchismus In gewisser Weise war Stirner seinerzeit, nämlich am Vorabend der historisch-materialistischen Revolutionierung der Sozialwissenschaft, somit der letzte Utopist, dem noch partiell fortschrittliche Einsichten konzediert werden können, denn das jeglichen Utopismus wissenschaftlich wie politisch

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diskreditierende Programm von Marx und Engels war ja erst im Entstehen. Gleichwohl zeigt diese Tatsache, daß Stirner mit seinem utopistischen Individualismus hinter den objektiven Erkenntnismöglichkeiten der Zeit zurückgeblieben ist, wie die großartige Leistung der Gründer des Wissenschaftlichen Sozialismus verdeutlicht: Unter den gleichen geschichtlichen Bedingungen der gesellschaftlichen Entwicklung – und spezifisch aus dem gleichen junghegelianischen Kontext stammend – ist Stirner Utopist geblieben – „[d]er Einzige kam zu spät“307 –, während Marx und Engels daran gingen, die sozialwissenschaftliche Erkenntnis und die revolutionäre Bewegung auf den Boden des Historischen Materialismus zu stellen. Und wer sich nach dessen Entfaltung immer noch in die utopistische Tradition, speziell in diejenige des Stirnerschen Anarchismus, und gegen den Marxismus stellt, der disqualifiziert sich in Plechanows Augen selbst. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zur historischen Dialektik der Bewußtseinsformen und ihrer jeweiligen Bewertung in Abhängigkeit zum objektiven Stand der gesellschaftlichen Entwicklung sind die folgenden Ausführungen Plechanows zunächst über die ‚Verdienste Stirners‘ zu verstehen (vgl. S. 22 ff.), sodann aber auch diejenigen über die ‚Dekadenz‘ seiner anarchistischen Nachkommen und die Obsoleszenz der von diesen verfolgten ‚revolutionären‘ Taktik, die das bewußte Proletariat einerseits nicht mehr anspricht und ihm andererseits in seinem Befreiungskampf schadet.308 Im einzelnen hebt Plechanow drei Verdienste Stirners hervor. Das erste hängt mit der ostentativen „Immoralität“ zusammen, mit der Stirner den ‚philiströsen‘ Moralismus der „guten Bürger“ in die „äußerste Entrüstung versetzt“ und deren Klassen-Egoismus decouvriert (S. 21). „Erstens besteht das unbestreitbare Verdienst Stirner’s darin, daß er öffentlich und energisch jene süßsaure Sentimentalität der bürgerlichen Reformer und vieler utopistischer Sozialisten bekämpft hat, wonach die Emanzipation des Proletariats das Resultat sein werde des ‚tugendhaften Handelns‘ von Leuten von ‚Hingebung‘ aus verschiedenen Klassen und hauptsächlich aus der Klasse der Besitzenden. Stirner weiß sehr gut, was von dem ‚Opfermuth‘ der Ausbeuter zu erwarten ist.“ (S. 22 – H. i. O.) Da es „die ‚Armen‘ (dies die Terminologie unseres Autors)“ sind, die „den Reichthum der Reichen schaffen“ und erst dadurch, durch ihre Selbstunterwerfung, ihr eigenes Elend erzeugen, „brauchen sie sich nur gegen die Reichen aufzulehnen [. . .] und die Herrschaft des Reichthums wird ein Ende haben. Das Heil liegt im Kampf und nicht in unfruchtbaren Appellen an die Großmuth der Bedrücker. – Stirner predigt somit den Klassenkampf.“ (S. 22 – H. i. O.) Allerdings ge307 Plechanow (1911), S. 24. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich im vorliegenden Unterabschnitt weiterhin auf Plechanow (1911). 308 Vgl. Plechanow (1911), S. 54 ff., 72 ff., 80 ff.

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schieht dies Plechanow zufolge bei Stirner auf der abstrakt-spekulativen Grundlage der sozialwissenschaftlich, und insbesondere ökonomisch uninformierten Vorstellung, daß „eine Summe abstrakter Quantitäten“ (S. 24 – H. i. O.), nämlich eine „gewisse[] Anzahl ‚Ichs‘“ (S. 22), die durch ihre jeweiligen, nicht näher bestimmbaren „Interessen“ geleitet sind (S. 24), mitund gegeneinander kämpfen. Stirner kann deshalb über „die wirkliche Grundlage der einen oder anderen Verbindung ihrer Interessen [. . .] nichts irgendwie Bestimmtes [. . .] sagen, weil man von den Höhen der Abstraktion aus, in die er sich emporschwingt, in der ökonomischen Realität, der Mutter und Amme der – egoistischen oder altruistischen – ‚Ichs‘ nicht Genaues mehr erblickt.“ Daher bleibt nicht nur „die soziale Utopie Stirner’s“, sein „Verein der Egoisten“ eine Abstraktion, sondern „sogar über jenen Begriff des Klassenkampfes, dem er sich sonst ziemlich glücklich nähert, [kann er] nicht ins Klare kommen“ (S. 24 – H. i. O.). Seiner – jeder klassensoziologischen Analyse und Geschichts- bzw. Revolutionstheorie enthobenen – Vorstellung zufolge wird, nachdem die ‚Armen‘ die ‚Reichen‘ „besiegt haben werden [. . .,] Jeder der früheren Armen, wie Jeder der früheren Reichen gegen jeden der früheren Armen und gegen jeden der früheren Reichen kämpfen. Dann wird ‚der Krieg Aller gegen Alle‘ sein. [. . .] Und die Statuten der ‚Vereine der Egoisten‘ werden in diesem kolossalen Kriege, diesem allgemeinen Kampfe, ebenso viele partielle Waffenstillstände sein. Es liegt ein kriegerischer Humor darin, aber von dem Realismus, von dem Max Stirner träumte, nichts!“ (S. 24 – H. i. O.) Gerade in diesem Mangel an sozialem und sozialwissenschaftlichen Realismus wird aber Stirners zweites „unbestreitbares Verdienst“ deutlich, nämlich daß dieser „das letzte Wort der idealistischen Spekulation gesprochen“ hat (S. 22 – H. i. O.). In seinem Bestreben, über die Abstraktionen vor allem Feuerbachs hinauszugehen und diese hinter sich zu lassen, um auf die „Wirklichkeit“ zu kommen, in der es „nur Individuen“ gibt, erzeugt Stirner, indem er „das Individuum im Allgemeinen“ zum Ausgangspunkt nimmt, nur „eine neue Abstraktion, und die magerste dazu“, nämlich „das ‚Ich‘“. Mit dieser letzten und äußersten Abstraktion von der Realität vollzieht Stirner den „Selbstmord der idealistischen Spekulation“ (S. 23 – H. i. O.). Vom Standpunkt des wissenschaftlichen Sozialismus läßt sich für Plechanow allerdings erkennen, wie sehr dennoch die Realität, vor der der Utopist Stirner seine Augen verschließt, dessen Utopie prägt, wie sehr also dessen ideologisches Bewußtsein, mit objektiver Notwendigkeit – „ob er will oder nicht“ (S. 24 – H. i. O.) –, durch sein ‚soziales Sein‘ bedingt ist. „Die erhabene Region des abstrakten ‚Ich‘ bewahrt Stirner nicht vor den Zudringlichkeiten der ökonomischen Wirklichkeit. Er erzählt uns nicht nur vom ‚Ein-

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zigen‘: sein Thema ist ‚Der Einzige und sein Eigenthum‘.“ (S. 24 – H. i. O.) Und in der Analyse der Stirnerschen Eigentumsvorstellungen wird sein Anarchismus insgesamt ideologiekritisch entlarvt: Denn bei allem Verbalradikalismus, mit dem der Einzige alles zu seinem Eigentum erklärt, dessen er sich bemächtigen kann und das er in seine Gewalt bekommt, ist der „Teufel [. . .] jedoch nicht so schwarz, wie er auf den ersten Blick scheint. Stirner stellt sich die gegenseitigen Beziehungen der ‚egoistischen‘ Eigenthümer mehr wie solche des Tausches als solche des Raubes vor. Und die Macht, an welche er unablässig appellirt, ist vielmehr die ökonomische Macht eines von allen Fesseln, die der Staat und die ‚Gesellschaft‘ im Allgemeinen ihm auferlegen oder aufzuerlegen scheinen, befreiten Waarenproduzenten. Es ist die Seele eines Waarenproduzenten, die aus dem Munde Stirners spricht. [. . .] Er will sein Eigenthum, sein ganzes Eigenthum. Der Staat zwingt ihn, Steuern zu zahlen, der Staat erlaubt sich, ihn ihm Namen des öffentlichen Wohls zu expropriiren. [. . .] Nieder also mit dem Staat, es lebe das einfache und vollkommene Eigenthum des Einzelnen!“ (S. 25 f. – H. i. O.) Dies ist also der ideologische Kern des Stirnerschen Anarchismus. „Sein ‚Verein der Egoisten‘ ist nichts als eine Utopie eines empörten Kleinbürgers. In diesem Sinne kann man sagen, daß er das letzte Wort des bürgerlichen Individualismus gesprochen hat.“ (S. 26 – H. i. O.) Wenn daher Plechanow anschließend als Stirners „drittes Verdienst“ dessen intellektuellen Mut und gedankliche Konsequenz würdigt, die ihn seinen Individualismus ins Extrem haben steigern lassen und ihn so zum ‚unerschrockensten und konsequentesten der Anarchisten‘ machen (S. 26), so ist dies zwar einerseits eine ernstgemeinte Achtungsbezeugung gegenüber der intellektuellen Leistung Stirners, auch wenn diese nur zu einer Ideologie geführt hat, aus der die empörte Seele eines kleinbürgerlichen Warenproduzenten spricht. Gerade deswegen liegt darin aber andererseits eine gezielte Entwertung der anderen Anarchisten – und ein gewollter Affront gerade denen gegenüber, die sich, wie Kropotkin, explizit von Stirner distanzieren –, die somit erstens als theoretisch Stirner unterlegen erscheinen und sich zweitens ebenso wie dieser als bürgerliche Ideologen entpuppen. Stirner ist als anarchistischer Theoretiker konsequenter als sein ‚philiströser‘ Zeitgenosse Proudhon, aber auch als Bakunin – der „hervorragendste Verfechter“ des „anarchistischen Kollektivismus“ (S. 43 f.), der „Proudhonist“, der zusätzlich vom „‚Marxismus‘ sophistiziert“ und ‚verfälscht‘ wurde (S. 52, vgl. S. 46 f.), ohne allerdings die materialistische Geschichtsauffassung verstanden zu haben (vgl. S. 47) – und dessen „Epigonen“, allen voran Kropotkin, der „Engel“ des „anarchistischen Kommunismus“ (S. 57 f., vgl. S. 61 ff.), der im Grunde das gleiche ist wie der anarchistische Kollektivismus (vgl. S. 59). Für sie alle zeigt Plechanow im einzelnen, daß sie im Prinzip, genauso wie Stirner, Utopisten, Individualisten und bürgerliche

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Ideologen sind, wenn auch von unterschiedlicher Originalität und Konsequenz. So war Proudhon, der andere und aus anarchistischer Sicht offizielle „Vater der Anarchie“ (S. 26, 33), der „typischste Repräsentant des Sozialismus des Kleinbürgerthums“ (S. 33 – H. i. O.), also jener Klasse, als deren ideologische Verkörperung auch der Einzige sich darstellte, und deren „Schicksal“ es ist, „beständig zwischen dem Radikalismus und dem Konservatismus zu schwanken“ (S. 33, vgl. S. 36 ff.). Beide „‚Väter‘ der Anarchie“ sind Utopisten, denn „[j]eder von ihnen stützte sich auf ein abstraktes Prinzip: Stirner auf das des ‚Ich‘, Proudhon auf das des ‚Vertrags‘.“ (S. 42 – H. i. O.)309 Außerdem sind diese „beiden ‚Väter‘ Individualisten vom reinsten Wasser.“ (S. 42 – H. i. O.) Ihr Nachfolger Bakunin gewinnt seinen anarchistischen Kollektivismus aus dem „Zusammenleimen [. . .] verschiedene[r] ‚absolute[r]‘ Prinzipien“ in der „einfachen Addition von zwei abstrakten Prinzipien, dem der Freiheit und dem der Gleichheit“, und bleibt damit „trotz der Bekanntschaft, die er mit der historischen Theorie von Marx gemacht, ein unverbesserlicher Utopist“ (S. 49). Gerade in dem Stirner-epigonalen Bemühen um die Weiterentwicklung des Anarchismus kommt dessen ideologiegeschichtliche Bedeutung für Plechanow in symptomatischer Weise zum Ausdruck. Der Anarchismus ist nicht nur das letzte Wort des bürgerlichen Individualismus, wie sich bereits an Stirner zeigt, sondern in ihm manifestiert sich auch der Niedergang der gesamten utopistischen Tradition, den Bakunin markiert. „Der Anarchismus der Stirner und Proudhon war völlig individualistisch. Bakunin ‚wollte‘ keinen Individualismus, oder, besser gesagt, er ‚wollte‘ nur eine Seite des Individualismus. Er erfand daher den anarchistischen Kollektivismus. Diese Erfindung hat ihm jedoch sehr wenig gekostet. Er ergänzte die Freiheitsutopie durch die Gleichheitsutopie. Da indeß diese beiden Utopieen nicht in Frieden leben ‚wollten‘, da sie ob der Zusammenleimung laut aufschrien, warf er sie beide in den Hochofen der ‚Revolution in Permanenz‘, wo sie nachgerade gezwungen waren, zu schweigen – aus dem einfachen Grunde, weil die Eine ebenso vollständig verdampfte, wie die Andere. Bakunin ist der Decadent des Utopismus.“ (S. 57 – H. i. O.) Und auch Kropotkin ist „trotz seiner Verachtung der Utopisten“ selbst ein ebensolcher, und zudem noch „einer der wenigst scharfsinnigen Utopisten, ein gewöhnlicher Jäger nach ‚dem besten Ideal‘“ (S. 69). In Kropotkins Ideal des ‚anarchistischen Kommunismus‘ erkennt der marxistische Ideologiekritiker 309 Über Proudhon und seine „kleinbürgerliche Utopie“ (Plechanow (1911), S. 36) stellt Plechanow fest: „Er mag die Utopisten noch so sehr verdammen, er ist selbst bis zu seinen Fingerspitzen Utopist. Was ihn von Männern wie Saint-Simon, Fourier und R. Owen unterscheidet, ist die Armuth und äußerste Beschränktheit des Geistes, ist der Haß gegen jede wirklich revolutionäre Bewegung und Idee.“ (S. 39 – H. i. O.).

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den bürgerlichen Individualismus, mit dem Stirner die anarchistische Tradition gegründet hat. Kropotkins „Ideal ist gleich dem Bakunin’s in Wirklichkeit ein ‚doppeltes‘; es ist in Wahrheit erzeugt worden durch den Verkehr des Bourgeois-Radikalismus, oder vielmehr des Manchesterthums mit dem Kommunismus“ (S. 71 – H. i. O.). Aber eine dieser ‚unversöhnlichen‘ „zwei Naturen des anarchistischen Ideals“, das radikal-liberale ‚Manchestertum‘,310 obsiegt, und dies zeigt wiederum, welchen Klassenstandpunkt der Anarchismus, auch in der ‚kommunistischen‘ Fassung Kropotkins, ideologisch artikuliert. Wie bereits Stirner, aus dessen Ideologie des Einzigen der sich gegen die fiskalischen Zudringlichkeiten des Staates empörende Warenproduzent spricht, wollen auch die Anhänger Kropotkins „mit der Zerstörung des Staats“ beginnen (S. 71 – H. i. O.). „Ihr Ausgangspunkt ist immer die unbegrenzte Freiheit des Individuums. Das Manchesterthum vor Allem – der Kommunismus kommt erst nachher. Aber um uns über das wahrscheinliche Schicksal dieser zweiten Natur ihres Ideals zu beruhigen, singen die Anarchisten unaufhörlich das Lob der Weisheit, der Güte und Vorsicht des Menschen der ‚Zukunft‘.“ (S. 71 f. – H. i. O.) Mit dieser Ausflucht besiegeln sie endgültig ihren Utopismus. ee) Gefahren des Anarchismus Der Anarchismus steht also insgesamt „in theoretischer Beziehung auf dem Boden des Utopismus“ und ist somit nur in seiner Bedeutung als bourgeoise Ideologie ernst zu nehmen. In „praktischer Beziehung“ aber ist zu bedenken, daß der Anarchismus aufgrund seiner Taktik „für den gegenwärtigen Befreiungskampf des Proletariats negativ wirkt“.311 Zum einen beschädigt das zeitgenössische Erscheinungsbild der anarchistischen Taktik, die spektakulären Anschläge und andere Straftaten, das Image der revolutionären Bewegung insgesamt und wird insbesondere zum Anlaß bzw. Vorwand für staatliche Repressalien, auch gegen die Sozialdemokratie genommen. „Es braucht nicht erst gesagt zu werden, daß die Bourgeoisregierungen, so scharf sie auch mit den Verübern der Attentate verfahren mögen, sich ob deren Taktik nur gratuliren können. ‚Die Gesellschaft ist in Gefahr!‘ ‚Caveant consules!‘ Und die Polizei-‚Konsuln‘ handeln, während die öffentliche Meinung allen reaktionären Maßregeln, die die Minister behufs Rettung der Gesellschaft aushecken, Beifall klatscht.“ (S. 76 f. – H. i. O.) Die Arbeit der staatlichen Exekutivorgane, der „Terroristen in Uniform [wäre] weit schwerer [. . .], wenn die Anarchisten nicht mit so viel Eifer be310

Heute spricht man von ‚Neoliberalismus‘. Plechanow (1911), S. I. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich im vorliegenden Unterabschnitt weiterhin auf Plechanow (1911). 311

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müht wären, sie ihnen zu erleichtern.“ (S. 77 – H. i. O.) Zum anderen aber werden diese – auch moralisch zu verurteilenden – anarchistischen Aktionen günstigstenfalls – also dort, wo sie nicht unmittelbarer Ausfluß des ‚Banditentums‘ sind (vgl. S. 78 f.) – mit Argumenten begründet und gerechtfertigt, die wiederum von der individualistischen Ideologie und den für sie typischen Fehleinschätzungen geprägt sind, und die strategisch fatal wie politisch inakzeptabel sind. Das betrifft vor allem die anarchistische Ablehnung des seit der 1871er Konferenz der Internationale in London von den Marxisten als für den Klassenkampf notwendig erachteten ‚politischen Kampfes‘, also die Organisation des Proletariats in sozialdemokratischen Parteien, die den Emanzipationskampf der Arbeiterbewegung auch in die Parlamente des bürgerlichen Staates tragen und auf dem Wege der Gesetzgebung vorantreiben.312 „Der korrumpierende Einfluß der parlamentarischen Umgebung auf die Arbeiterdeputierten ist bis auf den heutigen Tag das geschätzteste Argument der Anarchisten bei ihrer Kritik der politischen Thätigkeit der sozialistischen Demokratie“, wenngleich es theoretisch wie praktisch unhaltbar ist (S. 56). An Bakunin zeigt sich in für den Anarchismus paradigmatischer Weise, wohin dieser Antiparlamentarismus führt und aus welchen Quellen er kommt. „Indem Bakunin alle ‚Politik‘ negirte, sah er sich gezwungen, die Taktik der alten englischen Trades-Unionisten anzunehmen.“ (S. 56) Die Kehrseite dieser aus einem antipolitischen Mißverständnis des ‚sozialen Kampfes‘ resultierenden ökonomistischen Engführung des ‚revolutionären‘ Kampfes bilden jakobinistische, putschistische und letztlich terroristische Subjektivismen (vgl. S. 56, 64). Da nämlich Bakunin selbst die trade-unionistische „Taktik wenig revolutionär“ vorkam, suchte er sich „mit Hilfe seiner ‚Alliance‘ aus der Verlegenheit zu ziehen, einer Art geheimer internationaler, auf dem Prinzip des wildesten und gröbst-phantastischen Zentralismus organisirten Gesellschaft. Der diktatorischen Fuchtel des souveränen Oberpriesters der Anarchie unterworfen, sollten die ‚internationalen‘ und die ‚nationalen‘ Brüder die ‚in ihrem ganzen Wesen ökonomische‘ revolutionäre Bewegung beschleunigen und leiten. In gleicher Zeit predigte Bakunin die ‚Putsche‘, die örtlichen Erhebungen von Arbeitern und Bauern, die, trotzdem sie unvermeidlich würden niedergeschlagen werden, doch, wie er behauptet, einen guten Einfluß auf die Entwicklung des revolutionären Geistes unter den Bedrückten haben würden.“ (S. 56 – H. i. O.) Sowohl die ökonomistische Ablehnung der politischen Organisationsformen der Sozialdemokratie als auch die subjektivistische Selbstüberhöhung des ‚souveränen Oberpriesters der Anarchie‘ mit ihren diktatorischen und 312

Vgl. Plechanow (1911), S. 33 ff., 52 ff., 72 ff.

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terroristischen Implikationen sind typischer Ausdruck des anarchistischen Individualismus, wie sich vollends am Schicksal der „bakunistische[n] Theorie der ‚Putsche‘“ (S. 56) zeigt: Denn „je mehr sich das Klassenbewußtsein des Proletariats entwickelt, desto mehr neigt sich dasselbe auf die Seite der politischen Aktion“ – das heißt der Sozialdemokratie und ihrer Kampfformen – „und läßt die zur Zeit seiner Kindheit so häufigen Putsche fahren. [. . .] Da das Proletariat an der Taktik der Putsche keinen Geschmack fand, waren die [anarchistischen] ‚Genossen‘ gezwungen, sie durch die ‚individuelle Aktion‘ zu ersetzen.“ (S. 72 f. – H. i. O.) In der Konzeption der ‚individuellen Aktion‘ offenbart sich der Anarchismus erneut als Individualismus, von dem das in seinem Klassenbewußtsein gereifte Proletariat nichts wissen will, und der bezeichnenderweise Beifall vor allem bei bourgeoisen Vertretern der literarischen Décadence wie Tailhade findet (vgl. S. 80 ff.). Von anarchistischer Seite wird anläßlich des Vaillantschen Anschlages diese individualistische Entwicklung der „Propaganda der That“, die sich im Unterschied zu ihrer putschistischen Anfangszeit fast nur noch in Form „persönliche[r] Attentate gegen öffentliche Gebäude, gegen Personen“ äußert, damit gerechtfertigt, „daß das Volk Blut genug hat lassen müssen“ und es daher „besser“ sei, „daß Leute von Herz sich opfern und auf ihre eigene Gefahr Gewaltakte begehen, die die Terrorisirung der Regierung und des Bourgeois zum Zweck haben“ (S. 73 – H. i. O.). Diese Verherrlichung des ‚eigenverantwortlichen‘ Terroristen ist Plechanow zufolge die logische Konsequenz der antipolitischen, also antiparlamentarischen und organisationsfeindlichen Haltung der Anarchisten; zwei Seiten der gleichen individualistischen Medaille: „Wenn man die politische Aktion der Arbeiterklasse verwirft, so gelangt man, wenn man nur nicht den bürgerlichen Politikern dienen will, nothwendigerweise dazu, die Taktik der Vaillant und Henry anzunehmen.“ (S. 73 f.) Der Anarchismus erweist sich somit nicht nur in theoretischer Hinsicht, als Utopismus bezüglich des in konsequentester Weise bei Stirner begründeten abstrakten Prinzips der uneingeschränkten Freiheit des Individuums, sondern auch in praktischer Hinsicht, mit seiner Taktik der ‚individuellen Aktion‘, als individualistische Ideologie. Bezüglich der taktischen Ebene resümierend, polemisiert Plechanow in diesem Sinne: „Ein Anarchist will keinen ‚Parlamentarismus‘, weil dieser das Proletariat nur ‚einschläfert‘; er will keine ‚Reformen‘, weil Reformen Kompromisse mit den besitzenden Klassen bedeuten. Er will die Revolution, die einfache, ganze, unmittelbare und unmittelbar ökonomische Revolution. Um dies Ziel zu erreichen, versieht er sich mit einem mit Explosivstoffen angefüllten Topf und schleudert denselben in irgend ein Kaffeehaus oder Theater auf das Publikum. Er behauptet, das sei ein Stück ‚Revolution‘, wir aber erblicken darin nur einen ‚unmittelbar‘ rasenden Wahnwitz.“ (S. 76 – H. i. O.)

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Der bereits skizzierte historische Entstehungs- und Verbreitungskontext von Plechanows Schrift legt nahe, die hierin gegebene Deutung Stirners als eines paradigmatischen Anarchisten nicht nur vor dem allgemeineren zeitgeschichtlichen Hintergrund der Stirner-Renaissance und der im Erscheinungsjahr von Anarchismus und Sozialismus vorerst in Henrys Attentat auf das Café Terminus kulminierenden anarchistischen Anschlagswelle zu sehen (vgl. S. I, III ff.), sondern vor allem auch im Zusammenhang mit den von verschiedenen Seiten ausgehenden Bemühungen um die Überwindung der als bürgerlich-kapitalistisch verstandenen modernen Gesellschaft. Wenn Plechanow in detaillierten Analysen der bekanntesten Vertreter des Anarchismus – von Stirner bis Kropotkin – diesen vom Standpunkt marxistischer Ideologiekritik als bürgerlichen Individualismus und Utopismus entlarvt, dann beglaubigt sich darin zum einen die epistemologische Wahrheit dieser Erkenntnis; denn jede wahre Erkenntnis von Bewußtseinsformen hat im Sinne des wissenschaftlichen Sozialismus von der historisch-materialistischen Kerneinsicht der ‚sozialen Seinsbedingtheit des Bewußtseins‘ auszugehen und diese unter Berücksichtigung der antagonistischen Bedingungen der Klassengesellschaft ideologiekritisch zu artikulieren. Deswegen erhält aber zum anderen, wie jede Ideologiekritik,313 auch diese ideologiekritische Entlarvung des Anarchismus als bürgerlicher Individualismus eine spezifisch denunziatorische und polemische Bedeutung, und zwar in doppelter Stoßrichtung: einerseits gegen den Anarchismus selbst, sowie gegen andere revolutionäre Rivalen, inklusive konkurrierender Richtungen und Auffassungen innerhalb des marxistischen Lagers, die allesamt als der bürgerlichkapitalistischen Gesellschaft verhaftete, ideologische Bewußtseinsformen diskreditiert werden; andererseits gegen diese bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft, die darin, daß sie im Anarchismus und seinen terroristischen und dekadenten Auswüchsen eine derartig antisoziale individualistische Ideologie hervorbringt, die ohnehin objektive Notwendigkeit ihrer revolutionären Überwindung nur um so deutlicher bezeugt. Ein ähnliches polemisches Dopplungsschema in der Kritik an Stirners antisozialem bourgeoisen Individualismus war, mutatis mutandis, bei Kropotkin zu beobachten, für den der 313 Im marxistischen Selbstverständnis ist ja die Ideologiekritik einerseits das einzige wissenschaftlich adäquate Verfahren für die ‚wahre‘ Erkenntnis von – immer durch soziales Sein bedingten – Bewußtseinsformen, die andererseits aufgrund der antagonistischen Struktur der historisch-sozialen Wirklichkeit auch, als Entlarvung von Klassenfeinden, eine Waffe im Klassenkampf darstellt; insofern ist, im Sinne der historisch-materialistischen bzw. marxistischen Programmierung von Wahrheit, wissenschaftliche Erkenntnis ohne Kritik an den zu überwindenden Verhältnissen und deren ideologischen Repräsentanten nicht zu haben – ein historisch vom Junghegelianismus über Marx/Engels und den Marxismus bis zur Frankfurter Schule und ihren Nachfolgern variierter Kerngedanke ‚kritischer Theorie‘. – Siehe hierzu auch unten, VII. 2. b) und 3. b) cc), insbesondere (2), und dd), sowie VIII. 3. a).

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Einzige in seinem anti-egalitaristischen Individualismus Inbegriff sowohl der durch staatliche Herrschaft garantierten Ungleichheit in der bürgerlichkapitalistischen Gesellschaft als auch, in gewisser Weise, des im Marxismus verkörperten Autoritarismus und Etatismus war. Im Streit um die revolutionäre Deutungshegemonie schoben sich Marxismus und Anarchismus gegenseitig den Einzigen als den ‚schwarzen Peter‘ zu. ff) Der Einzige als Denunziationsschema: Stirner und der Anarchismus als ideologiekritische Medien marxistischer Polemik Plechanows erste polemische Stoßrichtung in Anarchismus und Sozialismus geht also zunächst auf die Disqualifikation des Anarchismus als eines rivalisierenden revolutionären Projektes im Kampf um die Gunst und politische Führung der Arbeiterschaft. Zudem geht es um die Distanzierung vom in der öffentlichen Wahrnehmung mit dem Anarchismus identifizierten Terrorismus, der staatlicherseits zum Anlaß und Vorwand für Repressionen auch gegen Sozialdemokraten genommen wird314 und für Plechanow nicht nur moralisch verwerflich ist, sondern auch als unpopulär innerhalb des klassenbewußten Proletariats gilt.315 Die Sichtweise des Anarchismus als bürgerliche Ideologie und Individualismus ist paradigmatisch für den Marxismus und wird zeitgenössisch beispielsweise von Lenin übernommen, der 1901 mit namentlicher Nennung Stirners und Bakunins notiert: „Anarchismus ist umgestülpter bürgerlicher Individualismus. Der Individualismus als Grundlage der gesamten Weltanschauung des Anarchismus.“316 Und anläßlich der Ermordung Elisabeths von Österreich durch Lucheni stellt August Bebel fest, daß „[d]ie Anarchisten [. . .] im Grunde genommen die konsequenten, ins Extrem gehenden Ausläufer der bürgerlichen Liberalen“ sind, „mit deren Weltanschauung sie vieles gemein haben. Auch die Liberalen sahen einst in der Person eines Fürsten nicht den Träger des Systems, sondern das System selbst, weshalb in der Kampfperiode des Liberalismus auch Attentate keine Seltenheit waren.“317 314 Wie beispielsweise beim Erlaß des Bismarckschen Sozialistengesetzes nach Hödels und Nobilings Attentaten auf Wilhelm I., oder auch bei den Maßnahmen im Zuge der Lex Vaillant. Plechanow berichtet 1904 im Vorwort zur zweiten Auflage von Anarchismus und Sozialismus die „Kuriosität“, daß er selbst „[i]m Jahre 1894, also in demselben Jahre, wo die Schrift gegen den Anarchismus erschienen ist, [. . .] aus Frankreich als Anarchist ausgewiesen“ wurde (Plechanow (1911), S. II – H. i. O.). 315 Vgl. Plechanow (1911), S. 72 f., 76 ff. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich im vorliegenden Unterabschnitt weiterhin auf Plechanow (1911). 316 Lenin (1901), S. 331 – H. i. O. 317 Bebel (1898), S. 313.

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Darüber hinaus ist Plechanows ideologiekritische Entlarvung des Anarchismus als bürgerlicher Individualismus und Utopismus ein gängiges und vielseitig anwendbares Denunziationsschema, das typisch ist für den Umgang des Marxismus mit politisch und ideologisch konkurrierenden Projekten zur Überwindung der ‚bürgerlich-kapitalistischen‘ Moderne. Daß hierbei gerade Stirner oft ein dankbares Objekt der Ideologiekritik ist, an dem sich, als pars pro toto, ganze Traditionszusammenhänge etwa der ‚bürgerlichen Protestbewegungen‘318 oder der ‚(proto)faschistischen Mittelstandsideologie‘319, ideologiekritisch erkennen und erledigen lassen, zeigt sich auch an den Deutungen des Einzigen bei späteren Autoren, die nach dem prinzipiell gleichen Schema wie Plechanow vorgehen, wenn auch, anders als Plechanow, in Kenntnis der Marx-Engelsschen Ur-Abrechnung mit Stirner in der erstmals 1932 vollständig veröffentlichten Deutschen Ideologie.320 Aber be318

Vgl. Holz (1976). Siehe unten, VIII. 3. a). Vgl. Helms (1966). Siehe unten, VIII. 1. c) und d). 320 Plechanow, der zweifellos mündlich von seinem 1895 verstorbenen „unvergeßliche[n] Meister Friedrich Engels“ über Stirner instruiert wurde (Plechanow (1911), S. I), verweist anstelle der für ihn nicht verfügbaren Deutschen Ideologie (1845/46) auf Die heilige Familie (1845) als Kritik des Junghegelianismus durch die Gründer des Historischen Materialismus (vgl. Plechanow (1911), S. 23 f.). Engels’ zeitgleich erschienene Lage der arbeitenden Klasse in England schlägt bereits den Ton der herrschenden Meinung in der historisch-materialistischen Stirner-Interpretation an: „Die freie Konkurrenz will keine Beschränkung, keine Staatsaufsicht, der ganze Staat ist ihr zur Last, sie wäre am vollkommensten in einem ganz staatenlosen Zustande, wo jeder den andern nach Herzenslust ausbeuten kann, wie z. B. in Freund Stirners ‚Verein‘.“ (Engels (1845), S. 488) „Daher kommt es denn auch, daß der soziale Krieg, der Krieg Aller gegen Alle, hier offen erklärt ist. Wie Freund Stirner sehen die Leute einander nur für brauchbare Subjekte an; jeder beutet den andern aus, und es kommt dabei heraus, daß der Stärke den Schwächeren unter die Füße tritt und daß die wenigen Starken, das heißt die Kapitalisten, alles an sich reißen, während den vielen Schwachen, den Armen, kaum das nackte Leben bleibt.“ (S. 257 – H. i. O.) – Plechanow war das historisch-materialistische Programm hinreichend vertraut, für dessen Zusammenfassung er, neben dem Kommunistischen Manifest (vgl. Plechanow (1911), S. 14 f.), in dem bereits Marx und Engels ihren kommunistischen Standpunkt demjenigen des Utopismus entgegenstellen (vgl. Marx/Engels (1848), S. 66 ff.), insbesondere die bekannte Stelle aus dem Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie zitiert, an der Marx jene ‚Selbstverständigungsschrift‘, die Deutsche Ideologie, – aber nicht Stirner als deren Gegenstand – erwähnt, die zur historisch-materialistischen Kerneinsicht führte, daß ‚das gesellschaftliche Sein das Bewußtsein bestimmt‘ (vgl. Plechanow (1911), S. 12 f.; vgl. Marx (1859), S. 13 f.; vgl. Marx/Engels (1845/46), S. 26 f.). Und insbesondere die zur gleichen Zeit und im selben thematischen Kontext wie die Deutsche Ideologie entstandenen Marxschen Feuerbachthesen (1845) kannte Plechanow, da Engels sie 1888 als Anhang seiner eigenen Feuerbach-Schrift veröffentlicht hatte (vgl. Marx (1845); Marx/Engels (1888); vgl. Marx/Engels, MEW 3, S. 547). Für Plechanows Kritik des Anarchismus, insbesondere in Gestalt Stirners, dürfte vor allem die sechste Feuerbachthese inspirierend gewesen sein, die sich explizit gegen Feuerbachs Gattungswe319

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reits bei Plechanow selbst deutet sich an, daß die Ideologiekritik am Anarchismus und seinen Vertretern sich, sowohl ihrem Grundschema nach – ‚bürgerlicher Individualismus und Utopismus‘ – als auch bezüglich spezifischer Motive – Terrorismus und ‚Putschismus‘, ‚ökonomistische‘ Vernachlässigung des politischen Kampfes, ‚subjektivistische‘ Autoritätsanmaßung einzelner Aktivisten – hilfreich ist, um auch sich selbst nicht dem Anarchismus zurechnende politische Gegner im revolutionären Kampf um eine andere Moderne, gegebenenfalls auch Konkurrenten im eigenen, sozialdemokratischen Lager, zu denunzieren und vom ‚wissenschaftlich-sozialistischen‘ Standpunkt marxistischer Orthodoxie aus der revolutionären Bewegung zu exkommunizieren. In seinem Vorwort von 1904 etwa warnt Plechanow die Genossen, daß es „ein unverzeihlicher Irrtum [ist], wenn man in der gewerkschaftlichen Bewegung einen neutralen Boden zur gemeinschaftlichen Betätigung mit den Anarchisten zu finden glaubt.“ (S. II) Wer sich als Sozialdemokrat für strategische Bündnisse mit den Anarchisten ausspricht, oder gar für die Übernahme ihrer Kampfmethoden, läuft Gefahr, den Boden des wissenschaftlichen Sozialismus zu verlassen und die revolutionäre Sache des Proletariats zu gefährden. Sieben Jahre später, im Vorwort zur dritten Auflage von Anarchismus und Sozialismus, erkennt Plechanow im „in den lateinischen Ländern, insbesondere in Frankreich und Italien“ verbreiteten „‚revolutionären‘ Syndikalismus“ einen „bereitstehenden Erben“ des seiner Einschätzung nach nunmehr schon ‚sterbenden‘ Anarchismus (S. V), dessen ‚tat-propagandistischer‘ Taktik und ‚utopistischer‘ Prinzipien, wenn auch diesbezüglich „durch und durch inkonsequent“, der „‚revolutionäre‘ Syndikalismus“ sich mehr und mehr annähert – und sich somit aus denselben Gründen wie der Anarchismus als haltlos erweist (S. VII, vgl. S. V ff.). Und bereits im Text von 1894 hatte Plechanow mit Blick auf die von den Narodniki programmatisch betriebene – und vom marxistischen Standpunkt rückwärtsgewandte und für die historischen Entwicklungsgesetzmäßigkeiten blinde – Idealisierung der bäuerlichen Gemeinschaft (‚Mir‘) angemerkt, daß es „besonders die Bakunisten [waren], die in Rußland das Vorurtheil von den wunderbaren Eigenschaften der russischen Landgemeinde verbreiteten.“ (S. 51) Generell bekämpfte Plechanow in seinem objektivistisch-deterministischen Verständnis der marxistischen Geschichtsauffassung alle Formen von ‚Idealismus‘, ‚Subjektivismus‘ und ‚Utopismus‘ als Gefährdungen der sosen-Abstraktion, implizit aber ebenso gegen Stirners Position des Einzigen als eines isolierten Individuums richtet und somit beiden das soziologische Verständnis des wirklichen Individuums als „ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ entgegensetzt (Marx (1845), S. 6; vgl. Marx/Engels (1888), S. 534; vgl. auch Deleuze (1962), S. 176).

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zialistischen Bewegung und befürchtete für den Fall einer zu früh unternommenen sozialistischen Revolution in Rußland, die das historisch notwendige Stadium einer bis an die Grenzen ihrer Produktivkraftentwicklung entfalteten bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsformation ‚voluntaristisch‘ überspringt, den „Rückfall in eine Art orientalischen Despotismus“.321 Vor diesem Hintergrund ist auch Plechanows – rückblickend als weitsichtig erscheinende – Kritik an Lenin zu verstehen, dieser mache mit seinem in Was tun? entwickelten Konzept der revolutionären AvantgardePartei, die das revolutionäre Bewußtsein erst in das Proletariat hereinzutragen habe,322 die „sozialistische Intelligencija zum Demiurgen der sozialistischen Revolution“ und verlasse somit den Boden des „wissenschaftlichen Sozialismus“, indem er dessen ‚Hauptprinzip‘ – „das Sein bestimmt das Bewußtsein“ – negiert.323 Lenin selbst hatte sich in Was tun? noch auf Plechanow berufen und in seiner eigenen Kritik des „Ökonomismus“ und des „Terrorismus“, insbesondere im Nachweis ihrer Komplementärität und „gemeinsame[n] Wurzel“,324 Plechanows diesbezügliche Argumentation gegen die anarchistische Ablehnung des ‚politischen Kampfes‘ in Verbindung mit der terroristischen Taktik sinngemäß übernommen.325 In Staat und Revolution schreibt Lenin dann allerdings über „Plechanows Polemik gegen die Anarchisten“, daß dieser es „fertig[brachte], dieses Thema zu behandeln und dabei das Aktuellste, Dringlichste und politisch Wesentlichste im Kampf gegen den Anarchismus, nämlich das Verhältnis der Revolution zum Staat wie überhaupt die Frage des Staates, völlig zu umgehen! In seiner Broschüre treten zwei Teile hervor: der eine – ein historisch-literarischer mit wertvollem Material zur Geschichte der Ideen Stirners, Proudhons u. a., der andere – ein philisterhafter mit platten Betrachtungen darüber, daß ein Anarchist von einem Banditen nicht zu unterscheiden sei. Eine höchst kuriose Themenverknüpfung, die für die ganze Tätigkeit Plechanows am Vorabend der Revolution und während der Revolutionsperiode in Rußland äußerst charakteristisch ist: Plechanow entpuppte sich denn auch in den Jahren 1905–1917 halb als Doktrinär und halb als Philister, der in der Politik im Nachtrab der Bourgeoisie einherging. [. . .] [Ü]ber ‚Anarchismus und Sozialismus‘ reden und dabei der ganzen Frage des Staates ausweichen [. . .], das hieß unvermeidlich zum Opportunismus abgleiten.“326 Dieser Abfertigung des ehemaligen Parteigängers 321 322 323 324 325 326

Kallscheuer (1986), S. 530, vgl. S. 528 ff.; vgl. Scherrer (1987), S. 238 ff. Vgl. Lenin (1902). Plechanow, zit. n. Scherrer (1987), S. 247. Lenin (1902), S. 413. Vgl. Lenin (1902), S. 413 ff.; Plechanow (1911), S. 56, 72 ff. Lenin (1918), S. 565 f.

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Plechanow liegt, ähnlich wie dessen früherer Kritik an Lenin, nicht nur der Machtkonflikt innerhalb der RSDRP zugrunde, sondern auch die fundamentalere Frage nach der Legitimität eines – und sei es auch nur vorübergehend – totalitären Ausweges aus der bürgerlich-kapitalistischen Moderne. Lenin wendet sich hier, als theoretischer wie praktischer Begründer der ‚Diktatur des Proletariats‘ – verstanden als Diktatur der das Proletariat vertretenden, von ihm geführten bolschewistischen Avantgarde-Partei –,327 gegen den Abtrünnigen Plechanow, der in seinem objektivistischen Verständnis des historischen Entwicklungsprozesses damit rechnet, daß infolge der proletarischen Revolution und der Überführung der Produktionsmittel in kommunistisches Gemeineigentum der Staat absterben und eine Diktatur nicht vonnöten sein würde – vorausgesetzt, die historisch notwendige Abfolge der Gesellschaftsformationen wird eingehalten: die sozialistische Revolution kann für Plechanow nur in einer entwickelten bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft glücken, andernfalls, bei objektiv vorzeitiger Revolution infolge subjektivistischer Ungeduld, droht jener „Rückfall in eine Art orientalischen Despotismus“.328 Tatsächlich beruft sich Plechanow in Anarchismus und Sozialismus ebenso wie Lenin in Staat und Revolution explizit auf Engels’ berühmte Darstellung des ‚Absterbens des Staates‘ aus dem Anti-Dühring, mit der bekannten Prognose, daß nach der proletarischen Revolution „an die Stelle der Regierung über Personen [. . .] die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen“329 tritt. Lenin aber zitiert die fragliche Stelle ausführlicher und hebt die von Plechanow ausgelassenen Passagen hervor, in denen Engels das Ergreifen der Staatsgewalt durch das Proletariat 327 Marx und Engels gebrauchen bereits den Begriff der ‚Diktatur des Proletariats‘, die theoretische und praktische Spezifikation ist Lenin zuzuschreiben, der sich selbstverständlich exegetisch auf die beiden beruft (vgl. Lenin (1918), S. 485; vgl. Lenin, AW 3, S. 756). Bereits seit 1913 konnte man ja wissen: „Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist.“ (Lenin (1913), S. 329) – Unter den Bedingungen einer totalitären Diktatur galt dann zumindest der Umkehrschluß. 328 Kallscheuer (1986), S. 530. – Bis 1904, als Plechanow die von Lenin in Was tun? formulierte Parteitheorie kritisierte, hatten beide zusammengearbeitet, u. a. gemeinsam 1900 die Zeitschrift Iskra gegründet (vgl. Scherrer (1987), S. 245). Plechanow wechselte dann aber zu den Menschewiki über, deren führender Taktiker Aksel’rod die „putschistisch-verschwörerische Taktik der Bolschewiki [als] ‚ein Gemisch anarchistischer und blanquistischer Tendenzen‘“ verurteilte (S. 250), und sprach sich schließlich während des Ersten Weltkrieges, als Vertreter der äußersten Parteirechten ‚defensistisch‘ für die ‚Verteidigung des Vaterlandes gegen das reaktionäre Deutschland‘ aus (vgl. S. 254 ff.). – Nach Plechanows Tod rühmte gleichwohl der (siegreiche) Lenin dessen Schriften, für deren 24bändige Werkausgabe er sorgte, als „das Beste in der ganzen internationalen marxistischen Literatur“ (Lenin (1921), S. 106; vgl. Scherrer (1987), S. 241; Kallscheuer (1986), S. 529). 329 Engels (1894), S. 323; vgl. Plechanow (1911), S. 42.

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prognostiziert und sich explizit gegen die „Forderung der sogenannten Anarchisten“ wendet, „der Staat solle von heute auf morgen abgeschafft werden“.330 Wer daher, wie es „Gemeingut des sozialistischen Denkens in den heutigen sozialistischen Parteien geworden ist“, behauptet, der Unterschied zwischen dem marxistischen und dem anarchistischen Staatsverständnis bestünde lediglich darin, daß die Anarchisten den Staat ‚abschaffen‘ wollen, während er „nach Marx ‚abstirbt‘“, der, schließt Lenin, stutzt den Marxismus zurecht und mindert ihn zum „Opportunismus“ herab.331 Im Sinne des Opportunismus, dem Plechanow und mit ihm die „II. Internationale in der überwältigenden Mehrheit ihrer offiziellen Vertreter sich vollkommen [. . .] verschrieben“ haben,332 bedeutet „[d]as ‚Absterben‘ des Staates [. . .] eine Vertuschung, wenn nicht gar eine Verneinung der Revolution“333 – und, wie Lenin auf den folgenden Seiten ausführt,334 es bedeutet insbesondere, die Notwendigkeit der „Diktatur des Proletariats“335 zu leugnen. Wie sich somit an Lenins Behandlung der von ihm als Beispiel für die „Vulgarisierung des Marxismus durch die Opportunisten“ angeführten „Polemik gegen die Anarchisten“ seitens Plechanows zeigt,336 läßt sich der politisch-ideologische Rivale um den revolutionären Führungsanspruch bereits dadurch disqualifizieren, daß er den Anarchismus mit den falschen Argumenten kritisiert – und dadurch seinen ‚philiströsen‘ Standpunkt enthüllt, der letztlich dem bourgeoisen Klassenstandpunkt der Anarchisten und ihrer Anverwandten nicht unähnlich ist. Dementsprechend bezeichnet Lenin in diesem Zusammenhang den – von Plechanow, wie oben zitiert, umißverständlich abgelehnten – Anarchosyndikalismus als „leibliche[n] Bruder des Opportunismus“.337 Wie man sich zum Anarchismus positioniert – bzw.: wie man zu ihm positioniert wird – ist also hochgradig brisant. Es genügt nicht, den Anarchismus abzulehnen: man muß ihn aus den richtigen Gründen ablehnen. Plechanow selbst hatte bereits gezeigt, daß die Bourgeoisie über keine theoretisch angemessenen Argumente gegen den Anarchismus verfügt, weil dieser selbst eine bürgerliche Ideologie ist; dieses Schema wendet Lenin jetzt gegen Plechanows Anarchismus-Kritik, in deren ‚Philisterhaftigkeit‘ sich der klassenverräterische Opportunismus offenbart.

330 331 332 333 334 335 336 337

Lenin (1918), S. 478 f.; Engels (1894), S. 322 f. Lenin (1918), S. 479. Lenin (1918), S. 582. Lenin (1918), S. 479. Vgl. Lenin (1918), S. 479 ff., 485 ff., 502 ff. Lenin (1918), S. 483, 485. Lenin (1918), S. 565. Lenin (1918), S. 507.

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gg) Der Anarchismus als Dekadenz-Symptom der untergangsgeweihten bürgerlichen Welt Durch die Entlarvung von bürgerlich-individualistischen und utopistischen Elementen, wie sie der Anarchismus aufweist, in konkurrierenden politisch-weltanschaulichen Positionen lassen diese sich also vom marxistischen Standpunkt als unwissenschaftlich und konterrevolutionär disqualifizieren, da sie als Ideologie in affirmativer, wenn nicht reaktionärer Weise der gegenwärtigen, bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsformation angehören. Daraus ergibt sich als zweite kritische Stoßrichtung von Plechanows Anarchismus und Sozialismus, gleichsam durch Umkehrung des Denunziationsschemas, mit dem der Anarchismus als bürgerlicher Individualismus decouvriert wird, eine Entlarvung eben dieses bürgerlichen Individualismus und der diesen bedingenden, sittlich korrumpierenden und korrupten Gesellschaft, als deren Wahrheit bzw. naturwüchsige Konsequenz der Anarchismus in seinen Exzessen nun erkennbar wird. Deswegen weiß bezeichnenderweise die „Bourgeoisie [. . .] in ihrer Bestürztheit nicht, was gegen sie unternehmen. Auf dem Boden der Theorie ist sie gegen die Anarchisten absolut ohnmächtig. Dieselben sind ihre eigenen Schreckenskinder. Sie war es, die zuerst die Theorie des ‚Gehenlassens‘, den Individualismus mit fliegenden Haaren, propagirte. [. . .] Die ‚Genossen‘ sind die thätigen und rührigen Leute, die die Bourgeoislogik auf die Spitze treiben.“338 Umgekehrt ist daher ein Anarchist, der diese letzte Konsequenz scheut und „der ‚die Propaganda der That‘ verneint“, dementsprechend „[n]ichts als ein träumender und sentimentaler Bourgeois!“ (S. 81 – H. i. O.) So nimmt Plechanows Schrift über Anarchismus und Sozialismus schließlich in der Auseinandersetzung mit dem Individualismus der ‚Bourgeoisie‘ und mit dem zeitgenössischen Erscheinungsbild des Anarchismus im Hinblick auf dessen ‚Moral und Taktik‘ eine deutlich kulturkritische Wendung (vgl. S. 72 ff., 81 ff.). Diese dient zunächst appellativ der Mobilisierung von Überlegenheits- und Abwehraffekten beim klassenbewußten Proletariat gegenüber der verkommenen und verdorbenen Bourgeoisie und deren verzogenen Sprößlingen, den Anarchisten, die gewissermaßen als die ‚Schmuddelkinder‘ der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft erscheinen, vor denen der Marxist das Proletariat warnt. Vor allem geht es Plechanow bei dieser kulturkritischen Sicht auf den Anarchismus als symptomatische Ausprägung des bürgerlichen Individualismus um den Nachweis, oder vielmehr die Insinuation, daß die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft in ihren entwickeltsten Formen in West- und Mitteleuropa bereits in ein Verfallsstadium einge338 Plechanow (1911), S. 81. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich im vorliegenden Unterabschnitt weiterhin auf Plechanow (1911).

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treten ist, das ihre revolutionäre Überwindung durch das sozialdemokratisch organisierte Proletariat nicht nur wünschenswert und dringlich macht, sondern auch von der objektiven historischen Nähe dieser Überwindung zeugt. Der Anarchismus ist in dieser Perspektive ein Dekadenz-Phänomen. Bereits der Anarchismus Bakunins, des „Decadent des Utopismus“ (S. 57 – H. i. O.), markiert die Dekadenz der – vormals, zu Zeiten des bürgerlichen Emanzipationskampfes progressiven – bürgerlich-utopistischen Tradition und damit das nahenden Untergang des bürgerlichen Zeitalters. „Die Utopisten unserer Tage, die Anarchisten, sind Quintessenzen-Auszieher (‚abstracteurs de quintessence‘), die nichts verstehen, als so gut es eben geht, einige dürftige Schlüsse aus einigen vermumifizirten Prinzipien zu ziehen. [. . .] Sie sind die Utopisten des Verfalls, geschlagen von unheilbar geistiger Blutarmuth. Die großen Utopisten haben viel für die Entwicklung der Arbeiterbewegung gethan. Die Utopisten unserer Tage thun nichts, als ihren Fortschritt aufzuhalten.“ (S. 72 – H. i. O.) Schon Stirners theoretische Gründung des Anarchismus war nicht nur der ‚Selbstmord der idealistischen Spekulation‘, sondern insbesondere das ‚letzte Wort des bürgerlichen Individualismus‘, wie sich jetzt, im Rückgriff gegenwärtiger Individualisten auf diesen Anarchismus zeigt. Die auch von Plechanow gern zitierten Vertreter der literarischen Décadence, die in ihrer ‚Blasiertheit‘ mit dem Anarchismus und seinen zeitgenössisch Aufsehen erregenden terroristischen Ausdrucksformen kokettieren, zeugen sinnfällig von der Kongenialität des Anarchismus und des dekadenten Individualismus als dem ideologischen Ausdruck einer welthistorisch im Niedergang befindlichen Klasse, der Bourgeoisie, und der von ihr dominierten kapitalistischen Gesellschaftsformation. „Damit, daß sich die Niedergangs-Schriftsteller fin de siècle der anarchistischen Doktrin bemächtigen, geben dieselben ihr ihren Charakter als Bourgeoisindividualismus. Wenn Krapotkin und Reclus im Namen des vom Kapitalisten bedrückten Arbeiters sprechen, sprechen ‚La Plume‘ und ‚Le Mercure de France‘ im Namen des ‚Individuums‘, das sich aller Fesseln der Gesellschaft zu entledigen sucht, um endlich frei zu thun, was ihm ‚beliebt‘. So kommt der Anarchismus wieder auf seinen Ausgangspunkt zurück. Stirner sagte: ‚Mir geht Nichts über Mich‘. Laurent Tailhade sagt: ‚Was kommt es auf den Tod unbestimmten Menschenvolks an, wenn sich durch ihn das Individuum bekräftigt?‘“ (S. 82 – H. i. O.). Die von Plechanow vorgenommene Parallelisierung Stirners und Tailhades kommt auch sprachlich zum Ausdruck, wenn er beider individualistische Konsequenz würdigt: „Tailhade ist ein ‚Dekadent‘ (Verfallsmensch), der gerade infolge des Umstandes, daß er blasirt ist, den Muth seiner anarchistischen Ueberzeugung hat.“ (S. 80) In idiomatisch gleicher Weise hatte Plechanow an Stirner als verdienstvoll hervorgehoben, daß dieser „den Muth seiner Meinung gehabt“ hat, der ihn „seine individualistische Theorie bis zum äußersten Ende“ hat verfolgen lassen

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(S. 26). Das von Stirner als erstem und von Tailhade – als vorläufig letztem – konsequent bis zum antisozialen Extrem getriebene Prinzip der schrankenlosen Selbstverwirklichung des Individuums ist die ideologische Wahrheit der bürgerlichen Gesellschaft – und ihr Untergang. Im ‚Verfallsmenschen‘ Tailhade kehrt der Einzige zurück, und diese Rückkehr, dieses Wiedergängertum ist – wie die oben zitierte ‚Blutarmuth‘ und die im gleichen Kontext stehende Beobachtung „wandelnde[r] Leichen“ (S. 83) – selbst ein Zeichen der Dekadenz. Die zeitgenössische Popularität des Anarchismus im Ende des 19. Jahrhunderts, die anarchistische Moral, die mit dieser verbrämten ‚tat-propagandistischen‘ und verbrecherischen Aktionsformen und auch der Anteil krimineller Elemente innerhalb der anarchistischen Bewegung (vgl. S. 78 ff.) – diese insgesamt antisozialen Erscheinungsformen des Individualismus sind in Plechanows Augen grelle Symptome für die strukturellen Defizienzen und die soziale Pathogenität der individualistischen bürgerlichen Gesellschaft. Hiermit erhält die Modernitätsdiagnose des Marxisten Plechanow eine kulturkritische Akzentuierung – derjenigen der zeitgenössischen, ‚bürgerlichen‘ Gründer der klassischen Soziologie ähnlich –,339 der zufolge der Anarchismus, als bürgerlich-individualistisches Dekadenz-Phänomen, ein typisches Beispiel für die Anomien ist, die die bürgerlich kapitalistische Gesellschaft mit Notwendigkeit erzeugt. Anomische Phänomene wie der Finde-siècle-Anarchismus belegen aufgrund ihrer Destruktivität in dieser kulturkritischen Sicht die Dringlichkeit, die Gesellschaftsformation zu überwinden, die diese Anomien erzeugt. Voraussetzung für diese ‚sozialphilosophische‘ Verbindung von ‚Sozialpathologie-Diagnose‘ und – in diesem Falle: revolutionärer – ‚Therapeutik‘,340 ist der von dem marxistischen Ideologiekritiker Plechanow geführte Nachweis, daß der Anarchismus eine Variante des bürgerlichen Individualismus ist. Nur so läßt sich der Anarchismus, vor allem in seinen destruktiven Auswüchsen, für die Fundamentalkritik der bürgerlichen Gesellschaft nutzen. Und nur deshalb kann Plechanow diese kulturkritische Perspektive zugleich in seine marxistische Geschichtstheorie einbetten und so auf eine ‚objektive‘ Grundlage stellen. Das zeitgenössische Bild des Anarchismus, der Rückgriff auf die Tradition, die bereits in ihrer Entstehungszeit bei Stirner der Selbstmord der idealistischen Spekulation und das letzte Wort des bürgerlichen Individualismus war und bei Bakunin den Verfall des Utopismus markiert, zeugt nicht nur in seinen anomischen Implikationen, kulturkritisch betrachtet, von der Überwindungsbedürftigkeit der bürgerlich-kapi339 Vgl. Honneth (1994b), S. 28 ff.; Neusüss (1997), S. 12 ff.; vgl. auch Müller (2002); Bickel u. a. (1987). 340 Vgl. Honneth (1994b).

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talistischen Moderne: Sondern es erscheint vom wissenschaftlichen Standpunkt der marxistischen Geschichtstheorie – in ihrem objektivistischen Verständnis – vor allem als untrügliches Symptom für den unaufhaltsamen Niedergang der kapitalistischen Gesellschaftsformation und für das unmittelbare Bevorstehen der proletarischen Revolution. Die Überwindung dieser Moderne ist nicht nur aus kulturkritischer Sicht subjektiv wünschenswert, sondern aus geschichtstheoretischer Sicht objektiv notwendig und unaufhaltsam. Der Anarchismus, als ein per se dekadentes Phänomen, ist selbst im Ende des 19. Jahrhunderts in sein Verfallsstadium getreten, und damit reflektiert er zugleich die Dekadenz und den nahen Untergang der bürgerlichkapitalistischen Gesellschaft, deren extremster ideologischer Ausdruck er ist. „[N]icht nur hat die Bourgeoisie keine theoretische Waffe, um die Anarchisten zu bekämpfen, sie sieht auch ihre Jugend ganz von deren Doktrin bezaubert. In dieser übersättigten und bis zum Mark ihrer Knochen verfaulten Gesellschaft, in der aller Glauben seit lange erstorben ist, wo alle aufrichtigen Ueberzeugungen lächerlich erscheinen, in dieser Welt, wo man sich langweilt, wo man, nachdem man alle Genüsse gekostet, nicht mehr weiß, von welcher Phantasie, von welcher Ausschweifung sich neue Sensationen verschaffen, giebt es viele Leute, die den Liedern der anarchistischen Sirene ein wohlwollendes Ohr leihen. Unter den ‚Genossen‘ von Paris giebt es bereits nicht wenig Leute ‚comme il faut‘, Elegants, die, wie der französische Schriftsteller Raoul Allier sagt, es nicht unter Lackstiefeln thun, und die ihr Knopfloch mit einer Dahlia schmücken, bevor sie sich in die Versammlungen begeben. Schriftsteller und Künstler des Niederganges, der ‚Decadence‘ bekehren sich zum Anarchismus und propagiren seine Theorie in Revuen ‚le Mercure de France‘, ‚la Plume‘ etc. Das ist sehr begreiflich. Es wäre erstaunlich, wenn der Anarchismus, diese durch und durch bourgeoise Doktrin, nicht bei der französischen Bourgeoisie, der blasiertesten aller Bourgeoisieen, ihre Anhänger gefunden hätte.“ (S. 82 – H. i. O.) In dieser Passage von Plechanows bereits 1894 erschienenen Text findet sich diejenige Diagnose im Original – und in extenso –, die bereits oben aus Georg Adlers Anarchismus-Artikel in der 1898er Fassung zitiert wurde. Adler hat hierfür einige der Formulierungen Plechanows – bzw. der Übersetzung Eduard Bernsteins – praktisch wortgleich übernommen, wie auch am nächsten Zitat zu erkennen ist.341 An diesem zeigt sich aber auch der prinzipielle Unterschied zwischen Georg Adler und Georg Plechanow. An ‚die Bourgeoisie‘ gewandt, mit Blick auf deren Vorliebe für die in beliebiger Vielfalt um die Jahrhundertwende aufblühenden Okkultismen und sonstigen esoterischen Lehren, fährt Plechanow fort: „Ach, meine Herren, es 341 Siehe oben, V. 2. c). – Adler weist die entsprechende Passage nicht als Zitat aus, führt aber Plechanow in seinem Literaturverzeichnis an.

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giebt keine Ideale für wandelnde Leichen, wie Sie es sind! Sie werden es mit Allem versuchen, sie werden Buddhisten, Druiden, chaldäische ‚Sarsen‘, Kabbalisten, Magier, Isisten oder Anarchisten werden – was immer Ihnen am besten paßt – und Sie werden doch bleiben, was Sie heute sind, Wesen ohne Ueberzeugung und Gesetz, von der Geschichte ausgeleerte Säcke. Das Ideal der Bourgeoisie ist gewesen.“ (S. 83 – H. i. O.) Während, wie oben zu sehen war, Georg Adler im Décadence-Anarchismus des Fin de siècle die der Frivolität des französischen National-Charakters gemäße Spielart eines überzogenen Individualismus erkennt – welcher in Deutschland der nicht minder überzogene Nietzscheanismus entspricht –, weiß der marxistische Geschichtstheoretiker Plechanow diesen Décadence-Anarchismus als Symptom des nahen Endes der Bourgeoisie und der durch ihre Klassenherrschaft geprägten Gesellschaftsformation schlechthin zu deuten. Was bei Adler als in seiner jeweiligen Verbreitung und Ausprägung völkerpsychologisch erklärbare, exzessive Variante des modernen Individualismus erscheint, gilt Plechanow als untrüglicher Beleg für den im Grunde schon erfolgten Untergang der bürgerlichen Gesellschaft, ihre vollständige ideelle Aushöhlung und ihre Zukunftslosigkeit. Belege für diesen am Anarchismus erkennbaren Verfall sind nicht nur die blasierten Koketterien bourgeoiser Literaten und das Banditentum in der anarchistischen Szene, sondern auch die Resonanzlosigkeit des Anarchismus innerhalb der Arbeiterklasse und der proletarische Widerwille gegen die anarchistische Taktik. Dem korrespondiert in positiver Weise der Siegeszug der marxistischen Sozialdemokratie in der internationalen Arbeiterbewegung, die Erfolge der „Politik der Proletarier [. . .], die der Existenz der kapitalistischen Gesellschaft ein Ende machen wird“.342 In Kenntnis der weltgeschichtlichen Dialektik der fortschreitenden Produktivkraftentwicklung und des proletarischen Klassenbewußtseins brauchen „[w]ir Sozialdemokraten [. . .] die anarchistische Propaganda nicht zu fürchten. Kind der Bourgeoisie wird der Anarchismus nie einen ernsthaften Einfluß auf das Proletariat ausüben.“ (S. 83) In dem Maße, wie die Arbeiter „aufgeklärt“ werden und ihr Klassenbewußtsein reift, „werden sie zu uns kommen“ (S. 83). Und im gleichen Maße wird sich „[m]ehr und mehr [. . .] der Anarchismus – von den ‚gelehrten‘ Kapriolenmachern abgesehen – in einen Bourgeois-Sport verwandeln, dazu bestimmt, den ‚Individuen‘, die zu viel weltliche und halbweltliche Vergnügungen genossen, ‚starke Sensationen‘ zu verschaffen.“ (S. 84 – H. i. O.) Plechanows zweite polemische Stoßrichtung geht also, wie gerade die letzten Formulierungen nochmals zeigen, auf den Individualismus und die diesen bedingenden gesellschaftlichen Verhältnisse selbst. Da einerseits, im 342

Plechanow (1911), S. 84 – H. i. O., vgl. S. 16, III, V f.

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Sinne der ersten polemischen Stoßrichtung, der Anarchismus und seine ideologischen Verwandten als bürgerliche Individualisten entlarvt werden, die den gesellschaftlichen Verhältnissen, die sie revolutionär überwinden zu wollen glauben – oder dies zumindest vorgeben –, selbst angehören, diese Verhältnisse effektiv affirmieren und dadurch als Projekteure einer anderen Moderne disqualifiziert werden, dienen andererseits im Umkehrschluß die terroristischen und dekadenten Auswüchse dieser individualistischen Strömungen ihrerseits, im Sinne der zweiten polemischen Stoßrichtung, der Kritik der gegenwärtigen Gesellschaft. An Stirner und seinen Nachfolgern lassen sich die absurden ideologischen, aber auch spezifisch destruktiven und antisozialen Folgen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft studieren. Der Anarchismus ist nicht nur ungeeignet, diese zu überwinden, sondern er ist zugleich ein unübersehbares Symptom für deren Überwindungsbedürftigkeit und objektiven Niedergang. Da Plechanow in diesem polemisch-kritischen Zusammenhang Stirner als Vater des Anarchismus einführt – im Einklang mit Engels, der ja Entsprechendes in Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie vorgegeben hatte343 und im ausdrücklichen Widerspruch zu seinem ‚liebenswerten Landsmann‘ Kropotkin, der nicht nur, wie bereits gezeigt, ein starkes Distanzierungsbedürfnis gegenüber Stirner hatte, sondern auch explizit Proudhon zum Vater der Anarchie erklärt hatte –, erscheint hier also der Einzige in dieser doppelten Bedeutung: als Inbegriff sowohl der zu überwindenden gegenwärtigen Moderne als auch der konkurrierenden Projekteure einer anderen Moderne. Der als Inbegriff des Anarchismus und des Individualismus verstandene Einzige ist zugleich der Inbegriff dessen, wogegen der Marxismus antritt. Und die Stirner-Renaissance im Fin de siècle erscheint in dieser modernitätstheoretischen Perspektive selbst nicht nur als literarisch-künstlerisches Décadence-, sondern auch als soziokulturelles Dekadenz-Phänomen. Prägnanter noch als bei den anderen hier behandelten Autoren, die den Einzigen in den Zusammenhang von Individualismus und Anarchismus unter besonderer Berücksichtigung seiner antisozialen Ausprägungen – in der Regel terroristischer Art, mit dem bei Zenker hervorgehobenen Sonderfall des Antisemiten Dühring – stellten, verortet Plechanow den Einzigen also umfassender im sozial- und modernitätsdiagnostischen Kontext eines Unbehagens an der Moderne, wenn auch in der optimistischen Lesart eines Marxisten vor dem Ersten Weltkrieg. In der herausgearbeiteten Doppelbedeutung bei Plechanow hat der Einzige syndromatischen Anteil an diesem Unbeha343

Vgl. Engels (1888), S. 271, 291. – Im Rückblick auf den „Zersetzungsprozess[] der Hegelschen Schule“ schreibt Engels, daß nach Bruno Bauer „schließlich [. . .] Stirner [kam], der Prophet des heutigen Anarchismus – Bakunin hat sehr viel aus ihm genommen – und übergipfelte das souveräne ‚Selbstbewußtsein‘ durch seinen souveränen ‚Einzigen‘.“ (Engels (1888), S. 271; vgl. Engels (1850), S. 418 f.).

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gen, und er revoltiert zugleich dagegen, freilich ohne Aussicht auf Erfolg, zumindest nicht im marxistischen Sinne, wie Plechanow deutlich gemacht hat.344 Der antisoziale Individualismus des Einzigen trägt dazu bei, das Unbehagen an der Moderne zu verstärken; zugleich ist es dieses Unbehagen, das ihn zu seiner individualistischen Rebellion treibt. Ähnlich wie sein anarchistischer Antipode Kropotkin erwartet der Marxist Plechanow diesbezüglich keine Abhilfe seitens des Einzigen, stattdessen sind beide gleichermaßen, als – rivalisierende – Projekteure einer anderen Moderne überzeugt, daß der Einzige zusammen mit der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, für deren Anomien, Antisozialität und Destruktivität er steht, überwunden werden wird. Von diesem Standpunkt sozialrevolutionärer Zuversicht ist der Einzige mit seinem antisozialen Individualismus eine historische Übergangserscheinung – die es gleichwohl zu bekämpfen gilt, um den Übergang zu beschleunigen bzw. nicht unnötig zu verzögern. Andere Interpreten erblikken gerade im – anders gedeuteten – Einzigen die Verheißung einer weniger unbehaglichen Moderne, wie sich im Folgenden zeigen wird.

344

„Ein Anarchist ist ein Mensch, der – wenn er kein Spitzel ist – dazu verdammt ist, immer und überall das Gegentheil von dem zu erzielen, was er zu erzielen sucht.“ (Plechanow (1911), S. 78 – H. i. O.).

VI. Außenseiter, Aristokraten, Avantgardisten und andere Individualisten – Stirner und Nietzsche Schwergelbe wolken ziehen überm hügel Und kühle stürme – halb des herbstes boten Halb frühen frühlings . . . Also diese mauer Umschloss den Donnerer – ihn der einzig war Von tausenden aus rauch und staub um ihn? Stefan George1 Und ich sehe dich, wie du beiseite Die schreiende Menge schobst Und dann dich in die Weite Auf Adlerschwingen hobst John Henry Mackay2

1. Individualistische Panoramen „Unsere Zeit scheint seit der Stirner-Nietzsche-Bewegung der 90er Jahre ein geschärftes Ohr für Individualität nicht wieder verloren zu haben“, befindet Anselm Ruest im Jahre 1906 im Schlußwort seines Buches Max Stirner. Leben – Weltanschauung – Vermächtnis. „Wohin man heute blickt – Bestrebungen im Interesse der freien Entfaltung und Entwicklung der Persönlichkeit, infolgedessen Angriffe gegen das veraltete Schulsystem, gegen die tausendjährige Knechtschaft des Weibes, gegen die Verquickung von Staat und Religion, und andererseits Propaganda für eine, sei es naturwissenschaftliche, sei es künstlerische und ästhetische Umwertung der Begriffe von Gut und Böse.“3 Aus Sicht des späteren Leiters des ‚Individualistenbundes‘ – eines Nachfolge-Vereins des ‚Stirnerbundes‘ – und Mitherausgebers der von 1919 bis 1925 erscheinenden Bundes-Zeitschrift Der Einzige,4 ist der historische Befreiungskampf des Individuums in jüngster Zeit beschleunigt vorangeschritten, und Stirner und Nietzsche haben daran einen entscheidenden Anteil, der nicht zuletzt in der explosionsartigen Verbreitung einer plakativ individualistischen Attitüde zum Ausdruck kommt: 1 2 3 4

Aus: Nietzsche (1907). Aus: An Max Stirner (1890), in: Mackay (1919), S. 9 f. Ruest (1906), S. 331. Vgl. Kreuzer (2000), S. 359; Helms (1966), S. 411 ff., 533 f.

1. Individualistische Panoramen

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Dem „äußeren Schein“ nach war „die Zeit nach Stirners und Nietzsches Bekanntwerden nun mit einem Male reich, ja, überreich an wirklichen Individualitäten, ‚Eigenen‘, geworden, schienen zumal unter den Künstlern die über jedes Maß und jede Form Erhabenen nur so aus der Erde geschossen zu sein. Da wimmelte unsere Literatur plötzlich von solchen, die Welt und Meer und Sonne aus ihrem Schoß allein geboren hatten, oder zu gebären doch imstande waren, und welche die schrankenlose Willkür schon zu preisen begannen, ehe ihnen der Fluch von Fesseln und Grenzen noch in irgendwelcher Weise Erlebnis geworden war.“5 Überall waren Einzige und Übermenschen. Ähnlich lautet im Folgejahr auch der Befund des Literaturkritikers und Mackay-Experten Max Messer,6 der in einer kleinen, Max Stirner betitelten Schrift die Selbstverständlichkeit reflektiert, mit der das Dual ‚Stirner und Nietzsche‘ in formelhafter Weise zur Bezeichnung eines Individualismus geworden war, der seit dem Jahrhundertende dem „Rechte der Persönlichkeit zum Siege verholfen“ hatte, getragen von „jugendliche[n] Stürmer[n] und Dränger[n], welche alle auf die neue Fahne der ‚Moderne‘ schwuren“.7 So „geschah es, daß in den achtziger und neunziger Jahren des verflossenen Jahrhunderts, inmitten der Hochflut des Individualismus, aus Staub und Moder, aus Vergessenheit und Verschollenheit ein Werk entdeckt wurde, das [. . .] nun plötzlich einem Felsblocke gleich aus den sich ebbenden Wogen der Vergangenheit stieg. Es war Max Stirners: Der Einzige und sein Eigentum. Sofort fiel den Freunden und Feinden eine fast unheimliche Ähnlichkeit Stirnerscher Gedanken mit den Lehren Nietzsches auf, der doch Stirner zweifellos nicht gekannt hat. [. . .] Diese Verwandtschaft geht so weit, daß man, wo immer von der neuesten Philosophie, von der Philosophie unserer Zeit, die Rede ist, Stirner und Nietzsche zusammenstellt, so etwa wie man Goethe und Schiller sagt, um den Kulminationspunkt der deutschen klassischen Kunst zu bezeichnen.“8 Der ‚Individualismus‘ als zeitgeistiges und weltanschauliches Syndrom, als – je nach Perspektive – Attitüde, freiheitliche Tendenz oder auch schädliche Zeiterscheinung war um die Jahrhundertwende aufs engste mit den Namen ‚Stirner und Nietzsche‘ verknüpft. In ihnen hatte das „Epochenwort vom Individualismus und vom Egoismus“ seine philosophische Referenz.9 Max Messers Schrift Max Stirner erschien 1907 als vierundzwanzigster Band der Buchreihe Die Literatur. Sammlung illustrierter Einzeldarstellun5 6 7 8 9

Ruest (1906), S. 332 f. Vgl. Schwedhelm (1980), S. 12. Messer (1907), S. 2 – H. i. O. Messer (1907), S. 3 f. – H. i. O. Fähnders (1987), S. 20, vgl. S. 10, 12.

472 VI. Außenseiter, Aristokraten, Avantgardisten und andere Individualisten

gen, herausgegeben von dem dänischen Publizisten und Universitätsprofessor Georg Brandes,10 der auch für die erste (von Axel Garde besorgte) Übersetzung von Stirners Einzigem ins Dänische, Den Eneste og hans Ejendom (1902), verantwortlich war; Brandes‘ hierfür verfaßte Einleitung wurde ebenfalls für die erste schwedische Ausgabe des Einzigen – Den ende och hans egendom (1910) – übernommen.11 Berühmt sind seine 1888 in Kopenhagen gehaltenen Nietzsche-Vorlesungen, die auf deutsch erstmals 1890 in der Deutschen Rundschau unter dem Titel Aristokratischer Radikalismus. Eine Abhandlung über Friedrich Nietzsche erschienen und Brandes in rezeptionsgeschichtlicher Rückschau zu einem der ersten und – neben Georg Simmel – bedeutendsten Wegbereiter der in den 1890er Jahren einsetzenden Nietzsche-Hochkonjunktur machen.12 Neben Brandes hatte auch ein anderer Skandinavier, der schwedische Dichter Ola Hansson13, bedeutenden Anteil sowohl an der frühen Nietzsche-Rezeption als auch an derjenigen Stirners. Brandes und Hansson verband überdies die Bekanntschaft mit August Strindberg14, der selbst durch Brandes auf Nietzsche aufmerksam gemacht wurde, und diese Empfehlung vermutlich an seinen Landsmann Hansson weitergab.15 Strindberg selbst gehört neben seinem norwegischen Dichterkollegen Henrik Ibsen16 zu denjenigen Autoren, die zur Zeit der Stirner-Renaissance häufiger in einem Atemzuge mit Stirner und Nietzsche genannt werden, wenn diese zur Kennzeichnung der extremen Erscheinungen eines individualistischen Zeitgeistes erwähnt werden.17 Der polnische DécadenceDichter und Satanist Stanislaw Przybyszewski18 schreibt in seinen Erinne10

Brandes (1842–1927) lehrte in Berlin und Kopenhagen, veröffentlichte literaturwissenschaftliche Studien u. a. zu Shakespeare, Goethe, Zola, Ibsen und Kierkegaard und redigierte von 1907–1909 zusammen mit Werner Sombart in Berlin die politisch-literarische Zeitschrift Der Morgen. Wochenschrift für deutsche Kultur; vgl. Estermann (1982), S. 93 f.; Bohnen (2004); Magnusson [Ed.] (1990), S. 199. – Unstrittige biographische Daten – v. a. die Lebensdaten – zu den im vorliegenden Kontext vorgestellten bzw. erwähnten Personen stammen in der Regel, soweit nicht anders vermerkt, aus letztgenanntem Werk und werden nicht eigens nachgewiesen. 11 Vgl. Helms (1966), S. 358, 512, 514. 12 Vgl. Aschheim (1996), S. 17 ff., 94; vgl. Brandes (1890); vgl. auch Bohnen (2004). 13 1860–1925. 14 1849–1912. – Außerdem hatte Hansson durch Brandes seine spätere Frau Laura Marholm (eigtl. Laura Mohr) kennengelernt (vgl. Gloßmann (1997), S. 89). 15 Vgl. Gloßmann (1997), S. 87 ff. 16 1828–1906. 17 Z. B. bei Türck (1899), siehe unten, VI. 4. b) ee); vgl. auch Messer (1907), S. 2, 52 f. – Vgl. zu Strindberg auch Robin Detjes Artikel Ich, mein einziger Gott (1999); Stirner wird hier allerdings nicht erwähnt – und doch ist der Einzige im Titel gegenwärtig. 18 1868–1927.

1. Individualistische Panoramen

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rungen an das literarische Berlin seinem Friedrichshagener Bekannten Ola Hansson das Verdienst zu, „die Deutschen mit Nietzsche und Stirner bekannt“ gemacht zu haben.19 Bereits 1892 war Hanssons Artikel Max Stirner in der Vossischen Zeitung erschienen, der in veränderter Fassung 1894 in seine Textsammlung Seher und Deuter einging und in vielen Beiträgen der Stirner-Renaissance Beachtung fand.20 Und schon 1889, also vor Brandes, hatte Hansson seinen ersten Beitrag über Nietzsche in einer deutschen Zeitung veröffentlicht und somit Brandes „den Ruhm des ersten Nietzsche-Propagandisten in Deutschland genommen“.21 Die Berührungspunkte und Ähnlichkeiten zwischen der Nietzsche- und der Stirner-Rezeptionsgeschichte sind vielfältig. Sie betreffen typische Kontroversen und Thematisierungen, das Deuter- bzw. Entdecker-Personal, die prinzipielle interpretatorische Vielfalt und Heterogenität – wobei freilich mittlerweile sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht die größere Nachhaltigkeit und Breite des Nietzsche-Diskurses erkennbar ist, denn anders als Stirner ist ja Nietzsche keineswegs vergessen –, den zeitgleichen Beginn in den 1890er Jahren, und vor allem die thematisch-diskursive Verschränkung, die sich auf die Formel ‚Stirner und Nietzsche‘ bringen läßt. Das Erscheinungsbild der Nietzsche-Rezeption der 1890er Jahre, die Plötzlichkeit und Heftigkeit, mit der Nietzsche nicht nur von einem breiten Publikum zur Kenntnis genommen, sondern auch schnell als ein – unabhängig von der jeweiligen Bewertung – wichtiger Autor etabliert wurde, um den man nicht herum kam – und sei es nur, um ihn zu bekämpfen bzw. seine Überschätztheit und Irrelevanz zu beweisen22 – gleicht in vielem der Stirner-Renaissance. In Aschheims folgender Charakterisierung der Nietzsche-Rezeption der 1890er Jahre ließe sich prinzipiell statt ‚Nietzsche‘ auch der Name ‚Stirner‘ einfügen: „Wie man die besondere Intensität der Debatte um Nietzsche auch immer erklären mag, in den neunziger Jahren wurde seine Bedeutung von seinen Gegnern wie von seinen Gefolgsleuten in gleicher Weise anerkannt. In dieser Zeit fielen der Kampf um Nietzsche 19

Przybyszewski (1926), S. 101, vgl. S. 83 ff., 305 f. Vgl. Helms (1966), S. 544 ff.; vgl. z. B. Kreibig (1896); Schultheiss (1906); Ruest (1906). 21 Gloßmann (1997), S. 92. – Brandes nahm dies Hansson und insbesondere der mit der Übersetzung seines eigenen Nietzsche-Artikels betrauten Laura Marholm sehr übel, der er vorwarf, die Übersetzungsarbeiten bewußt zugunsten ihres Gatten verschleppt, wenn nicht gar diesem durch Einblicke in sein Manuskript geistigen Diebstahl ermöglicht zu haben, was Hansson allerdings bestritt, der bereits im Folgejahr den nächsten Artikel zu Nietzsche in einer deutschen Zeitung plazieren konnte und dann schließlich seinen großen Essay Friedrich Nietzsche. Seine Persönlichkeit und sein System veröffentlichte; vgl. Gloßmann (1997), S. 91 ff.; vgl. Hansson (1889/90). Siehe auch oben, III. 4. c) aa). 22 So z. B. Eduard v. Hartmann. 20

474 VI. Außenseiter, Aristokraten, Avantgardisten und andere Individualisten

und die Auseinandersetzung um sein Erbe zusammen. Und ebenfalls in diesem Jahrzehnt begann der sogenannte ‚Nietzsche-Kult‘, bei dem es sich in Wirklichkeit um eine ganze Reihe von Kulten handelte, die zu einer Verschärfung der Polemiken beitrugen.“23 Die soziokulturellen Bedingungen für die in den 1890er Jahren beobachtbare „Attraktivität“ Nietzsches, insbesondere „bei der Jugend und bei der Avantgarde“, sieht Aschheim in der „von vielen wahrgenommene[n] geistige[n] und politische[n] Mediokrität“ der „Lebensverhältnisse[] im Kaiserreich“.24 Mit Blick auf die Attraktivität nicht nur Nietzsches, sondern auch Stirners spezifizieren Asholt und Fähnders im Nachwort zu der von ihnen herausgegebenen Fin de siècle-Anthologie diese Deutung bezüglich des sozialen Resonanzbodens und des hier vorherrschenden Selbstverständigungsbedarfs: „Es ist kein Zufall, daß jenseits der großen Blöcke von Bourgeoisie und Proletariat und einer entsprechenden bürgerlich-affirmativen bzw. proletarisch-oppositionellen Orientierung nun die großen Ich-Entwürfe florieren: Nach Marx und Darwin leuchteten jetzt im Wilhelminischen Deutschland, aber bald auch in Frankreich und Italien, Max Stirners Einziger und Friedrich Nietzsches Zarathustra am ideologischen Firmament. Das neue Zauberwort hieß Ich – mit Le culte du moi überschrieb der französische Décadence-Autor Maurice Barrès seine Romantrilogie des sogenannten Egotismus (1888/91). Diese Selbstbesinnung auf das Ich, die sich vehement gegen das kollektivistische Wir der sozialen Bewegung richtete, ließ die Fin-de-siècle-Künstler empfänglich werden für den Versuch eigenständiger ‚dritter Wege‘, für eine gänzliche Autonomie vermeintlich jenseits der Gesellschaft, für souveräne Zirkelbildungen, für einen Ausstieg aus den herrschenden Normen, aus der etablierten Moral, dem gesellschaftlichen Konsens überhaupt. Der geschichtlich zum letzten Mal um 1900 seine Extravaganz ausstellende Dandy als eine ‚nach oben‘ deklassierte, der Bohemien mit seinem épater le bourgeois als eine ‚nach unten‘ deklassierte Figur sind historische Zeugen derartiger Individualitäts-Entwürfe.“25 Für das wissenssoziologische Verständnis des um die Jahrhundertwende als Nietzscheanismus und Stirnerianismus sich artikulierenden modernen Individualismus ist die hiermit angesprochene ‚intellektuelle Subkultur der Boheme‘26 von besonderer Bedeutung. Der zeitgenössische Beobachter Messer bringt den Einzigen ausdrücklich mit jenem épater le bourgeois der Boheme in Verbindung: „Der Stirnerische Mensch, der ‚Egoist‘, so nannte er ihn, um seine lieben Mitmenschen 23 24 25 26

Aschheim (1996), S. 22, vgl. S. 23 ff. Aschheim (1996), S. 22. Asholt/Fähnders (1993b), S. 421 f. – H. i. O. Vgl. Kreuzer (2000).

1. Individualistische Panoramen

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zu ärgern (‚épater les Bourgeois‘), lebt inmitten des Getümmels der Welt“.27 Damit betont Messer einerseits das elitäre Selbstverständnis, das im Individualitäts-Entwurf des Bohemiens gepflegt wird. Dessen Haltung und mitunter provokatives Verhalten zielt auf Distinktion gegenüber der mediokren „Masse“ der „Alltagsmenschen“, der „Horde der Nichteinzigen“ (S. 40 f.). Anderseits hebt Messer aber auch das mit diesem IndividualitätsEntwurf verbundene avantgardistische Selbstverständnis hervor, das sich aus dem Anspruch beglaubigt, die Gesellschaft zu verändern und die ‚Massen‘ aufzuklären, also nicht ihrer Mittelmäßigkeit zu überlassen, und sie so in eine qualitativ von der gesellschaftlichen Gegenwart verschiedene Zukunft zu führen. Der von Stirner ‚gepredigte Individualismus‘, „der von jeher die ‚Moral‘ der Künstler war“ (S. 51), nimmt das „Erlösungswerk[] der Menschheit“ in Angriff, so daß in Zukunft der gegenwärtige Gegensatz zwischen den „Wenigsten und Erlesensten“ und dem „wimmelnden Herdenvolk der Allzuvielen“ der Vergangenheit angehören wird (S. 52 f.). Stirner, „ein gewaltiger Vorläufer Nietzsches und aller neueren individualistischen Denker“ (S. 63 – H. i. O.), war daher „ein zu früh geborener Prophet unserer Zeit, deren geistigste Köpfe nach der Überwindung des Geistes streben, deren beste Herzen nach dem Tode der Moral rufen, eben weil sie alle die ersten Vorläufer einer kommenden Zeit sind, in der die reif und groß und selbstherrlich gewordenen Menschen keines Kasernengeistes, keiner Kasernenmoral, keiner Gattungsfessel mehr bedürfen und nichts dergleichen vertragen können. Diese Menschen der Zukunft, welche die neue Zeit voraussehen, in welcher das Individuum souverän geworden ist, müssen freilich als Zufrühgeborene innerhalb der rückständigen Massen, unter dem erdrükkenden Zwange der sie noch umgebenden Verhältnisse, die sie selbst so gewaltig überflügelt haben, zugrunde gehen.“ (S. 65 – H. i. O.) Diese individualistische Avantgarde ist nicht bloß aufgrund ihrer Minderheitenposition gefährdet, sondern auch wegen der besonderen psychischen Beschaffenheit der Individuen, aus denen sie sich rekrutiert. Ihre seelische Natur begründet die besondere Verletzlichkeit dieser Individuen, prädisponiert sie aber zugleich dazu, schon jetzt die universelle Je-Einzigkeit der Zukunft in ihrer Kunst und ihren Lebensformen vorwegzunehmen. Dieser Art Mensch entgegengesetzt ist der „ganz ungeistige, nie an geistigen Disharmonien leidende Mensch, der homme médiocre“, der „Stirner nie verstehen und seine Theorie als Egoismus verachten und als ‚unmoralisch‘ verwerfen“ wird (S. 37 f.). Der Gegensatz zwischen den (Je-)Einzigen und den Nicht-Einzigen erscheint hier also sozialdimensional als Unterscheidung ‚Wenige vs. Viele‘, zeitdimensional als Unterscheidung ‚Zukunft vs. Gegen27 Messer (1907), S. 40. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben in diesem und den folgenden Absätzen beziehen sich ebenfalls auf Messer (1907).

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wart‘ und sachdimensional als Unterscheidung ‚seelisch-geistige Überlegenheit vs. Mittelmäßigkeit‘, mit entsprechenden ethisch-normativen, ästhetisch-expressiven und epistemologisch-kognitiven Implikationen: bezüglich des ethischen Wertes des individualistischen Individuums und seiner Lebensführung, bezüglich seiner Kreativität und seines kulturellen Geschmacks, bezüglich seiner Reflexivität, Erkenntnis- und Verständnisfähigkeit. Aber so wie die Dinge in der gegenwärtigen bürgerlichen Gesellschaft der kulturellen Mittelmäßigkeit, der politischen und moralischen Repressivität stehen, sind die Individualisten, trotz und gerade wegen ihrer moralischkulturellen Überlegenheit und Höherwertigkeit eine von der Mehrheit angefeindete, verachtete und marginalisierte Minderheit. Die Herrschaft falscher Wertungskriterien macht sie zu einer noch bedrohten Spezies. Den geistig-seelischen Gegensatz zwischen den gegenwärtigen Individualisten und der mittelmäßigen Masse, zwischen den Wenigen und den Vielen, begründet Messer mit der existentiellen Krisenanfälligkeit der „geistigen Menschen“ und der daraus erwachsenden Chance, „Max Stirners Werk“ als „Gesundbrunnen“ zu nutzen (S. 37): Es gibt eine „nicht unbeträchtliche Anzahl von Menschen [. . .], deren Geistigkeit eine so zarte, deren seelische Beweglichkeit und Irritabilität eine so enorme, deren Mitleidens- und überhaupt Mitfühlensfähigkeit eine so gesteigerte ist, daß sie tatsächlich nicht in der realen Welt, sondern gleichsam in einem Nebel erträumter Übermenschlichkeit leben“ (S. 33 f.). Weil der sensible, kreative und psychisch komplizierte „geistige Mensch“ (S. 38) Gefahr läuft, sich selbst in seinen eigenen geistigen Schöpfungen zu verlieren und so in jenen „furchtbaren Konflikt“ mit der Realität zu geraten (S. 34), der dem ‚Ungeistigen‘ mangels Phantasie erspart bleibt,28 ist er dazu prädestiniert, sich den Stirnerschen „Individualismus als Lebensauffassung“ zu eigen zu machen (S. 48) – oder aber als Individuum „elendiglich zugrunde“ zu gehen (S. 36). „Das schöpferische Ich vergißt im Übermaß der Schöpfungen, die es unaufhörlich unbewußt vollzieht, selbst der Herr dieser von ihm erschaffenen Welt zu sein. [. . .] Der Idealist glaubt seine Welt sei die Welt. Die Welt aber schreitet grausam hinweg über den Idealisten, der sich nicht zur Wehre zu setzen vermag, eben weil er kein Egoist ist.“ (S. 34 f. – H. i. O.) Wenn nun dieser „klaffende Widerspruch zwischen dieser selbstgeschaffenen Welt des Seelenmenschen, des Idealisten und der realen Welt“ entsteht, dann rettet diesen nur die ‚egoistische‘ Einsicht in die Kontingenz seiner eigenen Perspektive und in die Notwendigkeit, dieser um seiner selbst willen Geltung zu verschaffen: die „Erkenntnis [. . .], daß seine ideale Welt nicht die einzige und für alle existie28 Auch wenn „beinahe jeder Mensch“ diesen Konflikt mit der Realität „wenigstens einmal in seinem Jünglingsalter erlebt“ hat, sind es doch wenige, bei denen er sich zu dieser potentiell ebenso fruchtbaren wie zerstörerischen Krise steigert (Messer (1907), S. 35).

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rende Welt ist, sondern eine frei geborene, von ihm selbst geschaffene, die zu verteidigen und zu erhalten er nicht deswegen berechtigt ist, weil es die Welt Aller, sondern weil es seine eigene Welt ist. Nicht aus dem Rechte der Allgemeingültigkeit, der Allgemeinmenschlichkeit dieser idealen Welt, sondern aus dem Rechte der Persönlichkeit, das er sich selbst nimmt, ergibt sich für ihn auch dann der Mut und die Fähigkeit, Widerstand zu leisten und sich in seiner Welt – mag sie den anderen noch so verrückt oder unnütz erscheinen – zu behaupten.“ (S. 35 – H. i. O.) Die Anerkennung der seinen Ideen gegenüber eigenständigen „Existenz und Andersartigkeit“, der Widerständigkeit und Multiperspektivität „der realen Welt“ (S. 36) und die „Erkenntnis, daß er all sein Streben und Sehnen, sein Denken und Fühlen [. . .] nun vom Standpunkt der eigenen Welt, vom Standpunkt des von ihm usurpierten Rechtes seiner Persönlichkeit verteidigt und durchzusetzen unternimmt“ (S. 36 f. – H. i. O.), rettet ihn vor dem Untergang. Aus der existentiellen Krise, zu der seine psychische Natur den ‚geistigen Menschen‘ prädisponiert, wird also unter den gegenwärtig gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen der Individualist geboren. Dem angepaßten, mittelmäßigen Menschen fehlt diese gesteigerte Erfahrung, der „geistige Mensch jedoch, der seine eigene, geistige Welt oder seine Art, die Welt zu sehen, gegenüber dieser Welt immer mit schweren Kämpfen durchzusetzen bemüht ist, sie anderswo doch nie verwirklicht findet als bei sich, wird – ‚Egoist‘ im Sinne Stirners geworden – plötzlich geheilt sein von all jenen, seine Entwicklung, ja seine Existenz bedrückenden und gefährdenden Wahnvorstellungen, die sich alle darin treffen, daß seine Welt mit der Welt der anderen identisch sein müsse und daß er den Widerspruch seiner Welt mit diesen anderen realen Welten zu beseitigen habe“ (S. 38 – H. i. O.). Im Gegensatz zum (wahnbefangenen) All-Einzigen anerkennt und erträgt dieser Je-Einzige die perspektivische Vielfalt einer multizentrischen Welt und das Nicht-Identische, das die Individualität des sozialen Anderen im Verhältnis zu seiner eigenen Individualität auszeichnet. In Messers Interpretation des ‚Stirnerischen‘ Individualismus klingt aus der Ferne jene Position an, die Richard Rorty im Ende des 20. Jahrhunderts als diejenige der ‚liberalen Ironikerin‘ bezeichnet.29 Wie diese zeichnet bereits den Einzigen Messers, erstens, das Wissen um die Kontingenz seiner eigenen Überzeugungen – und derjenigen eines jeden anderen Individuums – aus, und, zweitens, der von diesem Wissen getragene Wille, für diese Überzeugungen einzustehen in dem Bewußtsein, gerade deswegen dafür kämpfen zu müssen, weil sie nicht selbstverständlich sind und insofern auch keiner – geschichtstheoretisch oder sonstwie begründbaren – Umsetzungs- bzw. Verwirklichungsgarantie unterliegen. In Stirner-rezeptionsge29

Vgl. Rorty (1992), bes. S. 87, 127 ff.

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schichtlicher Hinsicht nimmt Messer damit Aspekte der ‚pragmatistischen‘ Deutung der Je-Einzigkeit vorweg, die in der Endphase der Weimarer Republik von Hans Sveistrup vertreten wird.30 Neben solchen Besonderheiten sind in Messers Deutung einige Merkmale zu finden, die generell für den ‚Stirner-freundlichen‘ Individualismus-Diskurs der Jahrhundertwende typisch sind. Dazu zählt, neben der häufigen Nietzsche-Referenz, zunächst der apologetische Zug, der sich gegen den von Autoren wie Hartmann, Türck oder Lucchesi gegen Stirner – und Nietzsche und den mit diesen beiden verbundenen Individualismus – vorgebrachten Vorwurf richtet, der Einzige sei ein aufgrund seiner Moralfeindschaft gewissenloser, gefährlicher, antisozialer und (potentiell) krimineller Nihilist.31 Matteo Johannes Paul Lucchesi hatte beispielsweise am 24. Juni des Vorjahres – anläßlich des 50. Todestages Stirners am 25. Juni 1906 – in der Sonntags-Beilage des Dresdner Anzeigers einen vielbeachteten Artikel unter der formelhaft-griffigen Überschrift Max Stirner, ein Nietzsche vor Nietzsche veröffentlicht,32 in dem er den mit dem einprägsamen Titel hergestellten Zusammenhang wie folgt begründete: „Man kann Stirner einen 30

Messer charakterisiert vor dem Weltkrieg „unser Zeitalter“ als ein „Zeitalter der praktischen Lebensauffassung, der regsten äußeren Betriebsamkeit, ein Zeitalter, in dem mehr gehandelt als geredet, mehr gearbeitet als gesonnen und in nobler Geistesruhe hingebracht, mehr genossen als erträumt und gesehnt wird“ und Stirner in diesem Sinne als „Philosoph der Zeit“, der „bei Freunden und Feinden“ als solcher gilt (Messer (1907), S. 32 f. – H. i. O.); und der seinerzeit als ‚neue Entdeckung‘ – wie nach ihm Nietzsche – den Standpunkt des „Individuum[s] mit all jenen Rechten, von denen wir ihm heute schon viele als Selbstverständlichkeit zuschreiben“, artikuliert hatte (Messer (1907), S. 5). Die ‚pragmatistische‘ Stimmung in Messers Stirner-Deutung mag ein Grund dafür sein, daß sein ‚Bändchen‘ im Erscheinungsjahr von einer New Yorker Rezensentin in Tuckers Liberty besonders freundlich aufgenommen wurde, die bedauert, daß Messers „little volume“ nicht in englischer Übersetzung vorliegt, sei es doch „preeminently adapted to whet the appetite for reading Stirner’s book itself“ (zit. n. Helms (1966), S. 328). Die Geistesverwandtschaft wird gegenseitig gespürt, wie sich aus Messers Bemerkung über den ‚individualistischen Anarchisten‘ „B. Tucker in Chikago“ erschließt, „der eine Zeitschrift ‚Liberty‘ herausgibt, welche im Geiste des ‚Einzigen‘ geführt wird.“ (Messer (1907), S. 62) – Zum Pragmatismus und zu Sveistrup siehe unten, VII. 3. a) bb) (3). 31 Ähnlich wie die Interpretationen im Anarchismus-Diskurs, die den Individualismus und insbesondere Stirner mit Terrorismus und anderen anarchistischen Verbrechen in Zusammenhang bringen. 32 Vgl. Engert (1939b), S. 11. – Eine frühere Fassung dieses Artikels findet sich unter dem Titel Max Stirner als logischer, socialer und ethischer Anarchist, ein Nietzsche vor Nietzsche bereits 1900 im Jahresbericht der Lausitzer Prediger-Gesellschaft zu Leipzig. Außerdem hatte Lucchesi – wie einige andere der in der vorliegenden Dissertation behandelten Autoren – über Stirner promoviert. Seine Dissertation über Die Individualitätsphilosophie Max Stirners war 1897 erschienen (vgl. Helms (1966), S. 547, 550). – Auf Eduard v. Hartmann und Hermann Türck ist unten zurückzukommen.

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Nietzsche vor Nietzsche nennen. Denn sein ‚Einziger‘ ist eine Antizipation von Nietzsches ‚Übermenschen‘, und sein logischer, sozialer und ethischer Anarchismus findet, ohne daß Nietzsche seinen Vorgänger gekannt zu haben braucht, bei dem Philosophen des Übermenschentums seinen glänzenden und bestehenden Ausdruck. [. . .] Der Einzige ist zugleich die Verkörperung des brutalen Instinkts, des Willens zur Macht. [. . .] Was ist dieses gewaltige, schöpferische Ich, dieser ‚Einzige‘ anders als eine Antizipation von Nietzsches ‚Übermenschen‘? Der Unterschied zwischen beiden besteht nur darin, daß dieser Ausnahmemensch, Glücksfall, Treffer ist, jener aber jeder werden kann und soll.“33 Lucchesi interpretiert Stirner also, wie die letzte Bemerkung verdeutlicht, nach dem Interpretationsschema der Je-Einzigkeit, aber dies ändert für ihn nichts an den nihilistischen und letztlich antisozialen Tendenzen des Einzigen wie auch des Individualismus überhaupt. Darin liegt für ihn auch die entscheidende Nähe Stirners zu Nietzsche. Wie Nietzsche ist „Stirner [. . .] Individualist, Anarchist, Nihilist“.34 Als „logischer Anarchist“ lehnt er die „Gemeinsamkeit der Denkgesetze“ ab.35 Als „sozialer Anarchist“ richtet er sich gegen die staatlichen und gesellschaftlichen Verbindungen, „in die der Einzelne hineingeboren wird“, und dagegen, daß dieser den „andern [. . .] beispielsweise nicht vergewaltigen oder bestehlen“ darf, denn da „tritt der Staat dazwischen und bändigt das Individuum“.36 Von solch antisozialem Verhalten hält den Stirnerschen Individualisten in Abwesenheit staatlichen Zwanges Lucchesi zufolge weder die sittliche Einsicht, noch eine internalisierte Wertstruktur ab. Denn schließlich ist „Stirner [. . .] auch ethischer Anarchist. Eine höchste sittliche Norm anzuerkennen, ein höchstes Gut und höchstes Ziel zu setzen, dem Menschen eine sittliche Aufgabe und Pflichten zuzuschreiben, ist für ihn das Kennzeichen des durch den Machtanspruch des anarchistischen Individuums überwundenen ‚religiösen Zeitalters‘. Indem Stirners übermächtiger Individualtrieb sich gegen alles wendet, was an Hegelsche Philosophie erinnert, gegen alles, was Idee, Geist, Absolutes heißt, wendet sich sein Haß zugleich gegen die christliche Moral und gegen eine sittliche Weltordnung überhaupt“.37 So kennt „Stirner [. . .] wie Nietz33 Lucchesi (1906), S. 15 – H. i. O. – „Zu erklären ist Stirners Einziger und Nietzsches Übermensch, abgesehen von den jeweilig herrschenden Zeitströmungen, auch aus persönlichen Gründen. Nietzsche fehlte das Starke und Gesunde, und darum imponierte es ihm; aus der großen Sehnsucht danach entsprang die Idee des Übermenschen. Stirner, arm, Proletarier, dabei eine empfindsame Natur und maßlos eitel, war dadurch der geborene Prediger des Egoismus und Anarchismus.“ (Lucchesi (1906), S. 15). 34 Lucchesi (1906), S. 15. 35 Lucchesi (1906), S. 15 f. – H. i. O. 36 Lucchesi (1906), S. 16 – H. i. O.

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sche weder ein höchstes sittliches Gut, noch ein höchstes sittliches Ziel. ‚Mir geht nichts über Mich‘, ist seine Losung. Nur die Schwächlinge brauchen ein Gesetz für ihr Handeln. Sie tragen es sogar in sich selbst und nennen es ihr Gewissen. Der Gewaltige ist ohne bestimmende Norm“.38 In der von Messer und anderen ‚Stirner-Freunden‘ zeit- und kulturkritisch profilierten individualistischen Unterscheidung der Wenigen von den Vielen hört Lucchesi daher „die Vorklänge von Nietzsches Herren- und Sklavenmoral“,39 die die Gewissen- und Zügellosigkeit propagiert. „Die ‚Schwächlinge aus Gewissen‘, die ‚Herde‘, die Stirner zur Selbstbesinnung aufruft, entsprechen ganz den Dekadenten Nietzsches, im Gegensatz zu welchen die Vornehmen, die Machtbewußten, die Herren von Mächten wie Religion und Sittlichkeit sich nicht beherrschen lassen. [. . .] Denn nur das gesetz- und zügellose Ich weiß, daß das, was die ‚sittliche Welt‘ Sünde und Verbrechen nennt, gerade den Wert des Menschen ausmacht.“40 In dieser Konsequenz „muß Stirner wie Nietzsche das Gewissen totschlagen“.41 Mit einem „Hinweis auf die ungeheuren Gefahren, die Stirners Gedanken bringen können“, macht Lucchesi schließlich in seinem Beitrag zum ‚Stirner-Jahr‘ die ‚Stirner-und-Nietzsche‘-Begeisterung der Jahrhundertwende und den darin sich artikulierenden kultur- und zeitkritischen Individualismus selbst zum Gegenstand von Kultur- und Zeitkritik. Mit ihrer Verachtung der „christliche[n] Moral als eine[r] Sammlung asketischer Ideale“, und indem sie „die Zuchtlosigkeit des Denkens, Wollens und Handelns für die echteste Lebensbejahung und Lebensförderung“ erklären, kommen „Stirner und Nietzsche unserer Zeit entgegen, ja sie sind das literarische Spiegelbild eines Teils unserer Gebildeten und Halbgebildeten. Man sieht in der Stirner-Nietzscheschen ‚Philosophie‘ sein eigen Bild oder möchte es gern sehen, das Bild des Übermenschen, des machtvollen Ichs, das sich durchsetzt und sich auslebt, und stimmt mit Verachtungsblick auf die Herde gern ein in die große Sehnsucht nach dem Erlöser, dem ‚Empörer von übermorgen‘. Man sollte meinen, unser Volk müßte allmählich von solcher Kost angeekelt werden. Aber wie viele haben heutzutage die Kraft ethischen Urteils und Geschmacks verloren. [. . .] Schule und Kirche haben hier eine große Aufgabe. Es ist die alte und doch immer neue Aufgabe: starke Charaktere zu erziehen, die sich nicht vom Hauch einer Modephilosophie umblasen lassen. Wenn Stirner ähnlich wie später Nietzsche das auf Kosten [sic] der Gesellschaft, der Masse, zurückgedrängte Individuum – freilich 37 38 39 40 41

Lucchesi Lucchesi Lucchesi Lucchesi Lucchesi

(1906), (1906), (1906), (1906), (1906),

S. S. S. S. S.

17 – H. i. O. 18. 18. 18 – H. i. O. 19.

1. Individualistische Panoramen

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überspannt – wieder zu Ehren hat bringen wollen, so sei ihm dafür gedankt. Auch unser Ziel muß es sein, selbstbewußte Persönlichkeiten zu erziehen. Denn nur solche werden imstande sein, die Stirner-Nietzscheschen Schlagwörter zu überwinden, und zwar durch ernste sittliche Arbeit an sich selbst und an unserem Volke.“42 Messer zufolge beruhen derartige Mißverständnisse und Fehlinterpretationen des Stirnerscher Individualismus nur zum Teil auf Stirners provokativer Rhetorik.43 Vor allem sind sie der Ignoranz seiner Interpreten geschuldet, deren „blödes Unverständnis“ von ‚mediokrer‘ geistig-seelischer Beschaffenheit zeugt.44 Diesen gegenüber betont Messer: „Im Gegensatz zur Gewöhnlichkeit und Verächtlichkeit des Alltagsegoisten ist der ‚Einzige‘ Stirners gewiß ein – sittliches Ideal, ebenso wie es der Übermensch Nietzsches ist.“ (S. 51 f.) Auch in Stirners „Egoismus“ bzw. „Individualismus“ ist der „Unterschied zwischen anständigen und unanständigen Menschen“ zentral und „höchst bedeutsam“ (S. 48 f.). Daher müssen „aufgeklärte[] Menschen“ den Einzigen nicht fürchten, denn „alles was dem harmonischen und anständigen Menschen als niederträchtig und verächtlich erscheint, [bleibt] (mit Ausnahme jener eingebildeten Vergehen gegen Abstrakta, gegen Ideale) auch vom Standpunkte des Stirnerischen Egoismus verächtlich. Das ‚Unmoralische‘ verwirft auch Stirner, wenn es das Individuum zum Knechte einer Leidenschaft, z. B. des Geizes, der Wollust macht, wo wir dann nicht mehr unser Herr sind, sondern der Leidenschaft als Herrin dienen. [. . .] Stirner will, daß man das individuell Rechte tue, ohne Rücksicht auf alle allgemeinen Vorschriften der Moral, ohne Rücksicht auf den ‚altfränkischen Gegensatz von Gut und Böse‘ (wie Stirner schon fünfzig Jahre vor Nietzsche sich ausdrückt!).“ (S. 48 f.)45 Messer kann sich mit anderen zeitgenössischen Stirnerianern wie beispielsweise John Henry Mackay und Rudolf Steiner einig wissen, wenn er betont, daß sich Stirners Angriff auf Moral und Ideen nur gegen die unreflektierte Unterwerfung unter Sollens-Gebote und die unbedingte Annahme vermeintlich objektiver Werte richtet, und nicht dagegen, eigenen Idealen und Wertvorstellungen zu folgen, „wenn ich ihnen nicht diene, weil es die Sitte oder der Knüppel verlangt, sondern weil es mein Herz begehrt.“ (S. 43) Stirner hat „nichts dagegen, daß wir einem Ideale leben, nur muß 42

Lucchesi (1906), S. 19 f. – H. i. O. „Stirner übertreibt aus Übermut, wenn er alle sogenannten ‚Ideale‘ aus dem Bereiche des ‚Einzigen‘ hinausweist. Er tut es ja auch nicht einmal. Läßt er sie doch alle durch die Hintertüre des Ego wieder herein.“ (Messer (1907), S. 42). 44 Messer (1907), S. 67, vgl. S. 37. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben in diesem und den folgenden Absätzen beziehen sich wiederum auf Messer (1907). 45 Vgl. Stirner, EE, S. 404. 43

482 VI. Außenseiter, Aristokraten, Avantgardisten und andere Individualisten

uns bewußt sein, daß dieses Ideal nichts außerhalb uns Stehendes, ‚Höheres, Fremdes, wahrhaft Göttliches ist‘, sondern wir müssen einsehen, daß es von uns geschaffen, unser Eigentum ist, über das wir verfügen, es nach Belieben behalten oder von uns schleudern.“ (S. 40 f. – H. i. O.) Daher ist der Individualismus des Einzigen weder unmoralisch noch menschenfeindlich, und „man sieht auch, wie grundfalsch es ist, Stirner als Nihilisten zu stigmatisieren“ (S. 53 – H. i. O.). Denn alles ethisch, kulturell und menschlich Werthafte wird in der von ihm propagierten „neue[n] Welt der Persönlichkeit, des Individualismus“ (S. 67) auf ein höheres Reflexionsniveau überführt und dadurch erst wahrhaft zur Entfaltung gebracht.46 Deshalb ist Stirner „einer der größten geistigen Befreier der Menschheit“ (S. 67) und seine „Tat ist keine nihilistische, sondern eine optimistische, lebensbejahende, im Sinne Nietzsches. Neu erwacht die Liebe zu allen Werten des Lebens, nach dieser ersten modernen Umwertung; geadelt werden sie durch das Ich, nachdem sie in gespensterhaften Begriffen unterzugehen drohten.“ (S. 54 – H. i. O.) Stirner ist ein Aufklärer, und sein Einziger das mündige, ethisch selbstverantwortliche Individuum, das als Individualist die Rechte seiner Persönlichkeit geltend macht und diejenigen der anderen respektiert. Die individualistische Je-Einzigkeit ist daher auch keine antisoziale Welt des Verbrechens, vielmehr „ist der Rechtszustand im Verein der Egoisten der gleiche wie im heutigen Staate – freilich nicht auf der Basis des Staatswillens, sondern auf der des Einzelwillens“ (S. 57 – H. i. O.). Ebenfalls typisch für den individualistischen Stirner-Diskurs – und mit dem apologetischen Aspekt bereits anklingend – ist die spezifisch emanzipatorische und utopische Erwartung, die mit der Befreiung der Individualität eines jeden Individuums von den heteronomen Bindungen einer repressiven, widernatürlichen Moral, der „Sittlichkeitstyrannei“ und der von dieser gewaltsam erpreßten individuellen „Selbstverleugnung“ verknüpft ist (S. 15 – H. i. O.). Die individualistische Emanzipation der Individualitäten von den Fesseln moralischer Konventionen ist nicht nur die Konsequenz eines negativen Freiheitsverständnisses, das schlicht die Abwesenheit jeglicher Art von Zwang fordert, sondern ihr liegt positiv der anthropologisch optimistische Glaube an den ethischen Wert der natürlichen Anlagen, der guten Na46 „All die schönen Dinge, als deren teuflischen Vernichter man Stirner verfluchte, tauchen, nachdem sie logisch vernichtet wurden, als ihre eigenen individuellen Doppelgänger auf, als meine Liebe, meine Treue, mein Gedanke, mein Geist, meine Humanität etc. Bei der Türe des Absoluten, Allgemeingültigen hinausgewiesen, finden sie wieder Einlaß durch die Pforte des ‚Ichs‘. Und so erscheint dann Stirners Tat als eine Änderung des Standpunktes, des Gesichtswinkels, der allgemach vom Individuum weg ins Allgemeine, Heilige, Außermenschliche, Nichtexistierende verschoben worden war.“ (Messer (1907), S. 53 f. – H. i. O.) – Der Individualismus rückt die Perspektive also wieder zurecht.

1. Individualistische Panoramen

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tur unverstellter Individualität zugrunde.47 Damit verbunden ist die Vorstellung, daß die Freiheit vom Zwang der Konvention ein authentisches Selbstverhältnis garantiert und daß die in diesem Authentizitätsverständnis betriebene individuelle Selbstverwirklichung einerseits der Inbegriff eines gelungenen Lebens, andererseits in sozialer Hinsicht die Voraussetzung für eine wahrhaftige und tragfähige Verständigung zwischen Individuen ist.48 Diese Vorstellung wird utopisch aufgeladen zu der Erwartung einer individualistischen Welt, in der die Kultur floriert, die Menschen alles in allem harmonisch zusammenleben und in der die destruktiven und pathologischen Erscheinungen der gegenwärtigen Zivilisation – von der Abtreibung bis zum Krieg – überwunden sein werden.49 Die von Stirner „mit seherischen Augen [ge]schaute“ und von den heutigen Individualisten vorgelebte JeEinzigkeit ist die Zukunft der „befreite[n] Menschheit. Stirner träumte davon, alle Menschen als höchste Menschen zu sehen, alle als den zu sehen, was jetzt nur die seltene Ausnahme ist: als freie, souveräne Menschen, als ‚Einzige‘. Er träumte davon, daß jeder Mensch vollkommen werde, indem er alle in ihm befindlichen Anlagen, des Geistes sowohl als des Herzens und Willens, harmonisch, so wie es sein Ich ermöglichte und darum auch erforderte, zum unbeschränkten Leben entfalten ließ.“ (S. 68 – H. i. O.) Der von Stirner als seinem „Prophet[en]“ verkündete Individualismus wird „zu einem Erlösungswerke der Menschheit“ (S. 53, vgl. S. 50). „Eine neue, wahrhaftige Gleichheit taucht da aus den Nebeln der dämmernden Morgenzeiten auf, – nicht die Gleichheit der Rechte [. . .], nicht die Gleichheit der Pflichten, nicht die Gleichheit des Besitzes, der Arbeit, des Genusses, sondern die Gleichheit des Wollens. Wir wollen alle nur uns. Wir fördern nur alle uns. Wir dienen nur alle uns. Aus diesem gleichen Willen ergibt sich eine Entfaltungsmöglichkeit des Ich, des Einzelnen, Jedes von uns, vor der wir heute nur in ahnungsvollem Schauer verharren, wir, die wir tausenden 47 Entsprechend der zivilisationsskeptischen und kulturkritischen Zeit- und Aufbruchsstimmung der Jahrhundertwende, wie sie beispielsweise im Vegetarismus und in der Freikörperkultur der Lebensreformbewegung, oder auch im ‚Wandervogel‘ kultiviert wurde (vgl. Hepp (1992), S. 11 ff., 75 ff.). 48 „Sei Du – Du, sowie Ich – Ich bin. Nichts hemme mich, nichts hemme Dich. Niemandem gehorchen wir als uns selbst. Dann werden wird schon Mittel finden, – wenn wir erst einmal so frei sind – uns zu vertragen und unser Leben so einzurichten, wie es für mich, wie es für Dich am besten und förderlichsten ist.“ (Messer (1907), S. 68 f.). 49 „Die ungeheure und verbrecherische Verschwendung menschlicher Kräfte, die wahllose und entsetzliche Vernichtung menschlicher Möglichkeiten, von der Tötung des Keimes angefangen, bis zur Vernichtung des ausgewachsenen Individuums in der Treibmühle des Lebens, in den furchtbaren Kriegen der Völker, wird aufhören, wenn der ‚Einzige‘ Stirner[s] sich endlich ermannt und aufgerafft hat. Eine neue Welt wird erstehen, die Welt des souveränen Menschen.“ (Messer (1907), S. 69 f.).

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fremden Molochen unsere beste Kraft in den Rachen stecken müssen.“ (S. 69 – H. i. O.) Da diese universelle Je-Einzigkeit noch nicht realisiert ist, sind die wenigen Einzigen – „Zukunftsmenschen“ (S. 70) – noch in der Minderheit gegenüber jener ‚Horde der Nicht-Einzigen‘, der Allzuvielen, die Stirner verteufeln, den Individualismus bekämpfen, seine Anhänger ächten und einer repressiven Moral und kulturellen Mittelmäßigkeit huldigen. Mit seiner Unterscheidung der vielen Nicht-Individualisten von den individualistischen Wenigen, die bereits jetzt die Je-Einzigkeit im Verein leben, aber unter gegebenen Umständen Gefahr laufen, so wie Stirner aufgrund ihrer seelischen Beschaffenheit in einer feindlichen Gesellschaft zu „Märtyrer[n] des Individualismus“ zu werden (S. 50), spricht Messer weitere typische Motive des Individualismus-Diskurses der Jahrhundertwende an. Der von Messer profilierte Individualismus trägt deutlich avantgardistische, nonkonformistische und elitäre Züge, aber auch im engeren Sinne aristokratische, soweit auf die psychische Ausnahmenatur der jetzigen Einzigen bzw. Individualisten rekurriert wird, ihre gesteigerte Sensibilität, Kreativität, Reflexivität usw.50 Dies entspricht in zentralen Aspekten dem Selbstbild der Boheme als intellektueller Subkultur: die von den Massen verkannte individualistische Avantgarde und von der bürgerlichen Moral geächtete kulturelle Elite aus geistigen Aristokraten und Nonkonformisten, durch die herrschenden Verhältnisse und gesellschaftlichen Konventionen zugleich bedrängt und diese verachtend.51 Für die wissenssoziologische Beobachtung der modernen Individualitätssemantik und insbesondere des mit Stirner und Nietzsche verbundenen Individualismus ist das sozialgeschichtliche und kulturhistorische Phänomen der Boheme in doppelter Weise von Bedeutung: zum einen als sozialer Kontext, in dem dieser Individualismus artikuliert wurde, der seit dem Fin de siècle die Welt des Bürgertums, insbesondere ihre moralische Infrastruktur und kulturelle Wertordnung, in Frage stellte; zum anderen als sozialphänomenologische Evidenz im Individualismus- und Stirner-Nietzsche-Diskurs, auf die sich die Stirner- und Nietzsche-Interpreten, die Kritiker und Befürworter des Individualismus zeitdiagnostisch implizit und explizit beziehen, wie dies bereits bei Ruest und Messer, aber auch bei Lucchesi zu sehen war. Dieses und andere der bereits angesprochenen Themen werden in den folgenden Abschnitten vertieft: Zunächst wird die Boheme der Jahrhundertwende in ihrem Selbstverständnis und ihrer Bedeutung als sozialer Kontext und sozialphänomenologische Evidenz des Individualismus-Diskurses eingehender behandelt (2.). Sodann werden einige Überlegungen zur Erzeugung von Individualität als Außenseiteridentität im moralischen System so50 51

Siehe hierzu auch unten, VI. 5. b). Vgl. Kreuzer (2000); Machinek (1986); Stein (1982b).

2. Antibürgerlicher Individualismus als Alternativkultur und Kulturkritik

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zialer Ächtung und Achtung angestellt, am Beispiel der psychiatrischen und juristischen Erzeugung sexuell devianter Individualität und der Konstruktion von Individualität als Abnormität in der geschlechterstereotypisierten Ethik der Respektabilität, sowie mit Blick auf den individualistischen Nonkonformismus in Opposition zur moralisch-kulturellen Konvention (3.). Im Anschluß daran werden die thematischen Schwerpunkte des ‚Stirner und Nietzsche‘-Diskurses dargestellt, die darin verhandelten Debatten um ‚aristokratische‘, ‚demokratische‘ und andere Varianten des Individualismus und dessen ethisch-moralische Implikationen (4.). Abschließend wird zur systematischen Auswertung des in diesem Kapitel behandelten Aspekts der Je-Einzigkeit eine an den hierin vorgestellten und analysierten ethischen und moralischen Problemstellungen und Lösungsangeboten orientierte Typologie des Individualismus vorgeschlagen (5.).

2. Antibürgerlicher Individualismus als Alternativkultur und Kulturkritik: Boheme Nach Kreuzer bezeichnet der „Begriff Boheme“, verstanden nicht als „kritisch-ästhetische“, sondern „sozialgeschichtliche Kategorie“, eine „Subkultur von Intellektuellen“ in Gestalt von „Randgruppen mit vorwiegend schriftstellerischer, bildkünstlerischer oder musikalischer Aktivität oder Ambition und mit betont un- oder gegenbürgerlichen Einstellungen und Verhaltensweisen“. Als soziales Phänomen hat die Boheme daher gesamtgesellschaftliche Bedingungen zur Voraussetzung, die „ausreichend individualistischen Spielraum gewähren und symbolische Aggressionen zulassen“.52 In wissenssoziologischer Perspektive läßt sich folgern, daß die Boheme ein bezüglich ihrer soziokulturell-evolutiven Möglichkeitsbedingungen, semantischen Registraturfunktionen und Reflexionsbemühungen spezifisch modernes Phänomen ist, das sich – auch jenseits ihrer kunstsysteminternen Bedeutung als soziales Rollenmodell und literarisches Motiv – vor allem zur modernen Exklusionsindividualität in Beziehung setzen läßt, und zwar in doppelter Hinsicht: Einerseits setzt das Phänomen ‚Boheme‘ als Intellektuellen-Randgruppe die exklusionsindividuelle Gesellschaftsstruktur voraus; andererseits bezieht es sich als subkulturelles Selbstverständnis und Ensemble von Weltdeutungen auf die Exklusionsindividualität, um diese einer von der dominanten Kultur abweichenden sozialen Gestaltung und Neuinterpretation zuzuführen. Das Individualidentitätsangebot des Bohemiens ist zum einen durch die exklusionsindividuelle Sozialstruktur möglich geworden, zum anderen stellt es eine spezifische sozialphänomenologische Ausprägung und semantische Ausdeutung dieser Sozialstruktur dar. Und in dieser 52

Kreuzer (2000), S. V, vgl. S. 42 ff.

486 VI. Außenseiter, Aristokraten, Avantgardisten und andere Individualisten

Spezifikation präsentiert die Boheme sich in ihrem Selbstverständnis wie in ihrer Fremdbeschreibung als Alternative zu anderen sozialphänomenologischen Typen, vor allem demjenigen des wilhelminischen ‚Bürgers‘ bzw. ‚Bourgeois‘ oder ‚Philisters‘ und seiner kulturellen Hegemonie. Die Boheme ist zur Zeit der Stirner-Renaissance „der Gegenentwurf zum Normalen, das Komplementärphänomen zur bürgerlichen Gesellschaft“, und der Einzige ist eine der zentralen weltanschaulichen Bezugsfiguren für ihren „gesellschafts-oppositionellen Lebensstil“.53 Dabei ist in wissenssoziologischer wie auch in Stirner-rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht wichtig, daß es hierbei um die Artikulation von individualistischen Individualidentitätsangeboten geht, die das sozialdimensionale Verhältnis von Ego und Alter als Verhältnis zwischen Einzigen bestimmen und die Frage nach der sozialen Möglichkeit bzw. Gestalt dieses Verhältnisses von einem Einzigen zum anderen Einzigen mitreflektieren, insbesondere in ethisch-moralischer Form. Es handelt sich mithin um jeeinzige und realistische Interpretationen moderner Individualität, und nicht um all-einzige und kränkungsregressiv-eskapistische. In diesem Kontext sind also Varianten eines Individualismus zu beobachten, der sich nicht als prinzipiell anti-sozial oder anti-moralisch versteht, sondern als moralische, soziale und auch ästhetische Alternative zur ‚bürgerlichen‘ Moderne. Im Sinne der kränkungs- und narzißmustheoretischen Überlegungen handelt es sich bei diesen wie bei prinzipiell allen Varianten der Je-Einzigkeit nicht um eskapistische, sondern realistische Formen der Modernitätsverarbeitung, da sie als Individualidentitätsangebote – auch wo diese in deutlich sozialutopischen Kontexten auftreten – die exemplarisch und paradigmatisch im Freudschen Kränkungsbefund artikulierte Dezentrierungserfahrung akzeptieren, und diese nicht in einer all-einzigen Re-zentrierung leugnen; und weil sie als je-einzige Individualidentitätsangebote die realitätskonstitutive Symmetrie der Sozialdimension anerkennen, den Inbegriff von als Widerständigkeit erfahrbarer Realität, im Gegensatz zur sozialdimensional asymmetrischen Realitätsabwehr durch die Einwandsimmunisierung in der hermetischen Realität von Sekten.54 a) Selbstverständnis und soziale Phänomenologie Der antibürgerliche Individualismus der Boheme, der sich in moralischer Libertinage, aristokratischer Attitüde, symbolischer Aggression und verschiedensten Formen der Provokation und des ostentativen Nonkonformismus ausdrückt, findet in Stirners Einzigem ebenso wie in Nietzsches Über53 54

Machinek (1986), S. 97 f. Siehe hierzu auch unten, VII. 1.

2. Antibürgerlicher Individualismus als Alternativkultur und Kulturkritik

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menschen Vorbild, Rollenmodell, Stichwortgeber und Projektionsfläche.55 Seine „künstlerische Außenseiterposition“56 und die bohemetypische „Distanz und Ablehnung gegenüber der bürgerlichen Geld- und Erwerbsmoral“,57 die damit einhergehende „Unfähigkeit, ein philiströses, unauffälliges Leben in der Masse zu führen“ und die mitunter „daraus resultierende Verzweiflung“ und „Leidenserfahrung“ bringen den „Bohemien von seinem Empfinden her in die Nähe der sozial Deklassierten und Ausgestoßenen“.58 Anders aber als diese Geächteten und Marginalisierten der bürgerlichen Gesellschaft, und anders auch als ein „große[r] Teil der proletarischen Massen“, mit denen die Boheme die Erfahrung „sozialer und politischer Unterdrückung“ teilt, reagiert die intellektuelle Subkultur der Boheme auf ihr „Leiden an der gesellschaftlichen Realität“ nicht mit ‚Verdrängung‘, sondern akzeptiert es als „bewußte Erfahrung“, die „ins Selbstverständnis als Handlungsmotiv einbezogen“ wird. „Da auf das Leiden statt mit Resignation und Rückzug mit erwachsenem Trotz und respektlosem Veränderungswillen reagiert wird, ergibt sich aus den bewußten Leiderfahrungen für die Boheme ein gesteigertes Selbstwertgefühl, eine Erhabenheit über die gemütliche Enge der bürgerlichen Bahnen.“59 Die eigene politische, wirtschaftliche und moralische Außenseiterposition wird zu einer Position der kulturellen Überlegenheit gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer WerteOrdnung umgewertet. Der Mangel an Geld, Macht und sozialem Prestige nach den Maßstäben bürgerlicher Respektabilität wird zu einer Position der Stärke des aus den herkömmlichen gesellschaftlichen Bindungen gelösten Individuums, des von den bürgerlichen Konventionen unabhängigen, unangepaßten Individualisten umgedeutet. „In dem Bestreben, das seiner bürgerlichen Fixpunkte (Familie, Religion, Staatsglauben) beraubte Lebensgefühl philosophisch abzustützen, findet die Boheme in Stirner einen willkommenen Theoretiker. [. . .] Stirners Einziger ist in dieser Zeit fester Bestandteil des Bildungsgutes der Boheme. [. . .] Und auch wer nicht Stirner las, wurde durch das allgemeine weltanschauliche Klima und den Tenor der überall und über alles geführten Diskussionen mit seinen Gedanken vertraut. Stirner lag in der Luft.“60 In Stirner konnte man die bohemetypische Wahlverwandtschaft mit den sozial Ausgegrenzten und moralisch Geächteten, „den Ausgestoßenen der Gesellschaft“, wiederfinden, „die das Bürgertum ebenso verachtet und 55 Vgl. Kreuzer (2000), S. 141 ff., 326 ff.; Asholt/Fähnders (1993b), S. 423 f.; Machinek (1986), S. 97 ff.; vgl. auch Aschheim (1996), S. 51 ff.; Fähnders (1987). 56 Machinek (1986), S. 101. 57 Machinek (1986), S. 104. 58 Machinek (1986), S. 111. 59 Machinek (1986), S. 111. 60 Machinek (1986), S. 113 – H. i. O.

488 VI. Außenseiter, Aristokraten, Avantgardisten und andere Individualisten

fürchtet, wie es sie zur Bestätigung seines eigenen Moral- und Sittenkodexes braucht“.61 Zugleich lieferte der Einzige gleichermaßen die symbolisch aggressiven und elitären, aber auch die apologetischen und utopischen Komponenten, mit dem sich der ‚irrespektable‘ Individualismus gegenüber der gesellschaftlichen Mehrheitsmoral in Stellung brachte. Insbesondere der Stirnersche ‚Verein der Egoisten‘ konnte – als Artikulation des Interpretationsschemas der Je-Einzigkeit – als philosophische Begründung bohemischer Gemeinschaftsformen gelesen werden: dem Selbstverständnis nach als avantgardistisches und/oder elitäres Sozialmodell von Individualisten in Opposition bzw. als Alternative zur herrschenden Bourgeoisgesellschaft in ihrer kulturellen Mediokrität und moralischen Repressivität, aber auch als individualistischer Gegenentwurf zu den kollektivistisch-nivellierenden Programmatiken und Organisationsformen der Arbeiterbewegung. In Stirners ‚Verein‘, dem Konzept einer im Gegensatz zu ‚Staat‘ und ‚Gesellschaft‘ – aber auch zur ‚Partei‘62 – nur auf den bewußten Willen der Individuen beruhenden, je-einzigen Sozialform,63 konnte die Boheme das Paradigma ihrer eigenen Vergesellschaftungsformen erkennen, sowohl bezüglich ihrer Binnenbeziehungen als auch bezüglich ihres oppositionellen Verhältnisses zu der sie umgebenden bürgerlichen Gesellschaft. „Zur Boheme gehört, wer sich ihren Gruppenbildungen anschließt, ihre Treffpunkte und entschlossene Andersartigkeit teilt und sich von bürgerlicher Gesellschaft und Karriere abgekoppelt hat. [. . .] In der Boheme herrscht immer auch das Bewußtsein einer gewollten qualitativen Abgrenzung zum Philister. Der Bohemien empfindet seinen Lebensstil nicht als Mangel, nicht als Defizit an bürgerlichem Komfort und Ordnung, sondern als Befreiung davon. [. . .] Die Boheme rekrutiert sich aus Abkömmlingen aller Schichten und Klassen – allein unter diesem Aspekt ihres nivellierenden Charakters ist sie ein Gegenentwurf zur bürgerlichen Klassengesellschaft.“64 In ihr ‚vereinigen‘ sich nicht ‚Bürger‘ oder ‚Proletarier‘, sondern ihrem Selbstverständnis nach individualistische Individuen, die sich als Außenseiter der sozialen und moralischen Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft verstehen – und von letzterer als solche gesehen werden. In diesem Sinne ist die „Beziehung zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Boheme [. . .] gegenseitig komplementär: Wie die Boheme der Matrix der Gesellschaft bedarf, um sich als das bewußt Andersartige, als Vorwegnahme gesellschaftlicher Utopie begreifen zu können, so braucht der Bürger [. . .] die (sanktionierte) Abweichung von der Norm, um sich in seiner Rechtschaffenheit zu bestätigen. 61 62 63 64

Machinek (1986), S. 111. Vgl. Stirner, EE, S. 259 ff., 342. Vgl. Stirner, EE, S. 196, 245 ff., 342 ff. Machinek (1986), S. 98 f.

2. Antibürgerlicher Individualismus als Alternativkultur und Kulturkritik

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[. . .] Die Abweichung wird zur solchen erst auf dem Hintergrund der anerkannten Norm – und an der Abweichung erweist sich die Norm als solche.“65 Die Boheme und ihr ‚Verein‘ ist um die Jahrhundertwende der individualistische Gegenentwurf zur bürgerlichen Gesellschaft, so wie der Einzige als Individualist der Antitypus des respektablen Bürgers ist. Dies realisiert sich symbolisch in der „bohemetypischen Abweichung von den gesellschaftlichen Normen“ bereits auf der „Oberfläche des Lebensstils“, etwa in der Haartracht und der Kleidung, wenn „der Bohemien durch eigenwillige Zusammenstellung seiner Garderobe seine Mißachtung gesellschaftlicher Konvention zum Ausdruck bringt“,66 damit aber zugleich seine Zugehörigkeit zur individualistischen Subkultur signalisiert, sich als ‚Vereins‘Mitglied ausweist. Die Visualisierung der Abweichung ist ein wichtiges Medium in den Distinktionsstrategien der nonkonformistischen Lebensform. Dies steigert die aufgrund der beruflichen Ambitionen ihrer Mitglieder ohnehin schon gegebene besondere Vorliebe der vornehmlich aus Künstlern, Schriftstellern und Publizisten sich zusammensetzenden bohemischen Subkultur für die Öffentlichkeit. Dabei wird zugleich die Trennung des öffentlichen vom privaten Lebensraum unterlaufen; der freiwillige oder erzwungene Verzicht auf ein bürgerlich-familiäres Privatleben wird kompensiert durch das Gemeinschaftsgefühl geselliger Zusammenkünfte im öffentlichen Raum. „Eine zentrale Rolle spielt für die Boheme ihr öffentliches Leben: Straßen, Plätze, Lokale und vor allem Kaffeehäuser. Besonderer Beliebtheit als Informationsund Treffpunkt erfreut sich das Zeitungscafé. Es ist die Drehbühne der literarisch-journalistischen Boheme. Für den Bohemien, dem die bürgerlichen Zusammenhänge von Beruf, Familie und Partei weitgehend fehlen, bildet das Café die ‚Ersatztotalität‘ des gesellschaftlichen Lebens [. . .]. Im Café treffen sich die unterschiedlichen mit Kunst-, Literatur- und Zeitungsbetrieb befaßten Funktionsträger. Dort werden Kontakte geknüpft, Projekte ausgeheckt und geplant [. . .]. Das Café fungiert als Teil der Produktions- und Reproduktionssphäre der Boheme [. . .]. Und hier kann der Bürger und Besucher die Boheme und ihre Berühmtheiten unverbindlich ‚besichtigen‘.“67 Die Öffentlichkeit dieses ‚Vereinslebens‘ garantiert zugleich die Sichtbarkeit der Boheme als einer alternativen Lebensform, die sich der bürgerlichen Gesellschaft als Provokation und exemplarische Utopie präsentiert. Die soziale Phänomenologie des ‚bohemischen Vereins‘68 reicht während der frühen Hochphase der Stirner- und Nietzsche-Rezeption von großstädti65 66 67 68

Machinek (1986), S. 99. Machinek (1986), S. 99. Machinek (1986), S. 100; vgl. Kreuzer (2000), S. 208 ff. Vgl. Kreuzer (2000), S. 170 ff.

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schen Stammtischrunden in Cafés und anderen öffentlichen Lokalen über vorstädtische Künstlerkolonien bis hin zu Landkommunen und anderen ländlichen Refugien.69 Beispielhaft für das Berlin der Jahrhundertwende ist etwa Przybyszewskis Runde im ‚Schwarzen Ferkel‘, einem Ecke Unter den Linden/Neue Wilhelmstraße gelegenen Weinlokal, wo zeitweilig auch Strindberg und Munch verkehrten,70 oder auch der spätere Expressionistentreffpunkt im als ‚Café Größenwahn‘ bekannten, aber auch ‚Café Klößchen‘ genannten ‚Café des Westens‘ am Kurfürstendamm. Als neben dem Przybyszewski-Kreis andere bedeutende Berliner Boheme-Gruppe dieser Zeit galt der ‚Friedrichshagener Kreis‘ am Müggelsee, den Arno Holz 1896 in seiner Komödie Sozialaristokraten portraitiert hat. Ihm waren u. a. Ola Hansson und Bruno Wille71 zugehörig, letzterer nicht nur Gründer der Freien Volksbühne (1890) und Initiator der Volksbühnenbewegung, sondern u. a. auch Autor einer stetig auf Nietzsche und Stirner sich berufenden Philosophie der Befreiung durch das reine Mittel.72 Ebenfalls zentrale Figuren der Friedrichshagener Künstlerkolonie waren die Gebrüder Heinrich73 und Julius Hart74, frühe Programmatiker des Naturalismus, die nach der Jahrhun69

„Wie die Affinität zu öffentlichen Lokalen bereits nahelegt, ist sie [die Boheme] ein Phänomen der Großstadt. Sie bedarf der großstädtischen Ansammlung von Menschen und Reizen als Lebenselement. [. . .] Bohemische Einzelexistenzen, Vagabunden, vagabundierende Dichter [. . .] gab es auch historisch früher. Als soziokulturelles Gruppenphänomen aber ist die Boheme auf den Nährboden der modernen Großstadt angewiesen und somit in Europas Zentren erst im 19. Jahrhundert anzutreffen. Die Großstädte werden zum Kristallisationspunkt politischer Meinungsund kultureller Geschmacksbildung. Für die kulturelle Subkultur ist das Angebot der Großstädte an Universitäten, Theatern, (Kunst-)Akademien, Bibliotheken, Galerien, Verlagen und sozialen und politischen Gruppenbildungen als Anregungs- und Arbeitsfeld unverzichtbar. In den Großstädten prallen die sozialen Gegensätze aufeinander, dort formieren sich die politischen und künstlerischen Avantgarden. Trotzdem ist das Verhältnis der Boheme zu ihrer Nährmutter Großstadt nicht ungebrochen. Immer wieder zeigen sich Überdruß und Ekel vor dem Moloch Stadt, dem ‚Stadtsumpf‘. Ausdruck dieser ambivalenten Beziehung zur Stadt sind (neben immer wieder projektierten) die realisierten Siedlungsideen z. B. der Berliner Boheme in Friedrichshagen, das auch als ‚Naherholungsgebiet‘ der Großstadtboheme fungierte, und der Münchener in Ascona. Diese Boheme-Landsitze existieren im Kontakt zur Metropole, rekrutieren ihre Bewohner und Gäste von dort und geben sie meist auch wieder nach dorthin ab.“ (Machinek (1986), S. 104 f.). 70 Ein Roman Przybyszewskis trägt den Titel von Munchs berühmtesten Bildmotiv Der Schrei (1918), ein anderer (Satans Kinder) ist ihm gewidmet (vgl. Fähnders (1987), S. 161), und Munchs „Der Schrei“ ist durch Przybyszewskis 1893 verfaßte Totenmesse inspiriert (vgl. Przybyszewski (1987), S. 223). 71 1860–1928. 72 Vgl. Wille (1894), z. B. S. 196 f., 228 f., 375, 394 f.; vgl. auch Aschheim (1996), S. 18, 174 ff. 73 1855–1906. 74 1859–1930.

2. Antibürgerlicher Individualismus als Alternativkultur und Kulturkritik

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dertwende die ‚Neue Gemeinschaft‘ in Schlachtensee ins Leben riefen, unter zeitweiliger Beteiligung u. a. Gustav Landauers75 und Erich Mühsams76. Der ältere Bruder, Heinrich, schrieb 1901 über das Projekt der „Neue[n] Gemeinschaft“, diese sei „ein Menschenbund, der über alle Trennungen von Stand, Volk, Rasse hinaus die idealstrebenden Glieder der Menschheit einander nahebringen und überall in der Menschheit Krystallisations-Zentren bilden will, um in immer weiterem Kreise, mit immer stärkerer Kraft alles Verwandte an sich zu ziehen“,77 und artikulierte damit den avantgardistischen und sozialutopischen Anspruch der alternativen Subkultur.78 Auch Bruno Wille war hier wieder dabei, ebenso wie in der Siedlung stadtflüchtiger Berliner Künstler im schlesischen Schreiberhau, wo neben den Brüdern Hauptmann u. a. auch der Stirner-Wiederentdecker und Dichter John Henry Makkay79 in seinem ‚Haus der Freiheit‘ zeitweilig residierte, wenn er seiner Charlottenburger Wohnung überdrüssig wurde; und auch sonst stand Mackay in Kontakt mit den Friedrichshagenern. – Insgesamt gab es vielfältige personelle Verknüpfungen zwischen den verschiedenen Kreisen.80 b) Selbstbeschreibungen und Distinktionen Im 1893 von Bruno Wille geprägten Wort von der ‚Sozialaristokratie‘ kommt das Selbstverständnis dieser Avantgardisten und der weltanschaulich-sozialprogrammatische Anspruch ihrer Vereinsprojekte zum Ausdruck.81 Es bezeichnet in seiner Verbindung von ‚Sozialismus‘ und ‚Aristokratismus‘ zunächst die doppelte Abgrenzung der individualistischen Boheme, die in ihrer Opposition zur bürgerlichen Gesellschaft und in ihrer – nach vorherigen, aber enttäuschten Annäherungsversuchen – letztendlichen Distanz zur parteiförmig organisierten Sozialdemokratie liegt. Dieser gegenüber artikuliert sich dann in der synthetischen Komposition des Wortes ‚Sozialaristokratie‘ das Selbstverständnis von Avantgardisten eines ‚dritten Weges‘,82 der in eine Moderne führen soll, in der nicht nur das soziale und kulturelle Elend der bürgerlichen Gesellschaft überwunden sein wird, son75

1870–1919. 1878–1934. 77 Zit. n. Berman (1982), S. 80. 78 Vgl. Hart/Hart (1900). 79 1864–1933. 80 Vgl. Schutte/Sprengel (1987), S. 41 ff., 75 ff., 714 f.; Kreuzer (2000), S. 170 ff., 188 ff., 192 ff., 202 ff., 221 ff., 292 ff.; Schwedhelm (1980), S. 12, 16; Hepp (1992), S. 73 ff.; Fähnders (1987), S. 8 ff., 97 ff., 152 f., 171 ff.; Berman (1982), S. 71 ff., 79 ff.; Estermann (1982), S. 97 ff. 81 Vgl. Fähnders (1987), S. 12. 82 Vgl. Fähnders (1987), S. 12, 15. 76

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dern auch die gegenwärtig sich noch befehdenden fortschrittlichen Tendenzen der Gegenwart, namentlich der Sozialismus und der Individualismus, zur Versöhnung gebracht werden.83 Diese Semantik des ‚dritten Weges‘ jenseits von bürgerlicher Gesellschaft und Parteisozialismus, der sich ‚sozialistisch‘ mit den Unterdrückten und Ausgebeuteten der kapitalistischen Gesellschaft solidarisiert, und zugleich gegenüber der bürokratischen Organisation der SPD, ihren parlamentarischen Ambitionen und ihren kollektivistischen Tendenzen das ‚aristokratische‘ Moment des Individualismus geltend macht, verdankt sich geläufigen Unterscheidungen im Individualismus-Diskurs der Jahrhundertwende. Arthur Dix parallelisiert in der Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Sammelband Der Egoismus84 die einschlägigen Gegensatzpaare und bringt sie zeitdiagnostisch in Verbindung mit dem sich dem Ende zuneigenden Jahrhundert, „in dem Aristokratie und Demokratie, Individualismus und Sozialismus, Egoismus und Altruismus die heftigsten Kämpfe ausgefochten; ein Jahrhundert, in dem die Philosophie eines Kant den Egoismus verdammt, die Philosophie eines Stirner und Nietzsche ihn vergöttert, jene dem liberal-individualistischen, diese dem anarchisch-individualistischen Streben vorangeleuchtet [. . .]; ein Jahrhundert, in dem ein Karl Marx und ein ganzes Heer sozialdemokratischer Führer den Klassenegoismus heftig aufgerüttelt und zu ungeahnter Macht geführt; ein Jahrhundert, in dem das weibliche Geschlecht einen neuen Sonder-Egoismus entwickelte, zu neuem Kampf die Fahnen entrollte“.85 aa) Julius Hart Willes Weggefährte, der bereits erwähnte Julius Hart wendet die von Dix genannten Unterscheidungen ‚Aristokratie vs. Demokratie‘, ‚Individualismus vs. Sozialismus‘, ‚Egoismus vs. Altruismus‘ in seinem Beitrag zum Egoismus-Band, Vom Egoismus in der Litteratur,86 literarhistorisch und 83 Bruno Wille hatte bis 1892 der radikalen Gruppe der ‚Jungen‘ innerhalb der Sozialdemokratie angehört, die seit dem Ende der Sozialistengesetze 1890 mit dem Wiederstarken der ‚Alten‘, des Parteiestablishments um August Bebel, von letzteren im innerparteilichen Machtkampf und programmatischen Richtungsstreit aus der Partei gedrängt wurden. Wille mußte 1892 die Leitung der Volksbühne an Franz Mehring (1846–1919) abgeben. Vgl. Machinek (1986), S. 108 f.; Schutte/Sprengel (1987), S. 42 f.; Fähnders (1987), S. 9 ff.; Nettlau (1932), S. 188 ff. – Zu Mehring siehe auch unten, VII. 2. b) aa). 84 Mit Beiträgen u. a. von Lou Andreas-Salomé, Julius Hart und Rudolf Steiner. 85 Dix (1899b), S. 1. 86 Hart (1899). – Seitenzahlen ohne weitere Angaben in diesem und den folgenden Absätzen beziehen sich auf Harts Artikel.

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kunsttheoretisch an, verbindet dies aber zugleich in typischer Weise mit weltanschaulicher und modernitätsdiagnostischer Reflexion. Dies veranschaulicht nicht nur die kunstprogrammatischen Debatten und Positionen in der Boheme der Jahrhundertwende,87 sondern auch den spezifisch kultursynthetisch-avantgardistischen Anspruch der intellektuellen Subkultur in Friedrichshagen und Schlachtensee, der seinerseits exemplarisch als eine Ausprägung des ästhetischen und individualistischen Avantgardismus der Boheme gelten kann. Hart zufolge entspricht der weltanschaulich-ethischen Begriffsreihung ‚Egoismus, Individualismus, Aristokratismus‘ im Bereich der modernen Kunst und Literatur die „romantische Kunst“ (S. 367),88 gegenwärtig der „Ästheticismus“ (S. 367), die sich in der „aristokratischen Ästhetik des l’art pour l’art“ reflektiert (S. 370) und sich als „Kunst für die Künstler“ versteht (S. 374). Auf der anderen Seite steht, der Begriffsreihung ‚Altruismus, Sozialismus, Demokratismus‘ entsprechend, die „realistische Kunst“ (S. 367), gegenwärtig der – von den Brüdern Hart zuvor selbst maßgeblich vorangebrachte – „Naturalismus“ (S. 368), die sich als „tendenziöse Kunst“ moralisch und sozial engagiert und daher ihrer Wirkungsabsicht und ihrer „populäre[n] Verbreitung“ nach (S. 373 f.) die „demokratische, die Massenkunst“ ist (S. 367). Die romantische Kunst ist „individualistische und egoistische Kunst“ (S. 375), die als „Innenweltdarstellung“ (S. 379) eine Neigung zur „Mystik“ hat (S. 375)89 und vom „Glaube[n] an die Selbstherrlichkeit des Ichs“ (S. 370) und einem „tiefen Widerwillen“ (S. 369) und einer „Abneigung gegen die Masse [. . .] und die Herrschaft des Nicht-Ichs und der Außenwelt“ (S. 374) getragen ist. Sie verkörpert sich beispielhaft im „englischprärafaelitischen Ästhetizismus“ (S. 366) und „fin de siècle“ (S. 369) in den „Dekadenten“, den „Symbolisten“ und den „Satanisten“ (S. 366), aber auch „der Neuromantiker Nietzsche“ und „der Eigene und Einzige“ (S. 370) gehören auf diese Seite der Unterscheidungsreihe. Die realistische Kunst dagegen hebt „den Altruismus aufs Schild“ (S. 372), sie „denkt nicht individualistisch, sondern sozialistisch und betreibt Soziologie“ (S. 372), indem sie sich, orientiert an „Positivismus“ (S. 369) und „Materialismus“ (S. 370), 87

Hart spricht zu Anfang von „uns Bohèmiens“, die, um noch „als ‚Moderner‘ gelten“ zu können, in ihrem künstlerischen Schaffen dem „alte[n] ewige[n] Entwicklungsgesetz der Welt- und Litteraturgeschichten“ zu folgen haben, „das Hegel entdeckt hat: heute immer gerade umgekehrt, wie gestern. Shoc-Antishoc!“ (Hart (1899), S. 365 f.). 88 „Made in Germany!“ (Hart (1899), S. 366). 89 Mit „formalistischen Bestrebungen“ hin zu „Poesien [. . .], welche gar nicht verstanden, sondern nur als Klänge, Töne und Farben aufgenommen sein wollen“, um so als der nicht sprachlich-begrifflich verstellte, „unmittelbare Ausdruck der Empfindungen und Gefühle“ erlebbar zu sein (Hart (1899), S. 378).

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der Darstellung der „Außenwelt“ (S. 379) widmet.90 Für sie ist das „‚Ich‘ natürlich das Zweite und Untergeordnete“, und sie „lächelt über den Wahn des Menschen, der sich als Einzelner fühlt“ (S. 372), ohne seine eigene soziale Bedingtheit zu bedenken. Historische Hauptvertreter sind englische und französische Autoren wie Charles Dickens und Honoré de Balzac, aber auch das „junge Deutschland[]“ und seit „den achtziger Jahren“ der „Naturalismus“ (S. 367 f.). Zusammenfassend betont Hart nochmals, „daß die naturalistische und romantische Kunst dieses Jahrhunderts aufs tiefste und innerlichste zusammenhängen mit all den übrigen Erscheinungen des Kulturlebens. Überall die gleichen Ideen und Bestrebungen, dieselben Gegensätze. Naturalismus und Romantik bedeuten in der Dichtung – was auf anderen Gebieten Sozialismus und Individualismus heißt, – oder Demokratismus und Aristokratismus – oder Sklavenmoral und Herrenmoral – Altruismus und Egoismus“ (S. 380 f.). So ist die Gegenwart ein „Übergangszeitalter doktrinärer Einseitigkeiten“ (S. 380), in dem auch die Dichtung „unruhig zwischen zwei Stilen und Auffassungen hin und her“ schwankt (S. 368). Die „Litteratur des neunzehnten Jahrhunderts hat“ daher „etwas Halbes und Unfertiges, Zerrissenes und Bruchstückartiges an sich. All diese Poeten sind mehr Tages- als Ewigkeitserscheinungen. [. . .] Sie fühlen sich selbst nur als Übergangsmenschen, als halbfertige Existenzen. [. . .] Ein Zwanzig-, ein Dreißigjähriger wird bereits als neuer Shakespeare oder Goethe auf den Tisch gehoben, – aber die Herrlichkeit dauert noch nicht fünf Jahre, – und dann klingt es von versunkenen Glocken, und die neue Kunst, der neue Stil, der neue Standpunkt, die man eben als letztes Höchstes gepriesen und eingenommen hat, sind auch schon ‚überwunden‘. Diese Zersplitterung der Kräfte darf man aber als die eigentliche Krankheit der zeitgenössischen Litteratur ansehen. Sie ist das Unheil und Verderben unserer Kunst. Sie verhindert die Entfaltung umfassender großer und mächtiger Persönlichkeiten und drängt alle ins Kleine, Enge und Einseitige hinein.“ (S. 879) Daher, folgert Hart, können „wir [. . .] von einer Überwindung der alten, von der Geburt einer neuen Kunst nur dann reden, wenn es uns gelungen ist, die tiefgehende Feindschaft zwischen romantischer und realistischer Poesie aufzuheben und zu vernichten. Dringen wir bis an die Wurzeln dieser Feindschaft vor, so gelangen wir bis zu den letzten Weltanschauungsfragen überhaupt.“ (S. 368) Das vermeintlich kunstinterne Problem markiert 90

Sie „trägt den nüchternen, tüchtigen und praktischen Nützlichkeitsgeist des neunzehnten Jahrhunderts auf der Stirn“ und „ist und bleibt von Anfang an eine tendenziöse Kunst“, die auf das „Außenleben einen bestimmenden Einfluß gewinnen“ will und deshalb „[p]olitische, moralische und wissenschaftliche Bestrebungen [. . .] nachdrücklicher, als die eigentlich künstlerischen betont“ (Hart (1899), S. 373).

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daher in Wahrheit zugleich „die Grenzlinie, wo sich alte und neue Welt von einander scheiden“ (S. 381). Der Kampf der ästhetischen Avantgarde gegen die alte Welt dreht sich um die „letzten und tiefsten Menschheitsfragen“ (S. 382). „Zur alten Welt gehören die Hoffnungslosen, die Zersplitterten, die Einseitigen, die Halbnaturen: die Sozialisten, welche gegen den Individualismus ankämpfen, und die Individualisten, welche den Sozialismus verwerfen, die Nur-Demokraten und die Nur-Aristokraten, die Altruisten, welche den Egoismus bestreiten und die Egoisten, welche den Altruismus als das Übel aller Übel ansehen, – die konsequenten Naturalisten und die konsequenten Immaterialisten der Kunst.“ (S. 381) Um eine neue Kunst und mit ihr eine neue Welt herbeizuführen, müssen daher diese Einseitigkeiten überwunden, müssen die Widersprüche zwischen „Altruismus und Egoismus, Sozialismus und Individualismus“ aufgehoben und die Gegensätze in „einer großen neuen Gesamtweltanschauung“ versöhnt werden (S. 381), wie sie sich in synthetischen Formeln wie ‚Sozialaristokratismus‘ oder ‚demokratischer Individualismus‘ fassen läßt. Der „mystisch-ekstatische Slave, der allerdifferenzierteste Nervenmensch“91 Stanislaw Przybyszewski – von Julius Bab als „vielleicht der legitimste ‚König der Boheme‘“ im zeitgenössischen Berlin gewürdigt und als „Anarchist[] im tiefsten Sinne des Wortes“ charakterisiert, „unfähig, Schranken irgendeiner Art zu ertragen“92 – erinnert sich seinerseits an die ‚sozialaristokratischen‘ Kollegen aus Friedrichshagen:93 „Sprach man von Friedrichshagen, dann nicht von einer Ortschaft, sondern von den literarischen Strömungen des Jungen, vielmehr: des Grünen Deutschland, denn die boshafte deutsche Kritik hatte aus Jung-Deutschland Grün-Deutschland gemacht. Die Hauptvertreter dieses Jung-Deutschland aber waren eben die Brüder Hart, Wille und Bölsche. Sie alle waren fortgezogen aus dem steinernen Meer der Großstadt: unmöglich und mörderisch war für sie das Leben ohne die Natur, der reine kulturelle Ästhetizismus konnte sie nicht befriedigen; hier, im Schoße der Natur, inmitten von Wäldern und Seen, sehnten sie sich nach Besänftigung und Stille, denn jeder von ihnen steckte mit allen Wurzeln im Mystizismus Hölderlins, Novalis’ und Fechners, und jeder von ihnen suchte für sich die Befreiung – nicht in der Kunst, obwohl sie ungezählte Bände Lyrik und Romane schrieben –, sondern in der Menschheitsbeglückung. Es war schwer, mit ihnen einverstanden zu sein, wenn man sie als Künstler betrachtete, aber sie verdienten höchste Wertschätzung als Pädagogen der Masse, als kulturelle Sozialisten, als Menschen, die unter 91

Bab (1904), S. 631. Bab (1904), S. 633. 93 Vgl. Fähnders (1987), S. 152 f.; Schutte/Sprengel (1987), S. 77. – In Holz’ Komödie Sozialaristokraten taucht Przybyszewski ebenfalls auf, als ‚von Styczinski‘. 92

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schweren Mühen für die Arbeitermassen eine höhere Erkenntnisstufe und eine höhere und edlere Weltanschauung erkämpften.“94 Der Rück- bzw. Auszug der Boheme aus der Stadt, die sie hervorgebracht hat, ist die räumliche Konkretion der Kritik einer als bürgerliche Gesellschaft sich darbietenden Moderne.95 Zugleich artikuliert er, auch in der Symbolik des Auszu94

Przybyszewski (1926), S. 111. Diesen Anspruch dokumentiert noch Erich Mühsams Abrechnung mit dem gescheiterten Alternativ-Projekt der Hart-Brüder in einem Das Ende vom Liede betitelten Artikel in Der Anarchist vom Juli 1904, „gut 3 ½ Jahre[]“, nachdem Mühsam kurzzeitig selbst „mit dem ganzen Enthusiasmus eines vom bourgeoisen Betrieb Angeekelten in der Neuen Gemeinschaft Zuflucht suchte“ (Mühsam (1904), S. 14). „Deutschland ist bekanntlich das Land der ‚Dichter und Denker‘; und es ist erfreulich, dass der Sprachgebrauch diese beiden Kategorieen immerhin wertvoller Abarten der Gattung Mensch sorglich auseinanderhält. Denn es gibt nichts bedenklicheres, als wenn’s die Dichter mit dem Denken, oder die Denker mit dem Dichten kriegen. Solches Zusammenkochen von Hirnschmalz und Seelenbrühe bewirkt fast immer eine ungenießbare Moralsuppe, die auszulöffeln selbst den Urhebern oft recht sauer wird. Am besten ist es hier, man giesst die Terrine einfach aus, wenn man merkt, dass der Inhalt unschmackhaft ist. Zu diesem Radikal-Verfahren scheinen sich denn nun auch die lieben Schlachtenseer entschlossen zu haben, nachdem sich die Köche, die den Brei verdorben haben, zuerst gründlich den Magen vergiftet hatten.“ (S. 13) „[A]lle die, die sich wirklich der Sache [. . .] hingaben, taten dies mit dem ausgesprochenen Zweck, dem sozialistisch-individualistischen Ideal zu dienen – und sie alle zogen sich nach und nach zurück, als aus der gross angelegten Idee der Neuen Gemeinschaft allmählich erst eine immerhin wertvolle Organisation zur Veranstaltung künstlerischer Soireen, dann – in der Uhlandstrasse – eine literarischgesellige Vereinigung, dann – in Schlachtensee – eine Familien-Haushaltungs-Genossenschaft, – weiterhin ein Hotel mit Selbstbedienung – und schließlich ein Berliner Vororts-Pensionat wurde, das sich von ebensolchen Institutionen nur noch durch das ethische Aushängeschild unterschied.“ (S. 14 f.) Das Scheitern dieser „an sich so schöne[n] Idee einer Neuen Gemeinschaft“ – der „Hartschen Weltbeglückung“ (S. 15) „im vegetarischen Erziehungsheim in Schlachtensee“ (S. 17) –, die „die Lösung aller ethischen, ästhetischen, religiösen und sozialen Fragen versprach“ (S. 14) führt Mühsam ursächlich zurück auf die Einbeziehung von Frauen in die Entscheidungsprozesse (vgl. S. 16 f.), die Beteiligung eines „ganzen Schwarm[s] harmloser Irrer, mit fixen Ideen Behafteter, hysterischer Weltverbesserer und ähnlicher ethischer Wegelagerer“ (S. 17), und nicht zuletzt auf die „Pfafferei“ der Hart-Brüder (S. 16). „Die Brüder Hart [. . .] kamen auf die überaus verständige Idee, eine Anzahl Menschen um sich zu sammeln, mit denen sie sich aus dem ganzen widerwärtigen kapitalistischen und staatsautoritativen Getriebe absondern wollten, um mit ihnen ein Stück Land zu erobern, auf dem in gemeinschaftlicher Arbeit alles hergestellt werden sollte, was das tägliche Leben erforderte. Dass dieser Plan gut, gesund und durchführbar ist, leuchtet ohne weiteres ein. Die Harts glaubten aber, dass ein gemeinschaftliches Zusammenwirken nicht anders denkbar sei als auf Grund einer gemeinsamen ‚Weltanschauung‘, d. h. gemeinsamen Dogmenglaubens. Jede Glaubenslehre erzeugt aber pfäffische Unduldsamkeit und weiterhin bei denen, die sie ausbreiten, einen Unfehlbarkeitsdünkel, der über dem Bestreben, die Ueberzeugung vom eigenen Wert allen anderen aufzuoktroyieren, alles praktische Tun vergisst und verhindert.“ (S. 15) „Was von Priestern geschoben wird, kippt stets am Felsblock 95

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ges und der räumlichen Bewegung, den positiven Anspruch, exemplarisch eine alternative Lebensform – im avantgardistischen Sinne: – vor-zuleben, womit diese, wie Przybyszewski von seinem urbanen Stammtisch im ‚Schwarzen Ferkel‘ aus beobachtet, „leidenschaftliche[n] Bekenner sozialer Ideen“ und „Verehrer der Natur“96 ihre intellektuelle Wegweiserschaft in eine andere Moderne vorführen, außerhalb des konventionalistischen Zwangskorsetts, der kulturellen Flachheit und des aus all dem resultierenden sozialen Elends der bürgerlichen Gesellschaft. Przybyszewski zufolge wurde diese subkulturell (und suburban) gelebte Utopie – in für ihn, den satanistischen Décadent aus dem ‚Schwarzen Ferkel‘ im Herzen des Molochs Berlin wenig attraktiver Weise97 – sowohl von einem gleichermaßen naiven wie intellektuell überspannten Enthusiasmus als auch von einem enormen Bierkonsum getragen: „ich habe ja gesehen, wie sie sich bei den Händen faßten und eine alte Eiche umtanzten, wie sie ihre Hüte mit Eichenblättern schmückten und Hymnen zu Ehren von Menschlichkeit, Freiheit und Brüderlichkeit sangen – ach, wie naiv sie spielten und, wichtiger noch, spielen konnten! Ein Fäßchen Bier avant toute chose – Bier, viel Bier, ein paar kindliche Witze, bodenlos tiefe und bodenlos langweilige theoretische Ausführungen über die Menschheit, die Kunst, die Ethik, verkündet in der verzweifelten Terminologie Hegels und Schellings – leidenschaftliche Streitereien um Systeme und Systemchen, unablässiges mitleidloses gegenseitiges Verspotten – und wieder Bier und Bier: verlockend war das gesellschaftliche Leben in Friedrichshagen nicht“.98 – Przybyszewskis Berliner Stützpunkt, das ‚Schwarze Ferkel‘, in dem der „tiefsinnigtolle Alkoholiker“99 und die Seinen ihrerseits „in gewaltigen Gelagen gewaltige Alkoholmengen vertilgten“,100 war, was Przybyszewski stolz hervorhebt, eine Weinstube, wenngleich es auch hier offenbar in der Regel nur für Bier und Korn reichte.101 der Pfafferei und fällt entweder in den weichen Dung irgend einer KonfessionsSekte oder aber – im günstigeren Falle – zerschellt es.“ (S. 16) „Pfaffen, Weiber und Irre – dieser Dreibund hat den schönen Plan einer sozialistisch-anarchistischen Neuen Gemeinschaft zugrunde gerichtet.“ (S. 17) – Mühsams Behauptung, die Neue Gemeinschaft sei auch an einem Mangel an Misogynie zugrundegegangen – „Grosse Werke können nur von Männern erdacht, nur von Männern betrieben und nur von Männern bewirkt werden“ (S. 17 f.) –, spricht freilich weniger gegen die Neue Gemeinschaft. 96 Przybyszewski (1926), S. 111. 97 Vgl. Fähnders (1987), S. 152 ff. 98 Przybyszewski (1926), S. 111 f. – H. i. O. 99 Bab (1904), S. 631. 100 Bab (1904), S. 633. 101 Vgl. Przybyszewski (1926), S. 190 f.

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Im Hinblick auf die Bedeutung, die die Friedrichshagener Künstler-Kolonie als Evidenz und Paradigma einer vorgelebten Utopie für die projektierten Ideal-Entwürfe der daran beteiligten Intellektuellen haben konnte, spielt der bloße Umstand des Bierkonsums freilich eine untergeordnete Rolle, sofern man ihn nicht als notwendigen Katalysator und Symbol für eine bestimmte Form der Geselligkeit deutet: In wissenssoziologischer Sicht entscheidend ist die Interaktionszentriertheit der bohemischen Lebensform, also das Vorherrschen von – für Fragen der Beobachtung der Individualität von Individuen sensibilisierende – Kommunikation unter (auch: körperlich) Anwesenden,102 die sich zum einen – interaktionsspezifisch – als Individuen in ihrer Individualität wahrnehmen und kommunikativ beobachten und zum anderen – intellektuellenspezifisch – kommunikative Hintergrundgewißheiten sowohl der eigenen Lebensform als auch der sie umgebenden gesellschaftlichen Umwelt diskursiv reflektieren. Daraus erwächst das Ideal einer gesamtgesellschaftliche Geltung beanspruchenden – oder sich subkulturell verfestigenden – postkonventionalistischen Gemeinschaft von Individuen.103 Der Friedrichhagener Kreis erscheint in Przybyszewskis Erinnerungen nicht nur bezüglich seines subkulturell-sozialexperimentellen Charakters und der Intellektualität seiner Mitglieder, sondern auch im Hinblick auf seine Außenwahrnehmung und finanzielle Mittellosigkeit als eine typische Variante des Boheme-Phänomens. Die Friedrichshagener konnten sich in ihrer durch den wilhelminischen Kulturbetrieb erzwungenen ökonomischen Randständigkeit als kulturelle Rebellen und soziale Außenseiter empfinden: „Es fiele schwer, die ganze materielle Not zu beschreiben, in der diese Kolonie deutscher Weltumstürzler lebte, und die deutsche Öffentlichkeit war so rückständig, daß sie diese konsequenten Realisten, die sanften und gezähmten Naturalisten für Weltumstürzler hielt.“104 „Die Not in Friedrichshagen war sprichwörtlich – die Brüder Hart retteten ihr Leben durch niedrige und erschöpfende journalistische Arbeit; [. . .] Bruno Wille bezog ein kleines Gehalt als sozialistischer Agitator und Leiter der Freien Volksbühne; Arno Holz verdiente sich den Lebensunterhalt durch das Anfertigen von Kinderspielzeug; und der arme Johannes Schlaf verbrachte sein Leben abwechselnd ein halbes Jahr lang in der ärmsten Mansarde, um das nächste Halbjahr dann in einem Irrenhaus zu verleben.“105 102

Im Unterschied zu den funktionssystemischen, durch symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien – wie Geld oder Macht – vermittelten Kommunikationsformen und den versachlichten Entscheidungsstrukturen in Organisationen (vgl. Luhmann (1997a), S. 316 ff., 812 ff., 826 ff., 984 ff.; (1996a), S. 262 ff., 560 ff.). 103 Paradigmatisch für diese Intellektuellenlebensform – wie für viele andere moderne Formen – ist das Geselligkeits-Ideal der Frühromantik (vgl. Vietta (1983), S. 28 f., 42 f.). 104 Przybyszewski (1926), S. 114, vgl. auch S. 191.

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Gerade im Hinblick auf die ökonomische Notsituation weiß sich der ansonsten, in künstlerischen und allen anderen Fragen des Stils und der Ästhetik der Lebensführung distinktionsbewußte Przybyszewski verbunden mit seinen Friedrichshagener Mit-Bohemiens. Die finanzielle Not ist nicht nur in seinem Selbstverständnis ein wesentliches Bestimmungsmerkmal der Boheme,106 so daß eine Boheme, die „über Geldmittel“ verfügt, „gewissermaßen eine contradictio in adiecto“ darstellt, wie er, allerdings nicht ohne Bewunderung, über die vergleichsweise wohlhabenden skandinavischen Künstler bemerkt, die im Gefolge Strindbergs im ‚Schwarzen Ferkel‘ verkehrten: „Ach, das war eine andere Boheme als unsere Berliner.“107 Über den Stirner-Entdecker John Henry Mackay äußert sich Przybyszewski dagegen weniger wohlwollend: „Häufige Besuche in Friedrichshagen machte [. . .] ein Anarchist, ein vornehmer, reicher Salon-Anarchist, John Henry Mackay, der kurz zuvor – dank seiner weitgespannten Beziehungen und seiner Geldmittel, die ihm teure Reisen und Suchaktionen in Berlin und London ermöglichten – Stirner entdeckt und ein so kapitales Werk aus völliger Vergessenheit an den Tag gebracht hatte, wie es ohne Zweifel Stirners Buch ‚Der Einzige und sein Eigentum‘ ist“.108 Mackay erscheint in Przybyszewskis Darstellung nicht nur als herzloser Geizhals, der, selbst ein „begüterte[r] Mensch“, „einen wirklich Elenden, wie Peter Hille es war, wegen der zwanzig Mark plagte, die er ihm einmal in Genf geliehen hatte“, und als „ein unerträglicher Snob“, der „sich damit brüstete, der Abstammung nach Schotte zu sein“,109 sondern auch als bornierter Ignorant: „Oft traf ich Mak105

Przybyszewski (1926), S. 129. Vgl. auch Machinek (1986), S. 100 ff. 107 Przybyszewski (1926), S. 191 – H. i. O. 108 Przybyszewski (1926), S. 88. 109 Przybyszewski (1926), S. 88 f. – „[D]ie Deutschen verleugneten zu jener Zeit ihr Deutschtum und waren stolz, wenn sie ihre Abkunft von einer anderen Nation beweisen konnten“ (Przybyszewski (1926), S. 88). Im Falle Nietzsches, der „stets [. . .] seine polnische Abstammung unterstrichen“ hatte, ist Przybyszewski dies freilich nicht Anlaß zum Spott, sondern höchst willkommen. Selbst die Hände Elisabeth Förster-Nietzsches, „die schönen, rassigen Hände einer polnischen Adelstochter, die keine Deutsche besitzt“ (S. 91), müssen als Beleg der Abkunft der Nietzsches von der „gräflichen polnischen Familie Nicki“ (S. 90) herhalten. Deswegen kann auch das „Wunder der Sprache Nietzsches [. . .] nur ein Pole empfinden – es ist ja das wunderbarste Polnisch, durch einen Genius in eine fremde Sprache transponiert! [. . .] Für den Deutschen ist Nietzsches Sprache vielleicht noch fremder als für den Franzosen die Sprache Chopins.“ (S. 91) Und, wie Przybyszewski klarstellt, ist ja entgegen landläufiger Meinung „für die deutsche Seele [. . .] überhaupt jede slawische Seele“ – auch und selbst „die russische“! – „so grundsätzlich fremd und unverständlich, daß ein Deutscher, selbst wenn er aus ganzer Kraft wollte und sich Gott weiß wie mühte, in sie nie einzudringen vermag.“ (S. 87 f.) – Was Mackay angeht, der schließlich so sehr verarmte, daß er sich genötigt sah, seine jahrzehntelang liebevoll archivierte Sammlung an Stirneriana und seltener Anarchismus-Literatur zu 106

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kay [. . .] und oft versuchte ich, mit ihm auszukommen. Aber es war nicht möglich. Auf alles hatte er nur eine Antwort: ‚Lesen Sie meinen Roman ‚Die Anarchisten‘!‘ [Przybyszewski:] ‚Aber ich habe ihn ja gelesen; leider habe ich darin jenen Kommentar zu Stirner nicht gefunden, von dem Sie reden.‘ [Mackay:] ‚In diesem Falle: wenden Sie sich an Nietzschke.‘ [P.:] ‚Sie meinen Nietzsche?‘ [M.:] ‚Nietzsche – Nietzschke, das ist dasselbe.‘ [P.:] ‚Sie kennen Nietzsche?‘ [M.:] ‚Wozu? Ich kenne Stirner!‘“.110 bb) Bruno Wille Eine höhere Wertschätzung Mackays vermittelt dagegen der Friedrichshagener Bruno Wille in seiner 1894 veröffentlichten Philosophie der Befreiung. Sein „Idealismus“ betiteltes Einleitungskapitel, in dem er annonciert: „Ich gebe in diesem Buche meine Religion“,111 schließt er in salbungsvollem Ton mit den Worten: „Vielleicht spreche ich für einige gar das ‚erlösende‘ Wort, das ihre eigenen Erfahrungen zu Erkenntnissen gruppiert. Das sind dann die echten Gesinnungsgenossen. [. . .] Das Wort ist Phrase, solange nicht das Leben, die Erfahrung seine Bedeutung erschlossen hat. ‚Wen ich suche und wen ich finden werde, – sage ich mit meinem Freunde John Henry Mackay – das ist der Einzelne: Du – und Du – und Du – Ihr, die Ihr in einsamem Ringen zu gleicher Erkenntnis gekommen seid.‘“ (S. 19) Und an anderer Stelle lobt Wille die „wertvolle Kritik“, die „der Kommunismus in John Henry Mackays ‚Anarchisten‘ erfahren“ hat, und auch die „blendende[] Dialektik Mackays“, in Anbetracht derer er sich gleichwohl veranlaßt sieht, auf die Möglichkeit eines „auf zwangloser Vereinbarung beruhende[n] Kommunismus“ hinzuweisen, der ‚die Freiheit veräußern, so tat Przybyszewski ihm offenbar in mindestens noch einer weiteren Hinsicht Unrecht. Denn der im Saarland bei seiner deutschen Mutter aufgewachsene Mackay war zwar in Glasgow geboren, schrieb aber grundsätzlich in seiner deutschen Muttersprache und legte Wert darauf, daß sein Name, der Name seines frühverstorbenen schottischen Vaters, deutsch ausgesprochen werde (vgl. Schwedhelm (1980), S. 7 f., 26 f.). 110 Przybyszewski (1926), S. 89. – In eigenen Worten äußerte Mackay sich wie folgt: „Ich habe die Beobachtung gemacht, dass die meisten Nietzsche-Schwärmer mit einer Art kühler und höchst komischer Ueberlegenheit von Stirner sprechen: sie trauen sich nicht recht an diesen Riesen heran und fürchten sich heimlich vor seiner starren Logik. Bei Nietzsche brauchen sie weniger zu denken: sie lullen sich in seine Sprache ein, während der rechte Nietzsche ihnen meist fremd bleibt. Aber es lockt die Zwerge, mit blechernen Kronen zu spielen. Lassen wir sie weiter spielen. Das Fieber der Nietzsche-Krankheit ist bereits im Fallen. Eines Tages wird sich auch der ‚Uebermensch‘ an der Einzigkeit des Ich zerschmettert haben.“ (Mackay (1898), S. 19). 111 Wille (1894), S. 6. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich in diesem Unterabschnitt ebenfalls auf Wille (1894).

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nicht vergewaltigt‘ (S. 375). Wille selbst allerdings „schwebt [. . .] ein Produkten- und Arbeitsmarkt mit freier Konkurrenz vor – eine Idee, die einfach der Ausfluß meiner Hochschätzung des Egoismus ist. Weil ich nämlich eine Gesellschaft von Individuen erstrebe, die bei allem freien Altruismus ihr Ich hochhalten und lediglich solche Kontrakte eingehen, welche ihnen Vorteile verschaffen“ (S. 375). Willes Beispiel zeigt auch, wie sich die bohemische Sub- und Gegenkultur zur Begründung ihres individualistischen Selbstverständnisses auf Stirner und Nietzsche berufen konnte, um aus der Lage des im Kulturbetrieb ökonomisch marginalisierten Intellektuellen eine Position der Kultur- und Sozialkritik zu entwickeln, die die eigene Außenseiterposition zu derjenigen einer wahren – und wahrhaftigen – Elite um- und aufwertet, die zur Formulierung und Umsetzung einer weltanschaulichen Programmatik bestimmt ist. Zentraler Angriffspunkt ist für Wille die „Vergewaltigung des Individuellen, Majorisierung, Gleichmacherei, Stagnation“ im Namen von ‚Sittlichkeit, Moral und Normalität‘ (S. 18). Sein „Ziel ist der freie Vernunftmensch“ (S. 20), nämlich „Menschen, die autoritäre Tendenzen, Vergewaltigungen der Vernunft, weder gegen andere Menschen anwenden, noch von deren Seite erleiden“ (S. 28 – H. i. O.). Unter „Freiheit“ versteht er „die Möglichkeit, sich zu verhalten, wie man will, die Kongruenz von Wollen und Können, die Schrankenlosigkeit“ (S. 21 – H. i. O.), und diese Freiheit ist zugleich „eine Bedingung meiner Vernunft“, so wie „auch in umgekehrter Richtung [. . .] ein inniger Zusammenhang zwischen Freiheit und Vernunft“ besteht, denn „Vernunft [ist] eine Bedingung meiner Freiheit [. . .]. Denn wenn meine Freiheit darin besteht, dass ich kann, was ich will, so wird sie desto umfangreicher sein, je grösser mein Können, meine Macht ist! Meine Macht aber beruht hauptsächlich auf meiner Vernunft, ebenso wie Vernunftlosigkeit Ohnmacht mit sich bringt.“ (S. 22 f. – H. i. O.) Dementsprechend gilt: „Nicht Zwanglosigkeit bedeutet Unvernunft, sondern Zwang bedeutet Unvernunft.“ (S. 22 – H. i. O.) Wille bezieht explizit den sozialen Anderen in seinen Individualismus mit ein, wenn er jene ‚Vernunftmenschen‘ dahingehend bestimmt, daß sie ihre eigene Freiheit nicht auf Kosten der Freiheit der Anderen ausleben und eben nur dadurch ihrerseits nicht durch Andere in ihrer eigenen Freiheit beschränkt werden. Dieser Individualismus, definiert als „Schätzung, Bethätigung und Behauptung der Individualität“ (S. 40), ist also in programmatischer Weise sozialdimensional symmetrisch, mithin Stirner-interpretationsschematisch je-einzig strukturiert: Er bezieht sich prinzipiell nicht nur auf die eigene Individualität, sondern auch auf diejenige des sozialen Anderen. Ego und Alter sollen ihre Individualität ‚zwanglos‘ ausleben können, und da ‚zwanglos‘ gleichbedeutend ist mit ‚vernünftig‘ ist damit zugleich impli-

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ziert, daß es zu keinen Konflikten zwischen den je-einzigen Freiheitsansprüchen kommen kann: Wer seine Individualität auf Kosten anderer Individualitäten ausleben wollte, der ist nicht frei und vernünftig, sondern zwanghaft und unvernünftig – und also auch kein wahrhafter Individualist. Konflikte zwischen Individualisten sind daher ausgeschlossen, und das Ausleben je-einziger Individualitäten ist daher nicht nur harmonisch, sondern führt auch zu einer Steigerung der je-einzigen Freiheit und Vernunft. Diese Sichtweise ist einerseits exemplarisch für die utopische Aufladung des Individualismus und seine universalistisch-emanzipatorische Zukunftserwartung. Andererseits zeigt sich in ihr in typischer Weise die moralphilosophische Konflikt-Lösungsstrategie eines elitären Avantgarde-Individualismus, der für die Gegenwart partikularistisch zwischen den individualistischen Wenigen und den nicht-individualistischen Vielen unterscheidet: Wenn die Ansprüche zweier Individuen einander widerstreiten und nicht ohne Freiheitsbeschränkungen miteinander vereinbar sind, kann dies aus der partikularistisch-individualistischen Sicht nur bedeuten, daß mindestens eines dieser Individuen kein ‚Vernunftmensch‘ ist, also zur Masse der nichtindividualistischen Vielen gehört. Und deswegen sind dessen Ansprüche denjenigen des Individualisten, des Angehörigen des freien und vernünftigen, (noch) minoritären Teils der Menschheit, unterzuordnen.112 Als apologetischen Nebeneffekt beinhaltet diese Argumentation, daß gegenwärtige Gewalt- und sonstige antisoziale Exzesse von Individuen niemals von wirklichen Individualisten ausgehen können; sie sind immer das Werk von Angehörigen der nichtindividualistischen Gruppe der Vielen und Folge eines Mangels an Individualismus. Sein avantgardistisches Selbstverständnis und die damit verbundene elitäre Tendenz seines Individualismus begründet Wille zeitdimensional unter Berufung auf „Häckel[s] [. . .] biogenetisches Grundgesetz [. . .], dem gemäss jedes Individuum in seiner Entwicklung vom Keim bis zur Reife die verschiedenen Entwicklungsstufen ungefähr der gesamten Reihe seiner Vorfahren wiederholt. Als diese Vorfahrenreihe von Stufe zu Stufe sich empor entwickelte, da waren es zuerst wenige Individuen, welche die höhere Stufe erreichten; ihnen folgte allmählich die Masse. Und wie damals Individuen vorausgingen, so werden – dieser Schluss ist nicht gewaltsam – wohl auch jetzt Individuen die Vorläufer der Masse sein. Demgemäss könnte man das biogenetische Grundgesetz durch den Zusatz erweitern, dass einzelne (‚höhere‘) Individuen die spätere Entwicklung der Art, als Vorläufer, darstellen. Sieht man am menschlichen Embryo sowie an der Fortsetzung, die er im 112 Siehe hierzu die systematische Rekonstruktion der verschiedenen Typen des normativen Individualismus im letzten Abschnitt des vorliegenden Kapitels.

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Kinde findet, woher die Entwicklung kommt, so sieht man am ‚höhern‘ Individuum, wohin sie geht.“ (S. 32 – H. i. O.) Dieser Entwicklungslogik entsprechend kann Wille für die Gegenwart unterscheiden – sachdimensional der Stirnerschen Differenz von ‚Besessenem‘ und ‚Einzigem‘ korrespondierend – zwischen den „Durchschnittsmenschen“ (S. 56) der „Masse“ oder „Herde“ (S. 55) bzw. „jene[n] Normalen, die keine genügende Selbständigkeit im Fühlen und Denken besitzen, vielmehr Gemüt und Geist wesentlich vom Herkommen beherrschen lassen“, einerseits (S. 40) und jener menschheitsgeschichtlichen Avantgarde von „höheren Intelligenzen“ (S. 56), nämlich solchen „Naturen, welche beim Werten gemäss ihrer Eigenart, ihrer Individualität verfahren, d. h. eigen, individuell werten“, andererseits (S. 40). Die einen, die stirner-nietzscheanisch gesprochen ‚das Heilige‘, ‚die Götzen‘ anbeten, machen die ‚Normalität‘ zum Kriterium ihrer Werturteile über den sozialen Anderen, die anderen – Einzige und Übermenschen – richten sich als Individualisten nach ihrer je eigenen ‚Individualität‘ und werten dementsprechend auch den sozialen Anderen in seiner Individualität nach ihrem eigenen, individuellen Wertmaßstab. „Wir sind entweder Sklaven irgendwelcher Heiligkeit, Götzendiener herkömmlicher Wertungen, und betrachten alsdann natürlich den Individualisten als Ketzer, – oder aber wir sind selber Individualisten und dann werten wir die individuelle Wertung wiederum individuell.“ (S. 57 – H. i. O.) Während daher der ‚Götzendiener der Normalität‘ grundsätzlich jede Individualitätsäußerung, die den Rahmen des Normalen überschreitet, als „überspannte Selbstschätzung, närrische Originalitätssucht und beleidigende Verachtung der gesunden Normalität betrachtet“ und verurteilt (S. 40), nimmt dagegen der wohlverstandene Individualist nicht einfach die Gegenposition einer prinzipiellen Verherrlichung jeder Individualitätsäußerung ein, sondern ist vielmehr in der Lage, die Individualitäten der Anderen differenziert zu beurteilen: „Es ist daher auch ganz korrekt, der unbedingten Individualitäts-Vergötterung entgegenzutreten mit der Frage, welcherlei Individualität denn eigentlich gemeint sei, – da es natürlich auch höchst unheilvolle Individualitäten giebt.“ (S. 40 f. – H. i. O.) Damit tritt Wille dem geläufigen Vorurteil entgegen, der Individualismus rechtfertige auch jedes noch so grausame Verbrechen als einen legitimen Akt individueller Selbstverwirklichung – ein Vorwurf, wie er beispielsweise bei der Behandlung des anarchistischen Terrorismus und seiner ‚décadenten‘ Apologeten bei Georg Adler und Plechanow auftrat,113 und wie er auch, explizit gegen Stirner und Nietzsche gewendet, bei Eduard v. Hartmann und Hermann Türck erhoben wird.114 113 114

Siehe oben, V. 2. b) bis d) und 4. b) cc) und gg). Siehe oben, IV. 3. b), und unten, VI. 4. b) ee).

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Die wirkliche Bedrohung für die Kultur und die Fortentwicklung der Menschheit wie für jedes einzelne Individuum sind indes, Wille zufolge, nicht die Individualisten, sondern die ‚Normalisten‘ (S. 63). Die „Dogmatiker“ und „Fanatiker“ der „Schablonisierung“ (S. 57), „Normalität“ und „Gleichmacherei“ (S. 61) stellen in ihrer „Intoleranz“ (S. 56) eine stete Gefahr für die Individualisten dar – und damit für Freiheit, Vernunft und „Fortentwicklung des Menschengeschlechts“ (S. 11) –, weil diese von jenen angstvoll als Infragestellung ihres ‚normalen‘ Selbstbildes und damit als Bedrohung existentieller Sicherheitsbedürfnisse wahrgenommen werden. Die Angst vor dem Anderssein des Anderen findet im Individualisten ihre Projektionsfläche, so daß dieser schnell zum Ziel kontraphobischer Aggressionen der ‚Normalen‘ wird, weil „die Unlust, mit welcher der Durchschnittsmensch auf das Ungewohnte, also auf das Anormale reagiert, leicht den Charakter der Gehässigkeit annimmt, und in Unduldsamkeit ausartet, wenn das Ungewohnte in Abhängigkeit von einer Person auftritt, was gerade bei der individuellen Wertung der Fall ist. Wehe dem, der es wagt, anders zu fühlen, zu denken, zu werten, z. B. sich anders zu kleiden, zu nähren, zu benehmen, als der gewöhnliche Mensch! [. . .] Der plumpe Normalschädel findet eben zur Überwindung der vom Anormalen erweckten Unlust kaum ein anderes Mittel, als Entrüstung, Gehässigkeit, Steinigung, Verfolgung.“ (S. 56) Der „Normalismus“ ist „beschränkt“ wie die ihn tragende „grosse Masse“, und in seiner „Beschränktheit“ – „die Beschränktheit [ist] normal und die Normalität [. . .] beschränkt“ – ist er gegenüber dem „Individualismus“ nicht nur kulturell minderwertig und für die Individualisten gefährlich (S. 63). Es ist auch der Normalismus, und nicht der Individualismus, der den wirklich ‚unheilvollen‘, gefährlichen Individualitäten ihr antisoziales Treiben auf Kosten bzw. unter Verachtung der Anderen gestattet, nämlich dann, wenn diese sich in gesellschaftlichen, insbesondere staatlichen Herrschaftspositionen befinden, in denen sie unter dem ideologischen Deckmantel des ‚Gemeinwohls‘ agieren können. Die Normierungsbedürfnisse des ‚normalistischen‘ „Man“ ermöglichten es, daß „der Staat die Herrschaft seiner ‚Ordnung‘ mehr und mehr ausgedehnt hat“ (S. 190), und die Angst der ‚Unmündigen‘ (vgl. S. 197), die diese dazu führt, den Individualisten zu hassen, begründet zugleich deren Bedürfnis, den „Gewaltstaat“ zur „Gottheit“ zu idealisieren und sich dieser grandiosen und omnipotenten Autorität – als Wiederkehr der idealisierten Elternimago115 – zu unterwerfen: „Man 115

„‚Immer der Staat! der Herr Papa! Wie die Kirche für die ‚Mutter‘ der Gläubigen ausgegeben und angesehen wurde, so hat der Staat ganz das Gesicht des vorsorglichen Vaters‘, spottet Max Stirner. Drum erwarten die Staats-Gläubigen stets, wenn sie nicht selber, durch eigenen Verstand, durch Verbindung mit gemeinen Menschen, etwas vollbringen können, der Staat werde wie ein deus ex machina von

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glaubt an seine Allweisheit, Allgüte und Allmacht; er kann, soll und wird vermeintlich alle Probleme lösen, alle Wunden heilen, alle Ungerechtigkeiten abschaffen“ (S. 190 f.). Diese – in Stirnerscher Terminologie – „fixe Idee“ der Staatsgläubigen (S. 192) verdichtet sich in dem „heilige[n] Wort“ des „Gemeinwohl[s]“; dieses ist ein „‚Spuk‘, wie Stirner sagt.“ (S. 196)116 „Und ich stimme Max Stirner bei, wenn er sagt: ‚[. . .] Das Gemeinwohl als solches ist nicht mein Wohl, sondern nur die äusserste Spitze der Selbstverleugnung [. . .]‘“ (S. 196).117 Und diese aus der Angst, Unmündigkeit und Unterwerfungsbereitschaft der Masse geborene Spukgestalt des Gemeinwohls ist nicht nur die Selbstverleugnung der Mehrzahl der Individuen, die sich dafür beispielsweise im Krieg zuhauf gegenseitig ermorden (vgl. S. 191, 207 f.). Sie bildet auch die Möglichkeitsbedingung der antisozialen Exzesse einiger gefährlicher Individualitäten, nämlich der „staatlichen Herrschaften“, die „sich als väterliche, uneigennützige und weise Pfleger des Gemeinwohls aufspielen“, und so dem Idealisierungsbedürfnis der Masse entgegenkommen, die aus ihnen „vergötterte[] Wesen“ macht (S. 210). „[K]orrumpiert durch ihre ausserordentliche Machtbefugnis, durch die Natur des Herrschens, zuweilen sogar geradezu gemeingefährlich“, können diese nun mit der Autorität und dem Herrschaftsapparat des Staates, beglaubigt vom ‚heiligen Gemeinwohl‘, „ihren Launen und Gelüsten, ihrem Eigensinn, Dünkel, Cäsarenwahn“ nachgehen (S. 211). Zur Vernunft- und Freiheitswidrigkeit des ‚normalistischen‘ Syndroms der ‚Staats-Gläubigkeit‘ gehört neben seiner allgemeinen Eigenschaft als ‚Götzendienst‘ (vgl. S. 191, 197), der die individuellen Exzesse einzelner Amtsträger bzw. Machthaber ermöglicht, insbesondere auch der spezifisch gewaltförmige „[a]utoritäre Charakter“ des Staates. Dieser „ergiebt sich schon aus der Thatsache, dass jede Regierung, selbst die eines ‚Volksstaaoben erscheinen, des verzwickten Falles sich gnädig annehmen und natürlich in seiner Allweisheit alle Schwierigkeiten bewältigen. Bald soll der Staat ‚die soziale Frage lösen‘, bald soll er für die Kunst sorgen; hier soll er intervenieren, dort subventionieren. Auch als moralische Autorität spielt der Staat die Rolle der Gottheit. [. . .] Und wie die theologische Scholastik es fertig gebracht hat, dass ein unbewiesener Satz, nämlich die Behauptung vom Dasein eines persönlichen Gottes, dem geistig unselbständigen Volke als eine selbständige Wahrheit erscheint, an der zu zweifeln geradezu wahnsinnig sei, – so hat der moderne Gewaltstaat, dieser erfolgreiche Konkurrent und lachende Erbe der mittelalterlichen Kirche, den Aberglauben an seine Notwendigkeit, Vernünftigkeit, Sittlichkeit und Unfehlbarkeit als fixe Idee in die Hirne seiner Unterthanen gesenkt, wobei die Volkserziehung in Hochschule und Schule, Kirche und Armee, in seiner Hand ein Herrschaftsmittel ersten Ranges war und ist.“ (Wille (1894), S. 191 f.; vgl. Stirner, EE, S. 289, vgl. auch S. 219, sowie – exemplarisch für Stirners antietatistische Staatskritik – S. 47 ff., 107 ff., 213 ff, 245 ff., 279 ff.). 116 Vgl. z. B. Stirner, EE, S. 45 ff., 77 ff. 117 Vgl. Stirner, EE, S. 234.

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tes‘, wie er sich in der Schweiz oder im Kopfe eines Liebknecht darstellt, Werkzeuge des Zwanges nicht entbehren kann, ja deren ein ganzes Arsenal hegt. Ich nenne das Heer, die Polizei und das Gericht, die Flinten, Säbel, Knüttel, Knuten, Ketten und Kerker.“ (S. 180 f.) Der Staat als Gewaltmaschinerie ist daher, ebenso wie die Gewalttätigkeit von Revolutionen, prinzipiell ungeeignet, den Fortschritt von Vernunft und Freiheit zu bewirken (vgl. S. 38 f., 389 ff.). Aus diesem Grunde distanziert sich Wille auch, wie bereits die Erwähnung Liebknechts impliziert, programmatisch – in Analogie zu Stirners Verwerfung des ‚sozialen Liberalismus‘118 – von der Vision „des sozialdemokratischen Schlaraffenlandes“, dessen Angehöriger der „knechtende[] Knecht eines allgegenwärtigen Staates“ wäre (S. 11). Die hierin zum Ausdruck kommende – staatsgläubige und normalistische – Mentalität und ‚Furcht vor der Freiheit‘ „veranlasst gewisse Vertreter der Sozialdemokratie, die kühne Ich-Freiheit Max Stirners und die ‚Herrn-Moral‘ Nietzsches zu verabscheuen“ (S. 228) und „Max Stirner als den Ethiker des Manchestertums, oder [. . .] Friedrich Nietzsche als den Philosophen der Grossbourgeoisie“ zu denunzieren (S. 42). Insbesondere die von sozialdemokratischen „Bedenken“-Trägern (S. 228) artikulierte „Befürchtung, in einer Gesellschaft ohne Gesetze werde der Stärkere den Schwächern unterdrücken, ist nichts als eine Äusserung der Knechtseligkeit, welche der Staat seinen Unterthanen eingeprägt hat, ihres Mangels an Selbstvertrauen, jener bereits erwähnten abergläubischen Einbildung, ohne einen gottartigen Beschützer, ohne den lieben guten Gewaltstaat nicht in Ordnung und Frieden leben zu können. Solchen, welche den festen Willen haben, sich nicht von Anderen beherrschen und ausplündern zu lassen, und welche auch ihren Mitmenschen diesen Hochsinn mit der Zeit beizubringen hoffen, erscheint die IchFreiheit ganz unbedenklich. Sie fürchten von ihr keine Herrschaft, weil sie mit einem Volke nicht von Knechten, sondern von Freien und Helden rechnen, die mit Leichtigkeit jeden Herrschaftsversuch zu Schanden machen. Der du zagest vor der ‚Herren-Moral‘, erfülle mit ihr dein eigenes Herz, und du brauchst nicht zu zagen. ‚Wozu bist du denn da – sagt Stirner –, der du nicht alles dir gefallen zu lassen brauchst? [. . .]‘“ (S. 229 – H. i. O.). Eine solche Elite von ‚Ich-freien‘, mit ‚Herren-Moral‘ erfüllten Individualisten, nicht die sozialdemokratische Partei mit ihrer politischen Strategie der Eroberung der Staatsmacht, wird Wille zufolge die Menschheit erzieherisch zur „herrschaftslosen Gesellschaft“ führen und das Ziel von Freiheit und Vernunft realisieren (S. 229). „Was wir brauchen sind Bildungsgesellschaften, Freidenkervereine, Diskutier-Klubs, Freie Volksbühnen, Volksbibliotheken, billige Bücher. Was wir brauchen sind ausgebildete Individuen, Adels118

Vgl. Stirner, EE, S. 127 ff., vgl. auch S. 275 ff., 285 ff., 345 ff.

2. Antibürgerlicher Individualismus als Alternativkultur und Kulturkritik

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menschen, die ihren Kraftüberschuss den zurückgebliebenen Mitmenschen widmen und mit ihrer Begeisterung und intellektuellen Überlegenheit ganze Massen mit sich fortreissen und veredeln.“ (S. 394 f.) Wie sehr das avantgardistische Selbstverständnis dieses gleichermaßen sozial engagierten wie elitären Individualismus – Sozialaristokratismus – durch die bohemische Lebensform in der Friedrichshagener Künstlerkolonie geprägt ist und insbesondere durch die Mißachtungs- und Marginalisierungserfahrungen seitens der „Moral-Philister“ (S. 243) und des wilhelminischen Kulturbetriebs, die den Auszug aus Berlin motivierten, offenbart Willes Polemik gegen den „Kulturpöbel“, die seine prinzipielle Dichotomisierung von ‚Individualität vs. Normalität‘ in einen kulturkritischen Kontext stellt, der sich insbesondere gegen Vermassung und Urbanität richtet. Der „moderne Kulturpöbel [. . .] hantiert mit den normalen, von seinen Götzen und Herrschaften geprägten Werten, und wenn jemand diese Münzen skeptisch grübelnd betrachtet und seine individuellen Wertungen dagegen hält, so trifft ihn wohl rohes Gelächter der Menge, wenn nicht gar Hass und Steinigung. Wehe einer ‚Kultur‘, welche den grossen Haufen in diesem chronischen Fehler noch bestärkt, welche ihrer ‚hohen Zwecke‘ halber das Innenleben, die Beschaulichkeit, die ureigne Entfaltung der geistigen Individualität systematisch verwüstet und vereitelt! [. . .] Echte Kultur will das Individuum ausbilden und betrachtet alle ihre Anstalten, natürlich auch die umfassendste dieser Anstalten, die Gesellschaft, als Mittel zu diesem Zwecke. Echte Kultur versäumt nicht, das Innenleben anzuregen, und zu veredeln; sie verabscheut das Lärmen und Treiben der Grossstädte, weil hier jene erhabene Einsamkeit, jene lauschige Stille fehlt, die dem innerlichen Leben Gelegenheit bietet, sich bemerkbar zu machen, seine Anliegen vorzubringen, seine Offenbarungskräfte zu entfalten.“ (S. 8) Mit solchen und ähnlich artikulierten Selbstverständnissen konnten sich Angehörige der intellektuellen Subkultur der Boheme als ‚Einzige‘ und ‚Übermenschen‘ im ‚Verein‘ gegen die ‚Sklavenmoral‘ der ressentimentgetriebenen ‚Herde‘ bzw. ‚Masse‘ ‚empören‘, gegen die ‚heilige Gesellschaft‘ und die ‚Besessenheit‘ der ‚Bürger‘, um sich, ‚machtvoll‘ ihr ‚Eigentum‘ behauptend und ‚Werte umwertend‘, über die ‚letzten Menschen‘ und die Verlogenheit der ‚uneingestandenen Egoisten‘ zu erheben und sich ‚die Welt anzueignen‘. Die entscheidende Stoßrichtung der meisten individuellen Spielarten dieses un- bzw. anti-bürgerlichen Individualismus bringt Wille exemplarisch zum Ausdruck, wenn er im Anschluß an seine Polemik gegen den „Gewaltstaat“ unter Berufung auf „Nietzsches Zarathustra“ die „Moral-Knechtschaft“ anprangert und stirnerianisch empfiehlt, sein ‚Gewissen los zu werden‘, um sich von dieser Knechtschaft zu befreien: „Ja das Gewissen hemmt die Entwicklung des Menschengeschlechts zu voller Ver-

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nünftigkeit und Freiheit. Zum freien Vernunftmenschen führt nicht Gewissenhaftigkeit, sondern – entsetze dich, Moral-Philister! – Gewissenlosigkeit. Ich meine allerdings nicht die bornierte Gewissenlosigkeit des ordinären Bösewichts“, fügt er dann hinzu (S. 243 – H. i. O.), um bei allem ‚Epater le bourgeois‘ wiederum dem Hauptvorwurf zu parieren, der Individualismus sei per se unsittlich und rechtfertige das Verbrechen.119 Wille zufolge wird, im Gegenteil, gerade durch die von Stirner und Nietzsche empfohlene „moralische Emanzipation vom Staate“, durch die „moralische[] Revolutionierung des Volkes“ die vernunft- und freiheitswidrige „Herrschaft durch Erhöhung der Knechte überwunden“ (S. 241). Und dann „beginnt eine neue Phase in der Entwickelung des Menschengeschlechtes, das glückselige Zeitalter des freien Vernunftmenschen, oder wie Nietzsche sagt des ‚Übermenschen‘.“ (S. 241 f.) In Willes letzten Wendungen verdichten sich nochmals exemplarisch typische Züge des von der Boheme artikulierten Stirner-Nietzsche-Individualismus der Jahrhundertwende in ihren wechselseitigen Spannungsverhältnissen. Der partikularistische Eliten-Individualismus rechtfertigt seine (gegenwärtige) aristokratische Massenverachtung avantgardistisch mit dem universalistisch projektierten Anspruch zukünftiger Menschheitsemanzipation. Sein revolutionäres und oppositionelles Selbstverständnis artikuliert er nonkonformistisch in dezidiert antibürgerlichen Provokationen und symbolischen Aggressionen gegen den ‚Normalismus‘, was ihm einerseits individualistische Distinktionsgewinne einbringt, ihn aber andererseits veranlaßt, seine emanzipatorischen und utopischen Anliegen vor antisozialen Vereinnahmungen und darauf zielenden Diffamierungen in Schutz zu nehmen. Um den allenthalben gegen den Individualismus vorgebrachten Verdacht zu entkräften, dieser propagiere die Antisozialität, rechtfertige das Verbrechen und verneine Sittlichkeit und Moral, arbeiten Individualisten in apologetischer Absicht das spezifisch ethische Profil der von ihnen propagierten Weltanschauung heraus. Stirner und Nietzsche gelten in diesem Sinne als Begründer nicht eines ethischen Nihilismus und prinzipiellen Antimoralismus, sondern einer höheren, kulturell wertvollen individualistischen Moral, die dem Einzelnen nicht als ‚Du sollst‘ von außen aufgezwungen wird, sondern auf der je eigenen Wertsetzung selbstverantwortlicher und emanzipierter Individuen beruht, die sich der konventionalistischen Moral des ‚Du sollst‘ überlegen wissen und deren Verlogenheit, Lebensfeindlichkeit und kulturelle Minderwertigkeit erkennen. Als paradigmatisch hierfür konnte sowohl der ‚Einzige‘ verstanden werden, der sich in seinem Bewußtsein, ‚we119 Wie dies beispielsweise Hermann Türck an den „gefährlichen Denkern“ Stirner und Nietzsche zeigt (Türck (1899), S. 325), die ihm als Beispiele des „bornierte[n] Mensche[n]“ im „Gegensatz zum genialen“ gelten (S. 232, vgl. S. 326 ff.). Siehe auch unten zu Türck.

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der gut noch böse‘ zu sein, gegen die von den ‚Besessenen‘ als ‚heilig‘ geglaubten Moralvorstellungen ‚empört‘, aufgrund derer er selbst als ‚Unmensch‘, ‚Verbrecher‘ oder ‚Sünder‘ erscheint, und denen doch nur ein uneingestandener, verlogener Egoismus zugrunde liegt,120 als auch der von Nietzsches ‚Zarathustra‘ verkündete ‚Übermensch‘,121 der in Zarathustras Rede ‚Von den drei Verwandlungen‘ als ‚Welt gewinnendes‘ und ‚Werte schaffendes Kind‘ aus dem ‚Löwen‘ hervorgeht, der zuvor den das ‚Kamel‘ knechtenden ‚Drachen Du-sollst‘ überwunden hat.122 Übermensch und Einziger stehen so, ethisch selbstbestimmt Werte umwertend, in einer Front gegen die ethische Fremdbestimmung moralischer Normierung. ‚Einziger‘ und ‚Übermensch‘ bzw. ‚Stirner und Nietzsche‘ waren somit zugleich Chiffren für die Delegitimation bürgerlicher Moral-Konventionen. Sie fungierten als begriffliche und symbolische Referenz für die Fragwürdigkeit und Infragestellung des spezifisch bürgerlichen Distributionssystems sozialer Achtung und Ächtung. Ihre Umwertungsambitionen richteten sich gegen die moralisch-ethische Ordnung wilhelminischen (oder viktorianischen) Bürgertums, die sich formal an der Leitdifferenz ‚normal vs. abnorm‘ ausrichtete und inhaltlich durch ein Leitbild bürgerlicher ‚Respektabilität‘ bestimmt war, das sich als konventionalistische Konzeption des Guten in seinem Geltungsbereich ebenso auf Fragen der Kleiderordnung und Umgangsformen wie auf die Stereotypisierung von Geschlechts- und Nationalcharakteren und die Disziplinierung des Erwerbs- und Sexualverhaltens erstreckte.123 Gerade wegen dieses umfassenden, konventionalistischen Anspruchs bot die bürgerliche Moral der Respektabilität vielfältige Gelegenheit zu – individuell gewollten wie ungewollten – Normübertretungen. Sie provozierte und produzierte in systematischer Weise die Abweichung – vom Verstoß gegen Höflichkeitsregeln bis zu sexuellen Devianzen, deren Bedrohlichkeit für Moral und Nation zugleich in medizinischen und juridischen Diskursen durch Pathologisierung und Kriminalisierung bekräftigt wurde. ‚Einziger‘ und ‚Übermensch‘ konnten so als Sinnbilder nonkonformistischer Moralkritik und Normenverachtung von durch Selbst- wie Fremdzuschreibung zu gesellschaftlichen Außenseitern erklärten Minderheiten genutzt werden,124 um ihr Stigma umzuwerten und dieses so als 120

Die Terminologie zieht sich durch Stirners ganzes Buch, für zentrale Passagen und Stichworte seiner Argumentation vgl. z. B. Stirner, EE, S. 5, 36 ff., 82 ff., 136 ff., 154 ff., 178 ff., 194 f., 200 ff., 263 ff., 313 ff., 321 ff., 354 ff., 374 ff. 121 Vgl. Nietzsche, KSA 4, S. 14 ff. 122 Vgl. Nietzsche, KSA 4, S. 29 ff. 123 Vgl. Mosse (1987). 124 Die Außenseiterrolle konnte in der Regel auf eine Mischung aus Selbst- und Fremdselektion zurückgeführt werden, weil Betroffene sich im Zweifelsfalle vor die Alternative gestellt sahen, entweder sich selbst in ihren individuellen Bedürfnissen

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eigenes ‚Recht der Persönlichkeit‘ gegen die bürgerliche ‚Respektabilität‘ geltend zu machen. Sie fungierten so, wissenssoziologisch betrachtet, als Durchsetzungs- und Registratursemantik für die Erosion der konventionalistischen Moral und für die in diesen Erosionsprozessen freigesetzte Exklusionsindividualität.125 cc) Erich Mühsam Illustrativ für die Frontstellung gegenüber der Mehrheitsgesellschaft und die damit verbundene Randgruppen- und Außenseiteraffinität des Individualismus im Selbstverständnis der Intellektuellen-Subkultur ist ein Boheme betitelter Artikel Erich Mühsams: ‚Bohemien‘ und ‚Boheme‘ werden hier in typischer Weise dem ‚Philister‘ bzw. der ‚Bourgeoisie‘ entgegengesetzt, aber auch der „zukunftsstaatbesessenen Sozialdemokratie“, den „zentralistischen Arbeiterorganisationen“ mit ihrer „Ausschaltung des individuellen Temperaments des Einzelnen“.126 Der Bohemien wird bezüglich seiner „raund Ambitionen zu verleugnen, oder aber sozial ausgegrenzt zu werden. Insofern sind im subkulturellen Selbstverständnis solcher Randgruppen die Übergänge zwischen gesellschaftlich erzwungenen und frei gewählten anti- oder unbürgerlichen Außenseiterpositionen fließend. 125 Wissenssoziologisch betrachtet steht im Hintergrund die Erosion von – deswegen um so offensiver und rigider vertretenen, wissenschaftlich und nationalistisch aufgerüsteten – moralischen Inklusionsmechanismen konventionalistischer Art, die ihren Exklusionsbereich durch die Position des stigmatisierten bzw. geächteten Außenseiters markieren, wodurch sie zur Freisetzung der somit als Außenseiterposition interpretierten und reflektierten Exklusionsindividualität beitragen. So sehr die Exklusionsindividualität und ihre semantische Registratur also sozialstrukturell, als Folge der Differenzierungsform der modernen Gesellschaft, gewissermaßen ‚erzwungen‘ war, erfolgte ihre sozialphänomenologische Ausgestaltung dennoch innerhalb eines semantisch bedingten Kontingenzspielraums, durch den die individuellen Entscheidungsfreiheiten bezüglich der Zugehörigkeit zu einer moralisch exkludierten Gruppe unterschiedlich verteilt werden. Die Exklusionsindividualität wurde gewissermaßen zuerst an bestimmten Gruppen ‚erprobt‘, die durch die Normalitätskriterien der konventionalistischen Respektabilitäts-Moral dafür freigegeben waren. Die konventionalistische bzw. ‚normalistische‘ Programmierung des moralischen Codes (‚Achtung vs. Mißachtung/Ächtung‘) hat zur Folge, daß für die Zuteilung des positiven, sozialinklusiven Wertes (‚Achtung‘) ‚Normalität‘ – im Sinne einer respektablen Lebensführung bzw. einer bürgerlichen Konzeption des Guten – erforderlich ist, während jede Abweichung davon – z. B. die intellektuelle Infragestellung der Geltung dieser Unterscheidung von ‚Normalität vs. Abnormität‘, ein nonkonformistischer Lebensstil, aber auch wissenschaftlich beglaubigte psychophysische Devianz oder Minderwertigkeit – zur Zuteilung des negativen, sozialexklusiven Wertes (‚Ächtung‘), also zum Achtungsentzug führt. Daher produziert das konventionalistische Moralregime mit seinem Normalität fordernden und Nonkonformismus stigmatisierenden Beobachtungsschema systematisch Individualisten als Exklusionsindividualitäten.

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dikale[n] Skepsis in der Weltbetrachtung“ und „gründliche[n] Negation aller konventionellen Werte“ charakterisiert und durch sein Bedürfnis, „sein eigenes Ich gegen die Masseninstinkte der Gesellschaft durchzusetzen“, im Gegensatz zum Philister, der durch seinen Konformismus und seine Borniertheit definiert wird (S. 23). Das zwanghafte Bedürfnis des Philisters, den ‚Nebenmenschen eifersüchtig zu bewachen‘, „ob er nicht etwa die Grenzen des Philisterhorizontes überschreitet und sich so der moralischen Wertung und der Vergleichsmöglichkeit mit den übrigen Philistern entzieht“, liegt in dessen „schlotternde[r] Angst vor der sittlichen Entgleisung des Zeitgenossen und ihrer psychologischen Unkontrollierbarkeit“ begründet und äußert sich als „sittliche Entrüstung“ und „soziale Ächtung“, die den davon Betroffenen zum „ethischen Outsider“ macht und ihn in seiner gesellschaftlichen Existenz zu ruinieren geeignet ist (S. 18 f.). Diese „Ausgestoßenen der Gesellschaft“, die „Verbrecher, Landstreicher, Huren und Künstler – das ist die Boheme, die einer neuen Kultur die Wege weist“ (S. 24 f., vgl. S. 20 f.). Daß vor allem den Künstlern diese avantgardistische Rolle zukommt – gleichsam als Avantgarde der Avantgarde –, legt Mühsams Beobachtung nahe, daß, im Vergleich zu Verbrechern, Landstreichern und Huren, dem Künstler gegenüber „die bleiche Angst des Philisters vor dem Außergewöhnlichen am jammervollsten in Erscheinung [tritt]. Dieses Hosenschlottern von Respekt und Furchtsamkeit ist nämlich nicht nur der Ausdruck der Besorgtheit um das korrekte Benehmen des andern, sondern hier wirkt auch ein instinktives Gefühl für die kritische Überlegenheit des Künstlers mit, die die Nichtigkeit des Philisters durchschauen könnte.“ (S. 21) Die Angst des Philisters adelt den Künstler-Bohemien: in der symbolischen Aggression gegen den Bürger und dessen Ordnung bringt er nicht nur offensiv sein individuelles Anderssein zum Ausdruck, sondern er beglaubigt darin auch seinen avantgardistischen bzw. geistesaristokratischen Überlegenheitsbzw. Führungs-Anspruch. Symptomatisch für die apologetischen Züge und die ethisch-moralische Selbstaufwertung des Außenseiter-Individualismus im Sinne der hier angestellten wissenssoziologischen Überlegungen ist in Mühsams Beschreibung, erstens, die Stilisierung der so verstandenen Boheme zur Avantgarde, die, zweitens, trotz ihrer mitunter „brutal zur Schau getragenen Unterstreichung des Andersseins“ keineswegs „asozial“ zu nennen ist: „Im Gegenteil wird die schroffe Ablehnung der bestehenden Zustände mit all ihren Ausdrucksformen in den allermeisten Fällen mit der sehr sozialen Sehnsucht nach einer idealen Menschheitskultur verbunden sein“ und mit einem „innige[n] Solidaritätsgefühl [. . .] zum Lumpenproletariat“, zu allen Geächteten und 126 Mühsam (1906), S. 19 f. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben in diesem und im folgenden Absatz beziehen sich ebenfalls auf Mühsam (1906).

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Ausgestoßenen (S. 24). Drittens sind die Angehörigen der Boheme nicht aufgrund eigener Entscheidung „Outsider der Gesellschaft“ (S. 21), sondern sie sind entweder „ausgestoßen von der kaltherzigen Brutalität des Philistertums, oder [. . .] Verworfene aus eigener, vom Temperament diktierter Machtvollkommenheit“, also deswegen, weil sie ihrer Natur folgen und dadurch die Normen der Philister verletzen (S. 24 f., vgl. S. 23). Der Individualismus der Boheme ist also für Mühsam der adäquate bewußtseinsmäßige Ausdruck ihrer Lebenssituation, wodurch die stigmatisierten Minderheiten zur Avantgarde einer kulturrevolutionären Überwindung der „Philistrosität“ mit ihrer repressiven und nivellierenden „Tendenz zur Verallgemeinerung“ werden (S. 18).127 Die von der bürgerlichen Moral geächteten Außenseiter – oder deren intellektuelle Fürsprecher – werten ihre stigmatisierten Lebensformen als Vorwegnahme oder Ausdruck eines der Respektabilität des bürgerlichen ‚Juste-Milieu‘ in jeder Hinsicht überlegenen Individualismus um, für den in prominenter Weise Nietzsche und Stirner Pate stehen.128 In wissenssoziologischer Perspektive erscheint dieser Individualismus als semantischer Ausdruck von sozialen Erfahrungen der Exklusion, die prinzipiell unter sozialstrukturellen Bedingungen der Exklusionsindividualität universell möglich war, aber in der konkreten historischen Situation, orientiert an einer auf ‚Verallgemeinerung und Kontrolle‘ der Individuen129 – auf moralische Inklusion – zielenden Semantik der Respektabilität an solchen Individuen exekutiert wurde, die als ethisch minderwertig konstruierten Gruppen zugerechnet wurden, im ausgehenden 19. Jahrhundert insbesondere Juden und Homosexuelle.130 Diese Außenseiter der bürgerlichen Moral, die ‚sozial Geächteten‘ bzw. Unachtbaren sahen sich auf der Außenseite der moralisch-ethisch definierten Form des Juste-Milieu, also im Exklusionsbereich der bürgerlichen Gesellschaft, und waren daher in besonderem Maße prädisponiert, in ihren subkulturellen Selbstverständnissen der sozialstrukturellen Exklusionsindividualität semantischen Ausdruck zu geben. Dies äußert sich einerseits in der – kritischen, symbolisch-aggressiven oder distanzierten – Ablehnung der diskriminierenden und existenzgefährdenden Exklusionsmechanismen der bürgerlichen Gesellschaft, die die Individuen in ihren Ansprüchen auf Selbstverwirklichung und Glück unterdückt; also in der betonten Un- bzw. Anti-Bürgerlichkeit dieses Individualismus. Andererseits kommt dies in der aufwertenden Re-Interpretation der eigenen, von der bürgerlichen Moral für irrespektabel erklärten Lebensform und in programmatischen Ansprüchen zum Ausdruck, als Avantgarde eine alternative 127 128 129 130

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

auch Kreuzer (2000), S. 360 f. Kreuzer (2000), S. 50 ff., 141 ff., 154 ff., 292 ff. Mühsam (1906), S. 18 ff. Mosse (1987), S. 174 ff.

2. Antibürgerlicher Individualismus als Alternativkultur und Kulturkritik

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Moderne vorzuleben bzw. herbeizuführen, in der ein jedes Individuum sich selbst verwirklichen kann; dies betrifft die dezidiert ethischen und sozial (utopisch)en Gehalte und Ansprüche dieses Individualismus. Es geht also um die Überwindung der ‚bürgerlichen‘ Exklusionsmechanismen und die Bewahrung, aber Neuinterpretation der Exklusionsindividualität. Die Erfahrung von sozialem Achtungsentzug führt, wissenssoziologisch betrachtet, nicht notwendig zu einem individualistischen Bewußtsein im skizzierten Sinne; sie kann, im Gegenteil, mit gleicher Plausibilität auch den Wunsch bedingen, soziale Achtbarkeit nach den kulturell hegemonialen Standards der Respektabilität zu erringen, der sich dann allerdings, im Bestreben nach Anpassung, typischerweise gerade nicht in der Betonung des subkulturellen Andersseins artikuliert. In jedem Fall aber stellt die diskriminierten Minderheiten zugängliche Erfahrung des sozialen Achtungsentzuges für die Betroffenen die vermeintliche Selbstverständlichkeit von moralischer Inklusion und die damit verbundenen Erwartungsschemata in Frage und nötigt damit zur Reflexion einer Individual-Identität, die sich nicht positiv über die allgemeinen Achtbarkeitskriterien bestimmen läßt, weil sie deren ethischer Programmierung nicht entspricht. Sie nötigt daher erstens zur Reflexion der Möglichkeit einer Identitätsbestimmung außerhalb der gegebenen ethischen Programmierung der exkludierenden Moral. Und sie nötigt zweitens zur Reflexion der Diskrepanz zwischen den Erwartungsschemata der exkludierenden Moral und der Selbstwahrnehmung der Exkludierten. Denn wer sich aus Gründen seines irrespektablen Lebenswandels, seiner sexuellen Orientierung oder seiner (askriptiven) ethnischen Gruppenzugehörigkeit im Exklusionsbereich der Moral befindet, ist nach deren Maßstäben nicht nur irrespektabel und muß daher seine Identität und deren Wert gegen diese hegemonial-moralische Abwertung behaupten; sondern er gilt im Zweifelsfalle auch – aufgrund seelischer Abnormität oder rassischer Veranlagung – als potentiell gefährlich: mindestens für die sittliche Ordnung, u. U. auch für Leib und Leben der sozialen Anderen. Wer sich mit solchen Erwartungen konfrontiert sieht, zugleich aber feststellt, daß er sie nicht erfüllt, wird daher zur Reflexion der Gültigkeit dieser Moral genötigt: nicht nur bezüglich ihres Anspruchs auf Gerechtigkeit, sondern auch im Hinblick auf die Wahrheit sowohl ihrer derartige Erwartungsschemata – seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zunehmend wissenschaftlich – begründenden Weltdeutungen als insbesondere auch im Hinblick auf ihren Anspruch, sozialintegrativ unabdingbar zu sein. Gerade hieraus ergeben sich programmatische Positionen, die soziale Ordnungsvorstellungen jenseits der etablierten Moral propagieren und hierfür die ‚neuen Werte‘ einer ‚neuen Moral‘ oder Amoralität in Anspruch nehmen, von denen aus wiederum die herrschende Moral – z. B. als ‚Sklavenmoral‘ oder als ‚Besessenheit‘ – diffamiert und entwertet werden kann. Dadurch wird die in der moralischen Exklusion er-

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fahrene Entwertung negiert und die Position der Irrespektabilität zur überlegenen, nonkonformistischen Individualität umgewertet. Die moralische Exklusionserfahrung diskriminierter Minderheiten begünstigt daher eine spezifische Sensibilität für die semantische Reflexion der sozialstrukturellen Exklusionsindividualität als eines Aspekts der modernen Gesellschaft. Ähnlich, wie in Mannheims Wissenssoziologie die soziale Lage der Intelligenz131 in besonderem Maße für die Einsicht in die prinzipielle soziale Standortgebundenheit bzw. Seinsverbundenheit des Denkens und die Unerreichbarkeit einer letztgültigen, objektiv wahren Gesellschaftsbeschreibung (einer ‚absoluten Synthese‘) sensibilisiert. Und ähnlich auch, wie im Historischen Materialismus der Klassenstandort des Proletariats, dessen Stellung im Produktionsprozeß in besonderem Maße die Einsicht in die Gesellschaftlichkeit von Produktion und in die ökonomischen – nicht moralischen oder politischen – Ursachen von materiellen Verelendungsprozessen begünstigt. Von einem ‚Avantgardismus‘ bzw. einer ‚revolutionären Subjektivität‘ kann man bezüglich dieser Gruppen jenseits ihrer jeweiligen Selbstverständnisse allerdings nur sprechen, wenn man den Progressismus ihrer ethischpolitischen bzw. geschichtstheoretischen Anschauungen teilt. Das ist aber nicht nötig, um aus der Perspektive einer evolutionistischen Wissenssoziologie rückblickend zu erklären, wieso bestimmte Aspekte der modernen Gesellschaft in bestimmten, in spezifischer Weise durch ihre in konkreten historischen Erfahrungen vermittelte soziale Situation sensibilisierten kulturellen Milieus zu einem soziokulturell-evolutiv frühen Zeitpunkt und mit besonderer Intensität – aber auch mit milieuspezifischen und zeittypischen Deutungsmustern – beleuchtet wurden, und auch, wieso diese Milieus für zeitgenössische Beobachter als sozialphänomenologische Evidenzen bei der Diagnose eines individualistischen Zeitgeistes fungierten.

131 Herkunft aus allen sozialen Schichten, geeint durch das ‚Band der Bildung‘, dadurch den sozialen Herkunftsschichten entfremdet und im Bewußtsein der Relativität schicht- bzw. klassengebundener Perspektiven, und in diesem Sinne schließlich ‚sozial freischwebend‘, nämlich jenseits der Klassengrenzen, weil sich aus allen Klassen rekrutierend, und deswegen mit einem überlegenen Blick und mit besonderem Verantwortungsbewußtsein fürs soziale Ganze; vgl. Mannheim (1929), S. 134 ff.

3. Individualität als Devianz

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3. Individualität als Devianz, Individualisierung durch Diskriminierung: der kulturzersetzende Individualist a) Affinitäten des Individualismus – Variationen des Nonkonformismus Signifikant für den wissenssoziologisch beobachtbaren Zusammenhang von moralischer Exklusionserfahrung und individualistischer Semantik ist der Beitrag, den homosexuelle und aufgrund ihrer familiären Herkunft ‚dem Judentum‘ zugerechnete Autoren, also Angehörige zweier im Ende des 19. Jahrhunderts vorzugsweise stigmatisierter Minderheiten,132 bereits früh zur nietzscheanischen und stirnerianischen Interpretation des Individualismus leisteten.133 Als symptomatische Verdichtungen für die gesteigerte Aufmerksamkeit gegenüber ‚dem Juden‘ und ‚dem Homosexuellen‘ als Negativ-Stereotypen in der moralischen Ordnung der bürgerlichen Welt im Fin de siècle können rückblickend die Affäre Dreyfus und der Kriminalprozeß gegen Oscar Wilde gelten, die bereits zeitgenössisch auch jenseits der jeweiligen Landesgrenzen Beachtung fanden, ihre symbolischen Wirkungen zeitigten und als diskursive Evidenzen fungieren konnten.134 132 Vgl. Mosse (1987), S. 170 ff., bes. S. 178 ff.; Stümke (1989), S. 21 ff., bes. S. 26 ff., 40 ff. 133 Wenn es im vorliegenden Fall um die semantische Registratur und Reflexion der exklusionsindividuellen Sozialstruktur in solchen sozialen Zusammenhängen geht, die über spezifische moralische Ausgrenzungserfahrungen verfügen bzw. sich mit diesen Ausgrenzungserfahrungen (solidarisch) identifizieren, so ist dabei erstens anzumerken, daß es sich auch hierbei – von allen sonstigen askriptiven Gruppenzugehörigkeiten abgesehen – um Intellektuelle im Sinne Mannheims handelt. Kreuzer hebt diesen Umstand in seiner sozialgeschichtlichen Betrachtung der Boheme bereits begrifflich hervor, wenn er diese als eine ‚intellektuelle Subkultur‘ definiert und damit von anderen marginalisierten und deklassierten Gruppen unterscheidet, die gleichwohl Gegenstand bohemischer Stilisierung und Solidarisierung sind (vgl. Kreuzer (2000), S. 226 ff., 281 ff.); umgekehrt ist aber auch die Elaborierung anderer, nicht im engeren Sinne ‚bohemischer‘, sub- bzw. gegenkultureller Selbstverständnisse sozialtypologisch als Werk von Intellektuellen zu betrachten. Zweitens ist zu betonen, daß die im Zusammenhang mit der Problematisierung von Individualität im Lichte moralischer Exklusionserfahrung vertretenen individualistischen Lösungen bzw. Alternativangebote zur Respektabilität der bürgerlichen Moral weder letzterer per se ethisch überlegen sein müssen, noch fortschrittlich oder auch bloß praktikabel. Wissenssoziologisch zeigen sich in den Entwürfen zu einer alternativen Moderne, die der anti- oder unbürgerliche Individualismus vorlegt, zunächst einmal die Bruchstellen im Selbstverständnis der Moderne, die die soziokulturelle Evolution im Ende des 19. Jahrhunderts in ihrem Verständnis der Individualität zeitigt. Welche dieser damaligen Alternativen mittlerweile zur Selbstverständlichkeit geronnen sind, versteht sich – rückblickend – von selbst.

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Das Schicksal des paradigmatischen Dandys Oscar Wilde135, der 1895 wegen Homosexualität zu zwei Jahren Zwangsarbeit im Zuchthaus zu Reading verurteilt worden war, an deren ruinösen Folgen er nach seiner Freilassung starb, war „neben Nietzsches Wahnsinn der zweite spektakuläre IkarusSturz, den das letzte Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts gesehen hat“.136 Und die öffentliche Debatte um den 1894 – trotz erheblicher (und wie sich schließlich herausstellte: begründeter) Zweifel an seiner Schuld – wegen Landesverrats zu lebenslanger Verbannung verurteilten (und erst 1906 rehabilitierten) französischen Artilleriehauptmanns Alfred Dreyfus137 war, im Januar 1898 gipfelnd in Émile Zolas berühmten J’accuse!, das Intellektuellen-Großereignis der 1890er Jahre, begleitet von antisemitischen Kampagnen der französischen Rechten gegen den ‚Juden Dreyfus‘ und die ‚unpatriotischen‘ Dreyfusards, die für die Unschuld des ‚jüdischen Verräters‘ eintraten.138 Zolas Parteinahme für Dreyfus – Sternstunde in der Geschichte des öffentlich intervenierenden Intellektuellen – konnte im antimodernistischen Diskurs für die bereits von den Feinden Heinrich Heines gepflegte negativ-stereotypisierende Verknüpfung der ‚Zersetzungssucht‘ und ‚Wurzellosigkeit‘ des Intellektuellen mit derjenigen ‚des Juden‘ genutzt werden,139 auf beiden Seiten des Rheins. In Berlin sah sich beispielsweise Rudolf Steiner140, der seinerzeit der Friedrichshagener Szene assoziiert war 134

Vgl. Mosse (1987), S. 109. 1854–1900. 136 Seibt (2003), S. 14. – „Nietzsche hatte alle angstbewehrten Regeln religiösen Empfindens herausgefordert, und so mochte seine Umnachtung wie eine grausam genau treffende Nemesis aussehen. Im Falle Wilde ist der Untergang ganz direkt mit dem vorangehenden Tabubruch verbunden: Wilde hatte nicht nur in Reden, sondern auch in Taten, in seiner Lebensführung, nicht bloß die gesellschaftliche Sittlichkeit, sondern sogar die Legalität verletzt. Er war das, was die Zeit einen ‚Sodomiten‘ nannte, und irgendwann hörte er auf, ein Hehl daraus zu machen.“ (Seibt (2003), S. 14) – Thomas Mann blickt 1947 in Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung auf „die Zeit um die Jahrhundertwende, die Zeit des ersten Anrennens der europäischen Intelligenz gegen die verheuchelte Moral des viktorianischen, des bürgerlichen Zeitalters“ zurück und stellt „die nahe Verwandtschaft mancher Aperçus von Nietzsche mit den keineswegs nur eitlen Attacken auf die Moral“ heraus, „mit denen ungefähr gleichzeitig Oscar Wilde, der englische Ästhet, sein Publikum schockierte und zum Lachen brachte“ (Mann (1947), S. 72). „Es ist merkwürdig genug, obgleich wohl verständlich, daß die erste Form, in der der europäische Geist gegen die Gesamtmoral des bürgerlichen Zeitalters rebellierte, der Ästhetizismus war. Nicht umsonst habe ich Nietzsche und Wilde zusammen genannt – als Revoltierende, und zwar im Namen der Schönheit Revoltierende gehören sie zusammen“ (S. 87). 137 1859–1935. 138 Vgl. Thalheimer [Hg.] (1963). 139 Vgl. Habermas (1986), bes. S. 28 f., 31 f. 140 1861–1925. 135

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und insbesondere mit Bruno Wille und John Henry Mackay in Kontakt stand,141 als deutscher Dreyfusard antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt. Seinen Einsatz für Dreyfus und Zola in dem von ihm von 1897 bis 1900 redigierten und herausgegebenen Magazin für Literatur quittierte ihm ein entrüsteter Leser mit der Kündigung des Abonnements: „Hierdurch bestelle ich das ‚Magazin für Literatur‘ ein für allemal ab, da ich ein Organ, das für den sein Vaterland verratenden Judensöldling Emile Zola eintritt, nicht in meiner Bibliothek dulden mag.“142 Diese antimodernistische Verknüpfung von Intellektuellenfeindschaft und Antisemitismus läßt sich exemplarisch in einer gegen Heinrich Hart und die von Leo Berg herausgegebene Zeitschrift Die Moderne gerichteten Polemik beobachten. Im vorliegenden Zusammenhang ist sie zum einen wegen ihres Bezuges auf den Friedrichshagener Hart aufschlußreich, der von dem Publizisten Erwin Bauer hier als „Bannerträger“ der Moderne attakkiert wird,143 zum anderen, weil sich in ihr antisemitische Stereotypen und Diffamierungen mit explizit antiindividualistischen Motiven verbinden, die zusammen zu einem völkisch-nationalistischen Angriff auf die universalistischen ‚Ideen von 1789‘ formiert werden: Die „ ‚Modernen‘ oder richtiger Nihilisten in der deutschen Reichshauptstadt“ sind Bauer zufolge mit der von ihnen propagierten Verbindung aus „demokratisch-materialistische[r] Weltanschauung“, „Naturalismus“ und „Sozialismus“ die „konsequentesten Vertreter der Ideen der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, und damit also „die Vertreter der tiefsten Entwicklungsstufe auf der abschüssigen Bahn, auf welcher die Ideen der Französischen Revolution die abendländische Kulturwelt geführt haben. Wehe der Gesellschaft, dem Volke, die diesen hirnverbrannten Vertretern einer mit Riesenschritten dem Untergange und der Verwesung zueilenden Zeit folgen!“144 Der von ‚Modernen‘ wie Hart und Berg eingenommene „Standpunkt bedeutet den höchsten Triumph der demokratischmaterialistischen kosmopolitischen Menschheitsidee und seines vornehm141 Vgl. Lindenberg (1988), S. 17 ff.; Kannenberg-Rentschler (1988); vgl. auch Lindenberg (1992), S. 59 f. – Mit Mackay verband Steiner zu dieser Zeit bereits eine enge Freundschaft. Am 20. März 1898 schreibt er ihm „in freundschaftlicher Ergebenheit“: „Wann kommen Sie wieder nach Berlin? Ich fühle gar oft das Bedürfnis, mich mit diesem oder jenem Worte an Sie zu wenden.“ (Steiner (1898a), S. 214) Neben journalistischen Aktivitäten war Steiner zu dieser Zeit in Berlin u. a. von 1898 bis 1905 als Dozent an der sozialdemokratischen Arbeiterbildungsschule tätig und stand über seinen Freund Ludwig Jacobowski in Verbindung mit dem ‚Verein zur Abwehr des Antisemitismus‘ (vgl. Lindenberg (1988), S. 12 ff.). 142 Zit. n. Steiner (1918), S. 20; vgl. Lindenberg (1988), S. 11. 143 Bauer (1891), S. 208. 144 Bauer (1891), S. 208 f.

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sten Trägers, des internationalen Semitentums.“145 In ihm manifestiert sich das „Gift der Aufklärungsepoche“, das „Verderbliche des ‚Gehen und Gehenlassens‘, der Theorie vom Individualismus und schrankenlosen Egoismus“,146 das „jeden guten Deutschen mit Schrecken erfüllen und zum energischsten Widerstande“ aufrütteln sollte.147 Daher geht es beim Kampf gegen ‚die Modernen‘ und den von ihnen vertretenen ‚Individualismus‘, ‚Kosmopolitismus‘ und ‚Sozialismus‘ um nicht weniger als um die Gestalt des kommenden, Zwanzigsten Jahrhunderts, nach dem Bauer die von ihm herausgegebene Zeitschrift benannt hatte,148 um den zukünftigen „Sieg der Deutschnationalen und sozialen Idee über die Überbleibsel des neunzehnten Jahrhunderts“.149 Denn letzterem gehören die ‚Modernen‘ an, als die „letzten Mohikaner aus den Tagen des brutalen Individualismus der Französischen Revolution“. Entgegen ihrem avantgardistischen Selbstverständnis sind sie nicht „die echten Apostel der kommenden Zeit“. Unter ihrer „Maske“ kann man „die hohlen Wangen und fahlen Augen des dem Zeitengrabe zuwankenden demokratisch-materialistischen Kosmopolitismus grinsen“ sehen.150 „Deshalb ist es die Pflicht aller, die an die Zukunft der deutschen Nation im Gegensatz zum demokratischen Allerweltsdusel und kosmopolitischen Mischmasch glauben, unsere Literatur und unsere Kunst reinzuhalten von der Verderbnis, die ein vaterlandsloser internationaler und radikaler Geist in sie hineinzutragen bemüht ist. Das, was unserem deutschen Leben heute, nach der politischen Einigung der Mehrheit der deutschen Stämme, nottut, ist die nationale Wiedergeburt unserer ursprünglich deutschen Eigenart und die Gesundung unseres durchseuchten und kranken Gesellschafts- und Volkskörpers“.151 Das antisemitische Feindbild der Jahrhundertwende bringt, in freier Kombination, den ‚wurzellosen und kosmopolitischen Juden‘ mit dem ‚westlichmodernistischen Intellektuellen‘ und dem ‚asozialen und dekadenten Individualisten‘ als stereotypisierten ‚Schädling am Volkskörper‘ zur Konvergenz, 145

Bauer (1891), S. 208. Bauer (1891), S. 210. 147 Bauer (1891), S. 209. – „Die Mischpoke – ich meine das berüchtigte sog. Milieu Berlins – hat eben in den ‚Modernen‘ Fleisch von ihrem Fleische und Blut von ihrem Blute verspürt, und der Geschäftssemitismus, der die Mischpoke regiert und die öffentliche Meinung durch die ihm untergebene Presse beherrscht, hat ihrem Treiben schmunzelnd zugeschaut: besorgen sie doch im Grunde trotz aller humanen sozialpolitischen Phrasen nur ihm die Geschäfte!“ (Bauer (1891), S. 211). 148 Deren Erscheinen allerdings schon 1896 eingestellt wurde; Bauer selbst starb 1901 vierundvierzigjährig (vgl. Schutte/Sprengel [Hg.] (1997), S. 677). 149 Bauer (1891), S. 210. 150 Bauer (1891), S. 210. 151 Bauer (1891), S. 209 f. 146

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der die natürliche Ordnung zersetzt, nicht zuletzt diejenige der Geschlechter. Denn einerseits gilt ‚der Jude‘ als ‚effeminiert‘ – wie etwa Otto Weininger 1903 in Geschlecht und Charakter darlegt –, andererseits werden die Infragestellungen der Geschlechterstereotypen beispielsweise durch Homosexualität und Frauenbewegung als Folgen und Ausdruck des Individualismus betrachtet.152 Wer sich mit derartigen Identitätszuschreibungen konfrontiert und dadurch regelmäßig um gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten, individuelle Lebenschancen und soziale Wertschätzung gebracht sah, konnte in den individualistischen Philosophen Stirner und Nietzsche Bundesgenossen erkennen. Mit deren Hilfe ließen sich die kollektivistischen Vereinnahmungsund Ausgrenzungsideologien delegitimieren und der ethische Wert der Individualität jenseits der normierenden bürgerlichen Moralvorstellungen und die Überlegenheit des Individualismus gegenüber letzteren begründen. Und man konnte sie schließlich auch konkret gegen antisemitische Diffamierungen ins Feld führen. Nach Einschätzung Aschheims wurde so seit den bereits erwähnten Pionierleistungen Georg Brandes‘ und Georg Simmels „das Werk Nietzsches zu einem Aktivposten des Judentums“.153 Brandes war außerdem, wie ebenfalls dargelegt, einer der Geburtshelfer der Stirner-Renaissance, während Simmel, der klassische Soziologe des Individualismus, zwar den Individualismus Nietzsches streng von demjenigen Stirners unterschieden wissen wollte und ersterem den Vorzug gab, aber nichtsdestotrotz die registrative Bedeutung erkannte, die letzterer für die Struktur des modernen Individuums aus soziologischer Perspektive hat.154 Die als Herausgeber der 152 Vgl. Mosse (1987), z. B. S. 27, 47 ff., 111 ff., 134 ff., 184 f.; Mosse (1990), S. 130 ff. 153 Aschheim (1996), S. 96, vgl. S. 94 ff. 154 Siehe hierzu ausführlich unten, VI. 4. b) aa). – Georg Simmel (1858–1918), „der Philosoph der Individualität“ (Landmann (1976), S. 7 – H. i. O.), sah sich zeitlebens und insbesondere in seiner akademischen Karriere antisemitischer Diskriminierung ausgesetzt. Obwohl protestantisch getauft, wird „Simmel von seiner Außenwelt als ‚Jude‘ wahrgenommen, was höchst ambivalente Folgen hat. Einerseits wird er mit höchstem Lob bedacht und als besonders origineller und scharfsinniger Denker bezeichnet. [. . .] Andererseits wird er mit vernichtender Kritik bedacht und sein Denkstil als angeblich ‚zersetzend‘, ‚negierend‘, ‚relativistisch‘ verunglimpft.“ (Nedelmann (2002), S. 128) – ‚Zersetzend‘, ‚negierend‘ und ‚relativistisch‘ verbindet wiederum die antisemitische mit der antiindividualistischen und intellektuellenfeindlichen Stereotypie und drückt ein tiefes Unbehagen an der Moderne insgesamt aus. – Nach Nedelmann „überschätzt“ Simmel zwar den „negativen Einfluß“ des Antisemitismus „auf seine akademische Karriere“ – was nichts daran ändert, daß die Diskriminierungserfahrung ein zentrales Moment seiner (subjektiven) Lebenswirklichkeit und ihrer wissenschaftlichen Reflexion war –, aber „Antisemitismus ist [. . .] sehr wohl im Spiel, als die Berufung Simmels auf das Ordinariat für Philosophie in Heidelberg im Jahre 1908 scheitert. Das erwähnte Gutachten Schäfers“ von 1908

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stirnerianischen Zeitschrift ‚Der Einzige‘ führenden Persönlichkeiten des bereits erwähnten Weimarer ‚Individualistenbundes‘ der frühen zwanziger Jahre, der unter dem Künstlernamen Mynona publizierende Salomo Friedlaender und der eingangs zitierte Anselm Ruest, dessen Pseudonym anagrammatisch für Ernst Samuel stand,155 sind Beispiele dafür, daß auch Stirner als ‚Aktivposten des Judentums‘ fungieren konnte. So betont beispielsweise Ruest Stirners Sympathie für die vorchristliche Antike inklusive des Judentums, die er analog zu derjenigen Nietzsches versteht, was Aschheim als wichtiges Moment jener ‚Aktivposten‘-Funktion herausstellt. Ruest zitiert Stirners Wertschätzung des ‚erdverbundenen‘ „antike[n] Scharfsinn[s] und Tiefsinn[s]“, und seine Charakterisierung „der Alten“ als „[s]tark und männlich“, und fügt hinzu, daß Stirner mit „den Alten [. . .] die Juden auf eine Stufe [stellt], er findet ihre Instinkte ähnlich, die Instinkte für Volksabsonderung und Lebenserhaltung um jeden Preis. Aber auch für Nietzsche sind die Juden ein ‚Volk der zähesten Lebenskraft, welches aus der tiefsten Klugheit der Selbsterhaltung die Partei aller Decadence-Instinkte nimmt – nicht als von ihnen beherrscht, sondern weil es in ihnen eine Macht errät, mit der man sich gegen ‚die Welt‘ durchsetzen kann‘; dieses ‚Sichdurchsetzen‘ ist nach Stirner aber recht eigentlich ein Charakterzug der Antike.“156 Ebenfalls jüdischer Herkunft war Kurt Hiller,157 Vertreter eines „nietzscheanischen Expressionismus“158 und seit 1908 Mitglied, später einer der führenden Aktivisten des von Magnus Hirschfeld159 1897 gegründeten ‚Wissenschaftlich-humanitären Komitees‘ (WhK), das sich der sexualwissenschaftlichen Aufklärung und dem politischen Kampf für die Rechte der Homosexuellen verschrieben hatte, insbesondere für die Abschaffung des ‚Sodomie‘-Paragraphen 175 StGB.160 Der § 143 des preußischen Gesetzbuches von 1851 war 1871 als § 175 der Reichsgesetzgebung übernommen (S. 129) – demzufolge Simmel „Israelit durch und durch [ist], in seiner äußeren Erscheinung, in seinem Auftreten und seiner Geistesart“ (zit. n. Nedelmann (2002), S. 128) – „dokumentiert die negativen und positiven Vorurteile gegenüber Simmel, die gerade in ihrer Kombination miteinander ihre vernichtende Wirkung nicht verfehlen und Simmel noch über seinen Tod hinaus verfolgen. 1933 verbrennen die Nationalsozialisten Simmels Bücher, sein Nachlaß wird von der Gestapo beschlagnahmt und gilt bis heute als verschollen. Sein Sohn Hans wird nach Dachau deportiert und stirbt in den USA an den Folgen seiner Gefangenschaft im Konzentrationslager.“ (Nedelmann (2002), S. 129). 155 Vgl. Helms (1966), S. 533; Kreuzer (2000), S. 359. 156 Ruest (1906), S. 316 f. – H. i. O. 157 Und wie der oben erwähnte Friedlaender (1871–1946) ging auch Hiller (1885–1972) nach der nationalsozialistischen Machtübernahme ins Exil. 158 Aschheim (1996), S. 185, vgl. S. 70 f. 159 1868–1935. 160 Vgl. Stümke (1989), S. 58 ff.

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worden und bestand – bis zu seiner Verschärfung in Hirschfelds Todesjahr 1935 – in folgendem Wortlaut: „Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Tieren begangen wird, ist mit Gefängnis zu bestrafen; auch kann der Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.“161 Zu den zeitweiligen Kampfgefährten Hirschfelds zählte auch Adolf Brand162. Brand war bekennender Homosexueller, Führer der 1903 gegründeten homophilen ‚Gemeinschaft der Eigenen‘ und gab bereits seit 1896 die – zeitgenössisch nicht unbekannte163 – zumindest in ihren ersten Jahrgängen nicht nur im Titel, sondern auch in ihren Beiträgen stirnerianisch auftretende HomosexuellenZeitschrift Der Eigene heraus.164 Mit dem Untertitel Ein Blatt für männliche Kultur erschien Der Eigene, zeitweilig mit einer monatlichen Auflage von 150 000 Exemplaren, noch bis zum Ende der Weimarer Republik, an deren Untergang das Blatt durch seine publizistische Unterstützung der nationalistischen Rechten in der Verurteilung der Permissivität und Toleranz der Weimarer Kultur teilhatte; völkische und antisemitische Tendenzen, nietzscheanisch verbrämt, propagierte Der Eigene schon „[l]ange vor 1926, als die Zeitschrift eine Beilage unter dem Titel Rasse und Schönheit veröffentlichte“.165 Im Zusammenhang von Stirner-Rezeption und Homosexualität besonders hervorzuheben – und zugleich von der völkischen Programmatik Brands bzw. des Eigenen abzugrenzen –, ist John Henry Mackay, dessen außerordentliche Verdienste um die Popularisierung Stirners in den 1890er Jahren 161

Zit. n. Stümke (1989), S. 21. 1874–1945. 163 Vgl. Hartmann (1897), S. 70; Joël (1898), S. 236, 262. 164 Vgl. Stümke (1989), S. 56 ff., 77; Helms (1966), S. 533. 165 Mosse (1987), S. 56, vgl. S. 57, 134; Stümke (1989), S. 57; Helms (1966), S. 533. – Der Versuch, männliche Homosexualität völkisch aufzuwerten, so daß der von der bürgerlichen Moral Stigmatisierte zum wahrhaft männlichen und kulturell wertvollen anti-bürgerlichen Übermenschen umgewertet wird, ist eine durchaus zeittypische Strategie, um die gesellschaftliche Akzeptanz männlicher Homosexualität zu erreichen, wie etwa das Beispiel des von Armin Mohler den ‚bündischen‘ Vertretern der ‚Konservativen Revolution‘ zugerechneten Hans Blüher und des von ihm ausgelösten Streits um die Homoerotik im ‚Wandervogel‘ zeigt. Blüher spricht sich 1912 in Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen unter Berufung u. a. auf Hirschfeld und Freud für den „kulturtragende[n]“ Wert der „geschlechtliche[n] Inversion“ aus, insbesondere für die ‚völkisch bedeutende‘ Wandervogelbewegung, und warnt im Falle der „zwangsweise[n] Verdrängung“ der ‚Inversion‘ vor den Folgen für die „psychische[] Gesundheit des Volkes“ (Blüher, zit. n. Hepp (1992), S. 194, vgl. S. 189 ff.). Typische zeitgenössische Abwehrreaktionen aus Protestbriefen anderer (z. T. ehemaliger) ‚Wandervögel‘ (vgl. Hepp (1992), S. 195 ff.): „Blühers Buch hat keine deutsche Seele“ (S. 195). „Uns ist das Blühersche Buch ein krankes Buch.“ (S. 202) „Ist der Blüher ein Jude?“ (S. 198). 162

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von wenigen bestritten wurden.166 Mackays jahrelange biographische Forschungsarbeiten, die ihn zu Recherchezwecken durch halb Europa trieben und deren Ergebnis er 1898 mit seiner Monographie über Max Stirner. Sein Leben und sein Werk vorlegte,167 wußte man ebenso zu würdigen wie seine sonstigen Bemühungen um das Andenken Stirners: sein Engagement für die Anbringung von Gedenktafeln an Stirners Bayreuther Geburts- wie an seinem Berliner Sterbehaus und für die Aufstellung einer Grabplatte auf Stirners Grab auf dem Sophienkirchhof,168 insbesondere auch seine Herausgeberschaft von Max Stirner’s Kleinere Schriften und seine Entgegnungen auf die Kritik seines Werkes ‚Der Einzige und sein Eigenthum‘ (1898) und von anderen Texten Stirners.169 aa) Karl Joël Im Unterschied dazu wurde Mackays Anspruch, als Stirner-Wiederentdecker zugleich der legitime Interpret des wahren Stirnerschen IndividualAnarchismus zu sein, bereits zeitgenössisch von den meisten anderen Interpreten in Frage gestellt.170 Zu Beginn einer Besprechung von Mackays Stirner-Biographie und der von diesem herausgegebenen Kleineren Schriften Stirners stellt Karl Joël in hierfür typischer Weise über Mackay als „ersten und treuesten Evangelisten“ und „Apostel“ Stirners fest:171 „Im Anfang steht das grosse Missverständnis! Der Gläubige sucht seinen Helden“ (S. 228). Zwar bleibt es „des strebsamen und pietätvollen Biographen ungeschmälertes Verdienst und eine Leistung, die ihm die Geschichte danken wird, dass er über dies dunkle Leben alle Klarheit gebracht, die möglich ist, die Klarheit vor allem, wie dunkel es bleibt.“ (S. 229 f.) Aber die wirkliche, und das heißt für den Rezensenten vor allem: philosophiegeschichtliche Bedeutung von Stirners Werk bleibt Mackay in der „Fülle seiner Unwissenheit“ verschlossen (S. 238). Joël zufolge ist Stirners Werk historischer Ausdruck der „tiefe[n] Selbstmordsehnsucht“ der „überarbeitete[n] deutsche[n] Philosophie“ im Vormärz (S. 240). „Tod den Idealen! ruft Stirner, denn es sind fixe Ideen! Tod den 166

Vgl. Schwedhelm (1980), S. 7 f., 11; Kannenberg-Rentschler (1988), S. 151. Vgl. Schwedhelm (1980), S. 10 f., 13 ff. 168 Vgl. Mackay (1898), S. 7 ff., 23. 169 Vgl. Helms (1966), S. 527 ff. 170 Mit der bemerkenswerten Ausnahme Rudolf Steiners, in dem Mackay einen Fürsprecher und Freund fand (vgl. Schwedhelm (1980), S. 17 f.; KannenbergRentschler (1988), S. 147 ff.). 171 Joël (1898), S. 229. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich in diesem Unterabschnitt ebenfalls auf Joëls Rezension. 167

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Ideen, denn es sind Begriffe, Abstraktionen! Tod den Begriffen, denn sie sind Phantome des Denkens! [. . .] Der Hass gegen das Denken hatte Sinn in den Tagen, da Hegel eine Weltmacht war, da ein jahrzehntelanger Ideenkultus, eine überreizte Denkkultur, wie ein Alb auf dem deutschen Zeitgeist lag. [. . .] In Stirner vollzieht sich der Selbstmord der krankgewordenen deutschen Philosophie. Was aber heisst es heute, Selbstmord von dem zu fordern, der gar nicht lebt?“ (S. 240 f.) Stirner ist daher, recht verstanden, sowohl aus historischen als auch aus systematischen Gründen, nicht anschlußfähig (vgl. S. 261 f.). Stirner, der „grosse[] Ironiker“ (S. 257), verweigerte sich jeglicher philosophischen „Begriffsentwicklung“ und jedem „Prinzip, aus dem ein philosophisches System erbaut werden kann“, denn sein „Buch hatte nur eine Idee, und diese Idee war die Ideenlosigkeit“ (S. 261) – was ihn zugleich zum „Henker“ und zum „Märtyrer der Idee“ macht (S. 262) –, die nur historisch verstehbar ist als Konsequenz aus jener „Subjektsphilosophie“ des deutschen Idealismus (S. 240). Stirner, der „im Abschlachten aller Ideologie [. . .] der schlimmste Ideologe“ ist, dessen „Subjektivismus [. . .], der alle Ideologie zu verschlingen behauptet, [. . .] in Wahrheit der Gipfel der Ideologie“ und „absolute[r] Grössenwahn“ ist (S. 241 f.), war nichts als der Agent jener todessehnsüchtigen Idee des Idealismus.172 „Als die Idee sterben wollte, fuhr sie in die leere Seele dieses Mannes. Bevor die Idee in ihm sprach, blieb er stumm, und er blieb stumm, nachdem sie gesprochen. Aber solange die Idee aus ihm sprach, war er einer der tiefsten deutschen Denker und einer der glänzendsten Schriftsteller. [. . .] Blitze leuchten im Sturm der Gedanken, und der Donner der Worte rollt. Und bald wird es hell und ein Heer von lachenden Dämonen und ein Wald von schillernden Blumen steigt auf – aus dieser Idee. Und dann ist alles versunken wie Klingsors Garten, und die leere Einöde wird offenbar. Denn diese Idee ist das Nein, das alles Leben tötet. Der ‚Einzige‘ ist unfruchtbar und will es sein.“ (S. 261) 172 Aus Joëls Sicht stellt sich daher die Tatsache, daß das Leben des „grossen Ironikers“ Stirner (Joël (1898), S. 257) weitestgehend ‚dunkel‘ bleibt, selbst als eine Ironie dar, aber eine Ironie der Ideen, nicht Stirners (vgl. S. 260 ff., vgl. auch S. 235). Denn mag auch die „Subjektsphilosophie“ des deutschen Idealismus in Stirner Selbstmord begangen haben – die Ideen als solche, weiß der sich als „Zunftphilosoph“ apostrophierende Joël (S. 228), „sterben nur wie die Musen: sie verlassen nur die Menschen und Zeiten, die ihrer nicht mehr wert sind, um in andern verjüngt aufzuerstehen. Sie spotten ihres Spötters, ihres Vernichters. Du glaubst, auf dem Grabe der Idee zu sitzen? Hinter dir lacht die Idee.“ (S. 262) Stirner hat – darin eine der philosophiegeschichtlichen Situation seiner Zeit implizite Option aktualisierend – das ‚Ende aller philosophischen Begriffsentwicklung‘ konsequent propagiert und sich so, im Kampf gegen die Idee, vollständig der Idee der Ideenlosigkeit verschrieben (vgl. S. 261): Der „Henker der Idee war der Märtyrer der Idee. Und mit tragischem Lachen schreibt’s ihm auf den Leichenstein, was er am herrlichsten bewiesen: dass doch das Grösste auf Erden die Macht der Ideen.“ (S. 262).

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Aber von all dem weiß der „Stirnergläubige“ (S. 228), auf die Aktualität und Singularität des von ihm ‚angebeteten‘ „Helden“ bedachte Mackay nichts (S. 228, vgl. S. 237): „ihm sind die Lehren des Propheten vom Himmel gekommen.“ (S. 230 f.) „Das ganze, grosse deutsche Gebirge der Philosophie, dessen letzter Ausläufer Stirner ist, bleibt ihm im Nebel: er sieht nur Stirner. Und von Stirner wenig mehr als den Steckbrief und den Heiligenschein. Das Buch, das sich ‚Stirner, Sein Leben und sein Werk‘ nennt, sagt von dem Leben, aus dem das Werk hervorging, von der Entwicklung des Denkers, der doch Stirner auch ein klein wenig war, nichts. Ohne Beachtung bleibt seine Hegelsche Schulung.“173 Insbesondere den für das Verständnis des Stirnerschen Werkes unabdingbaren junghegelianischen Kontext findet Joël bei Mackay vernachlässigt. Die Bedeutung Feuerbachs für Stirners Denken „ahnt Mackay nicht“ (S. 238). Und in Mackays „Kapitel ‚Die Freien bei Hippel‘“ über die junghegelianische Berliner „Bohême“ um Bruno Bauer, das „entschieden der Höhepunkt des Buches“ ist, „fehlt Stirner“.174 Aber, so hält der Rezensent dagegen, diese historische „Bohême [. . .] hatte ihre Bedeutung als Masse, als nervöse Brücke zwischen den Köpfen und den Fäusten der Revolution, und ich glaube, sie bedeutete auch mehr für Stirner, als sein Apostel weiss und will. Er liebt die ‚Freien‘, aber er will den ‚Einzigen‘ einzig sehen in Himmelshöhen.“ (S. 233) Joël stellt Mackays Behauptung, „dass mehr die Geselligkeit als die geistige Gemeinschaft Stirner zu ihnen hinzog“ in Frage,175 indem er ihn gerade in geistiger Hinsicht als typisches und konsequentestes Produkt der ‚Freien‘ darstellt. Und indem er die Berliner Junghegelianer um Bruno Bauer als ‚Boheme‘ tituliert, legt er zugleich eine Erklärung dafür nahe, wieso und in welchen Kreisen Stirner gegenwärtig – ob mißverstanden oder nicht – „neben Nietzsche zweifellos der Philosoph der Zeit“ werden konnte (S. 236). Gegen Mackays Vernachlässigung der Bedeutung, die der intellektuelle Zusammenhang der ‚Freien‘ für Stirner haben mußte, fragt Joël: „Aber ist nicht Stirner im Innersten der Philosoph der Bohême? Ist nicht der Urfreie aus den Freien hervorgewachsen? [. . .] Der Geist jenes Kreises, der auch der Geist Stirners war, war der Hegelianismus, aber der vom Katheder auf die Gasse gefallene, in stechende Scherben zerbrochene, der kritisch zersetzte Hegelianismus. In der saueren Luft der nüchternsten, weil naturärmsten Grossstadt schwoll die Kritik zur Herrschermacht, das Berliner Raisonnement füllte die Bank der Spötter, und aus den Dekadents der Hegelschen Dialektik wuchs ein geistiges Messerheldentum. Als der grösste der Kritiker und der ärgste der Spötter stand endlich Stirner auf dem Plan, 173 174 175

Joël (1898), S. 238; vgl. auch S. 231, 239 ff. Joël (1898), S. 232 f.; vgl. Mackay (1898), S. 55 ff. Joël (1898), S. 233; vgl. Mackay (1898), S. 91.

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und nach der Abschlachtung des letzten Ideals warf er das Messer weg [. . .]. Nach fünfzig Jahren aber kam ein junger Dichter des Weges und fand das Messer und sah es an mit frommen Kinderaugen, und es glänzte rot in der neuen Sonne, – aber er wusste nicht, dass es der Rost war vom Blute des letzten Ideals, und betete es an als Fetisch. [. . .] Da liegt es, Stirners Buch, das überreife, blasierteste Produkt einer langen Entwicklung, ohne Hauch mehr von Naivetät, das letzte Sprengstück des abstürzenden Hegelianismus, der sich in Kritik und Hohnlachen begrub. Und daneben Mackay als Stirnerbiograph – ein Kinderherz an Naivetät, die warme, schöne Seele, die alles hat, nur keinen Tropfen Humor und Kritik – aber der Anbeter blickt aus dem Gegenüber und bewundert aus dem Mangel.“ (S. 233 f. – H. i. O.) Der Gegenstand seiner Anbetung erscheint dem Verehrer als die Erfüllung dessen, was er sich für sein eigenes Selbst ersehnt. „So ist die Stirnerreligion entstanden“ (S. 238): Mackay und andere „Eigene[]“ (S. 262) und selbsternannte „Herrenlose[]“ haben Stirner „als Herrn und Führer auf den Schild“ gehoben (S. 236) und so „aus dem Schlusswort der Kritik ein neues Dogma gemacht!“ (S. 238)176 bb) Stanislaw Przybyszewski Während Joëls Kritik an Mackays schwärmerischer Stirner-Verehrung und der damit verbundenen Naivität des Mackayschen Stirner-Verständnisses aus philologischer und philosophiegeschichtlicher Perspektive erfolgt, kritisiert Stanislaw Przybyszewski177 Mackays Naivität vom aktualistischen Standpunkt des aristokratischen Individualisten. Er wirft Mackay eine mangelhafte Einsicht in die Radikalität Stirners vor, indem er seinerseits Stirner zum Propheten eines extremen Individualismus stilisiert, als dessen Messias er Nietzsche feiert. Mit einer gewissen Gehässigkeit schreibt Przybyszewski in seinen Erinnerungen: „Man muß gerecht sein: John Henry Mackay hat einer Handvoll Menschen, die fähig sind, Stirner in seiner ganzen unermeß176 Hermann Schultheiss würdigt in seiner 1922 postum neuaufgelegten Dissertation von 1906, Stirner. Grundlagen zum Verständnis des Werkes ‚Der Einzige und sein Eigentum‘, Joëls Mackay-Rezension als „espritvolles gegnerisches Essay“ (Schultheiss (1906), S. 36) und befindet seinerseits über Mackays Stirner-Buch: „Es ist das Resultat einer unglaublichen Mühe und Arbeit, das opferfreudige Werk eines begeisterten Jüngers. All das gilt nur von dem Biographen und der Biographie: philosophisch ist das Buch belanglos.“ (S. 34) Und über seine unmittelbare Resonanz: „Das Mackaysche Buch hat in den Journalen merkwürdig verschiedene Würdigungen erfahren; Otto Stoeßl z. B., ein Mann von bedeutender Kraft und Kunst der Sprache, hat höchste Lobesworte für das Formale und den ganzen Geist des Buches gehabt; L. Berg und M. Kronenberg haben dagegen schon mit Recht auf Mackaysche Lächerlichkeiten hingewiesen.“ (S. 34 f.). 177 1868–1927.

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lichen Tiefe zu begreifen, einen ungeheuren Dienst erwiesen – soweit ich ihn kenne, völlig unbewußt, denn ich bezweifle, daß er auch nur einen Satz Stirners verstanden hat. Aber was tut’s: er hat dieses Meisterwerk ‚Der Einzige‘ für den Einzigen gerettet – für Friedrich Nietzsche.“178 Aber selbst diesem Zugeständnis, Mackay habe – wenn auch in völliger Ignoranz – den Einzigen Stirners für den ‚wahren‘ Einzigen Friedrich Nietzsche gerettet und für die wenigen anderen, die fähig seien, die Radikalität und Tiefe Stirners zu begreifen, wird sofort widersprochen. Denn laut Przybyszewski kannte Nietzsche Stirner sowieso schon, bevor Mackay seine Aktivitäten entfaltete:179 „Vor Mackay kannte vielleicht nur Nietzsche Stirner, so wie nur Ola Hansson Nietzsche kannte, ehe sich die abscheuliche Welle seiner späteren Verehrer über diesen ergießen sollte.“180 Und eben dieser Ola Hansson, nicht Mackay, war es ja in Przybyszewskis Sicht auch, der „die Deutschen mit Nietzsche und Stirner bekannt [machte], denn der arme Mackay wußte nicht, welche abgründigen Tiefen in dem von ihm herausgegebenen Werke gähnten“.181 Diese ‚abgründigen Tiefen‘ zu erkennen, fühlte sich der Boheme-Aristokrat Przybyszewski, der „Außenseiter unter den Außenseitern“,182 wie kaum ein anderer befähigt. Zeitgenössisch aufgrund seines „dämonische[n]“ Charismas als „König der Boheme“ tituliert,183 übertraf er „die anti-bürgerlichen Erwartungshorizonte der Boheme an Geselligkeit, Originalität und Exzentrik in Habitus, Denken und Rausch. Vor allem aber durchraste Przybyszewski förmlich Positionen und Stereotype von Décadence und Fin de siècle mit einem für deutsche Verhältnisse ungewohnten Tempo: Nietzscheanismus, Individualismus, Anti-Naturalismus und Anti-Materialismus, Androgynismus, Satanismus, Seelenkult und Geschlechterkampf gehen da unterschiedlichste Liaisonen ein.“184 Zentral ist bei ihm der „Zusammenhang zwischen Anarchismus und Satanismus“,185 den er literarisch und essayistisch in Werken wie Zur Psychologie des Individuums (1892), Totenmesse (1893), Die Synagoge des Satans (1897), Auf den Wegen der Seele 178

Przybyszewski (1926), S. 89. Was sich im übrigen, wollte man diese Kenntnis unterstellen, sowieso schon aus der Chronologie von Nietzsches Leben und Werk ergäbe: Mackay hat ja seine Anarchisten 1891, mithin erst zwei Jahre nach Nietzsches ‚Turiner Himmelfahrt‘ (vgl. Ross (1994), S. 726 ff.), veröffentlicht und nach eigener Auskunft auch für sich selbst Stirner erst kurz zuvor entdeckt. 180 Przybyszewski (1926), S. 89. 181 Przybyszewski (1926), S. 101. 182 Fähnders (1987), S. 152. 183 Bab (1904), S. 633. 184 Fähnders (1987), S. 154. 185 Fähnders (1987), S. 153, vgl. S. 159 f. 179

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(1897), Androgyne (1906), und insbesondere in dem Roman Satans Kinder (1897) artikulierte.186 Seine satanistische Mythologie ersinnt einen uranfänglichen Zustand des differenzlosen „Geschlecht[s]. Nichts außer ihm – alles in ihm“.187 In dem Moment, da sich ‚das Geschlecht‘ als Organe zur Befriedigung seiner Wollust „das Gehirn“ und „die Seele“ erschafft, tritt unwiderruflich die Differenz in diesen ur-einheitlichen Verschmelzungszustand ein.188 Fortan und bis in die Gegenwart bestimmt der Antagonismus von ‚Gehirn‘ und ‚Seele‘ die Welt.189 Die Unterscheidung ‚Gehirn vs. Seele‘ fungiert gegenwartsdiagnostisch und ethisch als Leitdifferenz in Przybyszewskis dualistischer Weltsicht. Das ‚Gehirn‘ ist demnach „bürgerlich“, ihm ordnet Przybyszewski den Rationalismus und Materialismus zu, den „seelenlosen Pöbel[]“, die „modernen Plebsmassen“ und ihren „Socialismus“, den „Collectivismus“ in der Gesellschaft und den „Naturalismus“ in der Kunst.190 „‚Gehirn‘ fungiert also in einer Doppelrolle: im mythischen Ablösungsprozeß vom Geschlecht und im Konflikt mit der Seele, aber auch als [. . .] historisierte Kategorie zur Kritik des bürgerlichen Zeitalters des ‚Materialismus‘“.191 Die ‚Seele‘ steht dagegen dem ursprünglichen ‚Geschlecht‘ näher – das „Geschlecht liebte die Seele“192 –, sie ist der „Zustand, in dem das ganze millionenfach zerrissene Leben zu einer Einheit wird“.193 Ihr wird die Individualität zugeordnet,194 sie ist das „Organ der visionären Ekstase“, des „Unendliche[n]“ und „Raumslose[n]“ und des „höchsten Erethismus“.195 Auf diese Seite der Unterscheidung gehören die von der bürgerlichen Normalität Stigmatisierten, die gesellschaftlichen Außenseiter, die als Individualisten, die über der 186 Diese und weitere bibliographische Angaben finden sich bei Fähnders (1987), S. 231 f., dem auch die folgenden Ausführungen zu Przybyszewski folgen. Vgl. aber auch die – teilweise etwas launig anmutende – Darstellung von Josef Dvorak (2000), S. 306 ff., die stark auf die sexualmystische und sexualmagische Dimension des Satanismus im allgemeinen und desjenigen Przybyszewskis im besonderen hin pointiert ist. Bei Fähnders (1987), S. 234, wie Dvorak (2000), S. 306 f., finden sich diesbezüglich Hinweise auf einen Zusammenhang des Przybyszewskischen Satanismus mit der „sexual-revolutionären Psychoanalyse“ des „drogenabhängige[n] anarchistische[n] Psychoanalytiker[s] Otto Groß (1877–1920)“ (Dvorak (2000), S. 306, 403, vgl. S. 403 ff.); vgl. auch Aschheim (1996), S. 24, 57 ff. 187 Przybyszewski (1893), S. 196; vgl. Fähnders (1987), S. 232. 188 Przybyszewski (1893), S. 196 f. 189 Vgl. Fähnders (1987), S. 154 ff. 190 Przybyszewski, zit. n. Fähnders (1987), S. 155. 191 Fähnders (1987), S. 155. 192 Przybyszewski (1893), S. 197. 193 Przybyszewski, zit. n. Fähnders (1987), S. 156. 194 „Das Geschlecht ist [. . .] das innerste Wesen der Individualität.“ (Przybyszewski (1893), S. 196). 195 Przybyszewski, zit. n. Fähnders (1987), S. 155.

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Masse der Menschen stehen, kraft der „Explosivkraft der Individualität [. . .] ‚Seele‘ in ihrer Potenz bloß[legen]“.196 Diese „Aktivisten der Seele“197 sind zugleich Verdammte und Übermenschen, Ausgestoßene und Auserwählte, die von dem „Gefühl des Über-denMenschenseins“ und der unstillbaren „Sehnsucht nach Befreiung und Erlösung“ bestimmt sind.198 Das vom ur-einigen ‚Geschlecht‘ bestimmte regressive Verschmelzungs- und Allmachtsverlangen ist unerfüllbar. Der Schmerz und die Verzweiflung darüber, daß die Seele des lebendigen Individuums nicht in den bewußtlosen ‚geschlechtlichen‘ „Urschlamm“,199 das „Ursein“200 vor jeder Differenzierung zurück kann, erzeugt in jenen Individualisten das Gefühl und Bewußtsein ihrer Verdammnis. Daher stammt ihre sensationalistische Sucht nach immer neuen Reizen und Genüssen, nach Rausch und Ekstase, nach Grenzüberschreitungen und Entgrenzungserfahrungen, in denen das Individuum sich dem auf ewig verlorenen, wollüstigen Urzustand des ‚Geschlechts‘ weitest möglich annähert, ohne aber jeweils Erlösung erwarten zu dürfen. Dieses, ebenso wie die aufgrund ihrer als ‚obszön‘, ‚unmoralisch‘, ‚degeneriert‘ und ‚verbrecherisch‘ verfemten ‚Gedanken und Taten‘ erfolgende Ausstoßung aus der Gesellschaft macht diese Individuen zu Verdammten. Und beides adelt sie zu Auserwählten.201 Przybyszewskis Individualismus – zugleich ein „dekadente[r] Aristokratismus“202 und symbolisch-aggressiver Nonkonformismus – verzichtet also demonstrativ auf apologetische Bemühungen. Stattdessen liefert er der Respektabilitäts-Moral Bestätigungen ihrer ‚normalistischen‘ Negativ-Stereotypisierungen des gefährlichen, asozialen Individualisten. „Die Frontstellung zum ‚Normalen‘ der bürgerlichen Gesellschaft ist damit klar: wie andere auch beschwört Przybyszewski die Parias, Dekadenten, die Zerstörer und ‚Verwüstenden‘ zur immoralistischen Internationale der Befreiung“.203 Aber er geht in seiner individualistischen Werte-Umwertung weiter als die mei196 Fähnders (1987), S. 156. – Przybyszewskis Gegensatz von ‚Gehirn‘ und ‚Seele‘ – samt den jeweiligen Zuordnungen – ist in vielerlei Hinsicht zu der oben behandelten Unterscheidungslogik Julius Harts – ‚Realismus vs. Romantik‘ – parallel gebildet, und Hart verortet ja auch Satanismus und Décadence auf der ‚romantischen‘ Seite; anders als Hart will aber Przybyszewski keine ‚Synthese‘, er bleibt Décadent und Satanist, und seine Unterscheidung von ‚Gehirn‘ und ‚Seele‘ ist dementsprechend ethisch asymmetrisch. 197 Fähnders (1987), S. 156. 198 Przybyszewski, zit. n. Fähnders (1987), S. 156. 199 Fähnders (1987), S. 154. 200 Przybyszewski (1893), S. 199. 201 Vgl. Fähnders (1987), S. 156 ff., bes. S. 162. 202 Fähnders (1987), S. 165. 203 Fähnders (1987), S. 156.

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sten seiner nonkonformistischen Zeitgenossen. „Er nobilitiert nicht nur den Künstler zum Muster-Paria der Gesellschaft, sondern forciert die lumpenproletarische Nostalgie von Teilen der Décadence zur Transzendenz des ‚Bösen‘ schlechthin“, wenn er die „ins Äußerste getriebene Zerschlagung jener Grenzen“ fordert, „die die Individualität der Seele fesseln“.204 Hierfür steht für Przybyszewski der „Typus des Verbrechers“, den er unter Berufung auf Nietzsche als „unter dem Zwange der bösen Instinkte“ stehend charakterisiert: unter dem Zwange „des Ehrgeizes, der Verzweiflung und des Zweifels, des Widerspruchs- und Zerstörungswillens, neuen Schmerz zu gebären, neue Verbrechen über die Erde zu säen“.205 Dessen Prototyp aber „ist Satan. Satan ist der erste Philosoph und der erste Anarchist“, und er ist „schön mit der aristokratischen Seelenschönheit eines Lucifer, der die Poesie und die Philosophie erfunden hat. Er ist schön mit der Schönheit der verbrecherischen Kühnheit und Selbstlosigkeit großer Verbrecher, und er ist grausam mit der fanatischen Grausamkeit des Anarchisten, der um der Idee willen seinen Bruder opfern würde“.206 Satan ist die mythische Leitfigur des aristokratisch-nonkonformistischen Individualismus Przybyszewskis. Die Identifikationslinie ‚Degenerierter‘, ‚Paria‘, ‚Décadent‘, ‚Verdammter‘, ‚Verbrecher‘, ‚Anarchist‘ usw., die auf den ‚aristokratisch-seelenschönen Satan‘ als „ewige[n] Prototyp“207 zuläuft und von ihm ausgeht, verdeutlicht zunächst die zeitspezifische, ästhetizistische und décadente, wesentlich von dem französischen Autor Joris-Karl Huysmans208 beeinflußte Prägung des Przybyszewskischen Satanismus.209 Darüber hinaus vereinigt dieser in exemplarischer Weise Merkmale in sich, die auch jenseits des Finde-siècle-Kontexts für die moderne satanistische Tradition typisch sind, soweit diese unter Berufung auf dunkle und ‚schwarz-romantische‘210 Autoren wie de Sade oder Nietzsche und auf Okkultisten wie Przybyszewskis Zeitgenossen Aleister Crowley211 einen Kult der entfesselten Individualität betreibt.212 In dieser mystifizierten Variante eines extremen Individualismus 204

Fähnders (1987), S. 157. Przybyszewski, zit. n. Fähnders (1987), S. 157. 206 Przybyszewski, zit. n. Fähnders (1987), S. 157. 207 Przybyszewski, zit. n. Fähnders (1987), S. 157. 208 1848–1907. 209 Vgl. Fähnders (1987), S. 159 f.; vgl. Momm (1991); Bahr (1892). 210 Vgl. Praz (1970). 211 1875–1947. – Genannt (auch von seiner Mutter) ‚The Great Beast‘. – Botschaft, angeblich 1903 während der Flitterwochen in Kairo von einem Engel namens Aiwass in Vorankündigung des kommenden Zeitalters des Horus (‚the Crowned and Conquering Child‘) durch den Mund seiner in Trance befindlichen Gattin empfangen: ‚Do what thou wilt shall be the whole of the law‘. – Legendäre letzte Worte: ‚I am perplexed‘ (vgl. Baddeley (1999), S. 25 f., 28). 212 Vgl. Baddeley (1999), bes. S. 20 ff., 70 ff.; Nola (1994), S. 281 f., 429 ff. 205

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wird, anders als in den psychopathischen bzw. pseudoreligiösen Varianten satanistischer Teufelsanbetung, ‚Satan‘ nicht als leibhaftig existierende Gegengottheit verehrt, sondern als Symbol für die vermeintlich elementaren Energien des Individuums gefeiert und rituell inszeniert.213 Für einen solchen Individualismus ist ‚Satan‘ wegen seiner mythischen Bedeutung als erster Empörer gegen die Autorität Gottes, als Gefallener Engel, der wegen dieser Insubordination aus dem Himmel verstoßen wurde,214 als Versucher und Lichtträger (‚Luzifer‘), als Feind des Christentums, als Verkörperung des Bösen und der Sünden, als Antichrist und prä-apokalyptischer „Widersacher, der sich erhebt über alles, was Gott oder Gottesdienst heißt, so daß er sich in den Tempel Gottes setzt und vorgibt, er sei Gott“,215 symbolisch in mehrfacher Hinsicht fungibel.216 213 Vgl. Nola (1994), S. 422 ff., 430 ff. – So legte beispielsweise Anton Szandor LaVey (1930–1997), Verfasser der Satanic Bible (1969) und ‚Hohepriester‘ der von ihm 1966 (in der Walpurgisnacht) in Kalifornien gegründeten ‚Church of Satan‘ (vgl. Baddeley (1999), S. 67 ff., 100 ff.) Wert darauf, „that he did not believe in Satan as literal entity – He was a name for the dark, brutal aspects of man and nature, as well as a symbol for the potency of man’s untrammeled will. The Church of Satan was not a religion, and did not worship deities. For many, however, this was not enough. They wanted a real Devil to worship – belonging to a dark, mysterious coven, in the traditional gothic style, seemed much more appealing than being part of some cultural and social elite.“ (Baddeley (1999), S. 101 f. – H. i. O.; vgl. auch LaVey (1969), S. 25, 44 f., 91 ff.) – Die letzte Bemerkung zeigt, daß sich bei der empirischen Beobachtung satanistischer Szenen und Subkulturen die Grenze zwischen bewußt mystifiziertem Individualismus und Teufels-Glauben bezüglich der beteiligten Individuen nicht immer trennscharf ziehen läßt, aber auch, daß jener mystifizierte Individualismus mit seinem elitaristischen Konzept für antisoziale Ideologien und Praktiken anschlußfähig ist, wie sich dies beispielsweise in ‚neosatanistischen‘ Varianten des Sozialdarwinismus und Rassismus konkretisiert (vgl. Baddeley (1999), S. 148 ff.; Farin (2002), S. 166 ff.). Man muß bekanntlich nicht an den Teufel glauben, um Böses zu tun. 214 Joël nennt in Anspielung darauf die Junghegelianer „Feuerbach und Strauss und alle die andern [. . .] vom Ideenhimmel Hegels gefallene Geister und Stirner [. . .] de[n] Satan – der Idee.“ (Joël (1898), S. 259) – Siehe auch unten, VII. 3. a) aa), die Passage zu Max Nettlaus antiautoritärer Deutung von Bakunins mythologischer Lieblingsfigur Satan. 215 2. Thess. 2, 4. 216 In der Synagoge Satans schreibt Przybyszewski über die „Sekte der Satansanbeter“: „Die Sataniker [. . .] wissen sehr gut, daß Satan der gefallene Engel ist, der große Widersacher und die ewige Schlange der Versuchung. Er ist das, was er für die mittelalterlichen Sataniker war, der große Fürst der Finsternis, mit dessen Hilfe man in Besitz der seltensten Fähigkeit gelangen und unter dessen Schutz man alle Verbrechen straflos begehen kann, umso mehr, als die Künste der schwarzen Magie im heutigen Gesetzbuch nicht vorgesehen sind.“ (Przybyszewski (1897), S. 189 f.) – Seinen eigenen „Satanskult“ bzw. Satanismus charakterisiert Przybyszewski rückblickend in seinen Erinnerungen, dabei dessen individualistisch-rebellischen und emanzipatorischen Zug und seine symbolische Verwendung der Satansfigur beto-

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Die Figur des Satan steht für die ästhetizistische Amoralität des aristokratischen Individuums ‚jenseits von Gut und Böse‘, wie sie etwa in Tailhades witzigem Diktum von der ‚Schönheit der Geste‘ des Attentäters Vaillant zum Ausdruck kommt.217 Sie steht aber auch für den Individualisten, der gegen die Autorität von Staat, Religion und Moral rebelliert und sich in seinem individuellen Souveränitäts- und Selbstverwirklichungsanspruch nicht durch sittliche und rechtliche Normen und andere ‚gesellschaftliche Zwänge‘ einschränken lassen will. Sie steht für das diabolische Umwerten der geltenden Werte – oder auch bloß ihr Umkehren durch normativen Vorzeichenwechsel –, für die Verachtung der normierenden, sinnenfeindlichen ‚Sklavenmoral‘ und die Befreiung und Idealisierung der von dieser verteufelten Sexualität auch in ihren ‚abnormen‘ Varianten. Durch diese Umwertung macht sich der satanistische Individualismus in aggressiv-konfrontativer Weise die schlimmsten Befürchtungen bezüglich der sittlich zersetzenden und antisozialen Effekte eines entfesselten Individualismus als Selbstbild zu eigen. Die Figur des Satan steht in diesem Sinne für triebhafte Zügellosigkeit und Perversion, das rücksichts- und sittenlose Ausleben der individuellen ‚Natur‘, für individuelle Selbstvergottung und Allmachtstreben. Und sie hat mit all dem und weiteren Assoziationen, etwa auf ‚schwarze Messen‘ und sonstige blasphemische Aktivitäten, einen erheblichen Sensations- und Provokationswert, die ihre nonkonformistische Attraktivität unter bestimmten kulturellen Bedingungen erklärt.218 Das Spektrum nend: „Den Geist der Auflehnung, den Prometheischen Geist, den Schirmherrn und das Wappen aller freien Geister, die sich nicht ins Joch all dessen spannen lassen, was der Gesellschaft nützt und die einzige rechtsgültige Norm darstellt, jenen Geist, der sich nicht von einem engen, rachitischen Dogmatismus an die Kette legen läßt, sondern nach immer größerer Vervollkommnung – natürlich auf Kosten der amtlichen Ethik – strebt und den Geist der Menschheit in den Sonnentag der Freiheit geleiten möchte, nennen die amtlichen Kirchen Satan, Luzifer, Baphomet [. . .]. Nun, und dieser Symbole bedienen sich die Künstler, wenn sie Dogmen stürzen oder wenn sie zumindest in die Räume, in die ungeheuer weiten Räume der menschlichen Seele vordringen, über die der Dogmatismus strengste Anathemen und Interdikte verhängt hat. [. . .] Mein Satanismus [. . .] [ist der] Glaube, daß nicht Gott, sondern allein der menschliche Geist Wunder vollbringen kann.“ (Przybyszewski (1987), S. 207 f.) „Mein Satanskult ist der tiefe, blutige, überaus wehe Schmerz des Seins, der die Unsterblichkeit erahnt und die Unsterblichkeit schafft und den Gott der ‚All-Einheit‘ verhöhnt [. . .] Mein Satanismus ist die tiefe Verzweiflung“ (S. 210). 217 Siehe oben, V. 2. c) und 4. b) gg). 218 Insbesondere in solchen Regionen der Moderne, die stark durch traditionellreligöse Lebens- und Vorstellungswelten geprägt sind; vor diesem Hintergrund ist es kein Zufall, daß diese Motivwelt im 19. Jahrhundert von Autoren aus katholischen Ländern (Baudelaire, Huysmans, Przybyszewski) gepflegt wurde und im 20. Jahrhundert die ‚Church of Satan‘, ihre Abspaltungen und ihre populärkulturellen Ausprägungen (man denke an Marilyn Manson) in den puritanischen USA entstanden sind. Ein begünstigender Faktor für die Resonanz gerade der satanistischen Variante

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des individualistischen Satanismus reicht mithin von emanzipatorisch-aufklärerischen Ambitionen über ästhetizistische Positionen bis hin zur Verherrlichung von Destruktivität und Grausamkeit. In dieser prinzipiellen Ambiguität und den damit gegebenen Oszillationsmöglichkeiten innerhalb des satanistischen Bedeutungsspektrums liegt, neben dem mythischen und okkultistischen Appeal, die Attraktivität dieser Semantik – nicht nur in künstlerischen Verwendungszusammenhängen, sondern auch als weltanschauliches Angebot mit relativ hohem Distinktionswert und rituellen und selbstinszenatorischen Anschlußmöglichkeiten. Bei Przybyszewski kulminieren im „Mythos vom Satan [. . .] alle Kräfte des Degenerierten, Verbrecherischen, die ‚auf dem Wege zur Seele‘ benötigt und wieder verschlungen werden.“219 Auf diesem vom ‚Geschlecht‘ diktierten Weg gibt es nur Rausch und Zerstörung, aber kein Glück und keine Erlösung: „Die ewig sich steigernden Forderungen des Geschlechts zu stillen, seine Rache zu befriedigen, die verborgenen Kräfte kennenzulernen, die geschlechtliches Glück geben können, ist der Grund, warum man sich dem Satan überläßt. Aber es ist kein Glück. Nun wohl! Aber im Gebiet der Nacht, in dem Abgrund und dem Schmerz, findet man Rausch und Delirium. Man stürzt sich in die Hölle, aber man empfängt das Delirium, in dessen Rasereien man vergessen – vergessen kann.“220 Und dies „ist der Kern des Satanismus bei Przybyszewski: einerseits proklamiert er eine unbedingte und besinnungslose Selbst-Entgrenzung, Umwertung, Zertrümmerung der Schranken des bürgerlichen Gehirns, aller Schranken von Moral, Gesellschaft und Autorität überhaupt zwecks Freisetzung von ‚Individualität‘ [. . .]. Anderseits bereitet gerade dies Aufsprengen des ‚logischen Gehirnlebens‘ sozusagen Höllenqualen“,221 weil die suchtartig im fortgesetzten Zerstören und Rauscherleben verstärkten Sehnsüchte unerfüllbar bleiben. Das in den extremen Akten induzierte ekstatische Erleben gebiert mit dem in ihm bloß verheißenen Glückszustand, dessen Nichterreichbarkeit schmerzhaft empfunden wird, den leid- und verhängnisvollen Zwang zur Wiederholung. „Dies ist der Erfahrungsbereich, der methodisch gesehen, in der Permanenz von Grenzüberschreitungen besteht und dessen Inhalte an menschliche Grenzsituationen führen, ohne daß in ihnen ‚Erlösung‘ möglich wäre. Es ist nur folgerichtig, wenn Przybyszewskis Dichtungen solche Grenzsituationen auslodes Individualismus könnte auch die Affinität zu üppigen Bilderwelten und prachtvollen Inszenierungen sein, die ja mutatis mutandis katholischer und kalifornischer Kultur gemeinsam ist, aber auch generell für günstige Erfolgsaussichten ‚Satans‘ als populärkulturelle Ikone spricht. – Den Deutschen hat bekanntlich Luther den Teufel gehörig ausgetrieben. 219 Fähnders (1987), S. 157. 220 Przybyszewski (1897), S. 193. 221 Fähnders (1987), S. 158.

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ten, so, wenn er seine literarischen Figuren zu Schwarzen Messen führt wie in Androgyne oder zum Inzest wie in De profundis, zum Mord wie in Der Schrei oder zu den Zerstörungsorgien dessen, was er in Satans Kinder als ‚Anarchismus‘ vorführt. Nicht als Lösungen, wie gesagt, sondern als letzte Möglichkeiten, jenseits von gesellschaftlichen Zwängen des ‚Gut und Böse‘ auszubrechen“.222 Delirium und Destruktion sind die Refugien der Verzweifelten, die in Ermangelung jeder Erlösungshoffnung immer weitere Grenzüberschreitungen praktizieren. Die Transgression ersetzt die verlorene Transzendenz.223 Im Sinne dieses transgressionistischen Individualismus zeichnet Przybyszewski Gordon, seinen Helden in Satans Kinder, als multiplen Brandstifter und Mörder, anarchistischen Verschwörer und von seinen Anhängern ver222

Fähnders (1987), S. 158 – H. i. O. Ein Zeitgenosse Przybyszewskis, der zu dieser Zeit in Wien ansässige Journalist Hermann Bahr (1863–1934) betrachtet den „neue[n] Satanismus“ als Ausprägung der „folie sensationniste“, „diese[r] vermessene[n], niemals befriedigte[n], immer nur desto höhnischer enttäuschte[n], darum täglich trotzigere[n] und gewaltsamere[n] Jagd nach erlösenden Genüssen, durch alle Reize, durch alle Würzen, durch alle Laster.“ (Bahr (1892), S. 179) Trifft und verbindet sich die „verhetzte Wut um neue, künstliche Genüsse“ mit der romantischen, „mystische[n] Neigung nach erdenfernen, reinen, heiligen Paradiesen“, so wird daraus „der neue Satanismus“, wie Bahr in seinem Satanismus betitelten, 1892 in der Berliner Freien Bühne erschienenen Essay erklärt (S. 179). Dieser ‚neue Satanismus‘ ist demnach „von jenen neugierigen und nüchternen Grüblern der Wollust erfunden, welche nachdenklich alle Grade der Ausschweifung messen, jeden einzelnen Reiz der Krämpfe und Verzükkungen aufmerksam notieren und mißtrauisch die Erfüllungen des Genusses mit den Erwartungen der Begierde vergleichen, geduldige und strenge Chemiker der Freuden. Sie versuchen alle Laster und prüfen sie kritisch an ihren Versprechungen und jedesmal stellt es sich wieder heraus, daß es wieder nur Wahn und Betrug ist. [. . .] Aber sie lassen nicht ab, weil in allen Enttäuschungen dennoch die Sehnsucht nimmermehr verstummen will, der unausrottbare Hunger des Menschen nach Glück“ (S. 180). Sind erst „alle natürlichen und künstlichen Genüsse erschöpft“, so „wittern“ diese Individuen in ihrer „unersättliche[n] Sehnsucht“ im Satanismus „neue, unempfundene Reize [. . .], ungekannte Sensationen, mit denen die Begierde sich noch einmal betrügen kann. Es beginnt das Experiment mit dem alten Satanismus, seine Prüfung auf den Genuß hin. Sie nehmen die Bücher und lernen sein Verfahren, wie es überliefert ist, die ganze Technik der schwarzen Messen. [. . .] Sie erkennen bald sein letztes Geheimnis, daß die Lust am Bösen nur in dem Bewußtsein des Bösen ist: jedes Laster hat ein Versprechen von Glück, das von keinem gehalten wird, und sein ganzer Reiz, wenn es der Verstand am Ende prüfend besinnt, wird immer nur aus dem Gefühle, daß es Laster ist. Es wühlen, unvertreiblich und unwiderstehlich, in allen Menschen giftige und wilde Dränge, gerade das Schändliche und Verderbliche zu tun, bloß weil es schändlich und verderblich ist, ohne irgend einen anderen Reiz als den des Ungehorsams wider das Gesetz. Nicht was irgend eine Sünde gewähren kann, sondern immer nur das Gefühl, daß es Sünde ist, ist ihre Würze. Die Huldigung an diesen tiefsten Trieb der Menschheit, an die Wollust im Bösen, ist der Satanismus.“ (S. 181 f.). 223

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ehrten Terroristen, der, zwischen Verzweiflung und Omnipotenzanmutung changierend, sein Zerstörungswerk nur um der Zerstörung willen betreibt und schließlich einen seiner Mitverschwörer tötet.224 Dieser morbide „Anarcho-Dandy“225 erscheint als eine Mischung aus Bakunin, Netschajew, Ravachol und Émile Henry, welch letzterem Przybyszewski für die grandiosselbstgerechte Motivation und das ‚weiche Ziel‘ des Anschlages auf das Café Terminus unter den „[h]istorische[n] Inkarnationen der ‚Kinder des Satan‘“226 besondere Wertschätzung zuteil werden ließ, während er den von seinem Kollegen Tailhade so geschätzten Auguste Vaillant als „dummen Prahlhans“227 abtat. Zu den historischen Virtuosen der satanistischen Transgression rechnet Przybyszewski auch Napoleon und Alexander den Großen – für ihre Bereitschaft, Tausende ihren Ideen zu opfern –, aber auch ‚Jugendverderber‘ wie Sokrates und Künstler wie Poe und Chopin, weil sie Schmerz und Abgrund liebten,228 und überhaupt die „schwarze[] Traditionslinie in den Künsten“, Nietzsche inklusive,229 während er sich gegenüber den exzessiven Praktiken realer satanistischer und anderer HäretikerSekten distanziert gibt.230 Trotz seiner primär literarischen und spezifisch ästhetizistischen Ausprägung ist Przybyszewskis satanistisch-anarchistischer Individualismus gleichwohl mehr als bloß der legitimatorische „Überbau für die ausschweifenden Kaputtheiten der Décadence oder, noch trivialer, für die grandiosen Besäufnisse im ‚Schwarzen Ferkel‘“, und mehr auch als die „zwanghafte Selbststilisierung“ Przybyszewskis.231 Mit seiner satanistischen Verbindung von Künstler- und Außenseiter-Nonkonformismus, Nietzscheanismus, anarchistischem Antiautoritarismus und individualistischem Aristokratismus232 hat Przybyszewski „in einer Art letzter Kraftanstrengung Dispositionen der Décadence aufgegipfelt: im Satanismus die religiös/anti-religiöse, historisch und systematisch entfaltete Vernichtungsstrategie gegenüber abendländischen Werten (da zieht er nur ‚schwärzere‘ Konsequenzen als Nietzsche in seiner Kritik christlicher Ideologie); im Anarchismus, der – dekadent genug – ins Leidensschema der immer wieder zu Zerstörung gedrängten und drängenden ‚nackten Seele‘ gepreßt wird und als ans Ende führende und sich 224

Vgl. Fähnders (1987), S. 161 ff. Fähnders (1987), S. 164. 226 Fähnders (1987), S. 161. 227 Przybyszewski, zit. n. Fähnders (1987), S. 160. 228 Vgl. Fähnders (1987), S. 161. 229 Vgl. Fähnders (1987), S. 156. 230 Vgl. Fähnders (1987), S. 158 f.; vgl. Przybyszewski (1897), z. B. S. 180 ff., 190 ff. 231 Fähnders (1987), S. 159. 232 Vgl. Fähnders (1987), S. 160. 225

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wieder reproduzierende ‚That‘ gedacht ist.“233 Der – terroristisch verstandene – Anarchismus ist gleichsam die aktivistische Seite des Satanismus. In dieser Konzeption eines satanistischen Anarchismus ist ein Bedeutungsumschlag des als selbstzweckhaftes Zerstörungswerk des Individualisten gefeierten Terrorismus angelegt. Ist der terroristische Akt in seiner literarischen Bearbeitung, wie in Satans Kinder, primär Material künstlerischer Gestaltung und als solcher gleichsam fiktional eingeklammert, so legen ästhetizistische Kommentare wie beispielsweise diejenigen Przybyszewskis und Tailhades zu den Pariser Attentätern den Schluß nahe, letztere seien selbst Künstler. Der Terrorist verwandelt sich aus dem Gegenstand des Künstlers in den Künstler, der reale Terrorakt wird zum Kunstwerk – und der Künstler zum Terroristen.234 Diesen Schluß zieht Erich Mühsam in einem 1907 in der Schweiz erschienenen Text mit dem Titel Terror: „Ganz künstlerisch ist immer die von aller Zeitlichkeit losgelöste Stimmung bei der Begehung terroristischer Taten. Die Mörder der Präsidenten Carnot und MacKinley, der Monarchen Alexander und Humbert, die Ravachol, Henry, Caserio, Bresci, Reinsdorf [. . .] stellten ihr Leben auf den Augenblick einer Handlung, sie alle fühlten ihr Schicksal erfüllt, ihr Leben erlebt, ihr Dasein begründet mit der Ausübung einer Bewegung. Jede ihrer Taten ist die Vollbringung eines künstlerischen Lebenswerks.“235 Für Mühsam sind sie Märtyrer der Kunst – und des Individualismus: „Émile Henry wußte wohl, was er tat, als er die Sprengmaschine ins Vestibül des Pariser Bourgeois-Cafés legte; er wußte, die Handlung, deren Psychologie der übergroßen Mehrheit seiner Zeitgenossen ganz fremd bleiben mußte, führte unrettbar zur Guillotine; er wußte auch, er wußte, auf seinem Todesgang würden ihm die Flüche Millionen im tiefsten Gefühl Verwundeter folgen – aber sein von sozialer Wut bestimmtes künstlerisches Wollen befahl, und er tat, was er tun mußte.“236 Der terroristische Anschlag wird so zum souveränen Willensakt des Künstlers, der sich aufgrund seiner individualistischen Überlegenheit in seinem destruktiven Gestaltungsdrang vor niemandem zu rechtfertigen hat. Diesen Zusammenhang von Kunst, Terrorismus und Individualismus sieht Mühsam bei Przybyszewski vollendet dargestellt. Es war, wie er hervor233

Fähnders (1987), S. 165. Derartige Stimmen kamen jüngst wieder auf, nach den Anschlägen vom 11. September 2001 (vgl. Speicher (2001), S. 11). – Mit Blick auf die massenmediale Inszenierung und Verarbeitung dieser Ereignisse wäre es lohnend, die hierbei produzierten Bilder unter ikonologischen Aspekten bezüglich ihrer kunstgeschichtlichen Referenzen zu analysieren. So erinnern beispielsweise einige der fotografischen Darstellungen der Ruine der New Yorker Twin Towers bildkompositorisch an Caspar David Friedrichs „Eismeer (Die verunglückte Hoffnung)“ von 1823/24. 235 Mühsam, zit. n. Fähnders (1987), S. 167. 236 Mühsam, zit. n. Fähnders (1987), S. 167. 234

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hebt, „ein Pole, der es zum ersten Mal unternahm, den Terror als künstlerische Äußerung eines Individualisten, eines asozialen Menschen, künstlerisch zu gestalten. Gordon, der Held in Przybyszewsky’s ‚Satanskinder‘ ist der Terrorist katexochen, der Terrorist um des Terrorismus halber, der Terrorist aus Freude am Schrecken.“237 Der von Mühsam so charakterisierte ‚Terrorist katexochen‘, der nur um des Schreckens willen Schrecken verbreitet, ist das Ergebnis eines literarischen Schöpfungsaktes, in dem der Satanist Przybyszewski in Gordon einen ‚Satan‘238 als Figur der Transgression kreiert und mit ebendieser Kreation eine symbolische Aggression vollzieht, die ihrerseits als Grenzüberschreitung auf die Erzeugung jenes Rausches zielt, dessen Herbeiführung dem Individualisten als die einzige Möglichkeit anmutet, seiner als Verdammnis empfundenen Entfremdung an der modernen Gesellschaft zu entfliehen, um in dieser Flucht in ein unstillbares Verlangen jene Verdammnis und die aus ihrem Bewußtsein erwachsende Verzweiflung noch stärker zu empfinden. Satan, der ewige Anarchist, ist das an der Gesellschaft leidende und sich gegen sie empörende, aus Verzweiflung gefährliche Individuum. „Satan leidet, er leidet immer.“239 Diese satanistisch-mythologisierte Fassung des Individualismus mit ihren terroristischanarchistischen Implikationen bildet die Folie der zitierten Trivialisierungsvorwürfe Przybyszewskis gegen Mackays Auffassung des Einzigen. cc) John Henry Mackay Was John Henry Mackay240 als individualistischen Anarchismus vertrat, war mit Przybyszewskis satanistischer Apotheose des Terroristen inkompatibel. Neben der „völlige[n] Unvereinbarkeit anarchistischer und kommunistischer Weltanschauung“ und der „Unmöglichkeit irgendeiner ‚Lösung der sozialen Frage‘ durch den Staat“ zählt zu Mackays anarchistischen Leit237 Mühsam, zit. n. Fähnders (1987), S. 168. – Ob ein solches ‚La terreur pour la terreur‘ tatsächlich als ‚Terrorismus im eigentlichen Sinne‘ gelten kann, ist allerdings bezweifelbar, wenn man unter Terrorismus nicht eine Weltanschauung, sondern eine Strategie versteht, in der der – gewöhnlich durch die öffentliche Wirkung von Gewalt erzeugte – Schrecken Mittel zum Zweck ist, wobei die (nicht notwendig politischen) Zwecke unterschiedliche sein können (Propaganda, Demoralisierung, herostratischer Ruhm, Rache usw.). Eine ästhetische Zwecksetzung, die den Schrekken zu selbstzweckhafter Kunst und ästhetischem Genuß umdefiniert, ist im Sinne dieses Definitionsvorschlages zumindest grenzwertig, jedenfalls nicht ‚eigentlich terroristisch‘. 238 Vgl. Fähnders (1987), S. 161. 239 Przybyszewski, zit. n. Fähnders (1987), S. 158. – Diese Betonung von Schmerz, Leid, Sehnsucht und Verzweiflung ist ein spezifisch romantischer Zug des Décadence-Satanismus, der etwa dem kalifornischen Satanismus eines LaVey abgeht. 240 1864–1933.

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ideen auch „die Zwecklosigkeit und Schädlichkeit gewaltsamer Taktik“.241 Sein Bild des Anarchismus propagierte er vor allem in fiktionaler Form242 in seinen ‚Büchern der Freiheit‘, Die Anarchisten (1891) und Der Freiheitssucher (1921), die er dem amerikanischen Gesinnungsgenossen und Vertrauten Benjamin R. Tucker widmete.243 Insbesondere der als Kulturgemälde aus dem Ende des XIX. Jahrhunderts im London des Jahres 1887 handelnde, naturalistische Weltanschauungs-Roman Die Anarchisten war, mit Übersetzungen in sieben Sprachen und zahlreichen Auflagen – allein die deutsche Gesamtauflage lag bereits 1903 bei 8000 Exemplaren – außerordentlich erfolgreich und machte seinen Autor gleichsam ‚über Nacht berühmt‘.244 In einem inneren Monolog seines Helden Auban kennzeichnet Mackay hier die „Anarchie“ als „das Ziel der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft“ und „jenen Zustand [. . .], in dem Freiheit des Individuums und seiner Arbeit Bürge ist für sein Wohl, wie für den Wohlstand der Allgemeinheit.“ Aubans bzw. Mackays „Anarchie“ sucht, anders als der „Kommunismus [. . .] die Freiheit des Individuums – weit entfernt, diese in Gütergemeinschaft und Aufopferung zu sehen! – im Gegenteil durch Bekämpfung und Beseitigung ganz bestimmter, gewaltsamer Hemmungen und künstlicher Schranken zu erreichen“.245 Da aber die „Gewalt die größte Feindin“ ist,246 gibt es „keinen andern Weg, dieses Ziel zu erreichen, als den der ruhigen, unermüdlichen, sicheren Aufklärung und den des selbstgegebenen Beispiels, das eines Tages Wunder wirken“ muß.247 „Einst“ wird dann „der prinzipiell angewandte passive Widerstand gegen die Regierung – vor allem in der Form der Steuerverweigerung – zur wirksamsten Waffe 241

Mackay (1891), S. 6. Im Vorwort zur Volksausgabe der Anarchisten von 1893 geht Mackay „auf die von vielen Seiten an mich gerichtete Frage“ ein, „warum ich, um meinen Ideen eine weitere Verbreitung zu geben, nicht agitiere, nicht propagandiere, nicht in den Versammlungen spreche und diskutiere, vor allem, weshalb ich nicht auf dem einzigen Wege, auf dem die Mehrzahl der Menschen heute allein noch erreichbar ist, dem der Presse, zu ihnen gehe. Ich erwidere darauf: weil ich es nicht kann; weil ich es nicht könnte, auch wenn ich es wollte. Die Gaben der Menschen sind verschieden. Ich bin ein Künstler; vielleicht nicht ‚durch und durch‘, denn mein Interesse gehört vielem im Leben, doch so manches lastet auf mir, von dem ich mich, ich fühle es, nur befreien kann in dichterischem Schaffen.“ (Mackay (1891), S. 11). 243 Vgl. Mackay (1921), S. 7 f.; Mackay (1891), S. 7, vgl. auch S. 135; vgl. Fähnders (1987), S. 14 ff.; Schwedhelm (1980), S. 23 f.; Kannenberg-Rentschler (1988), S. 146 f. 244 Vgl. Fähnders (1987), S. 14; Helms (1966), S. 543. 245 Mackay (1891), S. 289. 246 Mackay (1891), S. 291. 247 Mackay (1891), S. 292. 242

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werden, an welcher der Staat langsam verbluten“ wird.248 Denn „die Institution des Staates“ ist das „große[] und einzige[] Hemmnis der Menschheit auf ihrem Wege der Entwicklung zur Kultur.“249 Auban bzw. Mackay weiß, „daß der Staat die privilegierte Gewalt ist und daß Gewalt es ist, die ihn erhält; daß er es ist, der die Harmonie der Natur in die Unordung des Zwanges verwandelt; daß seine Verbrechen es sind, die die Verbrechen schaffen; [. . .] daß er in allem die Mittelmäßigkeit vertritt“ usw.250 Im Vorwort zur fünften Auflage (1911) seiner erstmals 1888 erschienen Gedichtsammlung Sturm, die ihm den Ehrentitel eines „ersten Sänger[s] der Anarchie“ einbrachte251 und seine Popularität als „Dichter des Anarchismus“252 begründete, bezeichnet Mackay es im Sinne seines Auban als die „größte Erkenntnis meines Lebens [. . .], daß die Freiheit, jener einzig wünschens- und erstrebenswerte soziale Zustand der menschlichen Gesellschaft [. . .] als reifste und edelste Blüte der Kultur nur von dem zu sich: der Erkenntnis seiner Würde und seiner Interessen erwachten Individuum, das sich mit anderen Individuen zu gleichen Zwecken zusammenschließt, erst gefordert und dann genommen werden muß.“253 Diese ‚Erkenntnis‘ verortet Mackay autobiographisch in der Zeit zwischen der ersten, 1888 erschienenen, und der zweiten Auflage (1890) seines Gedichtbändchens,254 und es erstaunt nicht zu erfahren, daß er just in dieser Zeit während eines London-Aufenthaltes 1887/88, während der Recherchen zu seinen Anarchisten, im British Museum Stirner entdeckte255 – bzw. „sein unsterbliches Werk: ‚Der Einzige und sein Eigentum‘ (1845)“, wie es im Vorwort zu den Anarchisten heißt.256 1893 bekräftigt er anläßlich der Volksausgabe der Anarchisten: „Aus dem Wirrwarr und dem Widerstreit der Meinungen hebt sich klar, verständlich, siegreich am Ende unseres Jahrhunderts allein die Lehre von der Souveränität des Individuums. Wer wagt es zu leugnen, daß sie das Ziel aller menschlichen Entwicklung ist? Barbarei und Knechtschaft vergangener Zeiten haben uns endlich zu der Erkenntnis gebracht, daß Kultur und Zivilisation erst in jenem Zustand der Gesellschaft ihren höchsten Triumph zu feiern 248

Mackay (1891), S. 292 – H. i. O. Mackay (1891), S. 289 – H. i. O. 250 Mackay (1891), S. 289 f. 251 Mackay (1891), S. 7; vgl. Fähnders (1987), S. 13 f., 86 ff. 252 Max Messer, zit. n. Fähnders (1987), S. 86. 253 Mackay (1911), S. 11. 254 Vgl. Mackay (1911), S. 11. 255 Vgl. Mackay (1898), S. 5; vgl. auch Schwedhelm (1980), S. 13 f. 256 Mackay (1891), S. 6 f. – H. i. O. – Das dem vorliegenden Kapitel auszugsweise als Motto vorangestellte Gedicht An Max Stirner ist erst ab der zweiten, 1890er Auflage in der Sturm-Sammlung enthalten. 249

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imstande sind, in welchem mit dem letzten Vorrecht auch die Gewalt, die es schützte, der Staat, geschwunden ist: dem Zustande gleicher Freiheit, wo ein verfeinerter und höchstgesteigerter Egoismus auch den Letzten gelehrt hat, daß seine Freiheit wächst und abnimmt mit der Freiheit des anderen, daß er in demselben Maße unabhängiger wird, als er seinem Nächsten erlaubt, unabhängig von ihm zu sein.“257 Gerade die letzte Wendung markiert die moralische Gegenposition zu der etwa von Mühsam kritisierten ‚Philistrosität‘, die auf umfassende Kontrolle der Mitmenschen im Namen allgemeiner moralischer Konventionen abzielt; für Mackay steht und fällt dies mit dem Staat. Was dem satanistischen Décadent Przybyszewski am individualistischen Anarchismus bzw. am Stirnerianismus Mackays als zu harmlos erscheint, ist ein Individualismus, dem es nicht um symbolische Aggression geht, sondern der vor allem eine kulturelle Liberalisierung anstrebt, die die individuelle Selbstverwirklichung eines jeden in einem gesellschaftlich harmonischen Zustand ermöglichen soll. In seiner Stirner-Monographie spricht Mackay in diesem Sinne von „jenem Vereine der Egoisten“ in der kommenden „Zeit jener ewig nach den Bedürfnissen der Menschen entstehenden und vergehenden Vereine, an die der Einzelne seine Kraft freiwillig giebt, um sie hundertfach gestärkt zu fühlen“.258 In dieser zukünftigen „Zeit [. . .] der Einzigen“,259 wird es keinen „Staat“ mehr geben, „der Mich hindert, in ein directes Verhältnis zu den Andern zu treten“, also den sozialen Verkehr zwischen den Individuen reglementiert.260 Und dies gilt nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht, wenn Mackay mit Stirner und Auban „freie Konkurrenz“261 und „Selbstverantwortlichkeit“ fordert,262 sondern auch in jeglicher sonstiger, ethischer und nicht zuletzt emotionaler Beziehung. So läßt er Auban sein individualanarchistisches Verständnis der „freie[n] Liebe“263 propagieren: „Nie würde ich wagen, Einspruch zu erheben gegen die freie Vereinigung zweier Menschen, die der freie Wille zusammenführt und der freie Wille bis an ihr Ende zusammenhält. Aber ebensosehr wie die freie dauernde Vereinigung zweier Menschen verstehe ich auch die Neigung vieler Menschen nach einem Wechsel des Gegenstandes ihrer Liebe, und Vereinigungen für eine Nacht, für einen Frühling [. . .]. – Die Gebote der Moral erscheinen mir lächerlich und einzig aus der krankhaften Sucht beschränkter 257

Mackay Mackay 259 Mackay 260 Mackay 261 Mackay 262 Mackay S. 144 f. 263 Mackay 258

(1891), S. 13 – H. i. O. (1898), S. 212. (1898), S. 212. (1898), S. 145. (1891), S. 130. (1891), S. 300, vgl. S. 129 f., 150 ff., 290; vgl. Mackay (1898), (1891), S. 149.

540 VI. Außenseiter, Aristokraten, Avantgardisten und andere Individualisten

Menschen nach Regelung und Normierung natürlicher Verhältnisse hervorgegangen.“264 Und in seiner Stirner-Monographie bekennt Mackay: „Ich lasse Mir das Maass meiner Empfindungen nicht vorschreiben und die Ziele meiner Gefühle nicht bestimmen.“265 „Ich [. . .] leite mein eigenes Denken [. . .] die eigene Sinnlichkeit befriedige ich nach meinem Gefallen.“266 Mit Blick auf das erklärte Ende der tradierten „Sittlichkeit“: „Jahrtausende der Sehnsucht und Hoffnung liegen hinter uns; vor uns liegt die Zeit des Genusses.“267 Mackay beschwört in Stirner-Paraphrasen eine nicht nur ökonomische, sondern insbesondere kulturelle Liberalität, in der es Individuen möglich ist, nach freiem Willen übereinzukommen und ihrer ‚Natur‘ folgend sich in einem sozial verträglichen Rahmen, d. h. ohne Gewalt und Zwang gegenüber anderen Individuen, selbst zu verwirklichen. Dabei beruhen sowohl die Möglichkeit allseitiger individueller Selbstverwirklichung als auch deren soziale Verträglichkeit auf einer aufgeklärt-egoistischen bzw. individualistischen Selbstverantwortlichkeit eines jeden Individuums – eines jeden Einzigen im interpretationsschematischen Sinne der Je-Einzigkeit. Diese ist ihrerseits das Ergebnis sowohl von individuellen (Selbst-)Aufklärungsprozessen als auch des Wegfalls einer verhaltensnormierenden, durch die staatliche Zwangs- und Sanktionsgewalt herrschenden und zugleich diese stützenden Moral: einer Moral, die die Individuen bevormundet, sie in Unmündigkeit hält, sie durch die Vorgabe unerreichbarer, falscher und insofern widernatürlicher Ideale an der Ausbildung eines gelungenen individuellen Selbstverhältnisses hindert und sie so entweder in die Bigotterie treibt oder als deviant stigmatisiert. Für diese, Mackay zufolge in Stirners Einsichten und seiner Programmatik vorweggenommene „Epoche der Freiheit“ hat man „[n]och [. . .] keinen besseren Namen gefunden, als den der Anarchie: der durch das wechselseitige Interesse bedingten Ordnung, statt der bisherigen Ordnungslosigkeit der Gewalt; der ausschließlichen Souveränität des Individuums über seine Persönlichkeit, statt seiner Unterwerfung; der Selbstverantwortlichkeit seiner Handlungen, statt seiner Unmündigkeit – seiner Einzigkeit!“268

264 265 266 267 268

Mackay Mackay Mackay Mackay Mackay

(1891), (1898), (1898), (1898), (1898),

S. S. S. S. S.

150. 145. 147. 146. 176.

3. Individualität als Devianz

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b) Abnormität als Individualität – Individualität als Abnormität Indem Mackay diesen Individualismus als Anarchismus versteht, optiert er nicht nur generell für einen ethischen Pluralismus und ein postkonventionalistisches Moralverständnis, sondern er reflektiert auch spezifisch die als Zwang und Repression der Individualität erfahrenen Ausgrenzungen und Diskriminierungen durch eine moralische Exklusion – nach der Ethik der Respektabilität –, die durch den Staat – nach dem § 175 StGB – sanktioniert und vollzogen wird. Auch wenn Mackay selbst „nie eine Wechselwirkung zwischen Anarchismus und homoerotischer Veranlagung behauptet oder zu konstruieren gesucht“ haben mag,269 so war ihm doch gleichermaßen „durch seinen Anarchismus und seine Homoerotik“ die „Außenseiter“Erfahrung in besonderem Maße zugänglich.270 Anders als seine stirnerianische Literatur publizierte Mackay seine homoerotischen Erzählungen und Gedichte unter einem Pseudonym: Sagitta. ‚Sagittas Bücher der namenlosen Liebe‘ erschienen zunächst, 1906, in Treptow bei Berlin, später – nach der Beschlagnahme der ersten Bände und der Verurteilung des Verlegers 1908 – dann, 1913, in Paris und erfreuten sich einer zahlreichen homosexuellen Leserschaft.271 Bereits 1897 war Mackay einer von knapp 4000 Mitunterzeichnern einer von Magnus Hirschfeld im Deutschen Reichstag eingegebenen Petition zur Abschaffung des § 175. Neben Mackays Unterschrift fanden sich diejenigen von Ärzten, Lehrern und Intellektuellen wie Gerhard Hauptmann, Karl Kautsky, Rainer Maria Rilke und August Bebel, der als Vorsitzender der SPD und ihrer Reichstagsfraktion offensiv für die Forderungen von Hirschfelds Wissenschaftlich-humanitärem Komitee (WhK) eintrat.272 In England war, wie erwähnt, 1895 in einem aufsehenerregenden Prozeß Oscar Wilde – als, in den Worten des vorsitzenden Richters, „the centre of a circle of extensive corruption of the most hideous kind among young men“273 – zu zwei Jahren Zuchthaus mit 269

Schwedhelm (1980), S. 11. Kreuzer (2000), S. 332; vgl. auch Fähnders (1987), S. 129. 271 Vgl. Schwedhelm (1980), S. 11, 162 f.; Stümke (1989), S. 56. – Mackays Pseudonym ‚Sagitta‘ ist offensichtlich dem ‚sagitta Veneris‘, dem Liebespfeil der Venus entlehnt, während die ‚Namenlosigkeit‘ dieser homosexuellen Liebe sich einerseits auf ihre gesellschaftliche Stigmatisierung und Ächtung bezieht – man darf sich nicht zu ihr bekennen, und sie wird nicht als Liebe, im Sinne des hehren Gefühls, akzeptiert; in genau diesem Sinne sprach beispielsweise auch Oscar Wildes Geliebter Lord Alfred Douglas (‚Bosie‘) in einem Gedicht von der ‚Liebe, die ihren Namen nie zu nennen wagt‘ (vgl. Seibt (2003), S. 14). Andererseits ist bekanntlich die ‚Namenlosigkeit‘, ‚Unaussprechlichkeit‘ usw. eines der wichtigsten – und Gott entlehnten – Prädikate des Stirnerschen ‚Einzigen‘ (vgl. Mackay (1898), S. 149; vgl. Stirner, EE, S. 164, 201, 348, 412; vgl. auch Stirner (1845), S. 113 ff.). 272 Vgl. Stümke (1989), S. 38 ff.; vgl. Schwedhelm (1980), S. 11. 270

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Zwangsarbeit verurteilt worden: für Hirschfeld, der öffentlich dagegen protestierte, einer der Anlässe für sein politisches und wissenschaftliches Engagement. Das Deutsche Reich hatte seinen ersten großen HomosexuellenSkandal in der ‚Krupp-Affäre‘, als 1902 bekannt wurde, daß Friedrich Krupp, „Freund des Kaisers und Chef des mächtigsten deutschen Rüstungskonzerns, [. . .] auf Capri recht offen seinen homosexuellen Neigungen“ nachging.274 Im selben Jahr wurden im Deutschen Reich 364 Männer wegen Homosexualität abgeurteilt und 2096 weitere in den Folgejahren bis 1908, als mit der ‚Eulenburg-Affäre‘ die Skandalierung ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hatte und man im Ausland die Homosexualität bereits als „le vice allemand“ zu bezeichnen begonnen hatte.275 Nicht nur wurde der Fürst Philipp zu Eulenburg und Hertefeld, wiederum ein Freund Wilhelms II., der sogar als dessen „engste[r] Vertraute[r]“ galt, „wegen Verdachts homosexueller Betätigungen verhaftet“, sondern Gerüchten zufolge sollte „nicht nur Eulenburg homosexuell sein, sondern auch die ganze ‚Liebenberger Tafelrunde‘, alles hochgestellte Herren des Reichs, Berater und Freunde Seiner Majestät, die sich zuweilen auf dem Landsitz des Fürsten Eulenburg in Liebenberg trafen. Auch der Kaiser weilte gelegentlich in dieser Runde, wobei es schon einmal vorkam, daß Graf Hülsen-Haeseler, Chef des Militärkabinetts, aus dem freudigen Anlaß als Primaballerina im rosa Ballettröckchen auftrat.“276 Nachdem die Vorwürfe gegen seine Freunde unabweisbar geworden waren, erkannte der Deutsche Kaiser plötzlich die wahre Bedeutung dieser Gunstbezeugungen und distanzierte sich – enttäuscht, aber nicht weniger entschlossen: „Eulenburg, Hohenau, Kuno Moltke habe ich jetzt als pervers erkannt. Sie sind für mich erledigt . . . Hier muß vor aller Welt und unnachsichtig ein moralisches Exempel statuiert werden!“277 Die Eulenburg-Affäre ist in mancherlei Hinsicht berichtenswert. Im vorliegenden Zusammenhang ist sie einerseits als exemplarisch für einige Aspekte der Wahrnehmung von (männlicher) Homosexualität zur Zeit der Stirner-Renaissance zu sehen: als Symptom und Verstärker der (massenmedialen) zeitgenössischen Aufmerksamkeit, und auch als Evidenz, auf die sich zeitgenössische Texte beziehen.278 Andererseits wird an Eulenburgs Schicksal, beispielhaft für Tausende weiterer Fälle, sowohl die prinzipielle Bedeutung des § 175 als juridische Signatur und administrative Exekution der moralischen Exklusion als auch die individualitätssemantisch konstruk273 274 275 276 277 278

Zit. n. Belford (1996), S. 244. Stümke (1989), S. 40; vgl. Mosse (1987), S. 109. Stümke (1989), S. 43, vgl. S. 26, 42 ff. Stümke (1989), S. 42. Zit. nach Stümke (1989), S. 43. Vgl. Mosse (1987), S. 53, 109.

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tive Wirkung dieser Exklusionsmechanismen deutlich. In den auf den Eulenburg-Skandal folgenden Jahren bis zum Kriegsausbruch wurden weitere 3201 rechtskräftige Urteile wegen (männlicher) Homosexualität gesprochen; d. h. von 1902 bis 1908, also von der Krupp- bis zur Eulenburg-Affäre, wurden im Jahresdurchschnitt etwa 350 Männer wegen Homosexualität abgeurteilt, danach, von 1909 bis 1914 jährlich rund 530; während des Krieges sank die Zahl wieder auf etwa 200 pro Jahr.279 Dabei sind die Fälle Krupp und Eulenburg selbst nicht erfaßt, denn Krupp, der noch im November 1902 aus ungeklärter Ursache – Hirnschlag oder Selbstmord – verstarb, wurde der Prozeß nicht gemacht, und das Verfahren gegen Eulenburg wurde nach wenigen Wochen wegen ‚nervlicher Zerrüttung‘ des Angeklagten ausgesetzt und nicht wieder aufgenommen.280 Für den Skandal – und generell die gesteigerte Aufmerksamkeit nicht nur der verstärkt über ‚Neuigkeiten aus dem Reich der Urninge‘ berichtenden Presse,281 sondern auch der Strafverfolgungsbehörden, wie der signifikante Anstieg der Urteile seit der EulenburgAffäre zeigt – bedurfte es aber keines gerichtlichen Schuldspruches. Für den Betroffenen vollzog sich die soziale Ächtung nicht erst mit der strafrechtlichen Sanktionierung, sondern bereits durch die Öffentlichkeit der Anklage und des Strafprozesses wegen § 175, egal, wie letzterer ausging. Auch im Falle des Freispruches – zumal, wenn dieser aufgrund einer mangelhaften Beweislage, insbesondere wenn die der ‚widernatürlichen Unzucht‘ Bezichtigten einvernehmlich schwiegen,282 nach dem Grundsatz ‚In dubio pro reo‘ erfolgte – blieb das Stigma des Perversen. Der § 175 StGB exekutierte also nicht erst durch den auf seiner gerichtlichen Anwendung beruhenden Strafvollzug die moralische Exklusion, sondern bereits dadurch, daß er einen juridischen Raum der Aufmerksamkeit für den moralisch irrespektablen Homosexuellen erzeugte. Selbst durch die moralischen Standards legitimiert, beglaubigte er – diskursiv und praktisch – die moralische Exklusion des Irrespektablen als Verbrecher. Vor diesem Hintergrund war der § 175 für die betroffenen Individuen eine existentielle Bedrohung. Die Furcht vor der sozialen Ächtung war nicht nur die ‚Geschäftsgrundlage‘ von „Chanteuren“, die wohlhabende Homosexuelle erpreßten und insbesondere in einer Hochburg der homosexuellen Subkultur, wie es das Berlin der Jahrhundertwende bereits war – mit rund vierzig einschlägigen Lokalen, in279

Vgl. Stümke (1989), S. 26. Vgl. Stümke (1989), S. 41, 43. 281 Vgl. Stümke (1989), S. 43. – Den Begriff ‚Urning‘, eine Anspielung auf den nicht zeugungsfähigen Gott Uranos, hatte bereits in den 1860er Jahren der bekennend homosexuelle Jurist Carl Heinrich Ulrichs (1825–1895) im Kampf um die Akzeptanz der Homosexualität geprägt (vgl. Stümke (1989), S. 16 ff.; Kruntorad (1984), S. 11). 282 Vgl. Stümke (1989), S. 23 f. 280

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ternationale Besucher anziehenden legendären „Urningsbälle[n]“ und anderen Treffpunkten, z. B. im Tiergarten –, weitgehend unbehelligt reiche Beute machten,283 sondern auch in schätzungsweise zwei Dritteln der Fälle Motiv für die Suizide von Homosexuellen.284 Die Folgen drohender moralischer Exklusion waren also bereits weit vor dem Eingreifen der Justiz als Zwang erfahrbar. Zugleich trugen aber diese Exklusionsmechanismen, jenseits der bloß negativen Sanktionierung devianten Verhaltens und der sozialen Ächtung der verantwortlichen Personen, in ihren Praktiken und Diskursen zur Konstruktion des Homosexuellen als eines abnormen Individualitätstypus bei. Eine entscheidende Rolle spielen hierbei, neben den Presseberichten und den öffentlichen Verhandlungen mit ihren Verhören und Zeugenaussagen, insbesondere die sexualpsychopathologischen und medizinischen Diskurse mit ihren kriminologischen und klinischen Kasuistiken und ihren psychiatrischen und forensischen Diagnostiken, zu welch letzteren beispielsweise der Befund „[p]assive[r] Gewohnheitspäderast[ie]“ aufgrund „dutenförmige[r] Einsenkungen der Hinterbacken“ gehörte.285 Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang, als einer der im medizinisch-humanwissenschaftlichen Diskurs des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts maßgeblichen Beiträge, Richard Freiherr von Krafft-Ebings286 berühmte Psychopathia sexualis. Die Psychopathia sexualis wurde erstmals 1886 veröffentlicht, erschien im Todesjahr ihres Verfassers 1902 in zwölfter, „sorgfältig revidierte[r], verbesserte[r] und vermehrter[r]“ Auflage287 und bis 1924 in 17. Auflage.288 Sie wurde in sieben Sprachen übersetzt289 und trägt im Untertitel den im vorliegenden Kontext einschlägigen Hinweis: Mit besonderer Berücksichtigung der konträren Sexualempfindung. Eine medizinisch-gerichtliche Studie für Ärzte und Juristen. aa) Richard Freiherr von Krafft-Ebing Von grundlegender Bedeutung ist sowohl für Krafft-Ebing selbst als auch im Hinblick auf die Beobachtung der sexualpsychopathologischen (und forensischen) Individualitätskonstruktion die Unterscheidung von „Perversion“ und „Perversität“; diese bezeichnet die Qualität eines Aktes, während sich 283 284 285 286 287 288 289

Stümke (1989), S. 30; vgl. Mosse (1987), S. 45. Vgl. Stümke (1989), S. 25. Zit. bei Stümke (1989), S. 24 f.; vgl. Mosse (1987), S. 40 ff., 172 ff. 1840–1902. Krafft-Ebing (1912), S. VI. Im Folgenden wird nach der 14. Auflage von 1912 zitiert. Vgl. Kruntorad (1984), S. 9.

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jene auf die (pathologische) Verfassung des Akteurs bezieht: „Perversion des Geschlechtstriebes ist [. . .] nicht zu verwechseln mit Perversität geschlechtlichen Handelns, denn dieses kann auch durch nicht psychopathologische Bedingungen hervorgerufen sein. Die konkrete perverse Handlung, so monströs sie auch sein mag, ist klinisch nicht entscheidend. Um zwischen Krankheit (Perversion) und Laster (Perversität) unterscheiden zu können, muss auf die Gesamtpersönlichkeit des Handelnden und auf die Triebfeder seines perversen Handelns zurückgegangen werden. Darin liegt der Schlüssel der Diagnostik“.290 Damit rückt – auch im Hinblick auf die juristische Bewertung eines perversen Aktes – die (potentiell abnorme) Individualität des jeweiligen Akteurs in das Zentrum der Aufmerksamkeit, und Krafft-Ebing trägt dem in weit über 200 dokumentierten Fall-Beobachtungen Rechnung, deren „besonders anstössige Stellen statt in deutscher, in lateinischer Sprache“ gegeben werden (S. V), um so die „Lektüre etwaigen Unberufenen zu erschweren“ (S. VI). Die Kasuistik dient einerseits der Illustration der terminologisch hochgradig ausdifferenzierten Phänomenologie der Perversionen,291 andererseits individualisiert sie die vorgestellten Patienten in teilweise mehrere Seiten umfassenden Anamnesen mit vielen biographischen Details.292 290 Krafft-Ebing (1912), S. 69 – H. i. O. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben in diesem und den folgenden Absätzen beziehen sich ebenfalls auf Krafft-Ebing (1912). 291 Auch bezüglich der Homosexualität unterscheidet Krafft-Ebing zwischen verschiedenen Typen der ‚konträren Sexualempfindung‘ (vgl. Krafft-Ebing (1912), S. 224 ff.), und beispielsweise im Kapitel über den „Fetischismus“ (S. 174 ff.) unterscheidet er in positivistischer Genauigkeit zwischen u. a. „Handfetischismus“ (S. 180), „Handschuhfetischismus“ (S. 221) und „Schuhfetischismus“ (S. 203), behandelt den „Zopffetischismus“ (S. 193) und den „Zopfabschneider“ (S. 191) gesondert von den „Liebhaber[n] weiblicher Taschentücher“ (S. 199), aber auch den „Rosenfetischismus“ (S. 221). Krafft-Ebing war es auch, der den Begriff „Masochismus“ (S. 104 ff.), inspiriert durch die Romane und Novellen des österreichischen Autors Leopold von Sacher-Masoch (1836–1895), einführte (vgl. Krafft-Ebing (1912), S. 105 f.) und den in der zeitgenössischen französischen Fachliteratur bereits eingebürgerten Begriff „Sadismus“ (S. 69 ff.) im deutschen Sprachraum popularisierte. Selbstverständlich werden auch die Formen des Sadismus und Masochismus typologisch und kasuistisch binnendifferenziert. 292 Vgl. z. B. „Beobachtung 142“ über „Psychische Hermaphrodisie“ (KrafftEbing (1912), S. 271 ff.). – Krafft-Ebing warnt aber davor, „jenen Effeminierten, die zudem nicht selten ethisch und intellektuell minderwertig sind und die Wissenschaft mit ihrer ‚interessanten Krankengeschichte‘ bereichern möchten“ vorschnell Glauben zu schenken (S. 328). Die Wahrheit dieser abnormen Individualität offenbart sich nicht einfach in ihrer von Geltungsdrang und Eitelkeit motivierten Selbstdarstellung, sondern nur durch die ärztliche Untersuchung: „Die konträre Sexualempfindung ist eine so komplizierte seelische Anomalie, dass nur ein Kundiger Wahrheit und Dichtung sofort unterscheiden wird.“ (S. 328).

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Auch für den Bereich der ‚konträren Sexualempfindung‘, führt KrafftEbing aus, ist das „Entscheidende [. . .] der Nachweis der perversen Empfindung gegenüber dem eigenen Geschlechte, nicht die Konstatierung geschlechtlicher Akte an demselben. Diese zwei Phänomene dürfen nicht miteinander verwechselt, Perversität darf nicht für Perversion gehalten werden. Sehr oft kommen perverse sexuelle Akte zur Beobachtung, ohne dass ihnen Perversion zugrunde läge. [. . .] So finden wir homosexuellen Verkehr bei impotent gewordenen Masturbanten oder Wollüstlingen oder, faute de mieux, bei sinnlichen Weibern und Männern in Gefängnissen, Schiffen, Kasernen, Bagnos, Pensionaten usw.“ (S. 226 f. – H. i. O.). Im Gegensatz zu diesen Fällen „temporärer Verirrung“ (S. 227), hat „[j]eder Fall von wirklicher Homosexualität [. . .] seine Aetiologie, seine begleitenden körperlichen und psychischen Merkmale, seine Rückwirkungen und das ganze psychische Sein. Er muss auf ein abnormes, dem physischen Geschlechte, welches der Betreffende repräsentiert, entgegengesetztes Geschlechtsgefühl zurückgeführt werden und aus ihm erklärt werden können. In der Anamnese, der Aetiologie, der Vita anteacta, der psycho-sexuellen Entwicklungsgeschichte des Falles liegt seine Diagnose. Da verhilft zu einem sichern Urteil nur die anthropologische entwicklungsgeschichtliche klinische Beurteilung des Falles, die synthetische Zusammenfassung aller Einzeltatsachen. Dann ist die Beurteilung aber so sicher als bei einer beliebigen anderweitigen Missbildung.“ (S. 328) Auf der Grundlage dieser diagnostischen Erfahrungen ist bezüglich der Persönlichkeit von Homosexuellen „[z]uzugeben [. . .], dass solche Leute auch charakterologisch vielfach abnorm sind, nicht recht Mann und nicht Weib, vielmehr Mischlinge mit sekundären psychischen und physischen Merkmalen des einen und des anderen Geschlechtes, erklärbar aus den interferierenden Einflüssen einer fortbestehenden bisexuellen Veranlagung, die die Ausbildung eines dezidierten und festen Charakters stören. [. . .] Diese Abnormität darf nicht für eine Krankheit oder gar für ein Laster gehalten werden, denn die Entfaltung der Vita sexualis mit ihrer Wirkung auf Gemüt und moralischen Sinn kann ebenso harmonisch und befriedigend sein, wie beim sexuell normal Veranlagten, ein Beweis weiter dafür, dass die konträre Sexualität ein Aequivalent der Heterosexualität darstellt.“ (S. 329)293 So ist die „Vita sexualis [. . .] bei diesen Homosexualen (Urninge) mutatis mutandis ganz die gleiche wie bei der normalen heterosexualen Liebe, aber da sie der natürlichen Empfindung gegensätzlich ist, wird sie zur Karikatur, um so mehr, als diese Individuen in der Regel mit Hyper293

Deswegen und vor allem wegen der destruktiven Folgen für die Betroffenen optiert Krafft-Ebing auch für die Abschaffung der strafrechtlichen Verfolgung von Homosexuellen nach § 175 (vgl. Krafft-Ebing (1912), S. 433 f.).

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aesthesia sexualis zugleich behaftet sind, und damit ihre Liebe zum eigenen Geschlechte eine schwärmerische, brünstige ist. Der Urning liebt, vergöttert den männlichen Geliebten gerade so wie der weibliebende Mann die Geliebte. [. . .] Die Aufmerksamkeit des mannliebenden Mannes fesseln nur der Tänzer, der Schauspieler, der Athlet, die männliche Statue usw. Der Anblick weiblicher Reize ist ihm gleichgültig, wenn nicht zuwider; ein nacktes Weib ist ihm ekelhaft während die Besichtigung männlicher Genitalien, Hüften usw. ihn vor Wonne erbeben macht.“ (S. 275) Den Begriff des ‚Urnings‘ oder ‚Homosexualen‘ bzw. der ‚Homosexualität‘ verwendet Krafft-Ebing hier differentialdiagnostisch zur Kennzeichnung einer „Entwicklungsstufe[] bzw. Erscheinungsform[]“ (S. 257) innerhalb der „angeborene[n] konträre[n] Sexualempfindung beim Manne“ (S. 266)294 – im Unterschied zur „erworbenen Entartung“ (S. 229) –, die er insgesamt als ein „funktionelles Degenerationszeichen und als Teilerscheinung eines neuro (psycho)pathischen, meist hereditär bedingten Zustandes“ bezeichnet (S. 258 f.). „Zeichen dieser neuro(psycho)pathischen Belastung“ sind, neben dem häufigen Vorliegen weiterer Perversionen sowie Neurosen und „vielfach auch anatomische[n] Entartungszeichen“, zudem „psychische Anomalien“, etwa die „glänzende Begabung für schöne Künste, besonders Musik, Dichtkunst usw.“, „bis hin zu ausgesprochenen psychischen Degenerationszuständen“, wie „Schwachsinn, moralisches Irresein“, „Paranoia usw.“ (S. 259). Mit diesen und weiteren Beschreibungen, die sich auf typische charakterliche, psychische, habituelle und körperliche Merkmale des Homosexuellen als Typus beziehen – die letzte zitierte Wendung enthält auch Spuren des parallel und interferierend geführten ‚Genie und Wahnsinn‘-Diskurses – und diese sowohl in kasuistisch-diagnostischen Praktiken als auch in medizinisch-psychopathologischen und anthropologischen Deutungen beglaubigen, wird Homosexualität, jenseits eines bloß – in moralischer, religiöser oder strafrechtlicher Hinsicht – devianten Verhaltens, als eine deviante bzw. abnorme Individualität im umfassenden Sinne konstruiert. 294 Vorstufe ist die „psychosexuale“ oder „psychische Hermaphrodisie“ mit Spuren „heterosexualer“ Geschlechtsempfindung (Krafft-Ebing (1912), S. 257 und S. 267, vgl. S. 267 ff.), Steigerungsstufen nach der „Homosexualität“ (S. 257, vgl. S. 275 ff.) sind zunächst die psychisch umfassendere „Effeminatio“ (S. 257, vgl. S. 288 ff.) und sodann die „Androgynie“, bei der sich die ‚Entartung‘ nicht nur habituell, sondern auch physiognomisch bzw. anatomisch und „überhaupt in anthropologischer, nicht bloss in psychischer und psychosexualer Hinsicht“ beobachten läßt, wobei Krafft-Ebing Wert darauf legt zu betonen, daß es sich hierbei nicht um anatomische Hermaphrodisie handelt – die „Genitalien bei diesen Leuten [den Androgynen] erwiesen sich immer geschlechtlich vollkommen differenziert“ – sondern um (phäno)typisch weibliche sekundäre Geschlechtsmerkmale, wie „breite Hüften, runde Formen durch reichliche Fettentwicklung, fehlende oder höchst spärliche Bartentwicklung, mehr weibliche Gesichtszüge, feiner Teint, Fistelstimme usw.“ (S. 257 und S. 293, vgl. S. 293 ff.).

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Vom Standpunkt der Normalität konnte diese abnorme Individualität zum Schreckensbild für die Gefahren eines enthemmten Individualismus werden, der die sittliche Ordnung zersetzt und damit auch die auf dieser Sittlichkeit gegründete gesellschaftliche Ordnung gefährdet. Auf der anderen Seite, vom Standpunkt des Individualismus, konnte man die Rechte auch dieser Individualität gegen eine sie stigmatisierende Normalität geltend machen. So bietet die diskursive und praktische Verknüpfung von Irrespektabilität, Kriminalität und Degeneration bzw. Pathologie, wie sie in paradigmatischer Weise an der abnormen Individualität des Homosexuellen vollzogen wird, dem avantgardistischen und nonkonformistischen Individualismus der Boheme und Décadence reichhaltiges Material für literarische Provokationen und symbolische Aggressionen, aber auch stilisierender Identifikationen und Solidarisierungen.295 Beispielhaft hierfür ist wiederum Bruno Wille, der in seiner den ‚Individualismus‘ gegen den ‚Normalismus‘ begründenden Diskussion der ‚individuellen Wertung‘ auch „an jene mannigfaltigen sexuellen Eigenarten denkt, die Krafft-Ebing schildert, und die gewiss grossenteils angeboren sind“.296 Mit Blick darauf „versteht man, dass auf erotischem Gebiete vielerlei Wertungen vorkommen.“297 Und gerade hier, auf dem Gebiete der moralischen Sanktionierung der Sexualität, spitzt sich für Wille der vernunft- und freiheitswidrige Gegensatz von ‚abnormer Individualität‘ und ‚widernatürlicher Normalität‘ folgenschwer zu. So stellt er fest, „dass der Gegensatz der individuellen Wertung, nämlich die überkommene Wertung, in zahllosen Fällen die Freiheit beeinträchtigt. Denn ein Wesen ist nur dann frei, wenn es seinen individuellen Bedürfnissen gemäss leben kann; da aber die ihm aufgedrungenen Wertungen häufig nicht für seine Eigenart passen, so fühlt es sich, sobald dieser Widerspruch zwischen Normalität und Individualität aktuell wird, bedrückt, gehemmt, vergewaltigt. Alsdann handelt es sich darum, wer stärker ist, die Normalität oder die Individualität; ist es die erstere, so hat das Individuum seine Freiheit und wohl auch eine Portion Freiheitssinn eingebüsst und wird nun in der Knechtschaft des Philistertums mit sklavischem Behagen vegetieren, oder im Joche dahin siechen und verkümmern.“298 Der Individualismus indes fordert, daß die Individualität obsiege: im Interesse des Individuums, aber auch im Interesse der Kultur, nämlich im Interesse des individuellen Lebens wie des „geistigen 295 Mosse zitiert u. a. Théophile Gautier (1811–1872) mit dem Satz „Homosexualität ist die vornehme Krankheit des Künstlers“ und verweist auf Krafft-Ebing, der „1898 von dem medizinisch erwiesenen Zusammenhang zwischen ‚homosexueller Dekadenz‘ und künstlerischer Empfänglichkeit schrieb“ (Mosse (1987), S. 59, vgl. S. 58 ff.). 296 Wille (1894), S. 42. 297 Wille (1894), S. 42 f. 298 Wille (1894), S. 58.

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Lebens“. Denn „jede Emanzipation der Individualität [wirkt] anregend auf die Entwicklung des gesamten geistigen Lebens. [. . .] Denn Normalität, Gleichmacherei bedeutet im geistigen Leben Stillstand, Starrheit, Tod, – Individualität, Differenzierung aber Entwickelung, Leben.“299 Die Formel ‚Stirner und Nietzsche‘ fungierte diskursiv als Signatur dieses Individualismus und markierte so im zeitgenössischen Kontext ein semantisches Syndrom, dessen detaillierte Ausgestaltung sowohl bezüglich der Interpretation als auch bezüglich des sozialphänomenologischen Referenzbereiches umstritten blieb – und darüber hinaus auch unterschiedliche Bewertungen zuließ; ähnlich, wie dies bereits beim Thema ‚Anarchismus‘ deutlich wurde, z. B. mit Blick auf das Verhältnis der Individualismen Stirners und Tailhades und deren Zusammenhang mit tat-propagandistischen Gewaltakten.300 Die Formel ‚Stirner und Nietzsche‘ war daher nicht nur prägend für die Streitigkeiten um Stirner und um Nietzsche und ihre ‚richtigen‘ Interpretationen, sondern sie markierte insbesondere auch ein Schlachtfeld für den Kampf um, für und gegen den modernen Individualismus, der, fußend auf der von Nietzsche und Stirner begründeten ‚Souveränität des Individuums‘, das ‚Recht der Persönlichkeit‘ über die überkommenen sittlichen Normen stellt. Zu den in diesem diskursiven Zusammenhang als symptomatisch wahrgenommenen Evidenzen gehörten einerseits typischerweise die künstlerischen Provokationen, distinktionsbedachten Selbstdarstellungen und sozialexperimentell-avantgardistischen Lebensformen der bohemischen Subkultur, wie dies beispielsweise in dem eingangs zitierten Befund Anselm Ruests über die Errungenschaften und sonstigen zeitgeistigen Ausdrucksformen des Individualismus im Zuge und Gefolge der ‚Stirner-Nietzsche-Bewegung‘ deutlich wird. Andererseits, und auch darauf weist Ruest hin, indem er die Frauenbewegung begrüßt, die das Recht auch der weiblichen Persönlichkeit im Aufstand gegen die ‚tausendjährige Knechtschaft des Weibes‘ geltend macht, zählt zu den Evidenzen des mit der Formel ‚Stirner und Nietzsche‘ benannten Individualismus auch die Infragestellung der stereotypisierten Geschlechterordnung und der damit beglaubigten, geschlechtsspezifischen Ungleichverteilung von sozialen Teilhabe- und Selbstverwirklichungs-Chancen. Auch Arthur Dix spricht unter dem Stichwort eines vom „weibliche[n] Geschlecht“ entwickelten „neuen Sonder-Egoismus“301 die um die Jahrhundertwende einen ersten organisatorischen und publizistischen Höhepunkt erreichende Frauenbewegung an.302 Und Hans Brennert bringt im gleichen 299

Wille (1894), S. 60 f. Vgl. auch Joël (1898), S. 237. 301 Dix (1899b), S. 1. 302 Neben der Arbeiter- und der Jugendbewegung wurde die Frauenbewegung zeitgenössisch als eine der großen Angriffe auf die soziale und kulturelle Ordnung 300

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Band in seinem Beitrag Vom Egoismus in der Liebe die emanzipatorische Forderung, daß „die Frau [. . .] künftig, gleich dem Manne, ihrem Liebestrieb egoistisch folgen dürfen“ soll,303 in expliziten Zusammenhang mit dem von Stirner ethisch postulierten Ideal, dem „Schöpferruf nach dem neuen Menschen, dem ‚Einzigen‘“.304 bb) Hans Brennert Hans Brennert zeigt zunächst mit anthropologisch-evolutionistischen Argumenten und an ethnologischen Evidenzen, daß der „Egoismus“ die – von den in Stirners Sinne „‚alten‘, ‚gesellschaftlichen‘ Menschen“ noch uneingestandene – „Quelle des Liebestriebes“ bei beiden Geschlechtern ist,305 daß es aber durch die bisherige Menschheitsgeschichte hindurch dem Manne vorbehalten war, seinen Egoismus auszuleben, und zwar auf Kosten der Frau (vgl. S. 295 ff., bes. S. 300). Als passivem Objekt des männlichen Egoismus, der dieses im Laufe der Kulturentwicklung verschiedentlich idealisierte, blieb der Frau die Entfaltung ihres eigenen Egoismus und ihrer eigenen Individualität versagt: „Je egoistischer sich der Liebestrieb des Mannes entwickelt, desto unpersönlicher wurde das Weib, desto mehr blieb es in seiner geistigen Entwicklung und in seinen geistigen Bedürfnissen zurück“ (S. 297). Die „geistigen Gesichtszüge des Mannes vertiefen sich und des Wilhelminismus wahrgenommen. Von 1890 bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges waren über eine halbe Million Frauen in Vereinen organisiert. Bereits 1865 war der ‚Allgemeine Deutsche Frauenverein‘ gegründet worden, dessen Organ Neue Bahnen ebenfalls seitdem erschien. In den neunziger Jahren wurde eine größere Anzahl von Zeitschriften gegründet, die das programmatische Spektrum der zu dieser Zeit sich verstärkt politisch und weltanschaulich ausdifferenzierenden Frauenbewegung widerspiegelten. 1894 wurde unter Ausschluß sozialistischer Arbeiterinnenvereine der ‚Bund Deutscher Frauenvereine‘ (BDF) als Dachorganisation der bürgerlichen Frauenbewegung gegründet, der ab 1899 das Centralblatt des Bundes Deutscher Frauenvereine herausgab, neben der seit 1893 erscheinenden Zeitschrift Die Frau ein gemäßigtes Blatt, dem beispielsweise auf bürgerlich-radikaler Seite seit 1895 bzw. 1893 Die Frauenbewegung und Frauenwohl, und auf proletarischer Seite seit 1891 Die Gleichheit (vormals Die Arbeiterin), redigiert von Clara Zetkin, gegenüberstand. Ruests Beobachtung aus dem Stirner-Jahr 1906 war 1904 unmittelbar der Internationale Frauen-Kongreß in Berlin vorausgegangen, und 1899, als Dix auf den Feminismus rekurrierte, fand der Internationale Frauen-Kongreß in London statt, zuvor, 1893, in Chicago. Die deutsche Frauenbewegung stand zu dieser Zeit an Mitgliederstärke an dritter Stelle hinter derjenigen in England und den USA. Vgl. Frederiksen (1981a), S. 5 f., 12 ff., 18 f., 36 ff.; vgl. auch Aschheim (1996), S. 86 ff. 303 Brennert (1899), S. 299. 304 Brennert (1899), S. 293, vgl. S. 294 f., 301 f. 305 Brennert (1899), S. 294 f. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben in diesem und den folgenden Absätzen beziehen sich ebenfalls auf Brennert (1899).

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differenzieren sich von Jahrhundert zu Jahrhundert, während die der Frau typisch bleiben – eng gebunden blieb des Weibes Glück. Auf Seiten des Frauengeschlechts also ein durch die weibliche Schwäche begünstigtes unfreiwilliges Verharren im alten Gesichtskreise, aus dem egoistisch herauszutreten dem weiblichen Liebestriebe nicht gestattet ist. Auf Seiten des Männergeschlechts aber ein egoistisches Schwelgen im Frauenwert, immer aber die Tendenz die Frau zu beherrschen; jede altruistische Richtung des männlichen Liebestriebes – Astartedienst, Hetärenkult, Minnedienst, Wertherzeit – dann aber in krankhaften Zeitströmungen endend, weil die Hingabe an den absichtlich niedergehaltenen Geist des Frauengeschlechts notwendig zu schmählicher Niederlage des Mannes führen mußte.“ (S. 298 f.) Die Unterdrückung des weiblichen Egoismus und der weiblichen Individualität schlägt so auf den Unterdrücker zurück und die „heutige Stellung der Geschlechter zu einander“ wird für beide zur Entwicklungsschranke (S. 299). Dieses Fundament der ‚alten Welt‘, die Asymmetrie des Geschlechterverhältnisses, die es den Männern erlaubte, ihren Egoismus einseitig an den Frauen auszuleben, während diesen „ihre Liebe [. . .] nicht gehörte, weil sie nicht – egoistisch lieben durften“, wird aber gegenwärtig erschüttert (S. 300). „[T]ausend zarte Frauenhände rütteln heut schon an diesen Grundvesten, so daß sie bis obenhin erbeben, weil sie vom Alter angenagt sind und besonders, weil sie die Fehler ihrer Struktur tragen. Nicht nur auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet [. . .] will die Frau eine neue Stellung erobern. Tausend helle Frauenstimmen erheben sich, die nach einem neuen Tempel der Lebensgemeinschaft mit dem Manne begehren.“ (S. 299) Die Frauen streifen die Fesseln der Knechtschaft von sich ab, befreien sich aus der ideologisch verordneten Passivität, entwickeln ihre Individualität und vertreten aktiv deren Rechte. Man kann darum sehen, „daß die typischen geistigen Gesichtszüge der Frau in unseren Tagen vor einer neuen Vertiefung und Differenzierung stehen, daß die Frau aus jahrtausendelangem Zauberschlaf aufwachte und jetzt selbst den Dornenhag zerteilen wird, weil kein Prinz kommt, der sie befreie: Es sah ja auch zu holdselig aus, als sie so zwischen den Rosen lag und schlummerte.“ (S. 299)306 306 „Es ist selbstverständlich nicht zu leugnen, daß auch schon vor dem die undifferenzierte Frau egoistisch den geliebten Mann zu erobern gesucht hat. Aber mit welchen Mitteln? Mit den Mitteln, mittelst derer sie ihre Reize den Sinnen des Mannes näher brachte. Juwelen und schimmernde Perlen mußten ihre rosige Zartheit noch rosiger und zarter erscheinen lassen, rauschende Seide und knisternde Gewebe mußten die Nerven des Mannes erregen, wenn sie im Schwarme auffallen sollte. Jeder Gegenstand, den sie in Händen hielt, sei es ein Fächer, eine Blume, wußte sie klugem Liebesspiel dienstbar zu machen und am Anfang der Menschheitsgeschichte steht das Weib, welches den Mann ‚verführt‘.“ (Brennert (1899), S. 299 f. – H. i. O.).

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Diese Selbstbefreiungstat läutet als emanzipatorische Neuordnung des Geschlechterverhältnisses zugleich eine höhere Stufe der Menschheitsentwicklung insgesamt ein, in der die Liebe und die in ihr mögliche und durch sie bewirkte individuelle Erfüllung einen höheren Stellenwert haben wird als in der ‚alten Welt‘: „Die neuen Menschen, Mann und Weib, werden ihre Liebe viel zäher zu verteidigen wissen, als es die ‚alten‘ Menschen thaten, eben weil sie ihre Liebe Beide als ihr Eigentum empfinden, weil sie Beide ‚egoistisch‘ lieben.“ (S. 301) Die durch die weibliche Emanzipation erkämpfte „neue Welt, die des ‚Einzigen‘ – um Max Stirners Wort auf sie anzuwenden“ (S. 302), wird in Liebesdingen geprägt sein von der „wahre[n] Ehe“ (S. 302), der gleichberechtigten Partnerschaft selbstbestimmter Individuen, die einander in ihren jeweiligen Individualitäten achten und affirmieren. In diesem „Bunde“ werden „Liebe und Egoismus zu höherer Einheit vermählt“, sie werden „wie zwei verschiedene Pole sein, die in mächtiger Wechselwirkung stehen, die einander anziehen, zwischen denen die neue Welt der wahren Liebe kreist, die Pole, die den Strom menschlichen Glükkes immer mehr und mehr stärken, zwischen denen die Funken menschlichen Geistes lebenweckend herüber-hinüber schlagen.“ (S. 302) Dies wird in Stirnerscher Dialektik durch die individualistische Emanzipation der Frau bewirkt: „Über das ungeistige Zeitalter der ‚Hörigkeit‘ hinaus, durch das rein geistige Zeitalter der heutigen Frauenbewegung hindurch wird die Frau in das egoistische Zeitalter hinüberfinden, wo auch sie ihrem Liebestrieb leibhaftig persönlich egoistisch nachgeben darf, wo ihre Liebe nur ihr gehört.“ (S. 302 – H. i. O.)307 Denn wenn, um es „im Stirnerstyl auszudrükken“ (S. 294), schließlich „jedes Weib seine Liebe erst sein Eigentum wird nennen können, innerlich und äußerlich frei wird lieben dürfen, also auch egoistisch seinen Liebestrieb äußern wird, dann wird sich die Liebeswahl nach anderen Gesetzen vollziehen. Beide Teile werden berechtigt sein, einander zu messen, einander zu prüfen. Der Mann wird nicht mehr ein Weib ‚nehmen‘. Mann und Weib werden in noch höherem Maße zu einander eigenen müssen, weil das Weib einen höheren eigenen Wert als bisher gegen den Wert des Mannes wird einzutauschen in der Lage sein. Sie wird ihren Wert besser erkennen können, aber auch besser bewerten müssen. [. . .] Die 307 Im „Ein Menschenleben“ betitelten Abschnitt seines Einzigen (Stirner, EE, S. 9, vgl. S. 9 ff.) entwirft Stirner ein ontogenetisches – danach phylogenetisch auf die Menschheitsgeschichte, von den „Menschen der alten und neuen Zeit“ (S. 15) bis zum ‚Einzigen‘, übertragenes – Abfolge-Schema von „ungeistige[n]“, „geistige[n]“ und „egoistische[n] Interessen“, die Stirner allerdings noch androzentrisch dem „Knaben“, „Jüngling“ und „Mann“ zuordnet (S. 14 – H. i. O.). Eine andere Variante der Abfolge im Selbst- und Weltverhältnis lautet „realistisch“, „idealistisch“, „egoistisch[]“, und die ersten beiden Altersstufen bezeichnet Stirner auch geschlechtsneutral als „Kind“ (S. 15) und „junge[r] Mensch“ (S. 14), die dritte dafür als „ganze[r] Kerl[]“ (S. 13).

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Zeiten, wo reine Standes- und Geldheiraten möglich waren, werden in Nacht versinken.“ (S. 300 – H. i. O.)308 Brennerts Konzeption zukünftiger Je-Einzigkeit der ‚neuen Menschen‘ betont den in der grammatischen Neutralität angezeigten übergeschlechtlichen Charakter des modernen Individuums: was der Individualismus für es fordert, gilt unabhängig davon, ob es sich im konkreten Falle um ein männliches oder um ein weibliches Individuum handelt.309 In dieser radikalen Konsequenz ist der Individualismus per se ein Angriff auf die bürgerliche Respektabilität: nicht nur, weil er nicht davor zurückschreckt, individuelle Selbstverwirklichung prinzipiell auch in Fragen der Sexualität zu gestatten, sondern auch und vor allem, weil er jenseits der traditionellen asymmetrischen Geschlechterstereotypie Frauen und Männer gleichermaßen als Individuen behandelt, die sich nicht primär aufgrund ihres Geschlechts, sondern aufgrund ihrer Individualitäten voneinander unterscheiden. Insofern wird das natürliche Geschlecht (‚sex‘) als ein Aspekt der jeweiligen Individualität betrachtet – so wie z. B. Augen- oder Haarfarbe und andere natürliche Merkmale –, aber nicht als ein Unterschied, der in der gesellschaftlichen Zuteilung von individuellen Selbstverwirklichungs- und sozialen Teilhabechancen einen Unterschied macht (‚gender‘) – bzw. machen sollte. Das so verstandene individualistische Individuum bzw. der dieses propagierende Individualismus stellt die respektable Ordnung der Geschlechter und die 308 Durch die individualistische Selektion werden Liebe, Fortpflanzung und damit letztlich auch „Rassemischung und Zuchtwahl“ (Brennert (1899), S. 295), also das zukünftige Schicksal der Einzelnen wie der Menschheit, veredelt. Der mit der ‚Zuchtwahl‘ angesprochene eugenische Aspekt spielte insbesondere bei nietzscheanischen Feministinnen der Jahrhundertwende wie z. B. Helene Stöcker eine erhebliche Rolle, wobei umgekehrt auch in der Frauenbewegung die Bedeutung und Einschätzung Nietzsches umstritten war, sowohl wegen jener eugenischen Implikationen als auch wegen dessen offen misogyner und antifeministischer Äußerungen – auf die sich beispielsweise auch der Stirnerianer Brennert kritisch bezieht (vgl. Brennert (1899), S. 299) –, denen wiederum die tiefere, individualistisch-emanzipatorische Schicht entgegengestellt werden konnte, die ihrerseits von konservativen Frauenrechtlerinnen als Aufruf zu sexueller Zügellosigkeit perhorresziert wurde (vgl. Aschheim (1996), S. 86 ff., bes. S. 92 f., vgl. auch S. 61 ff.). 309 Vgl. zum Konzept der ‚Übergeschlechtlichkeit‘ und zu den anschließenden Überlegungen Gölz (2002), bes. S. 5 ff., 14 ff., 21 ff., 69 ff., dort mit Blick auf das Individualidentitätsangebot der ‚Dandy Woman‘ bei Oscar Wilde. Hieran wird auch exemplarisch deutlich, daß das Durchkreuzen geschlechtsstereotypisierter Rollenschemata in derartigen Individualitätskonzeptionen einerseits die Übergeschlechtlichkeit des modernen Individuums artikuliert, das eben weder auf eine männliche, noch auf eine weibliche Rolle zu reduzieren ist, und daß andererseits ein solches ‚gender-crossing‘ auch verwendet wird, um individualistische Distinktionsgewinne zu erzielen und Individualität zu kommunizieren und im Sinne einer souveränen Rekombination vorhandener Merkmale zu entwerfen. Vgl. zu letzterem auch Hodkinson (2002), S. 48 ff.

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diese beglaubigende Semantik – die diskursiven Naturalisierungen der Geschlechterdifferenz, die geschlechtsspezifischen Rollen- und Identitätszuschreibungen wie die damit verbundenen Praktiken – die, wie Brennert hervorhebt, dem Manne die Herrschaft über die Frau sicherten und die Entwicklung weiblicher Individualität unterdrückten, radikal in Frage. cc) Helene Stöcker Nicht explizit auf Stirner, aber auf dessen Wiederentdecker Mackay und seinen Individualismus beruft sich in diesem Sinne Helene Stöcker310, die „prominenteste und wirkungsmächtigste nietzscheanische Feministin Deutschlands“,311 in einer bereits 1893 in der Freien Bühne publizierten ‚Skizze‘ über Die moderne Frau. Stöcker, die mit ihren Forderungen zur Revolutionierung der herrschenden Sexualmoral und zur Überwindung der geschlechtsspezifischen, einengenden Rollenzuweisung an die Frauen in der bürgerlichen Gesellschaft zum radikalen Flügel innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung gehörte – und dementsprechend bei deren konservativeren Vertreterinnen aneckte –,312 entwirft hier ihre Titelfigur als gebildete, autonom über ihre sozialen Beziehungen entscheidende, urbane Individualistin, die „frei und unabhängig mitten im Herzen der Weltstadt lebt“.313 Diese „moderne Frau“ ist „meist unverheiratet“ (S. 152 f.), sie ist belesen, philosophisch und politisch informiert, hat sich u. a. auch „mit Nietzsche [. . .] beschäftigt“, und sie teilt „John Henry Mackays Individualismus“ (S. 154). Sie ist berufstätig, weil sie weiß, daß „die pekuniäre Unabhängigkeit [. . .] die erste Vorbedingung zu jeder Art von Freiheit“ ist, sie hat ein „stark bewußtes Individualitätsgefühl“, wozu auch gehört, daß sie „bereits zu einem wohligen Gefühl ihrer Weib-Vorzüge gekommen“ ist (S. 154). „Dazu das 310

1869–1943. Aschheim (1996), S. 90, vgl. S. 86 ff. 312 Vgl. Aschheim (1996), S. 89 f.; Frederiksen (1981a), S. 8, 14 f.; (1981b), S. 495. – Stöcker gehörte zu den wichtigsten Aktivistinnen des von ihr 1905 mitgegründeten ‚Bundes für Mutterschutz‘, der sich für die Verbesserung der gesellschaftlichen Situation von – insbesondere: unverheirateten – Müttern einsetzte. Wegen seines von der Sexualreformerin Stöcker vorangetriebenen Engagements etwa für die staatliche und moralische Anerkennung nichtehelicher Lebensgemeinschaften, für die rechtliche und wirtschaftliche Unterstützung lediger Mütter, für den leichteren Zugang zu Verhütungsmitteln und für die Legalisierung der Abtreibung lehnte der konservativere ‚Bund deutscher Frauenvereine‘ (BDF) die Aufnahme des ‚Bundes für Mutterschutz‘ ab und verbot nach 1909 BDF-Angehörigen die Mitgliedschaft in Stöckers Organisation. Vgl. Aschheim (1996), S. 91 f.; Frederiksen (1981a), S. 22; (1981b), S. 495 f. 313 Stöcker (1893), S. 156. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben in diesem und den folgenden Absätzen beziehen sich ebenfalls auf Stöcker (1893). 311

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Gefühl ihres Selbstmenschentums – ihr Zukunftsgefühl, da sie noch etwas Seltenes, Alleinstehendes ist, das in keine der Kategorien mehr paßt, das noch ganz die Wonne des Individuums empfinden darf. Und endlich die große Sicherheit dem Manne gegenüber: sie steht ihm nicht als Verächterin oder Rächerin gegenüber, sondern mit hellen, offenen Augen und wachem Herzen.“ (S. 154) Aber es käme ihr nicht mehr in den Sinn, sich ihm unterzuordnen oder bloß auch noch „in ehrfürchtigem Schweigen [zu] lauschen, wenn kluge Männer sprechen“ (S. 157). Denn sie beansprucht im vollen Bewußtsein ihres Wertes als Individuum beides: „ihr Recht auf Freiheit und ihr Recht auf Liebe!“ (S. 154 – H. i. O.) Und daß sie – ganz im Sinne des Mackayschen Individualismus, aber auch in Übereinstimmung mit Brennerts stirnerianischen Ausführungen zum Egoismus der sich emanzipierenden Frau, die nicht auf den befreienden Prinzenkuß wartet, sondern ihre Liebe zu ihrem Eigentum macht – sich beides aktiv nehmen muß, ist ihr bewußt: „Sie weiß es jetzt, daß jeder, der frei werden will, es nur durch sich selber werden kann“ (S. 158). Stöckers individualistische Figur der ‚modernen Frau‘ erscheint hiermit als eine Mischung aus ethischem Postulat und unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen bereits existierender Avantgardistin, aus ‚Neuer Frau‘ bzw. ‚new woman‘, ‚Überfrau‘ – der weiblichen Spezifikation des Nietzscheschen Übermenschen – und ‚Unzeitgemäßer‘.314 Denn „ich weiß es ganz genau“, schreibt Stöcker im ausgehenden 19. Jahrhundert, „die moderne Frau ist etwas, das noch nicht in dieses Jahrhundert hineingehört – für die es noch keinen Namen und – keinen Mann gibt, keine Stellung in der Gesellschaft; denn ihrem ganzen, innersten Wesen nach gehört sie in ein Zeitalter der Zukunft – kurz, sie hat sich auf jeden Fall verfrüht.“ (S. 152) Und sie betont den avantgardistischen Gedanken nochmals, indem sie die persönliche Emphase jener Formulierung einige Seiten weiter wiederholt: Allen Einwänden zum Trotz, „ich weiß es ganz genau: Alles Heil, das eine sehnsüchtig harrende Zeit von einem zukünftigen Erlöser erwartet, muß vom Weib ausgehen – dem Weib, das sich allen Männern zum Trotz – aus eigner Kraft zu einem Menschen durchgerungen!“ (S. 157) Dies ist wiederum das auch bei Brennert aufgenommene avantgardistische Motiv der Individualistin, die, indem sie als Feministin für die Emanzipation der Frau kämpft, zugleich die Menschheit als ganze einer höheren und glücklicheren Stufe der Kulturentwicklung zuführt (vgl. S. 157 f.). Diese avantgardistische Individualistin ist dabei auf sich und ihre „gleichfühlenden, gleichstrebenden Genossinnen“ gestellt, weil „der Mann, den sie“, die Unzeitgemäße, in sexueller und partnerschaftlicher Hinsicht wie auch als Kampfgenossen „brauchen könnte, noch nicht geboren ist – wenig314

Vgl. Aschheim (1996), S. 88 f.

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stens hat er sich ihr nie auf irgendeine Weise verraten“ (S. 156). Stattdessen muß die moderne Frau in dem von ihr „glühend begehrte[n] Leben im Verkehr mit geistig ebenbürtigen Menschen [. . .] eine merkwürdige Erfahrung“ machen. „Bisher hat sie immer die Frau im allgemeinen für das konservative Element gehalten – aber nun muß sie lernen, daß der Mann in bezug auf die Frau noch viel konservativer ist, daß er in Hirn und Nerven nicht nur die Tradition seiner Großeltern, sondern seiner Urgroßeltern hat, und das selbst die ‚Neuen, Freien‘ von der Frau nur die Dirne und die Hausfrau im ältesten, spießbürgerlichsten Sinne kennen – und darum ein etwas – hm – verdutztes Gesicht machen, wenn sie ernsthaft mit ihnen über die Kreutzersonate reden will. Sie hat die ernüchternde Erfahrung gemacht, daß das Moderne, Zukunftsfrohe den Frauen gegenüber noch graueste Theorie ist, und daß auch die Allermodernsten in der Praxis die ärgsten Philister sind, die ihre eigenen Ideen nicht ernst nehmen.“ (S. 156 f.) Als Beispiel für solch einen Fall eines – eben auch nach Maßgabe des um die Jahrhundertwende Denk- und Artikulierbaren – nur vermeintlich progressiven männlichen Individualisten sei an die Ausführungen des Anarchisten Mühsam erinnert, der nicht nur in ostentativ philister-feindlicher Manier die „Huren“ zur einzigen weiblichen Ausprägung einer revolutionären Boheme stilisiert,315 sondern auch das Scheitern der ‚Neuen Gemeinschaft‘ der Brüder Hart u. a. auf ein zu weitgehendes Mitspracherecht von Frauen zurückführt.316 Die profiliert feministische Variante eines avantgardistischen Individualismus macht deutlich und gerade auch in ihrer Kritik am androzentrisch verkürzten Individualismus geltend, wie sehr die individualistische Infragestellung der als repressive, naturwidrige und nivellierende Normalität gebrandmarkten und bezüglich ihrer ‚minderwertigen‘ Antriebe decouvrierten konventionalistischen Moral des Philisters oder Bourgeois generell auch den Angriff auf die Männlichkeits- und Weiblichkeitsideale bürgerlicher Respektabilität und auf die diesen entsprechenden geschlechtsspezifischen Rollen- und Identitätszuweisungen implizierte. Deren konventionalistischer bzw. ‚normalistischer‘ Leitunterscheidung ‚normal vs. abnorm‘ war auf der ethisch positiv bewerteten Seite der ‚Normalität‘ die – kulturgeschichtlich allerdings ältere und noch beharrlichere – stereotypisiert asymmetrische Un315

Mühsam (1906), S. 25. „Bedenkt man nun aber, daß die Weiber in der Regel schon an sich nicht weiter über den Kochtopf hinausblicken können, so mache man sich den Unfug deutlich, der darin besteht, Frauen, die nur in blindem Begattungseifer ihren Männern folgen, wohin sie geführt werden – denn eigenmächtig denkende und handelnde Frauen waren wie überall im Leben auch in der N. G. eine Seltenheit – beratend an den unendlich wichtigen Fragen teilnehmen zu lassen, die hier verhandelt wurden. [. . .] Grosse Werke können nur von Männern erdacht, nur von Männern betrieben und nur von Männern bewirkt werden“ (Mühsam (1904), S. 17 f.). 316

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terscheidung von ‚Mann‘ und ‚Frau‘ eingeschrieben. Was den ‚normalen‘ Männlichkeits- bzw. Weiblichkeitsstereotypen und ihrer asymmetrischen Komplementarität nicht entsprach, war ‚abnorm‘, damit also auch irrespektabel und folglich durch Achtungsentzug zu sanktionieren. Abnorm war die Frau, die gesellschaftliche Gleichstellung gegenüber dem Manne forderte – gleiche politische und kulturelle Teilhaberechte und individuelle Freiheitsund Selbstverwirklichungschancen –, weil sie dadurch die naturalisierte, asymmetrische Geschlechterordnung in Frage stellte, einerseits durch die Forderungen selbst, andererseits dadurch, daß sie diese – ganz ‚unweiblich‘-aktiv – überhaupt erhob. Abnorm war aber eben auch der Mann, der seinesgleichen liebt und in diesem Begehren das ethische Ideal männlicher Männlichkeit verletzte. Der Homosexuelle ist nicht nur aufgrund seiner sexuellen ‚Perversität‘ abnorm – so wie beispielsweise auch der Sadist, Masochist oder Fetischist jeglicher Couleur –, sondern auch, weil die in seinem Begehren sich ausdrückende psychophysische Effemination das Bild des ‚weiblichen Mannes‘ evoziert – ähnlich wie das aktive Engagement der Feministin dasjenige einer ‚männlichen Frau‘ –, das die naturalisierte genderOrdnung verkehrt und damit die Basis der Respektabilitäts-Moral angreift. ‚Normal‘ ist der ‚männliche Mann‘, das diesem untergeordnete ‚weibliche Weib‘, die Asymmetrie dieser Ordnung selbst und die dieser entsprechenden stereotypisierten Unterscheidungen (‚aktiv-passiv‘ usw.). ‚Abnorm‘ ist alles, was diese naturalisierte Ordnung verkehrt und die ihr entsprechenden Unterscheidungen vermischt, durchkreuzt, relativiert. Der Individualismus mußte somit einerseits als Angriff auf diese Ordnung als Ganze erscheinen, weil er deren Leitunterscheidung ‚normal vs. abnorm‘ verwarf; andererseits konnte jede ‚Abnormität‘ im Sinne dieser Unterscheidung als individualistisches Phänomen erscheinen, weil in ihr ein Individuum seine Individualität trotz Abweichung von und in Mißachtung der Norm verwirklicht, also sich selbst über die sittliche Norm stellt. Von einem individualistischen Individuum, gleich welchen Geschlechts und welcher sexuellen Orientierung, mußte man also erwarten, daß es auch auf die geschlechtsspezifischen Rollenzuschreibungen als Kernelement der sittlichen Ordnung keine Rücksicht nimmt, wenn es sich dadurch in der Entfaltung seiner Individualität eingeschränkt sieht, gerade wenn diese Individualität nicht den normierten Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit entspricht und u. U. sogar ‚pervers‘ ist. Dementsprechend gehörten neben der Frauenbewegung auch die Subkultur und die Emanzipationsbestrebungen von Homosexuellen zum Spektrum der Evidenzen eines Individualismus, der gerade wegen solcher Ausdrucksformen, je nach Standpunkt, begrüßt und gefeiert oder verdammt und gefürchtet werden konnte. Wie im letztgenannten Sinne der Angriff auf die Männlichkeit des

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Mannes und auf die dieser polar korrespondierende Weiblichkeit der Frau als Zersetzung der sittlichen Ordnung und Zeichen gesellschaftlichen Verfalls durch den auf Stirner und Nietzsche sich berufenden Individualismus gewertet werden konnte, zeigt sich beispielhaft an Eduard von Hartmanns317 Beiträgen über Stirners Verherrlichung des Egoismus und vor allem über Nietzsches ‚neue Moral‘.318 dd) Eduard von Hartmann Bereits Hartmanns Wortwahl und Formulierungen, mit denen er die zeitgenössischen Anhänger Stirners und Nietzsches charakterisiert, können als homophobe Anspielungen verstanden werden, auch wenn sich dies nicht zweifelsfrei entscheiden läßt: „Nietzsches Schriften“, bemerkt Hartmann in Nietzsches ‚neue Moral‘, haben „in gewissen Kreisen warme Bewunderer gefunden“.319 Und in Stirners Verherrlichung des Egoismus meint Hartmann, daß sich, durch seinen eigenen Hinweis auf die Bedeutung Stirners für (und gegenüber) Nietzsche in jenem 1891er Artikel, „die Anhänger Nietzsches [. . .] veranlasst fühlten, auf Stirner zurückzugreifen“, so daß sich gegenwärtig nicht nur „ein Zweig der Anarchisten auf Stirner“ beruft, sondern auch „eine besondere Zeitschrift, ‚Der Eigene‘“.320 Im Verlaufe der Argumentation gegen „Nietzsches ‚neue Moral‘“ des – von Stirner vorge317

1842–1906. Im Vorwort zu seinen Ethischen Studien, in denen er die beiden vormaligen Zeitschriften-Artikel wiederveröffentlichte, schickt er aus „Berlin-Lichterfelde im Januar 1898“ voraus (Hartmann (1898), S. V – H. i. O.), daß er hierin „die Lehren zweier Schriftsteller [behandelt], die unter unserer Jugend einen gewissen Einfluss gewonnen haben und zeitweilig sozusagen Mode geworden sind. Dieser Umstand mag zur Entschuldigung gelten für solche Leser, die eine so ausführliche Erörterung durch den Gegenstand selbst“ – nämlich durch jene zwei schon längst (und wiederholt) durch Hartmann, 1868 in seiner Philosophie des Unbewussten, 1878 in seiner Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins und eben 1891 in jenem Artikel über Nietzsches ‚neue Moral‘ überwundenen Schriftsteller (vgl. Hartmann (1897), S. 70) – „nicht gerechtfertigt finden.“ (Hartmann (1898), S. III f.). 319 Hartmann (1891), S. 61. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich in diesem Unterabschnitt ebenfalls auf Hartmann (1891). 320 Hartmann (1897), S. 70. – Stümke zufolge war der umgangsprachliche Ausdruck „Warmer“ zur abwertend-spöttischen Bezeichnung männlicher Homosexueller im Wilhelminischen Kaiserreich schon in Gebrauch (vgl. Stümke (1989), S. 28). – Nach Auskunft Hans G. Helms’ trat Adolf Brands Der Eigene, „seit Beginn [1896] ein Organ der Homosexuellen, [. . .] ab 1898 ganz offen“ als solches auf (Helms (1966), S. 533). Hartmanns homophobem Gespür, das er im Folgenden in der Auseinandersetzung mit Nietzsche beweist, ist zuzutrauen, schon vor 1898 diese anfangs noch „cachiert[e]“ Tendenz des Eigenen (Helms (1966), S. 533) gewittert zu haben, zumal er sich ja, selbst in Berlin-Lichterfelde ansässig, in der Nähe einer Hochburg der homosexuellen Subkultur der Jahrhundertwende befand. 318

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dachten – „souveränen Individualismus“ (S. 48, vgl. S. 60 f.) werden die sexual-denunziatorischen Tendenzen eindeutiger. Hartmann erklärt die Popularität Stirners und Nietzsches im Rahmen einer Modernitätsdiagnose, die einerseits generell jene Popularität in psychopathologischen Begriffen als Ausdruck eines dekadenten Zeitgeistes deutet, wobei zunächst ein syndromatischer Bezug zur von Krafft-Ebing beschriebenen ‚konträren Sexualempfindung‘ suggeriert wird, etwa wenn Hartmann von der ‚Degeneration des Gefühlslebens‘ oder der ‚moral insanity‘ redet:321 „Wir leben in einem Zeitalter der Neurasthenie und der Neurosen, und noch erschreckender als die zunehmende Füllung der Irrenhäuser und Heilanstalten ist die wachsende Degeneration des Gefühlslebens bei den frei Herumlaufenden mit erblicher nervöser Belastung; wie sollte da nicht die Philosophie des moralischen Irreseins (moral insanity) ihr dankbares Publikum finden.“ (S. 63) Andererseits zielt diese Deutung über ihre generellen kulturpessimistischen Implikationen hinaus speziell auf die Denunziation sowohl Nietzsches, auf den das Wort von der ‚Philosophie des moralischen Irreseins‘ gemünzt ist, als auch seiner Verehrer, das ‚dankbare Publikum‘ dieser Philosophie. „So bietet in der That die Gegenwart den Wirkungen Nietzsches einen viel günstiger vorbereiteten Boden dar, als die Zeit vor einem halben Jahrhundert denen Stirners. Andererseits muss Nietzsche einem krankhaft entarteten Geschlechte wahlverwandter erscheinen als der weit philosophischere aber im Vergleich mit ihm gesund zu nennende Stirner.“ (S. 63) Stirner – nicht so sehr seine Anhänger, die ja Hartmann zufolge Stirner regelmäßig mißinterpretieren und ihn und Nietzsche gleichermaßen bewundern – wird also an dieser Stelle explizit ausgespart, um damit kontrastiv die nicht nur philosophische, sondern auch ethische und im Folgenden vor allem auch psychische Minderwertigkeit Nietzsches – und seiner „Verehrer“ (S. 61) – zu unterstreichen. Hartmann schätzt Stirner vor allem dafür, daß er ihn – als den viel originelleren und klareren Autor – gegen Nietzsche ausspielen kann, der „für die Geschichte der Philosophie im allgemeinen bedeutungslos ist“, was, wie Hartmann 1891 noch hoffen darf, „kaum ei321 Vgl. zum Folgenden neben den bereits oben zitierten Passagen aus der Psychopathia sexualis insbesondere Krafft-Ebing (1912), S. 224 ff. („Die konträre Sexualempfindung“), S. 234 („Eviratio und Defeminatio“), S. 256 ff. („Die homosexuale Empfindung als angeborene Erscheinung“), S. 275 f. („Homosexuale oder Urninge“), S. 288 f. („Effeminatio“) und S. 442 f. („Der Ball der Weiberfeinde“). – Krafft-Ebing selbst äußert sich übrigens 1886, im Vorwort zur ersten Auflage seiner Psychopathia sexualis wie folgt: „Was Schopenhauer und nach ihm der Philosoph des Unbewussten, E. v. Hartmann, über sexuelle Verhältnisse philosophieren, ist so fehlerhaft und in seinen Konsequenzen so abgeschmackt, dass [. . .] sowohl die empirische Psychologie als die Metaphysik der sexuellen Seite des menschlichen Daseins ein noch nahezu jungfräulicher wissenschaftlicher Boden sind.“ (Krafft-Ebing (1912), S. III – H. i. O.).

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nem Widerspruche begegnen“ wird (S. 43). „Wer sich an Nietzsches Vexiermasken als an einer neuen und tiefen Weisheit erbaut, sollte [. . .] auf Stirners geniales Meisterwerk zurückgreifen, das in stilistischer Hinsicht hinter Nietzsches Schriften nicht zurücksteht, an philosophischem Gehalt aber sie turmhoch überragt.“ (S. 61) Denn Nietzsches nur „andeutungsweise“ erreichtes philosophisches „Endergebnis [. . .] liefert uns [. . .] keineswegs etwas Neues, sondern war von Max Stirner in seinem Werke ‚Der Einzige und sein Eigentum‘ schon im Jahre 1845 (2. Aufl. 1882) in meisterhafter Form mit einer nichts zu wünschen übrig lassenden Deutlichkeit und Offenheit dargelegt worden.“ (S. 60) Nietzsche freilich ist gerade wegen seiner formalen und inhaltlichen Schwächen der Liebling eines degenerierten, neurasthenischen, frivolen und sensationslüsternen Zeitgeistes. „Dass Nietzsches Schriften in gewissen Kreisen warme Bewunderer gefunden haben, erklärt sich sowohl aus ihrer Form wie aus ihrem Inhalt. In formeller Hinsicht ist seine mehr blendende als erleuchtende Aphoristik, sein Bilderreichtum, seine Jagd nach Paradoxien und Bizarrerien, sein unruhig flackernder, um Widersprüche unbekümmerter Esprit ganz dazu angethan, von der modernen Feuilletonistik nachgeahmt und ausgeschlachtet zu werden, der es niemals Ernst mit der Sache ist, sondern der es nur darauf ankommt, für einen Augenblick den Leser prickelnd zu reizen, um im nächsten Augenblick vergessen zu werden.“ (S. 61) ‚Form und Inhalt‘ von Nietzsches Schriften erklären sich, ebenso wie die ‚warme Bewunderung‘ die sie in ‚gewissen Kreisen‘ finden, aus einer entscheidenden degenerativen Disposition, nämlich aus der „Effemination“ des Mannes (S. 66), die Hartmann an Nietzsche in verschiedenen Hinsichten – die wiederum Krafft-Ebings Homosexuellen-Stereotypen entsprechen – nachweist und kulturkritisch mit dem „Typus der décadence“ identifiziert (S. 67), für den Nietzsche als „effeminierte[r] Mann“ (S. 66) mit seinem Werk – und seinen Bewunderern – steht. Die hierbei von Hartmann zum Einsatz gebrachten Weiblichkeits-Stereotypen offenbaren in diesem Zusammenhang ihre diskursive Doppelfunktion im Hinblick auf die Beglaubigung der androzentrisch-konventionalistischen Respektabilitätsmoral. Einerseits dienen sie dem Nachweis der Effeminiertheit des Mannes Nietzsche, dem sie als Charakterzüge und Wesensmerkmale zugeschrieben werden, und dadurch wird der moralisch negative Wert der Unachtbarkeit und Abnormität mit der pathologisch-widernatürlichen Verwischung der Geschlechterdifferenz identifiziert. Andererseits beglaubigen die Weiblichkeits-Stereotypen die Natürlichkeit und Legitimität der asymmetrisch-komplementären Geschlechterordnung, also der männlichen Herrschaft über die Frau, des weiteren gesellschaftlichen Freiheitsspielraumes des Mannes und der Führungsbedürftigkeit der Frau, die, sofern sie sich dieser Stereotypisierung entsprechend unterordnet, als normal und achtbar gilt. Die Weiblichkeits-

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Stereotypen dienen also zum einen, auf weibliche Individuen appliziert, der Beglaubigung der Asymmetrie von Mann und Frau und der Zuschreibung von Achtbarkeit, zum anderen, auf männliche Individuen appliziert, der Beglaubigung der Asymmetrie von ‚normal‘ und ‚abnorm‘ und der moralischen Entwertung. Die stereotypisiert feminine, und insofern normale Frau ist respektabel, der effeminierte, also abnorme Mann ist irrespektabel, kulturell minderwertig und eine potentielle Gefahr für die sittliche Ordnung – so wie Nietzsche: „Der Schriftsteller Nietzsche ist offenbar weibisch geartet in seiner scharf ausgesprochenen Subjektivität, die alle Objektivität hasst, in seinem Mangel an Gerechtigkeit und Billigkeit des Urteils, in seiner Abneigung gegen Vernunft, logische Gradlinigkeit und Systematik, in seiner gänzlichen Abhängigkeit von Affekten, insbesondere von Liebe und Hass, in seiner Unempfindlichkeit gegen Selbstwiderspruch und seiner Bevorzugung des ja und nein in einem, in dem Ersatz der Überzeugung mit Gründen durch affektvolle Rhetorik und sophistische Überredung, in seinem Pathos des ‚gehobenen Busens‘, in das er überall verfällt, wo er positiv zu werden versucht“ (S. 66). Letzteres betrifft insbesondere seine – wie immer – „überschwänglich[e]“ und in „subjektivester Weise aus seinen persönlichen Gefühlen und Vorurteilen heraus“ erfolgende ‚Konstruktion‘ (S. 36) des „Übermenschen“, die als gewollt positive ‚Lehre‘ aber „kaum mehr“ leistet, als daß sie „Nietzsches Sehnsucht nach dem Übermenschen offenbart“ (S. 37). Auf der anderen Seite ist Nietzsches Negativismus nur eine „weibische Kritik“: Denn diese „entbehrt der ernsten Sachlichkeit und behandelt alles als ein willkommenes Thema zum hämischen Skandalisieren. So stellt sich auch Nietzsches Kritik dar, mag er nun wie eine Salondame mit amüsanten oder chocanten kleinen Malicen und Sottisen aufwarten, oder mag er, wie im ‚Antichrist‘, in das wüste Gebelfer und überschnappende Gekeife eines zeternden Fischweibes verfallen.“ (S. 66) Das spezifisch ‚Effeminierte‘ an Nietzsches Werk in Inhalt und Form ist zugleich das ‚Décadente‘: „Die blonde Bestie, der Verbrechertypus und der Tyrann liefert das erste Ingrediens zu dieser décadence-Mischung, der gespreizte, verschrobene, forschende, affektierte, prickelnde, manierierte, effecthascherische, schauspielerische, unsachliche, jeder Schlichtheit und Klarheit ermangelnde Stil das zweite, die freche Kindesunschuld des jenseits von Gut und Böse stehenden Übermenschen und der idiotische Tiefsinn seiner ahnungsschwangeren Dithyrambik das dritte.“ (S. 67) Zwei Befunde bilden den systematischen Kern dieser sexualpsychopathologischen Entlarvung Nietzsches: zum einen die Misogynie Nietzsches, die Hartmann als projektiven Abwehr-Affekt interpretiert; und zum anderen Nietzsches „Ideal des Übermenschen“ (S. 66), der sich in Hartmanns Augen

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als idealisierte Hypermaskulinität darstellt. Nietzsches „Antipathie gegen das Weib“ und „seine[] echt weibliche[] Sehnsucht nach einem Erlöser“, als den er sich den Übermenschen vorstellt (S. 66), sind demnach die zwei Seiten der einen Medaille, nämlich der Effemination. Denn der nicht-effeminierte Gegentypus, der gesunde, männliche, „[d]er rechte Mann fürchtet sich nicht vor dem Weibe, sondern liebt es und bleibt kraft überlegener Charakterstärke selbstverständlich Herr des Weibes.“ Dagegen ist die „Furcht und Angst des Mannes vor dem Weibe [. . .] allemal Zeichen einer weibischen Schwäche und der Hass auf das weibliche Geschlecht nichts weiter als der Hass gegen die eigene Schwachheit, aber hinausprojiziert in das unschuldige Objekt.“ (S. 66) Diese Entartungserscheinungen beim Manne stellen aber nicht nur eine individuelle Pathologie dar, sondern sind überdies gesellschaftlich in fataler Weise folgenreich. Denn sie konterkarieren die klare, polare Struktur der Geschlechterdifferenz und die dieser entsprechenden Geschlechteridentitäten in widernatürlicher Weise, und sie verursachen damit eine Desorientierung, die das normale und natürliche Geschlechterverhältnis und somit die sittliche Basis der gesellschaftlichen Ordnung gefährdet. „Das Weib sehnt sich in tiefstem Grunde seines Herzens nur darnach, in dem männlichen Manne den Herrn zu finden, der es liebevoll leitet und ihm die Qual der Wahl und die Last verantwortlicher Entscheidung in ernsten Dingen abnimmt. Wenn aber das Weib nur kranke, weibische Schwächlinge vorfindet, so bleibt ihm gar nichts übrig als der Versuch, sich auf eigene Füsse zu stellen; darum müssen die Emanzipationsbestrebungen des weiblichen Geschlechts notwendig in allen Verfallsperioden auftauchen. Der effeminierte Mann ereifert sich dann über einen Frauentypus, an dessen Existenz bloss seine Effemination schuld ist.“ (S. 66) Mit dieser Argumentation schützt sich Hartmann nicht nur vor dem naheliegenden Einwand, daß sein eigener Antifeminismus ebenfalls bloß Ausdruck der Misogynie eines effeminierten Mannes sei, sondern er bestätigt in seiner Kausalerklärung der Frauenbewegung – die ja beispielsweise von Ruest und Dix als Errungenschaft des Individualismus begrüßt wurde – vor allem die asymmetrisch-komplementäre Geschlechterstereotypie, die Männern Aktivität und Frauen Passivität zuordnet. Die natürliche Passivität der Frau fungiert als Deutungsschema noch für die Entstehung der Frauenbewegung, die sich so als bloße Reaktion auf die Effemination des Mannes darstellt. Die eigentlichen Urheber bzw. Verursacher des Feminismus sind Männer, wenn auch entartete: solche wie Nietzsche und seine Verehrer. Insofern gehört der Feminismus für Hartmann mittelbar zwar durchaus in das Spektrum moderner individualistischer Verirrungen, aber um der Rettung der Weiblichkeits-Stereotypie willen verzichtet er mit seiner passivistischen Deutung auf den vollen polemischen Profit, den er aus dem von Autorinnen wie Helene Stöcker oder Hans Brennert herausgearbeiteten, unmittelbar in-

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dividualistischen und spezifisch nietzscheanisch-stirnerianisch auslegbaren Charakter der Frauenbewegung ziehen könnte. Im „Ideal des Übermenschen“ offenbaren sich dementsprechend, als andere Seite der Effemination, Nietzsches homoerotische Neigungen und „seine weibliche Schwäche, die dem Elend des Menschendaseins ohne solchen erkünstelten Trost nicht ruhig ins Angesicht zu sehen vermag. Der Übermensch ist schliesslich nichts weiter als die zur Karikatur übertriebene Männlichkeit nach ihren beiden hervorragendsten Merkmalen: Willensstärke und Intelligenz, also so recht ein Ideal für weibische Naturen, etwa in dem Sinne, wie der Circusathlet zuletzt zum Ideal für dekadente Aristokratinnen wird. Männliche Männer haben ihr Ideal niemals in dem Zerrbild der Mannheit, sondern vielmehr, gleichviel ob mit Recht oder Unrecht, in dem ‚ewig Weiblichen‘ gesucht.“ (S. 66 f.)322 Wo Männer die Männlichkeit anhimmeln und das Weib fürchten, da droht der Untergang. Genau dieses Syndrom liegt aber Nietzsches „Moral des souveränen Individualismus“ (S. 48) mit ihrem Ideal des Übermenschen zu Grunde. Bei genauer Betrachtung idealisiert es, Hartmann zufolge, nur eine insgesamt degenerative bzw. regressive Position, die aus unmännlicher „faktischer Willensschwäche“ in Verbindung mit „überhitzter Phantasiesehnsucht nach übermenschlicher Willensstärke“323 den „schlechtesten Trieben der tierischen Natur im Menschen schmeichelt“ (S. 62 f.). „Der ‚Übermensch‘, zu dem der Mensch sich entwickeln soll, entpuppt sich somit als Unmensch, als die Bestie im Menschen, die nach Abstreifung aller Hüllen der moralischen Instinkte atavistisch wieder hindurchbricht“ (S. 49). In der Entlarvung und Ablehnung des „souveränen Individualismus“ paart sich die zeittypische Furcht vor Degeneration als Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung mit Abwehraffekten gegen Feminismus und Homosexualität als das Andere der respektablen Geschlechterdifferenz und ihrer Geschlechteridentitäten. Mit einem angstbewältigenden Überlegenheitsgestus werden zudem auch Abwehraffekte gegen das rassisch Andere mitge322 Unabhängig von Nietzsches individueller Disposition lassen sich jedenfalls Belege für eine homophile Rezeption der Übermenschen-Figur finden. So berichtet Mosse von einem Männlichkeit anpreisenden und Weiblichkeit verurteilenden Gedicht Adolf Brands – des Herausgebers des Eigenen und Führers der ‚Gemeinschaft der Eigenen‘ – mit dem Titel Der Übermensch (vgl. Mosse (1987), S. 56). 323 Nach diesem Beobachtungsschema erscheint der Übermensch als grandiose Omnipotenzphantasie des Schwachen, der darin seine faktische Machtlosigkeit leugnet. Auch in der späteren ideologiekritischen Entlarvung des Einzigen als eines faschistoiden Mittelständlers wird dieses Schema seiner Grundstruktur nach angewendet, wobei dann die reale Machtlosigkeit nicht als psychosexual weibliche Schwäche, sondern als objektive soziale Ohnmachtposition gedeutet wird, vgl. z. B. Helms (1966), S. 82 ff., 327 ff.; Anders (1947); siehe unten, VIII. 1. c) und d).

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führt, in dem sich die Gefährlichkeit der Degeneration – ähnlich wie im phrenologisch und physiognomisch durchmessenen Verbrecher und Psychopathen – visuell konkretisiert. „Nicht die wohltätigen organisatorischen Wirkungen schätzt Nietzsche an dem Ideal des Tyrannen, sondern den rücksichtslosen Mut des Verbrechens, die ungenierte Äusserung des Zerstörungstriebes, den er selber in That umzusetzen sich zu schwach fühlt, den aber jeder elende Negerdespot besitzt.“ (S. 49) Nietzsches Ideal des Übermenschen, das homophile Zerrbild der Männlichkeit, repäsentiert sich im „Atavismus“ des Degenerierten und des Fremdrassigen (S. 46). Und so wie Nietzsches selbstgeschaffenes Ideal des Übermenschen von seiner Entartung zeugt, so läßt der Nietzsche-Kult Rückschlüsse auf diejenigen zu, die aufgrund analoger narzißtischer Identifikations- und Idealisierungsbedürfnisse Gefallen an Nietzsche – und seinem Übermenschen – finden, ihn vergötzen und ihm nacheifern. „Den undeutschen Bestandteilen eines kranken, weibischen, dekadenten Geschlechts muss natürlich solch ein undeutscher, kranker, weibischer, dekadenter Schriftsteller verwandt, sympathisch und willkommen sein.“ (S. 67 f.)324 Bemerkenswert ist hier vor allem die in der schlagwortartigen Zuspitzung deutlich erkennbare schematische Verknüpfung von nationalistischen und sexuellen Stereotypen im Sinne der bürgerlichen Moral und ihres Respektabilitäts-Ideals,325 die den männlichen Mann als deutsches Ideal sowohl psycho-physischer und sozialer bzw. sittlicher Gesundheit als auch biologischer und moralischer Normalität konstruiert. Der Gegentypus ist ‚undeutsch, krank, weibisch und dekadent‘ und wird als solcher verachtet. Aber diese Verachtung ist, folgt man beispielsweise Willes oben zitierten Ausführungen, kontraphobisch: Der ‚weibische, undeutsche‘ usw. Mann – das projektive Konstrukt des Begehrens seiner Verächter – wird gefürchtet, weil er jenes männlich-deutsche Männlichkeits-Ideal im Zentrum der Respektabilität in Frage stellt. Dieser Unachtbare ist der – in seinen von Hartmann aufgezählten Prädikaten gewissermaßen vollkommene – Außenseiter der bürgerlichen Respektabilität bzw. Normalität, mit dem sich, Werte-umwertend, Bohemiens und Nonkonformisten wie etwa Wille und Przybyszewski solidarisieren oder identifizieren: als Individualisten und moralische ‚Outlaws‘ gegen die Philistrosität bzw. Normalität und im Namen von Freiheit und Individualität. In der Perspektive einer Wissenssoziologie der Individualitätssemantik stellen der unmännliche Mann und die ‚defeminierte‘ Frau – wie sie sozial324 Kurz zuvor verweist Hartmann auf die ‚Kongenialität‘ des undeutschen, effeminierten und dekadenten Nietzsche mit „den Romanen, insbesondere den Franzosen, deren esprit er nachzuahmen sucht.“ (Hartmann (1891), S. 65). 325 Vgl. Mosse (1987).

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phänomenologisch nicht nur in den Typen des oder der Homosexuellen, sondern beispielsweise auch denjenigen des habituell androgynen Dandys, der New Woman oder der Dandy Woman vorliegen326 – als Nonkonformisten und Außenseiter bürgerlicher Respektabilität Individualidentitätsangebote dar, die sich gesellschaftlich inklusiven Identitätsbestimmungen durch eine naturalisierte und hierarchische Geschlechterordnung entziehen. An ihnen verdeutlicht sich die Übergeschlechtlichkeit des modernen Individuums. Ob ein Individuum männlich oder weiblich ist, ändert prinzipiell nichts an seinem Status als Individuum.327 Denn die sozialstrukturelle Exklusionsindividualität bedingt, daß Individuen in ihrer Identität, ihren sozialen Teilhabe- und Selbstverwirklichungschancen nicht gesellschaftlich durch Geburt determiniert werden: weder durch eingeborene Schichtzugehörigkeit, noch durch ihr sozialkonstruktiv zum angeborenen Geschlechtscharakter naturalisiertes (‚gender‘) biologisches Geschlecht (‚sex‘). Der prinzipielle Verfügungsvorbehalt der Funktionssysteme der modernen Gesellschaft gegenüber – deswegen gesamtgesellschaftlich exklusiv bestimmten – Individuen bedingt, daß auch erst im sozialen Kontext der Inklusions-Exklusions-Regelung der jeweiligen Funktionssysteme, in der Regel durch den sozialen Systemtyp der Organisation, entschieden wird, ob und in welcher Weise Geschlecht (‚sex‘) ein Unterschied ist, der einen Unterschied macht (‚gender‘), d. h. mit – im Hinblick auf Identität, Selbstverwirklichungs- und Teilhabechancen – sozial relevanten Erwartungen verbunden wird. Das hat u. a. zur Folge, daß auch soziale Systeme des Typus Interaktion – gleichsam parasitär gegenüber dem funktionalen Differenzierungsprimat der modernen Gesellschaft – ‚gender‘ zum Kriterium von Inklusions-Exklusions-Regelungen machen können, aber eben nur deshalb, weil es keine gesamtgesellschaftlich verbindliche Programmatik gibt. Weil die exklusionsindividuelle Sozialstruktur der modernen, primär funktional differenzierten Gesellschaft generell einen semantischen Kontingenzspielraum zur Verfügung stellt, in dem viele verschiedene Individualidentitätsangebote und damit verbundene Weltdeutungen koexistieren, aber auch gegeneinander in symbolische Kämpfe geführt werden können – mit zum Teil erheblichen Folgen für die Individuen, ohne daß dies aber auf gesamtgesellschaftlicher Ebene Konsequenzen für die funktionale Differenzierungsform hätte –, ist damit zu rechnen, daß auch weiterhin Semantiken beobachtbar sein werden, die die Verteilung sozialer Achtung und Wertschätzung bzw. Ächtung und Entwertung unter Berufung auf naturalistische Stereotypien wie ‚Geschlecht‘, aber auch beispielsweise ‚Rasse‘ organisie326

Vgl. Goelz (2002). Das gilt, zur Verdeutlichung, genauso z. B. für ‚Personen‘ oder ‚Menschen‘, nicht aber für ‚Männer‘ und ‚Frauen‘ oder bestimmte soziale Identitäten bzw. Rollen, die in traditionalen Gesellschaften nur Männern oder nur Frauen vorbehalten sind. 327

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ren. Mit der Beharrlichkeit solcher Semantiken ist nicht nur deswegen zu rechnen, weil sie prinzipiell aufgrund der (sparsamen) sozialstrukturellen Vorgabe der Exklusionsindividualität möglich bleiben, sondern auch, weil eben diese Sozialstruktur bedingt, daß die Zugänge zu gesellschaftlicher Teilhabe an Bildung, Wohlstand, Macht, Prestige usw. und zu individueller Selbstverwirklichung knapp und umkämpft bleiben, so daß immer wieder temporäre Hochkonjunkturen derartiger semantischer Angebote zu erwarten sind, die dann als Exklusionsideologien fungieren. Hinzu kommt die prinzipielle Attraktivität derartiger Ideologien für die Flucht- und Regressionsbedürfnisse von Individuen, die unter dem soziokulturell-evolutiv bedingten, enormen Kränkungs- und Versagungsdruck, der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts als entscheidender Aspekt in die Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft und das Selbstverständnis ihres Individuums eingegangen ist,328 die narzißtischen Refugien von Identifikationsangeboten nutzen, die es ihnen erlauben, sich selbst aufgrund naturalisierter Merkmale als Angehörige bestimmter imaginärer Großgruppen gegenüber bestimmten, anderen Großgruppenkonstrukten zugeordneten Individuen höherwertig und überlegen zu fühlen, letztere systematisch abzuwerten und an diesen ihre destruktiven, sadistischen und sonstigen antisozialen Affekte auszuagieren. Die sozialstrukturelle Durchsetzung der Exklusionsindividualität garantiert also auf semantischer Ebene keineswegs den Siegeszug dessen, was sich unter dem heroischen Banner der Ideen von 1789 normativ als ‚Projekt der Moderne‘329 ausweisen läßt. Aber sie hat zur Folge, daß die Selbstverständlichkeit, mit der Individuen aufgrund naturalisierter Merkmale gesellschaftliche Zugänge und individuelle Selbstverwirklichungschancen verwehrt werden, prinzipiell in Frage und unter Begründungszwang gestellt werden kann. Eine andere Folge ist, daß es soziokulturell möglich geworden ist, den sozial-konstruktiven Charakter von ‚Geschlecht‘ überhaupt erst zu erkennen, was sich in der mittlerweile nicht nur sozialwissenschaftlich geläufigen begrifflichen Unterscheidung von ‚sex‘ und ‚gender‘ ausdrückt. In dieser Sicht wird zudem deutlich, daß in der modernen Gesellschaft zwar die vormoderne Bindung von ‚sex‘ und ‚gender‘ auf der (exklusionsindividuellen) Ebene der Gesamtgesellschaft gelöst ist – analog der vormodernen Bindung von (hochkulturell) schicht- oder (archaisch) stammes-spezifischer Geburt bzw. Familienzugehörigkeit, sozialer Identität und Rollenerwartungen –, daß dies aber nicht bedeutet, daß das Geschlecht von Individuen nicht mehr als sozial relevantes Kriterium verwendet wird, allerdings in sozialkontextuell variierender Weise. 328 329

Siehe oben, II. 2., 3. und 4. Vgl. Habermas (1980).

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Den funktionssystemischen Verfügungsvorbehalt über das exklusionsindividuell definierte Individuum bringen semantische Formen wie ‚Person‘, ‚Subjekt‘, ‚Mensch‘ durch die Abstraktion von geschlechtlichen Merkmalen zum Ausdruck, in der Regel verbunden mit Autonomie-, Freiheits-, und Rechtsansprüchen. ‚Personen‘ usw. sind in diesem Sinne ‚asexuell‘. Der Individualitätsemantik dagegen steht darüber hinaus die Möglichkeit zur Verfügung, geschlechtliche Merkmale in verschiedenen Kombinationen explizit zu berücksichtigen, um dadurch einerseits die gesellschaftliche Indeterminiertheit durch das Geschlecht, andererseits die Individualität von Individuen zu artikulieren. Durch Vermischungen, Kreuzungen und Neukombinationen von geschlechtsspezifischen Stereotypen der überkommenen Geschlechterordnung, die deren normalisierten Erwartungen und Identitätszuschreibungen zuwiderlaufen, wird einerseits die individuelle Unabhängigkeit von der Norm und deren Durchbrechung als Individualität artikuliert, andererseits wird dadurch die Unverbindlichkeit inklusiver Identitäts-Bestimmung qua ‚gender‘ demonstriert. In diesem Sinne ist das moderne Individuum nicht asexuell, sondern ‚suprasexuell‘, also übergeschlechtlich. Und in seiner Suprasexualität kann es beispielsweise ebenso die Gestalt eines männlichen wie eines effeminierten Mannes, einer weiblichen wie einer maskulinierten Frau annehmen. Dabei ist gerade das Vorkommen der traditionell nicht vorgesehenen Kombinationen ein Beleg für die Erosion der Restbestände inklusiver Identitätsbestimmung, die sich an einer gesellschaftlich verbindlichen, moralisch sanktionierten Semantik einer asymmetrischen Geschlechterpolarität und Geschlechterhierarchie orientierte. Wenn daher Hartmann auch bereit ist zuzugestehen, daß sich unter den Befürwortern Nietzsches auch achtbare Männer mit sittlich redlichen Motiven finden,330 so sieht er doch vor allem in dem „Größenwahn“, in der „Zuchtlosigkeit und Umsturzlüsternheit“, die in bedenklicher Weise „in unserer Jugend epidemisch grassieren[]“, den „fruchtbaren und aufnahmebereiten Boden“ für die diese „Verirrungen“ rechtfertigende Lehre Nietzsches, der dadurch geradezu zum ‚Jugendverderber‘ avanciert:331 „Jeder Schulknabe kann sich nun nach Nietzsches Anleitung zum ‚Übermenschen‘ ausbilden, indem er die Moral als überwundenen Standpunkt verhöhnt, seine besseren Instinkte mit Füssen tritt, sich ungeniert den brutalen Trieben seiner schlechteren Natur hingiebt und ein etwaiges Manko in ihrer Stärke durch prahlerische Übertreibung im Gebahren und Thun zu ersetzen sucht. Das Ideal, das Nietzsche ihm theoretisch vorhält, findet er ja in der moder330 „In inhaltlicher Beziehung führt ihm [Nietzsche] das ehrliche, aber in seiner Negativität unfruchtbare Pathos des Kampfes gegen die moralische Heteronomie die Sympathien derer entgegen, die in diesem Kampfe etwas Richtiges fühlen und ahnen“ (Hartmann (1891), S. 62). 331 Letzteres freilich auch ein homophobes Stereotyp.

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nen Litteratur nach den verschiedensten Richtungen hin ästhetisch ausgesponnen; wie sollte er sich bei solcher Übereinstimmung nicht auf der Höhe des Jahrhunderts fühlen und äusserst modern vorkommen!“ (S. 62) Und so ist es ein „geradezu komisches Missverständnis“, wenn sich ausgerechnet die politisch-ideologischen Verfechter des Egalitarismus – des auch aus Hartmanns Sicht ‚kulturwidrigen Nivellements‘ (vgl. S. 45 ff.) –, „Demokraten, Sozialisten, Kommunisten“ usw. sich von Nietzsches „Umsturzfanatismus“ anziehen lassen und sich auf diesen Vertreter des „extremsten Widerspiels aller Demokratie und alles Sozialismus“ berufen, für den im Sinne seines – degenerierten bzw. psychopathischen – ÜbermenschenIdeals „die Masse des Pöbels nur ein Gegenstand des Ekels und gleichgiltiges Material [ist], das der Tyrann bloss braucht, um es unter die Füsse zu treten; er verhöhnt ja gerade alles Mitleid mit den Armen und Elenden und alle Bestrebungen, ihr Los zu mildern und zu verbessern, und Anarchie will er nur für das einzige Ich des jeweiligen Tyrannen auf Kosten der Knechtschaft aller übrigen.“ (S. 68)332 In diesem Punkt ist Nietzsche sogar klarsichtiger und konsequenter – aber damit auch ethisch verachtenswerter – als Stirner: „Stirner ist in einer Täuschung über die Folgen der Souveränität eines jeden Ichs für alle anderen befangen, aber Nietzsche spricht die Konsequenz, die absolute Knechtschaft aller übrigen deutlich aus. Stirner träumt von einer Harmonie der souveränen Individuen, Nietzsche weiss ganz genau, dass die Aufhebung aller Schranken der Souveränität des Ich gleichbedeutend ist mit der Entfesselung des Krieges Aller gegen Alle [. . .] 332 Diese, der hemmungslosen Vergötzung des idealisierten Übermenschen komplementäre, arrogant-herablassende Haltung beobachtet Hartmann auch am Schriftsteller Nietzsche, der „nur da urteilt, wo sein Affekt erregt wird, wo er lieben oder hassen muss“ und der, weil ihm nichts „widerwärtiger [ist] als affektlose Objektivität“ und „weil der Affekt ihn immer zu Übertreibungen nach der einen oder anderen Seite fortreisst“, es für „die Aufgabe der Kritik“ erachtet, „ihren Gegenstand verächtlich zu machen, sei es dadurch, dass sie ihn verspottet, verhöhnt und lächerlich zu machen sucht, sei es dadurch, dass sie ihn mit Pathos unter die Füsse tritt.“ (Hartmann (1891), S. 35) Hartmann, dessen Philosophie des Unbewussten von Nietzsche in der zweiten Unzeitgemässen Betrachtung über mehrere Seiten als unfreiwillig komische „philosophische Schelmerei“ und „Philosophie der unbewussten Ironie“ vorgeführt wird (Nietzsche, KSA 1, S. 314, vgl. S. 313 ff.; vgl. auch Nietzsche, KSA 6, S. 121 f.), weiß, wovon er spricht. – Bemerkenswert ist diesbezüglich Form und Inhalt des folgenden Hartmannschen Befundes, der auch sein Einfühlungsvermögen unter Beweis stellt: „In beiden Rollen“ – der des „skeptischen Kritikers“ und der des „Propheten“ – „berauscht der Schriftsteller Nietzsche sich an Worten und sprachlichen Wendungen, sei es, dass er sie zu Dolchen schleift und feines Gift in sie versteckt, sei es, dass er sich auf den Schwingen der Dichtung in die Abgründe des Chaos versenkt oder über die letzten Federwölkchen in den blauen Äther erhebt.“ (Hartmann (1891), S. 35) – Schöner hätte es Nietzsche auch nicht ausdrücken können.

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Stirner predigt deshalb den kindlichen, Nietzsche den brutalen Anarchismus.“ (S. 68)333 Mit der Demaskierung des Nietzsche-Kultes weitet Hartmann den Fokus seiner Argumentation zur generellen Modernitätsdiagnose und Zeitkritik aus. Bereits im Vorwort zu seinen Ethischen Studien gibt er als deren Anliegen an, „[g]erade in unserer Zeit, wo alle bisher gültigen sittlichen Massstäbe in Frage gestellt werden, [. . .] die Berechtigung solcher Umsturzgelüste zu prüfen und die Grundlagen der menschlichen Sittlichkeit neu zu untersuchen, um sie womöglich unerschütterlich sicher zu stellen.“334 Was in dieser Hinsicht nun den Nietzsche-Kult betrifft, so ist er nicht nur Symptom – wie etwa die Frauenbewegung – gesellschaftlicher Verfallstendenzen, sondern er stellt auch unmittelbar eine Gefährdung der sittlichen Ordnung dar, die bleibenden Schaden, insbesondere bei den als Jugendliche ‚verführten‘ kommenden Generationen anrichten kann. Auch wenn „im Zeitalter des Dampfes und der Elektrizität“ generell die „Moden [. . .] sehr rasch“ wechseln, „auch die litterarischen“, und Hartmann daher beim Publikum Ermüdungserscheinungen gegenüber dem von „nachahmungsfertigen Feuilletonisten“ vorgeführten „manierierten Stil Nietzsches und seiner undeutsch gezwungenen Stellung der Wörter im Satze“ sich ankündigen sieht, warnt er doch, daß „jede dieser schlechten Moden einen bleibenden Beitrag zum beschleunigten Niedergang des deutschen Stils“ liefert (S. 68). Mehr noch: Zwar mag die „sachliche Verwüstung, die durch solche Irrlehren in den minder widerstandsfähigen jugendlichen Köpfen angerichtet wird“ bei vielen davon Betroffenen „im Laufe einiger Jahre“ überwunden sein, gleichwohl sind aber „doch diese verlorenen Jahre zu bedauern“, und darüber hinaus prägen „manchmal [. . .] solche Jugendeindrücke auch dem ganzen inneren Leben den Stempel der Zerrüttung auf. Deshalb scheint es mir eine Pflicht gegen die deutsche Jugend, solche Zeitverirrungen nicht so zu ignorieren, wie sie es ihrem Gehalt nach verdienen, sondern ihnen die gleissende, blendende Maske abzureissen, um sie in ihrer hässlichen Nacktheit blosszustellen.“ (S. 68 f.) Insofern geht es bei der Demaskierung des ‚souveränen Individualismus‘ Nietzsches nicht einfach um fachphilosophische und philologische Fragen, und auch nicht bloß um die Verbrechen und sittlichen Verstöße einzelner, in ihrer Abartigkeit auf jenen sich berufender Individuen, sondern um die Zukunft mindestens der deutschen Gesellschaft und ihrer Kultur.

333 334

Vgl. Hartmann (1897), S. 86. Hartmann (1898), S. V.

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4. Stirner und Nietzsche im Diskurs Um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert fungierte die Formel ‚Stirner und Nietzsche‘ diskursiv als Signatur eines Individualismus, der in vielfacher Hinsicht heftig umstritten war. In der Stirner- und Nietzsche-Exegese konnten im Detail die Kontroversen ausgetragen werden, wie der Individualismus auszulegen ist, was seine moralisch-ethischen Ambitionen und die Implikationen für die gesellschaftliche Ordnung sind, wie er als Weltanschauung und Zeit-Syndrom zu bewerten ist, und ob man ihn als Heilsversprechen und Freiheitslehre begrüßen oder als Zerrüttungssymptom und Zersetzungsideologie bekämpfen soll. Einige feierten den Stirnerschen Einzigen wie den Übermenschen Nietzsches als Symbol der Befreiung von lebensverneinenden Idealen und von der moralischen Heteronomie des ‚Du sollst‘; Stichworte hiefür lieferten beide zuhauf, Stirner mit seinen Angriffen auf die ‚christliche‘ und ‚bürgerliche‘ Moral wie mit seiner antithetischen Konstruktion von Einzigkeit und ‚Besessenheit‘, Nietzsche mit seiner genealogischen Moralkritik wie mit der von seinem Zarathustra verkündeten Lehre ‚von den drei Verwandlungen‘.335 Andere Interpreten und Kommentatoren des Individualismus warnten vor der Vergötzung antisozialer Amoralität, wie sie beispielsweise in Nietzsches Idealisierung der ‚blonden Bestie‘ und im Diktum „Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt“336 ebenso zum Ausdruck gebracht wird wie darin, daß Stirners Einziger, dem ‚nichts heilig ist‘, sich gegebenenfalls auch ‚zum Mord ermächtigt‘ und das ‚Verbrechen‘ verherrlicht.337 Wieder andere spielten den Individualismus Stirners gegen denjenigen Nietzsches aus – oder umgekehrt. Ein hierbei zentral verhandeltes Thema betraf das Verhältnis von Individualismus und sozialer Gleichheit bzw. Ungleichheit, das unter Begriffen wie „Aristokratismus“338 oder „aristokratische[r] Individualismus“339 diskutiert wurde.340 Daß hierbei die Formel ‚Stirner und Nietzsche‘ als diskursiver Eigenwert fungierte, um den der Diskurs um das polarisierende Phänomen des Individualismus organisiert wurde, wurde bereits zeitgenössisch beobachtet. Messer reflektiert dies, wenn er feststellt, daß in ähnlicher Weise, wie „man Goethe und Schiller sagt, um den Kulminationspunkt der deutschen klassi335 Vgl. z. B. Stirner, EE, S. 46 ff., 123 ff., 178 ff., 259 ff., 268 f., 321 ff., 404. Vgl. z. B. Nietzsche, KSA 4, S. 29 ff.; KSA 5, S. 121 ff., 154 ff., 162 ff., 208 ff., 268 ff. 336 Nietzsche, KSA 4, S. 340; vgl. Nietzsche, KSA 5, S. 274, 399. Siehe auch oben, V. 2. c). 337 Vgl. z. B. Stirner, EE, S. 77, 104, 106, 202, 208, 267, 284, 311, 357. 338 Ruest (1906), S. 291; Simmel (1902), S. 61. 339 Lachmann (1914), S. 32. 340 Vgl. auch Dix (1899b); Hart (1899).

4. Stirner und Nietzsche im Diskurs

571

schen Kunst zu bezeichnen“, man „Stirner und Nietzsche zusammenstellt“, um den Individualismus als Weltanschauung zu bezeichnen.341 Ruest spricht von der „Stirner-Nietzschefrage“342 und rekapituliert anhand der frühen Beiträge zur Nietzsche-Rezeption und zur Stirner-Renaissance, wie es zur thematischen Verknüpfung dieser beiden Autoren kam. Zunächst hatten demnach Georg Brandes mit seinen Kopenhagener Nietzsche-Vorträgen und „ein anderer Däne“, der Schwede Ola Hansson, dafür gesorgt, daß Nietzsche zur gleichen Zeit ins Bewußtsein der Öffentlichkeit trat, als Mackay (in seinem Gedichtband Sturm und seinem Anarchisten-Roman) „an Stirner erinnert“ und „seine Aufrufe zu Materialbeiträgen für seine Stirnerbiographie erlassen“ hatte.343 Dann folgten in den Jahren 1891 bis 1894 Beiträge Eduard von Hartmanns, Robert Schellwiens und Ola Hanssons, des „Apostel[s] der Nietzschelehre“,344 die alle, mit unterschiedlicher Absicht und Bewertung, Stirner und Nietzsche in Beziehung zueinander setzen.345 Spätestens seit „Mackays Stirnerbiographie“ von 1898, in der sich bereits die „Bemerkung [findet], daß die meisten Stirneraufsätze von Nietzsche ausgingen“, ist schließlich Ruest zufolge die „Literatur über beide nicht mehr zu übersehen“.346 Als signifikant für das Interesse an der ‚Stirner-Nietzschefrage‘ führt Ruest das Thema und den Titel der Dissertation Albert Lévys, Stirner et Nietzsche (1904), an.347 Zur gleichen Zeit spricht auch Hermann Schultheiss, in seiner Dissertation Max Stirner. Grundlagen zum Verständnis des Werkes „Der Einzige und sein Eigentum“, von dem „Thema ‚Stirner und Nietzsche‘“,348 das er als ein „ständige[s] Requisit fast aller in dieser philosophiegeschichtlichen Gegend Interessierten“ bezeichnet.349 In seiner „Übersicht über die Stirnerliteratur“350 zählt Schultheiss dementsprechend neben den auch bei Ruest genannten Beiträgen noch weitere auf, die ebenfalls regelmäßig auch das Thema ‚Stirner und Nietzsche‘ behandeln, darunter Lucchesi, Kreibig und Joël.351 Ähnlich wie bereits bei Ernst Schultzes Auflistung der maßgeblichen Faktoren, die mutmaßlich zur Wiederentdekkung und Popularisierung Stirners führten352 – die 1893er Reclam-Ausgabe 341

Messer (1907), S. 4 – H. i. O. Ruest (1906), S. 290. 343 Ruest (1906), S. 287. 344 Ruest (1906), S. 288. 345 Vgl. Ruest (1906), S. 288 f. 346 Ruest (1906), S. 289. – Wobei Ruest betont, daß Mackay selbst sich „begreiflicherweise [. . .] gegen den Nietzschekult“ wendet (Ruest (1906), S. 289 – H. i. O.). 347 Vgl. Ruest (1906), S. 290. 348 Schultheiss (1906), S. 7. 349 Schultheiss (1906), S. 47. 350 Schultheiss (1906), S. 6. 351 Vgl. Schultheiss (1906), S. 31 ff., vgl. auch S. 26 f., 46, 48. 342

572 VI. Außenseiter, Aristokraten, Avantgardisten und andere Individualisten

des Einzigen und Mackays Bemühungen, vor allem aber der ‚NietzscheKult‘ und das verstärkte wissenschaftliche Interesse am Anarchismus in den 1890er Jahren – läßt sich also an den von Ruest und Schultheiss vorgelegten Literaturberichten ein Reflexivwerden der Stirner-Rezeptionsgeschichte als Selbst-Thematisierung beobachten.353 Bezüglich der Diskurs-Struktur der Stirner-Renaissance fällt allerdings an Ruests und Schultheiss‘ Literaturberichten auf, daß, von der Erwähnung der Abhandlung Rudolf Stammlers und der Handbuch-Artikel Georg Adlers bei Schultheiss, der das Thema ‚Anarchismus‘ zumindest anschneidet, abgesehen,354 die einschlägigen Stirner-Interpretationen aus dem (sozial)wissenschaftlichen Anarchismus-Diskurs nicht genannt werden. Vordergründig mag dies damit zusammenhängen, daß, anders als bei den von Ruest und Schultheiss genannten Autoren, bei den Standard-Beiträgen zum Thema ‚Stirner als Anarchist‘ Stirner nicht im Titel genannt wird. Allerdings wird Stirner regelmäßig in diesen monographischen Abhandlungen bzw. Artikeln zum Anarchismus – neben den Beiträgen Georg Adlers und Rudolf Stammlers beispielsweise auch in denjenigen Plechanows, Zenkers und Eltzbachers355 – als zentraler Theoretiker des Anarchismus behandelt und ist als solcher meist schon in den Inhaltsverzeichnissen ausgezeichnet. Dagegen ist der Bezug zwischen Stirner und dem Anarchismus zwar auch in den von Ruest und Schultheiss angegebenen Stirner-Interpretationen meist präsent, allerdings, und dies ist der entscheidende Unterschied zu den Autoren des wissenschaftlichen Anarchismus-Diskurses, mit einem mehr landläufigen Anarchismus-Verständnis, bisweilen mit der polemischen Konnotation von ‚Unordnung‘, das in der Regel nicht das analytische und begriffskritische Niveau erreicht, das den zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskurs über den Anarchismus auszeichnet, der diesen mit dem politisch-theoretischen Ideal der Anarchie als herrschaftsfreier Ordnung verbindet (siehe unten, VII. 2.). Während in diesem Diskurs ‚Anarchismus‘ als Begriff zur Bezeichnung und Analyse sozialer Bewegungen und ideologischer Traditionen bzw. politisch-theoretischer Positionen reflektiert und systematisiert wird,356 wird ‚Anarchismus‘ in jenem Diskurs lediglich als, seinerseits mit diversen 352

Siehe oben, IV. 1. a). Schultheiss meint, Schultzes „Bericht über die Äußerungen einer geistesgestörten Frauensperson ist vielleicht das interessanteste Stück der ganzen Stirnerliteratur“ (Schultheiss (1906), S. 38), würdigt diesen vergleichsweise ausführlich und meint, daß die Kranke entgegen ihrer Selbstauskunft durchaus Stirner gelesen haben dürfte (vgl. S. 37 f.). – Vgl. dagegen Mackays abschätzige Bemerkung über Schultzes Artikel (vgl. Mackay (1898), S. 21 f.). 354 Vgl. Schultheiss (1906), S. 53, 32, vgl. S. 50 ff. 355 Siehe oben, V. 2., 3. und 4., und unten, VII. 2. a). 356 Vgl. z. B. Stammler (1894); Zenker (1895); Eltzbacher (1900). 353

4. Stirner und Nietzsche im Diskurs

573

Epitheta versehenes, Prädikat Stirners – und mitunter auch Nietzsches – verwendet, ohne daß damit eine über Nietzsche hinausgehende Relationierung Stirners zu anderen Vertretern des Anarchismus erfolgte:357 Stirner erscheint hier beispielsweise als ‚Metaphysiker des Anarchismus‘358, als Vertreter eines ‚kindlichen Anarchismus‘359 oder auch als ‚logischer, sozialer und ethischer Anarchist‘360. Umgekehrt tauchte, wie oben dargelegt, im (sozial)wissenschaftlichen Anarchismus-Diskurs das Thema ‚Stirner und Nietzsche‘, das in den von Ruest und Schultheiss angegebenen wie auch in weiteren (geistes)wissenschaftlichen Stirner-Interpretationen eine zentrale Rolle spielt, typischerweise, wenn überhaupt, nur am Rande auf, und meist mit dem Hinweis, daß Nietzsche kein Anarchist sei. Man kann deswegen für die Zeit der Stirner-Renaissance von zwei relativ unabhängig voneinander sich konstituierenden und reproduzierenden wissenschaftlichen Diskursen über Stirner sprechen, von denen der eine sich um das Thema ‚Stirner als Anarchist‘ – präziser: ‚Stirners Bedeutung und Stellenwert in der Geschichte und Gegenwart des Anarchismus in sozialwissenschaftlicher Perspektive‘ – formiert, der andere, stärker geisteswissenschaftlich an philosophischen und vor allem ethischen und weltanschaulichen Fragen orientiert, um das Thema ‚Stirner und Nietzsche‘. Unabhängig voneinander sind diese beiden wissenschaftlichen Diskurse insoweit, als offenbar nicht der eine aus dem anderen hervorging und jeder für sich ein standardisiertes Repertoire von Referenzautoren, fachbegrifflichen bzw. theoretischen Deutungsschemata, Thematisierungsweisen und Fragestellungen entwickelt. So erwähnt Georg Adler bereits 1890 in seinem vielbeachteten Handbuchartikel zum Anarchismus Stirner, wenn auch noch nur als Randerscheinung der anarchistischen Tradition, und von Nietzsche ist hier selbstverständlich keine Rede,361 während auf der anderen Seite Robert Schellwien 1892 in Max Stirner und Friedrich Nietzsche. Erscheinungen des modernen Geistes den Anarchismus mit keinem Wort erwähnt.362 Während im weiteren Verlauf der eine Diskurs vor allem den Begriff und die historisch-soziale Phänomenologie des Anarchismus sowie dessen ideologische Programmatik problematisiert, typologisch ausdifferenziert und theoretisch deutet, leistet dies der andere Diskurs im Hinblick auf Moral bzw. 357

Vgl. hierzu kritisch Schultheiss (1906), S. 50 ff. Vgl. Schultheiss (1906), S. 50. Das Wort stammt von Hansson, den Schultheiss hier zitiert. 359 Vgl. Hartmann (1897), S. 86; vgl. Hartmann (1891), S. 68. 360 Vgl. Lucchesi (1906), S. 15 ff.; vgl. auch Türck (1899), S. 325 ff. 361 Siehe oben, V. 2. a). 362 Hartmann freilich nennt, wie oben zitiert, bereits 1891 Stirner einen ‚kindlichen‘, Nietzsche einen ‚brutalen Anarchisten‘, eine Unterscheidung, die allerdings in keinem der beiden Diskurse Anschluß findet. – Zu Schellwien siehe unten. 358

574 VI. Außenseiter, Aristokraten, Avantgardisten und andere Individualisten

Ethik.363 Und der Anarchismus-Diskurs bedient sich des Moral-Begriffs in ähnlicher Weise undifferenziert, wie umgekehrt der ‚Stirner und Nietzsche‘Diskurs des Anarchismus-Begriffs. Während Stirner im Anarchismus-Diskurs vor allem im Kontext mit anderen Anarchisten wie Bakunin oder Kropotkin thematisiert wird und beispielsweise nach seinem Verhältnis zur politischen bzw. terroristischen Gewalt gefragt wird, spielen im Stirner-Nietzsche-Diskurs stärker philosophische Thematisierungen in historischer wie systematischer Hinsicht, und auch die Bezüge zu den weltanschaulichen und sonstigen Ausdrucksformen des individualistischen Zeitgeistes ‚fin de siècle‘ eine Rolle; dieser Diskurs thematisiert Stirner stärker im Kontext von Zeitgeistdiagnosen und normativen Fragen, jener von der konkreten Problemwahrnehmung des Anarchismus und der mit diesem verbundenen Gewaltphänomene her. Relativ ist diese Unabhängigkeit der beiden genannten wissenschaftlichen Diskurse um Stirner insoweit, als sie bei aller prinzipiellen Eigenständigkeit doch punktuell auf der Ebene von Referenzautoren aufeinander Bezug nehmen; sie sind nicht blind füreinander. Wissenssoziologisch wichtig ist vor allem, daß beide Diskurse in ihren je spezifischen Perspektiven in zentraler Weise den Individualismus behandeln und für die Interpretation Stirners als Anarchist bzw. im Verhältnis zu Nietzsche heranziehen. Hierbei überschneiden sie sich zudem in den sozialphänomenologischen Evidenzen, auf die sie sich jeweils beziehen. Diese gemeinsame Schnittmenge bildet der bald als ‚Décadence-Anarchismus‘, bald als ‚Salon-Anarchismus‘ oder ‚Sozialaristokratismus‘ bezeichnete avantgardistische bzw. nonkonformistische Individualismus der Boheme.364 Bezüglich der diskursiven Faktoren, die, neben der generellen semantischen Bedeutung der Individualismus-Thematik, hauptsächlich zur StirnerRenaissance der 1890er Jahre beitrugen, läßt sich schließen, daß Anarchismus-Diskurs und Nietzsche-Diskurs voneinander unabhängige Ausgangspunkte darstellten, die sich dann allerdings bezüglich der generellen Aufmerksamkeit für Stirner als ‚Modephilosoph‘ gegenseitig verstärkten, und zwar dies um so mehr, weil die Diskurse nicht ineinander aufgingen. Stirner, der Anarchist, erfuhr gleichsam eine Anreicherung im ‚Stirner und Nietzsche‘-Diskurs; seine Reputation als philosophisch relevanter Autor hat er im wesentlichen Nietzsche bzw. der diskursiven Verknüpfung mit Nietzsche zu verdanken. Umgekehrt ist wohl Nietzsche erst durch die Verbindung mit Stirner zeitweilig als Anarchist gehandelt worden. Und beide 363

Vgl. z. B. Kreibig (1896); siehe oben, IV. 3. a). Vgl. neben den bereits angeführten Beispielen im vorliegenden Kapitel z. B. Schultheiss (1906), S. 58. Siehe auch die oben, V. 2. c), 4. a) und b) gg), zitierten entsprechenden Passagen bei Plechanow, Georg Adler und Kropotkin. 364

4. Stirner und Nietzsche im Diskurs

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verdanken ihre damalige Popularität der auch bereits zeitgenössisch als solche reflektierten semantischen Hochkonjunktur des Individualismus. Während aber der ‚Stirner und Nietzsche‘-Diskurs einen wesentlichen Strang der Stirner-Rezeptionsgeschichte ausmacht – und das gilt auch für den Anarchismus-Diskurs – ist er für die Nietzsche-Rezeptionsgeschichte offensichtlich – und auch das gilt ebenso für den Anarchismus-Diskurs – von untergeordneter Bedeutung. Das wird offenkundig, wenn man bedenkt, daß Steven S. Aschheim als kenntnisreicher und gewissenhafter Historiograph der deutschen Nietzsche-Rezeption Stirner in seinem Buch365 nicht einmal erwähnt:366 Offensichtlich ist es möglich, über die Rezeptionsgeschichte Nietzsches zu forschen, ohne dabei auf Stirner zu stoßen – was umgekehrt undenkbar ist.367 Als diskursiver Eigenwert bot die Formel ‚Stirner und Nietzsche‘ – die „Stirner-Nietzschefrage“368 – Anknüpfungsmöglichkeiten für vor allem zwei typische Fragen: Erstens: „hat Nietzsche Stirner gekannt?“;369 und zweitens: ‚worin bestehen die Übereinstimmungen und Verschiedenheiten zwischen Stirner und Nietzsche in philosophischer bzw. weltanschaulicher Hinsicht?‘370

365

Vgl. Aschheim (1996). Martha Zapata Galindo dagegen erwähnt in ihrem Nietzsche-Buch immerhin, daß in der „Zeit zwischen 1890 und 1914 [. . .] Nietzsche häufig in Zusammenhang mit Schopenhauer, Darwin und Stirner gebracht [wurde]: Entweder als Überwinder dieser Denker oder als Nachfolger.“ (Zapata Galindo (1995), S. 49). 367 Gleichwohl sind einige der frühesten Dokumente der Stirner-Renaissance zugleich auch erste Zeugnisse der gerade einsetzenden Nietzsche-Rezeption, beispielsweise Robert Schellwiens Abhandlung Max Stirner und Friedrich Nietzsche, Erscheinungen des modernen Geistes und das Wesen des Menschen (1892) und Eduard von Hartmanns im Vorjahr in den Preußischen Jahrbüchern veröffentlichter Artikel über Nietzsches „neue Moral“ (1891). Zu diesem Zeitpunkt konnte man noch nicht wissen, welcher der beiden ‚Modephilosophen‘ – wenn überhaupt einer von ihnen – langfristig das Rennen machen würde, so daß die diesbezüglichen Einschätzungen der beiden in diesem Punkt in seltener Eintracht befindlichen Stirner-Wiederentdekker Mackay und Hartmann, Nietzsche sei der im Vergleich zu Stirner unbedeutendere Philosoph, abgesehen von ihren offensichtlichen Beweggründen, zeitgenössisch nicht unplausibel erscheinen mußten. 368 Ruest (1906), S. 290. 369 Ruest (1906), S. 302; vgl. z. B. auch Mackay (1898), S. 19; Lachmann (1914), S. 12. 370 Vgl. z. B. Schellwien (1892), Lévy (1904), Lucchesi (1906) und Lachmann (1914), die ihre Beiträge ganz dieser Fragestellung widmen, und beispielweise Ruest (1906), S. 287 ff., und Schultheiss (1906), S. 3, 7 f., 44 ff., die im Rahmen ihrer Stirner-Monographien diese Frage ebenfalls erörtern. 366

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a) Nietzsches Stirner-Kenntnis Die erste Frage, „ob Nietzsche den Stirner gekannt hat“,371 ist ihrer Struktur nach eine geschlossene Frage, die sich also daher prinzipiell kurz und knapp mit ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ beantworten läßt – und von einigen Autoren auch so beantwortet wurde. Przybyszewski konstatiert: „Zwar nennt Nietzsche Stirner nie, aber es unterliegt keinem Zweifel, daß er sein Werk kannte“.372 Mit gleicher Sicherheit weiß aber Messer, daß Nietzsche „Stirner zweifellos nicht gekannt hat.“373 „[M]it ziemlicher Sicherheit“ hält dagegen Lachmann die Frage für „in bejahendem Sinne entschieden“.374 Darüber hinaus konnte man die jeweilige Antwort auch sehr viel ausführlicher begründen – und sich, wie Eduard von Hartmann, dabei selbst in ein günstiges Licht rücken: „Nietzsche erwähnt meines Wissens nirgends den Namen Stirners oder seiner Schriften. Dass er meinen nachdrücklichen Hinweis auf Stirners Standpunkt und seine Bedeutung in der ‚Philosophie des Unbewussten‘ (1. Aufl. S. 611–614; 7–10. Aufl. II. 210–372) gekannt haben muss, geht aus seiner polemischen Kritik gerade desjenigen Kapitels hervor, in welchem er steht (vgl. ‚Unzeitgemässe Betrachtungen, zweites Stück. Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben‘ 1874 No. 9 S. 84–99). Dass er sich durch meinen Hinweis nicht veranlasst gefühlt haben sollte, einen ihm so kongenialen Denker näher kennen zu lernen ist wenig wahrscheinlich.“375 Aus Hartmanns Sicht ist nicht nur Nietzsches Stirner-Kenntnis – und damit, angesichts der präsumtiven Bedeutung Stirners für Nietzsches Werkentwicklung in gewisser Weise letztere selbst376 –, sondern generell die Wiederentdeckung Stirners ihm zu verdanken,377 wie 371

Lachmann (1914), S. 12. Przybyszewski (1926), S. 89. 373 Messer (1907), S. 3. 374 Lachmann (1914), S. 12. – Ernst von Aster kann dann 1930 im Rückblick auf die Stirner-Renaissance der Jahrhundertwende getrost konstatieren: „Was Nietzsche angeht, so wird die Frage, ob er den ‚Einzigen‘ gekannt hat, unentschieden bleiben müssen.“ (Aster (1930), S. 450). 375 Hartmann (1891), S. 61; vgl. Nietzsche, KSA 1, S. 313 ff. 376 Vgl. Hartmann (1891), S. 61. 377 Vgl. hierzu Mackay (1898), S. 19 f., der selbstverständlich Hartmanns Stirner-Wiederentdecker-Anspruch zurückweist und ihn bekanntlich erfolgreich für sich reklamieren konnte (vgl. z. B. Lachmann (1914), S. 12, 38). Eine Ausnahme stellt diesbezüglich immerhin Meyers Großes Konversations-Lexikon (Meyer (1903–09), S. 895) dar, das Stirner im 17. Band („Rio bis Schönebeck“) unter seinem Geburtsnamen ‚Schmidt, Kaspar‘ als „philosophische[n] Schriftsteller“ vorstellt, dessen Werk „lange Zeit vergessen [war], bis E. v. Hartmann wieder darauf hinwies“, und das, „wiewohl mit Unrecht“, mit „Nietzsches Ansichten“ in Verbindung gebracht wurde. 372

4. Stirner und Nietzsche im Diskurs

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er einige Jahre nach dem Nietzsche-Aufsatz in Stirners Verherrlichung des Egoismus mit Blick auf Stirners jahrzehntelang vergessenes Buch feststellt: „Erst J. E. Erdmann erinnerte wieder an seine Existenz, als er ihm im Jahre 1866 in seinem Grundriss der Geschichte der Philosophie eine halbe Seite widmete [. . .]. Ich war schon mehrere Jahre vorher auf das Buch durch einen älteren Bekannten aufmerksam gemacht worden [. . .] In der Philosophie des Unbewussten (1868) und der Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins (1878) hatte ich mit Nachdruck auf Stirners Bedeutung hingewiesen; dem grösseren Publikum wurde aber Stirner erst wieder bekannt, als ich in einem Aufsatze über Nietzsche auf Stirner als einen verwandten Denker hingewiesen hatte“.378 Joël weist diesen Anspruch mit guten Gründen zurück, indem er eine Alternativ-Erklärung anbietet: „Nietzsche hat Stirner nicht zitiert, aber die Gegner Nietzsches wollen wissen, dass er von ihm empfangen hat, und Ed. v. Hartmann weiss sogar, dass er es war, der Nietzsche auf Stirner aufmerksam gemacht. Doch den Namen Stirner bot nicht Ed. v. Hartmann, der Stirner tadelt und den Nietzsche tadelt, sondern Fr. Alb. Lange (Gesch. des Materialismus), der Stirner schätzt und den Nietzsche schätzt.“379 Daß es, anders als Joël meint – wenn auch zurecht mit Blick auf Hartmann380 –, nicht immer nur die Gegner Nietzsches sind, die von dessen Stirner-Kenntnis ausgehen, zeigt, neben dem bekannten Beispiel des Nietzsche- (und auch Stirner-) Verehrers Przybyszewski, auch die Erörterung und Beantwortung der Frage bei Ruest. Ruest diskutiert ausführlich die Sekundärliteratur, die Sach- und Quellen-Lage,381 geht auf die Hartmann-These382 378

Hartmann (1897), S. 70. Joël (1898), S. 244. – F. A. Lange widmete Stirner 1866 in seiner Geschichte des Materialismus kaum mehr als einen kurzen Absatz, in dem er Der Einzige und sein Eigentum als das „extremste[]“ Buch bezeichnet, „das wir überhaupt kennen“, das Fehlen eines „zweite[n] positive[n] Teil[s]“ bedauert, der dann, angesichts der systematischen Zentralität von ‚Willen und Vorstellung‘ des Einzigen, die an Schopenhauer erinnere, „jede Art von Idealismus wiedererzeugen“ könne, und schließlich befindet, daß Stirners Buch wenig mit Materialismus zu tun habe und ohnehin nicht viel Einfluß erlangt hat (Lange (1866), S. 529). – Die bereits von Hartmann erwähnten Ausführungen Erdmanns zu Stirner aus dem gleichen Jahr sind nur unwesentlich ausführlicher (vgl. Erdmann (1866), S. 719 f., 722 f.) und deuten, Erdmanns Perspektive auf Die deutsche Philosophie seit Hegels Tode entsprechend, Stirner vor allem als junghegelianisches Phänomen und als den diesbezüglich „eigentliche[n] Kulminationspunkt der von Hegel begonnenen Richtung“ (S. 722 – H. i. O.), allerdings auch als „neben den Schriften Proudhons [. . .] eine Grundlegung des modernen Anarchismus“ (S. 720 – H. i. O.), was freilich schon früher von Friedrich Engels beobachtet worden war; vgl. Engels (1850). 380 Vgl. auch Schultheiss (1906), S. 27 f., 46, 60. 381 Vgl. Ruest (1906), S. 302 ff. 382 Vgl. Ruest (1906), S. 302 f. 379

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ebenso ein wie auf die von „Joël vertreten[e]“383 Lange-These,384 würdigt, kritisiert und ergänzt die jeweiligen Argumente und bringt schließlich seine eigene „Deutung für Nietzsches Schweigen“ über Stirner – damit in die Interpretation der „Stirner-Nietzschelehre“ übergehend –,385 wobei er die Stirner-Kenntnis Nietzsches unter Berufung auf eine von Nietzsches Freund Franz Overbeck gelieferte Evidenz voraussetzt: „Overbeck ersah 1899 aus einem Leihverzeichnis der Baseler Bibliothek, daß ‚der Einzige und sein Eigentum‘ einmal, im Jahre 1874, an Baumgartner ausgegeben worden war; Baumgartner, gegenwärtig Professor in Basel, gehörte damals zu den Lieblingsschülern Nietzsches, und die nähere Erkundigung ergab denn, daß dieser wirklich auch die Wahl dieser Lektüre seinerzeit inspiriert hatte.“386 Hermann Schultheiss kommt indes in seiner, ebenfalls zuerst im ‚StirnerJahr‘ 1906387 erschienenen Dissertation über Stirner. Grundlagen zum Verständnis des Werkes „Der Einzige und sein Eigentum“, nach Sichtung der Literaturlage und in Auseinandersetzung mit weiteren Beiträgen zu dieser Frage,388 zu einem anderen Schluß: „Ob Nietzsche Stirners Buch kennen gelernt hat, läßt sich nicht feststellen, und könnten wir’s, so wäre damit gar nichts gewonnen, wir müßten denn voraussetzen, daß Nietzsche das Stirnersche Buch ebenso falsch verstanden hätte wie bisher noch jeder, der darüber geschrieben hat.“389 Schultheiss gibt zu bedenken, daß „Nietzsches Entwicklung wohl auch ohne die Annahme einer Beeinflussung von seiten Stirners verständlich“ ist,390 und vermutet überdies, daß „wenn Nietzsche Stirnern gekannt hat, [. . .] er ihn einen Berliner Philister genannt“ hat.391 Denn wenn auch beiden „die spröde Reserve gegen Hinz und Kunz“ gemeinsam ist,392 so sind sie doch „Gegensätze im ganzen Wesen“.393 383

Ruest (1906), S. 303. Vgl. Ruest (1906), S. 304 f. 385 Ruest (1906), S. 305, vgl. S. 306 ff. – Siehe hierzu ausführlich unten. 386 Ruest (1906), S. 302. 387 Stirner war 1806, am 25. Oktober, geboren und 1856, am 25. Juni, gestorben. Vgl. Helms (1966), S. 326 ff., zum ‚Stirner-Jahr‘. Typisches Erzeugnis des StirnerJahres war beispielsweise die von Alfred Cleß unter dem Namen Anton Martin im „Sommer 1906, im 50. Jahr nach dem Tode Stirners“ (Martin (1906), S. 3) veröffentlichte Schrift Max Stirners Lehre. Mit einem Auszug aus ‚Der Einzige und sein Eigentum‘, wobei der Auszug – eine 45seitige Kompilation von Passagen aus dem Einzigen – fünfmal so lang ist wie Martins Text, der so eher als Einleitung zu einem Stirner-Brevier – als Vademecum – zu verstehen ist, oder besser: als Einstimmung, in der Stirner als „der Weltreformator (von einer Bedeutung mindestens wie Luther)“ gefeiert und mythisierend mit „Prometheus“ verglichen wird, der „den Göttern das Feuer stahl und den Menschen gab“ (Martin (1906), S. 13 f. – H. i. O.). 388 Vgl. Schultheiss (1906), S. 44 ff. 389 Schultheiss (1906), S. 45 f. 390 Schultheiss (1906), S. 46. 391 Schultheiss (1906), S. 45. 384

4. Stirner und Nietzsche im Diskurs

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Ähnlicher Ansicht war bereits Joël, der mit Blick auf Nietzsches angenommene Stirner-Kenntnis bemerkt, daß „die thatsächliche Kenntnis des Namens und selbst die Lektüre [. . .] noch nicht den Einfluss beweisen [kann]; denn der Eindruck konnte ja negativ sein“, was angesichts der Gegensätze zwischen Stirner und Nietzsche das Wahrscheinlichste wäre: der „Begründer des Anarchismus, der schrankenlose Freiheit fordert, [. . .] und der Begründer der Herrenmoral, die mitleidslose Unterdrückung fordert; der Entwertende und Verhöhnende und der Umwertende und Verheissende; der Verteidiger des ‚Unmenschen‘ (d. h. des Untermenschen) und der Prediger des Übermenschen“.394 „Nietzsche und Stirner sind beide Befreier – das ist ihr einzig Gemeinsames, aber sie befreien andere aus anderem und zu anderem.“ Davon abgesehen brauchte „Nietzsche, der feine Kenner der antiken Philosophen, [. . .] wahrlich nicht Stirner, um seine Gedanken zu finden. Er hat seinen Plato gelesen und fand dort durch den Sophistenmund des Kallikles, auch des Thrasymachos die Lehre vom Übermenschen, von Herren- und Sklavenmoral so klar und rein verkündet, dass alle Analogie mit Stirner daneben lächerlich zusammenschrumpft.“395 Und überdies, egal, ob Nietzsche seine Inspiration von den Griechen oder auch von Stirner genommen haben mag, es schmälert nicht die Exzeptionalität und Originalität seiner eigenen Lehre. Denn einerseits haben „Hunderte [. . .] Stirner, Zehntausende die Sophistenweisheit bei Plato gelesen und sind doch kein Nietzsche geworden“. Und andererseits ist auch „Copernicus darum [nicht] weniger Copernicus, weil schon Pythagoreer das heliozentrische Weltbild lehrten“, denn der „echte Gedanke ist nicht wie ein guter Witz, der nicht zweimal gemacht werden darf, er ist eine That, die zur rechten Zeit immer neu ist. Oder ist ein rettender Held darum weniger ein Held, weil schon ein anderer andere gerettet hat? Jeder Gedanke ist je nach der Gedankensituation seiner Zeit original oder banal.“396 Für die Einschätzung der Leistung Nietzsches ist daher die Frage, ob dieser Stirner kannte oder nicht, für Joël irrelevant, so daß sich umgekehrt hieraus auch nichts für die Bedeutung Stirners ableiten läßt.397 392

Schultheiss (1906), S. 44. Schultheiss (1906), S. 45 – H. i. O. 394 Joël (1898), S. 244. 395 Joël (1898), S. 245. 396 Joël (1898), S. 245. 397 Ruest wirft hierfür Joël vor, er relativiere Stirners Einfluß zu sehr, um dadurch Nietzsches Größe hervorzuheben (vgl. Ruest (1906), S. 305), während Schultheiss der Auffassung ist, Joël bediene, indem er Nietzsches Stirner-Kenntnis nahelegt, gleichwohl die – von ihm kritisierte – Tendenz, einen vermeintlichen Einfluß Stirners auf Nietzsche überzubewerten (vgl. Schultheiss (1906), S. 46). – Joëls Stirner-Essay zählt übrigens bis heute zu dem Besten, was in dieser Kürze über Stirner geschrieben wurde. 393

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Für die Wissenssoziologie der Stirner-Rezeptionsgeschichte ist sowohl die diskursive Eigenwertigkeit der Frage nach Nietzsches Stirner-Kenntnis als auch die in deren Beantwortung von unterschiedlichen Autoren implizierten Bewertungen von Stirners bzw. Nietzsches Originalität, Authentizität, Radikalität, Genialität oder Epigonalität aufschlußreich. Die wissenssoziologische Bedeutung der Stirner-und-Nietzsche-Formel liegt in ihrer semantischen Symptomatizität und ihrer diskursiven Funktion, indem sie für die Autoren Stirner und Nietzsche und die mit ihnen in Verbindung gebrachten Individualismen Aufmerksamkeit in einer Zeit erzeugt und stabilisiert, in der sich einerseits im Begriff ‚Individualismus‘ Erfahrungen und Erwartungen verdichteten, die diesen sowohl zu einem abgründig-gefährlichen Faszinosum als auch zu einer alles Leid überwindenden Heilslehre verzauberten, und in der andererseits generell ‚große Individuen‘ kultisch verehrt wurden.398 Im Sinne der oben399 entwickelten Terminologie bestand daher auch ein ‚charismatifikatorischer‘ Bedarf an ‚Genies‘ und ‚Propheten‘, die ‚den Individualismus‘ lehrten oder predigten. Insofern zeugt das „Thema ‚Stirner und Nietzsche‘“400 gerade bezüglich der Kontroverse um Nietzsches Stirner-Kenntnis vom schillernden Zauber des Individualismus um die Jahrhundertwende. Heute, nach hundert Jahren, ist der Individualismus in diesem Sinne weitgehend entzaubert: weil er bezüglich seiner Heilsverheißungen nicht hielt, was er versprochen hatte, aber auch wegen einer Inflationierung, die ihn zu einer Selbstverständlichkeit hat werden lassen, frei von jedem Zauber des Außeralltäglichen. Dieser Trend ist bereits in der Zwischenkriegszeit zu beobachten, in symptomatischer Weise in der Stirner-rezeptionsgeschichtlichen Tendenz, die unten als ‚Verbürgerlichung des Einzigen‘ behandelt wird.401 Vom Fin de siècle bis zum Ersten Weltkrieg jedoch ist der im ‚Stirner und Nietzsche‘-Diskurs behandelte Einzige und sein Individualismus, ebenso wie derjenige des Übermenschen, noch der Inbegriff einer neue Welten und neue Menschen – oder den Untergang der sittlichen Ordnung – evozierenden Antibürgerlichkeit.

398 Erinnert sei neben dem vielbeachteten Nietzsche-Kult auch an den RavacholKult, aber auch an Wagner, Bismarck oder George als Kultgegenstände und an die ‚byzantinistischen‘ (E. J. Jung) Fortschreibungen des Personenkultes in den Totalitarismen des zwanzigsten Jahrhunderts. 399 Siehe oben, III. 4. 400 Schultheiss (1906), S. 7. 401 Siehe unten, VII. 3. Siehe auch VIII., insbesondere 2. und 4.

4. Stirner und Nietzsche im Diskurs

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b) Gegensätze und Übereinstimmungen aus Sicht von Befürwortern und Gegnern Die zweite an die Stirner-und-Nietzsche-Formel anschließende Frage, diejenige nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den individualistischen Lehren Stirners und Nietzsches, bot, indem sie auf die Deutung Stirners und Nietzsches abzielte, Anknüpfungspunkte für die Auslegung des Individualismus und die Interpretation des Einzigen im Verhältnis zum Übermenschen. Aufgrund ihrer strukturellen Offenheit bot diese Frage einen breiteren Spielraum für die Auseinandersetzung mit dem Individualismus als die erste, geschlossene nach Nietzsches Stirner-Kenntnis, wobei natürlich beide als aufeinander verweisend diskutiert wurden. Im folgenden wird das Feld der hierbei gegebenen Deutungen des Einzigen – unter Mitführung der jeweiligen Nietzsche-Interpretationen – und der dabei artikulierten Individualidentitätsangebote anhand von exemplarischen Auskünften zum Thema ‚Stirner und Nietzsche‘ um die Jahrhundertwende skizziert.402 Die eingangs zitierte Feststellung Max Messers, daß ‚Freunden wie Feinden‘ eine ‚fast unheimliche Ähnlichkeit‘ der Stirnerschen Gedanken mit denjenigen Nietzsches auffiel, ist dabei dahingehend zu modifizieren, daß sich sowohl unter den Stirner eher zugeneigten als auch unter den ihn tendenziell ablehnenden Interpreten nicht wenige finden, die die Unterschiede zwischen Stirner und Nietzsche akzentuieren. Auch variiert das Maß der jeweiligen Ablehnung oder Zustimmung, so daß die Rede von ‚Freunden und Feinden‘ in vielen Fällen zwar als zu drastisch erscheint – in einigen allerdings nicht –, um die Positionierungen der jeweiligen Stirner-Interpreten zu ihrem Gegenstand zu kennzeichnen. Aber die politisch-polemische Konnotation der Freund-Feind-Unterscheidung führt gleichwohl vor Augen, daß es auch bei diesen Stirner-Nietzsche-Vergleichen nicht bloß um rein wissenschaftlich-philologische Kontroversen geht, sondern zumindest implizit auch der Stirner-Nietzsche-Diskurs als Austragungsfeld für Kämpfe um die ‚öffentliche Auslegung des Seins‘403 – des Seins des modernen Individuums und seines Individualismus im Verhältnis zur Gesellschaft – und um die Durchsetzung bestimmter symbolischer Ordnungen der Anerkennung und Mißachtung, gesellschaftlicher Achtung und Ächtung fungierte. 402 Für die dargestellten Nietzsche-Deutungen gilt dabei im vorliegenden Kontext dasselbe, wie für die Deutungen des Einzigen: sie werden hier als Interpretationen referiert und analysiert, aber nicht bezüglich ihrer hermeneutischen Angemessenheit beurteilt oder daraufhin korrigiert. Der Nietzsche der Jahrhundertwende – und der modernen Gesellschaft insgesamt – ist eine nicht weniger schillernde und widersprüchliche Figur als der Einzige (vgl. z. B. Aschheim (1996), S. 23 ff.). Hier kann er allerdings nur unter dem Aspekt seiner diskursiv konstruierten Berührungspunkte mit dem Stirnerschen Individualismus in Betracht kommen. 403 Vgl. Mannheim (1928a), S. 334.

582 VI. Außenseiter, Aristokraten, Avantgardisten und andere Individualisten

In diesem Verständnis ist nicht jeder Stirner-Freund auch ein NietzscheFreund, und auch nicht jeder Stirner-Feind zugleich ein Nietzsche-Feind, was bereits darauf hinweist, daß beider Positionen durchaus oft sehr differenziert wahrgenommen wurden; sie wurden zwar regelmäßig miteinander verglichen, aber häufig gerade deswegen nicht gleichgesetzt.404 Das gilt selbst noch für diejenigen Interpreten, die Nietzsche und Stirner gleichermaßen ablehnten und insofern als Stirner- und Nietzsche-Feinde im Sinne Messers bezeichnet werden können; hier ist der Hang zur polemischen Gleichsetzung zwar ausgeprägter, aber auch bei solchen Interpreten finden sich Nuancierungen, typischerweise der Art, daß, weil Nietzsche das Hauptangriffsziel ist, dieser als der ‚schlimmere‘ bzw. ‚verrücktere‘ oder auch weniger reflektierte der beiden ‚Modephilosophen‘ erscheint.405 Bei all dem wird gleichwohl die diskursive Eigenwertigkeit der Stirner-Nietzsche-Formel bestätigt. Das Dual ‚Stirner und Nietzsche‘ wird in den Vergleichen kondensiert und konfirmiert und etabliert sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts als diskursives Symbol für den anti-bürgerlichen Individualismus der Jahrhundertwende- und Vorkriegszeit. Die Fragen nach den Ähnlichkeiten und Gegensätzen zwischen Stirner und Nietzsche zielen dabei typischerweise auf die moralphilosophischen und ethischen Implikationen dieses Individualismus. Sie befinden sich daher regelmäßig auf dem interpretationsschematischen Reflexionsniveau der JeEinzigkeit. Thematisiert wird, ob und wie als ‚Je-Einzige‘ oder als ‚Übermenschen‘ sich verstehende ‚Individualisten‘ miteinander und mit anderen Individuen leben können, wenn sie die herrschende bürgerliche Werteordnung nicht akzeptieren, welche Einwände gegen diese Werteordnung hervorgebracht werden, was aus individualistischer Sicht an deren Stelle treten soll – und was man davon zu erwarten hätte. Gefragt wird nach den Werten, die der Individualismus vertritt oder verwirft, nach den moralischen Anerkennungsverhältnissen, die er gegen die herrschende Moral einfordert, nach den normativen Maßstäben, auf die er sich hierbei beruft und nach denen er ethische Konzeptionen des Guten entwirft. 404 Weitgehende Einigkeit besteht bezüglich der stilistischen Verschiedenheiten zwischen Stirner und Nietzsche. Sie werden generell als solche wahrgenommen (vgl. Messer (1907), S. 4) und mitunter als geschmackliche Ursache für unterschiedliche Affinitäten der Rezipienten angesprochen (vgl. Ruest (1906), S. 291; Lachmann (1914), S. 12 ff., 38), aber – trotz der teilweise sehr starken Wertungen, die damit verbunden werden (vgl. Hartmann (1891), S. 61 ff.; Mackay (1898), S. 18 f.; Türck (1899), S. 328; vgl. dagegen Schultheiss (1906), S. 45) – nicht als in interpretatorischer Hinsicht entscheidende Differenz behandelt, aus der sich etwa eine prinzipielle Inkommensurabilität beispielsweise des ‚Philosophen Stirner‘ und des ‚Künstlers Nietzsche‘ begründen ließe (vgl. z. B. Lachmann (1914), S. 13). 405 Vgl. z. B. Hartmann (1891), S. 60 ff.; Hartmann (1897), S. 10; Hartmann (1898), S. III f.; Türck (1899), S. 327 ff.; vgl. auch Lucchesi (1906), S. 19.

4. Stirner und Nietzsche im Diskurs

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Zentral ist bei diesen Problematisierungen die bekannte Unterscheidung von ‚aristokratischen‘ und ‚demokratischen‘ moralphilosophischen Positionen, also die Differenz ‚Ungleichheit vs. Gleichheit‘ bezüglich der normativen Konzeption von Moral – mithin derjenigen Art von Kommunikation, die die personenbezogene Zuschreibung von Wertschätzung und die gesellschaftliche Verteilung von Achtung und Ächtung für je bestimmte Konzeptionen des guten Lebens regelt.406 Dies gilt in besonderem Maße für das beobachtete Verhältnis von Stirner und Nietzsche, deren Ähnlichkeiten und Unterschiede regelmäßig an der Stellung ihres jeweiligen Individualismus zu elitären oder egalitären Moralkonzeptionen fixiert werden. Die typischen Fragen sind dann: Erstens: wie halten es Stirner und Nietzsche, die beide die gegebene moralische Ordnung ablehnen, überhaupt mit der Moral und wie stehen sie zu dem Problem objektiver Werte? Und zweitens: setzen sie der herrschenden Ordnung normativ eine egalitär-universalistische Konzeption entgegen, die die gleiche Achtung jedes Individuums in seiner Individualität gebietet, oder propagieren sie eine partikularistische Ordnung der Ungleichheit mit einer ethischen Unterscheidung der Vielen von den Wenigen, denen aufgrund ihrer Individualität ein höheres Maß an Wertschätzung gebührt? Die im folgenden ausgewählten Texte und Autoren bieten ein breites Spektrum hierfür typischer Positionen und bilden zugleich häufig genannte Referenzen im Stirner-Nietzsche-Diskurs. Insgesamt wird sich in deren Beobachtung zeigen, unter welchen Aspekten der Einzige schwerpunktmäßig im Kontext dieses Diskurses thematisiert wurde, und zwar gerade auch über die verschiedenen, teilweise gegensätzlichen Bewertungen und Einschätzungen Stirners und Nietzsches hinweg. Mit Blick auf die Gesamtheit der Beiträge zu diesem Diskurs bleiben hierbei viele interpretatorische Variationsmöglichkeiten im Detail, die das empirische Textmaterial enthält, unberücksichtigt – und können es auch bleiben, denn es geht ja vor allem um die Darstellung des für die jeweilige Position Typischen anhand von exemplarischen Problematisierungen des Einzigen im Diskurs zum Individualismus bei ‚Stirner und Nietzsche‘ um die Jahrhundertwende. Bezogen auf die sinndimensionale Struktur des Einzigen waren insbesondere die Sachdimension, also die Unterscheidung des Einzigen vom Besessenen, spezifiziert als Frage nach der Moral und dem Gewissen, und die Sozialdimension, spezifiziert zur Frage nach den ‚aristokratischen‘ Implikationen des Einzigen, also seiner Überlegenheit gegenüber dem sozialen Anderen, Gegenstand der Kontroversen. Zeitdimensional wurde dagegen in diesem diskursiven Kontext mit der Deutung des Einzigen als eines normativen Ideals regelmäßig 406 Vgl. Luhmann (1989b), S. 17 ff.; Luhmann (1997a), S. 244 ff., 396 ff., 1036 ff.

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vorausgesetzt, daß hiermit eine Kritik und (selektive) Ablehnung der gegenwärtigen bürgerlichen Kultur und ihrer ethisch-moralischen Infrastruktur verbunden ist. aa) Georg Simmel Georg Simmel, dessen Werk sich mehr noch als das der anderen Autoren der soziologischen Klassik um die Probleme der Individualität, der Individualisierung und des Individualismus zentriert,407 zeigt sich zwar nicht offen feindselig, aber doch deutlich reserviert gegenüber Stirner, dessen grundsätzliche Verschiedenheit gegenüber dem von ihm geschätzten Nietzsche er betont. Im ‚Stirner-Jahr‘ 1906 sieht Simmel sich in seinem Vortragszyklus über Schopenhauer und Nietzsche veranlaßt, nachdrücklich darauf hinzuweisen, worin „der fundamentale und gar nicht zu überbrückende Abstand Nietzsches von Max Stirner“ besteht, „zu dem er [. . .] auf ganz oberflächliche Indizien hin [. . .] rangiert worden ist“.408 Der gänzlich unvermittelbare Gegensatz zwischen beiden besteht Simmel zufolge zum einen in ihren jeweiligen Haltungen zur Moral, zum anderen, damit aufs engste verbunden, in ihren unterschiedlichen Positionen zur Frage des „Aristokratismus“409 (1). Dementsprechend sind die von ihnen vertretenen Individualismen auch in ihrer soziologischen Bedeutung verschieden einzuschätzen (2). (1) Aristokratisches Ethos gegen Immoralität Für Stirner, dem „alle objektiven Maßstäbe und Wertungen wesenlose Einbildungen“ sind, „denen als einzige Realität das Subjekt gegenübersteht“, würde die Vorstellung und Forderung, „daß das Ich noch etwas Übersubjektives bedeuten könne, daß es überhaupt in eine Ordnung nach Werten eingestellt werde“, Simmel zufolge, „als schlechthin sinnlos erscheinen“. Dagegen zitiert er „Nietzsche [. . .]: ‚Ein Grauen ist uns der entartende Sinn, welcher spricht: Alles für mich!‘ Durch diesen Unterschied erhält die Lehre Nietzsches [. . .] das spezifische Cachet der Vornehmheit“, das ihn in der ethischen Frage der Objektivität und der Wertung diametral dem ‚sophistischen Subjektivismus‘ und Egoismus Stirners entgegensetzt.410 „Vornehmheit“ bestimmt Simmel zunächst als „ein formales Verhalten [. . .], in dem sich eine entschiedene Personalität und eine entschiedene Ob407 Vgl. Schroer (2001), S. 10 ff., 286 ff.; Dahme/Rammstedt (1983), S. 16 ff., 31 ff.; Landmann (1976), bes. S. 7 f. 408 Simmel (1906), S. 382. 409 Simmel (1902), S. 61. 410 Simmel (1906), S. 382.

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jektivität in einer charakteristischen Weise zusammenfinden. Als Wertungsart der Persönlichkeit wird sie bedeuten: daß der objektive Wert der Person empfunden wird. Die wahrhaft aristokratische Gefühlsweise enthält die Strenge gegen sich selbst, die den Wert der eignen Existenz nicht nach der Zufälligkeit der äußeren Position und nach dem, was das Leben uns an Gaben und Genüssen einträgt, abschätzt, sondern nach der Würdigkeit, all dieses zu besitzen; daher die ‚Würde‘ des vornehmen Menschen.“411 Der Hinweis auf die Irrelevanz der ‚zufälligen äußeren Position‘ für die ‚wahrhaft aristokratische Gefühlsweise‘, also die Unabhängigkeit des ‚Aristokraten‘ von seiner sozialstrukturellen Verortung, weist bereits deutlich darauf hin, daß die Grundlage dieses Aristokratismus nicht die leistungsunabhängige Geburtsständigkeit der alteuropäischen Aristokratie sein soll, sondern die „Qualität“412 einer Person, der objektive Wert der Persönlichkeit als Individuum. Der Aristokratismus Nietzsches ist demnach ein aristokratischer Individualismus, dessen „Wertrangierung“ auf „die unbedingte Konzentrierung des Wertes auf das Individuum [hingeht], die doch nur seiner objektiven Bedeutung als Stufe der Entwicklung der Menschheit zukommt.“413 Stirner dagegen ist für Simmel kein aristokratischer Individualist, weder Aristokrat, noch im strengen Sinne Individualist, sondern in gewisser Weise der Gegentypus zu Nietzsche, dem zu Recht vieles von dem vorgeworfen wird, dessen Nietzsche zu Unrecht bezichtigt wird. Bereits 1902 hatte Simmel in Zum Verständnis Nietzsches den „Aristokratismus“414 Nietzsches – übrigens im Unterschied zu einer ‚wohlfahrtsorientierten‘ „Sozialaristokratie“415 im Sinne Willes und der anderen Friedrichshagener Avantgardisten – hervorgehoben und das „Ideal der Vornehmheit in seiner eigentümlichen Weite und gleichzeitigen Strenge“ zum „eigentliche[n] Mittelpunkt, auf den das Grundgefühl Nietzsches alle Richtungen seines Denkens hinführt“, erklärt.416 Und gleich zu Beginn dieses Artikels nimmt Simmel Nietzsche gegen alle jene Vorwürfe und Mißverständnisse in Schutz, wie sie typischerweise aus dessen – in Simmels Augen eben: fälschlicher – Gleichsetzung mit Stirner resultieren:417 „Für einen Prediger des 411

Simmel (1906), S. 382 – H. i. O. Simmel (1906), S. 383. 413 Simmel (1906), S. 383. 414 Simmel (1902), S. 61. 415 Simmel (1902), S. 61. – Die „Ausbildung des aristokratischen Menschen ist die Rechtfertigung, daß überhaupt eine Gesellschaft besteht, und nicht umgekehrt.“ Die wahrhafte Aristokratie weiß sich in diesem Sinne als „Selbstzweck“ und die Gesellschaft bzw. die Massen als Mittel zu diesem Zweck, während die „Sozialaristokratie“ ihre Existenz mit ihrem „sozialen Effekt[]“ rechtfertigt, nämlich „als Mittel für die Wohlfahrt der Gesellschaft“ (Simmel (1902), S. 61 f.). 416 Simmel (1902), S. 63. 412

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egoistischen Genusses hält man ihn – und er lehrt die Verächtlichkeit alles bloßen Genießens, die Bedingtheit aller Größe durch das Leiden; anarchistische Zuchtlosigkeit will sich durch ihn rechtfertigen – und ihm kann gar keine Strenge und Disziplin hart genug sein; Gleichgültigkeit gegen die Menschheit außerhalb des Ich wirft man ihm vor – und in Wirklichkeit ist die Entwicklung unserer Gattung, die Erhöhung des Typus Mensch sein tiefstes, alles andere umfassendes Interesse. Alles dies verschuldet er durch die Unvorsichtigkeit, daß er sich einen ‚Immoralisten‘ nennt und dadurch eigentlich den Irrtum legitimiert, den er seinen Gegnern vorwirft: daß sie die Moral der gegenwärtigen Epoche für die Moral schlechthin halten. Er ist keineswegs Immoralist in dem Sinne, daß er die Bindung an feste Pflichten, daß er die Werte des Wollens leugnete, daß er dem Menschen sein Sollen erließe. Nur die gerade jetzt herrschende Moral verneint er. Denn in deren demokratisch-christlichen Idealen: Selbstlosigkeit, Demut, Entsagung, SichHingeben an die Zukurzgekommenen, die Elenden und Schwachen – sieht er die furchtbarste Gefahr für die Entwicklung unserer Gattung.“418 Dem Vorwurf einer schlechthin ‚immoralistischen‘ bzw. ‚antimoralischen‘ Einstellung mit der Implikation der Rechtfertigung, Inspiration und Verherrlichung antisozialen Verhaltens, wie er etwa von Hartmann, Türck oder auch Lucchesi gegen Nietzsche und Stirner vorgebracht wird, und den Simmel hier für Nietzsche pariert, wird regelmäßig von den Verteidigern sowohl Nietzsches als auch Stirners mit dem Nachweis begegnet, daß ‚ihr‘ jeweiliger Autor – oder beide – sich einerseits negativ nur gegen eine bestimmte, in der Regel die (vor)herrschende Moral richtet; und zwar deshalb weil diese Moral entweder formal, als Heteronomie (‚Du sollst‘), oder inhaltlich, als ‚lebensfeindliche‘, ‚widernatürliche‘, ‚schlechte‘ Werte vertretende, – oder auch gleichermaßen aus formalen und inhaltlichen Gründen – ‚minderwertig‘ ist. Dementsprechend wird andererseits typischerweise der Nachweis erbracht, daß die Ablehnung dieser bestimmten Moral nach dem Maßstabe höherer Werte erfolgt, bzw. diese höheren Werte impliziert, so 417 Der Name Stirners taucht in diesem Artikel nicht auf, aber einerseits sind speziell die im Folgenden vorgetragenen Vorwürfe typisch für den ‚Stirner und Nietzsche‘-Diskurs, – die Hinweise auf ‚Egoismus‘, ‚Anarchismus‘ und ‚Antihumanismus‘ lassen (bzw. ließen die Zeitgenossen) unmittelbar an Stirner denken – und andererseits ist dieser Nietzsche-Artikel Simmels als unmittelbare Aufnahme und Vertiefung der Argumentation und Fragestellung zu verstehen, die Simmel ein halbes Jahr zuvor in derselben Zeitschrift Das freie Wort im Vorläuferartikel Die beiden Formen des Individualismus (1901) ausgebreitet hatte (vgl. Simmel (1995), S. 366), in dem er explizit auf Stirner eingeht, und der im vorliegenden Kontext noch heranzuziehen sein wird. Zusammen bilden diese beiden Beiträge Simmels von 1901 und 1902 den werkgenetischen Hintergrund der oben zitierten Einschätzung der ‚StirnerNietzschefrage‘ in Simmels Vortragszyklus zu Schopenhauer und Nietzsche (1906). 418 Simmel (1902), S. 57 f. – H. i. O.

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daß also der negativen Haltung gegenüber der herrschenden Moral zugleich, und komplementär dazu, positiv eine neue Moral entspricht, die der bisherigen Moral ethisch überlegen ist: und zwar deshalb, weil sie formal die ethische Selbstbestimmung an die Stelle eines heteronomen ‚Du sollst‘ setzt und damit die ‚Besessenheit‘ überwindet; und weil sie inhaltlich die natürliche Verschiedenheit lebendiger Individuen zu ihrem Recht kommen läßt, die durch die widernatürliche Nivellierung und die Lebensfeindlichkeit der ‚abendländischen Metaphysik‘ und ihrer ‚christlichen Moral‘ seit Jahrtausenden unterdrückt und annihiliert wurde. Diesem Schema folgt auch Simmel in seiner Verteidigung Nietzsches, wenn er gegen den Vorwurf des Immoralismus Nietzsches aristokratisches Ethos stark macht. Die typische Verteidigungsstrategie zugunsten einer individualistischen Moral im Stirner-Nietzsche-Diskurs besteht generell darin, diese auf der Natürlichkeit individueller Unterschiede zu gründen, die gesellschaftlich als ‚Recht der Persönlichkeit‘ Anerkennung finden sollen und durch den herkömmlichen moralischen Konventionalismus in widernatürlicher Weise unterdrückt werden. Die im ‚Stirner und Nietzsche‘-Diskurs allseits diskutierte, aber zur ethisch-moralischen Fragestellung unterschiedlich relationierte Frage des Aristokratismus erhält in Simmels Nietzsche-Apologie eine positive und eindeutige Verknüpfung mit der individualistischen Ethik. Die Voraussetzung hierfür ist Simmel zufolge Nietzsches Konzeption der „‚Distanz‘ unter den Persönlichkeiten“,419 mit der die natürliche bzw. vor-soziale Verschiedenheit der Individuen als eine rangmäßige Ungleichheit spezifiziert wird. Die Evidenz individueller Verschiedenheit wird als eine ethisch relevante, natürliche – nicht mehr bloß: Unterschiedlichkeit, sondern: – Ungleichwertigkeit der Individuen gedeutet, die als solche sozial in hierarchischer Ungleichheit der Individuen ihren gerechten Ausdruck finden soll. „Die Voraussetzung der ganzen Idealbildung Nietzsches ist das, was er die ‚Distanz‘ unter den Persönlichkeiten nennt. Im Gegensatz zu allen demokratischen und sozialistischen Überzeugungen glaubt Nietzsche fest an die naturgegebenen Unterschiede zwischen Hohen und Niederen, Vorschreitenden und Verkümmerten, Herren und Sklaven – Unterschiede, die nicht nur unzerstörbar sind, sondern es auch sein sollen, weil alle Kultur und alle Entwicklung auf ihnen beruht. [. . .] Mit dieser Betonung der Distanz hat Nietzsche eine Wertkategorie eingeführt, die, so wirksam sie in der Wirklichkeit des Lebens ist, in der Ethik bisher so gut wie unbekannt war: die Vornehmheit.“420 Das in der natürlichen und wertmäßigen ‚Distanz‘ beglaubigte und im „Vornehmheitswert“421 gipfelnde ethische Pro419 420 421

Simmel (1902), S. 61. Simmel (1902), S. 61 f. Simmel (1902), S. 62.

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gramm ist „der viel verkannte, ganz einfache Sinn des ‚Übermenschen‘“.422 Denn Nietzsches Übermensch ist „derjenige Mensch, der in der Evolution unserer Gattung auf deren gegenwärtige Staffel folgen soll. Das Sollen, das Nietzsche lehrt, enthält die Bedingungen, die ihm dieses Aufsteigen zu gewähren scheinen; und insofern die gegenwärtige Moral umgekehrt die Bedingungen der Rückbildung und Erniedrigung zu Idealen macht, nennt er seine Lehre Immoralismus.“423 Aber dieser – in Simmels Augen von Nietzsche unglücklich gewählte – Begriff des ‚Immoralismus‘ bezeichnet eben gerade einen zutiefst moralischen Standpunkt, der der gegenwärtigen Moral, die mit ihren widernatürlichen und ethisch minderwertigen christlichen und demokratischen Idealen die ‚Distanz der Persönlichkeiten‘ mißachtet und damit „die Niederungen der Menschheit“424 in ungerechter und kulturfeindlicher Weise begünstigt, ethisch überlegen ist. Mit dieser ethischen Rehabilitierung425 rettet Simmel Nietzsche vor den moralisch motivierten Anfeindungen auch auf Kosten Stirners, für den er die Vorwürfe des ‚Immoralismus‘, im Sinne von ‚Antimoralismus‘ schlechthin, gelten läßt, und der ihm in seinem Negativismus und Subjektivismus als extremer Ausdruck dessen gilt, wogegen Nietzsche antritt. Denn Nietzsches Verneinung der christlich-demokratisch-sozialistischen Ideale richtet sich ja gegen den ethischen Nihilismus dieser Moral, die die höheren Werte, die ‚Vornehmheit‘ und die natürliche wertmäßige ‚Distanz‘ der Individuen negiert. Stirner steht in dieser Sichtweise, trotz der vermeintlich gleichen Frontstellung gegen die christlich-demokratisch-soziali422

Simmel (1902), S. 59. Simmel (1902), S. 59 – H. i. O. 424 Simmel (1902), S. 58. 425 Genau für diesen Aristokratismus lehnen freilich, wie oben, V. 4. a), dargestellt, Anarchisten wie Kropotkin und Nettlau den ‚autoritären Individualismus‘ Nietzsches ab, der als menschenverachtender Anti-Egalitarismus nichts mit dem Anarchismus zu tun habe. Kropotkin zufolge gilt das gleiche für Stirner, während Nettlau den ‚Anarchisten Stirner’ vor nietzscheanischer Vereinnahmung bzw. vor der Kropotkinschen Gleichsetzung mit dem ‚Autoritären Nietzsche‘ in Schutz nimmt. Kropotkin vertritt somit die Position derjenigen Stirner-Gegner, die die Gemeinsamkeiten Stirners mit Nietzsche betonen, während Nettlau zu den Stirner-Freunden zählt, die Stirners Verschiedenheit von Nietzsche hervorheben; siehe auch unten, VII. 3. a) aa). In dieser Hinsicht steht Kropotkin also in einer Front mit Nietzsche- und Stirner-Verächtern wie Türck (siehe unten) und Hartmann, auch wenn diese prinzipiell keine Einwände gegen den anti-egalitären Aristokratismus haben, und mit dem gemäßigteren Stirner-Nietzsche-Kritiker Lucchesi. Nettlau findet sich dagegen in einer Reihe mit Stirner-freundlichen Individualisten wie Ruest und Lachmann, stellt aber in der Grundsätzlichkeit und Heftigkeit seiner Ablehnung Nietzsches innerhalb dieser Position der zwischen Stirner und Nietzsche differenzierenden Stirner-Freunde insofern eine besondere Variante dar, als hier in der Regel der Individualist Nietzsche auch dann geschätzt wird, wenn Stirner der Vorzug gegeben wird. 423

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stische Moral, nur für deren letzte, lebensfeindliche Konsequenz, nämlich für einen vollständigen ethischen Nihilismus, der diese Moral nicht im Namen höherer Werte bekämpft, sondern deswegen, weil sie überhaupt noch Werte enthält. Denn wo Nietzsche dem aristokratischen Ethos der Vornehmheit entsprechend für eine soziale Ordnung eintritt, die die ‚objektiven‘ Wertdifferenzen der Individuen durch hierarchische Strukturen berücksichtigt,426 verweigert sich Stirners relativistischer Subjektivismus jeder objektiven Wertbestimmung der Individuen und damit auch jeder objektiv gerechtfertigten und übersubjektiv gültigen Werte- und Sozialordnung. Die relativistisch-subjektivistische Maßstabslosigkeit erlaubt keine ethische Bewertung der individuellen Unterschiedlichkeiten, deren Ungleichwertigkeiten daher unerkennbar bleiben. Damit fehlt aber jede Wertkategorie, an der die Individuen ihr Verhalten orientieren könnten und anhand derer eine ethisch gehaltvolle Kritik der bestehenden moralischen und gesellschaftlichen Ordnung und der positive Entwurf einer besseren Ordnung – jenseits von Dekadenz, Nihilismus und Nivellierung – formulierbar wäre – wie dies dagegen bei Nietzsche der Fall ist.427 Bereits im Vorjahr hatte Simmel sich in seinem – in derselben Zeitschrift wie Zum Verständnis Nietzsches erschienenen – Artikel Die beiden Formen des Individualismus hierzu geäußert. Stirner hatte er hierin, als eine „merkwürdige und extreme Erscheinung in der Geschichte des Individualismus“,428 eben jenen schwerpunktmäßig thematisierten „beiden Formen des Individualismus“ entgegengesetzt: Einerseits dem „älteren“, liberal-egalitären „Individualismus des 18. Jahrhunderts“ mit seinem humanistischen Universalismus (S. 55), den Simmel kurz zuvor in seiner Philosophie des Geldes auch als „abstrakte[n] Individualismus“429 bezeichnet hatte. Für diesen stehen insbesondere die Menschenrechte und die anderen ‚Ideale der Französischen Revolution‘ (vgl. S. 49 ff.). Andererseits dem jüngeren, „spezifisch moderne[n]“ (S. 52), mit Goethe, Schleiermacher und der Romantik beginnenden „Individualismus der Differenziertheit“ (S. 55), den Simmel als „qualitative[n] Individualismus“ bezeichnet (S. 53).430 Letzterer hat aus Simmels Sicht in Nietzsche seinen „absoluten moralphilosophischen Ausdruck gefunden“ (S. 54).431 Stirner aber „stellt sich jenseits beider Formen“, 426

Vgl. Simmel (1902), S. 61. Vgl. Simmel (1902), S. 58 f., 60. 428 Simmel (1901), S. 54. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben in diesem und den folgenden Absätzen beziehen sich ebenfalls auf Simmel (1901). 429 Simmel (1900), S. 493. 430 Vgl. Simmel (1900), S. 492 f. 431 Vgl. auch Schroer (2001), S. 311 ff., zu Simmels Unterscheidung der beiden Individualismen, die er in Simmels späterer Dichotomie von germanischem – qualitativen – und romanischem – abstrakten bzw. quantitativen – Individualismus wie427

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da er „nur die Thatsache der Individualität überhaupt zum Sinn des menschlichen Daseins macht, aber jeden Inhalt derselben, mag es der der Gleichheit oder der der Differenziertheit sein, als ganz gleichgültig ablehnt.“ (S. 54) Somit zählt Stirner zwar wie Nietzsche zu den Verächtern des egalitär-humanistischen Universalismus, ist aber weit entfernt vom qualitativindividualistischen Aristokratismus Nietzsches mit dessen Ethos der Vornehmheit. Stirner hat somit „die bloße Form des Individualismus seinen beiden Ausgestaltungen entgegengesetzt“, so daß nichts als „das von jedem Inhalt entleerte, radikal gesetz- und gegensatzlose Ich des Egoismus zurückblieb“ (S. 56). Damit hat er „die Konsequenz des Individualismus nach seiner rein negativen Seite hin“ (S. 56) gezogen und stellt, ohne jegliche positiv-inhaltliche Bestimmung, gleichsam die reine Struktur des Individualismus dar: eine Form ohne Inhalt. Simmel bemerkt zwar, daß gerade hierin das Interesse an der „Stirnerschen Lehre“ bestehen könnte; bei weitem wichtiger als die Auseinandersetzung mit dem Stirnerschen Negativismus und die wirkliche „große Aufgabe der Zukunft“ ist ihm aber „eine Lebens- und Gesellschaftsverfassung, die eine positive Synthese der beiden Arten des Individualismus schafft“ (S. 56). Hierfür aber ist Stirner nicht anschlußfähig. Zwar hat er, ebenso wie der von Nietzsche und anderen vertretene qualitative Individualismus der Differenziertheit „[z]weifellos [. . .] die schwachen Seiten des älteren Individualismus scharf gekennzeichnet“, indem er gezeigt hat, daß die von diesem ‚abstrakten Individualismus‘ als ‚Menschen‘ verstandenen „fundamental gleichen Gesellschaftsatome eigentlich keine Persönlichkeiten, sondern bloß isolierte Exemplare eines Allgemeinbegriffes sind“, nämlich ‚des Menschen‘ (S. 56). Und ebenso richtig ist Stirners Einwand gegen den egalitär-humanistischen Individualismus, „daß die formale Gleichheit vor dem Gesetz, der Stolz dieser Weltanschauung, die ärgste Vergewaltigung der Individualität nicht zu verhindern weiß. Aber er verkannte die Größe der Leistung, die doch damit geschehen war: die Emanzipierung des Menschen aus verkünstelt und naturwidrig gewordenen Verbindungen, das jugendliche Kraftgefühl, das in diesem Sich-Aufsichselbststellen lag, die ungeheure Aufgabe, gerade von dem Boden der fundamentalen Gleichheit aus ein wertvolles Leben und Sichentwickeln zu gewinnen.“ (S. 55) Und vor allem, das „ist das Merkwürdige“ und in diesem Zusammenhang auch der ethisch-moralische Haupteinwand gegen Stirner, verharrte Stirner in seinem derkehren sieht (vgl. Schroer (2001), S. 315 ff.). Diese ‚völkerpsychologische‘ Individualismusdeutung erinnert an die oben, V. 3. a) cc), bei Zenker (1895) herausgestellte Differenz zwischen dem ‚typisch französischen‘ Denker Proudhon und dem ‚typisch deutschen‘ Denker Stirner, denn auch bei Simmel kennzeichnet den ‚romanischen Individualismus‘ die Tendenz zum sozialen Allgemeinen, den ‚germanischen‘ die selbstgenügsame Selbstbezüglichkeit (vgl. Simmel (1917), bes. S. 268 ff.).

4. Stirner und Nietzsche im Diskurs

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reinen Negativismus und hat, anders als Nietzsche, darauf verzichtet, seinerseits einen qualitativen Individualismus der Differenziertheit zu entwickeln (S. 55). „Vor dem Ich in seiner absoluten Einzigkeit sinken ihm dessen einzelne Qualitäten unter: nicht nach meinen Eigenschaften, sagt er, sondern als ich selbst will ich geachtet sein. Die Einheit des Ich, für das die ganze Welt, seine eigenen Beschaffenheiten und Schicksale eingeschlossen, nur ein Gegenstand des Verbrauches ist, macht ihn gegen jeden Inhalt der Persönlichkeit gleichgültig: sowohl gegen das allgemeine Gesetz, das der ersten Form des Individualismus ihr Ideal gab, wie gegen die spezielle, unterschiedliche Qualifizierung, in der der Sinn der zweiten lag.“ (S. 56 – H. i. O.) Somit zeigt sich bereits hier für Simmel, daß Stirner weder für die Begründung einer individualistischen Ethik überhaupt, noch, spezifischer, für die Begründung eines aristokratischen Individualismus taugt. Denn er kann weder Kriterien zur Beurteilung des Handelns, noch solche zur Beurteilung des individuellen Wertes einer Persönlichkeit angeben. (2) Formen des Individualismus und ihre Soziologie Simmel unterscheidet also, läßt sich im Blick auf sein IndividualismusVerständnis und die Verortung Stirners resümieren, zwei Ausgestaltungen des Individualismus: den älteren, in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts wurzelnden, aber in der Moderne fortbestehenden ‚abstrakten Individualismus‘, der die Freiheit und Gleichheit eines jeden Individuums als Mensch geltend macht; und den neueren, im 19. Jahrhundert in Auseinandersetzung mit den Aporien des abstrakten Individualismus entstehenden, spezifisch modernen ‚qualitativen Individualismus‘, der die Individualität von Individuen als deren je besondere Qualität in Differenz zu allen anderen geltend macht. Diese beiden Ausgestaltungen des Individualismus unterscheidet er von der bloßen ‚Form des Individualismus‘, die er in ‚konsequent-negativistischer‘ „Reinlichkeit“ im Egoismus Stirners artikuliert findet.432 Der Einzige ist somit das, was vom Individuum nach Abzug aller inhaltlichen Bestimmungen übrig bleibt: die bloße Form des modernen Individuums, die reine Struktur, um deren insbesondere ethische Bestimmung die beiden Ausgestaltungen des Individualismus sich in unterschiedlicher Weise bemühen. Den aus Sicht der vorliegenden Untersuchung naheliegenden Umkehrschluß, daß Stirners Egoismus bzw. sein Einziger gerade wegen seiner Formalität und inhaltlichen Unbestimmtheit für die verschiedensten ethischen Bestimmungen und sonstigen interpretatorischen Ausgestaltungen, von denen ihn einige eben auch in der Nähe Nietzsches sehen, offen ist, zieht Simmel, der sich hier weniger für die Negativität des Einzigen als für eine 432

Simmel (1901), S. 56.

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positive Synthese der beiden Individualismen interessiert, nicht. Gleichwohl ist es im vorliegenden Kontext aufschlußreich, dem von Simmel in dem von ihm angesprochenen ‚Interesse an Stirner‘ gegebenen Hinweis zu folgen, und zwar in einer wissenssoziologischen Rekonstruktion seiner klassisch-soziologischen Auskünfte zur „Geschichte des Individualismus“.433 Ausgehend von den wissenssoziologischen Prämissen zur exklusionsindividuellen Sozialstruktur der modernen Gesellschaft und zum dadurch bedingten semantischen Durchsetzungs-, Registratur- und Reflexionsbedarf,434 erscheinen die zwei von Simmel beobachteten Individualismen als semantische Syndrome, die beide gleichermaßen durch die sozialstrukturelle Exklusionsindividualität bedingt sind, diese aber in unterschiedlicher Weise und bezüglich verschiedener Aspekte deuten und ausgestalten. Daß Simmel beide als ‚Individualismus‘ bezeichnet, verweist auf die Gemeinsamkeit der sozialstrukturellen Exklusionsindividualität als Bedingung und Gegenstand beider semantischen Syndrome. Gemäß der im vorliegenden Kontext vorgeschlagenen wissenssoziologischen Terminologie zur Beobachtung von unterschiedlichen semantischen Formen handelt es sich jedoch nur bei Simmels zweitem, ‚qualitativen‘ Individualismus um eine im engeren Sinne individualitätssemantische Form. Denn die Individualitätssemantik bezieht sich auf die Identität des gesellschaftlich exklusiv bestimmten modernen Individuums in seiner Individualität, mithin auf die Exklusionsseite der Exklusionsindividualität. Dagegen ist Simmels erster, ‚abstrakter Individualismus‘ dem semantischen Syndrom des ‚Neuhumanismus‘ zuzurechnen, das die soziale Inklusionsseite des modernen Individuums normativ als prinzipielle Inklusionsfähigkeit eines jeden – und diesbezüglich freien und gleichen – Menschen, also als von individuellen Besonderheiten abstrahierende Personalität faßt, wie dies paradigmatisch im Universalismus der Menschenrechte und in den ‚Ideen von 1789‘ zum Ausdruck kommt.435 Mit der Unterscheidung des ‚qualitativen‘ vom ‚abstrakten Individualismus‘ markiert Simmel in seiner Terminologie exakt diese Differenz von Individualitätssemantik und neuhumanistischem semantischen Syndrom. Der ‚qualitative‘ Individualismus zielt auf die individuellen Qualitäten von und die Differenzen zwischen Individuen, also auf deren ‚Individualität‘. Simmel kennzeichnet diesen Individualismus im Hinblick auf dessen Bedingtheit durch die Freisetzung der „Individualität“ aus vormodernen, geburtsständisch geregelten Einbindungen436 – also aus gesellschaftlich inklusiver 433

Simmel (1901), S. 54. Siehe oben, I. 3. und 4. 435 Vgl. Luhmann (1997a), S. 934, 1025 ff., 1075 ff. 436 Simmel (1901), S. 49, vgl. S. 50 ff. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben in diesem und den folgenden Absätzen beziehen sich wiederum auf Simmel (1901). 434

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Identitätsbestimmung – und insbesondere im Hinblick auf dessen Anliegen, diese so zu „freie[n] Einzelne[n]“ entbundenen Individuen als individuell „Bestimmte und Unverwechselbare“ zu erfassen (S. 52). „Nachdem die prinzipielle Lösung des Individuums von den verrosteten Ketten der Zunft, des Geburtsstandes, der Kirche vollbracht war, geht sie nun dahin weiter, daß die so verselbständigten Individuen sich auch von einander unterscheiden wollen“ (S. 52 – H. i. O.). „Daß auch die Verschiedenheit des Menschlichen eine sittliche Forderung sei, daß jeder gleichsam ein besonderes Idealbild seiner selbst, das keinem anderen gleich ist, zu verwirklichen habe – das war eine ganz neue Wertung, ein qualitativer Individualismus“ (S. 53 – H. i. O.). Simmel charakterisiert mithin den qualitativen Individualismus als eine durch die exklusionsindividuelle Sozialstruktur bedingte, diese registrierende und reflektierende Individualitätssemantik. Der ‚abstrakte Individualismus‘ behandelt alle Individuen als von Geburt an gleiche Menschen mit gleichen Rechten, Freiheits- und sozialen Teilhabechancen. Dies ist der von Simmel akzentuierte ‚emanzipatorische‘ Aspekt, der ebenso auf Exklusionsindividualität im Gegensatz zu vormodernen, inklusiven Identitäts- und Rollenzuweisungen durch schichtspezifische Geburt abstellt. Im Gegensatz zum ‚qualitativen‘ zielt der ‚abstrakte Individualismus‘ somit auf das, worin alle Individuen gleich sind – oder sein sollen –, und nicht auf das, worin sie sich voneinander unterscheiden – oder unterscheiden sollen –, nicht auf die Individualität, sondern auf die Personalität bzw. universelle Humanität der Individuen. Für den abstrakten Individualismus war „nicht der besondere, in seiner Eigenheit unvergleichliche Mensch der Gegenstand des Interesses [. . .], sondern der allgemeine Mensch, der Mensch überhaupt.“ (S. 50) Hier ist es „das allgemeine Abstraktum Mensch, dem alle Begeisterung gilt, weil von allem abgesehen ist, was die Menschen voneinander unterscheidet.“ (S. 51) Die mit dem „einheitliche[n] Ideal“ von „Freiheit und Gleichheit“ sich ausdrückende prinzipielle Inklusionsfähigkeit eines jeden ‚Menschen‘ in prinzipiell jedem gesellschaftlichen Bereich – im Gegensatz zu den geburtsständischen Limitationen der vormodernen Inklusionsordnung – relationiert Simmel ebenfalls mit der Freisetzung des Individuums aus den gesellschaftlichen Eingliederungen, „sozialen und historischen Bindungen und Formungen“ der alteuropäischen Welt (S. 50), also mit der sozialstrukturellen Exklusionsindividualität des modernen Individuums: Dieser „allgemeine Mensch tritt eben schlechthin als Individuum auf, er soll ein auf sich stehender, für sich allein verantwortlicher sein, in schärfstem Gegensatz gegen alle vom Mittelalter her überlebten Normen, die den Menschen nur als Glied einer Einung, als Element einer Kollektivität kannten. Dies ist der originelle und höchst bedeutsame Standpunkt des 18. Jahrhunderts: die Allgemeinheit bedeutete nicht soziale Verschmelzung, sondern inhaltliche oder Rechts- oder Werte-

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gleichheit isolierter Individuen.“ (S. 51) Das Individuum als „das eigene, von aller Bindung gelöste Ich“ zu behandeln und dieses zugleich „als das allgemein menschliche, in allen gleiche und gleich wertvolle“ zu deuten – also exklusionsindividuelle Sozialstruktur einerseits und neuhumanistische Semantik andererseits –, sind „nur zwei Ausstrahlungen eben desselben Prinzips“ (S. 52). Dieser ältere Individualismus hat, als neuhumanistisches semantisches Syndrom, der modernen Exklusionsindividualität zur Durchsetzung verholfen und ist zugleich deren Ausdruck nach der Seite der allgemeinen Inklusionsfähigkeit eines jeden Individuums, also seiner Personalität (vgl. S. 49 f.). Darauf, daß das neuhumanistische Syndrom nur die Inklusionsseite der Exklusionsindividualität beschreibt und damit von der Individualität des modernen Individuums abstrahiert, reagiert, ausgehend von und in Auseinandersetzung mit diesem semantischen Syndrom, die Individualitätssemantik. Sie bezieht sich auf die Exklusionsseite der Exklusionsindividualität, indem sie auf die Beobachtung von individuellen Differenzen abstellt, wobei sie an die neuhumanistische Beschreibung der Inklusionsseite teils positiv (wenn auch kritisch-reflexiv) anschließt, diese aber auch teils verwirft (wie z. B. Nietzsche), und dementsprechende Individualidentitätsangebote hervorbringt, die sich teils komplementär zum neuhumanistischen Universalismus verstehen, z. B. das romantische Künstler-Ideal, teils als dessen Negation, wie z. B. Nietzsches aristokratisches Ideal der Vornehmheit.437 Simmel leitet die Dynamik dieser semantischen Entwicklung aus der internen Spannung der Ideen von 1789 ab, und zwar vor allem derjenigen zwischen Freiheit und Gleichheit. „Freiheit bedeutet doch, daß die individuelle Persönlichkeit ihre Eigenschaften ungehemmt entwickeln, ihre Kräfte vollkommen bewähren könne. In dem Maße, in dem dies gelingt, müssen die Unterschiede der Naturen sich schärfer herausarbeiten. Die Freiheit mag die klassenmäßigen Ungleichheiten beseitigen, die uns von außen kommen und nichts weniger als der Ausdruck unserer wirklichen und persönlichen Ungleichheiten sind. Indem diese aber vermöge der individuellen Freiheit sich restlos entfalten, werden sie unvermeidlich zu einem Ausdruck in den Beziehungen der Menschen untereinander drängen und so auch eine äußere Ungleichheit als die Folge der Freiheit ergeben, eine Ungleichheit, die, obgleich oder weil sie eine gerechtere ist, nicht kleiner als die historisch gegebene sein dürfte.“ (S. 49) Das dritte Ideal der Französischen Revolution, die Brüderlichkeit, versteht Simmel daher als bloßes Korrektiv, das einge437 Zur Individualitätssemantik in diesem Sinne ist neben dem von Simmel beschriebenen ‚qualitativen Individualismus‘ auch Stirners Einziger inklusive seiner rezeptionsgeschichtlichen Interpretationen, aber auch die Psychoanalyse und nicht zuletzt auch Simmels Individualitäts-Soziologie zu rechnen.

4. Stirner und Nietzsche im Diskurs

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führt werden mußte, um die aus seiner Sicht von vorneherein dem Freiheits-Ideal eingeschriebenen anti-egalitären Tendenzen einzuhegen. „Es war vielleicht ein Instinkt für diesen Sachverhalt, der der Freiheit und Gleichheit als dritte Forderung die Brüderlichkeit hinzufügen ließ. Denn nur durch ausdrücklichen Altruismus, durch sittlichen Verzicht auf das Geltendmachen natürlicher Vorzüge wäre die Gleichheit wieder herzustellen, nachdem die Freiheit sie aufgehoben hat.“ (S. 49) Indem er natürliche – ‚vorgesellschaftliche‘ – individuelle Verschiedenheit mit ‚wirklicher‘ hierarchischer Ungleichheit und Ungleichwertigkeit der Individuen identifiziert – und damit soziale Ungleichheitskonstruktionen naturalisiert bzw. essentialisiert –, zeigt sich Simmel ganz im Banne Nietzsches, bzw. seiner Nietzsche-Lesart. Und so geht er, trotz aller Hoffnungen auf die „positive Synthese der beiden Arten des Individualismus“ bezüglich ihrer Errungenschaften (S. 56), von einer prinzipiellen Unvereinbarkeit von „Freiheit und Gleichheit, oder [. . .] Individualität und Gleichheit“ aus (S. 52). Soziale Ungleichheit kann entweder, wie unter vormodernen Bedingungen ‚naturwidriger‘ Standesgrenzen, freiheitsfeindlich sein, oder aber aus der individuellen Freiheit erwachsen; im ersten Fall ist sie naturwidrig, weil sie als gesellschaftliche Ungleichheit nicht der wirklichen, natürlichen Ungleichheit der Individuen entspricht, im zweiten Fall ist sie Folge und Entsprechung der natürlichen individuellen Ungleichheiten und als solche gerecht. Soziale Gleichheit dagegen ist immer naturwidrig und ungerecht. Hierin liegen daher für Simmel auch die ethischen Defizite des älteren, egalitär-universalistischen Individualismus, für den er Kant anführt: „Wenn Kant den ganzen Wert der Menschen und alle Wertunterschiede zwischen ihnen ausschließlich in den Willen verlegt, so setzt dies im letzten Grunde voraus, daß das Sein der Menschen, das naturgegebene Fundament ihrer Entwicklung, bei allen ununterschieden ist. Der etwas mechanistische Gerechtigkeitsbegriff des 18. Jahrhunderts konnte nicht zugeben, daß dasjenige, wofür der Mensch nichts konnte, über seinen Wert entschiede; wenn er minderwertig ist, so muß er es sich ganz allein zuzuschreiben haben. Daß der Wille allein allen Menschenwert trägt, ist also die konsequente Entwickelung jener Lebensauffassung, für die das letzte, unabänderliche Fundament der Menschen das in allen gleiche ist, so daß der Grund ihrer Wertdifferenz nicht in ihrem Sein, sondern oberhalb desselben, in dem variablen Element des Willens gesucht werden muß.“ (S. 53 f. – H. i. O.) Im äußersten Gegensatz dazu ist „für Nietzsche diese Wertung des Seins und damit der elementare Unterschied zwischen Mensch und Mensch der eigentliche Drehpunkt des ethischen Interesses geworden. Hier liegt vielleicht der tiefste Grund seines Hasses gegen den Kantischen Moralismus: nicht was die Menschen wirken, d. h. wollen, sondern was sie sind, begründet ihren Rang – er mußte es als eine Gewaltthat empfinden, das Sein zu egali-

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sieren, zum höheren Ruhme des Willens und der moralischen Verantwortung. [. . .] Der Unterschied des Individualismus, der sein Ideal in der Gleichheit und Gleichberechtigung der gesellschaftlichen Elemente sieht – gegen den anderen, für den die Unterschiede zwischen ihnen den ganzen Sinn der Menschheit ausmachen – jener konsequent eine formale Freiheit, dieser ein naturgegebenes Befehlen und Gehorchen predigend – hat hier seinen absoluten moralphilosophischen Ausdruck gefunden.“ (S. 54) Die Freiheit individueller Selbstentfaltung muß demnach notwendig, angesichts der individuellen Verschiedenheit der Individuen, zu einer rangmäßigen sozialen Ungleichheit führen. Entgegen den universalistischen Gleichheitshoffnungen des ‚abstrakten Individualismus‘ ist daher, im Sinne des diesbezüglich realistischeren ‚qualitativen Individualismus‘ eine neue soziale Hierarchie zu erwarten, die allerdings, anders als die vom Standpunkt beider Individualismen als naturwidrig abgelehnte hierarchische Ordnung Alteuropas, den wertmäßigen Unterschieden der Individuen entspricht. Insofern ist einem ‚qualitativen Individualismus‘ der anti-egalitäre Aristokratismus als Fluchtpunkt immer eingeschrieben.438 Der ‚spezifisch moderne Individualismus‘ ist daher bei Simmel immer nur als ‚aristokratischer Individualismus‘ konzipierbar; und Stirner gehört nicht dazu – was allerdings beides von anderen Stirner-Nietzsche-Interpreten bestritten wurde. Daß dieser ‚spezifisch moderne Individualismus‘ von Simmel nicht nur als ein Korrektiv gegenüber dem „unhistorische[n] Ideal des 18. Jahrhunderts“ (S. 56), das dem älteren Individualismus die problematische und naturwidrige Tendenz zum „Nivellement“ der Individuen einschreibt (S. 53), verstanden wird, sondern auch als Gegenposition gegen die darauf sich einseitig berufenden ideologischen Tendenzen der Gegenwart, wird deutlich anhand seines Rückblicks auf das Schicksal des abstrakten Individualismus. Infolge des „inneren Widerspruchs“ seiner Leitidee „von Freiheit und Gleichheit, oder, dasselbe anders ausgedrückt, von Individualität und Gleichheit“ (S. 49), kam es demnach zu einer Aufspaltung des älteren Individualismus „in zwei ganz divergente Strömungen“: in die beiden Traditionsstränge des Sozialismus, der nunmehr nur die Gleichheit fordert, einerseits, und des „spezifisch modernen“ qualitativen Individualismus andererseits, der die Freiheitsforderung mit ihren anti-egalitären Implikationen aufnimmt (S. 52). Während der Sozialismus also die „Tendenz auf Gleich438 Nietzsche erscheint daher in seinem anti-egalitären Aristokratismus als vollendete Konsequenz des qualitativen Individualismus, und nicht bloß als eine kontingente Variante von Individualitätssemantik, die beispielsweise in der Frühromantik auch egalitär-universalistische Formen hervorgebracht hat, die sich positiv auf die ‚Ideen von 1789‘ beziehen, indem sie programmatisch auf deren Vollendung in der Kunst setzen.

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heit ohne Individualität“, oder ‚ohne Freiheit‘, verkörpert, steht der qualitative Individualismus für die Tendenz auf ‚Freiheit‘ bzw. „Individualität ohne Gleichheit“ (S. 52) und empfiehlt sich somit, angesichts der impliziten Alternative ‚Freiheit oder Sozialismus‘, als weltanschauliches Bollwerk gegen den kollektivistischen Zug und die Vermassungstendenzen der Moderne wie auch insbesondere gegen den Sozialismus. Die Individualitätssemantik des qualitativen Individualismus richtet sich hiermit polemisch gegen das semantische Syndrom des Neuhumanismus, als dessen Fortschreibung der Sozialismus hier erscheint, indem er gleichsam das halbe Erbe des ‚abstrakten Individualismus‘ antritt. Stirner dagegen wendet sich Simmel zufolge zwar gegen die Abstraktion der allgemeinen menschlichen Gleichheit, ohne aber an deren Stelle die Ungleichheit der Individuen näher zu bestimmen. „[J]enseits beider Formen“, des ‚abstrakt-individualistischen‘ neuhumanistisch-semantischen Syndroms wie der ‚qualitativ-individualistischen‘ Individualitätssemantik stehend, macht er bloß „die Thatsache der Individualität überhaupt“ geltend, „ganz gleichgültig“ gegen „jeden Inhalt“, sowohl gegenüber dem Aspekt der „Gleichheit“ wie dem der „Differenziertheit“ (S. 54). Stirners Einziger läßt sich daher in der von Simmel beschriebenen Konstellation aufgrund seiner doppelten Frontstellung sowohl gegen die neuhumanistisch-semantische Reflexion der sozialstrukturellen Exklusionsindividualität als auch gegen die Individualidentitätsangebote der ‚qualitativ-individualistischen‘ Individualitätssemantik als individualitätssemantische Struktur verstehen. Als eine solche Struktur reflektiert der Einzige die sozialstrukturelle Exklusionsindividualität im Hinblick auf deren semantischen Registratur- bzw. Deutungsbedarf, der sich in der oben (siehe I. 4.) skizzierten vielfältigen Interpretierbarkeit und Interpretationsbedürftigkeit des Einzigen wiederfindet. Damit entspricht Stirners Figur des Einzigen paradigmatisch dem modernen Individuum in seinem soziologischen Amorphismus und sozialen Polymorphismus. Simmels zwei Individualismen sind demnach semantische Lösungsangebote für das sozialstrukturelle Problem, auf das Stirner mit dem Formalismus des Einzigen hingewiesen hat. Und in den Interpretationen des Einzigen – das ist die These der vorliegenden Arbeit – lassen sich daher weitere solcher semantischen Lösungsangebote beobachten. Stirners Einziger bezeichnet in dieser Sicht den sozialstrukturell gegebenen – wissenssoziologisch als Exklusionsindividualität beschreibbaren – Kontingenzspielraum moderner Individualität, dessen genauere semantische Ausgestaltungen den Schauplatz und das Material für das ‚Ringen um die öffentliche Auslegung des Seins‘439 des modernen Individuums bilden. Im Stirner-Nietzsche-Diskurs und seiner Thematisierung und Problematisierung 439

Vgl. Mannheim (1928b), S. 334.

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des Individualismus – als einer ‚aristokratischen‘ oder aber ‚demokratischen‘ Weltanschauung und Ethik440 – spielen sich in exemplarischer und symptomatischer Weise ‚symbolische Kämpfe‘441 ab: um die hegemoniale Deutung dessen, was als Individuum und Individualität zu gelten hat, um die Durchsetzung je bestimmter normativer Kriterien der ethischen Wertschätzung und moralischen Achtung, anhand derer die Verteilung von Prestige und sozialen Zugangschancen zu Macht und Wohlstand geregelt wird, und daher auch darum, wer politisch zu bekämpfen und welches soziale Ordnungsprojekt zu verfolgen ist. Insofern verdichten sich in der Kontroverse um ‚Stirner und Nietzsche‘ auch wesentliche Aspekte des Kampfes um die Gestaltung der Moderne im Ganzen. So wie die sozialstrukturelle Exklusionsindividualität einen Kontingenzspielraum eröffnet, der konkreter Ausgestaltungen bedarf und hierbei ein breites Spektrum an Individualidentitätsangeboten zuläßt, gilt dies entsprechend auch für die sie bedingende primär funktionale Differenzierungsform der modernen Gesellschaft in ihrem Gestaltungsspielraum insgesamt. Dies zeigt sich beispielsweise daran, daß die moderne Gesellschaft, global betrachtet, nicht überall wirtschaftlich kapitalistisch, kulturell liberal und politisch demokratisch verfaßt ist – und auch dort, wo sie es ist, über keine sozialstrukturelle Bestandsgarantie dieser Verfaßtheit verfügt, wie etwa an der Geschichte des 20. Jahrhunderts ersichtlich. Außerdem schließt der Primat der funktionalen Differenzierungsform auf der Ebene des Gesellschaftssystems das Vorkommen hierarchischer und anderer Teilordnungen nicht aus. Denn wo es eine gesamtgesellschaftlich verbindliche Hierarchisierung nicht gibt, wird die quasi autonome Instituierung von hierarchischen Strukturen auf ‚unteren‘, teilsystemischen Ebenen des Gesellschaftssystems freigestellt und damit ermöglicht.442 Dementsprechend ermöglicht die gesamtgesellschaftliche Freistellung von Individuen in Form der sozialstrukturellen Exklusionsindividualität nicht nur die autonome Inklusions-Exklusions-Regelung auf der Ebene der Funktionssysteme, sondern auch parasitäre Bildungen von Inklusions-Exklusions-Ordnungen, die die – normativ in der Semantik des Neuhumanismus artikulierte – prinzipielle Inklusionsfähigkeit, also die Personalität eines jeden sozialstrukturell exklusionsindividuell bestimmten Individuums konterkarieren,443 ohne daß es hierdurch auf der Ebene der Gesellschaft und ihrer Funktionssysteme zu Störungen kommen muß. Denn eine die moderne Ge440

Vgl. Ruest (1906), S. 291. Vgl. Bourdieu (1984). 442 Vgl. Luhmann (1997a), S. 611 ff., 743 ff., 760 ff. 443 Vgl. Luhmann (1997a), S. 661, 683; Luhmann (2000), S. 45, 69, 90, 133; vgl. auch Luhmann (1994d), S. 167 f. 441

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sellschaft überlagernde bzw. sich in sie einlagernde Metacodierung von Inklusion und Exklusion, wie sie Luhmann zuletzt – mit Sorge – beobachtet hat,444 die zwischen kommunikativ ‚adressablen‘445 bzw. inklusionsfähigen und für funktionssystemisch erforderliche Inklusion verfügbaren ‚Personen‘ einerseits und kommunikativ nicht erreichbaren und insofern ‚barbarischen‘, im gesellschaftlichen Exklusionsbereich beobachtbaren, potentiell gefährlichen, aber auch aufgrund ihres rechtlosen Status gefährdeten ‚Körpern‘ unterscheidet, stellt angesichts des asymmetrischen Abhängigkeitsverhältnisses zwischen dem einzelnen Individuum und der Gesellschaft keine Bedrohung für die gesellschaftliche Autopoiesis dar: Da zwar jedes einzelne Individuum auf seine gesellschaftliche Umwelt angewiesen ist, aber umgekehrt die Gesellschaft nicht auf jedes einzelne Individuum, kann es sich die moderne Gesellschaft leisten, in ihrer kommunikativen Selbstreproduktion (Autopoiesis) auf jene auf ‚Körper‘ reduzierten Individuen zu verzichten, solange sie über einen Grundbestand an ‚Personen‘ für die Inklusionserfordernisse ihrer Teilsysteme verfügt. Zu Irritationen kann es indes auf der Ebene der Semantik kommen, etwa wenn die Diskrepanz zwischen dem (noch dominanten) universalistischmenschenrechtlichen Selbstverständnis der modernen Gesellschaft und der tatsächlichen Entrechtung – und in gewisser Weise ‚Entmenschung‘ – von Individuen oder ganzen Bevölkerungsgruppen, oft in Verbindung mit Gewalt, beobachtet wird.446 Zugleich ist es aber auch die semantische Ebene, auf der partikulare Exklusions-Inklusions-Ordnungen und hierarchische Strukturen nicht nur legitimiert, sondern auch vorbereitet und durchgesetzt werden. Während die primär funktional differenzierte und exklusionsindividuelle Sozialstruktur gleichsam genügsam gegenüber ihren verschiedenen Ausgestaltungsmöglichkeiten und deren semantischen Deutungen ist, solange die Autopoiesis der Funktionssysteme dadurch gewährleistet bleibt, daß keine gesamtgesellschaftlich hierarchische Struktur deren Autonomie in Frage stellt, entfalten sich gerade auf der Ebene der Semantik – die in der Moderne zudem eine relativ hohe Eigenständigkeit gegenüber gesellschaftsstrukturellen Vorgaben besitzt447 – in Form von widerstreitenden Weltdeutungen – zu denen auch die hier untersuchten Individualidentitätsangebote gehören, aber auch politische Ideologien, wissenschaftliche Diskurse usw. – die Kämpfe um die Durchsetzung je bestimmter Ordnungen 444

Vgl. Luhmann (1995c). Vgl. Fuchs (1997a). 446 Beispiele aus jüngerer Zeit: Frauen unter der Taliban-Herrschaft in Afghanistan, mutmaßliche Taliban- und Al-Qaida-Kämpfer in Guantanamo; aber auch Straßenkinder und Favela-Bewohner in Brasilien. 447 Vgl. Luhmann (1997a), S. 471 f., 553 ff., 888 ff. 445

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der Inklusion/Exklusion und der Hierarchie innerhalb des sozialstrukturell gegebenen Kontingenzspielraums. Solche symbolischen Kämpfe auf der Ebene der Semantik sind also aufgrund und im Rahmen des sozialstrukturell gegebenen Kontingenzspielraums möglich. Hierbei in spezifischer Weise von Kämpfen als – symbolisch ausgetragenen – Macht-Konflikten zu sprechen, erlaubt im Rahmen der Luhmannschen Theorie der modernen Gesellschaft der Befund, daß Macht auch hier noch „soziologisch amorph“448 ist: nur in Form des binär codierten symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums ist Macht ein Spezifikum des politischen Funktionssystems, in anderen Formen kommt Macht gesellschaftlich prinzipiell immer und überall vor – als Einfluß, Autorität, Charisma usw. – und ist insofern auch für Weltdeutungskonflikte verfügbar und in diesen beobachtbar. So wie die gesamtgesellschaftliche Exklusions-Inklusions-Regelung teilsystemische Exklusions-Inklusions-Ordnungen zuläßt, die Personalität konterkarieren, und so wie der Primat der funktionalen Differenzierungsform auch nachgeordnete hierarchische Teilordnungen ermöglicht, schließt auch das politische Funktionssystem, das sich selbst operativ anhand seines symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums, der politischen Macht, schließt, nicht aus, daß in seiner sozialen Umwelt Macht in vielfältiger Form weiterhin vorkommt.449 Darüber hinaus geraten die semantisch ausgetragenen symbolischen Kämpfe spätestens dann auch aus systemtheoretischer Sicht in den Relevanzbereich des im engeren Sinne politischen Machtcodes, wenn sie unmittelbar, z. B. als politische Ideologien, programmatisch für die Begründung von politischen Entscheidungen herangezogen werden. Aber auch beispielsweise in den – historischen wie gegenwärtigen – wissenschaftlichen Diskursen um die ‚natürliche‘ bzw. ‚genetische‘ Bedingtheit von individuellen Merkmalen werden Weltdeutungskämpfe ausgetragen, die effektiv – nicht notwendig intentional –450 für die Rechtfertigung bzw. Durchsetzung von spezifischen 448

Weber (1922), S. 28. Vgl. Luhmann (2000), S. 38 ff., 51 ff., 55 ff., 69 ff. 450 Der Begriff ‚Effektivität‘ statt ‚Intentionalität‘ trägt, erstens, dem Umstand Rechnung, daß die Vorstellung, die in Kämpfen in Frage stehenden ‚Normalitäten‘, Ordnung(svorstellung)en, Interessen, Werte usw. seien jeweils daran beteiligten Makro-Subjekten – gesellschaftlichen Gruppen – als homogene und einheitliche Intentionen bzw. Willensinhalte oder Ziele zuzuschreiben, eine Konstruktion ist, die mittlerweile schwer zu plausibilisieren ist und beispielsweise von der klassischen marxistischen Ideologiekritik vertreten wurde, die mit den Kategorien der ‚Klasse‘ und des ‚Klassenbewußtseins‘ solche Makrosubjekte konstruierte. Das gilt im besonderen Maße für ‚symbolische Kämpfe‘ (vgl. Göhler (2000) zu den folgenden symboltheoretischen Überlegungen), da es ja gerade zu den Spezifika des Symbolischen und seiner ‚hermeneutischen Elastizität‘ gehört, innerhalb eines bestimmten Konnotationsspektrums eine Vielzahl von nicht-homogenen Deutungen zu ermöglichen 449

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Ordnungen der Exklusion und Inklusion, der Über- und Unterordnung – oder auch für deren Delegitimation – nutzbar sind. Die Rede von ‚Effekten‘ solcher symbolischen Kämpfe – statt von ‚Intentionen‘ – vermeidet die Schwierigkeit der traditionellen Ideologiekritik, Interessenzuschreibungen gegenüber vermeintlichen Makro-Akteuren (‚Klassen‘) vorzunehmen. Gleichwohl läßt sich auf der Ebene der Semantik, in der Analyse von individual- wie kollektividentitären Selbstverständnissen in Relation zu den jeweils vorgebrachten Weltdeutungen, insbesondere ethischen und politischen Ordnungsvorstellungen, beobachten, wer von welcher sozialen Ordnung und Realitätsdeutung (effektiv) begünstigt wird und sich auch (intentional) Begünstigungen verspricht – und auf wessen Kosten, ob intentional oder nicht. Und unter dieser Voraussetzung läßt sich dann auch von ‚Ideologien‘ im ideologiekritischen Sinn sprechen.451 Gerade weil jener und somit auch eine Vielzahl heterogener Interessen- und Wertstandpunkte zu integrieren und so, im übertragenen wie auch mitunter wörtlichen Sinne: ‚unter einer Flagge‘ zu vereinen und gegebenenfalls in den Kampf zu führen; dabei zählt die ‚symbolische Repräsentation‘ von Gemeinsamkeit der Interessen und Wertorientierungen, als symbolische Integration, eine entscheidende Rolle bei der Konstruktion von (politisch mobilisierbarer) Makrosubjektivität. Der Symboltheoretiker erkennt aber gerade hierin die spezifische Leistung des Symbolischen, Kollektiv-Identitäten und die Identifikation mit gemeinsamen Intentionen zu erzeugen – beispielsweise als Nation, Religionsgemeinschaft, Klasse, Bewegung usw. – wo sich eine Vielzahl heterogener, teils auch widersprüchlicher Wert- und Interessenorientierungen beobachten läßt; beispielsweise, wenn straff organisierte Gruppen gewaltbereiter und materiell wohlhabender Intellektueller mit Terroranschlägen erfolgreich unter der grünen Fahne des Propheten Mohammed als Stimme eines Großsubjektes ‚muslimische Welt‘ auftreten, mit der sich Individuen in unterschiedlichsten Lagen materieller Not, rassistischer Verfolgung, kultureller Unterdrückung mit verschiedensten nationalistischen Anliegen und religiösen Traditionen identifizieren. – Insofern ist Intentionalität, soweit sie sich auf die Vorstellung eines homogenen Willens eines Makrosubjektes bezieht, eine wirksame – effektive – Konstruktion, die in den symbolischen Kämpfen selbst entsteht. Zweitens handelt es sich sowohl bei solchen symbolisch-repräsentativ erzeugten Kollektiv-Identitäten als auch bei den jeweils vorläufigen Ergebnissen von symbolischen (und auch anderen sozialen) Kämpfen regelmäßig nicht um die Verwirklichung der von daran beteiligten Akteuren intendierten Zielsetzungen. Wenn daher z. B. von semantischem Gestaltungsspielraum oder Ausgestaltung bzw. von der Durchsetzung oder Hegemonie bestimmter Weltdeutungen, Wertorientierungen usw. – infolge von bzw. innerhalb von Kämpfen – die Rede ist, so bedeutet dies im Sinne von Effektivität statt Intentionalität eben nicht, daß es sich hierbei um bewußt und zielgerichtet herbeigeführte bzw. umsetzbare ‚Erfolge‘ handelt; daß heißt nicht, daß es keine Intentionen gibt, oder diese keine Folgen hätten, aber Effekte und Intentionen sind nicht deckungsgleich. ‚Gestaltung‘ usw. meint also nicht ‚Planung‘, ‚Steuerung‘ o. ä., ebenso, wie Symbole sich im hier verwendeten symboltheoretischen Verständnis nur begrenzt zu manipulativen Zwecken einsetzen lassen. Die effektive Wirkung ist in der Regel eine andere – und sei es nur aufgrund von Nebenfolgen, Folge- und Wechselwirkungen – als die intendierte.

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sozialstrukturell gegebene Kontingenzspielraum besteht, der eine konkretere Ausgestaltung erfordert, werden symbolische Kämpfe darum nicht nur möglich, sondern hochgradig wahrscheinlich: Denn die Gesellschaft hat – in ihrer sozialstrukturellen Genügsamkeit – hierbei nichts zu verlieren, solange sich die Auseinandersetzungen um die Inklusions-Exklusions-Ordnung der Moderne und um Abbau oder Neuordnung hierarchischer Teilstrukturen im Rahmen des durch die primäre Differenzierungsform gezeichneten Kontingenzspielraums bewegen; und semantische Positionen, die diesen Rahmen überschreiten, dürften erhebliche Plausibilisierungsschwierigkeiten haben. Für die Individuen jedoch steht hierbei in ihrem – existentiellen und asymmetrischen – Verhältnis zur Gesellschaft alles auf dem Spiel. Für sie geht es um Inklusions-Chancen, also ihre Möglichkeiten der Selbstverwirklichung, des Zugangs zu Prestige, Macht, Wohlstand und der Teilhabe an anderen sozialen Gütern. Deshalb wurden und werden weiterhin in der Moderne, auch auf der Ebene ihrer semantischen Selbstbeschreibung, symbolische Kämpfe um die Durchsetzung von Weltdeutungen und spezifischen sozialen Ordnungsstrukturen geführt. Und weil dies so ist, ist es auch normativ, vom Standpunkt der ‚liberalen Ironikerin‘452 erforderlich, diese Kämpfe zu führen; denn die moderne Gesellschaft läßt, unter Beibehaltung ihres funktionalen Differenzierungsprimates, eine Vielzahl von Ordnungsformen zu, die nicht alle gleichermaßen wünschenswert sind. Mit Blick auf die im weiteren zu analysierenden Beiträge zum StirnerNietzsche-Diskurs und im Anschluß an die vorangegangene Rekonstruktion der Auskünfte Simmels läßt sich die Dimension des symbolischen Kampfes anhand der für diesen Diskurs zentralen Konzeption des Aristokratismus verdeutlichen. Die primär funktionale Differenzierungsform der modernen Gesellschaft hat sozialstrukturell die Exklusionsindividualität zur Folge.453 Die exklusionsindividuelle Sozialstruktur bedingt – als sozialstrukturelle 451 Auf dem Reflexionsniveau einer operativ-konstruktivistischen Wissenssoziologie läßt sich ‚Ideologie‘ als eine Weltdeutung spezifizieren, die mit dem Anspruch der Alternativlosigkeit auftritt, die Reflexion der eigenen Kontingenz systematisch ausblendet und die narzißtischen Bedürfnisse ihrer ‚Zielgruppe‘ bzw. der sie vertretenden und sich mit ihr identifizierenden Individuen dadurch bedient, daß sie eben diese in ihren Handlungen und Ansprüchen in einem günstigen Licht erscheinen läßt, indem sie diese innerhalb der von ihr propagierten Werteordnung aufwertet: als die moralisch Besseren, intellektuell Überlegenen, rassisch Höherwertigen, kulturell Wertvolleren usw., typischerweise aufgrund askriptiver Merkmale wie Rasse, Geschlecht, Nation, Klasse, aber auch aufgrund anderer Gruppenkonstrukte wie z. B. ‚Elite‘. In dieser Hinsicht sind Ideologien strukturell analog gebildet und – ihren eigenen Anspruch auf Alternativlosigkeit konterkarierend – funktional äquivalent bzw. austauschbar (vgl. auch Luhmann (1991a), S. 57). 452 Vgl. Rorty (1992), S. 87, 111 f., 127 f.; vgl. auch Luhmann (1996c), S. 46. 453 Vgl. Luhmann (1997a), S. 618 ff., 1075 f.; Luhmann (1987a).

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Plausibilitätsquelle und Registratur- und Reflexionsnötigung –, schematisch formuliert, zwei prinzipielle semantische Syndrome auf der Ebene gesellschaftlicher Selbstbeschreibung:454 Zum einen wird der prinzipiell den Funktionssystemen zugewiesene, also nicht auf der Ebene des umfassenden Gesellschaftssystems qua Geburt erfolgende, Inklusionsvorbehalt als prinzipielle Inklusionsfähigkeit eines jeden Individuums in der egalitären Semantik der Person, des Subjektes und des neuhumanistischen Syndroms des Menschen, der universalistischen Menschenrechte und der Trias der ‚Ideen von 1789‘ normativ artikuliert. Zum anderen macht, in profiliertester Weise spätestens in der Frühromantik,455 in Reaktion auf und Auseinandersetzung mit dieser semantischen Inklusionsseite der sozialstrukturellen Exklusionsindividualität, eine Individualitätssemantik die Exklusivität des modernen Individuums als seine begrifflich nicht subsumierbare, inkommunikable und sozial irreduzible Individualität geltend, also die Außenseite der Inklusionsformeln ‚Person‘ oder ‚Mensch‘. Die Individualitätssemantik macht, in einer genuin romantischen Opposition gegen rationalistische Vereinseitigung und universalistische Differenzblindheit, die individuelle Besonderheit und Unvergleichlichkeit von Individuen – also ihre Individualität als ihre jeweils unteilbare, aber auch nicht mitteilbare und von keinem anderen Individuum geteilte Identität – gegenüber der Allgemeinheit und Abstraktheit des neuhumanistischen Syndroms geltend, ohne aber notwendig dessen normativ egalitäre Implikationen in Frage stellen zu müssen. Vielmehr geht es darum, das moderne Individuum in seiner konkreten Ganzheit zu berücksichtigen – deskriptiv wie normativ – also seine Individualität, und zwar unter der – für sich genommen als unzureichend betrachteten – Voraussetzung seiner Personalität. Es geht nicht um die Negation der Menschlichkeit und der damit verbundenen Rechte von Individuen, sondern um den Anspruch, Menschen als Individuen in ihrer jeweiligen Individualität zu verstehen. Insofern verhalten sich beide semantischen Syndrome, bei allen kritischen Bezugnahmen aufeinander im Detail, zunächst prinzipiell komplementär zueinander in der Registratur der Exklusionsindividualität: Das eine bezieht sich, mit normativ egalitären Implikationen, auf die (menschliche bzw. personale) Gleichheit von Individuen, das andere auf deren individuelle Unterschiedlichkeit als Individualität. Und beide reflektieren damit semantisch je eine Seite des modernen, sozialstrukturell exklusionsindividuellen Individuums. Der von Simmel Nietzsche zugeschriebene aristokratische Individualismus stellt dagegen eine Variante von Individualitätssemantik dar, die sich, 454 Auf der Ebene der Funktionssysteme kommen, wie im Einleitungskapitel angesprochen (siehe oben, I. 4.), die je funktionssystemspezifischen Rollenschemata als Inklusionssemantiken hinzu. 455 Vgl. exemplarisch für Novalis und mit weiteren Literaturangaben: Stulpe (2001).

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anders als seine romantischen Vorläufer, gegen die normativ egalitären Implikationen des neuhumanistischen Syndroms, gegen die Menschenrechte und die ‚Ideen von 1789‘ richtet, indem sie die individualistische Kritik an der Abstraktheit zur Denunziation der Gleichheit ausweitet und so die individuelle Unterschiedlichkeit von Individuen als hierarchische Ungleichheit interpretiert. Er ist, wie jeder andere Individualismus auch, und auch wie der Universalismus der ‚Ideen von 1789‘, gegen die er polemisch antritt, eine semantisch moderne Form, d. h. er bezieht seine Plausibilität sozialstrukturell aus der Exklusionsindividualität, die er aber unter Verwendung der alteuropäischen Semantik einer hierarchisch stratifizierten Gesellschaft ‚aristokratisch‘ interpretiert. Er spielt somit, aus der modernen exklusionsindividuellen Sozialstruktur seine Plausibilität beziehend, die eine, individualitätssemantische Reflexions-Seite der Exklusionsindividualität gegen die andere, neuhumanistisch-egalitäre aus, also die Individualität des modernen Individuums gegen seine Personalität. Insofern ist der individualistische Aristokratismus, egal, wie er bzw. seine Vertreter sich jeweils selbst (miß)verstehen mögen, aus wissenssoziologischer Sicht ein spezifisch modernes Phänomen, im Unterschied zum aristokratischen Ethos des alteuropäischen Geburtsadels, der seine Plausibilität und sein – vor-individualistisches – Selbstverständnis aus der primär hierarchisch-stratifikatorischen Differenzierungsform der vormodernen Gesellschaft bezog.456 Der alteuropäische Adel konnte eine hierarchisch stratifizierte soziale Ungleichheit gesamtgesellschaftlich voraussetzen, die dagegen der moderne aristokratische Individualist nur um den Preis des Verlustes seiner eigenen sozialstrukturellen Möglichkeitsbedingungen durchsetzen wollen könnte. Der alteuropäische Adel beruhte auf (durch Endogamie abgesichert) schichtspezifischer Familienzugehörigkeit qua Geburt, behauptete also seinen aristokratischen Anspruch aufgrund einer inklusiv bestimmten und reproduzierten sozialen Identität,457 während der moderne aristokratische Individualist seinen ‚aristokratischen‘ Anspruch aus seiner exklusionsindividuell bedingten Individualität bezieht. Insofern vertritt der individualistische Aristokratismus den Entwurf einer gegenüber dem normativen Projekt458 von 1789 alternativen Moderne, die, unter der notwendigen Voraussetzung des funktionalen Differenzierungs-Primats und der diesem entsprechenden Exklusionsindividualität, als Individualitätssemantik die egalitären Erwartungen des neuhumanistischen semantischen Syndroms zugunsten einer stärkeren Akzentuierung – und Legitimation – parasitärer hierarchischer Teilordnungen zurückweist. 456 Wissenssoziologisch haben beide genauso wenig gemeinsam wie etwa der Leibeigene der mittelalterlichen Feudalordnung mit dem gewerkschaftlich organisierten Facharbeiter der Automobilindustrie. 457 Vgl. Luhmann (1997a), S. 688 ff. 458 Vgl. Habermas (1989).

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Dabei zielt er als Individualismus zunächst eher auf die Durchsetzung einer anderen Ordnung der Ungleichheit als auf die Legitimation bereits bestehender Ungleichheitsstrukturen. Denn er richtet sich sowohl gegen die zeitdiagnostisch als ethisch inakzeptabel und ungerecht wahrgenommene ‚Nivellierung‘ durch ‚Vermassung‘, die der herausragenden Persönlichkeit den ihr zustehenden hervorragenden Platz vorenthält, als auch gegen die ‚Klassenordnung‘ der ‚bürgerlichen Gesellschaft‘, die in ähnlicher Weise Ungleiches gleich und Gleiches ungleich behandelt und so das Mittelmaß herrschen läßt und die wahrhaft aristokratische Individualität marginalisiert. Damit steht er zugleich in doppelter Rivalität zum Sozialismus, den er einerseits als ideologisch-politische Verschärfung der anti-individualistischen Kollektivierungstendenzen der modernen ‚Massengesellschaft‘ bekämpft, andererseits als Konkurrenten um den projektierten Anspruch, eine andere Moderne zu gestalten. Insofern inhäriert dem aristokratischen Individualismus ein revolutionärer Impetus gegen die bestehende gesellschaftliche Ordnung der Verteilung von Zugangschancen zu Macht, Wohlstand und Prestige. Aristokratisch-individualistische Beglaubigungsmuster können aber auch – dann nicht mehr revolutionär, sondern affirmativ – dem Selbstverständnis arrivierter bzw. etablierter, sich als ‚Eliten‘ verstehender Gruppen und der Legitimation ihrer gesellschaftlichen Position nutzbar gemacht werden. In diesem Falle wird aus der Faktizität von gesellschaftlich privilegierten Positionen auf die herausragende Individualität derjenigen geschlossen, die diese innehaben: der Erfolg im sozialdarwinistisch interpretierten ‚Krieg Aller gegen Alle‘ rechtfertigt den Erfolgreichen. Eine solche, elitaristische Spielart des Individualismus459 ist – ebenfalls unter dem Titel eines ‚aristokratischen Individualismus‘ – bei dem im Folgenden bezüglich seines Stirner-Nietzsche-Vergleichs näher zu betrachtenden Anselm Ruest zumindest impliziert. bb) Anselm Ruest Als bekennender Individualist schätzt Anselm Ruest Stirner und Nietzsche gleichermaßen, legt aber zugleich auch Wert auf deren individuelle Unterschiedlichkeit. Er steht also für die Position eines ‚Stirner-Freundes‘, der die Verschiedenheit Stirners von Nietzsche akzentuiert, auch wenn er von der „Stirner-Nietzschelehre“460 spricht und beide als „Parallelformen des Individualismus“ (S. 290) bezeichnet. So betont er von vorneherein die prinzipiellen Grenzen, die einem Vergleich der „Stirnersche[n] Weltanschau459 Siehe auch die Typologie des normativen Individualismus im letzten Abschnitt dieses Kapitels. 460 Ruest (1906), S. 305. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich in diesem Unterabschnitt ebenfalls auf Ruest (1906).

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ung“ und der „Nietzscheschen Lehre“, gesetzt sind, nämlich, daß gleichsam „die Fläche Nietzsche [. . .] von der Fläche Stirner zum größeren Teil gar nicht gedeckt“ wird (S. 291 – H. i. O.). Und während Nietzsche „Künstler durch und durch“ ist, ist Stirner „Philosoph durch und durch“ (S. 298 f.), und „[m]an irrt [. . .], wenn man glaubt, daß überhaupt die ‚gleiche‘ oder ‚selbige‘ Idee das eine Mal im künstlerischen, das andere Mal im philosophischen Gewande ausgesprochen werden kann“ (S. 299 f. – H. i. O.). Gleichwohl steht Nietzsches „Kunstideal“ in einem „innerlichen Zusammenhang“ mit dem auch für Stirner zentralen „Thema der Überwindung von Gut und Böse“, nämlich der ‚Bekämpfung‘ und Überwindung des „lebensfeindlichen Bannfluch[es]“, mit dem „das Christentum“ die „natürlichen Triebe der Menschennatur“ belegt hat (S. 292 f.). Da gerade die „ästhetischen Instinkte“ bei der „Bewertung christlicher Tugenden stets auch eine unmittelbare Rolle spielen“, und insbesondere der „Künstler [. . .] den Verruf des sinnlich-freudigen Menschen als das Gefährlichste, Kulturfeindlichste empfindet“, weshalb „das Christentum [. . .] vom ästhetischen Standpunkt aus“ zu bekämpfen ist (S. 293), ist der „ästhetische[] Grundcharakter“ der „Nietzscheschen Philosophie“, „ihr Eintreten für ein höheres, vornehmlich ästhetisches Kulturideal, ihre Weltbetrachtung und Weltbewertung nach Gesichtspunkten des Künstlerisch-Schönen“ (S. 292) dem gleichen Impetus geschuldet wie Stirners „revolutionär[er], rebellisch[er]“ und ‚leidenschaftlicher‘ Kampf gegen die „Un- und Widernatur“ der ‚christlichen Tugenden‘ (S. 299). Aus genau diesem Grunde blickt auch der „Naturalist“ Stirner (S. 299), auch wenn er sich, anders als Nietzsche, „um einen letzten Weltaspekt, eine ähnliche letzte Harmonie im Sinne der Schönheit wenig gekümmert hat“ (S. 292), dennoch „selbst einmal so neidvoll“ nach dem „Künstler [. . .], der längst erkannt habe, daß das Gute wie das Böse den gleichen Existenzwert besitze“ (S. 293). Nicht zufällig haben deshalb beide, Stirner wie Nietzsche, eine besondere Vorliebe für das „Hellenentum“ (S. 293, vgl. S. 296 f.) – die sich, wie Ruest hervorhebt, auch auf das Judentum erstreckt (vgl. S. 317). Die Orientierung auf „echt hellenische[] Werte“ und den „schöne[n], kräftige[n], griechische[n] Mensch[en]“ (S. 297) ist bei beiden „die Kehrseite der Polemik gegen das Christentum“ (S. 293). Auch Stirner, der – wie Nietzsche – „aus der christlichen Bewertung erlösen will“, schätzt „die hellenische Anerkennung der Naturtriebe“, die sich – und darin erblickt Ruest den spezifisch ‚ästhetischen Instinkt‘ – „zugleich in einer herrlichen Pflege und Ausbildung des Leibes“ zeigt (S. 293). Umgekehrt „‚ekelt‘ es Stirner wie Nietzsche“ vor der aus christlicher Triebverleugnung und moralischer Bigotterie geborenen „heimlichen Unzucht, dem inneren Schmutz“ (S. 293 – H. i. O.), und hierin erblickt Ruest „jenen ästhetischen Zug in der Stirnerschen Psy-

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che [. . .], der möglicherweise selbst auf eine innerste Grundverwandtschaft mit der Nietzscheschen hindeuten dürfte: [. . .] Es ist die gesteigerte Sensibilität im Wittern von Unreinheit: was ist es denn andres auch bei Stirner, was ihn gegen den düpierten Egoismus, die heimliche Unsauberkeit und Unlauterkeit der Motive zu Felde ziehen läßt? Auch für ihn hat sicherlich die Welt einen schlechten ‚Geruch‘ gehabt, vieles vornehmlich schlecht ‚gerochen‘ – wie Nietzsche sagt.“ (S. 293 f.) Diese mutmaßliche Verwandtschaft in der psychischen Disposition – auch wenn, wie Ruest zugesteht, anders als bei Nietzsche, dessen Selbstzeugnisse diesbezüglich einschlägig sind, „bei Stirner eben alles Hypothese“ bleibt (S. 295) – begründet die Ähnlichkeiten dieser beiden ‚Parallelformen des Individualismus‘. Unabhängig aber von der Spekulation über die psychischen Voraussetzungen beider Denker – deren genauere Klärung gerade bei Stirner „einer tiefen, tiefen psychologischen Deutung“ bedürfte (S. 294) – und für Ruest entscheidender für ihren Vergleich ist das Verständnis ihrer Verschiedenheit. Stirner und Nietzsche kommen von ähnlichen Ausgangspunkten und mit ähnlichen Ambitionen – Kritik und Überwindung von Widernatürlichkeit, Lebensfeindlichkeit, Ichverleugnung, Unwahrhaftigkeit und Verlogenheit461 – zu vergleichbaren (1), aber in zentralen Punkten unterschiedlichen Ausprägungen des Individualismus (2). (1) Aristokratische Voraussetzungen und Implikationen Anders als Simmel anerkennt Ruest nicht nur Nietzsches, sondern auch Stirners Weltanschauung als ethisch gehaltvoll und als „Aristokratismus“.462 Für Ruest besteht die Differenz zwischen Stirner und Nietzsche daher in der Verschiedenheit ihrer jeweiligen ethischen und aristokratischen Positionen; nicht, wie für Simmel, in der Abwesenheit solcher Positionen bei Stirner. Und anders als für Simmel ist für Ruest die Differenz zwischen Stirner und Nietzsche kein unüberbrückbarer Gegensatz. Vielmehr konstatiert Ruest, daß zwar „wirklich die Lehren Nietzsches noch ganz andere [sind] als die Stirners, aber daß sie zueinander nicht im Verhältnis von Feindschaft oder Widerspruch, von Höherem oder Niederem stehen, sondern daß sie die Möglichkeit einer Synthese ergeben, die teils für Nietzsche breitere Voraussetzungen zu schaffen, teils in Stirners Weltanschauung die von uns angedeutete Spitze besser erkennen zu lassen geeignet ist.“ (S. 307) Diese ‚angedeutete Spitze‘ bei Stirner, die umgekehrt für Nietzsches Lehre ‚breitere Voraussetzungen‘ schafft, bezieht sich auf eben jene Frage 461

Vgl. Ruest (1906), S. 308 f., 315 f., 323 f. Ruest (1906), S. 291, 321. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich in diesem Unterabschnitt weiterhin auf Ruest (1906). 462

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einer individualistischen Ethik, die Ruest zufolge immer eine aristokratische Ethik sein muß; für ihn kann wahrhafter ‚Individualismus‘ nur als ‚Aristokratismus‘ konzipiert werden, ‚demokratisch‘ ist er nicht denkbar (vgl. S. 291, 321 ff.). Mit dieser Einschätzung befindet Ruest sich grundsätzlich in Übereinstimmung mit Simmels Sicht auf den Aristokratismus als absolute moralische Konsequenz des von letzterem so genannten ‚qualitativen Individualismus‘, allerdings bewertet Ruest diesbezüglich nicht nur Stirner, sondern auch Nietzsche anders als Simmel. Gegen Albert Lévy, der in seiner Dissertation mit dem für das Interesse des Zeitgeistes symptomatischen Titel Stirner et Nietzsche463 die „Grundverschiedenheit im Kern beider Lehren aufzuzeigen gesucht“ hat, wendet Ruest ein: „[Lévys] Ergebnis ist [. . .], daß Stirner immer als Individualist aus demokratischem, Nietzsche aus aristokratischem Gefühl erscheint; wir werden aber zeigen, daß es einen demokratischen Individualismus in keiner Bedeutung geben kann und daß die scheinbar stärkeren aristokratischen Instinkte Nietzsches den Aristokratismus schon des Grundprinzips nicht vertiefen können, während sie seiner Konsequenz eher von Nachteil sind.“ (S. 291 – H. i. O.) ‚Demokratischer Individualismus‘ ist also ein Selbstwiderspruch, weil bereits das Grundprinzip des Individualismus aristokratisch und insofern jeder Individualismus ein Aristokratismus ist, allerdings nicht umgekehrt.464 Nicht jeder Aristokratismus verträgt sich mit konsequent individualistischen Positionen. So führen für Ruest, anders als für Simmel, Nietzsches aristokratische Instinkte durchaus zu Inkonsequenzen bei seinem Entwurf einer individualistischen Ethik. Und hierin liegt Ruest zufolge die systematisch zentrale Differenz zwischen Stirner und Nietzsche: es ist nicht die Differenz zwischen Amoralität und aristokratischer Ethik, auch nicht diejenige zwischen Demokratismus und 463

Lévy (1904). Erinnert sei auch an die Debatten um den ‚individualistischen‘ und ‚kommunistischen‘ Anarchismus mit den, je nach ideologischem Standpunkt, unterschiedlichen Einschätzungen, bei welchen Formeln es sich um entweder Selbstwidersprüche oder aber Pleonasmen handelte, die, je nach Position für verdächtig, verschleiernd oder auch als notwendige Emphase erklärt wurden. Für einen Marxisten wie Plechanow ist jeder Anarchismus, auch wenn er sich wie etwa derjenige Kropotkins ‚kommunistisch‘ nennt, eine individualistische, bürgerliche Ideologie. Für libertäre Kommunisten wie Kropotkin oder Malatesta erscheint die Bezeichnung ‚individualistischer Anarchismus‘ als vordergründig pleonastische Verschleierung einer in Wahrheit nicht-anarchistischen, autoritären, bürgerlichen Position, weil nur wahrhafter, kommunistischer Anarchismus die Individuen zu ihrem Recht kommen läßt, also im wohlverstandenen Sinne ‚individualistischen‘ Ansprüchen gerecht wird. Und für individualistische Anarchisten wie Mackay oder Tucker führt jene ‚kommunistisch-anarchistische‘ Position letztlich wieder in die anti-individualistischen Gefilde des ‚autoritären Sozialismus‘, weil Kommunismus und Individualismus unvereinbar seien, weshalb umgekehrt die Selbstbezeichnung ‚individualistischer‘ bzw. ‚Individual-Anarchismus‘ als notwendige Emphase zur Abgrenzung von Kommunisten jeglicher Couleur gewählt wird. 464

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Aristokratismus, sondern die Differenz zwischen unterschiedlichen Fassungen des Aristokratismus. Die aristokratischen Instinkte Nietzsches sind es gleichwohl auch, die seine Stirner-Rezeption – von der Ruest, wie oben dargelegt, meint ausgehen zu können – prägten: sein richtiges Verständnis des Stirnerschen Aristokratismus und sein Gespür für die Wahrscheinlichkeit und die fatalen Folgen einer Fehlinterpretation der individualistischen Moralkritik Stirners durch die unverständige Masse: „Nietzsche waren Stirners Lehren sympathisch, aber die Art, in der sie verkündet wurden, fand er zu skrupellos, zu wenig den Sinn für die Gefahr weckend, die im Problem des Gut und Böse – ihm selber das tiefste! – nun einmal unvermeidlich schlummerte, und daher, so wie sie war, für die Vielzuvielen – untauglich, allzu gefährlich. Er [. . .] fühlte, daß hier eine ‚positive Philosophie‘ noch dringend nach dem Leben verlangte, und wenn diese nicht wieder im Sinne einer fixen, bornierten Moral ausfallen durfte, so galt es doch vor allem auch, das Versucherische, das Wagnis, die erhöhte Aufgabe denen näherzubringen, die nach Stirner vielleicht annehmen könnten, es handle sich um Rechtfertigung auch ihrer kleinlichen Verbrechen und ihrer feigsten Missetaten. Denn das eben las wohl Nietzsche zugleich tiefer als alle Leser, daß auch Stirners Buch sich nur an das Große wendet“ (S. 306 f.). Auch in Stirners Individualismus sind Ethik und Aristokratismus untrennbar miteinander verknüpft: „Auch das ‚Eigensein‘ Stirners enthält natürlich eine ethische Aufgabe; und daß nun die wenigsten trotz des Appells an ihr Ich doch imstande sein dürften, auch wirklich Eigene zu werden – niemand hat es vielleicht besser gesehen, als Stirner!“ (S. 313 – H. i. O.) Diese aristokratische Voraussetzung bleibt bei Stirner, dessen „ ‚Einzige[r]‘ scheinbar zu jedem“ redet (S. 307), zwar unausgesprochen, wird aber von Nietzsche und Ruest – im Unterschied zu Simmel – erkannt. Stirners Aristokratismus zeigt sich darin, daß „die letzte und tiefste Triebfeder“ seiner nur vordergründig gegen Wahrheit und Moral schlechthin gerichteten „heftigen Angriffe, seiner maßlosen Negationen“ eine „höhere Moralität“ und das „Motiv der Wahrhaftigkeit“ sind (S. 308). Stirner führt seinen „Kampf gegen den düpierten Egoismus, gegen Verlogenheit und Heuchelei“ aus moralischen Gründen, und er „bekämpft aufs unerbittlichste die ‚Wahrheit‘“ um der wahrhaften Wahrheit willen (S. 308). „Stirner kämpft gegen die fixe Wahrheit – denn Narrheit, Besessenheit, Fanatismus seien ihre Begleiter“ (S. 309). Bei Nietzsche „wie bei Stirner ist es nur der dogmatisch festgehaltene ‚Wert an sich‘ der Wahrheit, der metaphysische Glaube an sie, der aufs engste mit dem ‚Gott des asketischen Ideals‘ zusammenhängt, kurz, eine Wahrheit, die nicht das quellende, strömende Leben selber ist, die verworfen wird.“ (S. 308 f.) Die von Stirner wie Nietzsche, den „beiden

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großen Individualisten“ (S. 329), angestrebte „‚Umwertung‘ besteht also bei beiden wesentlich im Zurückgehen auf das ‚natürliche Gute‘, auf die psychophysiologische Grundnatur des Menschen“ (S. 324). Aber Stirner setzt diesen Standpunkt der ‚höheren Moralität‘ und ‚Wahrhaftigkeit‘, von dem aus er „jedes fremde Gebot, insbesondere wenn es als christliches die Ichverleugnung gerade predigt“, abwehrt (S. 316 – H. i. O.), voraus, ohne Kriterien anzugeben, wie denn die Individuen erkennen können, ob sie sich bereits auf diesem überlegenen Standpunkt des Einzigen befinden, bzw. wie sie ihn erreichen können: „Stirner kümmert sich nicht weiter darum!“ (S. 309) „Mit dem Ich als ‚Maß aller Dinge‘ kann für den abstrakt denkenden Stirner die Sache erledigt sein“ (S. 309). Anders als „Nietzsche, de[r] Künstler und Psychologe[]“, versäumt es der Philosoph Stirner, seine impliziten ethischen Anforderungen an dieses Ich des Einzigen, nämlich sein aristokratisches Ethos, ausdrücklich zu erläutern (S. 309). Denn er meint, deswegen auf deren Explikation verzichten zu können und zu müssen, weil die Notwendigkeit eines solchen aristokratischen Ethos ohnehin in der Konsequenz seiner Argumentation liegt und dessen jeweils individuelle Ausgestaltung den konkreten Einzigen überlassen bleiben muß. Stirners Angriff auf jegliche Form der Fremdbestimmung des Ich impliziert die ethische Forderung nach Ich-Autonomie: Einzigkeit statt Besessenheit. Das Problem aber, für das der von Stirner vermiedene Blick in die „psychologische[n] Urtiefen“ sensibilisiert (S. 309), besteht nun gerade darin, wie das Ich sich jeweils selbst in seiner Authentizität und seinen authentischen Präferenzen erkennen können soll, um wahrhaft selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu handeln und sich nicht über die möglicherweise heteronome Natur seiner Motive und Ziele zu täuschen. Für Ruest unterliegt es zwar keinem Zweifel, daß Stirner an den Einzigen die ethische „Anforderung [stellt], [. . .] sich nicht in den Dienst der Wahrheiten einerseits, nicht unter die Herrschaft der Sinne und Begierden andererseits zu begeben“ (S. 330). Aber „[w]oran erkenne ich, daß wirklich ich noch die Wahrheit in der Gewalt habe und nicht umgekehrt längst sie mich? Muß ich nicht dazu eben schon ein vollständiges Ich sein, d. h. selbst die vollendete Wahrheit sein, um mich also souverän den Wahrheiten gegenüber verhalten zu können?“ (S. 309 f. – H. i. O.) Das Problem, wie das Ich zwischen seinen ‚wahrhaftig wahren‘ Präferenzen und Motiven im Gegensatz zur bloßen ‚Besessenheit‘ mit ‚fixen Ideen‘ und Ich-fremden Leidenschaften unterscheiden, somit als authentischer ‚Einziger‘ handeln und autonom seinem ‚wahren‘ Willen folgen können soll, wird noch dadurch verschärft, daß „psychologisch [. . .] die Sache doch meist so [liegt], daß gerade jene Wahrheiten über uns am meisten – geliebt, verehrt und angebetet werden!“ (S. 310 – H. i. O.) Auch und gerade die affektuelle Besetzung bestimmter Handlungsoptionen bietet also keine zuverlässige ethische Orientierung.

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Insofern ist Stirners Individualismus leicht dahingehend mißzuverstehen, daß er jedes Individuum, gleich welcher moralischen bzw. charakterlichen Reifungsstufe, ermutigt, seinen unmodifizierten Impulsen und willkürlichen Präferenzen nachzugehen, so daß auch die von fixen Ideen oder niederen Begierden und Leidenschaften fremdbestimmten ‚Besessenen‘ sich als ‚Einzige‘ rechtfertigen, wenn sie beispielsweise Verbrechen begehen oder neuen Götzen dienen. „Hier eben setzt Nietzsche ein“, der auf die Gefahren eines solchen falsch verstandenen Individualismus hinweist. „[M]an kann den Menschen keineswegs mit einem Machtspruch befreien, ihm einfach alle Götter, Ideale, alles Höherstehende wegstreichen und sein eigenes nacktes Selbst statt dessen als einzige Autorität an die Stelle setzen. Für Nietzsche steht zu befürchten, daß die meisten nicht wissen werden, was mit dem Ich anfangen, und einer neuen Borniertheit nur um so sicherer in die Arme rennen werden; auch er sieht das neue Glück der Freiheit, entzückend findet er die Freiheit des Gottlosen, aber ebenso – furchtbar und gefährlich zugleich. Und hier setzt sein Schwanken ein – ein Schwanken, das Stirner nicht kennt und das Nietzsche schließlich dazu führt, das Ich, die Eigenheit als noch nicht vorhanden zu sehen, sie in die Zukunft zu rücken, damit aber ein neues – Ideal zu bringen, das im Grunde seiner ebenfalls Gegenwart und Sinnenfreudigkeit lehrenden Philosophie zuwiderläuft. Mit der Lehre vom ‚Übermenschen‘ entfernt sich Nietzsche am bedeutendsten von Stirner“ (S. 310). Nietzsche ist demnach für Ruest als im Ausgangspunkt kongeniale Konsequenz der Stirnerschen Metaphysikkritik zu verstehen. An Nietzsches psychologischen Einsichten und der Explikation einer aristokratischen Ethik wird zudem deutlich, daß der bei Stirner implizite ethische Standpunkt – nämlich der ethische Maßstab seiner Metaphysikkritik – ebenfalls nur aristokratisch verstanden werden kann. Der Individualismus Stirners kann nur dann als ethisch gehaltvoller, also rechtverstandener Individualismus gedeutet werden, der gerade nicht, wie Stirners Mißinterpreten – darin Nietzsches präsumtive Befürchtungen bestätigend – behaupten, jedem gleichermaßen und undifferenziert ein ethisch unqualifiziertes Willkürhandeln nahelegt, wenn Stirners aristokratische Voraussetzung hinzugedacht wird, daß er sich nur an jene Minderheit richtet, die die charakterlichen Voraussetzungen für ein ethisch wertvolles eigenverantwortliches Handeln ‚jenseits von Gut und Böse‘ bereits mitbringt bzw. erreicht hat. „Man bemerkt die fast wörtliche Übereinstimmung der Fragestellung – vor Beginn der neuen Zeit; der Zeit, in der der ‚Einzige‘ ist und der Zeit, in der der – ‚Übermensch‘ erst sein wird: in der Antwort aber liegt nun zugleich die ganze Differenz.“ (S. 312 – H. i. O.) Von dieser Warte aus zeigen sich für Ruest also wiederum die Differenzen zwischen Stirner und Nietzsche, insbesondere die Spannungen des Nietzscheschen Aristokratismus zum Aristokratismus des individualisti-

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schen Prinzips, das bei Stirner in sich konsistenter ausgeprägt ist, aber auch die „Widersprüche“, in die „die beiden großen Individualisten zuletzt [. . .] verwickelt“ sind, und worin sie wieder aufeinander verweisen (S. 329). So kann, wie zuvor schon Nietzsche für Stirner gewissermaßen als aristokratische Explikationshilfe diente, jetzt Stirner als Kontrastfolie und teilweise auch als Korrektiv für gewisse, insbesondere ethische Defizite des Individualismus bei Nietzsche hilfreich sein, ohne daß allerdings der eine dem anderen prinzipiell vorzuziehen wäre; gerade in der psychologischen DetailBeobachtung erweist sich Nietzsche, wie Ruest wiederholt hervorhebt (vgl. z. B. S. 315), oft genug, wenn auch nicht immer, als der Überlegene. (2) Ethische Maßstäbe und Divergenzen Insgesamt kommt Ruest bezüglich der ‚Stirner-Nietzschefrage‘ zu dem Schluß, daß „Nietzsche bei näherer Betrachtung niemals ein eigentlicher Fortsetzer Stirnerscher Ideen genannt, sondern lediglich wegen einer Ähnlichkeit und Übereinstimmung in einzelnen Grundmotiven [. . .] herangezogen werden kann“.465 Diese ‚nähere Betrachtung‘ läßt sich, jeweils ausgehend von Ruests Problematisierungen des Aristokratismus bei Nietzsche im Hinblick auf die Ethik und den Aristokratismus des individualistischen Grundprinzips (vgl. S. 291), in den drei Sinndimensionen darstellen: Zeitlich handelt es sich bei Nietzsches Übermenschen um ein Ideal, das dem leibhaftigen Ich zur Verwirklichung aufgegeben wird; seine Gegenwart dient somit nur dazu, diesen zukünftigen Zustand zu erreichen. Dadurch wird die Gegenwart entwertet, das wirkliche Individuum läuft Gefahr, einer Zukunft geopfert zu werden, auf deren Verheißungen es vertröstet wird, diesbezüglich nicht unähnlich der christlichen Tradition. Bei Nietzsche steht, untrennbar mit dem Ideal des Übermenschen verbunden, insbesondere der „Züchtung[s]“-Gedanke für diese problematische Höherbewertung der Zukunft vor der Gegenwart. Diese wird hierdurch zum bloßen Vorbereitungsraum und zum Mittel einer erst in der Zukunft erreichbaren Zwecksetzung; denn die Züchtung zielt auf die Hervorbringung des Übermenschen als Ergebnis eines Zeit beanspruchenden Perfektionierungsprozesses, dem die Individuen in ihren gegenwärtigen Wünschen untergeordnet werden. „[D]iese ‚Züchtung‘ stellt Aufgaben, sie gibt ein Ziel, das außerhalb der Betonung der eigenen Persönlichkeit liegt, sie muß auch das Gut und Böse in aller Form als ‚fremde Gebotentabelle‘ wieder über dem Individuum aufhängen.“ (S. 315) Dies aber ist mit Stirners ‚Einzigem‘ nicht zu machen. „So bewußt oder unbewußt nun dem Begriff des Stirnerschen ‚Eigenen‘ 465 Ruest (1906), S. 331. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich in diesem Unterabschnitt weiterhin auf Ruest (1906).

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und ‚Einzigen‘ genau wie Nietzsches ‚Übermenschen‘ der Gedanke einer höheren Spezies ‚Mensch‘ vorschwebt, so wichtig war die Betonung des Gegenwärtigen gegenüber dem Zukünftigen im Hinblick auf die Erlösung vom asketischen Ideal, auf die ‚Umwertung der Werte‘: und hier hat Stirner sicherlich die richtigere Witterung gehabt. Wohl ging Stirners Philosophie im äußerlichen Sinne dadurch des idealen Schimmers bedeutend mehr verlustig; die Selbstrechtfertigung gegenüber dem ‚Bösen‘ unterschiedslos in die Hand eines jeden gelegt – die Perspektive von Zügellosigkeit oder Lethargie – kein Kulturausblick: das alles scheint nicht unbeträchtlich hinter dem Zukunftsbild Nietzsches zurückzubleiben. Aber ebenso sicher ist, daß nur Stirner den tieferen Zusammenhang zwischen dem egoistischen Prinzip und dem Problem von Gut und Böse erblickt hat. Der ‚Übermensch‘ Nietzsches – er wäre in der Tat der neue Gott, das neue Ideal“ (S. 314). Stirner dagegen geht so weit, selbst die „Sehnsucht“, als das Streben nach etwas, was (noch) nicht gegenwärtig ist, als Prinzip abzulehnen, und sogar dem „Willen“ vorzuwerfen, Verkörperung einer zukunftsorientierten „Sehnsucht“ zu sein, die „über das Eigene hinaus[will]“ (S. 315). Und dies „trennt [. . .] Nietzsche von Stirner in der Beantwortung der wichtigsten Frage“ nach der „Grundnatur des Selbst“, wobei sich hierbei allerdings Nietzsche als „der tiefere Psychologe“ erweist: „Stirner antwortet: ‚Macht‘; Nietzsche charakteristisch genug: ‚Wille zur Macht‘.“ (S. 315) Sachlich enthält Nietzsches aristokratisches Ideal der „Herrenmoral“ im Gegensatz zur „Sklavenmoral“ konkrete Bestimmungen (S. 321), die nicht nur ethisch fragwürdig sind, sondern zudem von vorneherein ein breites Spektrum natürlicher Bedürfnisse, Gefühle und Präferenzen ausschließen, ohne diesbezüglich den Individuen die Chance authentischer Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung einzuräumen; hierbei werden insbesondere die ethisch wertvollen sozialen Triebe verächtlich gemacht. Für Nietzsche bedeutete das „Christentum [. . .] den Sieg der Sklavenmoral über die Herrenmoral, und diese als Inbegriff der neuen Werte ist Aristokratismus, Individualismus, und vor allem weit entfernt von jedem Altruismus.“ (S. 321) Stirner hat zwar, vor allem mit der „Wiederbetonung des eigenen Selbst“, grundsätzlich „nichts anderes gelehrt“ (S. 322). „Sogar der ‚pathologische Zwischenzustand‘, der einfache Nihilismus des Bestehenden, den Nietzsche der Umwertung vorangehen läßt, ist in der Stirnerschen Abwälzung (d. i. Negierung) ungeheurer Gedankenwelten bereits angedeutet“ (S. 322). Mit dem Altruismus aber verfahren beide – in für ihre jeweiligen aristokratischen Ethiken folgenreicher Weise – unterschiedlich. „Die größere Betonung des Physiologischen, zusammenhängend mit seiner vorwiegend ästhetischen Wertbetrachtung, ist es nun auch gewesen, die Nietzsche für die Wiederherstellung des starken Individuums von jeglichen altruistischen Instinkten überhaupt gänzlich absehen läßt. Daß die Ungleichheit der Individuen an

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sich den Nonsens gleicher Rechte, gleicher Moralen, staatlicher und sozialer Einheitsbestrebungen dartue – in allen näheren Ausführungen hierüber sind sich Stirner und Nietzsche nahegekommen; aber bis zur Aufstellung eines absoluten Kontrastes derart, daß sich der bestehenden Moral (der Ichverleugnung, nach Nietzsche: der Sklaven-, Decadencemoral) in allen Punkten feindlich eine Herrenmoral gegenüberstellt – dazu kommt es nur bei Nietzsche. Auch der Egoist kennt nach Stirner Mitgefühle, Mitleid und selbst Aufopferung – alte Werte noch, die nur psychologisch, nicht essentiell, eine ‚Umwertung‘ erfahren; der Vertreter der Herrenmoral muß sie notwendig als Schwächezustände von sich fernhalten; es sind das notwendig nach ihm Sklaveninstinkte.“ (S. 325) Nietzsche verachtet jegliche altruistische Anwandlung als ‚Sklavenmoral‘. Stirner hingegen läßt sie gelten, soweit sie nicht als Ich-fremdes Ideal auftritt, sondern als egoistisches Bedürfnis erkannt wird (vgl. S. 327). „Daß Stirner also auch den altruistischen Instinkten gewissermaßen Urrechte nicht verkürzt hat, zeigt ihn an dieser Stelle sicherlich als den besseren Psychologen“ (S. 326). Für Stirner ergibt sich hieraus außerdem eine Lösung für die ethische Frage nach dem Miteinander der je Einzigen, weil er als anthropologischer Optimist damit rechnet, „daß gerade durch das stärkere Freilassen der Individualinstinkte und ihre ehrlichere Betonung sich ein neues Maß der richtigen Lebensweisheit von selbst ergeben werde.“ (S. 327) Von den moralisch heteronomen Zwängen der ‚Ichverleugnung‘ befreit, werden „‚natürliche‘ Selbstliebe und ‚natürliche‘ Nächstenliebe“ zu einem „natürlichen Ausgleich“ kommen und so „den Wert jeglicher Institutionen zehnmal ersetzen“ (S. 326 f.). Allerdings erscheint auch Stirners Lösung zugleich als Problem. Denn erstens ist, Ruests Einschätzung zufolge, diese harmonische Vorstellung „lediglich eine ferne Hoffnung“ (S. 327). Zweitens, entscheidender noch, setzt Stirners Ethos des offen eingestandenen Egoismus jeden altruistischen Impuls unter einen Selbst-Offenbarungsdruck und Geständniszwang, der dem Individuum unter Androhung des Achtungsentzuges wegen unterstellter ‚Unaufrichtigkeit‘ das Bekenntnis zum Egoismus abnötigt. „[W]enn es statt des heimlichen, düpierten Egoismus nun durchgehends nur noch den offenen, unbemäntelten, jederzeit eingestandenen gilt –: ist nicht dies wenigstens ein neues ethisches Vorurteil, das mich meinen Bruder wird verdammen lassen, sofern es ihm weiter gefällt, seinen Egoismus geheimzuhalten?“ (S. 326 f. – H. i. O.) Sozial schließlich geht der Aristokratismus Nietzsches davon aus, daß die meisten Individuen aufgrund ihrer Natur nicht in der Lage sind, Übermenschen zu werden, so daß die Mehrzahl grundsätzlich aus dem Individualismus ausgeschlossen ist – und für Nietzsche auch aus systematischen Gründen ausgeschlossen sein muß, um als ethisch minderwertige „Herde“ (S. 313) den „Herrenmenschen“ (S. 324 – H. i. O.) zu dienen; dies aber ist mit einer individualistischen Ethik unvereinbar. Zwar ist es in diesem Zu-

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sammenhang wiederum Nietzsche, dem „die tiefere psychologische Einsicht“ zu verdanken ist, daß nicht jedes Individuum aufgrund seiner Anlage fähig ist, sich zu einem individualistischen Aristokraten zu bilden, der keiner fremden moralischen Autorität dient: „es gibt manchen, der seinen letzten Wert wegwirft, wenn er seine Dienstbarkeit wegwirft; es gibt nach Nietzsche m. a. W. solche, die nie frei werden dürfen und auch nicht können! – Das scheint Stirner nicht einzuräumen; wendet er sich doch an alle!“ (S. 312 – H. i. O.) Daß Stirner sich an alle wendet, bedeutet aber nicht, daß er allen Individuen gleichermaßen zutraut, Einzige werden zu können, sondern nur, daß er nicht vorab entscheiden kann, wer zu den Wenigen gehört, die im Sinne seines Aristokratismus als individualistische Elite ethisch über den Vielen stehen. Es ist ein Aufruf zum Wettbewerb. Wenn Stirner prinzipiell alle auffordert, sich zu Einzigen zu bilden, weiß er zwar genausogut wie Nietzsche, daß nur „die wenigsten“ dies wirklich vermögen, schließt aber, anders als Nietzsche, niemanden bereits im Vorfeld aus. Denn nur hierdurch läßt sich gewährleisten und erkennen, daß sich „das Vorzügliche“, „das Große“ und das „Überragende“ behauptet (S. 313). Auch wenn also im Ergebnis nur eine minoritäre Aristokratie von Einzigen erwartet werden mag, weil sich die Besten – gerechterweise – durchgesetzt haben, so mögen doch auch die anderen weiterhin danach streben, sich im Sinne der Einzigkeit zu perfektionieren und die Besessenheit, so gut es geht, abzustreifen (vgl. S. 313). So aber wie Nietzsche „voraussetzen, daß ein Teil der Menschen nicht einmal ‚eigen‘ werden dürfte: es ist doch wieder ein Zweifel an der Güte dieser Moral!“ (S. 313 – H. i. O.) Diese für Ruest ‚zweifelhafte Moral‘ ist bei Nietzsche systematisch aufs engste verknüpft mit dem Ideal des Übermenschen und seiner Züchtung; sie ist die Herrenmoral, die, das wird nun deutlich, den Bestand der Sklavenmoral bei der Masse des „Volk[es]“ als „Herde“ zur Bedingung hat (S. 313). Den „Tugenden der Demut, der Selbstverleugnung, des Mitleids“ wird in Nietzsches Herrenmoral „die Heiligung, der Nährboden entzogen“, um die Züchtung des Übermenschen zu ermöglichen, um diesen zu befähigen, ohne (sklaven-)moralische Skrupel im „Kampf des Ich mit den Vielen“ über diese „rücksichtslos hinwegzuschreiten“ und seinen ‚Herreninstinkten‘ zu folgen (S. 314). Daher ist nicht nur die ‚Herrenmoral‘ des „Großen“ (S. 314), sondern auch die ‚schwache‘ Sklavenmoral der ‚Vielzuvielen‘ erforderlich, um „der großen Persönlichkeit, der freien Entfaltung genialischer (d. i. Ich-) Naturen die Überwindung des Kleinen, Niedrigen, der-Anlehnung-Bedürftigen noch vollständiger zu ermöglichen! Die Herde aber bleibt konstant, für sie bleiben die alten Tugenden weiter am Platze; nun – wer wird bewußt zur Herde gehören wollen?“ (S. 313) Allerdings hat Nietzsche, im Widerspruch zu den fragwürdigen Ausprägungen seines Aristokratismus in der Konzeption des Übermenschen, seiner

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Züchtung und seiner Herrenmoral, mit der „Lehre von der ‚Wiederkunft des Gleichen‘“ als dem „eigentlich metaphysische[n] Kern“ seiner „Verkündigung“ ein Prinzip vorgelegt, das in seiner „Bedeutung für die Ethik“, Ruest zufolge, „bis heute noch am wenigsten gewürdigt“ worden ist (S. 289). Gerade hierin erkennt Ruest Nietzsches Lösung für die ethische Problematik des Individualismus (vgl. S. 328 ff.). Mit der „Lehre von der ewigen ‚Wiederkunft des Gleichen‘“ wollte Nietzsche „einem letzten Glauben an die sittliche Selbstbestimmung des Menschen Ausdruck verleihen [. . .]. Die Voraussetzungen dafür waren [. . .] eigentlich schon untergraben: wo soll sie noch eingreifen – bei der physiologisch-bedingten Züchtung des besten Menschen, des ‚Übermenschen‘, bei der Identifizierung des Moralisch-Minderwertigen mit physischer Decadence?“ (S. 328)466 Aber auch der Determinismus in der Konzeption der „Wiederkehr des Gleichen“ scheint mit dem – Nietzsche und Stirner gemeinsamen – Anspruch auf „ethische Selbstbestimmung des Ich“ unvereinbar, und die Annahme, daß es gerade dieser „Teil der Metaphysik Nietzsches [ist], der am tiefsten Grunde seine Ethik bestimmt hat“ (S. 328), ist hochgradig kontraintuitiv. Denn danach „besteht die Welt nur aus einer endlichen Anzahl von Elementen und hat nur eine endliche Summe von Energie zur Verfügung; es muß sich also, mindestens innerhalb unermeßlicher Zeiträume, dieselbe einmal gegebene Ichkombination noch einmal wiederholen“ (S. 329). Zunächst steht Nietzsche hier offenbar „im denkbar schärfsten Widerspruch“ zu Stirner, denn der „‚Einzige‘ sollte gerade ausdrücken, daß jene Mischung der Elemente, die zu diesem bestimmten A oder B oder C als für sich seienden Personen einmal zusammengetreten sind, innerhalb der Gesamtheit des Seienden sich nicht zum zweiten Male vorfindet, niemals weder existiert hat noch existieren wird: darum allein [. . .] kann es außerhalb des Ich nie einen Maßstab geben, an dem es gemessen werden dürfte.“ (S. 328) Genau das daraus sich ergebende ethische Problem der sittlichen Maßstabslosigkeit des Individuums löst nun wiederum Nietzsche mit dem Gedanken der ewigen Wiederkunft, den er „mit der tiefsten ethischen Formel viel innerlicher zu verschmelzen [verstanden hat], als Stirner den ‚Einzigen‘ mit anderen metaphysischen Bestandteilen. Denn erkennen wir die ‚ewige Wiederkunft des Gleichen‘ in ihrem moralischen Kern, so ergibt sich als sittliche Aufgabe: vergiß nicht, daß jede deiner Taten einen Ewigkeitscharakter zu tragen bestimmt ist, ‚vergiß nicht, daß du für die Ewigkeit handelst!“ (S. 329)467 466 Für Ruest zeigt sich hieran auch, daß Nietzsche „die Motive seines Denkens [. . .] weniger untereinander in Einklang zu bringen wußte als Stirner.“ (Ruest (1906), S. 310 f.). 467 Die ‚tiefste ethische Formel‘ Nietzsches erscheint so als eine Verzeitlichung des Kantischen Kategorischen Imperativs: das Ich soll nicht so handeln, daß die

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Nietzsche kommt damit zu einer Ethik radikaler Selbstverantwortlichkeit, die wiederum Ruest zufolge im Ergebnis Stirners Ethik der Selbstbeherrschung gleicht. Beide setzen auf eine ethische Selbstbestimmung, deren zentrale Voraussetzung und zugleich stets von neuem zu erfüllende Anforderung die Selbst-Findung ist, jenseits von bloßen Gegebenheiten äußerer oder innerer Herkunft. „Sowohl Stirner wie Nietzsche“ haben die „sittliche[] Selbstbestimmung“ dem „Ich wiedergegeben, und zwar in der Weise, daß sie den Begriff des Natürlichen, Seienden, Realen [. . .] erweiterten und, statt wie früher ein draußen befindliches fixes Böses und ein erstarrtes Gutes anzunehmen, in das nie erstarrende, ewig bewegliche Ringen nach sich selbst, nach der eigenen inneren Realität des Ich, den Kern des sittlich Guten verlegten. Bei Stirner hat es erst den Anschein, als setze er ein festes Ich, eine bestimmte Eigenheit, Persönlichkeit voraus, die wie sie es auch anfangen möge, aus ihrer Eigenheit nicht herauskann, immer nur ‚eigene‘ Handlungen vollbringen wird: da aber stellt er an sie die Anforderung, sich nicht wegzuwerfen, sich nicht in den Dienst der Wahrheiten einerseits, nicht unter die Herrschaft der Sinne und Begierden andererseits zu begeben.“ (S. 329 f.) Ähnlich wie Nietzsche mit seiner ‚mechanistisch‘ anmutenden Begründung der ‚ewigen Wiederkunft‘ (vgl. S. 329) hat auch Stirner also dem Vorwurf eines Determinismus zu parieren, der kurzerhand das Individuelle mit dem „Naturdeterminierte[n]“ gleichsetze und dies schlicht zum „Gute[n]“ verkläre, ohne die individuelle Entscheidungsfreiheit als unabdingbare Voraussetzung jeglichen moralischen Handelns und seiner ethischen Bewertung überhaupt noch denken zu können (S. 329); und er pariert mit der Forderung nach Ich-Herrschaft durch Selbst-Erforschung. „Da springt es gerade in die Augen, daß Stirner eben das Ich als eine fixe, feste, Maxime seines Handelns dem Handeln eines jeden Anderen zugrunde liegen können soll, sondern so, daß es selbst als Ich dasselbe Handeln in Zukunft und Vergangenheit wollen kann. Durch diese Verschiebung in die Zeitdimension wird das Ich von der sozialdimensionalen Ausrichtung auf die Anderen entkoppelt – für die in der klassischen Variante ja die eigene Handlungsmaxime ebenfalls gelten können soll –, und zugleich wird ihm die unermeßliche Bürde der Verantwortung nicht nur für sein Handeln, sondern für alle Folgen seines Handelns, von denen es ja in der Vorstellung der ‚ewigen Wiederkunft‘ eingeholt wird, aufgelastet. Der Widerspruch zwischen Determinismus und – moralisch gebotener – Handlungsfreiheit ist dann nur durch ein ‚Als ob‘ zu lösen: Handle stets so – d. h. entscheide dich so –, als ob du für die Ewigkeit handeltest; tatsächlich handelst du nicht für die Ewigkeit; andernfalls hättest du keine Wahl, und ohne Entscheidungsfreiheit erübrigt sich jedes moralische Gebot, auch der Kategorische Imperativ. – Diese Deutung der ‚ewigen Wiederkunft‘ als Kategorischer Imperativ findet sich auch bei Simmel (vgl. Simmel (1906), S. 393 ff.). Vgl. Harders (2007), S. 385 ff., hierzu – und generell zur Idee der ‚ewigen Wiederkunft‘ vor, bei und nach Nietzsche, und insbesondere zur Deutungsvielfalt und Interpretation dieser Figur in der Nietzsche-Rezeptionsgeschichte –, wo auch ein Vorschlag unterbreitet wird, den gesamten Widerspruch aufzulösen (vgl. S. 371 ff.).

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plumpe Tatsache nie vorausgesetzt hat, daß es in seinen ewig wechselnden Äußerungen, seinen von aller ‚Konsequenz‘ entfernten Handlungen von vornherein um eine Mitte, eine feste Axe sich erst bemühen mußte, um überhaupt ‚Ich‘, völliges Selbst zu werden, sich als ‚eigenes Ich‘ dann stets, und instinktiv zuletzt, wiederzuerkennen!“ (S. 330 – H. i. O.) Die gleiche ethische Bedeutung hat für Ruest Nietzsches „Lehre von der ‚Wiederkunft des Gleichen‘“, mit der Nietzsche „erkannte [. . .], daß man einerseits schon immer sei, was man suche, andererseits eine Aufgabe für die Ewigkeit habe, und er faßte die sittliche Bestimmung des Menschen in die Worte zusammen: ‚Werde, der du bist.‘ Wenn man sein Ich als erstarrte, unveränderliche Realität nimmt, wenn man nicht gleichsam noch immer auf dem Wege zu sich selbst ist und, als Ich, nicht doch noch immer mit sich ringt, um sein Ich von neuem immer neu zu schaffen: dann wird man im vollsten Sinne auch nie Eigentümer, Souverän dieses Ich.“ (S. 330 – H. i. O.) Stirner und Nietzsche plädieren somit in Ruests Interpretation beide – ausgehend von ähnlichen Grundintuitionen und gleicher Frontstellung, auf teilweise verschiedenen, aber kompatiblen und komplementären Argumentationswegen mit unterschiedlichen Nuancierungen – in ähnlicher Weise für eine radikale ethische Selbstverantwortlichkeit des Individuums, die es dem Ich nicht gestattet, sein Handeln mit der Berufung auf äußere Autoritäten oder auf das eigene Sosein, als auf eine unreflektierte innere Triebnatur, zu rechtfertigen. Im Sinne Stirners ist mangelnde Selbstbeherrschung gleichbedeutend mit individueller Machtlosigkeit, d. h. der Unterwerfung des Ich unter die Herrschaft fremder Mächte; für Nietzsche ist sie ein Verstoß gegen den Imperativ, um der eigenen Selbstsorge willen für die Ewigkeit zu handeln. Daher mutet die individualistische Ethik dem Individuum eine stetige Selbstfindung und reflexive Prüfung der eigenen Präferenzen zu, die es als Ich monologisch zu erbringen hat. Und weil nur wenige Individuen überhaupt in der Lage sind, diese Anforderungen zu erfüllen, diejenigen aber, die diesen entsprechen, damit ihren höheren Wert als Individuen gegenüber den übrigen behaupten, ist diese individualistische Ethik dem Prinzip nach aristokratisch – und somit Individualismus niemals als ‚demokratischer‘ denkbar, sondern nur als Aristokratismus. Bisher läßt sich festhalten: für Simmel wie Ruest liegt die ethische Rettung des Individualismus im Aristokratismus. Der Unterschied beider Interpreten liegt darin, daß Simmel nur Nietzsches Individualismus als einen solchen, ethisch gehaltvollen Aristokratismus gelten lassen will, nicht denjenigen Stirners, während Ruest in dieser Beziehung denjenigen Stirners bei allen Unterschieden als (mindestens) gleichberechtigt betrachtet. Gemeinsam ist Simmel und Ruest neben der engen Verknüpfung von individualistischer Ethik und Aristokratismus die Beobachtung – bei unterschiedlicher

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Bewertung – der Differenz zwischen Stirner und Nietzsche im Hinblick auf die nur bei Nietzsche vorliegende Explikation einer substantiellen Ethik und objektiver Bewertungskriterien: für Simmel Nietzsches Stärke, für Ruest in ihrer konkreten (‚herrenmoralischen‘) Gestaltung Nietzsches Schwachpunkt. Unabhängig von der jeweiligen Bewertung bzw. Präferenz für Stirner oder Nietzsche ist diese Fassung ihrer Differenz typisch für den ‚Stirner und Nietzsche‘-Diskurs. In ähnlicher Weise hatte bereits 1892, im Anfang der Stirner-Renaissance, Robert Schellwien in Max Stirner und Friedrich Nietzsche, Erscheinungen des modernen Geistes, und das Wesen des Menschen die „Verschiedenheit“ der beiden „Propheten des Individualismus“ beschrieben, dabei allerdings auch auf ihre „Uebereinstimmung“ hingewiesen.468 cc) Robert Schellwien Stirners und Nietzsches Gemeinsamkeit besteht Schellwien zufolge darin, „das Individuum absolut zu machen und alle daraus sich ergebenden Folgerungen rücksichtslos hinzustellen.“469 Stirner und Nietzsche sind somit die „consequenten Propheten des Individualismus“ (S. 5, vgl. S. 6), und zwar eines „principiellen Individualismus“ (S. 7) oder „absolute[n] Individualismus“470 im Gegensatz zum „vulgären Individualismus“ (S. 5) des „modernen Durchschnittsmenschen“ (S. 7). Aber zwischen diesen beiden ‚absoluten‘ Varianten des „moderne[n] Individualismus“ (S. 6 f., vgl. S. 38) besteht ein entscheidender Unterschied: „Der grosse Unterschied zwischen den beiden Denkern ist dieser: Stirner ist – kritisch; Nietzsche ist – dogmatisch.“ (S. 23 – H. i. O.) Die daran anschließende begriffliche Unterscheidung zwischen dem „dogmatischen“ und dem „kritischen Individualismus“ (S. 42) erläutert Schellwien vor allem im Nachweis des Dogmatismus Nietzsches, aus dem sich dessen – für Schellwien ethisch fragwürdige – aristokratische Tendenzen ableiten. Zunächst gesteht Schellwien zu, daß „Nietzsche [. . .] Individualist aus Gesinnung, Trieb, Temperament, ist“ und daß „dies [. . .] auch all sein Denken“ bestimmt. „[A]ber die Begründung für letzteres findet er nicht in Sich, sondern in einem objectiven Weltprozesse, er ist sich selbst nur Resultat dieses Prozesses, ‚es denkt‘ in ihm, und ein Gedanke kommt, wenn ‚er‘ will.“ Wenn man „all sein Denken auf ein objectives Causalgesetz gründet, [. . .] nämlich auf eine nach Darwinistischem Muster zugeschnit468

Schellwien (1892), S. 6 f. Schellwien (1892), S. 7 – H. i. O. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich in diesem Unterabschnitt ebenfalls auf Schellwien (1892). 470 Schellwien (1892), S. 12, 14, 38, 116. 469

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tene Entwicklungstheorie, so ist man [. . .] dogmatisch.“ Auch ist es „dogmatisch, wenn das Denken [. . .] als Wirkung anderer Kräfte, und das Bewusstsein als Function des Unbewussten verstanden wird. So aber ist es bei Nietzsche.“ (S. 24 – H. i. O.) Schellwien klassifiziert also Nietzsche für die beiden Aspekte seiner „Weltanschauung“ als ‚dogmatisch‘, die auf die zweite und die dritte der später von Freud diagnostizierten Kränkungen des menschlichen Narzißmus durch die moderne Wissenschaft verweisen, die biologische und die psychologische Kränkung,471 wobei er als Nietzsches „Quellen“ neben „dem Darwinismus“ die „Schopenhauersche[] Philosophie“ angibt (S. 28). Gerade das, was an psychologischer Kränkung in philosophischer Form bei Nietzsche angelegt ist, gilt Schellwien als Inbegriff des Dogmatismus: „Nietzsche’s Fundamentalsatz ist, dass es in uns nur Affekte giebt, und unser ganzes Geistesleben eine Wirkung der Affekte und des Verhaltens derselben zu einander ist. Dieser Satz ist unwahr, denn er widerspricht der inneren Erfahrung; mindestens aber ist er, weil es unmöglich ist, Wollen und Denken als eine Wirkung der Affekte nachzuweisen, dogmatisch. Mithin ist auch Alles dogmatisch, was auf diesen Satz gebaut wird, speciell die Erhebung des Triebes zum Weltprincip unter dem Namen ‚Wille‘ oder ‚Wille zur Macht‘“ (S. 27 – H. i. O.). Nietzsches von Schopenhauer ausgehende, aber diesem gegenüber ganz „eigenartige“ (S. 28) und im Gegensatz zu diesem in einen „nakte[n] Individualismus“ mündende Willens-Lehre (S. 31) verbindet sich mit seinem „rein individualistischen Darwinismus“ (S. 35)472 im Motiv „der Zuchtwahl und der Vererbung“ zu seinen dogmatischen Vorstellungen von „‚Züchtung‘, ‚Anzüchtung‘“ (S. 32), ‚Vornehmheit‘, ‚Herren- und Sklavenmoral‘ (vgl. S. 40 f.), deren realitätsfernes Ideal dann aber bloß „papierne[] Zuchtwahl-Aristokraten“ sind (S. 42). Nietzsches Individualismus ist also „durch und durch dogmatisch“ (S. 27). „Gerade umgekehrt Stirner. Er ist der Selbstherrscher, der Schöpfer seiner Gedanken, und seine Kraft, wie die Triebe zu beherrschen, so auch die Gedanken aufzulösen, sie zu hindern, Dogmen und fixe Ideen zu werden, lässt ihn als Sieger, als den ‚Einzigen‘ hervorgehen. Alle seine Beweise sind Beweise der Kraft: er beweist Sich als absolut, indem er seine Macht bethätigt, alle dogmatischen Einbildungen zu zerstören. Er denkt nicht daran, eine objective Weltanschauung zu konstruiren, und, wenn er die Wirklichkeit freilich anerkennt, so geschieht dies doch nur insofern, als sie dem Subject sich unzweideutig fühlbar macht.“473 Stirners Einziger ist also kein 471

Siehe oben, II. 2. b) und c). „[D]ass der Darwinismus durch und durch individualistisch“ ist, erkannte Nietzsche „besser, als der Darwinismus selbst, nämlich der naturwissenschaftlich recipirte Darwinismus.“ (Schellwien (1892), S. 34). 473 Schellwien (1892), S. 24 – H. i. O., vgl. S. 8 ff., bes. S. 12 f. 472

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Solipsist, denn er anerkennt die Realität als solche in ihrer Widerständigkeit; er läßt aber nichts über sich gelten: keine Wahrheit, kein Recht, keine Moral, keine sittlichen Pflichten, keine Ideale oder sonstiges ‚Streben nach Höherem‘ (vgl. S. 12 ff., 21). Jeden überindividuellen Geltungsanspruch kritisiert er als „fixe Idee“, „Spuk“ und „Gespenst“; es sind „Götzen“, die das von ihnen „besessen[e]“ Individuum selbst erschaffen hat und die als „Vampyre [. . .] dem lebendigen Menschen das Blut aussaugen“ (S. 10 – H. i. O.). Dagegen empfiehlt Stirner dem Individuum die egoistische Selbstbehauptung, die unter Ablehnung jeder überindividuellen Norm und bei realistischer Einschätzung der widerständigen Wirklichkeit der Individuen zum „Krieg Aller gegen Alle“ führt (S. 21). Deswegen sieht Schellwien in Stirners kritischem Individualismus etwas ‚vorausspuken‘, nämlich den „Nihilismus“ (S. 21 – H. i. O.). In dieser nihilistischen Implikation sieht Schellwien wiederum die Gemeinsamkeit des kritischen Individualismus Stirners und des dogmatischen Individualismus Nietzsches, und diese Einschätzung begründet seine ethische Bewertung beider Formen des ‚absoluten Individualismus‘. Wenn bei Nietzsche „der ‚Natur‘ angedichtet [wird], dass es ihr Wesen sei, Gewaltmenschen hervorzubringen, und dass nur darauf alle Entwicklung hinauslaufe“, so „könnte [man] sich versucht fühlen, in dieser Denkweise nur eine pathologische Erscheinung, eine Philosophie des Grössenwahns zu erblikken“. Ihre Bedeutung liegt aber vielmehr darin, daß sie kein „isolirtes Phänomen [ist], sondern die kühne Durchführung einer modernen Geistesrichtung bis zu deren letzten Konsequenzen, die freilich nur dazu dienen können, die Widersinnigkeit der ganzen Richtung an den Tag zu bringen.“ (S. 38) Hier treffen sich Stirner und Nietzsche, dessen ‚Wille zur Macht‘ „[i]m Grunde [. . .] das denkbar langweiligste und leerste [ist]: der Machtwille, der nur Macht will und immer von neuem Macht und darum unermüdlich ist im Ueberwältigen und Unterwerfen, in der fortlaufenden Selbstzerstörung, will eigentlich gar nichts. Man wird es daher nicht überraschend finden, dass der absolute Individualismus in dieser Gestalt sich vollends als Nihilismus erweist und in der Verneinung von Wahrheit, Moral und Recht hinter dem Stirnerschen Egoismus nicht zurückbleibt.“ (S. 38)474 Schellwiens abschließender Befund über das Verhältnis des ‚kritischen‘ zum ‚dogmatischen Individualismus‘ verdeutlicht zugleich seine eigene kritische Distanz gegenüber dem „absoluten Individualismus“ überhaupt (S. 116 – H. i. O.), dem sein Interesse vor allem aufgrund eigener systematischer Ambitionen gilt:475 „Max Stirner ersetzt die Freiheit durch die Eigen474

In diesem Zusammenhang verweist Schellwien auf Nietzsches „Citat des Spruches des Assassinen-Ordens ‚Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt‘“ (Schellwien (1892), S. 39). – Siehe hierzu auch oben, V. 2. c), und unten, VI. 4. b) ee).

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heit, die absolute Geltendmachung des Individuums als solchen, aber er hat uns nicht zu sagen vermocht, wie hieraus etwas Anderes hervorgehen könnte, als die Unterdrückung der schwächeren Individualität durch die stärkere, also ein Zustand, in dem nicht die Eigenheit, sondern die brutale Gewalt herrschte. Friedrich Nietzsche zieht dann auch diese Consequenz, er will die Unterdrückung des Schwächern durch den Stärkeren, er will die aristokratische Herrschaft der Starken, die ihm auch allein die Guten sind, er erhebt den ‚Willen zur Macht‘ zum Weltprinzip.“ (S. 117 – H. i. O.)476 Im Licht der Unterscheidung Max Messers ist Schellwien somit weder den Freunden, noch den Feinden Stirners eindeutig zuzurechnen. Zwar schätzt er tendenziell Stirner in theoretischer Hinsicht höher ein als Nietzsche,477 und er bewertet letzteren auch in ethischer Hinsicht kritischer, wobei er wiederum zugesteht, daß „Nietzsche“ in seinen diesbezüglich deutlicheren Einlassungen „den Muth seiner Meinung“ hat (S. 36). Aber insgesamt steht er dem ‚absoluten‘ oder ‚prinzipiellen Individualismus‘, als dessen Hauptvertreter er Stirner und Nietzsche betrachtet, skeptisch gegenüber, auch wenn er diesem eine höhere philosophische Dignität zubilligt als dem von diesem geschmähten ‚vulgären Individualismus‘ der ‚Durchschnittsmenschen‘. Von Simmel und Ruest trennt Schellwien also zunächst die prinzipielle Distanz zu beiden ‚Propheten des absoluten Individualismus‘. Er stimmt aber mit ihnen darin überein, daß sich Nietzsche durch seine objektivistischen und die ihm eigentümlichen aristokratischen Tendenzen von Stirner unterscheidet; allerdings erblickt er, anders als Simmel und Ruest, im Aristokratismus keine Lösung der ethischen Problematik des Individualismus, die er weder bei Stirner noch bei Nietzsche gelöst, sondern in aller Schärfe vorgeführt sieht.

475 Die „Consequenz und Entschiedenheit“, mit der Stirner und Nietzsche „das Individuum absolut [. . .] machen und alle daraus sich ergebenden Folgerungen rücksichtslos“ hinstellen (Schellwien (1892), S. 7 – H. i. O.), schätzt Schellwien für ihren hohen Erkenntniswert, auch wenn, oder gerade weil es sich um „grosse[] Irrthümer und Einseitigkeiten“ handelt (S. 6). 476 Dem setzt Schellwien entgegen, daß „[d]ie Wahrheit ist, dass Recht mit Freiheit identisch, und die Freiheit eine Eigenheit des Menschen ist: das Ziel der Entwickelung ist die sich selbst wissende freie Persönlichkeit, die an sich selbst Rechtswille und unausgesetzt der lebendige Ursprung und Zweck des faktisch geltenden Rechtes ist.“ (Schellwien (1892), S. 117). 477 „Wäre ich also nichts, als Individuum, so müssten alle Stirnerschen Consequenzen zugestanden werden. Die Frage aber ist: ob Ich nicht mehr bin, als Individuum, und mein Wille nicht weiter geht, als auf individuelle Bejahung.“ (Schellwien (1892), S. 43 – H. i. O.).

4. Stirner und Nietzsche im Diskurs

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dd) Benedict Lachmann Eindeutig der Interpretengruppe der Stirner-Freunde zuzuordnen, die die Unterschiede zwischen Stirner und Nietzsche betonen, ist Benedict Lachmann, der in seiner Schrift Protagoras Nietzsche Stirner. Ein Beitrag zur Philosophie des Individualismus und Egoismus (1914), ein knappes Vierteljahrhundert nach Schellwien, die Differenz zwischen Nietzsche und Stirner mit einer Unterscheidung von ‚aristokratischem Individualismus‘ (Nietzsche) und ‚Egoismus‘ (Stirner) faßt. Diese beiden gegensätzlichen Auffassungen deutet Lachmann als unterschiedliche Konsequenzen aus der philosophischen Rückbesinnung auf das Individuum, die seit der griechischen Antike den Innovationsbedarf in Krisenzeiten kennzeichnet. „Die von Protagoras begründete Lehre von der Relativität aller Werturteile und der Ethik als Nützlichkeitstheorie“ taucht „[b]esonders in Zeiten starker Gärung [auf], in jenen sich regelmäßig wiederholenden Epochen, in denen ‚das Alte‘ gestürzt wird, um ‚dem Neuen‘ Platz zu machen“, und im „Verlauf des vergangenen Jahrhunderts“ waren es „Friedrich Nietzsche und Max Stirner, die die Idee in die öffentliche Diskussion stellten und ihr neue Freunde und neue Feinde schufen“.478 So steht der Homo-mensura-Satz des Sophisten Protagoras „‚Der Mensch ist das Maaß aller Dinge.‘ [. . .] über dem Eingang zum Individualismus und Egoismus“, von dem aus sich aber „[z]wei Wege“ trennen: „Der eine geht zum Staate, als der notwendigen Voraussetzung der Existenz der Einzelnen. Er führt über die Absicht der Höherentwicklung des Staates und der Gesellschaft, der Menschheit überhaupt, zur Züchtung einzelner Individuen, die als Führer die Masse lenken. Immer aber steht die Idee ‚Staat‘, ‚Gemeinschaft‘, ‚Menschheit‘ als Ziel am Ende des Weges. Diesen Weg ging Protagoras und diesen Weg Friedrich Nietzsche.“ (S. 10 – H. i. O.) Der „zweite Weg“ aber „steigt kühner empor“, indem er die relativistische Spezifikation des Homo-mensura-Satzes – „Wie ein Jedes einem Jeglichen scheinet, so ist es für ihn“ – weiterverfolgt. Dieser zweite Weg „führt über die Auflösung des ‚Staates‘, der ‚Menschheit‘ zur Möglichkeit, dem Einzelnen die Entscheidung über die Werte in die Hand zu geben, des Einzelnen Interesse zum Mittelpunkt der für ihn existierenden Welt, den Einzelnen zum Herrn der Dinge zu machen. Diesen Weg ging Max Stirner.“ (S. 10) Daher beeilt sich Lachmann zu betonen, daß also „Nietzsche von Standpunkt der Entwicklung der Lehre der Zurückgebliebene ist, und uns die Stirnerschen Lehren jedenfalls in weitere Gefilde führen werden.“ (S. 11) Nietzsches aristokratischer Individualismus und Stirners Egoismus 478 Lachmann (1914), S. 11. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich in diesem Unterabschnitt ebenfalls auf Lachmann (1914).

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sind miteinander unvereinbar, weil nur dieser die relativistischen bzw. radikal subjektivistischen Konsequenzen aus dem Homo-mensura-Satz zieht, während sich jener auf die objektivistische Begründung überindividueller Ideen und Werte verlegt. Wegen seiner anti-objektivistischen Radikalität erscheint Stirner Lachmann als der überlegene Denker.479 Die Differenz zwischen Stirner und Nietzsche faßt Lachmann somit in ähnlicher Schärfe wie Simmel, aber mit entgegengesetzter Bewertung. Damit widerspricht Lachmann in der Aristokratismus-Frage zugleich Ruests ‚aristokratisch-individualistischer‘ Stirner-Interpretation. In dem Befund, daß die „Gesamtheit der Nietzscheschen Lehren [. . .] das Bild eines aristokratischen Individualismus“ ergibt (S. 32), stimmt Lachmann indes mit Simmel, Ruest und Schellwien überein. Für Nietzsche hat demnach die „Menschheit [. . .] das Ziel, sich ständig höher zu entwickeln. Das Mittel hierzu ist [. . .] das Herauswachsen Einzelner, Starker, Führender, die kraft ihrer Person der Mitwelt ihren Stempel aufdrücken. Die moralischen Begriffe haben nur relativen Wert, und sollen nur für die Klassen gelten, für die sie passend sind: eine Moral der Heerde für die Heerde, eine Moral der ‚höheren Menschen‘ für diese. Der Gedanke der ewigen Wiederkunft als Ansporn für die geplante Entwicklung.“ (S. 32 – H. i. O.) In einer nach der „Stellung des Einzelnen zur Gesamtheit“ geordneten Typologie 479 Diese Emphase erscheint Lachmann um so angebrachter, da er am Vorabend des Ersten Weltkrieges, anders als Schellwien in der Frühzeit der Stirner-Renaissance und Ruest im Stirner-Jahr 1906 – und anders auch als Simmel, der sich in seinem Vortragszyklus über Schopenhauer und Nietzsche veranlaßt sieht, Nietzsche von Stirner und den Sophisten abzugrenzen (vgl. Simmel (1906), S. 381 f.) –, ein knappes Vierteljahrhundert nach der Wiederentdeckung Stirners feststellen muß, daß die Bekanntheit Stirners hinter derjenigen Nietzsches, dessen „Name [. . .] in Jedermanns Munde“ zu finden sei (Lachmann (1914), S. 12), in aus seiner Sicht unangemessener Weise zurücksteht, der Nietzsche-Kult also offenbar dem Stirnerianismus den Rang abgelaufen hat. Mit Blick auf den diskursiven Verlauf der StirnerRezeptionsgeschichte läßt sich, unabhängig von den Intentionen der beteiligten Autoren, Lachmanns Beobachtung vor allem als symptomatisch für die effektive Entkopplung des vormals eigenwertigen Stirner-Nietzsche-Duals deuten. Die Dringlichkeit der Stirner-Nietzsche-Frage, die thematisch seit den 1890er Jahren eine Schnittmenge der Stirner- und der Nietzsche-Rezeptionsgeschichte bildete, beginnt nach einem Vierteljahrhundert zu verblassen. Aber sie hat dazu beigetragen, Stirner vorläufig noch als für das moderne Selbstverständnis relevanten Autor im gesellschaftlichen Gedächtnis zu verwurzeln. Die Stirner-Rezeptionsgeschichte wird, wie im nächsten Kapitel zu sehen, auch nach dem Ersten Weltkrieg fortgeschrieben. Lachmann selbst gehört nach dem Weltkrieg u. a. als Gründer und Herausgeber der 1919 in zwölf Ausgaben erschienen, Mackay nahestehenden Zeitschrift Der individualistische Anarchist zu den Aktivisten der individualistischen Bewegung der Weimarer Zeit, in Verbindung und Konkurrenz mit anderen Stirnerianern wie Gerhard Lehmann, Rolf Engert und Anselm Ruest (vgl. Helms (1966), S. 401 ff., insbes. S. 408 ff., vgl. auch S. 535 und S. 381 ff.).

4. Stirner und Nietzsche im Diskurs

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der „Weltanschauungen“ nimmt dieser „aristokratische Individualismus“ zunächst die gleiche Position wie der „Egoismus“ Stirners ein. Während „der Altruismus (das Christentum) mit der Lehre: ‚Einer für Alle.‘, und der Sozialismus mit der Lehre: ‚Alle für Alle.‘“ zu einer ersten weltanschaulichen „Gruppe“ gehören, die den „Grundgedanken [. . .] Die Gesamtheit ist wichtiger als der Einzelne“ artikuliert, gehören zur „zweiten Gruppe“, die den Gedanken „Der Einzelne ist wichtiger als die Gesamtheit“ ausdrückt,480 „der Individualismus mit der Lehre: ‚Alle für Einen‘, und der Egoismus, der den Begriff ‚Gesamtheit‘ überhaupt in lauter ‚Einzelne‘ auflöst und nur das eigene Interesse kennt.“ (S. 32) Trotz seines mit dem „Egoismus“ gemeinsamen normativ-individualistischen Grundgedankens, der ‚dem Einzelnen‘ den Vorrang gibt, rückt Lachmann den „aristokratischen Individualismus“ aber wegen seiner objektivsubstantialistischen Ethik in die Nähe von „Altruismus“ und „Sozialismus“ (S. 32). Denn alle drei „stimmen darin – im Gegensatz zum Egoismus – überein, daß sie moralische Werturteile verlangen, und daß sie eine bestimmte Aufgabe für die Entwicklung der Menschheit fixieren wollen, daß sie von dem Standpunkte ausgehen, alles Geschehen im Gesellschaftskörper diene einer Entwicklungsidee und nehme nicht fatalistisch seinen Weg, wobei das von den verschiedenen Anschauungen zum Ideal erhobene Prinzip als Gipfelpunkt der Entwicklung angesehen wird.“ (S. 32 f.) Auch „Nietzsches aristokratischer Individualismus hat Ideale, und er verlangt die Festlegung von Werturteilen, wenn er sie auch für relativ erklärt; überhaupt entbehren kann er, bzw. seine Lehre, sie aber nicht.“ (S. 33 – H. i. O.) Dagegen kennt der „Egoismus [. . .] keinerlei, weder relative, noch absolute, moralische Begriffe, er kennt nichts als subjektive Werturteile.“ (S. 33) Und dies begründet für Lachmann den Vorrang Stirners, des „radikalsten Egoisten“ (S. 38), vor dem ‚aristokratischen Individualisten‘ Nietzsche. In seiner abschließenden Gegenüberstellung bringt Lachmann in diesem Sinne Nietzsches Aristokratismus, wie Schellwien, mit dessen Dogmatismus in Verbindung, im Gegensatz zu Stirners kritischer Haltung. Stirner löst den „wertbestimmenden Faktor [. . .] ‚Staat‘ wie jede andere feste Form von Gesellschaftsverbänden auf, so daß ihm auch in der Ethik, wie überhaupt in Allem, der Einzelne für sich wertbestimmend und wertentscheidend ist. Damit löst sich auch jede über den Einzelnen hinausgehende ‚allgemeine Wertung‘ auf, und namentlich jedes ‚Höher‘ und ‚Niedriger‘ in bezug auf die Beurteilung menschlicher Eigenschaften und Handlungen. Auch Nietzsche 480 Man könnte im Anschluß an Charles Taylors Vorschlag zur Ordnung der Positionen in der Kommunitarismus-Debatte des späten 20. Jahrhunderts von normativ kollektivistischen und normativ individualistischen Positionen sprechen; vgl. Taylor (1989).

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hatte ja zeitweise etwas Ähnliches versucht, aber er kann sich schließlich doch nicht von dem Gedanken befreien, daß es eine Klassifizierung von Menschen geben müsse. Er nennt Einzelne ‚höhere Menschen‘ und verlangt, daß dieses sein persönliches Urteil allgemein akzeptiert werden soll. Er ist dogmatisch. Er begnügt sich nicht, den Dingen kritisch auf den Leib zu rücken, sondern er konstruiert neue Lehren, neue Wege, neue Hypothesen. Jedoch der ‚höhere Mensch‘, der ‚Übermensch‘ und ähnliche Begriffe sind ‚Geister‘, ‚fixe Ideen‘, wie tausend andere vor ihm und nach ihm. Im Grunde unterscheiden sie sich durch nichts von anderen Geistern, wie ‚Christen‘, ‚Sozialisten‘, ‚Pöbel‘, ‚Liberale‘ usw., gegen die Nietzsche mit so scharfen Worten zu Felde zieht; es ist kein prinzipieller Unterschied zwischen ihnen, sondern lediglich ein quantitativer bezüglich der geforderten ‚menschlichen Eigenschaften‘. Wie es vom ‚Christen‘ heißt, er soll das und das, vom ‚Sozialisten‘, das und das, genau so vom ‚Übermenschen‘. [. . .] Und darum verweisen wir den ‚Übermenschen‘ in die gleiche Rumpelkammer, in die wir die anderen ‚Begriffe‘ und ‚Ideen‘ warfen.“ (S. 69) Nietzsche ist also für Lachmann, in Stirnerscher Terminologie, ebenso wie ‚Christen‘ und ‚Sozialisten‘, ein ‚Besessener‘, und sein ‚Übermensch‘ ist eine ‚fixe Idee‘. Dagegen ist Stirners „Egoist [. . .] kein höheres Wesen und keine fixe Idee! Er ist überhaupt kein Wesen, er ist – Ich – wenn Ich will, und Du – wenn Du willst. Kein Wort ist dem Egoisten so verhaßt, widerspricht so sehr seinem Sinne, wie das Wort: du sollst. Nur zeigen, in welchen Vorurteilen wir befangen sind, und welche fixen Ideen uns beherrschen, das ist die Vorarbeit; und der Sinn: das Streben, als Ich zu leben, soweit Ich es vermag, und, wenn Ich ein Interesse daran habe und will, die Anderen zu überzeugen, daß sie, wenn sie sich zu meiner Meinung bekehren, ihr Interesse besser wahren.“ (S. 64 f. – H. i. O.) Trotz seiner Fundamentalkritik an allen weltanschaulichen Idealen als illegitimer moralischer Heteronomie, versteht sich der „Egoismus“ also gleichwohl, Lachmann zufolge, als ethisch gehaltvolles Projekt, das anstrebt, eine „neue Ära“ einzuläuten. Dies kann nicht vonstatten gehen durch eine „Revolution, die an die Stelle der zu stürzenden ‚Herrschaft‘ eine ‚neue Herrschaft‘ setzen will“. Vielmehr werden „die Lehren des Egoismus“ sich in dem Maße durchsetzen, in dem immer mehr „Einzelne“ sich „überzeugen [. . .], daß ihr Interesse jenseits des ‚Gesellschaftsinteresses‘ liegt“ (S. 65). In dieser ‚neuen Ära‘ ist sogar Platz für jede weltanschauliche Orientierung, solange sie keine überindividuelle Verbindlichkeit beansprucht. So spricht Lachmann, bezeichnenderweise vom Standpunkt eines gleichsam idealisierten Gesamtegoisten – oder eines ‚egoistischen Vereins‘-Vorsitzenden –, als „wir“, einen imaginären Gesprächspartner an: „Du bist gläubig und willst Deine Religion nicht opfern? Wir nehmen sie Dir nicht! Siehe zu, ob Du genügend Gefährten findest, daß Ihr Euch zusammen Kirchen

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baut. Aber verlange nicht von Mir und Meinesgleichen, daß Wir Eure Lehren respektieren sollen! Stört Ihr Unsere Kreise nicht, so geht Ihr Uns Nichts an. Wir haben kein Interesse an Euch. Macht was Ihr wollt und könnt! Denn nur, was Meine Sache ist, geht Mich an!“ (S. 65 – H. i. O.) Jeder mag mithin seine jeweilige Konzeption des Guten verfolgen, soweit diese nicht beinhaltet, andere in deren Verfolgung ihrer jeweiligen Konzeption des Guten zu beeinträchtigen: ob bzw. wann letzteres aber der Fall ist, entscheiden nicht allgemeine Regeln oder Normen, sondern lediglich ein egoistischer ‚Common sense‘, der auf realen Machtverhältnissen beruht; und auch über den Ausgang derartiger Konflikte entscheiden folglich Machtverhältnisse. Lachmanns Stirner-Egoismus optiert demnach als weltanschauliches Projekt für eine Ethik der ethischen Indifferenz. Er predigt ein allgemeines Laisser-faire, das auf jede positive Vorgabe eines ethisch Guten verzichtet und das negativ seine Grenzen nicht etwa an hochgradig formalisierten allgemeinen Regeln und Normen findet – wie dies bei einem radikal liberalen Modell denkbar wäre –, sondern lediglich in der nicht-normativen Faktizität von Macht-Ungleichgewichten im Falle von Deutungskonflikten darüber, ‚wer wessen Kreise stört‘, ‚was wessen Sache ist‘ bzw. ‚was wen etwas angeht und was nicht‘, also in Konflikten um die Auslegung des Interventionsverbotes. Denn eine „Verständigung“ über Wertorientierungen ist für Lachmann ‚unmöglich‘ (S. 71), weil sie aufgrund der prinzipiellen Inkommunikabilität individueller Perspektiven, ‚Empfindungen‘, ‚Verständnisse‘ usw. ausgeschlossen ist (vgl. S. 70): „Wer dies begreift, der begreift endlich, daß tatsächlich jeder Einzelne isoliert ist, und daß die Unmöglichkeit, unsere Verständigung zu prüfen und zu kontrollieren, Uns mit Notwendigkeit zu ‚Einzigen‘ macht.“ (S. 70 – H. i. O.) Die aus dieser radikalen Auffassung von Je-Einzigkeit folgende „Unmöglichkeit, eine Verständigung über die Auffassung der Werturteile eines Anderen zu erlangen“ ist für Lachmann einerseits die „stärkste und natürlichste Begründung des Egoismus“ im Sinne jener Ethik der ethischen Indifferenz (S. 71), im Gegensatz zu den ‚normativ kollektivistischen‘ Weltanschauungen und insbesondere auch im Gegensatz zu Nietzsches ‚aristokratischem Individualismus‘. Denn jede normative Rangordnung von Werten, und auch jede ethische Hierarchisierung von Individuen kann von diesem Standpunkt ihrerseits nur als individuelles, nur individuell gültiges und kommunikativ unvermittelbares ‚Werturteil‘ erscheinen, das, sobald es sich nicht mit seiner individuellen Relativität begnügt, zum ‚Dogma‘ gerinnt (vgl. S. 69 ff.). Andererseits sieht Lachmann in eben dieser „Unmöglichkeit“ ethischer Verständigung zugleich ein noch ungelöstes Problem und „ein[en] neue[n] wichtige[n] Faktor für die Philosophie des Egoismus“, der „noch von Keinem, auch von Stirner nicht, in den Bereich der Untersuchungen gezogen worden“ ist (S. 71).

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Aber anders als Ruest kann Lachmann im Aristokratismus gerade keine Lösung der ethischen Problematik erkennen. Vielmehr gilt ihm, ähnlich wie Schellwien, der ‚aristokratische Individualismus‘ Nietzsches, den er nicht nur, wie Ruest, in einigen inhaltlichen Aspekten kritisiert, sondern prinzipiell aufgrund seiner heteronomen Form (‚Du sollst‘), als dogmatisch; und diesbezüglich weist Lachmann Nietzsche damit sogar eine Verwandtschaft zu Christentum und Sozialismus zu. So entkoppelt Lachmann in prinzipieller Weise Stirnerianismus und Aristokratismus, ohne allerdings, wie dagegen Simmel, den Stirnerschen Egoismus für ethisch nicht anschlußfähig zu erklären. Für Lachmann geht der Egoismus ‚individualistisch‘ von der natürlichen Verschiedenheit der Individuen aus, aber anders als der ‚Aristokratismus‘ deutet er diese individuelle Verschiedenheit nicht als wertmäßige Ungleichheit von Individuen. Er weist die ‚aristokratistische‘ Forderung nach einer der wertmäßigen Ungleichheit der Individuen gerechterweise entsprechenden sozialen Hierarchisierung – sei es aufgrund natürlicher Anlagen (Simmels Nietzsche, Ruests Nietzsche), sei es aufgrund sozialer Bewährung bzw. Auslese (Ruests Stirner, Schellwiens Nietzsche) – als ‚dogmatisch‘ zurück, weil sie die Ethik des ‚aristokratischen Individualismus‘ verabsolutiert. Der Egoismus erhält dadurch einen implizit egalitären Zug, und zwar nicht, weil er den ‚Aristokratismus‘ im Namen der ‚Idee der Gleichheit‘ kritisierte, sondern weil er den aristokratistischen Anspruch ablehnt, bestimmte Individuen aufgrund überindividueller ethischer Geltungsansprüche, z. B. nach dem Maßstab einer ‚Herrenmoral‘, für ‚minderwertig‘ zu erklären und damit soziale Herrschaft zu rechtfertigen;481 denn ein Ich bzw. Individuum an überindividuellen Werten zu messen und unter Berufung darauf zu ‚unterwerfen‘, wäre gänzlich ‚un-egoistisch‘. An den bisher betrachteten Positionen zur Stirner-Nietzschefrage, die alle die Unterschiede zwischen Stirner und Nietzsche betonten – sowohl durch begrifflich-terminologische Markierungen als auch in detaillierteren Interpretationen; teils neben (Ruest, Schellwien), teils vor allen Gemeinsamkeiten (Simmel, Lachmann) – wurde deutlich, daß einerseits bei den Interpreten weitgehend Einigkeit darin besteht, die wesentliche Differenz zwischen beiden Autoren in den bei Nietzsche stärker ausgeprägten bzw. ausschließlich bei diesem vorfindbaren ‚aristokrat(ist)ischen‘ Zügen und in dessen ‚positiven‘ bzw. substantiellen und objektiven ethischen Vorstellungen zu sehen, während bei Stirner zumindest in der Explikation das ‚Kritisch-Negative‘ bzw. ‚Relativistische‘ überwiegt. Zugleich wurde deutlich, daß dieser prinzipiell differenzierenden Sicht auf die beiden Autoren verschiedene 481

Fluchtpunkt dieser Deutungsrichtung ist die Position Nettlaus, der Stirner als Anarchisten schätzt und Nietzsche als ‚Autoritären‘ ablehnt; siehe unten, VII. 3. a) aa).

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Bewertungen seitens ihrer Interpreten entsprechen, wobei die Gründe für die jeweiligen Präferenzen bzw. die Werturteile über Nietzsche im Unterschied zu Stirner wiederum qualitativ vielfältig sind. Schellwien kritisiert dasjenige an Nietzsche als ‚dogmatisch‘, was Simmel gerade aufgrund der ‚aristokratistischen‘ substantiellen Bestimmtheit als das ethisch Wertvolle an Nietzsches Individualismus herausstellt, und wodurch Nietzsche für Simmel grundverschieden vom ‚formalistischen‘ Stirner ist, den wiederum Ruest im Gegensatz dazu für den unter individualistischen Gesichtspunkten ‚besseren Aristokraten‘ hält, wogegen Lachmann gerade die Überlegenheit des relativistischen und egalitären Stirnerschen Egoismus vor dem aristokratischen Individualismus Nietzsches geltend macht. Ruest lobt Nietzsche aufgrund seiner Einsichten in die Psychologie des Unbewußten und der Triebnatur als den gegenüber Stirner ‚tieferen Psychologen‘, Schellwien lehnt diese Annahmen Nietzsches vehement als ‚dogmatisch‘ ab und zieht Stirners ‚kritische‘ Haltung vor. Simmel feiert Nietzsche als Begründer einer neuen Ethik, der es um die Höherentwicklung der Menschheit geht, Lachmann sieht Nietzsche gerade hierin der alten christlich-moralischen Tradition verbunden. Ferner zeigt sich vor allem an Ruest, daß ein ‚StirnerFreund‘ zu sein und zwischen Nietzsche und Stirner die Unterschiede zu betonen, nicht notwendig mit der Ablehnung oder Geringschätzung Nietzsches verbunden sein muß, wie dies dagegen bei Lachmann zu beobachten ist, während der Vergleich Ruests mit Lachmann zeigt, daß man Stirner aufgrund teilweise entgegengesetzter Interpretationen und aus entgegengesetzten Gründen schätzen und gleichwohl seine Differenz zu Nietzsche ähnlich bestimmen kann. Und das Beispiel Schellwiens zeigt, daß eine differenzierende Betrachtung Nietzsches und Stirners nicht bedeuten muß, daß die Kritik an Stirnerschen Positionen gleichbedeutend mit einer Bevorzugung Nietzsches an diesen Punkten einhergehen muß, wie dies dagegen in ganz verschiedener Weise bei Simmel und bei Ruest der Fall ist. Diesbezüglich sind die Positionen der ‚Stirner-Feinde‘, die die Gemeinsamkeiten Stirners und Nietzsches hervorheben, weniger vielfältig besetzt: wer Nietzsche und Stirner weitgehend gleichsetzt, lehnt, wenn er Stirner ablehnt, in der Regel Nietzsche aus den gleichen Gründen ab, typischerweise wegen der ‚Gefährlichkeit‘ der beiden Autoren zugeschriebenen anti-moralischen Vorstellungen und antisozialen Tendenzen, wie dies exemplarisch etwa an Lucchesi zu sehen war. Dabei fällt allerdings die Ablehnung Nietzsches oft noch heftiger aus, wie die Beispiele des oben bereits behandelten Eduard von Hartmann und des im Folgenden ausführlicher zu betrachtenden Hermann Türck zeigen.

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ee) Hermann Türck In seinem auflagenstarken, erstmals 1897 erschienenen Buch Der geniale Mensch482 stimmt Hermann Türck gleich zu Beginn seines Stirner, Nietzsche und Ibsen behandelnden Kapitels „Der bornierte Mensch als Gegensatz zum genialen, und die Antisophie des Egoismus“ die individualismus-skeptische Tonlage von den „gefährlichen Denkern“ an, „die an die Stelle der Liebe und Hingebung den Haß und die Selbstsucht setzen wollen, an die Stelle des Schönen und Erhabenen das Häßliche und Gemeine, an die Stelle der Wahrheit die Lüge, an die Stelle des friedlichen Verkehrs und der Gemeinsamkeit der Interessen den ‚Krieg aller gegen alle‘, mit einem Wort auf allen Gebieten an die Stelle der Ordnung die wilde Anarchie, die Unordnung und völlige Gesetzlosigkeit.“483 Diesen Antonymen – ‚Liebe vs. Haß‘, ‚Hingebung vs. Selbstsucht‘, ‚Schönheit vs. Häßlichkeit‘, ‚Wahrheit vs. Lüge‘, ‚Ordnung vs. Anarchie‘ usw. – entspricht die Gegensatzpaarung von „Genialität“ und „Borniertheit“, und die von Türck in diesem Kapitel behandelten Autoren sind Beispiele des ‚bornierten Menschen‘, der typologisch dementsprechend im ‚direkten Gegensatz‘ zum ‚genialen Menschen‘ steht.484 Im Unterschied zu den beiden extremen Gestalten des ‚genialen‘ und des ‚bornierten Menschen‘, die als reine Typen nach der Unterscheidung von Objektivität, Selbstlosigkeit und Liebe im Gegensatz zu Subjektivität, Selbstsucht und Haß gebildet sind, ist Türck zufolge „[j]eder Durchschnittsmensch [. . .] ein Gemisch von Genialität und Borniertheit.“485 Jenseits der Masse der ‚Durchschnittsmenschen‘ befinden sich also zum einen die genialen, sittlich und geistig vorbildlichen Menschen, zum anderen die Schurken, Übeltäter und Unholde, die Antisozialen, geistig Degenerierten und sittlich Verwahrlosten; diesen zweiten Typus repräsentieren Stirner und Nietzsche. Sie sind Vertreter einer ‚Antisophie‘, im Unterschied zur ‚Philosophie‘, ein weiteres der Antonymie von ‚Borniertheit vs. Genialität‘ parallel gebildetes Gegensatzpaar.486 482

Helms (1966), S. 547, erwähnt „viele weitere Auflagen und Übersetzungen“. Der folgenden Darstellung liegt die bereits vierte, um ein weiteres Mal ‚vermehrte‘ Auflage von 1899 zugrunde. 483 Türck (1899), S. 325, vgl. auch S. VII, IX. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich in diesem Unterabschnitt ebenfalls auf Türck (1899). 484 Türck (1899), S. 326 f. – H. i. O., vgl. auch S. 4 ff. 485 Türck (1899), S. 387 – H. i. O., vgl. auch S. 3 ff., bes. S. 13. 486 „Genialität“ ist für Türck „nichts anderes, als ein wahres, außerordentlich erhöhtes Interesse oder Liebe zum Gegenstand“ und „so muß auch natürlich der geniale Mensch die Erfüllung der Gesetze im Auge haben und nicht ihre Auflösung“ (Türck (1899), S. 327), denn „Liebe strebt nach Einheit, nach Vereinigung des Vielen, Verschiedenen, Entgegengesetzten“ (S. 326 – H. i. O.) und „nach der Existenz der höhern Einheit, des vollkommenen Lebens“ und der „Erfüllung des Gesetzes“

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Türck ist also der Gruppe derjenigen ‚Stirner-Feinde‘ zuzurechnen, die die Ähnlichkeit Stirners und Nietzsches betonen, wobei die Ablehnung Stirners hier in typischer Weise durch die gleichen Gründe motiviert ist, die der Verachtung Nietzsches zugrunde liegen. In Türcks Feststellung, daß Stirner der „Vorgänger Nietzsches“ ist (S. 328 – H. i. O.), liegt schon die ganze Verurteilung dessen, was er als Stirnersche ‚Antisophie‘ interpretiert.487 In „‚Der Einzige und sein Eigentum‘ hat Stirner die nackte Selbstsucht als das allein seligmachende Prinzip verkündet zugleich mit der Auflehnung gegen alle Gesetze und Ideale, die der selbstsüchtigen Willkür des Einzelnen Schranken auferlegen könnten. Vor allem bäumt er sich gegen das sittliche Gebot der Nächstenliebe auf sowie gegen alles das, was damit in Zusammenhang steht, wie die echte Religiosität oder Gottesliebe, die sich auch bei dem Atheisten in einem rechtschaffenen Leben sowie in der Sympathie mit den Leiden und Freuden seiner Mitmenschen ausdrückt.“ (S. 328 – H. i. O.) Obgleich Türck sich selbst offen zu seinem Glauben an „die verkörperte Liebe in Jesus Christus“ bekennt (S. 327) und speziell Nietzsche auch für seine ostentative Antichristlichkeit angreift und ihn als ‚Propheten des Teufels‘ bezeichnet,488 gesteht er also den „ehrlichen Athei(S. 327 – H. i. O.) oder „der Idee“, der sich „jedes Einzelwesen beim Eintritt in die höhere Einheit [. . .] unterzuordnen hat“ (S. 326 f. – H. i. O.). Im Gegensatz dazu wird der „bornierte, interesselose, lieblose Mensch [. . .] allen Gesetzen seine Anerkennung versagen, weil ihm nichts an der höhern Einheit und dem höhern Leben liegt, dessen Existenz allein auf der Geltung dieser Gesetze beruht. Der bornierte, interesselose, lieblose Mensch ist daher seiner Natur nach ein gesetzloser, einer der sich außerhalb der Gesetze stellt, ein Anarchist. Der lieblose oder selbstsüchtige Mensch läßt nur das gelten, was unmittelbar auf seine eigene vergängliche Person, auf sein eigenes beschränktes Ich Bezug hat; sich einem Gesetz zu unterwerfen, auf dem die Existenz einer höhern Gemeinschaft beruht, hält er für eine Thorheit, eben weil ihm jedes Verständnis und jedes wahre Interesse für diese höhere Gemeinschaft fehlt. Wo aber dem Gesetze die Herrschaft versagt wird, da herrscht die Willkür des Einzelnen, die Gesetzlosigkeit, die Unordnung und Anarchie. Selbstsucht, Egoismus und Anarchie gehören daher zusammen.“ (S. 327 – H. i. O.) Und in dieser Hinsicht gehören für Türck auch Stirner, der „die Lehre des Anarchismus oder der auf sich beschränkten oder bornierten Individualität entwickelt hat“ (S. 328), „sein[] so berühmt gewordene[r] Nachfolger Friedrich Nietzsche“ (S. 331), dem Türcks Hauptangriff gilt und dem er mit dem größten Ausmaß an Ekel und Abscheu begegnet, sowie Henrik Ibsen mit seinem „unsittlichen, inhumanen Realismus“, einer „Abart des modernen Realismus“ (S. 360 vgl. S. 378 ff.), und der „[v]iel weniger Beachtung“ verdienende Strindberg zusammen (S. 382; vgl. S. 383 f.). „Die neuerdings Mode gewordenen Antisophen und Dichter, die die Selbstsucht, die Willkür des Einzelnen verherrlichen, preisen daher auch die Anarchie auf allen Gebieten, die Auflehnung gegen alle Gesetze, und die, die den Anarchismus predigen, glorificieren damit zugleich die selbstsüchtige Beschränktheit oder Borniertheit in der Kunst, in der Wissenschaft und im Leben.“ (S. 327 f. – H. i. O.). 487 „Stirner ist Antisoph, Gegner der Wahrheit.“ (Türck (1899), S. 331).

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sten“, sofern sie von der Wahrheit und dem moralischen Wert ihrer Ideen überzeugt sind, ihre eigene sittliche Dignität zu (S. 371). Nicht so indes dem ‚Antisophen‘ Stirner in seiner antisozialen Selbstsucht, der keiner von jenen ‚moralischen und wahrheitsliebenden Atheisten‘ ist, sondern vielmehr, wie jeder Egoist, glaubt, daß „die Gottheit“ ausschließlich „in seiner eigenen Person verkörpert ist“ (S. 328). „Jeder Egoist hält sich selbst für Gott ‚den Einzigen, und sein Eigentum‘ ist die ganze Welt, soweit sie seiner Willkür unterliegt, soweit er die Macht besitzt, beliebig in ihr schalten und walten zu können.“ (S. 328 – H. i. O.) In seiner hybriden Selbstsucht hält er sich für „vollkommen“ (S. 328) und jede seiner „Willensäußerunge[n] [. . .], selbst die wahnwitzigste“ für „an sich gut“, so daß er es nicht nötig hat, „auf die Leiden und Freuden seiner Mitmenschen zu achten, oder überhaupt sich für irgend etwas aufzuopfern, zu begeistern oder irgend einer höheren Einheit, einer Idee zu dienen.“ (S. 329) Im Gegenteil: „gerade in der Verhöhnung der Gesetze, im Bruch des Gesetzes, im Verbrechen wird er seine Gottähnlichkeit am meisten zu genießen meinen“ (S. 330 – H. i. O.), und so, wie „Stirner die Gesetze der Menschlichkeit für nichts achtet, so erkennt er auch keine Verbindlichkeit der Denkgesetze an. Vernunft und Wahrheit in unserem Sinne giebt es für ihn nicht.“ (S. 331 – H. i. O.) Die gleichen Züge findet Türck bei Stirners „so berühmt gewordene[m] Nachfolger Friedrich Nietzsche“ (S. 331), an dem sich in drastischer Weise die Konsequenzen der Antisophie Stirners verdeutlichen. Türck zufolge hat Nietzsche „in einer ganzen Reihe von Werken [. . .] den konsequentesten Anarchismus gepredigt“, namentlich im Zarathustra, in Jenseits von Gut und Böse und in der Genealogie der Moral (S. 332). „Wie Stirner leugnet auch Nietzsche jede Verpflichtung des Menschen, Rücksicht auf seinen Nächsten zu nehmen. [. . .] Ein ‚Herr‘, ein ‚Aristokrat‘ in seinem Sinne ist nur der, der sich wie Stirners Egoist über alle Schranken hinwegsetzt, kein Gebot und kein Gesetz achtet und nur seiner Willkür folgt. [. . .] Wie Stirner, so verehrt auch Nietzsche in dem Verbrecher den von jeder Rücksicht auf Gesetz, Recht und Nächstenliebe freien Menschen, den Egoisten par excellence.“ (S. 332 – H. i. O.) In diesem von Stirner und Nietzsche als Egoisten bzw. Aristokraten verherrlichten Verbrecher erkennt Türck die antisoziale Persönlichkeit des gewissenlosen und empathiefreien Psychopathen (vgl. S. 378 f.), dessen Glorifizierung durch Nietzsche er in drastischen Bildern persifliert, indem er einen fiktiven von Nietzsche inspirierten Strafverteidiger in seinem Plädoyer die Geschworenen bitten läßt, doch zugunsten seines Mandanten „‚[. . .] zu berücksichtigen, wie schauerlich schön sein 488

„Der Teufel, der Vater der Lüge, ist groß und Friedrich Nietzsche sein Prophet“ (Türck (1899), S. 371, vgl. S. 376 f.). Eine weitere Referenz auf Nietzsches Satanismus.

4. Stirner und Nietzsche im Diskurs

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Verbrechen ist. Aus reiner Lust am Morden hat er ein Kind an eine entlegene Stelle gelockt und hat es langsam unter ausgesuchten Qualen getötet. Nicht der unschuldig entsetzte Kinderblick, nicht die verzweifelt zusammengekrampften Händchen, nicht der kleine, schmerzzuckende, bebende Körper, nicht das angstvoll flehende Stimmchen, nicht die entsetzlichen Jammerlaute des mit der qualvollen Vernichtung ringenden elenden kleinen Geschöpfes vermochten das Herz des Mannes zu rühren. Welch eine Härte und Festigkeit des Wesens spricht sich darin aus! [. . .] Meine Herren Geschworenen, ich bitte Sie, die Seelenstärke dieses Mannes, ‚das schöne Schreckliche seiner That‘ zu bewundern, und bitte sie ferner zu bedenken, was dieser Mann, wenn er etwa auf einem Throne geboren wäre, zu vollbringen vermocht hätte.‘ [. . .] Daß ich hierbei nicht übertrieben, sondern wirklich im Sinne Nietzsches den Verteidiger des grausamen Mörders habe sprechen lassen, zeigt die Behauptung unseres Autors, daß der Grund- und Urinstinkt des Menschen der Trieb zur Grausamkeit sei.“ (S. 333 – H. i. O.) Für Türck beruht dieses Postulat einer anthropologischen Konstante des ‚Grausamkeitstriebes‘ auf Nietzsches projektiver Identifikation seiner eigenen „krankhafte[n] Seelenstörung“ (S. 339), nämlich der ‚moral insanity‘ bzw. dem „moralischen Schwachsinn“ (S. 341), mit der menschlichen Natur (vgl. S. 339 ff.). Darin offenbart sich nicht nur Nietzsches sittliche Entartung und schwere seelische Abartigkeit, sondern in der unzulässigen projektiv-identifikatorischen Verallgemeinerung des eigenen „gestörten Gefühlsoder Trieblebens“ (S. 342) zeigt sich zugleich die – mit seinem psychischen Leiden freilich eng verbundene – intellektuelle Beschränktheit des ‚Antisoph[en]‘ Nietzsche (S. 346, vgl. S. 334 ff.): „Nietzsche meint [. . .], die innere Selbstqual (des moralisch Schwachsinnigen) sei eine gegen sich selbst gerichtete Grausamkeit und diese sei wiederum nichts anderes, als die in der Natur des Menschen ursprünglich begründete, den Urtrieb oder Urinstinkt des Menschen ausmachende Grausamkeit, der nur der natürliche Weg nach außen versperrt sei, und die daher, da sie an sich als Urinstinkt und Urtrieb des Menschen unaufhebbar und unausrottbar sei und irgendwie ihre Wirksamkeit äußern müsse, nach innen zurückschlage.“ (S. 345 – H. i. O.) Dies ist „Nietzsches Ableitung des ‚schlechten Gewissens‘“ (S. 339). „Der Fehler in diesem Kalkül, die ‚Borniertheit‘ des Schwachsinnigen liegt darin, daß Nietzsche sein auf Seelenstörung beruhendes inneres Erlebnis verallgemeinert und als den normalen Zustand des Menschen hinstellt.“ (S. 345 – H. i. O.) Dieser unzulässige Schluß von sich selbst auf alle Anderen ist Ausdruck der ‚intellektuellen Borniertheit‘ Nietzsches, nämlich seiner Unfähigkeit, sich vorzustellen, daß die Anderen nicht – zumindest nicht in der Mehrzahl – die gleiche unheilvolle und pathogene Triebkonstitution und psychische Deformation wie er selbst haben, daß sie also aufgrund einer ‚größeren‘ „geistige[n] Gesundheit“, eines ‚besseren‘ „seeli-

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sche[n] Gleichgewicht[s]“ und der „Harmonie aller psychischen Funktionen“ nicht das gleiche „Streben nach Verwirklichung“ der „auflösenden, zerstörenden, selbstsüchtigen Triebe“ verspüren und deren „Nichtbefriedigung“ daher bei diesen Gesunden auch „keine oder eine ganz minimale Unlust erregt“ (S. 345 f.). Zwar ist in einem „latenten Zustande“ die „Anlage zu selbstsüchtigen, inhumanen Trieben [. . .] in jedem Menschenherzen vorhanden“ (S. 345), aber in „der Seele des geistig ganz gesunden Menschen besitzen die aufbauenden, selbstlosen Triebe die größte Energie, und ihre Nichtbefriedigung hat daher auch den größten Schmerz zur Folge: das ist das ‚schlechte Gewissen‘, wie es immer verstanden wird“, mithin das Gegenteil dessen, was Nietzsche darunter verstehen will (S. 346). „Bei dem geistig gesunden Menschen hat also eine Entladung der Grausamkeit, der zerstörenden Instinkte nach außen nicht ein Aufhören innerer Qual, wie beim moralisch Schwachsinnigen, sondern gerade umgekehrt einen starken geistigen Schmerz zur Folge.“ (S. 346 f.) Diesen Zusammenhang aber muß Nietzsche in seiner unmodifizierten Selbstbezüglichkeit verkennen. Diese intellektuelle Borniertheit Nietzsches schließt indes nicht aus, sondern begünstigt in gewisser Weise sogar, daß er in seinen Überlegungen „in bewundernswürdiger Weise ‚alles zu kombinieren weiß‘ und einen ‚spitzfindigen Scharfsinn‘ sondergleichen in Bewegung setzt, um die krankhaften, unsittlichen, inhumanen Triebe als die allein gesunden, guten, edlen, vornehmen, aristokratischen zu rechtfertigen.“ (S. 343) Die Borniertheit immunisiert ihn zugleich gegenüber jedem vernünftigen Einwand gegen das „Unsinnige“ seiner Argumentation und treibt diese weiter voran. Psychopathologisch handelt es sich hierbei um die nicht selten mit der auch bei Nietzsche zu diagnostizierenden „krankhafte[n] Seelenstörung“ (S. 339), der ‚moral insanity‘, einhergehenden „folie raisonnante“ (S. 347). Hier wird der „Verstand [. . .] zum advocatus diaboli krankhafter Stimmungen und Triebe“, wie Türck aus Heinrich Schüles Handbuch der Geisteskrankheiten zitiert.489 Um „die Verkehrtheit des sittlichen Fühlens durch Verstandesgründe zu rechtfertigen“ (S. 342), „sucht der Kranke mit all‘ dem Scharfsinn, der bei dieser Art von Seelenstörung, dem moralischen Schwachsinn, in der Regel erhalten geblieben ist, vor sich selber die einen Triebe, die unsittlichen, verbrecherischen, inhumanen, zu rechtfertigen und als das natürliche Recht des Individuums gegenüber der Gesellschaft hinzustellen, die anderen, die entgegengesetzten, Widerstand leistenden sittlichen Triebe dagegen als auf feiger Schwäche oder bloßer Einbildung beruhende verächtlich zu machen“ (S. 341 f.). So ist „der seelengestörte Antisoph“ durch ein doppeltes Bestreben zu charakterisieren: einerseits „die angeborenen und 489 Zit. n. Türck (1899), S. 342 – H. i. O., vgl. S. 343 f. – Auf Schüle beruft sich u. a. auch Panizza, siehe oben, IV. 2. a).

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anerzogenen sittlichen gesellschaftlichen Triebe zu entkräften, zu entwerten und vor sich selber verächtlich zu machen [. . .], als ob diese Triebe nur auf feiger Schwäche oder bloßer Einbildung beruhten“; andererseits seine wirkliche Schwäche, nämlich seinen mangelhaften Widerstand gegenüber dem Drang, „seiner bestialischen Willkür die Zügel schießen zu lassen“, aufzuwerten und zu idealisieren (S. 344, vgl. S. 340). Im Ergebnis finden sich daher bei den Antisophen Stirner und Nietzsche die gleichen Entwertungen des Gewissens und der Moral und die gleichen Verherrlichungen antisozialer Ich-Schwäche. Beide, „Nietzsche ebenso wie Stirner“, treten für die „sittliche[] Borniertheit“ und „die intellektuelle Beschränktheit, die Borniertheit des Denkens [. . .] in die Schranken“ (S. 334 – H. i. O.). „Wie Stirner alle Sittlichkeit und alle Wahrheit leugnet, so findet auch Nietzsche in dem Wahlspruch des orientalischen Meuchelmörderordens, der Assassinen, den höchsten Ausdruck dessen, was er unter Geistesfreiheit versteht. Dieser Wahlspruch des Meuchelmörderordens“ – auf den Türck wiederholt hinweist490 – „lautet: ‚Nichts ist wahr, alles ist erlaubt.‘“ (S. 335 – H. i. O.)491 Denn es „giebt für den Verbrecher, den Räuber oder Mörder keine feststehende Wahrheit, die irgendwie ihm Schranken auferlegen könnte.“ (S. 370) Dies ist die „Dummheit des Selbstsüchtigen“, die „nach Nietzsche zu den Eigenschaften seines Ideals vom Übermenschen“ gehört (S. 335), und in seiner „Herrenmoral, ich sage Verbrecher- oder Zuchthausmoral“, „verherrlicht Nietzsche“, ebenso wie Stirner in seinem Egoismus, „die sittliche Borniertheit“ des ‚moralisch Schwachsinnigen‘ (S. 334). Der Egoist und der Übermensch, den Stirner und Nietzsche, und in deren Gefolge auch Ibsen, im Verbrecher als „Verächter aller Gesetze“ der Gesellschaft und des Staates verherrlichen (S. 379), erscheinen so als Idealisierungen von antisozialer Verwahrlosung, Ich-Schwäche und Degeneration, denn „der eigentliche unverbesserliche Verbrecher [ist] nicht, wie Stirner, Nietzsche und Ibsen annehmen, der starke, gesunde, sondern viel490

Vgl. Türck (1899), S. 370, 371, 372, 376. Den Zusammenhang zwischen diesem Diktum seines Zarathustra (vgl. Nietzsche, KSA 4, S. 340) und den Assassinen legt Nietzsche in der Genealogie der Moral selbst nahe: „Als die christlichen Kreuzfahrer im Orient auf jenen unbesiegbaren Assassinen-Orden stiessen, jenen Freigeister-Orden par excellence, dessen unterste Grade in einem Gehorsame lebten, wie einen gleichen kein Mönchsorden erreicht hat, da bekamen sie auf irgend welchem Wege auch einen Wink über jenes Symbol und Kerbholz-Wort, das nur den obersten Graden, als deren Secretum, vorbehalten war: ‚Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt‘ . . . Wohlan, das war Freiheit des Geistes, damit war der Wahrheit selbst der Glaube gekündigt . . .“ (Nietzsche, KSA 5, S. 399 – H. i. O.). Zur zeitgenössischen Notorität dieser von Nietzsche sehr geschickt plazierten Parole vgl. auch, neben den oben angegebenen Belegstellen bei Türck (1899), nochmals Schellwien (1892), S. 39; Kreibig (1896), S. 135; Adler (1898), S. 325; Hartmann (1891), S. 35. – Siehe auch oben, V. 2. c). 491

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mehr ein unvollkommen entwickelter oder kranker Mensch“ (S. 378, vgl. S. 363). Daher ist auch ein „geordnetes Zusammenleben der Menschen in der Gesellschaft, im Verein, in der Gemeinde, im Staat, in dem einer sich dem andern anpassen muß und nicht ohne weiteres jeder wahnsinnigen Laune die Zügel schießen lassen kann, [. . .] dem anarchistischen Dichter Ibsen ebenso wie den anarchistischen Antisophen Stirner und Nietzsche aufs tiefste verhaßt.“ (S. 381) Deswegen hofft, mit Stirner und Nietzsche, Ibsen „auf ein ‚drittes Reich‘ [. . .], in dem der ursprüngliche Zustand der grenzenlosen Willkür und tierisch wilden Freiheit wieder hergestellt wird.“ (S. 359) Dieses chiliastische Projekt erweist sich also wiederum als Idealisierung der Regression, die Nietzsche in der Erwartung eines die ‚jüdisch-christliche Sklavenmoral‘ überwindenden „Wider-Heiland[s], eine[s] Antichrist[en]“ vollzieht (S. 359), und die Stirner mit der Heraufkunft des ‚Einzigen‘ nach ‚den Alten‘ und ‚den Neuen‘ beschwört. Parallel zu Stirners Abfolge ‚die Alten, die Neuen, der Einzige (bzw.: Ich)‘ ist Ibsens Variante der Drei-Reiche-Lehre gebildet: „Das ‚erste Reich‘ ist der antike Staat, das ‚zweite Reich‘ ist das Reich Gottes auf Erden durch Christus begründet, das ‚dritte Reich‘ ist das Reich des ‚Individuums‘, des schrankenlosen Egoismus.“ (S. 364)492 Komplementär dazu wird alles abgewertet, was sich der idealisierten Rücksichts- und Schrankenlosigkeit des Egoismus entgegenstellt. Beispielhaft hierfür ist wiederum Nietzsche mit seiner Verächtlichmachung der ‚jüdischen Sklavenmoral‘, die er der ‚Herrenmoral‘ entgegensetzt und deren Überwindung durch den ‚Antichristen‘, also im ‚dritten Reich‘, er erhofft (vgl. S. 359). Im Gegensatz zu Ruest, der ja Stirner und Nietzsche nicht zuletzt auch als Philosemiten schätzt, lehnt Türck Nietzsche nicht nur für seinen allgemeinen „Menschenhaß“ (S. 340) und seine ‚Antichristlichkeit‘ ab, sondern auch spezifisch wegen seiner ‚Judenfeindlichkeit‘. Diese steht in unmittel492 In ähnlicher Weise und insbesondere in Anlehnung an Nietzsche hat der Satanist und Okkultist Aleister Crowley (1875–1947) aufgrund einer „Offenbarung seines aggressiven ‚Schutzengels‘ Aiwass“ (Dvorak (2000), S. 15, vgl. S. 16) mit dem Jahr 1904 den Beginn des ‚Neuen Äons‘ bzw. ‚Wassermannzeitalters‘ ausgerufen (vgl. S. 20, 12), in dem als einziges Gesetz gelte: „do what thou wilt!“, ‚Tu, was du willst!‘ (S. 13, vgl. S. 16). – In jeder Hinsicht eine zeittypische Erscheinung der Jahrhundertwende. Bezeichnend ist überdies, daß, wie die meisten im Kontext der Stirner-Rezeptionsgeschichte beobachtbaren Erscheinungen des Individualismus und damit einhergehende kulturgeschichtliche Phänomene des Fin de siècle – Okkultismus, Esoterik, Alternativ- bzw. Lebensreformbewegung, bohemische bzw. subkulturelle Lebensstile, individualanarchistische Rebellion usw. – auch der Satanismus seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts wieder verstärkt in Mode kam, in diesem Fall v. a. durch die Aktivitäten des Amerikaners Anton Szandor LaVey mit seiner noch deutlicher nietzscheanisch geprägten ‚Church of Satan‘ (vgl. Nola (1994), S. 432 f.; vgl. auch Baddeley (1999), S. 23 ff., 67 ff.; vgl. z. B. LaVey (1969), S. 25, 91 ff.).

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barem Zusammenhang mit dem Haß des sittlich Bornierten auf die äußeren wie inneren Versagungsinstanzen, die er daher abwehrt und abwertet (vgl. S. 340, 377). Denn Nietzsche zufolge sind ‚die Juden‘ für den vorläufig siegreichen „‚Sklavenaufstand in der Moral‘“ (S. 359) verantwortlich, mit dem das vormals herrschende aristokratische „Raubtier“-Ethos durch die von den ‚Starken‘ „Unterworfenen und Geknechteten“ zum moralisch Bösen umgewertet wurde, wodurch die siegreichen ‚Sklaven‘ zudem ihren ehemaligen „Unterdrückern“ mit den neuen, ‚lebensfeindlichen‘, asketischen Idealen das „böse Gewissen“ einpflanzten und so ihrerseits grausam Rache an den ‚Herren‘ nahmen (S. 355). Und für diesen Sieg der „‚Sklavenmoral‘ (Humanitätsmoral) über die ‚Herrenmoral‘ (Verbrecher- oder Bestienmoral)“ haßt Nietzsche ‚die Juden‘ (S. 355 – H. i. O.), gleichsam als die rassische Inkarnation sozial erforderlichen Triebverzichts und kulturell geforderter Wunschentsagung (vgl. S. 354 ff.). „Dasjenige Volk [. . .], das nach Nietzsche es am besten verstanden hat, die Ideale umzulügen, aus gut böse und aus schlecht gut zu machen“ – und sich damit, in Nietzsches von Türck zitierten Worten in einem „Akt der geistigen Rache Genugthuung zu schaffen wußte“ – „das sind die Juden.“ (S. 355 – H. i. O.)493 Weiterhin erklärt Türck das egoistische Syndrom insbesondere bezüglich seiner ‚intellektuellen Borniertheit‘ nicht nur als Versuch, die Unlust zu vermeiden, die durch das „Versagen eines heißen Wunsches“ entsteht (S. 340), sondern noch spezifischer als Abwehr der Kränkung des grandiosen Selbstgefühls. Die Antisophen wenden sich deswegen gegen ‚Vernunft, Wahrheit und Wissenschaft‘, weil diese ihnen zumuten, ihre „Kleinheit im unendlichen Weltall“ und ihre „Abhängigkeit von den ewigen Gesetzen des Daseins“ zu erkennen (S. 335). In der Ablehnung wissenschaftlicher Realitätserkenntnis leugnet der Antisoph die Ananke – die Zumutungen einer widerständigen Realität gegenüber sterblichen Wesen – schlechthin und wehrt insbesondere die Kopernikanische Kränkung ab, um sich der Illusion seiner ungeschmälerten Großartigkeit hinzugeben. Türck entlarvt den „anarchisti493 In dieser Nietzsche-Interpretation offenbart sich, sowenig sie Nietzsches Intentionen selbst gerecht wird, gleichwohl ein zentrales psychisches Strukturelement des Antisemiten, der sich ja aufgrund paranoider Projektionsmechanismen einerseits von ‚den Juden‘, als Externalisierung strafender Über-Ich-Vorläufer, verfolgt fühlt, und ihnen andererseits projektiv die eigenen grausamen Triebansprüche zuschreibt, womit er wiederum seine eigenen sadistischen und destruktiven Wünsche rechtfertigt, sofern sie an ‚den Juden‘ als Objekt vollzogen werden, und sich schließlich, in diesen solcherart ‚gerechtfertigten‘ Ambitionen selbst moralisch idealisiert. – Kränkungspsychologisch ist ferner zu bedenken, daß im Antisemitismus ‚die Juden‘ stellvertretend für den gesamten Monotheismus angefeindet werden, der ja den Verzicht auf die heidnisch-animistische Vorstellungswelt und damit auf die narzißtische Position der Einbettung in einen magisch manipulierbaren und insoweit Omnipotenz zusichernden Kosmos aufnötigte.

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sche[n] Denker“, indem er ihm folgende Überlegung zuschreibt: „Ich [. . .], als Egoist, als einzig in meiner Art, will nicht klein sein und abhängig, ich will mich als Gott fühlen. Daher will ich nicht wissen, daß die ganze große Erde nur ein Stäubchen ist im unendlichen Weltenraume. Für mich, den Egoisten, soll die Erde feststehen im Mittelpunkt der Welt, und ich wiederum will der Mittelpunkt dieser Erde sein! Fort mit der modernen Astronomie, die mit dem Ausspruche Kants meine Wichtigkeit vernichtet: ‚Ist nicht gerade die Selbstverkleinerung des Menschen, sein Wille zu Selbstverkleinerung seit Kopernikus in einem unaufhaltsamen Fortschritt?‘“494 Neben diesem Widerwillen, die kränkenden Desillusionierungsfortschritte der wissenschaftlichen Aufklärung zu akzeptieren, konstatiert Türck am Selbstsüchtigen schließlich prinzipiell eine besondere narzißtische Vulnerabilität infolge seines egoistischen Realitätsbezuges: „Der Selbstsüchtige, der alles nur von seinem persönlich beschränkten Standpunkt aus ansieht, alles nur auf sich bezieht, wird außerordentlich leicht zu verletzen sein; er faßt eben alles persönlich auf. Er wird daher bei unzähligen Gelegenheiten Schmerz empfinden, also ‚Böses‘ erleiden, wo der selbstlose Mensch durchaus ruhig bleibt, also über dem Gegensatz von gut und böse steht. In der That, je selbstloser ein Mensch ist, desto mehr steht er über dem Schicksal, [. . .] desto mehr befindet er sich wahrhaft jenseits von gut und böse, in der Freiheit, im Stande der Unschuld. Je selbstsüchtiger dagegen ein Mensch ist, desto abhängiger ist er vom Schicksal, von dem Wertunterschied aller Dinge, desto unfreier bewegt er sich, desto mehr steckt er im Zwiespalt von gut und böse, desto mehr ‚erkennt‘ er, d. h. fühlt er es an der eigenen Person, was gut und böse ist.“ (S. 377 f. – H. i. O.) Was Türck beschreibt, ist die Abhängigkeit des Selbstgefühls von narzißtisch besetzten Objekten,495 die, wenn sie sich ihrer Bestimmung entziehen, als ‚böse Objekte‘ Gegenstand narzißtischer Wut werden und die prinzipiell nur in ihrer Bedeutung für das narzißtische Selbstgefühl und nicht in ihrer Eigenständigkeit wahrgenommen werden, weswegen der ‚Selbstsüchtige‘ auch nicht zu echter Empathie fähig ist, zum „Sich-hinein-denken und Sich-hinein-fühlen in andere Personen, in deren Empfinden, Denken und Streben“ (S. 366). Und einige Seiten weiter wettert Türck dann vor dem Hintergrund dieses Analyseschemas wieder gegen Nietzsche: „Es ist die gemeine, niedrige, pöbelhafte Art, nichts gelten zu lassen, was sich nicht irgendwie speziell auf die eigene Person bezieht. Nietzsche, der ‚alle Werte umwertet‘ [. . .] findet aber gerade in dem, was sonst niedrig, gemein und pöbelhaft genannt wird, das wahrhaft Aristokratische und Vornehme.“ (S. 375) 494 Türck (1899), S. 335, vgl. S. 367 ff., bes. S. 369. – Siehe auch oben, II. 2. und 3. 495 Siehe hierzu oben, III. 3.

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Das Grundschema einer Idealisierung der eigenen grandiosen Position – des „Größenwahns“ (S. 387) – und ihrer antisozialen Triebansprüche – des „fessellosen Sich-Ausleben[s]“ und der „schrankenlosen Geltendmachung der persönlichen Willkür“ (S. 385) und omnipotenter Verfügungsansprüche – bei komplementärer Entwertung – „giftigsten Schmähungen“ (S. 385) – der wunschversagenden sozialen Realität bzw. Entsagung fordernder Instanzen, war bereits oben bei Schultzes ‚Paranoikerin S.‘ und Panizzas ‚illusionistisch-dämonistischem Individualisten‘ zu beobachten,496 jeweils als Auslegungen des Stirnerschen ‚Einzigen‘ im interpretationsschematischen Sinne von All-Einzigkeit. Bei Türck bezieht sich diese Deutung in spezifisch psychopathologischer Perspektive vor allem auf Nietzsche, dem er bescheinigt, in „dieser Hinsicht [. . .] in der That Großartiges geleistet“ zu haben, was er auf dessen außerordentliche „geistige Begabung“ zurückführt, die die hochgradige Stringenz, die „‚Methode‘ [. . .] in seinem Wahnsinn“ erklärt: „Friedrich Nietzsche[s] [. . .] ‚geistreiche Borniertheit‘ ist geradezu phänomenal und übertrifft die aller seiner Anhänger in Skandinavien und Deutschland.“497 Gleichwohl stellt er fest, daß man bei allen „jenen modernen Antisophen“, nicht nur bei Nietzsche, sondern ebenso bei Strindberg, Ibsen und eben auch bei Stirner, „die krankhafte Veranlagung oder auch den Punkt [findet], wo eine erworbene Krankheit hinzutrat und das Krankheitsbild noch deutlicher gestaltete.“498 Über Stirner weiß Türck allerdings diesbezüglich nicht mehr zu berichten, als daß dessen „Mutter [. . .] geisteskrank gewesen“ ist (S. 384). Aber anders als bei Schultze, der denselben Hinweis aufführt, diesen aber aus psychiatrischer Sicht für unzureichend hält, um einen genaueren Befund über Stirners psychische Gesundheit zu stellen und darüber hinaus dessen ‚System vom psychiatrischen Standpunkt für einwandfrei‘ erklärt,499 gilt bei Türck dieser Hinweis als weiterer Beleg für den psychopathischen Charakter der Stirnerschen ‚Antisophie‘ und ihre Ähnlichkeit mit derjenigen Nietzsches. Während Schultze die (askriptive) Stirner-Interpretation der Patientin S. als Beispiel für ein paranoisches Wahnsystem analysiert und somit als psychiatrisch relevantes Phänomen betrachtet, das seinen psychopathologisch einschlägigen Charakter gerade aus der spezifischen Abweichung von der Stirnerschen Philosophie bezieht – der Differenz von All-Einzigkeit und Je-Einzigkeit –, ist für Türck die Gesamtheit der Stirnerschen und der Nietzscheschen ‚Antisophie‘ ein einziges psychopathisches Syndrom, dessen Relevanz angesichts der zeitgenössischen Popularität dieser „perversen Theorieen“ (S. 384) in markanter Weise über die disziplinäre Zuständigkeit der Psychiatrie hinausgeht.500 Schultze 496 497 498 499

Siehe oben, IV. 1. und 2. Türck (1899), S. 344, vgl. S. 365 f., 383 ff. Türck (1899), S. 384, vgl. S. 383 ff. u. S. 341, 344. Siehe oben, IV. 1. c) und d).

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beobachtet die individuelle Psychopathie einer einzelnen Paranoikerin. Türck aber beobachtet die im Stirner-Nietzsche-Individualismus sich ausdrückende Psychopathie der modernen Gesellschaft, die sich für ihn in ‚sittlicher‘ und ‚intellektueller‘, und auch in ‚ästhetischer Borniertheit‘, letzteres beispielsweise in den Bildern Edvard Munchs (vgl. S. 336), ausdrückt.501 Schultze liefert eine klinische Fallbeschreibung, Türck ein Psychogramm des modernen Individuums. Was die ethische Beurteilung des Stirner-Nietzsche-Egoismus angeht, so lautet Türcks Verdikt also: potentiell gefährliche und zersetzende sittliche Borniertheit als Ausdruck und infolge von moralischem Schwachsinn. Und das gilt im wesentlichen unterschiedslos für Stirner und Nietzsche, dessen Aristokratismus nur eine, allerdings besonders infame und grausamkeitslüsterne Variante der von beiden propagierten, Selbstsucht und antisoziale Rücksichtslosigkeit idealisierenden ‚Verbrechermoral‘ darstellt. Das, was bei Nietzsche als Aristokratismus erscheint, macht also für Türck, anders als bei den bisher hierzu behandelten Autoren – in ihrer Verschiedenheit bezüglich der Interpretation und Bewertung dieser als hauptsächlich erachteten Differenz zwischen Stirner und Nietzsche –, keinen Unterschied. Für Türck begründet Nietzsches Aristokratismus weder dessen moralische Überlegenheit gegenüber Stirner, wie bei Simmel, noch dessen moralische Unterlegenheit gegenüber Stirner, wie bei Lachmann und tendenziell bei Schellwien, und er befindet sich auch nicht in einem komplexen Komplementär- und punktuellen Ausschließungsverhältnis zum ethisch gleichermaßen anspruchsvollen Aristokratismus Stirners, wie bei Ruest, sondern er ist eine Spielart der psycho- wie sozialpathologischen, die ‚Borniertheit‘ verherrlichenden ‚Antisophie‘, die vor Nietzsche bereits Stirner vertrat und die in ihrer fundamentalen Antisozialität mit keiner Ethik – sei diese aristokratisch, individualistisch, atheistisch – vereinbar ist. Mit dieser moralphilosophischen Entgegensetzung von ‚Genialität‘ und ‚Borniertheit‘ und der auf der ethisch negativ designierten Seite der Unterscheidung anschließenden Zuordnung von ‚Antisophie‘, ‚sittlicher Verwahrlosung‘, ‚moralischem Schwachsinn‘, ‚psychischer Degeneration‘, ‚Pathologie‘, ‚Stirner und Nietzsche‘ usw. nimmt Türck nicht nur eine moralische Abqualifikation des Stirner-Nietzsche-Individualismus und der diesem zugeschriebenen Sozialphänomenologie vor. Er vertritt damit außerdem eine 500

Vgl. Türck (1899), S. 387 f., vgl. auch S. 376. Von heute aus betrachtet, haben sich die kulturellen Selbstverständlichkeiten – oder ‚Normalitäten‘ – und mit diesen die Beweislasten offensichtlich verschoben; in dieser Beziehung ist die individualistische Umwertung der Werte offensichtlich erfolgreich. Kein Grund, auf Autoren wie Türck, die bereits vor dem Anbruch des 20. Jahrhunderts vor der Destruktivität bestimmter Varianten eines solchen Individualismus warnten, mit Häme herabzublicken. 501

4. Stirner und Nietzsche im Diskurs

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spezifisch genietheoretische Position, die sich gegen die unter Berufung auf Cesare Lombroso von Autoren wie Oskar Panizza propagierte Gleichsetzung von ‚Genie und Irrsinn‘ richtet. Für Türck ist genau dasjenige Individualidentitätsangebot, das Panizza – wie dargelegt im Anschluß an Lombroso und in adaptiver Interpretation Stirners im Sinne der interpretationsschematischen All-Einzigkeit (siehe oben, IV. 2.) – als Genie vorgelegt hatte und psychologisch vom Psychopathen oder Paranoiker allenfalls graduell unterschieden wissen wollte, das genaue Gegenteil vom Genie. Dementsprechend ist Türcks bornierter Mensch, sein Antitypus zum Genie, strukturell weitgehend identisch mit Panizzas ‚illusionistisch-dämonistischindividualistischem‘ Genie. Aber Türcks ‚bornierter Mensch‘ ist auch mit Panizzas ‚Psychopathen‘ strukturell deckungsgleich, da für Panizza ja ‚Genie und Wahnsinn‘ in psychologischer Hinsicht konvergieren und sich nur bezüglich ihres faktischen historischen Erfolges unterscheiden. Für Panizza ist der Einzige Genie und daher auch Psychopath. Für Türck ist der Einzige Psychopath, und deshalb gerade nicht Genie. Und es ist ein Hauptanliegen Türcks, mit seinem Buch vom Genialen Menschen gegen jene anzutreten, die, indem sie die Exzeptionalität des Genies psychopathologisch deuten, „an der Hypothese Lombrosos festhalten und Genialität und Verrücktheit in einen Topf werfen“ (S. 322). Einige zeitgenössische Beobachter registrierten dies mit Wohlwollen. Für einen Rezensenten der Neuen Freien Presse gehört Türcks im Kapitel über „Die Entwicklung des höheren Menschen nach Darwin, und Lombrosos Irrsinnshypothese“ (S. 301 – H. i. O.) vorgelegte „Polemik gegen Lombroso [. . .] zu den hervorragenden Partieen in Türcks Buch“.502 Ein anderer Rezensent lobt in der Neuen Preußischen (Kreuz-) Zeitung: „Ganz ausgezeichnet ist ferner alles, was gegen Lombroso, gegen Stirner und Nietzsche gesagt wird.“503 Eine gleichermaßen anti-lombrosoistische, aber im Gegensatz dazu dezidiert pro-stirnerische Position, die einerseits mit Türck die Identifikation von Genie und Wahnsinn zurückweist, andererseits aber gegen Türck gerade Stirner bzw. den Einzigen der ethisch aufgeladenen Genialität zuordnet, vertritt Rudolf Steiner. ff) Rudolf Steiner In einer Rezension zu Der geniale Mensch im Magazin für Literatur hält Rudolf Steiner Türck entgegen, daß dieser, weil dessen „Betrachtungsweise [. . .] einseitig“ sei, „zur Würdigung solcher Menschen wie Stirner nicht kommen [kann]. Ihm ist Stirners Weisheit Antisophie. Stirners Verherrli502

Karl v. Thaler, zit. n. Türck (1899), S. 402. Chr. Muff, zit. n. Türck (1899), S. 401. – Diese und andere Besprechungen ähnlichen Tenors sind in Auszügen in der vorliegenden vierten Auflage von Der geniale Mensch am Ende abgedruckt (vgl. Türck (1899), S. 401 ff.). 503

642 VI. Außenseiter, Aristokraten, Avantgardisten und andere Individualisten

chung des Einzigen ist ihm Ausfluß des bornierten Egoismus. Er bemerkt gar nicht, daß gerade solche Geister das im höchsten Maße anstreben, was er vom Genie fordert: Wahrheitsliebe. Sie wollen nicht die heuchlerische Daseinslüge kultivieren, als wenn der Mensch auf der höchsten Stufe seines Daseins sich völlig seines Selbst entäußerte, um selbstlos zu wirken. [. . .] Hinweg mit der Lüge, als wenn es eine Selbstentäußerung, eine Selbstlosigkeit gäbe um ihrer selbst willen. Es gibt selbstlose Menschen, die in hingebungsvoller Liebe ihr Leben hinbringen. Aber es ist nicht wahr, daß sie dies durch Aufgeben ihres Selbst tun. Sie lieben, weil ihnen die Liebe einen höchsten Selbstgenuß bereitet; sie lieben, weil es ihnen Wollust ist, sich hinzugeben. [. . .] Der Dualismus von Egoismus und Altruismus, von borniertem und genialischem Individuum, den Türck vertritt, muß in einen Monismus aufgelöst werden. Nicht selbstlos soll der Mensch werden; das kann er nicht. Und wer sagt, er kann es, der lügt. Aber die Selbstsucht kann sich bis zu den höchsten Weltinteressen aufschwingen. Ich kann die Angelegenheiten der ganzen Menschheit besorgen, weil sie mich ebenso wie meine eigenen interessieren, weil sie zu meinen eigenen geworden sind. Der ‚Eigene‘ Stirners ist nicht das bornierte Individuum, das sich einkapselt und die Welt Welt sein läßt; nein, dieser ‚Eigene‘ ist der wahre Repräsentant des Weltgeistes, der sich die ganze Welt als sein ‚Eigentum‘ erwirbt, um so die Angelegenheiten der ganzen Welt als seine eigenen zu behandeln. Erweitert euer Selbst nur erst zum Welt-Selbst, und dann handelt immerzu egoistisch.“504 Das vollendet egoistische Individuum in Steiners Sinne ist also nicht, wie Türck meint, indifferent oder rücksichtslos seinen Mitmenschen gegenüber, sondern macht sich die Verantwortung für deren Wohlergehen zu eigen.505 Türcks ‚Einseitigkeit‘ besteht mithin Steiner zufolge in dessen Entgegensetzung von ‚Egoismus‘ und ‚Altruismus‘ bzw. ‚Selbstlosigkeit‘ und in der Gleichsetzung von ‚Egoismus‘ mit ‚Borniertheit‘ und von ‚Selbstlosigkeit‘ mit ‚Genialität‘.506 Zwar konzediert Steiner Türck, ein „geistreich[es]“, ‚an504

Steiner (1900), S. 430 f. Mit der Forderung, jedes Individuum solle die Angelegenheiten der ganzen Welt als seine eigenen behandeln, impliziert Steiner ein ethisches Konzept von Eigenverantwortung, das, im Gegensatz zur Ideologie der ‚Eigenverantwortung‘ im neoliberalen Diskurs nicht auf soziale Verantwortungslosigkeit zielt – dadurch, daß dem sozialen Anderen (Alter) eine ‚eigenverantwortliche‘ Bewältigung der von Ego verursachten Handlungsfolgen aufgenötigt wird –, sondern auf ein universelles Verantwortungsbewußtsein des Individuums für seine (soziale) Mitwelt. Die Differenz ums Ganze zwischen einer Ethik und einer Ideologie der Eigenverantwortlichkeit besteht, sozialdimensional rekonstruiert, darin, ob ‚Eigenverantwortung‘ Ego oder Alter zugeschrieben wird. 506 Vgl. Steiner (1900), S. 427 ff. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben in diesem und den folgenden Absätzen beziehen sich ebenfalls auf Steiner (1900). 505

4. Stirner und Nietzsche im Diskurs

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regendes‘ und „verdienstvolles“ Buch geschrieben zu haben (S. 430 f.). So pflichtet er Türck in vielen Details seiner genietheoretischen Ausführungen bei: etwa hinsichtlich der Bedeutung des Sujets der „Genialität“, die als „geistige Zeugung“ mit einem der „allerwichtigsten Weltprobleme verknüpft“ ist (S. 422); hinsichtlich der Abwehr der lombrosoistischen Behauptung einer „Verwandtschaft des Genies mit dem Irrsinn“;507 aber auch in der Identifikation des „Verbrechertum[s]“ mit intellektueller und moralischer Borniertheit und affektuellen wie psychischen Störungen (S. 426). Der Entgegensetzung von ‚Genialität‘ und ‚Borniertheit‘ stimmt Steiner somit zu, nur nicht der Gleichsetzung von ‚Borniertheit‘ mit ‚Egoismus‘. Und er stimmt auch darin mit Türck überein, daß sich zwischen den entgegengesetzten Extremen der Genialität und der Psychopathie ein Kontinuum von gemischten, individuell verschiedenen Durchschnittsveranlagungen erstreckt, so daß Grenzen und Übergänge hier fließend sind,508 weshalb auch die als geistige „Zeugungsfähigkeit“ zu verstehende (S. 423) „Genialität eine allgemein-menschliche Fähigkeit ist, nicht eine mystische Gabe besonders bevorzugter Individuen“ (S. 424). Genialität, als geistige Produktivität und in Türcks wie Steiners Sinne ebenso seelische wie sittliche Qualität ist insofern kein Privileg von übermenschlichen Ausnahmepersönlichkeiten, sondern eine prinzipiell jedem menschlichen Individuum innewohnende Potenz. Soweit stimmen Steiner und Türck überein. Türcks fundamentale Fehleinschätzung liegt aber Steiner zufolge darin, nicht erkannt zu haben, daß dieses ethische, charakterliche und intellektuelle Ideal der Genialität 507

Steiner (1900), S. 426; vgl. Steiner (1892a), S. 505; Steiner (1892b), S. 507. „Die neuere Naturwissenschaft kennt kein Bild eines vollkommenen Menschen. Es gibt für sie nicht zwei einander vollkommen gleiche Individuen; und zwischen Gesundheit und Krankheit, zwischen dem Genie und dem Idiotismus, zwischen selbstloser Gesinnung und Verbrechertum und so weiter kennt sie keine festen Grenzen, weil diese Erscheinungsweisen des Seelenlebens durch unzählige Zwischenstufen allmählich ineinander übergehen. [. . .] Das gesunde Seelenleben geht durch Modifikation seiner Kräfte ganz allmählich in ausgesprochenen Wahnsinn über. Die einfache Sinneswahrnehmung des gesunden Menschen entspricht niemals ganz den beobachteten Tatsachen, sonst könnten zwei Personen nicht zuweilen von einem und demselben Ereignis, das sie gesehen haben, ganz verschiedene Berichte geben. Von dieser Veränderung der wahrgenommenen Tatsachen durch unsere Sinnesorgane bis zu der offenbaren Illusion, wo unsere Wahrnehmung von den äußeren Eindrücken ganz verschieden ist, und von da bis zur Halluzination, wo ein Sinnesbild ohne äußere Veranlassung vorhanden ist, besteht ein allmählicher Übergang. Illusionen und Halluzinationen sind krankhafte Erscheinungen, die aber Bestandteile eines sonst gesunden Seelenlebens bilden können. Erst wenn die Sinnestäuschungen von der menschlichen Urteilskraft nicht mehr durchschaut, sondern für Wirklichkeit gehalten werden, fängt der Wahnsinn an. [. . .] Ebensowenig wie es eine feste Grenze zwischen dem sogenannten normalen Geist und dem Wahnsinnigen gibt, kann man eine solche zwischen der Durchschnittsbegabung und dem Genie finden.“ (Steiner (1900), S. 424 f.). 508

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nur als ‚veredelter Egoismus‘, und nicht als Gegensatz zum Egoismus konzipierbar ist (vgl. S. 429). „Dieses hat Hermann Türck übersehen. Statt auf den Punkt hinzuweisen, auf dem in der Genialität der Egoismus in Selbstlosigkeit umschlägt, statuiert er einen Gegensatz.“ (S. 428) Deswegen macht Türck Steiner zufolge „überall [. . .] denselben psychologischen Fehler. Er hat eine Tatsache richtig beobachtet, nämlich die, daß das genialische Handeln den Charakter der Selbstlosigkeit an sich trägt; aber er sieht nicht zugleich, daß diese Selbstlosigkeit dem Genie eine sich bis zur geistigen Wollust steigernde Befriedigung gewährt.“ (S. 428 f.) Wie „die Natur“ im „Befruchtungsvorgang“ eine „List“ gebraucht, indem sie „in den Menschen einen Trieb [setzt], durch den eine selbstlose, unegoistische Handlung dennoch aus eigennütziger Begierde vollzogen wird“, so liegt eine ähnliche Verschränkung zwischen ‚egoistischem Antrieb‘ und ‚altruistischem Handlungsziel‘ auch der Produktivität des Genies zugrunde (S. 427). „Durch sein Schaffen befriedigt es im höchsten Grade sich selbst. In diesem Schaffen liegt die höchste geistige Wollust. Dennoch liegt das Ziel dieses Schaffens nicht in der Beförderung des eigenen Selbst, sondern in der Mitwirkung an den großen Daseinsnotwendigkeiten der Weltordnung. Auf dieser höchsten Daseinsstufe des Menschen, im genialen Wirken, ist er aus Selbstsucht selbstlos. Hier fallen Egoismus und Altruismus zusammen, in einer höheren Einheit.“ (S. 428 – H. i. O.) Tatsächlich besteht „der Gegensatz zwischen Genie und gewöhnlichem Menschen“ daher nicht, wie Türck glaubt, „in der Selbstlosigkeit des ersteren und in dem Egoismus des letzteren“ (S. 428). Vielmehr ist das „Charakteristische am Genie [. . .] die Höhe seiner Kultur“ (S. 429), nämlich der ‚Veredelungsgrad‘ seines Egoismus. Unter dem Aspekt von Moral, Wahrheit und Wahrhaftigkeit ist daher nicht nur ein primitiver, bornierter Egoismus problematisch, sondern insbesondere auch ein uneingestandener, verleugneter. Wer Egoismus und Altruismus zu absoluten Gegensätzen stilisiert,509 verkennt Steiner zufolge den Wert der Subjektivität, unterdrückt die wertvollen egoistischen Antriebe, treibt die Individuen in Bigotterie und leistet der Kleingeistigkeit Vorschub. „Wo das persönliche Interesse, die Subjektivität, die Selbstsucht eines Menschen so veredelt sind, daß er nicht an der eigenen Person allein, sondern an der ganzen Welt Anteil nimmt, da ist allein Wahrheit; wo der Mensch so kleinlich ist, daß er nur durch Verleugnung seines persönlichen Interesses, seiner Subjektivität die großen Geschäfte der Welt zu besorgen vermag: da lebt er in der schlimmsten Daseinslüge.“ (S. 429) Denn es „ist einfach nicht 509 „Ich bin von tiefem Mißtrauen erfüllt gegen Menschen, die viel von Selbstlosigkeit, von Altruismus sprechen. Mir scheint, gerade diese Menschen haben kein rechtes Gefühl für das egoistische Behagen, das eine selbstlose Handlung gewährt.“ (Steiner (1900), S. 429).

4. Stirner und Nietzsche im Diskurs

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wahr, daß irgendein Mensch selbstlos sein kann. Wahr ist aber, daß seine Selbstsucht sich so veredeln kann, daß er Interesse nicht nur an seinen eigenen, sondern an den Angelegenheiten der ganzen Menschheit gewinnt. Predigt den Menschen nicht: sie sollen selbstlos sein, aber pflanzt in sie die höchsten Interessen, auf daß sich an diese ihre Selbstsucht, ihr Egoismus hefte. Dann veredelt ihr eine Kraft, die wirklich in dem Menschen liegt; sonst redet ihr von etwas, was es nie geben kann, was aber die Menschen nur zu Lügnern machen kann.“ (S. 432 – H. i. O.) Das Genie kann daher nur ein Individuum sein, das sich seines Egoismus bewußt ist. Mit seinem veredelten Egoismus repräsentiert es als ‚höchste Daseinsstufe des Menschen‘ (vgl. S. 428) das ethische Ideal eines Individualismus, der an jedes Individuum appelliert, seinen Egoismus weder zu leugnen noch zu verdrängen, sondern ihn auf das Wohl der Menschheit zu richten und im Wirken für diese zu befriedigen. Gerade weil sie den dergestalt sublimierbaren Egoismus der Individuen in ihre Überlegungen mit einbezieht, ihm nicht nur sein Recht zugesteht, sondern ihn als entscheidenden Antrieb zu moralischem Handeln voraussetzt, kann diese individualistische Ethik sowohl dem Vorwurf der Amoralität als auch dem Vorwurf, ein unrealistisches, heteronomes oder repressives Ideal aufzustellen, parieren. Steiners Individualisten handeln moralisch, weil sie sich an universellen Werten orientieren, autonom, weil sie diese Werte als ihre eigenen verinnerlicht haben, und egoistisch, weil diese idealisierten internalisierten Strukturen sie antreiben und mit narzißtischen Gratifikationen versorgen. Mit dieser stirnerianischen Stellungnahme zum Genie-Problem wie zur Ethik des Individualismus greift Steiner auf seine im Vorjahr in dem bereits mehrfach erwähnten Egoismus-Band gegebene Deutung des Einzigen zurück, den er hier zugleich in die Tradition des von „Nietzsche poetisch verklärt in seinem Zarathustra“ aufgestellten „Ideal[s]“ des „Übermenschen“ stellt.510 Letzterer „ist der von allen Normen befreite Mensch, der nicht mehr Ebenbild Gottes, Gott wohlgefälliges Wesen, guter Bürger u. s. w., sondern er selber und nichts weiter sein will – der reine und absolute Egoist.“511 In Steiners Der Egoismus in der Philosophie erscheint dementsprechend Stirner als der Begründer jener ‚radikal‘ egoistischen Position,512 die der Herausgeber Dix als „reinen Individualismus“513 bezeichnet, und Nietzsche „als letzter der strengen Individualisten“514. 510

Steiner (1899a), S. 346 – H. i. O. Steiner (1899a), S. 346. 512 Vgl. Steiner (1899a), S. 339. 513 Dix, in Steiner (1899a), S. 341. – Dix bemerkt in einer Fußnote zu Steiners Artikel, daß dieser ‚rein individualistische Egoismus‘ von anderen in dem von ihm herausgegebenen Band behandelten Varianten des Egoismus, etwa des „kollektiven, 511

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Schon früher hatte Steiner zur Stirner-Nietzsche-Frage bemerkt, daß „Stirner [. . .] bereits in den vierziger Jahren Nietzsches Weltanschauung ausgesprochen“ hat.515 Nietzsche habe Stirner zwar gewiß nicht gekannt, betont Steiner in einem Brief an Rosa Mayreder, aber „er hätte bei Stirner die Vorliebe für Stärke, den Mut zum Verbotenen, die Vorbestimmung für das Labyrinth und die neuen Ohren für die neue Musik gefunden, wenn er ihn gekannt hätte. Ich finde bei Stirner etwas, was mir bei Nietzsche fehlt: die allseitig entwickelten Lebenskräfte, die ungehemmt ihrer Naturtendenz folgen. Ich finde bei Stirner eine Energie des Lebens, eine Fülle und Verwandlungsfähigkeit der Persönlichkeit, eine Artisten-Heiterkeit und Artisten-Freiheit, die mir bei Nietzsche doch nicht vorhanden zu sein scheinen. Bei Stirner atmet man noch in reinerer Luft als bei Nietzsche. Geheimnisse werden für Stirnersche Ohren offenbar, die wirklich jenseits des Todes, jenseits des Eises liegen. Es ist die Optik des Lebens, nach der Nietzsche strebt, bei Stirner verwirklicht.“516 Im Sinne der Freund-Feind-Unterscheidung Messers nimmt Steiner also eine pointiert Stirner-freundliche Haltung ein. Dabei betont er bei allem Enthusiasmus für Stirner gleichwohl die Gemeinsamkeiten und Kontinuitäten der beiden Philosophen des Individualismus. Gewissermaßen in Umkehrung der Position von individualismus-skeptischen und Stirner-feindlichen Interpreten wie Hartmann, Lucchesi oder Türck, die Stirner wegen seiner Ähnlichkeit mit Nietzsche verdammen, schätzt der Individualist Steiner Nietzsche dafür, daß er Stirner nahe kommt. Und anders als die individualistischen Stirner-Freunde Ruest oder Lachmann, die Nietzsche und Stirner punktuell in einem Spannungsverhältnis sehen (Ruest) bzw. konzeptionell als unvereinbar betrachten (Lachmann) – letzteres gilt auch für den gegenüber beiden Philosophen eher distanzierten Schellwien –, sieht Steiner Stirner gleichsam als den ‚besseren Nietzsche‘, worin er mit seinem Freund Mackay übereinstimmt – und dem Nietzsche-Verehrer und Stirner-Verächter Simmel widerspricht.517 sozialen und nationalen Egoismus“ zu unterscheiden ist (Anmerkung in Steiner (1899a), S. 341). 514 Steiner (1899a), S. 345. 515 Steiner (1895), S. 185. 516 Steiner (1895), S. 186. 517 In seinem Egoismus in der Philosophie-Aufsatz bezieht sich Steiner mehrfach positiv auf Mackay und dessen Stirner-Interpretation (vgl. Steiner (1899a), S. 340 f.) und identifiziert die „Ideenrichtung und Lebensanschauung“, aus der etwa seine eigene Philosphie der Freiheit entsprungen ist mit der von den Individualanarchisten „Benj. R. Tucker und J. H. Mackay“ vertretenen (S. 345 – H. i. O., vgl. S. 343 ff.). Zu letzterem war Steiner 1893 anläßlich der Veröffentlichung seiner Philosophie der Freiheit in Kontakt getreten. Am 5. Dezember schreibt er Mackay aus Weimar „Hochgeschätzter Herr! Mein Verleger Emil Felber in Berlin wird Ihnen im Laufe der letzten Tage mein eben erschienenes Buch ‚Philosophie der Freiheit‘ übersendet haben. Ich habe mir erlaubt, Ihnen diese Schrift, in der ich die Weltan-

4. Stirner und Nietzsche im Diskurs

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Dieser Einschätzung entsprechend widmet Steiner Stirner auch mehr Raum in seinem Aufsatz, als er irgendeinem anderen Philosophen zugesteht,518 während Nietzsche – immerhin als Schlußpunkt der Abhandlung – sich mit der Hälfte eines Absatzes begnügen muß, den er sich zudem mit den beiden anti-egoistischen Philosophen des Unbewußten, Arthur Schopenhauer und Eduard von Hartmann, teilt.519 In Der Egoismus in der Philosophie bildet Stirner den Höhepunkt einer aufklärungstheoretisch perspektivierten Rückschau auf die okzidentale Geistesgeschichte, in der Steiner Ansätze, Fortschritte und Rückschläge des egoistischen Selbstbewußtseins aufspürt, von der antiken Philosophie seit den Vorsokratikern, über Kopernikus, Descartes und andere frühneuzeitliche Denker bis zum Deutschen Idealismus von Kant, Fichte, Hegel – und mit Feuerbach darüber hinaus.520 ‚Egoismus‘ markiert in diesem Zusammenhang für Steiner die Gegenposition zu denjenigen Weltdeutungsangeboten, die, wie er bereits zu Beginn seines Aufsatzes explizit unter Berufung auf Stirner festhält, auf das „Beschauung des Individualismus in wissenschaftlicher Weise zu begründen versuche, vorzulegen. Meiner Meinung nach bildet der erste Teil meines Buches den philosophischen Unterbau für die Stirnersche Lebensauffassung. Was ich in der zweiten Hälfte der ‚Freiheitsphilosophie‘ als ethische Konsequenz meiner Voraussetzungen entwickle, ist, wie ich glaube, in vollkommener Übereinstimmung mit den Ausführungen des Buches ‚Der Einzige und sein Eigentum‘. [. . .] Auf Stirner ausdrücklich zu verweisen, hatte ich keine Veranlassung, da sich mein ethischer Individualismus mit Notwendigkeit aus meinen Prinzipien ergibt. [. . .] Ich erlaube mir, diesen Zeilen nur noch die Bemerkung anzufügen, daß es mir zur ganz besonderen Befriedigung gereichen würde, wenn Sie, hochgeehrter Herr, in der Lage wären, meinen Bestrebungen einiges Interesse abzugewinnen. Ich gestehe, daß mir an einem Urteile von Ihnen sehr viel gelegen wäre. Mit besonderer Hochachtung Ihr ergebenster Dr. Rudolf Steiner“ (Steiner (1893), S. 143 f.) – Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, gestiftet durch die gemeinsame Stirner-Begeisterung, wie beispielsweise auch ein Brief Steiners an Mackay, vom 20. März 1898, diesmal aus Berlin, illustriert, in dem Steiner bezug nimmt auf Mackays Stirner-Monographie und die von diesem herausgegebenen Kleinen Schriften Stirners, die er dann beide im EgoismusAufsatz zitiert: „Lieber Herr Mackay! [. . .] Mit größter Spannung warte ich auf die Stirner-Bücher. Sie können sich denken, welches Interesse ich – meiner Weltanschauung nach – gerade an dieser Publikation nehmen muß. Wann kommen Sie wieder nach Berlin? Ich fühle gar oft das Bedürfnis, mich mit diesem oder jenem Worte an Sie zu wenden. [. . .] In freundschaftlicher Ergebenheit ganz Ihr Rudolf Steiner“ (Steiner (1898a), S. 213 f.; vgl. auch Kannenberg-Rentschler (1988), S. 147 ff.). Die Präsenz und Relevanz Stirners im Denken und Schreiben Steiners zu dieser Zeit, also im Vorfeld der hier behandelten Artikel zum Genialen Menschen und zum Egoismus in der Philosophie, bezeugen auch weitere Beiträge im Magazin für Literatur, in denen Steiner Stirner erwähnt (vgl. z. B. Steiner (1898b), S. 562; (1899b), S. 390). 518 Vgl. Steiner (1899a), S. 339 ff. 519 Vgl. Steiner (1899a), S. 345 f. 520 Vgl. Steiner (1899a), S. 308 ff., 321 ff., 330 ff., 338 f.

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dürfnis des Menschen“ nach Welterklärung und ethischer Orientierung mit metaphysischen Auskünften aufwarten, indem sie „[h]inter der daseienden Welt“ nach einem Ich-fremden „Wesen“ suchen, dessen „Wirklichkeit“ sie postulieren.521 Als in der Geschichte des Abendlandes erfolgreichstes und folgenreichstes Modell dieser metaphysischen „Selbstentäußerung“ des Menschen sieht Steiner mit Stirner und Nietzsche – und mit Feuerbach – das Christentum.522 Der durch die „Nebelwolke, [. . .] welche das Christentum vor die menschliche Selbsterkenntnis geschoben hat“,523 bewirkten „Selbstentfremdung auf dem Erkenntnisgebiet entspricht auf dem moralischen Felde die Selbstlosigkeit der Handlungen. Diejenigen Handlungen sind gut, bei denen das Ich dem Fremden folgt; diejenigen dagegen böse, bei denen es sich selbst folgt. In der Selbstsucht sieht das Christentum den Quell des Bösen. Nie hätte dies geschehen können, wenn man eingesehen hätte, daß das gesamte Sittliche seinen Inhalt nur aus dem eigenen Selbst schöpfen kann. Man kann die ganze Summe der christlichen Sittenlehre in dem Satze zusammenfassen: Gesteht sich der Mensch ein, daß er nur den Geboten seines eigenen Wesens folgen kann und handelt er darnach, so ist er böse; verbirgt sich ihm diese Wahrheit und setzt er – oder läßt setzen – die eigenen Gebote als fremde, über sich, um ihnen gemäß zu handeln, so ist er gut.“524 Dies ist die später in der Auseinandersetzung mit Türck aufgenommene Kritik an einer ‚verkehrten‘, lebensfeindlichen und repressiven Moral, die die Unterscheidung von Gut und Böse parallel zur Unterscheidung ‚altruistisch vs. egoistisch‘ bildet und damit die moralische Autonomie des Selbst als Quelle sittlichen Handelns wie auch den ethischen Wert eines veredelten Egoismus als Antrieb zu solchem Handeln verkennt, leugnet und zugunsten moralischer Heteronomie und Bigotterie unterdrückt. Die aus der Türck-Rezension als ‚Genialität‘ profilierte, ‚veredelt‘ egoistische Gegenposition zur entfremdeten Moral der Selbstlosigkeit sieht Steiner im Egoismus-Aufsatz bereits bei Friedrich Schiller vorgebildet, der in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen versuchte, die kantische Aporie in der moralischen Vermittlung von Pflicht und Neigung zu überwinden.525 Schiller zufolge, betont Steiner, sind „die menschlichen Instinkte einer solchen Veredelung fähig, daß es Lust macht, das Gute zu thun. Das strenge Sollen verwandelt sich bei dem veredelten Menschen in sein freies Wollen. Und höher steht der Mensch auf der moralischen Weltleiter, der aus Lust das Sittliche vollbringt als derjenige, der seinem Wesen 521 522 523 524 525

Steiner (1899a), S. 318 – H. i. O. Steiner (1899a), S. 320. Steiner (1899a), S. 321. Steiner (1899a), S. 323 – H. i. O. Vgl. Schiller (1795); vgl. hierzu Stulpe (2001), S. 10 ff.

4. Stirner und Nietzsche im Diskurs

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erst Gewalt anthun muß, um dem kategorischen Imperativ zu gehorchen. Schiller [. . .] schwebt die Vorstellung einer freien Individualität vor, die sich ihren egoistischen Trieben ruhig überlassen darf, weil diese Triebe dasjenige aus sich selbst wollen, was von der unfreien, unedlen Persönlichkeit nur vollbracht werden kann, wenn sie ihre eigenen Bedürfnisse unterdrückt.“526 Schiller kommt also der moralphilosophischen Position, die Steiner als ‚veredelt egoistische‘ gegen Türck stark macht, bereits sehr nahe, bleibt allerdings in seiner Argumentation noch Kants transzendentalphilosophischen Vorgaben verhaftet. So hat denn auch Steiner zufolge „[e]rst Max Stirner [. . .] in seinem 1844 erschienenen Buche ‚Der Einzige und sein Eigentum‘ in radikalster Weise von dem Ich gefordert, es solle endlich einsehen, daß es alle Wesen, die es im Laufe der Zeit über sich gesetzt hat, aus seinem eigenen Leibe geschnitten und als Götzen in die Außenwelt versetzt hat“,527 und daraus die Konsequenz gezogen, daß dieses „Ich [. . .] keine ethische Verbindlichkeit anerkennen [kann], die es sich nicht selbst auferlegt“.528 Indem Stirner zeigt, daß „[j]eder Gott, jede allgemeine Weltvernunft“ wie überhaupt alle moralisch-autoritativ „über das Ich gestellten Wesen [. . .] nur durch das Ich in die Welt gebracht worden sind“,529 formuliert er einerseits eine „universale Kritik aller das Ich unterdrückenden allgemeinen Mächte“, die die Individuen kontrollieren, beherrschen, auf bestimmte soziale Rollenerwartungen – z. B. diejenige „de[s] ‚guten Bürger[s]‘“ – fixieren und moralischer Fremdbestimmung unterwerfen.530 Anderseits wertet er dadurch das Individuum zur einzigen Instanz moralischer Verbindlichkeit auf. „Indem er alle diese Mächte zerstört, richtet Stirner auf den Trümmern die Souveränität des Einzelnen auf“,531 des Individuums, das deswegen auch die einzige Quelle moralischen Handelns und ethischer Wertung ist. 526 Steiner (1899a), S. 335 – H. i. O. – „Der Mensch, so führt Schiller aus, kann in zweifacher Hinsicht unfrei sein: erstens, wenn er nur seinen blinden, untergeordneten Instinkten zu folgen fähig ist. Dann handelt er aus Notdurft. Die Triebe zwingen ihn; er ist nicht frei. Zweitens aber handelt auch der Mensch unfrei, der nur seiner Vernunft folgt, denn die Vernunft stellt die Prinzipien des Handelns nach logischen Regeln auf. Ein bloß der Vernunft folgender Mensch handelt unfrei, weil er sich der logischen Notwendigkeit unterwirft. Frei aus sich selbst heraus handelt nur derjenige, bei dem das Vernünftige so mit seiner Individualität verwachsen ist, ihm in Fleisch und Blut übergegangen ist, daß er mit größter Lust vollbringt, was der minder sittlich Hochstehende nur durch die äußerste Selbstentäußerung und durch den stärksten Zwang vollziehen kann.“ (Steiner (1899a), S. 335 f.). 527 Steiner (1899a), S. 339 – H. i. O. 528 Steiner (1899a), S. 340. 529 Steiner (1899a), S. 339. 530 Steiner (1899a), S. 342. 531 Steiner (1899a), S. 342.

650 VI. Außenseiter, Aristokraten, Avantgardisten und andere Individualisten

Dies führt Steiner mit dem Hinweis auf seine eigenen Schriften, u. a. seine Stirner-kompatibel konzipierte Philosophie der Freiheit, aus.532 Hier zeigt sich erneut, daß die moralphilosophische Stoßrichtung seines Arguments nicht auf die Verwerfung moralischer Normen und ethischer Werte zielt, sondern auf deren ‚egoistische‘ Aneignung. In der Internalisierung von und bewußten Identifikation mit sittlichen Idealen überwinden die Individuen die moralische Heteronomie. „So lange wir an ein uns fremdes Weltwesen glauben, stehen uns auch die Gesetze unseres Handelns fremd gegenüber. Sie beherrschen uns; was wir vollbringen, steht unter dem Zwange, den sie auf uns ausüben. Sind sie aus solcher fremden Wesenheit in das ureigene Thun unseres Ich verwandelt, dann hört dieser Zwang auf. Das Zwingende ist unser eigenes Wesen geworden. Die Gesetzmäßigkeit herrscht nicht mehr über uns, sondern in uns über das von unserem Ich ausgehende Geschehen. [. . .] Die Gesetze seines Handelns sich aus sich geben, heißt als freier Einzelner handeln.“533 Diese Freiheit ist gleichbedeutend mit einer radikalen Selbstverantwortlichkeit des Individuums, das sich in diesem wohlverstanden egoistischen Bewußtsein „von nichts als von sich selbst abhängig machen [kann]. Und es kann niemandem verantwortlich sein als sich.“534 Deswegen will „Stirner [. . .] nicht, daß die Gesellschaft für den Einzelnen sorgt, seine Rechte schützt, sein Wohl fördert u. s. w. Wenn von den Menschen die Organisation genommen ist, dann regelt sich ihr Verkehr von selbst.“535 Die von Steiner mit Stirner propagierte Ethik der Selbstverantwortung schließt also einerseits die gesellschaftliche Verantwortung für das Individuum aus, verbindet dies aber andererseits mit der sozialanthropologisch optimistischen Erwartung, daß hierdurch die Individuen selbst die Verantwortung nicht nur jeweils für sich, sondern auch für ihr Zusammenleben übernehmen. „Sich selbst genügen kann der Einzelne nicht in einer organisierten Gemeinschaft; sondern nur in dem freien Verkehr oder Verein. Dieser kennt keine als Macht über den Einzelnen gesetzte gesellschaftliche Struktur. In ihm geschieht alles durch den Einzelnen. Es ist in ihm nichts festgelegt. Was geschieht, ist immer auf den Willen des Einzelnen zurückzuführen.“536 Damit ist also nicht ein Zustand kollektiver sozialer Verantwortungslosigkeit gemeint, in dem immer nur das jeweilige soziale Alter in die Pflicht genom532

Vgl. Steiner (1899a), S. 343 ff. Steiner (1899a), S. 345 – H. i. O. – Im letzten Satz steckt implizit eine weitere Referenz auf Schillers Ästhetik, nämlich auf dessen im Kallias-Briefwechsel entwickelten Begriff der Schönheit als „Heautonomie“, als Selbstbestimmung nach selbstgegebener Regel (Schiller (1793), S. 43; vgl. Stulpe (2001), S. 11 ff.). 534 Steiner (1899a), S. 345. 535 Steiner (1899a), S. 341. 536 Steiner (1899a), S. 341 – H. i. O. 533

4. Stirner und Nietzsche im Diskurs

651

men wird, ‚selbstverantwortlich‘ auch die Lasten derjenigen Handlungsfolgen zu tragen, die das Ego verursacht hat. Vielmehr richtet sich der Appell zu Selbstverantwortung zuerst an das Ego, dem damit zugleich die Pflicht zuerkannt wird, auch und gerade die Folgen, die sein Handeln für Alter hat, auf deren Vereinbarkeit mit seinen eigenen ethischen Idealen zu prüfen und vor sich selbst moralisch rechtfertigen zu können. Diese Forderung einer Ethik der Selbstverantwortung konvergiert mit jenem ethischen Ideal des Genies, das sich als bewußter und ‚veredelter‘ Egoist die Sache der Menschheit zu eigen macht. Bezüglich des sozialen ‚Verkehrs‘ und ‚Vereins‘ der Egoisten beläßt es Steiner bei den zitierten Auskünften. Die damit angesprochene soziale Ausgestaltung der Je-Einzigkeit, insbesondere die unterschiedlichen sozialphänomenologischen, modernitätsdiagnostischen und ideologischen Interpretationen des Stirnerschen ‚Vereins‘, ist Thema des folgenden Kapitels. Bezüglich der im vorliegenden Kapitel behandelten Frage nach der moralischethischen Infrastruktur des Einzigen und seines Individualismus und mit Blick auf die im nächsten Abschnitt resümierend vorgeschlagene Typologie des Individualismus ist an Steiners individualistischer Deutung der Je-Einzigkeit zweierlei festzuhalten. Erstens ist dieser Individualismus, indem er an jedes einzelne Individuum appelliert und keines strukturell ausschließt, universalistisch gebildet. Im Gegensatz zum Partikularismus z. B. des aristokratischen und des nonkonformistischen Individualismus mit seiner Unterscheidung der Wenigen von den Vielen geht es Steiner um „die ‚Menschheit‘“, verstanden als „1½ Milliarden ‚souveräner Individuen‘“, wie Dix annotiert.537 Und zweitens propagiert dieser Individualismus ein diesem Appell entsprechendes ethisches Ideal, nämlich die ‚Genialität‘, verstanden als ‚veredelten Egoismus‘ eines Einzigen, der sich die Sache der Menschheit, also der Je-Einzigen, zueigen macht. Das so verstandene Genie bzw. der Einzige oder der auf dieser Linie liegende Übermensch bildet die Wertund Idealstruktur dieses in diesem Sinne nicht relativistischen, sondern objektivistischen Individualismus, der also nicht nur Individualität schlechthin, sondern eine bestimmte Form von Individualität idealisiert. Einzigkeit erscheint somit hier als eine Konzeption des Guten, an der sich jedes je-einzige Individuum ethisch orientieren soll. Der Einzige ist das eigenverantwortliche und gegenüber den sozialen Anderen verantwortungsbewußte, aufgeklärte und selbstbewußte Individuum, das seinen veredelten Egoismus auf die Belange der Menschheit richtet. Nach dieser Maßgabe läßt sich dann vom Standpunkt einer individualistischen Moral über die Zuteilung von sozialer Achtung und Wertschätzung entscheiden.

537

Dix, in Steiner (1899a), S. 341.

652 VI. Außenseiter, Aristokraten, Avantgardisten und andere Individualisten

5. Typologie des normativen Individualismus Bereits in den vorangegangenen Kapiteln, beispielsweise im Kontext des Anarchismus-Diskurses,538 war eine häufige Verwendung des Begriffs ‚Individualismus‘ zu beobachten, und zwar regelmäßig in einer zeit- bzw. modernitätsdiagnostischen und – wenn auch bisweilen kritisch-pejorativ konnotiert – primär deskriptiven Bedeutung. ‚Individualismus‘ bzw. ‚individualistisch‘ diente etwa bei Autoren wie Georg Adler, Ernst Zenker, Eduard von Hartmann oder Georg Plechanow, aber beispielsweise auch in den zu Anfang des vorliegenden Kapitels zitierten Zeitgeist-Befunden Max Messers und Anselm Ruests in einer umfassenden Weise der Markierung von bestimmten, als zeittypisch wahrgenommenen Tendenzen. ‚Individualismus‘ kennzeichnete im Verständnis dieser und anderer Autoren ein modernes Syndrom von Motiven und Einstellungen, Ideologien und Weltanschauungen, deren Gemeinsamkeit darin besteht, daß sie Ansprüche und Handlungen von Individuen dadurch für gerechtfertigt halten, daß sie deren Willen bzw. deren konkreter Individualität entspringen. Dieser modernitätsdiagnostische Individualismusbegriff bezeichnet also generell die Tendenz, Individuen – mitunter nur implizit – zu maßgeblichen normativen Bezugspunkten zu erklären. Er umfaßt dementsprechend ein breites Spektrum sozialphänomenologischer Referenzen und Evidenzen: Das eine Ende dieses Spektrums markiert die sozial unreflektierte Selbstverabsolutierung von Individuen und deren Ausdrucksformen, inklusive der antisozialen Abwertung und Negation des sozialen Anderen in Wort und Tat, wie sie bei der Analyse der All-Einzigkeit zu beobachten war, etwa an den extremen Typen des Solipsisten oder des Terroristen, aber auch in weniger spektakulärer Weise an der von einigen Autoren schon als Massenphänomen beobachteten, kruden Intransigenz und dem Selbstbehauptungswillen von empirischen Individuen. Das andere Ende markieren die begrifflich und weltanschaulich elaborierten semantischen Gebilde, die die Konzeption des Individuums als normativen Bezugspunkt theoretisch rechtfertigen und sozial reflektieren, also – im Sinne des Interpretationsschemas der Je-Einzigkeit – davon ausgehen, daß prinzipiell auf beiden Seiten der sozialdimensionalen Ego-Alter-Unterscheidung mit individualistischen Ansprüchen zu rechnen ist. Hierzu zählen, neben als ‚individualistisch‘ beobachteten weltanschaulichen Phänomenen wie z. B. dem Anarchismus, dem Feminismus oder dem Liberalismus insbesondere auch solche semantischen Angebote, die sich selbst als ‚Individualismus‘ bezeichnen. Diese letztgenannten ‚Individualismen‘ gehören einerseits zum Referenzbereich des modernitätsdiagnostischen Individualismus-Begriffs. Anderer538

Siehe z. B. oben, V. 2. und 3.

5. Typologie des normativen Individualismus

653

seits etablieren sie eine von diesem zu unterscheidende, eigenständige Bedeutung von ‚Individualismus‘, indem sie den Begriff zur positiven Selbstbezeichnung von normativen Positionen verwenden. Neben dem allgemeinen, diagnostischen (mitunter auch kulturkritisch eingefärbten) Gebrauch des Individualismus-Begriffs war vor allem im vorliegenden Kapitel, namentlich in den hier zentral behandelten Debatten über individualistische Ethik und Aristokratismus, Nonkonformismus und Außenseitertum, Moralkritik und Neue Moral bei Stirner und Nietzsche, eine solche, engere Verwendung des Begriffs ‚Individualismus‘ beobachtbar, die auf die Kennzeichnung begrifflich-argumentativ reflektierter moralphilosophischer und ethischer Positionen abzielte. Dieser Individualismus im engeren Sinne, als dessen Vertreter sich beispielsweise Autoren wie Bruno Wille, Anselm Ruest oder Rudolf Steiner verstehen, und der als weltanschauliche bzw. philosophische Position von Befürwortern wie Simmel oder Lachmann und Gegnern wie Türck oder Hartmann gleichermaßen Stirner und Nietzsche zugeschrieben wurde, läßt sich als ‚normativer Individualismus‘ bezeichnen. Die hiermit vorgeschlagene semantische Differenz zwischen diagnostischem und normativem Individualismus-Begriff läßt sich an der Konzeption dessen verdeutlichen, was unter einem ‚Individualisten‘ verstanden werden kann. Als ‚Individualist‘ kann ein Individuum bezeichnet werden, das sich – in wie auch immer genauer zu bestimmender Weise – betont ‚individuell‘ bzw. ‚individualistisch‘ im Sinne des ‚individualistischen Zeitgeistes‘ verhält, ohne daß dieses Individuum dies notwendigerweise näher weltanschaulich zu begründen oder zu reflektieren brauchte – oder auch nur davon wissen müßte. Hierbei handelt es sich offensichtlich um eine Charakterisierung von ‚Individualismus‘ im Sinne des ersten, modernitätsdiagnostischen Individualismus-Begriffs. Als ‚Individualist‘ kann aber auch ein Individuum bezeichnet werden, das sich als Vertreter bzw. Anhänger des ‚Individualismus‘ versteht, so wie beispielsweise als ‚Sozialist‘ oder ‚Marxist‘ ein Individuum bezeichnet wird, das sich als Anhänger des Sozialismus bzw. Marxismus versteht. Wie der Vergleich verdeutlicht, bezeichnet ‚Individualismus‘ in diesem Kontext eine systematisierbare Lehre oder Weltanschauung, die als solche von ihren Anhängern diskursiv begründet und reflektiert wird – und mit moralisch-ethischen Geltungsansprüchen, nicht bloß als individuelle Rechtfertigungsideologie, vertreten wird. Ein solches semantisches Angebot wird im Folgenden als ‚normativer Individualismus‘ bezeichnet.539 539 Der Begriff des ‚normativen Individualismus‘ ist durch einen von Charles Taylor in die Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte eingeführten Ordnungsvorschlag inspiriert. Taylor (1989) unterscheidet erstens die normative Ebene (die Ebene der Wertungen und des Sollens) der in jener Debatte verhandelten Positionen von deren ‚ontologischen‘ Vorstellungen, also der Ebene der Beschreibung des (sozialen) Seins, und setzt zweitens auf der normativen Ebene den Individualismus, der

654 VI. Außenseiter, Aristokraten, Avantgardisten und andere Individualisten

Der normative Individualismus bezieht sich explizit auf das Individuum und seine Individualität als maßgeblichen normativen Bezugspunkt, den er begründet und von dem er argumentativ ausgeht, und zwar immer unter der ‚je-einzigen‘ Voraussetzung, daß ‚das Individuum‘ auf beiden Seiten der Ego-Alter-Unterscheidung vorkommt. Im Unterschied zu anderen Phänomenen im Referenzbereich des modernitätsdiagnostischen Individualismus-Begriffs geht es beim normativen Individualismus also nicht bloß um die Beobachtung oder Rechtfertigung individueller Ausdrucksformen und Willkürakte – etwa wenn die Handlungsweise eines Individuums als ‚individualistisch‘ eingestuft wird –, sondern um die moralphilosophische Reflexion der gesellschaftlichen Verteilung von sozialer Achtung, Wertschätzung und Prestige und um die ethische Programmierung des moralischen Codes, nach dem kommunikativ über Achtung und Ächtung, Anerkennung und Mißachtung von individuellen Lebensformen entschieden wird. Auf dieser Basis gibt der normative Individualismus Antworten auf die Fragen nach dem richtigen Handeln, dem guten Leben, dem moralischen Sollen und dem ethischen Wert von Individuen und ihrer Individualität. Mithilfe der Unterscheidung von ‚Individuum‘ und ‚Individualität‘ und ihrer zweifachen Relationierung lassen sich zwei Grundpositionen innerhalb des normativen Individualismus gewinnen, die beide im vorliegenden Kapitel beobachtbar waren: die eine Form des normativen Individualismus leitet den Wert der Individualität vom Wert des Individuums ab; Individualität ist achtenswert und soll sich entfalten dürfen, weil sie Individuen zukommt, und diese sind gleichermaßen in ihrer Integrität, Würde, Autonomie der höchste Wert. Die andere Form des normativen Individualismus leitet den Wert des Individuums vom Wert der Individualität ab; der Wert eines Individuums bestimmt sich durch dessen Individualität in Differenz zu anderen Individuen, weil die Individualität – das Unvergleichliche eines Individuums im Unterschied zu seiner Personalität – als höchster Wert gilt. Der erstgenannte, vom Individuum ausgehende normative Individualismus läßt sich als ‚universalistisch‘ bezeichnen, weil er die Wertschätzung eines jeden Menschen als Individuum fordert, und deswegen prinzipiell jeder Individualität, in Abstraktion von ihrer konkreten Ausgestaltung, gleichermaßen die Berechtigung ihrer Ansprüche auf Anerkennung und Selbstverwirklichung dem Individuum den normativen Vorrang gegenüber dem ‚Kollektiv‘ einräumt, dem ‚Kollektivismus‘ entgegen, der das ‚Kollektiv‘ höher wertet als das Individuum. – Im vorliegenden Kontext ist der Begriff ‚normativer Individualismus‘ Ausgangspunkt für weitere begriffliche und typologische Differenzierungen von individualistischen Positionen, deren Gemeinsamkeit in ihrer spezifisch ‚normativistischen‘, moralisch-ethischen Ausrichtung besteht, wobei ‚normativ‘ hier als Gegenbegriff zu ‚deskriptiv-diagnostisch‘ zu verstehen ist. Insofern wird hier nur das Wort Taylor entlehnt, nicht sein Begriff und die diesen definierenden Unterscheidungen von ‚normativ vs. sozialontologisch‘ und ‚individualistisch vs. kollektivistisch‘.

5. Typologie des normativen Individualismus

655

zuspricht. Der andere, von der Individualität ausgehende normative Individualismus läßt sich als ‚partikularistisch‘ bezeichnen, weil er mit dem Anspruch, den Wert von Individuen in Abhängigkeit von ihrer je konkreten Individualität zu bestimmen, ethische Kriterien und Zielvorgaben dessen geben muß, was als wertvolle Individualität Wertschätzung verdient, womit er tendenziell die Wertordnungen bestimmter sozialer Kontexte bzw. Gruppen begünstigt. Zugleich werden dadurch diejenigen Individuen, deren Individualitäten nach diesen Kriterien als nicht achtenswert erscheinen oder auch als ungeeignet betrachtet werden, sich den ethischen Zielvorgaben gemäß zu entwickeln, von der Geltendmachung ihrer Ansprüche ausgeschlossen. Dem entspricht das als ‚aristokratisch‘ bekannte Beobachtungsschema ‚die Wenigen vs. die Vielen‘. Innerhalb des normativen Individualismus läßt sich also zwischen universalistischen und partikularistischen Ausprägungen unterscheiden. Mit dieser Unterscheidung sind Grundpositionen bezeichnet, zwischen denen sich kohärente Mischformen schwer konzipieren lassen. Entweder wird Je-Einzigkeit universalistisch ‚der Menschheit‘ bzw. jedem menschlichen Individuum zugeschrieben, oder Je-Einzigkeit wird partikularistisch nur ‚den Wenigen‘ im Unterschied zu ‚den Vielen‘ zugebilligt. So müßte sich jede Variante des normativen Individualismus jeweils eindeutig einer Seite der Unterscheidung ‚universalistisch vs. partikularistisch‘ zuordnen lassen können. Bei der Anwendung dieses Analyseschemas auf die im vorliegenden Kapitel behandelten normativ-individualistischen Positionen540 540 Bezieht man zunächst generell den normativen Individualismus-Begriff auf die im vorliegenden Kapitel analysierten Debatten um Individualismus, Aristokratismus, ‚Nietzsche und Stirner‘, so fällt auf, daß die damit verbundenen Positionen sich regelmäßig gegen das (antisoziale) Assoziationsfeld des deskriptiv-diagnostischen Individualismus-Begriffs zu wehren hatten, was sich sowohl in den Polemiken gegen Nietzsche und Stirner als auch in den Abgrenzungsbemühungen individualistischer Autoren gegen fälschlich als individualistisch bezeichnete Phänomene und falsch verstandenen Individualismus zeigt. Gleichwohl wurde auch von normativen Individualisten wie z. B. Ruest oder Messer positiv in zeitdiagnostischer Weise auf soziale Phänomene bezug genommen, die, wie z. B. die Frauenbewegung, von kulturkritischen Anti-Individualisten als Evidenz für die zersetzenden Tendenzen des Individualismus angeführt wurden. Und an anderer Stelle wiederum traf sich die Kulturkritik des Individualismus mit derjenigen seiner Gegner. Insgesamt bezog sich jedenfalls im Stirner-Nietzsche-Diskurs der Streit um den Individualismus bei ‚Freunden und Feinden‘ auf dessen im engeren Sinne moralisch-ethische Bedeutung. Die Auseinandersetzung mit dem normativen Individualismus bzw. die ‚individualistische Ethik‘ wurde immer wieder mit Unterscheidungen wie ‚demokratisch vs. aristokratisch‘ (Ruest), ‚kritisch vs. dogmatisch‘ (Schellwien) oder auch ‚egoistisch vs. individualistisch‘ (Lachmann), oder, wie bei Simmel ‚abstrakter vs. qualitativer Individualismus‘ geführt, die sich in bestimmten Aspekten mit der hier vorgeschlagenen Unterscheidung ‚universalistischer vs. partikularistischer Individualismus‘ parallelisieren lassen.

656 VI. Außenseiter, Aristokraten, Avantgardisten und andere Individualisten

wird sich gleichwohl ein Fall zeigen, derjenige des ‚avantgardistischen Individualismus‘, der beide Positionen, die universalistische und die partikularistische, zeitdimensional vermittelt miteinander verbindet. Den im Folgenden auf Basis des bisher analysierten empirischen Materials herauszuarbeitenden unterschiedlichen Typen des normativen Individualismus entsprechen dagegen empirisch regelmäßig Mischformen, die sich hinsichtlich ihrer jeweiligen Distanz zum einen oder anderen Typus des normativen Individualismus analysieren lassen. Unterhalb der Unterscheidungsebene von universalistischem und partikularistischem Individualismus wird also eine Idealtypologie (im Sinne Webers) des normativen Individualismus vorgeschlagen. Auf der Seite des universalistischen Individualismus läßt sich typologisch demnach zwischen ‚objektivistischen‘ und ‚relativistischen‘ Varianten unterscheiden, auf der Seite des partikularistischen Individualismus zwischen ‚aristokratischem‘, ‚elitaristischem‘, ‚nonkonformistischem‘ und ‚avantgardistischem Individualismus‘.

a) Universalistischer Individualismus: zwischen Objektivismus und Relativismus Die Position des universalistischen Individualismus läßt sich zunächst wie folgt zusammenfassen: Weil das Individuum der höchste Wert ist, ist Individualität zu achten, und zwar die Individualität eines jeden Individuums. Mögliche Wertdifferenzen zwischen konkreten Konzeptionen von Individualität, also die Möglichkeit, individuelle Konzeptionen des Guten unterschiedlich zu bewerten, haben keine Konsequenzen für den Wert des Individuums an sich. Somit hat jedes Individuum gleichermaßen einen moralischen Anspruch auf seine Achtung als Person, und aufgrund dessen prinzipiell auch auf seine individuelle Selbstverwirklichung. Diese universalistische Form des Individualismus bezeichnet offenkundig zunächst die humanistisch-liberale Tradition, die sich im Anschluß an Simmel als ‚abstrakter‘ im Gegensatz zum ‚aristokratisch-qualitativen Individualismus‘ fassen läßt. Hinzu kommt aber einerseits auch die ‚formalistische‘ Position, die Simmel Stirner zuschreibt, der zufolge jedes Individuum seine Individualität verwirklichen soll; andererseits kommt mit der quasi menschenrechtlichen Auffassung von Individualität und Selbstverwirklichung ein ‚qualitatives‘ Moment hinzu, das Simmels Gleichsetzung von ‚qualitativem‘ und ‚aristokratischem‘ Individualismus unterläuft. Universalismus muß nicht notwendig ‚abstrakt‘ auf die reine Personalität von Individuen abstellen, sondern kann zusätzlich auch deren – je-einzige – Ansprüche auf individuelle Selbstverwirklichung und Wertschätzung ihrer Individualität berücksichtigen. Insofern ist Je-Einzigkeit prinzipiell als universalistischer Individualismus konzipierbar.

5. Typologie des normativen Individualismus

657

Wenn demzufolge jedes Individuum seine – von jeder anderen (‚qualitativ‘) verschiedene – Individualität ausleben können soll, stellt sich dann allerdings normativ das Problem, wie auf der moralisch-ethischen Ebene Konflikte zwischen einander ausschließenden individuellen Ansprüchen behandelt werden sollen; schließlich können sich in einem solchen Fall alle konfligierenden Positionen legitimatorisch auf ihre jeweilige Individualität berufen. Die klassisch-liberale Lösung bestünde darin, normative Grenzen festzusetzen, innerhalb derer jedes Individuum sich frei entfalten kann, deren Überschreitung aber nicht zulässig wäre, weil sie die Integrität der Anderen, also deren Ansprüche auf Selbstverwirklichung und Individualität verletzt. Das beste Beispiel hierfür ist die Geltung von im Konfliktfall über den jeweiligen individuellen Ansprüchen von empirischen Individuen rangierenden, objektiven Menschenrechten. Eine solche Lösung von Konflikten zwischen Je-Einzigen steht allerdings Stirner-interpretatorisch offenkundig in einem Spannungsverhältnis zum häufig geäußerten, bei den Interpreten unstrittigen Anspruch des Einzigen, kein Recht über sich zu akzeptieren.541 Eine andere Möglichkeit, das Problem auf der normativen Ebene zu lösen, bestünde darin, von einem Begriff von ‚gelungener Individualität‘ auszugehen, der individuelle Selbstverwirklichung auf Kosten bzw. zum Schaden Anderer ausschließt; im Konfliktfall würde dann mindestens eine der beteiligten Parteien sich zu Unrecht auf ihre Individualität berufen, denn diese wäre keine Individualität im recht verstandenen Sinne. Auch dies wäre eine objektivistische Lösung, die eine überindividuell gültige Konzeption gelungener Individualität – in einem stärker formalisierten oder auch substantielleren Sinn (Menschenwürde) – anführt, um bestimmte individuelle Ansprüche als illegitim auszuschließen und deswegen nicht berücksichtigen zu müssen.542 In diesem Sinne argumentieren im Stirner-rezeptionsgeschichtlichen Zusammenhang solche Interpreten, die, wie z. B. Rudolf Steiner, Stirner gegen den Vorwurf der Antisozialität in Schutz nehmen, indem sie nachweisen, daß der Einzige für eine auch inhaltlich bestimmte humanistische Konzeption gelungener Individualität steht, der sich antisoziales Verhalten von selbst verbietet. Dann freilich wäre der Einzige wiederum eine Art Ideal, das unter dem Verdacht stünde, dem wirklichen empirischen Individuum vorgesetzt zu werden – auch wenn Steiner zeigt, daß es dieses Ideal in sich selbst findet. 541

Vgl. z. B. Stirner, EE, S. 110 ff., 204 ff. Wer beispielsweise vorgäbe, sich nur auf Kosten Anderer, beispielsweise durch Mord und Totschlag, selbstverwirklichen zu können – etwa der sadistische Psychopath in Türcks Beispiel – würde sich nach solchen objektivistischen Maßstäben hierbei zu Unrecht auf seine Individualität berufen, weil gelungene Individualität – wie beispielsweise in der oben angeführten Argumentation Bruno Willes – derartige Ambitionen und Gelüste gar nicht aufkommen läßt. 542

658 VI. Außenseiter, Aristokraten, Avantgardisten und andere Individualisten

Dem universalistischen Individualismus sind aber auch jene ‚relativistischen‘ Varianten zuzuordnen, die aus Stirner-interpretatorischen Gründen eine solche objektivistische Lösung für mit der Je-Einzigkeit unvereinbar halten, eben weil damit ein überindividuelles Ideal begründet würde.543 Dazu gehört Benedict Lachmanns Version der Je-Einzigkeit, aber auch der Individualismus, der Stirner in Deutungen zugeschrieben wird, die selbst moralphilosophisch objektivistische Lösungen vorziehen und gerade auf dieser Präferenz ihre Skepsis gegenüber Stirner begründen, beispielsweise Simmel, Lucchesi oder Schellwien, der Stirner als ‚kritisch‘ gegenüber dem ‚dogmatischen‘ Nietzsche charakterisierte. Die relativistische Variante des universalistischen Individualismus wendet sich an jedes Individuum mit der Forderung, es solle je seiner Individualität gemäß handeln und sich selbst verwirklichen. Das Sollen beschränkt sich hier auf diese Forderung. Anders als in der objektivistischen Variante wird in der relativistischen Variante des universalistischen Individualismus weder die Achtung der Personalität des Anderen, noch eine überindividuell gültige Konzeption von akzeptabler Individualität normativ vorgeben. Die Frage, was als legitimer Anspruch auf individuelle Selbstverwirklichung und Individualität akzeptabel ist, kann vom relativistischen Individualismus aufgrund der von ihm angenommenen individuellen perspektivischen Gebundenheit von Wertungen und ihrer interindividuellen Unvermittelbarkeit auf normativer Ebene nicht beantwortet werden. Im Fall konfligierender Ansprüche von auf ihre jeweiligen Individualitäten sich berufenden Individuen ist es dem relativistischen Individualismus daher nicht möglich, bestimmte individuelle Ansprüche mit der Begründung abzuweisen, daß sie die Integritäts- und Selbstverwirklichungsrechte anderer Individuen verletzen würden – man denke wiederum an Sadisten, Verbrecher und Ausbeuter –, sondern er müßte sie als Selbstverwirklichungsansprüche von Individuen gelten lassen: ‚anything goes‘. Effektiv läuft dies auf einen moralisch-ethischen Nihilismus hinaus, der normativ alles zuläßt, was Individuen unter Berufung auf ihre jeweilige Individualität wollen bzw. tun: und zwar auch dann – das ist die normative Paradoxie dieser Position –, wenn andere Individuen unter Berufung auf ihre jeweilige Individualität das nicht wollen, weil sie sich hierdurch ihrerseits in ihrer Selbstverwirklichung und Individualität eingeschränkt oder verletzt fühlen. Wenn man nicht unterderhand wiederum einen Begriff von gelungener Individualität annimmt, demzufolge der ‚echte‘ Individualist nichts will, was anderen schadet – explizit wäre dies die objektivistische Position, Mackay ist wohl hier zu verorten –, so daß auch ein relativistisches ‚anything goes‘ sozial verträglich wäre, weil alle Individuen mit den Ansprüchen ihrer Individualität sich in einer prinzipiellen Harmonie befän543

Vgl. z. B. Stirner, EE, S. 158 f., 200, 207, 269, 359 f., 366, 410 f.

5. Typologie des normativen Individualismus

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den,544 kann man vom relativistischen Standpunkt aus nur in normativer Indifferenz abwarten, welche Individualitäten sich durchsetzen und welche auf der Strecke bleiben. Für den normativen Individualismus ist dies der Grenzfall eines moralisch-ethischen Nihilismus, der damit zu seinen eigenen normativen Voraussetzungen – Individualität ist per se achtenswert, weil jedes Individuum achtenswert ist – in Widerspruch gerät. Eine dritte Position innerhalb des universalistischen Individualismus und mögliche Synthese der objektivistischen und der relativistischen Variante ist bei Max Messer angedeutet: die pragmatische Position der ‚liberalen Ironikerin‘545, die um die Partikularität und Kontingenz der eigenen universalistischen Überzeugungen von Menschenwürde und gelungener Individualität weiß, aus diesem Bewußtsein aber nicht die indifferent-relativistische Haltung des ‚anything goes‘ ableitet, sondern im Gegenteil den Anspruch formuliert, für die eigenen universalistischen Überzeugungen, gerade weil sie kontingent sind – weil es nämlich keinen welthistori(zisti)schen Mechanismus gibt, der ihre Durchsetzung garantiert – zu kämpfen (und gegebenenfalls zu sterben). Ein solcher ‚heroischer Ironismus‘ verweist allerdings jenseits des normativ-individualistischen Feldes moralisch-ethischer Reflexion im engeren Sinne auf das Feld kritisch-theoretischer und politischer Praxis. b) Partikularistischer Individualismus: vier typologische Ausprägungen und ihre Beziehungen Die Position des partikularistischen Individualismus läßt sich wie folgt zusammenfassen: Der Wert eines Individuums bestimmt sich vom Wert seiner konkreten Individualität her, diese wertbestimmende Individualität ist damit der Personalität des Individuums vorgeordnet. Nicht das Individuum per se, sondern eine bestimmte Konzeption von Individualität ist der höchste Wert. Deswegen ist auch nicht jedes Individuum gleichermaßen zu achten, vielmehr gibt es wertmäßige Rangunterschiede der Individuen, die aus den Wertdifferenzen der Individualitäten abgeleitet sind. Daher hat auch nicht jedes Individuum gleichermaßen den Anspruch auf individuelle Selbstverwirklichung. Vielmehr ist die Verwirklichung einer minderwertigen 544 In gewisser Hinsicht findet sich ein solcher ethisch-moralischer ‚Krypto-Objektivismus‘ beispielsweise in der anarchistischen Position, die Kropotkin gegen ‚bürgerliche Individualisten‘ wie Stirner und Nietzsche stark macht, wenn er prognostiziert, daß in der von den Zwängen des Staates und der kapitalistischen Eigentumsordnung befreiten kommunistischen Gesellschaft die Individuen ihre Individualität in einem recht verstandenen Sinne werden frei entfalten können, ohne daß man noch mit den antisozialen Deformationen des ‚bürgerlichen Individualismus‘ werde rechnen müssen; siehe oben, V. 4. a). 545 Vgl. Rorty (1992), bes. S. 111 ff., 127 ff.

660 VI. Außenseiter, Aristokraten, Avantgardisten und andere Individualisten

Individualität ethisch inakzeptabel. Andererseits mag jedes Individuum sich aufgefordert fühlen, der ethischen Zielvorgabe einer wertvollen Individualität so nahe wie möglich zu kommen, auch wenn aufgrund der gegebenen Voraussetzungen die wenigsten dazu in der Lage sind, dieses Ziel zu erreichen, und wenn die Mehrzahl der Individuen gar kein Bewußtsein für den Wert dieses Ziels hat. Aus der Unterschiedlichkeit der individuellen Voraussetzungen und des individuellen Umgangs mit diesen Voraussetzungen ergeben sich aus Sicht des partikularistischen Individualismus legitimer Weise moralisch-ethische Wertdifferenzen zwischen den Individuen, die wiederum als Kriterium für ethische Bewertungen und die moralische Zuteilung von Achtung dienen. Zunächst handelt es sich bei dieser Form des normativen Individualismus offenbar um den von Simmel so genannten ‚Individualismus der Differenziertheit‘ – bezogen auf Rangunterschiede – oder den auch von anderen Autoren als ‚aristokratisch‘ im Gegensatz zu ‚demokratisch‘ charakterisierten Individualismus. Als Paradebeispiel hierfür wird regelmäßig Nietzsche angeführt, der, anders als Stirner, praktisch ausschließlich dem partikularistischen Individualismus zugerechnet wird (sofern er nicht als moralischethisch indiskutabler Psychopath verworfen wird). Der Geltungsbereich des partikularistischen Individualismus beschränkt sich prinzipiell auf verschiedenartig definierte Gruppen von Individuen, denen aufgrund ihrer Individualität ein höherer Wert als der verbleibenden Mehrheit zugeschrieben wird, und denen daher auch ein höherer Anspruch auf Selbstverwirklichung und gesellschaftliche Wertschätzung ihrer Individualität zuerkannt wird. Das Problem des Konfliktes zwischen unvereinbaren individuellen Ansprüchen, dem der universalistische Individualismus entweder objektivistisch oder relativistisch begegnen muß, mit allen Stirner-interpretatorischen und moralphilosophischen Folgeproblemen, löst der partikularistische Individualismus durch diese normative Hierarchisierung: (spätestens) im Konfliktfall werden bestimmte Individuen – in der Regel die Mehrheit – vom Anspruch auf Achtung und Selbstverwirklichung ausgeschlossen. Konflikte können normativ leicht zugunsten der höherwertigen Individualität entschieden werden, auch wenn dieses moralisch-ethische Urteil noch nichts über deren realen Ausgang besagt. Die faktische gesellschaftliche Verteilung von sozialer Wertschätzung und individuellen Selbstverwirklichungschancen kann daher nach Maßgabe partikularistisch-individualistischer Wertmaßstäbe, je nachdem, welche Konzeption wertvoller Individualität diesen zugrunde liegt, sowohl befürwortet als auch kritisiert werden: befürwortet, wenn die gesellschaftliche Ungleichheitsordnung und die diese beglaubigende Werteordnung der ethischen Unterscheidung der Wenigen von den Vielen entspricht und jene höherwertigen Wenigen tatsächlich aufgrund ihrer Machtpositionen und ihres Wohlstandes größere Selbstverwirklichungschancen ha-

5. Typologie des normativen Individualismus

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ben und ein höheres Sozialprestige genießen als die Masse der minderwertigen Vielen; kritisiert, wenn die soziale Realität dem jeweils partikularistisch-individualistisch vertretenen Schema der Wenigen und Vielen nicht entspricht: entweder weil die Gesellschaft als zu egalitär – also von ‚den Vielen‘ dominiert – empfunden wird, oder weil die falschen, nach ethischen Kriterien unwürdigen Gruppen die gesellschaftliche Elite stellen, mithin also auch die diese Verhältnisse beglaubigende, vorherrschende Werteordnung als ungerecht angesehen wird. Der partikularistische Individualismus beinhaltet somit immer ein objektivistisches Moment, nämlich eine Konzeption wertvoller Individualität, die ‚den Wenigen‘ im Unterschied zu ‚den Vielen‘ zukommt und somit die ethische Hierarchisierung, die Höherwertigkeit der Wenigen und die Minderwertigkeit der Vielen, begründet. Gegenüber dem universalistischen Individualismus findet somit im partikularistischen Individualismus eine Problemverschiebung statt: vom Problem der normativen Lösbarkeit von Konflikten zwischen individuellen Ansprüchen auf das Problem der Beglaubigung der ethischen Hierarchie. Von dieser spezifischen Problemstellung und ihren unterschiedlichen Lösungsstrategien her lassen sich auch in dieser Form des normativen Individualismus typologisch verschiedene Varianten unterscheiden, je nach Selbstverständnis und Beglaubigung der als individualistische Minderheit gegenüber den übrigen jeweils privilegierten Gruppenkonzeption. Im Folgenden werden aristokratische, elitaristische, nonkonformistische und avantgardistische Typen des partikularistischen Individualismus unterschieden, mit deren Hilfe sich zugleich bei der Analyse einzelner Autoren verschiedene Aspekte des jeweils von ihnen vertretenen Individualismus charakterisieren lassen; beispielsweise trägt der transgressionistische Individualismus Przybyszewskis sowohl aristokratische als auch nonkonformistische Züge, während sich etwa bei Mühsam nonkonformistische und avantgardistische, bei Messer avantgardistische und aristokratische Elemente verbinden und der von Ruest propagierte Individualismus hinsichtlich einiger Aspekte als aristokratisch, hinsichtlich anderer als elitaristisch zu charakterisieren ist. Gemeinsam ist allen Varianten des partikularistischen Individualismus jedenfalls die Unterscheidung ‚der Wenigen‘ von ‚den Vielen‘. Im Kern bezeichnet die um die Jahrhundertwende gängige Unterscheidung von ‚aristokratisch vs. demokratisch‘, wie sie im vorliegenden Kontext beispielsweise bei Ruest, Dix und J. Hart beobachtbar war, diesen wesentlichen Aspekt der Differenz zwischen partikularistischen und universalistischen Formen des normativen Individualismus: ‚Aristokratisch‘ ist ein Individualismus der Wenigen, der die ‚demokratische‘ – nach Ansicht einiger Autoren vergebliche – Forderung nach einem Individualismus der Vie-

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len – der ‚Vielzuvielen‘ oder ‚Allzuvielen‘ bzw. der ‚Masse‘ oder der ‚Plebejer‘ – ablehnt. ‚Demokratisch‘ ist dagegen ein Individualismus, der die Legitimität der ‚aristokratischen‘ Unterscheidung der Wenigen von den Vielen zurückweist. ‚Aristokratisch‘ ist insbesondere ein Individualismus, der sich und seine Vertreter den Einstellungen, Überzeugungen, Verhaltensweisen, Wertorientierungen, geschmacklichen Präferenzen usw. der Mehrheit überlegen glaubt. Diese normative Hierarchie wird allerdings innerhalb der, historisch als ‚aristokratisch‘ im Gegensatz zu ‚demokratisch‘ bezeichneten, partikularistischen Form des normativen Individualismus unterschiedlich beglaubigt, was wiederum mit verschiedenen praktisch-habituellen und programmatischen Selbstverständnissen einhergeht und schließlich verschiedenartige Konsequenzen für die soziale Phänomenologie der jeweiligen Variante des ‚aristokratischen Individualismus‘ und für seine jeweilige Attraktivität in bestimmten sozialen Milieus hat. In der folgenden Systematisierung soll daher der Begriff des ‚aristokratischen Individualismus‘ einem bestimmten Typus innerhalb des partikularistischen Individualismus vorbehalten werden. Die historische Plausibilität und Attraktivität der Semantik des ‚Aristokratischen‘ mit seiner Konnotation des fraglos Überlegenen und aus sich selbst heraus Werthaften läßt sich wissenssoziologisch unmittelbar mit dem Unbehagen an einer relativistischen und nihilistischen Moderne und deren Nivellierungs- und Vermassungstendenzen in Verbindung bringen. Wortbildungen wie das von Brandes bereits 1888 mit Bezug auf Nietzsche geprägte Konzept des ‚aristokratischen Radikalismus‘,546 der Begriff der ‚Geistesaristokratie‘, der ebenfalls im vorliegenden Zusammenhang angetroffene ‚Aristokratismus‘ oder auch der ‚aristokratische Individualismus‘ selbst beschwören einerseits die untergegangene Welt des alteuropäischen Adels, seiner ethisch und habituell höherwertigen ‚Vornehmheit‘ und seines selbstverständlichen gesellschaftlichen Herrschaftsanspruchs. Andererseits verknüpfen sie dieses vormoderne Assoziationsfeld mit der spezifisch modernen Konzeption der Individualität. Dabei bleibt diese Verknüpfung, wie oben im Zusammenhang mit Simmel bereits dargelegt, in wissenssoziologischer Perspektive insofern immer eine bloß rhetorische, als es sich bei den hiermit verbundenen Konzeptionen um spezifisch moderne, individualistische Positionen handelt, die stets, dies regelmäßig auch reflektierend, auf der modernen Inklusions-Exklusions-Ordnung beruhen, und nicht auf derjenigen der hierarchisch-stratifizierten Gesellschaft Alteuropas. Es geht also bei den um die Jahrhundertwende als ‚aristokratisch‘ bezeichneten Varianten des Individualismus um (im weiteren Sinne) ‚neo-aristokratische‘ Konzeptionen547 546 Vgl. Aschheim (1996), S. 18; Brandes (1890); vgl. auch Hepp (1992), S. 69 ff.; Schulze (1983), S. 19; Bohnen (2004).

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moderner Individualität,548 nicht um die Rückkehr des alten, dynastischen Adels und die Restauration der gesellschaftlichen Herrschaftsstruktur Alteuropas.549 In ähnlicher Weise bezieht sich auch der Gegenbegriff ‚demokratisch‘ im Kontext des Individualismus-Diskurses weniger auf eine mit der Demokratie als Regierungsform verbundene, spezifische politische Form der Organisation und Kontrolle von Herrschaft, sondern umfassender und genereller auf die gesellschaftliche Verteilung von Zugangschancen nicht nur zu politischen Entscheidungsprozessen, sondern auch zu kulturellen und materiellen Gütern, inklusive der dadurch bedingten Möglichkeit zu individueller Selbstverwirklichung. Dementsprechend bezeichnet der im Gegensatz zu ‚aristokratischer Individualismus‘ gebildete Begriff eines ‚demokratischen Individualismus‘ ein Verständnis von Individualismus, das grundsätzlich eine Gleichverteilung jener Zugangschancen befürwortet. Unter diesem Aspekt relativiert sich bezüglich der zeitgenössisch als ‚aristokratisch‘ thematisierten Varianten des Individualismus die strenge Entgegensetzung von ‚demokratisch vs. aristokratisch‘. Alle typologischen Varianten innerhalb der partikularistischen Form des normativen Individualismus sind im skizzierten Sinne als neo-aristokratisch zu charakterisieren, im Sinne der Unterscheidung der Wenigen von den Vielen und der normativen Hierarchie in ihrem Selbstverständnis. Aber nicht alle begreifen sich als Gegenposition zu ‚demokratischen‘ Tendenzen. Vielmehr verbinden sich einige ‚sozialaristokratisch‘ mit ‚demokratischen‘ Programmen, wie typischerweise der 547 Der Begriff ‚Neoaristokratismus‘ ist Stefan Breuer entlehnt, der ihn paradigmatisch von Nietzsche herleitet und im engeren Sinne innerhalb seiner Typologie der politischen Rechten verwendet (vgl. Breuer (1999), S. 26 f., 132 ff.). Nach diesem Verständnis erschienen einige der im vorliegenden Kontext als ‚aristokratischindividualistisch‘ typologisierten Positionen als ‚neoaristokratistisch‘, allerdings soll hier der Begriff ‚neo-aristokratisch‘ allgemeiner die Differenz zu ‚aristokratisch‘ im Sinne des alteuropäischen Adels (und seines Konservatismus) und insbesondere die spezifisch modernen, exklusionsindividuellen Voraussetzungen des partikularistischen Individualismus bezeichnen. 548 Hierzu gehört u. a. auch die – ihrerseits in ihren sozialphänomenologischen und literarischen Ausprägungen und in der Radikalität ihrer jeweiligen Implikationen differenziert zu behandelnde – Figur des Dandy, mit ihrer Verbindung eines insbesondere ästhetisch (aktiv wie passiv) kultivierten aristokratischen Habitus als Form und Medium der Kommunikation von Individualität. In der Stirner-Rezeptionsgeschichte spielt diese Figur – zumindest in ihrer historisch-spezifischen Bedeutung – allerdings kaum eine Rolle, allenfalls beim Spezialtypus des ‚preußischen Dandy‘ Ernst Jünger, der freilich selbst diesbezüglich einen atypischen Fall des Dandyismus darstellt. 549 Dies wäre dagegen das Projekt eines ‚Konservativismus‘ im Sinne Panajotis Kondylis‘, wobei hier das Wort ‚Projekt‘ anzeigt, daß auch dieser sich den Bedingungen der verhaßten Moderne anzupassen hätte (vgl. Breuer (1993), S. 4 f., 10 ff.).

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avantgardistische Individualismus. Andere sind diesen gegenüber indifferent und positionieren sich, wie typischerweise der nonkonformistische Individualismus, primär ‚anti-bürgerlich‘. Und wieder andere begrüßen die soziale Dynamik demokratischer, prinzipiell zugangsoffener Strukturen als wettbewerbsfördernde Voraussetzung für die Auslese und Selbstverwirklichung der ‚Besten‘, wie sie typischerweise der elitaristische Individualismus propagiert. Aus diesem Grunde wird in der folgenden Typologie des partikularistischen Individualismus ‚aristokratisch‘ reserviert für diejenige Position, die sich unter Berufung auf außer- bzw. vorgesellschaftliche, also ‚natürliche‘ Merkmale bestimmter Individualitäten – Psyche, Geist, Charakter usw. – explizit gegen die ‚demokratischen‘, die ‚falschen‘ oder ‚schlechten‘ Individualitäten sozial begünstigenden Tendenzen der modernen Gesellschaft richtet und damit paradoxerweise als ‚Aristokratismus‘ eine revolutionäre Haltung annimmt. Für alle vier Typen des partikularistischen Individualismus, den aristokratischen, den elitaristischen, den nonkonformistischen wie den avantgardistischen, gilt Stirner-interpretationsschematisch jedoch, daß sie ‚Je-Einzigkeit‘ in der ‚individualistischen‘ Gruppe der ‚Wenigen‘ verorten, und nicht bei den ‚Vielen‘. Aus der Art des Selbstverständnisses dieser ‚Wenigen‘ und der Beglaubigungsformen ihrer moralisch-ethischen Höherwertigkeit im Verhältnis zu den ‚Vielen‘ ergibt sich die jeweilige typologische Bestimmung. aa) Aristokratischer Individualismus Der aristokratische Individualismus schreibt die Je-Einzigkeit einer (neuen) Aristokratie von aufgrund ihrer Individualität in intellektueller, ethischer, charakterlicher, ästhetischer Hinsicht höherwertigen, den plebejischen Vielzuvielen überlegenen wenigen Individuen zu. Für diese Variante steht beispielsweise Nietzsche in Simmels Interpretation, an der auch das aristokratisch-individualistische Beglaubigungsmuster analysierbar war: Die Evidenz der individuellen Verschiedenheit von Individuen (Ungleichheit als Nicht-Identität) wird als wertmäßige Ungleichheit (Ungleichheit als Hierarchie) gedeutet. Die Überlegenheit und Höherwertigkeit bestimmter Individuen – ‚Persönlichkeiten‘ im Unterschied zu ‚Personen‘ – wird somit aus deren Individualität, verstanden als natürliche, geistige, charakterliche und insbesondere auch, wie etwa bei Max Messer, psychische Anlagen, Eigenschaften oder Fähigkeiten, abgeleitet, und nicht aus ihrer faktischen sozialen Position. Denn wer sich in der gegenwärtigen, von ‚demokratischen‘ und ‚dekadenten‘ Werten fehlgeleiteten Gesellschaft in welcher sozialen Position befindet, ist bestenfalls Resultat des Zufalls, wenn nicht das Ergebnis einer systematisch in der ungerechten Verteilung von moralischer Achtung und ethischer Wertschätzung begründeten Fehl-Auslese, die die Schlechten

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begünstigt und die Edlen benachteiligt. Daher bedarf der aristokratische Individualismus objektiver Wertkriterien, anhand derer der Wert eines Individuums – unabhängig von seiner sozialen Stellung in der von den ‚plebejischen Vielen‘ (insbesondere in kultureller Hinsicht) dominierten Gesellschaft – angegeben werden kann. Solchen Objektivismus kennzeichnet beispielsweise Schellwien an Nietzsche als ‚dogmatisch‘ (im Unterschied zum ‚kritischen‘ Stirner). Die Objektivität der Wertkriterien kann substantiell als konkrete Konzeption des Guten (mit bestimmten Werten der ‚Vornehmheit‘ beispielsweise) bestimmt sein, sie kann aber auch hochgradig formalisiert sein, wie dies beispielsweise in der an Ruests Stirner-Deutung herausgearbeiteten Reflexivitätsforderung der Fall ist. An letzterer bestand das spezifisch Aristokratische darin, daß aufgrund ihrer natürlichen Anlagen wohl nur die wenigsten Individuen dazu in der Lage wären, dieser Forderung zu entsprechen. In jedem Fall setzt der aristokratische Individualismus eine neue, minoritäre Wertordnung gegen die bestehende der Mehrheit. Und diese neue Wertordnung begünstigt – zunächst im Sinne moralischer Achtung und ethischer Wertschätzung – bestimmte Individuen aufgrund ihrer aristokratischen Individualität in einem höheren Maße, als dies in der bestehenden ‚demokratischen‘ (Massen-)Gesellschaft der Fall ist. Mit Nietzsches Formel von der ‚Umwertung der Werte‘ propagiert der aristokratische Individualismus, anders als der unten zu behandelnde nonkonformistische Individualismus, nicht bloß die Negation bestehender Normen, sondern die Schaffung neuer Werte und die Orientierung an ‚aristokratischen‘ Tugenden, die in der ‚demokratischen‘ Gesellschaft verachtet werden, bzw. deren individuelle Träger in dieser Gesellschaft marginalisiert sind. Der aristokratische Individualismus ist daher revolutionär, weil er sich gegen die bestehende soziale Ordnung richtet, indem er die diese beglaubigende Werteordnung in Frage stellt bzw. verwirft. Sein programmatisches Ziel ist die Schaffung einer Gesellschaftsordnung, die deswegen gerechter ist als die gegenwärtige, weil sie die objektiv gegebenen Wertunterschiede der Individuen angemessen in ihrer Zuteilung von sozialer Wertschätzung berücksichtigt; die vor- bzw. außersozial bedingte wertmäßige Hierarchie der Individuen soll mit einer zu schaffenden sozialen Hierarchie zur Deckung gebracht werden, die durch die moralisch-ethische Ordnung des aristokratischen Individualismus stabilisiert wird. Hierdurch wird, nach anerkannter Maßgabe des jeweiligen Wertes der Individualität eines Individuums, den aristokratischen Wenigen ein höheres Maß an Wertschätzung und Selbstverwirklichung garantiert, als den jetzt noch zu Unrecht dominierenden plebejischen Vielen. Es ist dies im Verständnis des aristokratischen Individualismus sowohl eine Forderung der Gerechtigkeit – Ungleiches ungleich und Gleiches gleich zu behandeln – als auch ein Gebot der Verantwortung gegenüber der an den dekadenten Werten andernfalls zugrunde ge-

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henden Menschheit, die es bekanntlich verdient, an ihren stärksten Exemplaren gemessen zu werden, in diesen sich zu vervollkommnen und darin ihre Daseinsberechtigung zu erweisen. bb) Elitaristischer Individualismus Der elitaristische Individualismus schreibt die Je-Einzigkeit einer Elite zu, deren Überlegenheitsanspruch sich auf die faktischen Ergebnisse und vermeintlichen Erfordernisse der sozialen Dynamik gründet. Eliten sind in diesem Verständnis das (notwendige und gerechtfertigte) Resultat von sozialen Ausleseprozessen, durch die die besten und wertvollsten Individuen nicht nur zu ihrem eigenen Vorteil, sondern auch zum Wohl der ‚Vielen‘ begünstigt werden, weil hierdurch ‚die Besten‘ in soziale Verantwortungsund Führungspositionen gelangen. Eliten sind die über das Mittelmaß herausragenden Leistungsträger, die aufgrund ihrer Individualität in soziale Positionen kommen, auf denen sie diese am besten und zum Besten (der Gesellschaft) verwirklichen können, und aufgrund ihrer außerordentlichen Leistungen verdienen sie nicht nur diese Positionen – im Sinne des Zugangs zu Macht, Wohlstand, Prestige und individueller Selbstverwirklichung –, sondern auch eine besondere Wertschätzung ihrer Individualität. Die höherwertige Individualität wird so nicht, wie im aristokratischen Individualismus, aufgrund objektiv-statischer und außergesellschaftlicher Merkmale bestimmt, sondern sie bewährt sich im sozialen Wettbewerb und wird an dessen Ausgang erkennbar. Das Wertkriterium des elitaristischen Individualismus ist somit der Erfolg bei der Akkumulation von ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital.550 Während der aristokratische Individualismus, wie gezeigt, die individuelle Verschiedenheit als – wie auch immer genau gefaßte – ‚natürlich bedingte‘ wertmäßige Ungleichheit deutet, schließt der elitaristische Individualismus von der aus der sozialen Dynamik der modernen Gesellschaft entstehenden Ungleichheit auf die individuelle Verschiedenheit und wertmäßige Ungleichheit der Individuen. Der Effekt ist die ideologische Beglaubigung faktisch eingenommener sozialer Positionen.551 Der Typus des elitaristischen Individualismus findet sich im Wettbewerbsmotiv von Ruests ‚aristokratischer‘ Stirner-Interpretation und regelmäßig in den ideologiekritischen Deutungen Nietzsches und Stirners, die diese als Sozialdarwinisten entlarven, etwa bei Kropotkin und Plechanow. Das Problem der moralisch550

Vgl. Bourdieu (1979), z. B. S. 193 f. Bekanntlich sprechen in der Regel vor allem diejenigen am liebsten von ‚Eliten‘ (und der Notwendigkeit ihrer Ausbildung), die sich selbst zumindest potentiell dazu zählen. 551

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ethischen Überlegenheitsansprüche des elitaristischen Individualismus besteht bezüglich seiner internen Logik in der normativen Indifferenz seiner Wert-Maßstäbe von ‚Leistung‘, ‚Verdienst‘ und ‚Erfolg‘.552 Dieser PseudoNormativität entspricht eine Vorstellung von Markt-Gerechtigkeit, aufgrund derer aus der Tatsache, daß bestimmte Individuen (beispielsweise Waffenschieber und Spitzenmanager) hohe Einkommen beziehen, geschlossen wird, daß dies auch verdient sein muß; denn wenn die Bereitschaft besteht, so viel für die erbrachte Leistung zu bezahlen, ist dies offenbar leistungsgerecht. Die normative Problematik besteht offensichtlich darin, daß diese Markt-Gerechtigkeit keine Kriterien bietet, um zwischen moralisch-ethisch wünschens- und achtenswerten Leistungen bzw. Erfolgen und solchen zu unterscheiden, die, obgleich mit hohen Verdiensten verbunden, nicht als verdienstvoll zu schätzen sind. Insofern stellt sich die Frage, nach welchen Maßstäben die Leistungen bemessen werden, die eine soziale Gruppe als Elite konstituieren, und wer dieser individuell zugehörig ist.553 cc) Nonkonformistischer Individualismus Der nonkonformistische Individualismus schreibt die Je-Einzigkeit Gruppen zu, die sowohl aufgrund (mehrheits-)gesellschaftlicher Stigmatisierung und Ausgrenzung als auch aufgrund selbstgewählter Opposition gegen die herrschende Moral und ästhetische Normen oder aufgrund ihrer von der gesellschaftlichen Norm abweichenden Lebensstile als Außenseiter gelten. Nur diese nonkonformistische Minderheit lebt wahrhaft nach ihrer Individualität und wird dafür von der angepaßten Mehrheit der ‚Philister‘, ‚Bourgeois‘, ‚Spießer‘ gefürchtet, angefeindet, ausgestoßen und verfolgt, wie dies 552 Man kann beispielsweise von den politischen und militärischen Erfolgen Hitlers vor 1942 sprechen, ohne damit eine normative Wertung zu verbinden; wer allerdings damit eine normative Wertung suggeriert, oder sich über die deskriptive Aussage empört, weil man im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus nicht von ‚Erfolgen‘ sprechen dürfe, beweist dadurch letztlich nur, wie sehr die Pseudo-Normativität des Erfolgs-Fetischs mittlerweile zur Selbstverständlichkeit geronnen ist (vgl. auch Horkheimer (1936d), S. 103). 553 Und es stellt sich die Frage, wer diese Frage beantworten können soll: diejenigen, die sich selbst der Elite zurechnen (und daher am meisten darüber wissen), also die Wenigen? Oder etwa die Vielen, also die mittelmäßigen Massen bzw. das Volk – aber wie sollte das Volk, das ja offenbar der Eliten bedarf, ohne Hilfe der Eliten die gesellschaftlich so vitale Frage nach den Maßstäben beantworten können, nach denen die Erfolge, Leistungen und Verdienste von Eliten bewertet werden können? Wäre das Volk (der demos) zur Klärung solcher Fragen imstande, dann bedürfte es keiner Eliten, dann könnte es statt dessen demokratische Repräsentanten wählen. Oder muß am Ende die Soziologie diese Fragen beantworten – und sich so dem Vorwurf aussetzen, sich zum willfährigen Helfershelfer bei der ideologischen Durchsetzung der Partikularinteressen bestimmter sozialer Gruppen zu degradieren?

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etwa in Bruno Willes oder Erich Mühsams Argumentation ersichtlich wurde. Die Mehrheit der Normalen beugt sich auf Kosten von Authentizität und Selbstverwirklichung illegitimen moralisch-ethischen Zwängen und sonstigen kulturellen Konventionen und ist daher überhaupt nicht in der Lage, Individualität auszubilden. Die Nonkonformisten, obwohl und gerade weil von der repressiven bürgerlichen Mehrheitsmoral geächtet, sind in Wahrheit die eigentlich moralisch-ethisch Höherwertigen, weil sie Individualität besitzen und den Mut haben, diese gegen alle gesellschaftlichen Widerstände und Sanktionen auszuleben; sie sind rebellischer, kreativer, origineller als die blasse Mehrheit und ihre verhärteten, kulturell unfruchtbaren Konventionen, um derer willen das Lebensglück von Individuen regelmäßig geopfert wird. Die klassische Trägerschicht des nonkonformistischen Individualismus ist die Boheme,554 die, wie dies exemplarisch bei Mühsam deutlich wurde, sich selbst und andere aufgrund kulturell dominanter Normalitätskriterien sozial geächtete Gruppen in dem umrissenen subund gegenkulturellen Selbstverständnis stilisiert. Die Beglaubigung dieses Selbstverständnisses und der Ansprüche des nonkonformistischen Individualismus erfolgt einerseits durch die Faktizität der Diskriminierung und Marginalisierung irrespektabler Individuen und die damit einhergehende Konstruktion ausgeschlossener Gruppen, beispielsweise der ‚abnormen‘ Homosexuellen und anderer devianter Individualitäten; andererseits durch die sozialen Praktiken von in ihrem Selbstverständnis ihr Anderssein und ihre Distanz gegenüber der ‚moralischen Mehrheit‘ der Vielen artikulierenden Subkulturen. Zu diesen Praktiken gehören sowohl die Pflege von im Verhältnis zur Mehrheitskultur alternativen Lebensstilen als auch symbolische Aggressionen und Konventionsbrüche, wie sie etwa von Przybyszewski (vor allem literarisch) kultiviert wurden. In welchem Maße hierbei Distinktionsgewinne erzielt werden können und was kommunikativ als Provokation verstanden wird – unabhängig davon, ob es sich im subkulturellen Selbstverständnis um die bloße Kultivierung des individuellen Andersseins oder um intentionale symbolische Aggressionen (‚Bürgerschreck‘) handelt – hängt vom Vorhandensein hegemonial gültiger Kriterien der ethischen und ästhetischen Normalität ab, nach deren Maßstab die Abweichungen des Nonkonformisten als solche erkennbar sind. Die Ansprüche und Beglaubigungsstrategien des nonkonformistischen Individualismus sind daher einerseits an die soziale Geltung der Normen gebunden, die er in Frage stellt. Andererseits neigt er zum inflationären Gebrauch von Distinktionspraktiken, was zusätz-

554 Das heißt nicht, daß nicht in der Boheme auch aristokratische und insbesondere avantgardistische Varianten des Individualismus ebenso stark sind, sondern nur, daß die Boheme historisch auch die Avantgarde des Nonkonformismus war und letzteren in besonderem Maße kultiviert hat.

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lich dazu beiträgt, die moderne Tendenz zur Diversifizierung und Individualisierung von Lebensstilen zu verstärken. Unter dem Aspekt der Beglaubigung des moralisch-ethischen Vorranges der Wenigen gegenüber den Vielen ist der nonkonformistische Individualismus also auf den Fortbestand dessen angewiesen, wogegen er rebelliert. Denn bei zunehmender gesellschaftlicher Toleranz, kultureller Liberalisierung und Pluralisierung steht er vor dem Problem der Insignifikanz seiner Distinktionspraktiken. Er muß dann letztere entweder verschärfen, in der Regel durch die Steigerung symbolischer Aggressivität, um überhaupt noch wahrgenommen zu werden,555 oder er muß auf die Unterscheidung der Wenigen von den Vielen verzichten und die Je-Einzigkeit Allen zuschreiben. Diese letztgenannte Konsequenz entspricht der – aus Sicht (nicht nur) von tatsächlich diskriminierten Gruppen wünschenswerten – Position eines universalistischen Individualismus: Wenn ‚Nonkonformismus‘ allgemein wird, müssen ethische Entwürfe entwickelt werden, die sich in ihrem Wert nicht primär als Negation bestehender moralischer Konventionen definieren, und deren normative Kriterien ihrerseits auf einem postkonventionalistischen Begründungsniveau bestehen können. Das führt wieder zu den oben behandelten Lösungsangeboten des universalistischen Individualismus. Soweit sich aber der nonkonformistische Individualismus partout als partikularistischer Individualismus behaupten will, also mit dem Anspruch der ethisch-moralischen Höherwertigkeit der nonkonformistisch-individualistischen Minderheit gegenüber der zwanghaft-angepaßten Mehrheit, sind nicht nur seine inflatorischen Distinktions- und Provokations-Praktiken problematisch, sondern auch sein normatives Selbstverständnis bietet breite Angriffsflächen. Die Tendenz des nonkonformistischen Individualismus, die eigenen moralisch-ethischen Wertorientierungen aus der konkret-bestimmten Negation konventioneller, herrschender Wertvorstellungen zu gewinnen, hinterläßt ihn nicht erst, wenn letztere wegfallen, orientierungslos, sondern sie konterkariert bereits prinzipiell die Ansprüche auf Originalität, Authentizität und Kreativität, mit denen typischerweise der höhere Wert der nicht angepaßten Individualität begründet wird. Die ‚Umwertung der Werte‘ reduziert sich in diesem Kontext auf die (nach einiger Zeit wenig originelle und in ihrer Gebundenheit an die negierten Vorgaben weder sehr kreative noch authentische) Umkehrung normativer Vorzeichen: was die Mehrheit – oder ‚das Establishment‘ oder ‚der Mainstream‘ – moralisch oder geschmacklich ablehnt, muß das wahrhaft Gute sein. Daher kommt der nonkonformistische Individualismus empirisch regelmäßig zu zweifelhaften Sympathiebekundungen und Solidaritätserklärungen, weil ihm jenseits der Negation der 555 Quasi als Propaganda der Tat, man denke auch an die bei G. Adler behandelten Décadence-Anarchisten oder Mühsams Konzeption des Terrorismus als Kunst.

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Konvention die eigenen normativen Maßstäbe fehlen. Während beispielsweise der universalistisch-objektivistische oder auch der aristokratische Individualismus über Kriterien verfügen, mit denen sie im Blick auf die bestehende gesellschaftliche Stigmatisierungs- und Diskriminierungspraxis zwischen solchen Individuen, die zu Unrecht, und solchen, die zu Recht geächtet werden, unterscheiden können – zu Unrecht, weil damit ihre Individualität verletzt wird, zu Recht, weil sie die Individualität anderer verletzen –, bringt der nonkonformistische Individualismus alle von der ‚Spießermoral‘ Geächteten unterschiedslos in eine Zwangsgemeinschaft, in der Frauenrechtlerinnen, Homosexuelle und Juden mit Zuhältern, Kinderschändern und Mördern identifiziert und zur gegenseitigen Solidarität verpflichtet werden. Aufgrund dieser normativ mangelhaften Differenzierungslogik setzt sich der nonkonformistische Individualismus dem Vorwurf aus, mit dem Autoren wie etwa Türck oder Hartmann den Individualismus insgesamt zu diffamieren suchen: effektiv eine moralisch-nihilistische Legitimationsideologie aller Arten der Selbstsucht und Antisozialität zu sein. dd) Avantgardistischer Individualismus Der avantgardistische Individualismus schreibt die Je-Einzigkeit einer fortschrittlichen Gruppe von Wenigen zu, die aufgrund ihres Lebensstils, ihrer Weltsicht und Wertüberzeugungen in Worten und Taten stellvertretend für die Masse der Vielen bereits jetzt vorwegnehmen, was zukünftig für Alle gelten und selbstverständlich sein wird. Die partikularistisch-individualistische Unterscheidung der Wenigen von den Vielen und die damit verbundenen normativen Ansprüche des avantgardistischen Individualismus werden hier also zeitdimensional durch die geschichtsteleologisch-programmatische Orientierung auf eine Zukunft beglaubigt, in der diese Unterscheidung nicht mehr gelten wird. Die avantgardistischen Individualisten sind deswegen der gegenwärtigen Masse der Nicht-Individualisten moralischethisch überlegen, weil sie, wie exemplarisch etwa Helene Stöckers ‚moderne Frau‘, einen zukünftigen Zustand repräsentieren, in dem Alle Individualisten sein werden. Aus diesem Grunde ist im avantgardistischen Individualismus die Beziehung zwischen den Wenigen und den Vielen, anders als bei den anderen drei reinen Typen des partikularistischen Individualismus, durch eine spezifische Ambivalenz geprägt: Einerseits teilt die Avantgarde in ihrem Überlegenheitsanspruch gegenüber der Masse die zwischen Indifferenz, Verachtung und Aggressivität alternierende Distanz gegenüber den Vielen, die mutatis mutandis das Verhältnis der Aristokratie zu den Plebejern, der Elite zu den Mittelmäßigen und der Nonkonformisten zur angepaßten Mehrheit kennzeichnet. Andererseits beglaubigt sie diesen Anspruch mit dem Selbstverständnis, daß sie als Avantgarde dieser Masse voranschreitet,

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und die Masse ihr früher oder später folgen wird. Die Masse ist daher nicht bloß die Kontrastfolie, vor der sich der avantgardistische Individualismus abhebt, und sie ist in ihrer Trägheit auch nicht bloß etwas, dem der avantgardistische Individualismus widerstrebt, sondern sie ist zugleich der Adressat, an den sich die Avantgarde mit ihren individualistischen Verheißungen wendet und den sie aufzuklären beansprucht, wofür exemplarisch sowohl die hier behandelten Texte als auch die Aktivitäten Bruno Willes und Rudolf Steiners angeführt werden können. Sie kann sich nur deshalb als Avantgarde behaupten, weil die moralisch-ethische Ungleichheit zwischen den Wenigen und den Vielen noch nicht überwunden ist, und weil es ihr obliegt, diese Überwindung vorzubereiten. Der avantgardistische Individualismus artikuliert einen moralisch-ethischen Führungsanspruch, der sich, anders als derjenige des aristokratischen und des elitaristischen Individualismus, dadurch legitimiert, daß er, wenn er sich bewährt, in Zukunft überflüssig sein wird. Daher ist die avantgardistische Variante des partikularistischen Individualismus programmatisch untrennbar mit einem universalistischen Verständnis des Individualismus verbunden. Er opponiert gegen die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse und die diese ideologisch beglaubigende moralisch-ethische Wertordnung, die er, anders als der aristokratische Individualismus, nicht als nivellierende, sondern, ähnlich dem nonkonformistischen Individualismus, als repressive Moral ablehnt, die, wie dies beispielsweise Hans Brennert und Helene Stöcker in ihren feministischen Argumentationen darlegen, individueller Selbstverwirklichung im Wege steht; anders als letzterer artikuliert er diese Kritik aber mandatarisch für die Masse der Vielen und appelliert an diese, der Avantgarde zu folgen. Im Gegensatz zum nonkonformistischen Individualismus kann der avantgardistische Individualismus es sich daher nicht erlauben, die (nicht-individualistischen) Vielen bloß zu provozieren und sich den Vorwurf des bloßen (moralisch-nihilistischen) Dagegenseins einzuhandeln. Insbesondere muß er sich, wie dies beispielsweise bei Bruno Wille und Rudolf Steiner deutlich wurde, von jenen Positionen abgrenzen, die in ihrer nonkonformistischen und ansonsten moralisch-ethisch kriterienlosen Rebellion gegen die herrschende Moral der Klischeevorstellung Vorschub leisten, der Individualismus predige die unkontrollierte Entfesselung aller (auch destruktiven) Leidenschaften und rechtfertige in völliger Wert-Indifferenz jedes auch antisoziale Verhalten, dessen Individuen fähig sind. In dieser Hinsicht befindet sich der avantgardistische Individualismus auf der idealtypologischen Ebene insbesondere im Gegensatz zum nonkonformistischen Individualismus und teilt dafür mit dem aristokratischen Individualismus den Bedarf nach einer positiven Bestimmung ethisch wertvoller Individualität, mit deren Hilfe unter den gegebenen Verhältnissen zwischen zu Unrecht und zu Recht unterdrückten bzw. geächteten Indivi-

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dualitäten unterschieden werden kann. Im Unterschied zur aristokratischen Variante wird die avantgardistische Variante des partikularistischen Individualismus allerdings mit ihrer universalistischen Programmatik behaupten, daß unter den von ihr projektierten, zukünftigen gesellschaftlichen Bedingungen das Problem moralisch-ethisch minderwertiger bzw. antisozialer Individualität keine Rolle mehr spielen wird. D. h. die notwendig objektivistische Bestimmung ethisch wertvoller, achtbarer und gelungener Individualität beglaubigt sich einerseits wiederum aus dem sozialutopischen Zukunftsentwurf, und nicht, wie beim aristokratischen Individualismus, unter Berufung auf außer- bzw. vorgesellschaftliche Eigenschaften und Merkmale von höherwertigen Individuen. Andererseits wird diese Sozialutopie und die ihr eingeschriebene Konzeption gelungener Individualität bereits jetzt von der Avantgarde, in sozialexperimentellen Formen, vorwegnehmend verwirklicht. Dadurch lebt die Avantgarde der Masse die gelungene Individualität vor, und es kommt ihr, ihrem Selbstverständnis zufolge, die Aufgabe zu, die Masse auch in diesem Sinne zu erziehen, wie etwa Bruno Wille dies bereits in seinem Buchtitel556 programmatisch formuliert. Mit der avantgardistischen Doppelstrategie von ‚beispielhaftem Vorleben von‘ und ‚Erziehung zu‘ gelungener Individualität entsteht unter dem individualistischen Gesichtspunkt allerdings das Problem, wie es sich vermeiden läßt, daß die beispielhafte Individualität der Wenigen von den Vielen nicht bloß kopiert oder diesen gar oktroyiert wird. ee) Relationen, Mischungen, Schlüsse Auf der Ebene der Idealtypologie lassen sich der aristokratische und der avantgardistische Individualismus als die beiden revolutionären Gegenpole fassen, weil sie sich jeweils unter Berufung auf eine objektivistisch gerechtfertigte – anthropologisch, geschichtsphilosophisch, psychologisch usw. – bessere moralisch-ethische Ordnung gegen diejenige der bestehenden Gesellschaft richten, die dafür abgelehnt wird, daß aufgrund der in ihr herrschenden, nivellierenden oder repressiven Moral wertvoller Individualität nicht die gebührende Wertschätzung und Selbstverwirklichungschance zuteil wird. Auf der gleichen Ebene lassen sich der elitaristische und der nonkonformistische Individualismus als die beiden affirmativen Gegenpole fassen, weil sie sich in der Beglaubigung ihrer moralisch-ethischen Ansprüche auf die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse stützen, entweder auf die gesellschaftlich anerkannte Position von Führungsgruppen oder auf das reale, selbstgewählte oder zugewiesene Randgruppendasein. Diese beiden Positionen leiten ihren überlegenen Individualitätsanspruch somit aus der 556

Beiträge zur Pädagogik des Menschengeschlechts.

5. Typologie des normativen Individualismus

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herrschenden moralisch-ethischen Ordnung und der aus ihr folgenden Verteilung von sozialer Achtung und Ächtung ab: die einen als Leistungsträger, die anderen als Außenseiter; auch wer sich als Normverletzer definiert, braucht bekanntlich die Norm zur Bestätigung seines Selbstverständnisses. Während also die revolutionären Typen des Individualismus sich mit objektiven Gegenentwürfen zur bestehenden Ordnung legitimieren, beglaubigen sich die affirmativen Typen des Individualismus mittels der Faktizität gesellschaftlicher Strukturen und Praktiken. Realtypisch kommt es zu verschiedenen Mischungsverhältnissen der reinen Typen, wobei sich insbesondere auch die beiden revolutionären mit den beiden affirmativen Typen mischen. Letzteres erklärt sich einerseits aus dem semantischen Legitimationsbedarf der affirmativen Typen, die zur kommunikativen Rechtfertigung ihre sozialen Positionen und Praktiken von Zeit zu Zeit auf von der Faktizität der Verhältnisse unabhängige Fremdreferenzen rekurrieren.557 Andererseits müssen bekanntlich auch revolutionäre Positionen von Zeit zu Zeit empirische Erfolge und Aktivitäten zur Bekräftigung ihrer Ansprüche vorweisen können.558 Im vorliegenden empirischen Material läßt sich schließlich, insbesondere in der Boheme, eine Affinität 557 Ab und an werden Leistungs- und Erfolgskriterien reflexiv in Frage gestellt und Provokationen um der Provokation willen nicht goutiert. 558 Die hier gewählte Unterscheidung von ‚revolutionär vs. affirmativ‘ entspricht also nicht dem politischen Links-Rechts-Schema, sondern eher Karl Mannheims Unterscheidung zwischen ‚utopisch‘ und ‚ideologisch‘ (vgl. Mannheim (1929), S. 169 ff.), wobei das ‚Utopische‘, im Sinne wirksamer Seinstranszendenz, der revolutionären Position entspricht, das ‚Ideologische‘, im Sinne einer faktisch die gegebene gesellschaftliche Ordnung nicht transzendierenden Seinsauslegung, der affirmativen Position. Das Rechts-Links-Schema dagegen, das sich am geläufigsten und überzeugendsten aus der programmatischen Haltung zum Universalismus der ‚Ideen von 1789‘ gewinnen läßt, zugespitzt auf die Frage nach der allgemeinen Gleichheit aller Menschen (vgl. Breuer (1999), S. 13 ff.), läßt sich am ehesten auf die Unterscheidung ‚aristokratisch vs. avantgardistisch‘ auftragen, aber nur in der Hinsicht, daß im engeren Sinne aristokratische, auf Ungleichheit abzielende Positionen per definitionem nicht ‚links‘ sind, während der Avantgardismus generell zwar empirisch häufiger unter der Flagge der politischen Linken segelt, dabei aber historisch bekanntlich oft genug in die Fahrwasser der politischen Rechten geriet (dann allerdings nicht als individualistischer Avantgardismus, der ja programmatisch dem ‚linken‘ Universalismus verpflichtet ist), beispielsweise in Gestalt der nationalrevolutionären Strömungen der ‚Konservativen Revolution‘ im Deutschland der Zwischenkriegszeit. Geht man davon aus, daß der Aristokratismus auf die gesellschaftliche Durchsetzung und Stabilisierung der Unterscheidung der Wenigen von den Vielen zielt, der Avantgardismus dagegen auf deren Überwindung, schließen sich zwar beide Typen gegenseitig aus, aber das bedeutet nicht, daß Avantgardismus deshalb politisch immer ‚links‘, also programmatisch auf universalistische Gleichheit ausgerichtet sein muß; er kann, wie beispielsweise einige Positionen der extremen Rechten der Weimarer Zeit, nach nationalistischen oder rassistischen Kriterien auf eine ‚völkisch‘ egalitäre ‚Volksgemeinschaft‘ zielen, die intern die Unterscheidung von

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der beiden revolutionären Typen, des aristokratischen und des avantgardistischen Individualismus, zum nonkonformistischen Individualismus konstatieren, was sich damit erklären läßt, daß letzterer in seinen Distinktions-Praktiken die seinerzeit gegenwärtige, konventionalistische Ordnung symbolisch in Frage stellte. Der elitaristische Individualismus dagegen verbindet sich mit seiner Betonung von ‚Leistung‘ und ‚Verdienst‘ zur Rechtfertigung von gegebener sozialer Ungleichheit leichter mit aristokratischen als mit avantgardistischen Positionen. Die beiden Gegenpole des affirmativen Individualismus schließlich lassen sich in realtypischer Vermischung beispielsweise in den routinemäßigen Provokationen und erwartbaren (und erwarteten) Konventionsverletzungen von dafür (auch pekuniär) hochgeschätzten, etablierten Künstlern beobachten. Bezogen auf den historischen Kontext der Stirner-Renaissance, handelt es sich allerdings rückblickend, das ist im Hinblick auf die Generalthese der vorliegenden Studie (und nicht zuletzt auf die Überschrift des Schlußkapitels) zu betonen, bei allen diesen typologisch aus dem analysierten Material gewonnenen Varianten des normativen Individualismus um avantgardistische Semantiken: um die – nach einem Jahrhundert vertraut und selbstverständlich erscheinenden – Semantiken von Weltdeutungs-Avantgarden der vorletzten Jahrhundertwende. Denn unter den soziokulturellen Bedingungen des Wilhelminischen Kaiserreichs war nicht nur der normative Individualismus per se, insbesondere seine universalistische Form, eine avantgardistische Position, wie an den starken Widerständen einiger der im Kontext der Stirner-Renaissance behandelten Autoren ersichtlich ist – und an der Tatsache dieser Renaissance selbst –, sondern, neben dem avantgardistischen Individualismus im engeren Sinne, auch seine hier als aristokratisch, elitaristisch und nonkonformistisch typisierten Varianten, in denen er gegen die kulturelle Hegemonie des Besitzbürgertums, die Reste ständischer Sozialordnung und die gesellschaftliche Dominanz einer konventionalistischen bürgerlichen Moral antrat und deren soziale Exklusionsmechanismen in Frage stellte. Zusammenfassend und mit Blick auf die Probleme der Je-Einzigkeit kann man also bezüglich der jeweils beanspruchten Geltungsbereiche und die argumentative Relationierung von ‚Individuum‘ und ‚Individualität‘ zwischen zwei Formen des normativen Individualismus unterscheiden, dem universalistischen Individualismus und dem partikularistischen. Innerhalb der erstgenannten Form lassen sich typologisch ‚objektivistische‘ und ‚relativistische‘ Varianten bzw. Strategien der Behandlung von (Wert-)Konflikten unterscheiden: während die objektivistische Variante den Konflikt zwiWenigen und Vielen überwindet, aber ein universalistisches Verständnis von Gleichheit ablehnt (vgl. Breuer (1999), S. 17 ff.).

5. Typologie des normativen Individualismus

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schen zwei individuellen Positionen nach Maßgabe einer überindividuellen normativen Vorgabe löst, muß die relativistische Variante auf eine normative Stellungnahme verzichten und die Lösung der sozialen Realität und ihren Konfliktbearbeitungsmechanismen – Bürgerkrieg, demokratische Verfahren, Verhandlungen, Machtkämpfe usw. – überantworten. In dieser letztgenannten Variante wird damit der im engeren Sinne normative Anspruch eines Individualismus als moralisch-ethische Position konterkariert; die objektivistische Variante dagegen bleibt als normative Theorie in sich konsistent, wirft aber Stirner-interpretatorisch Fragen nach dem Verhältnis der Je-Einzigen zu den objektiven Wert-Vorgaben auf. Sowohl mit der oben behandelten kontingenzbewußten Reflexion der Wert-Objektivität im Sinne des liberalen Ironismus und dessen pragmatischen, potentiell heroischen Konsequenzen als auch mit den für den relativistischen Individualismus naheliegenden politisch-theoretischen (z. B. demokratietheoretischen oder sozial-programmatischen) Anschlußmöglichkeiten rückt, jenseits der rein moralisch-ethischen Betrachtungsweise des normativen Individualismus, die Frage nach der im folgenden Kapitel zu behandelnden sozialen Welt der Je-Einzigen ins Blickfeld. Die zweite normativ-individualistische Grundform, der partikularistische Individualismus, löst das Konfliktproblem durch die Hierarchisierung bzw. den Ausschluß von Individuen. Als berechtigt gelten ihm jeweils nur diejenigen Ansprüche, die von bestimmten Gruppen zurechenbaren, bestimmten objektivistischen Individualitätsverständnissen entsprechenden Individuen erhoben werden. Innerhalb dieser Form des normativen Individualismus lassen sich typologisch, je nach Selbstverständnis und Beglaubigungsstrategien der sozialen Trägergruppen, aristokratische, elitaristische, nonkonformistische und avantgardistische Varianten unterscheiden.559 In Stirner-interpretatorischer Betrachtung teilt die aristokratische Variante des partikularistischen Individualismus mit der objektivistischen Variante des universalistischen Individualismus das Problem der Wert-Objektivität; die elitaristische Variante steht unter einem schwerlich ausräumbaren Ideologie-Verdacht; die nonkonformistische Variante verbleibt in Abhängigkeit zum Konformismus der ‚Besessenen‘ und dessen Entrüstungs- oder Diskriminierungsbereitschaft und neigt überdies zur Inflationierung ihrer Distinktionspraktiken; 559 Will man in Stirners Terminologie den jeweiligen Typus des partikularistischen Individualismus mit bevorzugten Stichworten kennzeichnen, so läßt sich dem aristokratischen Individualismus der ‚machtvolle‘ Einzige und ‚Eigner‘ zuordnen; dem elitaristischen Individualismus die Konzeption des ‚Krieges Aller gegen Alle‘ und der ‚Egoismus‘; mit dem nonkonformistischen Individualismus verbindet sich am stärksten die ‚Empörung‘ gegen ‚Besessenheit‘ bzw. ‚das Heilige‘; und das Anliegen des avantgardistischen Individualismus findet sich am prägnantesten in der Figur des ‚Vereins‘ und in der Betonung der ‚Eigenheit‘ wieder.

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die avantgardistische Variante schließlich verläßt aufgrund ihrer sozial-programmatischen Beglaubigungsstrategie, darin inhaltlich auf den universalistischen Individualismus bezogen, das Feld der rein moralisch-ethischen Reflexion von Je-Einzigkeit hin zur Konzeption der (zukünftigen) sozialen Welt der Je-Einzigen. Die sozialen Welten der Je-Einzigkeit, wie sie in politischen und anderen weltanschaulichen Programmen projektiert und sozialdiagnostisch beschrieben wurden, sind Thema des folgenden Kapitels.

VII. Der Egoismus des Einzigen und sein Verein: soziale Bewegung, politisches Projekt, Ideologie und Gesellschaftsdiagnose vor und zwischen den Weltkriegen Es rettet uns kein höh’res Wesen, Kein Gott, kein Kaiser noch Tribun. Uns aus dem Elend zu erlösen, Das können wir nur selber tun. Leeres Wort von des Armen Rechte, Leeres Wort von des Reichen Pflicht! Unmündig nennt man uns und Knechte, Duldet die Schmach nun länger nicht! Die Internationale1 Ich kannte Stirner gut, wir waren Duzbrüder, er war eine gute Haut, lange nicht so schlimm, wie er sich in seinem ‚Einzigen‘ macht [. . .] Die harmlose, nur etymologische Anarchie (d. h. Abwesenheit einer Staatsgewalt) von Proudhon hätte nie zu den jetzigen anarchistischen Doktrinen geführt, hätte nicht Bakunin ein gut Teil Stirnerscher ‚Empörung‘ in sie hineingegossen. Infolgedessen sind die Anarchisten denn auch lauter ‚Einzige‘ geworden, so einzig, daß ihrer keine zwei sich vertragen können. Friedrich Engels2

1. Die je-einzige Struktur der sozialen Welt Als zentrales systematisches Anliegen der im vorigen Kapitel zum Thema ‚Stirner und Nietzsche‘ analysierten Texte und der darin vorgelegten Deutungen des Einzigen erwies sich die Frage nach dem Verhältnis des als gesellschaftliche und weltanschauliche Tendenz verstandenen Individualismus zum moralisch Richtigen und ethisch Werthaften. Bei aller Verschiedenheit der darauf gegebenen Antworten, der in diesem Zusammenhang artikulierten Einschätzungen Stirners (und Nietzsches) und der von den je1 2

2. Strophe, zit. n. Theimer (1988), S. 94. Engels (1889), S. 292 f. – H. i. O.

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VII. Der Egoismus des Einzigen und sein Verein

weiligen Interpreten bezogenen Positionen stand in Stirner-rezeptionsgeschichtlicher Perspektive stets das Problem der ethisch-moralischen Implikationen des nach dem Interpretationsschema der Je-Einzigkeit gedeuteten Individualismus im Mittelpunkt der Diskussionen: Woraus bezieht ein jeeinziges Individuum, das sich selbst und seiner Individualität den höchsten Wert zumisst, die Maßstäbe zur Orientierung seines eigenen Handelns und zur Beurteilung des Handelns anderer je-einziger Individuen? Ist für den Individualismus Individualität als solche ein Wert, und ist deshalb alles, was als Entfaltung oder Verwirklichung von Individualität verstanden wird, gleichermaßen – unterschiedslos – gerechtfertigt; oder sind bestimmte Individualitäten wertvoller als andere, und wie ließe sich dies erkennen und durchsetzen bzw. rechtfertigen? Und welche Konsequenzen ergeben sich aus all dem für das Verhältnis von Einzigen zu den sozialen Anderen und wie sind deren Handlungen im Blick auf die je dominanten Konventionen gesellschaftlicher Sittlichkeit zu bewerten? Der Einzige steht demnach als Individualist für ein breites und heterogenes Spektrum von ethisch-moralischen Einstellungen und sozialphänomenologischen Typen: für moralischen Nihilismus und A(nti)moralität, für einen ethisch anspruchsvollen Aristokratismus und Nonkonformismus, für die subkulturellen Lebensformen und Entwürfe von Außenseitern und Avantgarden, für einen moralischen Postkonventionalismus und universalistische Ambitionen auf eine ethische Erneuerung, aber auch für ethische Indifferenz, Liberalität und Toleranz. Bei diesen Auseinandersetzungen mit dem Individualismus ging es immer um die moralisch-ethische Infrastruktur des Einzigen, den Stellenwert des moralisch Richtigen und ethisch Werthaften in seinem Selbstverständnis und die daraus sich ergebenden Konsequenzen für sein Verhältnis zum sozialen Anderen. In der Sozialdimension, im Verhältnis von Ego und Alter, war dementsprechend entscheidend, ob ein Individualist im Anderen dessen moralische Subjektivität anerkennt, dessen Individualität wertschätzt, dessen physische und psychische Integrität achtet – oder nicht. Der Individualismus und der Einzige wurden im Stirner-Nietzsche-Diskurs unter dem Aspekt einer Konzeption des Guten diskutiert, für deren Beurteilung auf moralische Akzeptabilität die Konsequenzen in der Sozialdimension zwar entscheidend sind; über die ethisch-moralische Problematisierung und ihre zeitdiagnostische Illustration hinaus wurde aber die gesellschaftliche Ausgestaltung der Ego-Alter-Beziehung nicht eigens thematisiert. Es ging bei der anhand des Stirner-Nietzsche-Diskurses betrachteten Individualismus-Debatte der Jahrhundertwende um den Einzigen als Individuum in einer Welt von Einzigen; also: um den Je-Einzigen in ethisch-moralischer Perspektive, nicht um die soziale Welt der Je-Einzigen im Ganzen, also die Je-Einzigkeit als Gesellschaftskonzeption. In diesem Sinne hatte sich etwa der erklärte Propagandist eines aristokratischen Individualismus Anselm Ruest dezidiert geäußert:

1. Die je-einzige Struktur der sozialen Welt

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„[D]er Individualismus, sich scheinbar an viele wendend, oder gar wie bei Stirner zu allen redend, ist doch kein soziales Programm, und indem eine Zeit ihn ergreifen will, löst sie ihn notwendig aus dem einzigen ihm möglichen Elemente, der originalen Schöpferseele, und macht ihn, als Ziel gesellschaftlicher Bestrebungen etwa, notwendig wieder zu etwas Totem, ja, gerade Bekämpfenswertem.“3 Im Folgenden geht es genau um diesen, von Ruest und anderen Stirner (-Nietzsche)-Interpreten ausgeblendeten Aspekt der Je-Einzigkeit, also die soziale Welt der Je-Einzigen bzw. den Individualismus des Einzigen als ‚soziales Programm‘ oder als Gesellschaftskonzeption. Für die diese behandelnden Stirner-Interpretationen ist auf der textevidentiellen Ebene von Stirners Einzigem der ‚Verein der Egoisten‘ eine zentrale Figur. Die interpretatorische Bezugnahme auf den Verein löst die in der Figur des ‚Einzigen‘ angelegte Ambivalenz zwischen All-Einzigkeit und Je-Einzigkeit von vorneherein zugunsten letzterer auf. Daß Stirner den von ihm abgelehnten sozialen Formen und Institutionen – ‚Gesellschaft‘, ‚Partei‘, ‚Kirche‘, ‚Familie‘, ‚Nation‘, ‚Staat‘, ‚Recht‘, ‚Moral‘ usw. – die soziale Form des ‚Vereins‘ entgegensetzt,4 können seine Interpreten als unumstößlichen Beweis dafür anführen, daß Stirner den Einzigen nicht als All-Einzigen in einer Welt der Nicht-Einzigen konzipiert hat, sondern eine Pluralität von Einzigen vor Augen hatte. Diejenigen Textevidenzen, die nach dem Interpretationsschema der All-Einzigkeit als offenkundige Belege etwa für den Solipsismus des Einzigen oder generell für seine Anti-Sozialität gelten, werden in dem durch die Figur des ‚Vereins‘ beglaubigten Interpretationsschema der Je-Einzigkeit entweder ausgeblendet, oder aber – wie dies bereits bei den ‚Stirner-Freunden‘ im vorigen Kapitel zu beobachten war – im Lichte der Je-Einzigkeit neu interpretiert. Ob diese in der Konzeption des ‚Vereins‘ greifbare Pluralität von Einzigen partikularistisch als aristokratische oder sonstige Elite zu verstehen ist oder ob sie universalistisch die gesamte Menschheit umfassen können soll, ist dann eine weitere Frage. Genauso bleibt dabei immer noch ungeklärt, wie der ‚Verein‘ genauer vorgestellt werden soll, der ja im Text von 1844 vor allem dadurch charakterisiert wird, was er nicht ist, analog dem Einzigen selbst. So wie dieser dadurch sein Profil erhält, daß er nicht ‚Besessener‘ ist, also nicht Bürger, Liberaler, Kritiker usw., ist der Verein vor allem dadurch gekennzeichnet, daß er nicht Staat, nicht Partei, nicht Gesellschaft usw. ist. Damit bleibt immer noch genug Interpretationsspielraum, um den Stirnerschen Verein entweder als Beschreibung von Aspekten der gegenwärtigen Gesellschaft oder als Projektentwurf einer zukünftigen Gesellschaft oder auch als Organisa3 4

Ruest (1906), S. 332. Vgl. Stirner, EE, S. 196, 233, 240 f., 245 f., 255, 260 ff., 287, 306, 342 ff.

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VII. Der Egoismus des Einzigen und sein Verein

tionsmodell auf dem Wege dorthin zu deuten. Vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Evidenzen und semantischen Plausibilitätsbedingungen konnte man den Verein dementsprechend als Beschreibung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft deuten – und gegebenenfalls, vor allem in Verbindung mit der sozialdarwinistisch deutbaren Figur des ‚Krieges Aller gegen Alle‘ als affirmatives ideologisches Konstrukt kritisieren. Man konnte ihn aber auch, in Verbindung mit der Figur der ‚Empörung‘ und einem sozialrevolutionären Verständnis des ‚Krieges Aller gegen Alle‘,5 als antikapitalistischen, antibürgerlichen Alternativentwurf, z. B. als anarchistische Utopie oder als Konzeption einer sozialen Bewegung lesen. Zeitdimensional werden Je-Einzigkeit und Verein also in unterschiedlicher Weise entweder als Beschreibung gegenwärtiger Sozialformen gedeutet oder als projektierter Entwurf einer zukünftigen Gesellschaft. Der Verein erscheint dann entweder als das, was bereits ist, oder als etwas, was werden wird bzw. herbeigeführt werden soll. Sachdimensional werden der Einzige und sein Verein typischerweise verschiedenen politisch-ideologischen oder weltanschaulichen Zusammenhängen zugeordnet, die mit der zeitdimensionalen Alternative in unterschiedlicher Weise kombinierbar sind: der marxistische Ideologiekritiker beispielsweise, der den Verein der ideengeschichtlichen Gruppe anarchistisch-utopischer Zukunftsentwürfe einreiht, erkennt in ihm dennoch den – freilich ideologisch verzerrten – Ausdruck der gegenwärtigen Gesellschaft;6 und nicht jeder Interpret, der den Verein als Projektentwurf einer ganz anderen gesellschaftlichen Zukunft oder als eine diese erwirkende soziale Bewegung deutet, ordnet ihn dem Anarchismus zu.7 Generelle Korrelationen zwischen Zeit- und Sachdimension lassen sich auch nicht bezüglich der Bewertung durch die jeweiligen Interpreten feststellen. Daß die Deutung des Vereins im Sinne eines gegenwartskritischen Zukunftsentwurfs8 nicht mit einer zustimmenden Haltung einhergehen muß, legt bereits der Umstand nahe, daß der Verein häufig als anarchistische Sozialutopie verstanden wird9 – und sich beim Anarchismus bekanntlich die Geister scheiden; aber auch diejenigen Interpreten, die die gegenwartsdiagnostische Bedeutung des Vereins betonen, reduzieren ihn deswegen nicht notwendig auf eine affirmative Ideologie.10 Sozialdimensional schließlich geht es weiterhin um Deutungen nach dem Interpretationsschema der Je5

Vgl. Stirner, EE, S. 286 ff., 313 ff., 354 ff. Siehe z. B. im folgenden Abschnitt die Ausführungen zu Franz Mehring und Eugen Dietzgen. 7 Beispielsweise Max Adler, siehe unten. 8 Etwa bei Max Nettlau, siehe unten. 9 Beispielsweise in den im folgenden Abschnitt zu behandelnden Interpretationen Rudolf Stammlers und Georg Adlers. 10 Siehe im folgenden die Ausführungen zu Hans Sveistrup. 6

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Einzigkeit, also um symmetrische Konzeptionen der Sozialdimension, die auf beiden Seiten der sozialdimensionalen Unterscheidung von Ego und Alter einen ‚Einzigen‘ verorten – und, davon ausgehend, betrachten, wie sich diese Relation gestaltet und was dies für den Einzigen – bzw. die JeEinzigen – bedeutet. Thema des vorliegenden Kapitels sind also solche Deutungen Stirners innerhalb des Interpretationsschemas der Je-Einzigkeit, die im Einzigen utopische oder sozialphilosophische, soziologische oder sozialwissenschaftlich anschlußfähige, politisch-ideologische oder anderweitig weltanschauliche Gesellschaftsbeschreibungen beobachten. Anders im vor allem durch ethisch-moralische Fragestellungen geprägten Stirner-Nietzsche-Diskurs, der den Einzigen im Verhältnis zum Anderen (Einzigen) primär nach seiner ‚Innenseite‘ – nach Haltungen, Einstellungen, Orientierungen, Motivlagen usw., die seinen sozialen ‚Verkehr‘ und sein Selbstverhältnis bestimmen – betrachtete, wird hier die Je-Einzigkeit auch im Hinblick auf die ‚Außenbeziehungen‘ der Einzigen miteinander thematisiert und problematisiert, also die Struktur ihres sozialen Verkehrs. Dem Interesse an der Anatomie moderner Individualität entsprechend – wie sie in der wissenssoziologischen Beobachtung von in Individualidentitätsangeboten kristallisierter Individualitätssemantik erkennbar ist –, geht es auch bei den folgenden Analysen um die jeweilige Konzeption des Einzigen, im Kontext der jeweils mit ihm verbundenen sozialen Arrangements. Die Frage ist dann, was es für den Einzigen bedeutet, wenn er als Einziger im ‚Verein‘ mit Einzigen gedeutet wird. a) Karl Löwith Das, was im Interpretationsschema der All-Einzigkeit nicht in den Blick kommen konnte bzw. als Möglichkeit ausgeschlossen wurde, und was noch in den Beiträgen zum Stirner-Nietzsche-Diskurs als offene Frage behandelt wurde, wird in den folgenden Texten prinzipiell zur – wiederum unterschiedlich interpretierten – Selbstverständlichkeit: Der Einzige erscheint hier als Individuum in der Rolle des Mitmenschen, wie es Karl Löwith11 in seiner ebenso betitelten Habilitationsschrift von 1928 formuliert. An Löwiths kurzer Stirner-Exegese, mit der der Heidegger-Schüler zugleich den Grund legt für die existentialistische Deutungstradition des Einzigen, die dessen Bild seit der Jahrhundertmitte maßgeblich mitbestimmt,12 läßt sich 11

1897–1983. Vgl. z. B. Anders (1947); Arvon (1954); Paterson (1971); Holz (1976); Schaefer (1989); vgl. auch Löwith (1941) und Löwith (1962a) sowie jüngst Schulte (2001), S. 124 ff.; siehe auch im folgenden die Ausführungen zu Mautz (1936) sowie unten, VIII. 1. und 3 a). 12

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VII. Der Egoismus des Einzigen und sein Verein

verdeutlichen, welche Probleme der sozialen Konzeptualisierung von JeEinzigkeit eingeschrieben sind, also einer Pluralität von einander als solche wissenden Einzigen. Während diesbezüglich die für die All-Einzigkeit13 spezifische Problematik in ihrer Kontraintuitivität, der Unwahrscheinlichkeit ihrer Akzeptanz und ihrer Anti-Sozialität bestand, geht es auf dem Niveau der Je-Einzigkeit um das Problem, ob, wie und in welchem Ausmaß Einzige in soziokultureller Hinsicht überhaupt Gemeinsamkeiten haben können, im Hinblick zunächst auf sprachliche Verständigung, aber auch auf gemeinsame Weltdeutungen, Interessen und Handlungsorientierungen. Gerade die letztgenannten potentiellen Gemeinsamkeiten sind, wie noch genauer zu betrachten sein wird, von erheblicher Bedeutung bei der konkreteren Konzeptualisierung des ‚Vereins‘, soweit dieser z. B. als weltanschauliche Gemeinschaft oder als durch bewußte Willensentscheidungen der Je-Einzigen zustande kommende und auf diesen beruhende soziale Organisationsform gedeutet wird. In Löwiths Habilitationsschrift spielt die Frage nach dem ‚Verein‘ allerdings keine Rolle. Er setzt in seiner Stirner-Interpretation auf der fundamentaleren Ebene des Problems der sprachlichen Vermittelbarkeit von Einzigkeit, der Mit-Teilbarkeit des ‚Unteilbaren‘ – der Individualität des Einzigen und seiner mit keinem Anderen geteilten Perspektive – an. Diese Inkommunikabilität in letzter Konsequenz dargestellt zu haben, indem er den Begriff des Einzigen ausdrücklich als „Phrase“ einführt, die die Un(ver)mittelbarkeit der individuellen Existenz bezeichnet, ohne diese ausdrükken zu können, ist Löwith zufolge „Stirners eigenstes und wesentlichstes Verdienst“:14 „Gleichzeitig mit Kierkegaard hat Stirner in seinem Werk ‚Der Einzige und sein Eigentum‘ den Einzigen zur Grundlage seiner nihilistischen Philosophie gemacht“ und damit den „formale[n] und radikale[n] Begriff der Ichlichkeit“ herausgestellt,15 die die unvergleichliche, unvermittelbare und unvertretbare Wirklichkeit der individuellen Existenz ausmacht. Entscheidend ist hier, daß Löwith den Stirnerschen Begriff der „Einzigkeit“ nicht – wie ‚Nihilismus‘ und ‚Radikalität‘ vermuten lassen könnten – im Sinne etwa einer solipsistischen All-Einzigkeit deutet, sondern explizit als eine „Einzigkeit“ der „je Einzigen“ faßt,16 also im Interpretationsschema der Je-Einzigkeit. Der Einzige erscheint auf beiden Seiten der sozialdimensionalen Ego-Alter-Unterscheidung, er ist in seiner existentiellen Unver13 Also die Konzeption des Einzigen, der die Existenz anderer Einziger leugnet. Siehe auch oben, III. 1. und IV. 1. d). 14 Löwith (1928), S. 178 – H. i. O. – Zur Inkommunikabilität von Individualität und ihrer Kommunikation vgl. in wissenssoziologischer Perspektive auch Fuchs (1992) und Fuchs (1999); sowie, am Beispiel Novalis‘, Stulpe (2001). 15 Löwith (1928), S. 177 f. – H. i. O. 16 Löwith (1928), S. 178.

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gleichbarkeit ebenso Ich wie Du: „Die Entwicklung des Einzigen als eines Einzigen ist deine und meine Selbstentwicklung, eine ganz einzige Entwicklung, da deine Entwicklung durchaus nicht die meine ist. [. . .] Das Urteil: ‚du bist einzig‘ besagt daher nur: ‚du bist du‘; jedes weitere Prädikat würde schon nicht mehr das Subjekt in seiner Subjektivität ausdrücken.“17 Der Einzige ist „unaussprechlich“18 in seiner Individualität, und als „Einziger lebt ein jeder in der Welt als seiner einzigartigen Welt; [. . .] denn man lebt nicht nur mitten in der Welt, sondern ist selbst die Mitte seiner Welt.“19 Die Welt eines jeden Einzigen ist je auf diesen (ego-)zentriert, so daß die jeeinzige Welt im Ganzen als radikal dezentriert vorzustellen ist. Jeder Einzige hat in dieser Welt eine perspektivisch unvertretbare Welt für sich, und diese Welt ist sein im Titel von Stirners Buch genanntes „Eigentum“, das, Löwith zufolge, der mit dem Begriff des Einzigen nur formal bestimmten „Ichlichkeit“ eines jeden Individuums ihren „konkreten Inhalt gibt“.20 Die von Löwith herausgestellte perspektivische Unvertretbarkeit und sprachliche Unvermittelbarkeit verweist auf die spezifische Problematik in der Konzeption der sozialen Welt der Je-Einzigen: Bestand das Problem der All-Einzigkeit vor allem in der antisozialen Destruktivität und dem – durch charismatifikatorische Strategien begegneten – Stabilisierungsbedarf der sozialdimensionalen Asymmetrie zwischen dem Einzigen und den Nicht-Einzigen,21 so stellt sich in der symmetrischen Konzeption der Sozialdimension die Frage, wie die ‚je Einzigen‘ miteinander in einer gemeinsamen sozialen Welt – mit einer gemeinsamen Sprache, Wahrheit, sozialen Institutionen usw. – leben können sollen. Löwiths Antwort geht dahin, die existentielle Spannung zwischen der „Individualität“ und der „Personalität“ des Individuums zu betonen, in der das Weltverhältnis des Einzigen immer schon sein Verhältnis zur Mitwelt – zu den sozialen Anderen – einschließt.22 Der Einzige ist zwar einerseits, wie Stirner betont, in seiner Individualität mehr als bloß das, was er in seiner Personalität mit den Anderen teilt; aber ebenso ist er andererseits, und das hebt Löwith in seiner Stirner-Deutung hervor, mehr als bloß diese ungeteilte und nichtmitteilbare Individualität: durch seinen als sein Eigentum gegebenen konstitutiven Weltbezug ist er nämlich „Mitmensch“,23 der in der Welt des Anderen ebenso vorkommt, wie dieser in reziproker Weise in 17 18 19 20 21 22 23

Löwith (1928), S. 179. Löwith (1928), S. 179. Löwith (1928), S. 180 – H. i. O. Löwith (1928), S. 178. Siehe oben, III. 1. und 4. Löwith (1928), S. 180. Löwith (1928), S. 180.

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VII. Der Egoismus des Einzigen und sein Verein

seiner Welt. Und nur, weil dies so ist, läßt sich davon sprechen: „daß Stirner über den ‚Einzigen‘, der doch eine ‚absolute Phrase‘ ist, ein ganzes Buch schreiben konnte, beruht auch nur darauf, daß er ihn in seinem Verhältnis zur Welt, und das heißt vor allem zur Mitwelt, als Individualität einer Personalität, als ein Individuum in der Rolle des Mitmenschen bestimmt hat. Als existierendes Individuum eo ipso ein ‚Mitmensch‘ zu sein, diese fundamentale, schwere und schwierige ‚Rolle‘ zu haben und zu spielen – dieses ‚Spiel‘ macht den ‚Ernst‘ desjenigen ‚Lebens‘ aus, welches jeden lehrt, was er ist.“24 Die Existenz des Einzigen schließt sein Eigentum – seinen Weltbezug – als unveräußerlichen Bestandteil seiner Individualität mit ein, und daher befindet er sich als existierendes Individuum immer schon und unausweichlich in der ‚Rolle des Mitmenschen‘. Da die Auslegung dieser ‚Rolle‘ – die Interpretation des ‚Einzigen‘ – dieser Lesart zufolge einem jedem Individuum unvertretbar von seinem Leben aufgegeben wird, kann auch die Beschreibung der Je-Einzigkeit nicht über die formale Bestimmung dieser polyzentrischen Grundstruktur miteinander verschränkter Weltmittelpunkte hinausgehen. Und Löwiths Buch endet mit den zuletzt zitierten Sätzen. An dieser Struktur wird genau die Art von existentiellem Realismus deutlich, die die Je-Einzigkeit vor dem Eskapismus der All-Einzigkeit auszeichnet. Die kränkende – kosmologische, biologische und psychologische, sozial im Wissen um jene Polyzentrizität erfahrbare – Dezentrierung,25 vor der der Eskapismus der All-Einzigkeit zurückweicht und die er in seiner regressiven Ego-Zentrizität (bzw. Ego-Re-Zentrierung) leugnet, wird im Realismus der Je-Einzigkeit akzeptiert und damit zugleich durch (Mit-)Weltgewinn kompensiert.26 Inbegriff dieses existentiellen Realismus ist die Einsicht, daß in und mit der in der je eigenen Perspektive gegebenen Welt der Andere – mit seiner je eigenen Perspektive – immer schon gegeben ist; und daß, weil diese Welt für die je eigene Existenz konstitutiv ist, diese Existenz nur in reziproker perspektivischer Verschränkung mit derjenigen des in dieser Welt schon daseienden Anderen, die Welt also nur als gemeinsame, soziale Mitwelt besteht.27 ‚Je-Einzigkeit‘ bezeichnet in der symmetrischen Konzeption der Sozialdimension – Ego und Alter sind gleichermaßen je einzig – den Realismus, der in der Anerkennung dieser Realität und ihrer reflexiven Berücksichtigung liegt. 24

Löwith (1928), S. 180 – H. i. O. Siehe oben, II. 2. Siehe auch II. 3. und 4. sowie III. 1. und 2. b). 26 Vgl. auch Blumenberg (1986), S. 84, 299 ff., bes. S. 305 f. 27 „video me videri“ (Blumenberg (1986), S. 305 – H. i. O.). „Es ist der Verzicht darauf, das Maß aller Dinge zu sein, was das Subjekt den Sinn seiner Existenz entdecken läßt“ (Blumenberg (1986), S. 306). 25

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‚Je-Einzigkeit‘ bezeichnet eine existentielle Symmetrie in der sozialdimensionalen Relation von Ego und Alter, d. h. daß prinzipiell alles, was für ein Individuum in seiner Einzigkeit bzw. Individualität gilt, auch für alle anderen Individuen, also für jedes Individuum in seiner jeweiligen Individualität, also Je-Einzigkeit, gelten können muß; die für die All-Einzigkeit typische Selbstexemption oder grandios-paranoide Überhöhung Egos und Abwertung Alters28 – bis hin zur Vernichtung – ist also in der Je-Einzigkeit ausgeschlossen. Ego und Alter stehen hier in einem gegenseitigen Anerkennungsverhältnis ihrer jeweils eigenständigen Existenz – einer Existenz, die im Blick des je Anderen bestätigt wird, aber auf beiden Seiten dessen konkrete Anwesenheit überdauert: Die Sicht auf den und das Gesehenwerden von dem je Andern wird dadurch zum Inbegriff des Weltbezuges, daß dieser Andere unabhängig von der zeitlich begrenzten, wechselseitigen Inblicknahme existiert; Welt ist daher nur als Mitwelt zu haben.29 Dagegen bedeutet die spezifisch all-einzige Selbst-Welt-Verschmelzung und Negation der existentiellen Selbständigkeit des Anderen, die grandios-kosmische EgoZentrierung bei komplementärer Leugnung der weltkonstitutiven Bedeutung Alters, die existentielle Entwertung oder Vernichtung des Andern, immer einen partikularen oder totalen Weltverlust. Als Interpretationsschema bietet die Je-Einzigkeit – wie im vorangegangenen Kapitel schon deutlich wurde, und wie dies mutatis mutandis auch für das Interpretationsschema der All-Einzigkeit zu beobachten war – eine Vielfalt von Ausgestaltungsmöglichkeiten, die sich – trotz ihrer sozialdimensionalen Symmetrie und der ihr eingeschriebenen reziproken Anerkennungsstruktur – sozialtheoretisch oder politisch-programmatisch nicht notwendig als dezidiert egalitaristische Konzeptionen konkretisieren müssen. Weder erfordert das je-einzige Interpretationsschema notwendig substantiell egalitäre Sozialmodelle, noch schließt es radikal anti-egalitäre Konzeptionen aus (wie beispielsweise bei den partikularistischen Individualismus-Typen zu sehen war),30 denn es läßt offen, in welcher Hinsicht und in welchem Maße eine gegenseitige Anerkennung von Ego und Alter jenseits derjenigen der basalen sozialdimensionalen Symmetrie und der wechselseitigen existentiellen Eigenständigkeit erforderlich bzw. wünschenswert ist. Wenn 28 Siehe oben, IV. 1. c) und d), 2. c) und d) sowie V. 3. a) dd). Siehe auch III. 1. b) und 3. 29 Darauf gründet ihr spezifisch realer Charakter, ihre Widerständigkeit, deren Erfahrung im Realismus akzeptiert wird und diesen veranlaßt, Allmachtsphantasien zu verwerfen – oder sie eben nur als (deutlich gekennzeichnete) Phantasien gelten zu lassen: in Kunst, Fiktion und Traum; diese sind die realitätskompatiblen Refugien des Eskapismus – oder die Domänen eines realistischen Eskapismus. Siehe hierzu auch oben, II. 3. 30 Siehe oben, VI. 5. b).

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beispielsweise vom normativ-individualistischen Standpunkt der Anspruch auf individuelle Selbstverwirklichung erhoben wird, so impliziert das je-einzige Interpretationsschema, daß in die Reflexion mit einzubeziehen ist, was passiert und wie damit umzugehen ist, wenn jedes Individuum diesen Anspruch geltend macht; aber damit ist noch nichts darüber gesagt, ob den verschiedenen Individualitäten dabei die gleiche ethische Dignität zugestanden werden soll oder nicht, wie also die konkreten Anerkennungsverhältnisse strukturiert sind: Ego und Alter müssen sich nicht als ethisch gleichwertig anerkennen, um sich wechselseitig als existentiell eigenständig zu wissen. Gerade darauf beruht ja auch die Möglichkeit von sozialen Kämpfen und anderen Konflikten zwischen Je-Einzigen. Daß die Möglichkeit von Konflikten eine zentrale Fragestellung innerhalb des Interpretationsschemas der Je-Einzigkeit ist – komplementär zur Frage nach der Möglichkeit von Gemeinsamkeiten zwischen den Je-Einzigen –, wurde an den moralphilosophisch-ethischen Überlegungen des normativen Individualismus und seinen typologisch unterschiedenen Lösungsstrategien bereits deutlich (siehe oben, VI. 5.). Entsprechendes gilt auch für die im Folgenden zu behandelnden Interpretationen von Je-Einzigkeit, die diese nicht unter dem Aspekt einer im engeren Sinne moralisch-ethischen Konzeption betrachten, sondern als ideologisch-weltanschauliches oder theoretisch-diagnostisches Sozialmodell thematisieren. Das betrifft etwa die Stirner zugeschriebene Konzeption des ‚Klassenkampfes‘ oder generell sein Konzept des sozialen Kampfes im ‚Krieg aller gegen alle‘; und es betrifft besonders die mehr oder weniger harmonisch verstandene Figur des ‚Vereins von Egoisten‘ und dessen verschiedene Deutungen, etwa als soziologisches Theorem oder anarchistisches Ideal. Die Frage, ob es sich bei letzteren jeweils um ‚utopische‘ und in diesem Sinne ‚unrealistische‘ Entwürfe der sozialen Welt handelt, ist auf einer nachgeordneten Ebene anzusiedeln: ein je-einzig konzipiertes Sozialmodell ist im Lichte der hier verwendeten Unterscheidung von je-einzigem Realismus und all-einzigem Eskapismus realistisch, und nicht eskapistisch; ob es als Utopie ‚unrealistisch‘, also nicht realisierbar ist, ist letztlich theoretisch nicht entscheidbar, sondern nur durch den Verlauf der Geschichte – und ihrer Erzählung aus der je vorläufigen Siegerperspektive.31 Die folgenden Abschnitte behandeln die Varianten der sozialdeskriptiven und politisch-programmatischen Ausgestaltung der Je-Einzigkeit in den Stirner-rezeptionsgeschichtlichen Beiträgen vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Anders als bei den im vorangegangenen Kapitel betrachteten Individualismus-Interpretationen im Stirner-Nietzsche-Diskurs wird die Je-Einzigkeit hier also weniger bezüglich ihrer ‚Innenseite‘, also unter dem Aspekt 31

Vgl. Mannheim (1929), S. 172, 177.

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von moralisch-ethischen Motivlagen, Einstellungen und Idealen betrachtet, sondern bezüglich ihrer ‚Außenseite‘, nämlich der Art, wie die soziale Welt der Je-Einzigen konzipiert wird. Von besonderem Interesse ist bei dieser explizit sozialdiagnostischen Deutungsrichtung der Je-Einzigkeit, welchen Niederschlag die das moderne Selbstverständnis in Folge maßgeblich prägenden politischen Ereignisse und gesellschaftlichen Entwicklungen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts finden, namentlich die zeitgenössischen Erfahrungen des Weltkriegs und des erstarkenden Totalitarismus und die damit verbundenen Erwartungen. Erkennbar wird dies in symptomatischer Weise am Bedeutungswandel dessen, was vor und nach dem Weltkrieg als Anarchismus Stirners vorgestellt wird, aber auch an den Deutungen, die den ‚Verein‘ und die Je-Einzigkeit außerhalb des Anarchismus-Paradigmas interpretieren: Vor dem Ersten Weltkrieg dominiert bei den Deutungen der Je-Einzigkeit und ihrer sozialen Welt das Bild eines Einzigen, der die bürgerliche Welt, ihre soziale und kulturelle Ordnung, radikal in Frage stellt und revolutionär herausfordert, typischerweise als Anarchist – diesbezüglich mit der gewichtigen Ausnahme Max Adlers, der aber ansonsten die antibürgerlich-revolutionäre Grundtendenz des Einzigen bestätigt. Diese prinzipiell antibürgerliche Ausrichtung entspricht auch den bisher behandelten Deutungen des Einzigen, die diesen in beiden Interpretationsschemata, vor allem im Individualismus-Diskurs, als Herausforderung, Bedrohung oder Überwindung der bürgerlichen Werteordnung teils gefeiert, teils verteufelt haben. Die im Folgenden zu betrachtenden Interpreten, die vor dem Weltkrieg Stirner und die Je-Einzigkeit dem Anarchismus als einem politisch-ideologischen Projekt und einer revolutionären sozialen Bewegung zurechneten, deuteten dementsprechend Stirners Vereins-Konzept als anarchistische Utopie im Sinne eines sozialprogrammatischen Alternativ-Entwurfs zur bürgerlichen Gesellschaft und ihren politischen und kulturellen Institutionen (2.). In der durch Weltkriegs-, Krisen- und Totalitarismuserfahrung geprägten Zwischenkriegszeit setzt sich in den Deutungen der sozialen Welt der Je-Einzigkeit indes als markanteste Tendenz ein Bild der ‚Verbürgerlichung‘ des Einzigen durch. Aufgrund ihres Gegensatzes zum Totalitarismus gerät die anarchistisch-individualistische Je-Einzigkeit effektiv auf die Seite der von jenem bekämpften und dem Untergang geweihten ‚bürgerlichen‘ Welt. Bei aller interpretatorischen Vielfalt Stirners – als Theoretiker des historischen Anarchismus, Soziologe, Pragmatist, Sozialphilosoph des Individualismus usw. – ist für diese Deutungen der Je-Einzigkeit der modernitäts- und zeitdiagnostische Befund typisch, daß der Einzige selbst der ‚bürgerlichen‘ Gesellschaft angehört, die nun von anderer Seite bedroht und in Frage gestellt wird – und er mit dieser. Darin drückt sich zugleich eine semantische Ausweitung der Kategorie ‚bürgerlich‘ aus, die nun für die ‚individualistische‘

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Welt steht, deren Vernichtung die revolutionären Totalitarismen sich auf die Fahne geschrieben haben (3.).

2. Antibürgerliches Sozialmodell und revolutionäre Bewegung vor dem Weltkrieg Mehr über die organisatorische und ideologische Beschaffenheit der sozialen Welt der Je-Einzigen, als sich aus der bloßen, von Löwith herausgestellten existentiellen Struktur der Je-Einzigkeit ableiten läßt, erfährt man von denjenigen Interpreten, die die Je-Einzigkeit anhand der Figur des von Stirner im Gegensatz zu ‚Staat‘, ‚Gesellschaft‘ usw. begriffenen ‚Vereins‘ deuten. Das diesbezüglich seit der Stirner-Renaissance zumindest bis zum Kriegsausbruch dominierende Deutungsmuster rechnet den ‚Verein‘ der politisch-ideologischen Tradition des Anarchismus und seiner sozialen IdealEntwürfe zu. So bestimmt beispielweise Meyers Großes Konversations-Lexikon 1908 im Artikel Anarchismus den „Verein der Egoisten“ als den zentralen Programmpunkt Stirners und stellt ihn damit explizit in die theoretisch von Proudhon begründete Tradition des Anarchismus als eines politischen Projektes: „Die Durchführung dieser egoistischen Anarchie denkt sich Stirner im Wege der Revolution.“32 Im Anschluß an diese Einordnung Stirners werden kurz die anderen bekanntesten Protagonisten des Anarchismus, Bakunin, Netschajew, Kropotkin usw., genannt und vor allem unter dem Aspekt ihrer revolutionären bzw. gewaltbereiten Strategieentwürfe – vor allem der ‚Propaganda der Tat‘ – diskutiert. Danach berichtet der Artikel, zeittypisch, ausführlich über die spektakulärsten anarchistischen Attentate: die Bombenanschläge Ravachols (‚seit März 1892‘), Vaillants (9.12.1893) und Henrys (12.2.1894), das Attentat im Foyot (4.4.1894), die Ermordung Carnots durch Caserio (23.6.1894), die Ermordung Elisabeths durch Lucheni (10.9.1898), die des italienischen Königs Humbert durch Bresci (29.7.1900) und den Mord am US-Präsidenten McKinley (6.9.1901).33 Neben diesen und anderen Hinweisen auf „anarchistische[] Verbrechen“,34 die allerdings, wie ausdrücklich festgehalten wird, mit dem „Wesen des A[narchismus] nicht zusammenhäng[en] und keineswegs von allen Anhängern desselben gebilligt“ werden,35 enthält der Artikel einen detaillierten Bericht über die Entwicklung der Sprengstoffgesetzgebung und anderer gegen anarchistische Aktivitäten gerichteter Gesetze in verschiedenen Staaten 32 33 34 35

Meyer (1903–09 I), S. 482. Vgl. Meyer (1903–09 I), S. 482 f.; siehe auch oben, V. 1. und 2. Meyer (1903–09 I), S. 483. Meyer (1903–09 I), S. 482.

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Europas und Amerikas (neben den USA auch Argentinien). Am „19. Juli 1894“ hatte beispielsweise „Italien [. . .] drei Gesetze erlassen, die, ohne den A[narchismus] zu nennen, gegen ihn gerichtet sind, nämlich das oben bereits erwähnte Sprengstoffgesetz und das Gesetz gegen die Aufreizung zum Verbrechen und gegen die Verherrlichung von Verbrechen durch die Presse; das dritte, betreffend die Fürsorge für die öffentliche Sicherheit, hatte nur Geltung bis zum 31. Dez. 1895, wurde jedoch in etwas abgeänderter Form durch Gesetz vom 17. Juli 1898 wieder erneuert und, da es zum größten Teil [am] 30. Juni 1899 außer Wirksamkeit trat, infolge des Luchenischen Attentats durch das italienische Notdekret (provvedimenti politici), dessen rechtliche Gültigkeit allerdings lebhaft bestritten wird, ersetzt.“36 In diesen knappen Ausführungen verdichtet sich, symptomatisch und exemplarisch gerade aufgrund ihrer spezifischen thematischen Akzentuierungen auf der Ebene des standardisierten Wissens bzw. Informationsangebots eines Lexikonartikels, die diskursive Wahrnehmung des Anarchismus vor dem Ersten Weltkrieg. Als eine die bürgerliche Ordnung theoretisch wie praktisch in Frage stellende Weltanschauung und soziale Bewegung war er ein juristisch, wissenschaftlich, ideologisch und politisch relevantes und insofern (geradezu tages-) aktuelles Problem. a) Anarchismus als utopistische Sozialtheorie und soziale Bewegung Oben37 wurde bereits ausführlich behandelt, wie die hier exemplarisch aufgezählten Vorkommnisse – die terroristischen Aktivitäten wie auch die durch diese sich rechtfertigenden staatlichen Repressionsmaßnahmen – nicht nur das Bild des Anarchismus um die Jahrhundertwende in der öffentlichen Wahrnehmung und in den politisch-strategischen Debatten der Arbeiterbewegung prägten, sondern wie dieses Bild auch einerseits in die Deutungen des Einzigen einfloß und andererseits der Einzige dafür herhalten konnte, das Bild des Anarchisten bzw. des Anarchismus zu bestätigen. Der Stirner bzw. dem Einzigen zugeschriebene Anarchismus konnte so als ideologische Verbrämung und Überhöhung antisozialer Verhaltensweisen – inklusive Kapitalverbrechen – erkannt werden: als ideologischer Freibrief wahlweise für die Selbstverwirklichungsexzesse selbstgerechter und ruhmsüchtiger Individualisten, für die Terrorakte politischer Fanatiker, oder auch für das Ausleben psychopathischer Gewaltphantasien oder krimineller Energien. Aber es gab auch nichtanarchistische Autoren, die dem Anarchismus als einer sozialutopischen Programmatik und politischen Theorie Ge36 37

Meyer (1903–09 I), S. 483. Siehe Kapitel V.

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rechtigkeit widerfahren ließen und ihn nicht auf sein terroristisches Erscheinungsbild reduzierten. Stirner konnte hierdurch auch als theoretischer Begründer der Anarchie, im Sinne einer herrschaftsfreien sozialen Ordnung, und als ideologischer Referenzautor der anarchistischen Bewegung in den Blick genommen und sein Einziger dementsprechend als Je-Einziger interpretiert werden. aa) Rudolf Stammler Im Gegensatz zu den die Antisozialität des (All-)Einzigen hervorhebenden Deutungen sprach etwa Rudolf Stammler bereits 1894, als die Thematisierung von Anarchismus und politisch motivierter Gewalt mit den Anschlägen Émile Henrys und seiner Selbstrechtfertigung Hochkonjunktur hatte, ausdrücklich von dem „sozialen Anarchismus“ für den „Stirner die Grundlage [. . .] gefunden“ hat.38 Gerade angesichts der „sich mehrenden Mordanschläge und verbrecherischen Attentate, die in neuester Zeit von anarchistischer Seite ausgegangen sind“, nimmt Stammler Stirner für die „Theorie des Anarchismus“ in Anspruch, um die verbreitete Vorstellung zu widerlegen, „als ob man es beim Anarchismus nur mit einer Bande halbverrückter und vertierter Fanatiker zu thun habe“ (S. 1 – H. i. O.). Die Theorie des Anarchismus propagiert nämlich keineswegs, wie es das landläufige Vorurteil mißversteht, den „Zustand[] der Anarchie“ im Sinne einer „allgemeinen Unordnung [. . .], in der die Menschen, wilden Thieren gleich, feindselig kämpfend durcheinander laufen würden“, einen durch „Gewalt und feindselige Roheit“ gekennzeichneten, „trübselige[n] soziale[n] Zustand, wie ihn jeder Bürgerkrieg leicht zeitigt, beispielsweise aber auch die Faustrechtsanarchie fast während des ganzen Mittelalters darstellte“ (S. 3), oder wie ihn Hobbes mit der „Formel des ‚Krieges aller gegen alle‘“ als nichtstaatlichen, „rechtlosen ‚Naturzustand‘“ charakterisierte (S. 39). Vielmehr fordert der Anarchismus bzw. seine Theorie „Ordnung im menschlichen Zusammenleben und erstrebt Harmonie des gesellschaftlichen Daseins; aber es soll eine andere Ordnung sein als die staatliche und es hat rechtlicher Zwang ganz und gar aus dem Spiele zu bleiben.“ (S. 4 – H. i. O.) Und für dieses „Ideal des Anarchismus“ ist Stirner (S. 41 f.), insbesondere mit seinem „Verein von Egoisten“39 für Stammler der Kronzeuge. Denn „auch er will damit nur die Notwendigkeit der staatlichen Zwangsgewalt ablehnen, nicht jede organisierte Vereinigung verwerfen, deren Unerläßlichkeit er vielmehr [. . .] als ganz sicher hinstellt, ‚weil Einer den Andern braucht‘.“ (S. 37) 38 Stammler (1894), S. 18 – H. i. O. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich im vorliegenden Unterabschnitt ebenfalls auf Stammler (1894). 39 Stammler (1894), S. 19 – H. i. O., vgl. S. 13 ff.

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Stammler unterscheidet also zwischen: einerseits der landläufigen Unterscheidung derjenigen Beobachter, die den Anarchismus als Propagierung von Gewalt und Chaos mißverstehen bzw. diffamieren und somit Ordnung mit (staatlicher) Herrschaft identifizieren und Anarchie mit Unordnung gleichsetzen (etatistisches Beobachtungsschema: Herrschaft (Staat) = Ordnung vs. Unordnung = Anarchie); und andererseits der Unterscheidung der Theoretiker des Anarchismus, für die prominent Stirner steht, und die der (staatlichen) Herrschaft die herrschaftsfreie Ordnung der Anarchie entgegensetzen, in Stirners Terminologie: den ‚Verein der Egoisten‘ (anarchistisches Beobachtungsschema: Herrschaft (Staat) vs. herrschaftsfreie soziale Ordnung = Anarchie). Das ‚etatistische‘ Beobachtungsschema, das die anarchistisch geforderte Abwesenheit der staatlichen Herrschafts- und Zwangsgewalt mit sozialer Ordnungslosigkeit gleichsetzt, stellt Stammler aus zwei Gründen in Frage, nämlich weil es „der Theorie des Anarchismus und deren wissenschaftlicher Bedeutung überhaupt nicht gerecht“ wird (S. 35). Zum einen ist also die (u. U. polemisch-diffamatorische) Identifikation des anarchistischen Ideals mit ‚Chaos‘ hermeneutisch unredlich und deswegen zu verwerfen; zum anderen verbaut das etatistische Beobachtungsschema mit seiner Annahme, daß soziale Ordnung nur durch die herrschaftliche Zwangs- und Sanktionsgewalt des Staates möglich ist, die Erkenntnismöglichkeiten „innerhalb der Sozialwissenschaft“ (S. 35), die das anarchistische Beobachtungsschema mit dem Postulat einer herrschaftsfreien und zwanglosen sozialen Ordnung eröffnet. Es „sollte nicht übersehen werden, daß die anarchistische Doktrin wissenschaftlich fruchtbar gemacht werden kann, sofern man eben nur einmal vorurteilslos dem Gange ihrer Gedanken folgt. [. . .] Denn in erster Linie dreht es sich beim Anarchismus um eine negierende Bekämpfung des überlieferten Rechtszwanges: daß dieser in sich etwas Berechtigtes und Notwendiges sei, das wird von den Anarchisten geleugnet.“ (S. 35) Die anarchistische Unterscheidung zwischen der wünschenswerten, guten Ordnung der Herrschaftsfreiheit und der bekämpfenswerten, schlechten Zwangsordnung ist zwar – als Beobachtungsschema eines politischen Projektes – normativ codiert. Aber auch unabhängig von der diesem Schema eingeschriebenen eindeutigen normativen Präferenz enthält es mit dem Postulat der herrschaftsfreien Ordnung eine im engeren Sinne soziologische Hypothese, nämlich diejenige, daß soziale Ordnung nicht notwendig auf herrschaftlichem Zwang beruht, bzw. daß soziale Ordnung nicht bloß durch herrschaftlichen Zwang erklärbar ist. Damit rückt Stammler das anarchistische Anliegen bezüglich seiner sozialtheoretischen und sozialdiagnostischen Implikationen in die Nähe der klassisch-soziologischen Leitfrage nach der Möglichkeit sozialer Ordnung. „Es ist also der prüfenden Frage niemals auszuweichen, ob die rechtliche Zwangsordnung etwas Berechtigtes und

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Unvermeidliches wirklich sei: und die heutige Zeit auf diese Grundfrage sozialwissenschaftlicher Erkenntnis mit ganz besonderer Schärfe wieder gestoßen zu haben, – das darf die anarchistische Doktrin für sich in Anspruch nehmen.“ (S. 35) Im Anschluß an das normativ imprägnierte anarchistische Beobachtungsschema bringt daher Stammler diese Frage analytisch auf den rechtswissenschaftlichen Begriff, indem er die anarchistische Unterscheidung ‚Zwangsordnung/Staat vs. herrschaftsfreie Ordnung/Verein‘ als begriffliche Entgegensetzung von „Recht“ bzw. „Rechtssatzung“ einerseits und „Konventionalnormen“ bzw. „Konventionalregel“ andererseits rekonstruiert (S. 20 ff.). In dieser Perspektive wird erkennbar, daß die „wissenschaftliche Bedeutung der Theorie des Anarchismus [darin] liegt [. . .], daß in ihr der radikalste Skeptizismus in Sachen der Rechtsordnung beschlossen ist“, nämlich die Behauptung, daß eine lediglich auf Konventionalnormen beruhende soziale Ordnung im umfassenden Sinne, eine Gesellschaft ohne rechtlichen Zwang möglich ist (S. 36 – H. i. O.). Die positive Antwort, die der Anarchismus nach der Negierung des staatlich abgesicherten Rechtszwanges auf die Frage nach der Möglichkeit sozialer Ordnung gibt, die anarchistische Alternative zum Recht lautet also: Konventionalregel. Als das „unterscheidende Merkmal von Recht und Konventionalregel“ bestimmt Stammler den je besonderen Geltungsanspruch (S. 23): „Das Recht will objektiv über dem einzelnen in Geltung stehen. Es erhebt den Anspruch, zu gebieten, ganz unabhängig von der Zustimmung des Rechtsunterworfenen, in welcher der Grund der verbindenden Kraft der Rechtsordnung also niemals gesucht werden darf. Die rechtliche Satzung bestimmt, wer ihr unterworfen ist, unter welcher Voraussetzung jemand in ihren Verband eintritt, wann er ausscheiden darf. Wer sich dem Rechtsgesetze entziehen will und vielleicht äußerlich thatsächlich sich ihm entzieht, der bricht das Recht, aber ist mitnichten davon frei: er steht nach wie vor unter ihm, dessen Geltungsanspruch erst in Gemäßheit seiner eigenen Bestimmung erlischt.“ (S. 23 f. – H. i. O.) Ausmaß, Umfang und Dauer des spezifisch rechtlichen Geltungsanspruchs sind in der Rechtssatzung selbst enthalten, so daß dieser vollkommen unabhängig von der Zustimmung der Rechtssubjekte ist.40 Die Geltung des Rechts ist daher aufs engste an den herrschaftliche Zwangs- und legitime Sanktionsgewalt monopolisierenden Staat41 gebunden, 40 Diese Beschreibung wäre gleichwohl offen für eine demokratietheoretische Erweiterung, die, ohne die Zustimmung der Rechtssubjekte zum Recht fordern zu müssen, die Identität dieser ‚Adressaten des Rechts‘ (Rechtssubjekte) mit den ‚Autoren des Rechts‘ (dem politischen Souverän) postuliert (vgl. Habermas (1992), S. 109 ff., bes. S. 135, 138 f., 153 f., 160). 41 Zu Begriff und Morphologie des Staates und seiner Genealogie vgl. Roth (2003); dazu Stulpe (2004).

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der diese auch gegen das Widerstreben der Rechtsunterworfenen (RechtsSubjekte) durchsetzt und dauerhaft garantiert. Dagegen kommt die Konventionalregel in ihrem Geltungsanspruch ohne diese Absicherung durch eine überindividuelle Zwangs- und Sanktionsinstanz aus: „Die Konventionalregel gilt nach ihrem eigenen Sinne lediglich zufolge der Einwilligung des Unterstellten; vielleicht einer stillschweigend abgegebenen, wie es in unserem sozialen Verkehre ja zumeist der Fall sein wird, aber immer zufolge der besonderen Zustimmung. Sobald diese nicht mehr vorliegt und der seither Beherrschte ausscheiden will, kann er es beliebig thun: der Grund der verbindenden Geltung der Konventionalregel ist die äußerlich zusammenstimmende Selbstunterwerfung der einzelnen.“ (S. 24 – H. i. O.) Die soziale Phänomenologie von Konventionalregeln ist weit gefaßt, wie Stammler an „einfachen Beispielen des täglichen Lebens“ (der 1890er Jahre) erläutert: „Wer nicht grüßt, empfängt keinen Gegengruß; wer keine Satisfaktion giebt, steht außerhalb des ritterlichen Ehrenkodex“ (S. 24). Offenkundig sind auch der anarchistische Voluntarismus und die auf Einwilligung beruhende „Konventionalgemeinschaft“ (S. 24), die Vergesellschaftung durch Konventionalnormen – im Gegensatz zum vom anarchistischen Antietatismus bekämpften staatlich sanktionierten Rechtszwang – kompatibel. „Hiernach werden wir den Anarchismus im Sinne der Lehre Stirners präzisieren können. Diese Richtung würde also eine soziale Organisation bloß auf Grundlage von Konventionalregeln fordern. Es ist, wiederhole ich, auch nach dieser Theorie des Anarchismus durchaus nicht auf Unordnung und Anarchie gewöhnlichen Stils abgesehen; sondern sie geht davon aus, daß ein sich Suchen und Finden der Menschen stets schon stattfinden werde und man sich darüber, ob beim Fehlen des rechtlichen Zwanges überhaupt eine Organisation sein werde, keine Sorge zu machen brauche.“ (S. 26 – H. i. O.) Der ‚Verein von Egoisten‘ ist also eine reine ‚Konventionalgemeinschaft‘, die „weiter keinen Geltungsanspruch über den einzelnen erheben [darf], als es heute bei unseren Konventionalregeln der Fall ist: der Grund der verbindenden Kraft soll die grundsätzlich freie Zustimmung der Unterworfenen sein; keine soziale Regel kann über das hypothetische: ‚Wenn du Vortheile von uns willst, so vereinige dich mit uns unter bestimmten Regeln‘ – befugtermaßen hinausgehen. Das rechtliche und staatliche Gebot ist seinem Begriff nach bloßer Zwang, enthält an und für sich nichts als brutale Nötigung und kann als etwas anderes denn als rohe Macht und Vergewaltigung gar nicht eingesehen oder gar als berechtigt deduziert werden.“ (S. 26) Deswegen bekämpft Stirner „die Aufstellung eines Sittengesetzes und die Notwendigkeit irgendwelcher Verpflichtung unter einem solchen; und er leugnet, daß der rechtliche und staatliche Zwang jemals als begründet dargethan werden könne.“ (S. 13)

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Der „Stirnersche ‚Verein von Egoisten‘“ (S. 32 – H. i. O.) ist demnach die anarchistische Antwort auf die, wie Stammler betont, bereits von Rousseau aufgeworfene, soziologisch wie sozialphilosophisch gehaltvolle Fragestellung: „Wie kann der Mensch frei werden und doch zugleich in geregelter Gemeinschaft mit anderen leben?“ (S. 14) In der von allem rechtlichen und staatlichen Zwang befreiten, reinen Konventionalgemeinschaft des Vereins obliegt somit, in Abwesenheit spezifisch institutioneller Entlastungsleistungen,42 den Willen der Individuen – der Je-Einzigen – die ganze Verantwortung sowohl für die soziale Kohäsion dieser Ordnung als auch für deren Ausgestaltung. „Sobald man Stirner seine Prämissen zugiebt – daß es nämlich außer und neben der Beachtung des einzelnen empirischen Menschen gar keine Erwägung eines pflichtgemäßen Soll gebe –, bleibt zunächst gar nichts anderes übrig als die bloße formale Möglichkeit, konventional sich mit anderen Egoisten zu vereinen. Welchen Inhalt diese Vereinigten aber ihren Konventionalregeln geben werden, ist eine ganz offene Frage; und völlig konsequent sagt Stirner darüber nur: ‚Was ein Sklave thun wird, sobald er die Fesseln zerbrochen, das muß man – erwarten‘.“43 In seiner Bewertung dieser Position gesteht Stammler dem anarchistischen Standpunkt Stirners durchaus seine normative Berechtigung zu. „Der rechtliche Zwang entfernt sich am meisten von der vollen Freiheit des einzelnen in seiner Zwecksetzung für sich; sein Anspruch auf objektive Geltung muß durch Gewalt sich durchsetzen; und es hat in der That etwas Befremdendes, wenn jemand nicht nur unter Regeln gezwungen stehen soll, die er möglicherweise verwirft und überzeugt bekämpfen muß, sondern wenn er sogar infolge dessen gern ausscheiden und auf alle wirklichen oder angeblichen Wohlthaten gerade dieser sozialen Gemeinschaft verzichten möchte, er es aber nun – nicht darf. Denn die Rechtsordnung erhebt, wie ich früher ausführte, den Anspruch: daß sie allein bestimme, wer zu ihr gehöre und ihr unterthan sei; [. . .] diese Prätension des Rechtes wird um so leichter der Anzweiflung verfallen, wenn man sich erinnert, wie die bestehenden Rechtsgemeinschaften in oft sehr unverständigen geschichtlichen Zufälligkeiten entstanden sind und bestehen, und welche große Rolle bei ihrer Bildung vielfach Willkür, Schlechtigkeit und rohe Gewalt gespielt haben.“ (S. 39 f. – H. i. O.) Er gibt aber abschließend zu bedenken, daß im Lichte der Frage nach der Möglichkeit sozialer Ordnung die sanktionsbewehrte Geltung von Recht letztlich die unabdingbare Voraussetzung aller anderen Formen der Vergesellschaftung ist. Der Anarchismus stellt zwar die 42 Eine Institution ist nicht zuletzt wegen ihres ‚Zwangscharakters‘, ihrer symbolisch und durch Macht abgesicherten individuellen Unverfügbarkeit mehr als eine bloße Konvention; vgl. hierzu umfassend aus politikwissenschaftlicher und theoriegeschichtlicher Sicht Göhler u. a. (1997). 43 Stammler (1894), S. 32 – H. i. O.; vgl. Stirner, EE, S. 289.

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richtige Frage, aber seine Antwort ist unzulänglich (ebenso wie die etatistische Alternative von ‚staatlicher Ordnung oder Chaos‘). Der anarchistische „Verein“ bleibt demnach eine Utopie, welcher aber der heuristische Wert zukommt, daß sie „die Unentbehrlichkeit des rechtlichen Zwanges an sich und die Berechtigung der juridischen Organisation begreiflich macht. Denn das Gegenstück zu unserer Rechtsordnung, die Art des sozialen Lebens, wie sie dem Anarchismus als Ideal und Zielpunkt vorschwebt, ist die Vereinigung und Ordnung der Menschen in frei gebildeten Genossenschaften und lediglich unter Konventionalregeln. Mag dem einzelnen Anarchisten der Verein von Egoisten als Postulat vorschweben oder brüderlicher Kommunismus sein Wunsch sein –: immer bestimme ein jeglicher selbst über seine Zugehörigkeit zu bestimmter Gemeinschaft. Er gehe frei die Konvention ein und löse sie in eigener Entschließung wieder, – die vertragsmäßige Übereinkunft ist es, die ihn bindet, so lange sie besteht, die er allererst eingehen muß und die er in unbedingter Schrankenlosigkeit jederzeit durch neue Willenserklärung außer Kraft setzen kann. Danach ist deutlich, daß diejenige Art ordnender Organisation, die den Kern der Theorie des Anarchismus abgiebt, doch nur für solche Menschen möglich ist, die zur vertragsmäßigen Vereinigung mit anderen thatsächliche Fähigkeit besitzen.“ (S. 42 – H. i. O.) Eine wesentlich auf freier Zustimmung beruhende, durch Konventionalnormen geregelte Sozialordnung wie der von Stirner projektierte Verein ist somit zwar wünschenswert, weil er den Einzelnen – den JeEinzigen – das höchste Maß an individueller Autonomie und Selbstverwirklichungschancen zugesteht (vgl. S. 39 f.), und sie ist auch in begrenztem Umfange möglich. Sie hat aber zur Bedingung dieser Möglichkeit immer die spezifische Geltung des durch eine Sanktionsinstanz abgesicherten Rechts, da erst die objektive, dem subjektiven Willen der Einzelnen entzogene Geltung des Rechts willensfähige Subjekte erzeugt – und sei es als rechtlich verbindliche „Fiktion“ (S. 38). Erst die Geltung des Rechts gewährleistet demnach, daß alle Individuen – gemäß dem universalistischen Anspruch des anarchistischen Ideals – als Subjekte berücksichtigt werden. „Der Handlungsunfähige, wie wir Juristen sagen, das kleine Kind, der Geistesgestörte, der schwer Kranke und gänzlich Altersschwache, sie alle wären [andernfalls] von geregelter Organisation und allem sozialen Leben vollständig ausgeschlossen. Denn sobald man beispielsweise den Säugling in die Gemeinschaft ohne weiteres aufnähme und deren Regeln unterwürfe, hätte man ja sofort den Rechtszwang wieder eingeführt und eine Herrschaft über einen Menschen ausgeübt, ohne daß diese regelnden Normen auf dessen Zustimmung gegründet wären. Die anarchistische Organisation des gesellschaftlichen Daseins der Menschen ist also darin verfehlt, daß sie nur für bestimmte, empirisch besonders qualifizierte Menschen zugänglich ist und anderen Menschen, denen die genann-

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ten Eigenschaften fehlen, verschlossen bleibt. [. . .] Eine allgemeine Berechtigung [aber] kann [. . .] nur diejenige Regelung des menschlichen Zusammenlebens beanspruchen, welche in allgemeiner Weise alle Menschen ohne Rücksicht ihrer subjektiven und verschiedenen Eigentümlichkeiten umspannen kann. Und das ist allein das Recht. [. . .] Unter der Voraussetzung regelnder Organisation des menschlichen Lebens kann nur diejenige Ordnung allgemeinen Geltungsanspruch behaupten, die von allen Sonderqualitäten einzelner bestimmter Menschen absieht und jeden Menschen als solchen zu umschließen die Fähigkeit hat. Die anarchistischen Genossenschaften können dieses nicht leisten, da sie für ihre Mitglieder konkrete Eigenschaften fordern. Das Recht allein vermag Gemeinwesen zu schaffen, die in der Frage der Zugehörigkeit ihrer Mitglieder von allen empirischen Zufälligkeiten in deren Person gänzlich unabhängig sind.“ (S. 43 – H. i. O.) Für die Bildung von ‚Vereinen‘, also sozialen Systemen, denen Individuen nach ihrem subjektiven Willen beitreten, in denen sie ihre Individualität geltend machen und die sie ebenso wieder verlassen können, ist das Rechtssystem mithin funktional notwendig, weil es alle Individuen im Blick auf deren Personalität und unter Absehung von deren jeweiliger Individualität gleichermaßen als Rechtsubjekte behandelt und erst so deren prinzipielle soziale Inklusionsfähigkeit herstellt und gewährleistet. In ihrer nicht-utopischen Bedeutung bezeichnet Je-Einzigkeit also, so läßt sich Stammlers Befund weiterführen, die soziale Welt von Individuen, die aufgrund der Inklusions-Exklusionsordnung der modernen Gesellschaft sowohl (exklusiv) durch Individualität als auch (inklusiv) durch Personalität definiert sind. Im ‚Verein‘ können je-einzige Individuen ihre Individualität geltend machen, aber nur, weil sie gesellschaftlich zugleich als Personen behandelt werden. Anläßlich seiner Auseinandersetzung mit Stirnerscher JeEinzigkeit nimmt Stammler somit in sozialwissenschaftlicher Perspektive den existenzphilosophischen Befund vorweg, den Löwith in der Je-Einzigkeit formuliert sah: daß moderne Individuen immer und untrennbar sowohl durch ihre Personalität als auch durch ihre Individualität bestimmt sind und nur hierdurch eine sozialdimensional symmetrische Verschränkung von Ego und Alter möglich ist. Im Anschluß an Stammlers je-einzige Interpretation von ‚Stirners sozialem Anarchismus‘ und dessen – mit dem Verein als ausschließlich aufgrund von Konventionalregeln vergesellschaftete soziale Ordnung gegebenem – sozialwissenschaftlichen Potential legt auch der Nationalökonom Georg Adler, der bis dato in seinen Beiträgen zur Anarchismusforschung die aporetischen und antisozialen Aspekte Stirnerscher All-Einzigkeit hervorgehoben hatte, 1907 einen Beitrag zu Stirners anarchistischer Sozialtheorie vor. Wie der Titel nahelegt, und wie außer Stammler etwa auch Eltzbacher zuvor,

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deutet Adler den Einzigen nun nach dem Interpretationsschema der Je-Einzigkeit. In der ersten Fassung seines Anarchismus-Artikels im Handwörterbuch der Staatswissenschaften (1890), unmittelbar am Vorabend der Stirner-Renaissance, hatte Adler, damals Dozent an der Universität Freiburg, den Einzigen aufgrund des ungelösten sozialen Vermittlungsproblems der Einzigkeit noch knapp und beiläufig als abseitige Randfigur des Anarchismus behandelt.44 In der zweiten, erweiterten Fassung seines Artikels von 1898 dagegen hatte Adler, mittlerweile Professor in Berlin, den Einzigen mit dessen ‚antimoralischem Anarchismus‘ zur theoretischen Gründungsfigur eines im anarchistischen Terrorismus und dessen Gewaltapologetik sich spektakulär auslebenden antisozialen Individualismus erklärt, der „alle Exzesse der Revolutionäre, alle Orgien der Individuen rechtfertigt und anpreist“.45 Diesen von Adler nun hervorgehobenen Aspekt, die Gewaltbereitschaft und Gewaltverherrlichung des Einzigen, hatte Stammler in seiner jeeinzigen Rekonstruktion des ‚sozialen Anarchismus‘ Stirners durch die Fokussierung des ‚Vereins von Egoisten‘ systematisch ausgeblendet. Den alternativen Deutungen Stirners im Sinne entweder eines ‚sozialen Anarchismus‘ (Stammler) oder eines ‚antimoralischen Anarchismus‘ (Adler) entsprachen die einander ausschließenden Interpretationsschemata von (mit sozialer Ordnung kompatibler) Je-Einzigkeit und (antisozialer) All-Einzigkeit. Bald darauf, 1900, legte dann der von Amtswegen sowohl mit den anarchistischen Tat-Propaganda-Delikten als auch mit deren ideologisch-utopischen Motiven und Rechtfertigungen betraute Hallenser Gerichtsassessor Paul Eltzbacher sein Buch Der Anarchismus vor.

bb) Paul Eltzbacher Ähnlich wie der Jurist Stammler optiert auch sein Hallenser Kollege Eltzbacher ausdrücklich für eine je-einzige Interpretation des Stirnerschen Anarchismus. „Nach Stirner ist für einen jeden von uns sein eigenes Wohl höchstes Gesetz.“46 „Das eigene Wohl gebietet, dass an Stelle des Rechts künftig es selbst für jeden Menschen Gesetz sei. Ein jeder von uns ist ‚einzig‘“ (S. 87 – H. i. O.). Innerhalb der von Eltzbacher entwickelten Typologie erscheint Stirners Anarchismus als „kritisch“ (und nicht „genetisch“), „eudämonistisch“ (und nicht „idealistisch“) und „egoistisch“ (und nicht „altruistisch“), weil er für seine Ablehnung des Staates und der gegenwärtigen Gesellschaft das individuelle Wohl jedes Einzelnen zum normativen Maß44

Vgl. Adler (1890), S. 256; siehe oben, V. 2. a). Adler (1898), S. 306, vgl. S. 305; siehe oben, V. 2. b). 46 Eltzbacher (1900), S. 84 – H. i. O. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich im vorliegenden Unterabschnitt ebenfalls auf Eltzbacher (1900). 45

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stab macht (S. 244 ff.); als „anomistisch“ (und nicht „nomistisch“), weil er das Recht (S. 246 ff.), und als „indoministisch“ (und nicht „doministisch“), weil er das Eigentum verwirft (S. 252 ff.), als „spontanistisch“ (und nicht „föderalistisch“), weil er darauf vertraut, daß die zukünftige staatsfreie Sozialordnung – der „Verein“ – ohne jedes Rechtsverhältnis funktionieren wird (S. 249 ff.); und schließlich als „revolutionär“ (und nicht „reformatorisch“) und „insurgent“ (und nicht „renitent“), weil er die Verwirklichung dieser projektierten Sozialordnung als Rechtsbruch unter Anwendung von Gewalt konzipiert (S. 255 ff.). Bei der typologischen Erfassung des Anarchismus unterscheidet Eltzbacher systematisch zwischen einerseits den anarchistischen Programmatiken – bezogen auf anthropologische Grundlagen, normative Ziele und die jeweils damit begründete Kritik der gegenwärtigen und entsprechende Entwürfe der zukünftigen Gesellschaft – und andererseits den verschiedenen Strategien und Mitteln zur Verwirklichung dieser Programmatiken.47 Diese Unterscheidung ermöglicht bezüglich des Einzigen das Zusammendenken von (antisozialer) Destruktivität, wie sie dem zeitgenössischen Bild des Anarchismus nachhing, und einem sozialutopischen Zukunftsentwurf, in dem Gewalt zwischen Je-Einzigen keine Rolle mehr spielen muß. Der Stirnersche Zukunftsentwurf ist, wie schon für Stammler, auch in Eltzbachers Analyse der als nichtstaatliche Ordnungsform charakterisierte ‚Verein‘: „Das eigene Wohl jedes Menschen verlangt, dass ein geselliges Zusammenleben der Menschen lediglich auf Grund seiner Vorschriften an die Stelle des Staates trete. Diese Art des geselligen Zusammenlebens nennt Stirner ‚den Verein von Egoisten‘“ (S. 91 – H. i. O.). Der egoistische Eudämonismus – das Wohl eines jeden Einzigen, also der Je-Einzigen – erfordert nicht nur, negativ, die Abschaffung von Staat, Recht usw., sondern auch positiv, die soziale Ordnung und Geselligkeit des Vereins. Und nur diese egoistisch-eudämonistische Orientierung garantiert die Kohäsion und Dauer dieses Gesellschaftsentwurfs, für den keine überindividuellen Bestandssicherungen vorgesehen sind: „Die Menschen soll im Verein vielmehr der Vorteil zusammenhalten, den jeder Einzelne in jedem Augenblicke durch den Verein hat.“ Hierzu gehört auch der spezifisch ‚indoministische‘, der (‚anomistischen‘) Rechtsfeindlichkeit geschuldete, eigentumsfeindliche Charakter des ‚Vereins‘: „Das eigene Wohl jedes Menschen gebietet, dass eine Güterverteilung lediglich auf Grund seiner Vorschriften an die Stelle des Eigentums trete. Wenn Stirner den durch diese Vorschriften dem Einzelnen zugewiesenen Güteranteil als Eigentum bezeichnet, so geschieht dies in dem uneigentlichen Sinne, in welchem er fortwährend das Wort Eigentum gebraucht; im eigentlichen Sinne kann nur ein durch das Recht zugewiese47

Vgl. Eltzbacher (1900), S. 13 f., 244 ff., 262 ff.

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ner Güteranteil Eigentum heissen. Nach den Geboten des eigenen Wohls nun soll jeder Mensch alles das haben, was er zu erlangen mächtig genug ist.“ (S. 94 f. – H. i. O.) Trotz dieser optimistisch-harmonistischen Erwartungen an die Sozialutopie des Vereins, die sich in ihrem ‚spontanistischen‘ Profil, dem Glauben, unter Abwesenheit jeglicher überindividuellen Zwangsinstanz werde sich eine jedem Individuum zum Besten gereichende Ordnung quasi automatisch einstellen, rechnet Eltzbacher Stirner bezüglich seiner Vorstellungen von der Verwirklichung dieses Gesellschaftsentwurfs dem Spektrum der gewaltbereiten, nämlich nicht nur ‚revolutionären‘, sondern auch ‚insurgenten‘ Anarchisten zu. „Die durch das eigene Wohl eines jeden gebotene Wandlung soll sich nach Stirner so vollziehen, dass Menschen in genügender Zahl sich zunächst innerlich wandeln und das eigene Wohl als ihr höchstes Gesetz erkennen, und dass diese Menschen sodann durch Gewalt auch die äussere Wandlung, also die Beseitigung von Recht, Staat und Eigentum und den Eintritt des neuen Zustandes, herbeiführen.“ (S. 97 – H. i. O.) Erst kommt der durch Aufklärung bewirkte Bewußtseinswandel, dann der physisch und materiell geführte „Krieg aller gegen alle“, und in „diesem Kampfe ist Stirner jedes Mittel recht.“ (S. 99 – H. i. O.) Bei aller auch von Eltzbacher zitierten und als ernstgemeinte Aufforderung gedeuteten Gewaltrhetorik und Verbalradikalität Stirners (vgl. S. 99 f.) soll hierdurch aber letztendlich die Menschheit von Destruktivität und Grausamkeit befreit werden und „an die Stelle des Staates ein geselliges Zusammenleben der Menschen treten, das darauf beruht, dass für einen jeden sein eigenes Glück Gesetz ist.“ (S. 250) Mehr oder Genaueres als bei Stammler erfährt man allerdings über diesen Zukunftsentwurf bei Eltzbacher nicht. Sehr viel ausführlicher ist diesbezüglich der mittlerweile zum Stirner-Experten gereifte Georg Adler, nunmehr Inhaber einer Professur in Kiel, in einem 1907 veröffentlichten Artikel über Stirners anarchistische Sozialtheorie.

cc) Georg Adler Georg Adler befindet in Stirners anarchistische Sozialtheorie über Der Einzige und sein Eigentum, es sei „das Werk eines großen, von der Autonomie des Individuums begeisterten Denkers“ und enthalte „die konsequenteste anarchistische Doktrin, die je in der Weltliteratur in Erscheinung getreten ist. Es gibt keine andre Theorie, die so radikal alle Schranken, die Denken und Wollen des Individuums einengen, beseitigt wissen will, wie die Lehre Stirners. Das Individuum [. . .] soll seine Bedürfnisse, soweit irgend möglich, befriedigen und sich zu diesem Zwecke zunächst von den Mächten, die seinen Geist fesseln, – den ‚fixen‘ Ideen wie Gott, Menschheit, Va-

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terland, Moral usw. – befreien, dann aber auch die äußeren Gewalten, die die freie Tätigkeit des Einzelnen hemmen, in Stücke schlagen. An die Stelle von Staat und Gesellschaft, denen als Institutionen der Unterjochung der Individuen kein Existenzrecht zugestanden wird, treten ‚Vereine von Ichen, deren jedes nur sich im Auge hat‘ (Stirner). Die Autonomie der Einzelnen wird also nur soweit beschränkt, als diese selber vom Standpunkte ihres eignen Interesses aus sich dazu verstehn, indem sie sich durch Abschließung von Verträgen zu jener gegenseitigen Rücksichtnahme verpflichten, die zum Zusammenleben der Menschen notwendig ist.“48 Diesen von Stirner projektierten Vereins-Zustand beschreibt Adler zunächst der Sache nach so, wie Stammler dies mithilfe seiner Unterscheidung von Recht bzw. Rechtssatzung und Konventionalnorm bzw. Konventionalregel getan hatte, ohne allerdings diese rechtswissenschaftliche Terminologie zu übernehmen. „An die Stelle des Gesellschaftsrechts [= ‚Recht‘ i. S. Stammlers] tritt das vom Einzelnen geschaffene und anerkannte Recht – oder richtiger, da die Einzelnen nicht isoliert leben können und wollen, sich vielmehr [. . .] zu Vereinen zusammenschließen, das von den Vereinen geschaffene Recht [= ‚Konventionalnorm‘ i. S. Stammlers]. Dieses wird aber nirgendwo für heilig gehalten, sondern von den Individuen nur so lange respektiert, als es ihnen beliebt, Mitglieder der Vereine zu sein. Andere als Vereinsmitglieder aber gehorchen den Vereinen nur, soweit sie wider ihre Macht nicht ankommen können.“ (S. 20 – H. i. O.) Mit dieser auf das äußere Macht- und Repressionspotential der Vereine abstellenden soziologischen Wendung fährt Adler sodann fort, jenseits des rechtswissenschaftlichen Beobachtungsfeldes die „ökonomische Organisation“ der von Stirner entworfenen Sozialutopie genauer in den Blick zu nehmen. In Adlers Interpretation des ‚Vereins‘ wird Stirner zufolge gerade das „egoistische Interesse“ eines jeden der beste Garant für die Produktion kollektiver Güter sein, denn wenn alle das Bedürfnis nach einem bestimmten Gut haben, „werden sich wirklich Alle ihrer Sache annehmen (was die Armen z. B. heute nicht tun) und sich über sie miteinander verständigen. [. . .] Was Jeder braucht, an dessen Hervorbringung sollte sich auch Jeder beteiligen; [. . .] Sorgt jeder auf diese Weise für sich, so wird Niemand zu Arbeitslosigkeit verdammt, Niemand arm sein. Jeder erhält das, was er an wirtschaftlichen Gütern braucht, durch den Verein sichergestellt, – wenn er nur im Verein selber genügend aufpaßt, daß sein Interesse stets Berücksichtigung finde!“ (S. 20 f. – H. i. O.) Damit charakterisiert Adler Stirners Vereinskonzeption als positiven Entwurf einer die Menschheit umfassenden Wirtschafts- und Sozialordnung: „Stirner will also, daß die Millionen sich 48 Adler (1907), S. 31 – H. i. O. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich im vorliegenden Unterabschnitt ebenfalls auf Adler (1907).

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in Konsumvereinen organisieren, die zugleich, wo angängig, selber die Produktion der gewünschten Güter in die Hand nehmen; ein genialer Gedanke, der zuerst von ihm geäußert worden ist!“ (S. 20) Sodann stellt Adler „einige Andeutungen“ und „Angaben“ dar, die Stirner über die „Regeln“ macht, die die „Vereine [. . .] für das geordnete Zusammenleben ihrer Mitglieder im Wirtschaftsprozesse“ aufstellen werden, etwa zur „Organisation der Arbeit“ (S. 21 – H. i. O.), zu Fragen des Lohns, der Taxe, des Geldes und der sozialen Fürsorge (vgl. S. 21 f.). Dadurch entsteht ein vergleichsweise konkretes Bild vom „Wirtschaftsleben in der von egoistischen Vereinen organisierten Welt“ (S. 22). Davon abgesehen, daß er weniger skrupulös als die Juristen Stammler und Eltzbacher mit dem Vertrags- und Rechts-Begriff umgeht und sich dafür genauer über die insbesondere ökonomische Struktur des Vereins äußert, deutet nun also auch der Nationalökonom Adler Stirners Einzigen ausdrücklich nach dem Interpretationsschema der Je-Einzigkeit. Stirner zufolge stelle „[j]eder Mensch ein einziges Exemplar dar, das selbstverständlich sich als Selbstzweck betrachten muß.“ (S. 3) Diese anthropologische Prämisse enthält bereits die später bei Löwith systematisch behandelte Unterscheidung von Personalität (‚jeder Mensch‘) und Individualität (‚einzig‘) und die darin begründete existentielle Spannung in der Identität des Individuums: Zu dem, worin ‚jeder Mensch jedem Menschen‘ gleich ist (Personalität), gehört eben auch die ‚einzige‘ Struktur (Individualität), das, worin sich ein Individuum von allen anderen Individuen unterscheidet – ohne dabei aufzuhören, Gemeinsames mit anderen zu haben. Je-Einzigkeit bedeutet demnach: Alle sind gleichermaßen ‚Einzige‘, und nicht nur ‚Menschen‘. „Die Absicht Stirners war darauf gerichtet, ein Prädikat zu finden, das so allgemein wäre, daß es Jeden in sich begriffe. Nun drückt freilich das Prädikat ‚Mensch‘ wirklich aus, was Jeder ist. Allein dieses Was ist zwar Ausdruck für das Allgemeine in Jedem, für das, was Jeder mit dem Andern gemein hat, aber es drückt nicht aus, wer Jeder ist.“ (S. 4 – H. i. O.) Um dies auszudrücken, habe Stirner ‚den Einzigen‘ ersonnen, der bekanntlich „kein Begriff sei, sondern nur ein Name für den wirklich individuellen Menschen. [. . .] Du kannst Dich eben nicht definieren, denn Du bist kein Begriff.“ (S. 4 – H. i. O.) Aus dieser anthropologisch-existentiell verankerten Individualitäts-Struktur, der Je-Einzigkeit, ergibt sich in Adlers Stirner-Deutung, anders als später bei Löwith, unmittelbar eine normative Wendung, als deren Konsequenz wiederum ‚Stirners anarchistische Sozialtheorie‘ folgt: „Jedes Ich ist also ein einziges und seine natürliche Aufgabe ist: soweit ihm möglich, die Außenwelt seinen Bedürfnissen dienstbar, sie damit zu seinem Eigentum zu machen [. . .]. Jeder ist das Zentrum seiner Welt. Welt ist ja nur das, was er nicht selber ist, was aber zu ihm gehört, mit ihm in Beziehung steht, für

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ihn da ist.“ (S. 4 – H. i. O.) Aus der je-einzigen Individualität und Ego-Zentrizität wird die Aufgabe der Weltaneignung abgleitet, und zwar als normativer Anspruch, der sowohl an das Individuum gerichtet ist als auch von diesem selbst geltend gemacht wird. Die Konsequenz ist in Adlers Rekonstruktion des „sozialphilosophischen Systems“ Stirners (S. 45) der Anarchismus, als Kritik der bestehenden sozialen Verhältnisse und Forderung nach ihrer revolutionären Überwindung zugunsten einer neuen sozialen Ordnung, die diesen Ansprüchen gerecht wird, einer „neuen Welt, wo jeder sich als Einzigen und die Welt als sein Eigentum weiß“ (S. 28). In dieser „neue[n] Ordnung“ (S. 43), die „die ganze Menschheit umfaßt“ (S. 18), soll „der Egoismus aller Einzelnen seine volle Befriedigung finde[n]“ (S. 43). Ähnlich wie Eltzbacher unterscheidet auch Adler diesbezüglich zwischen der von Stirner propagierten „Taktik (d. h. der zum Sturze des Bestehenden dienlichen Mittel)“ (S. 42 – H. i. O.) und dessen programmatischer Zielsetzung, der „neue[n] Ordnung“ der Anarchie (S. 43). Damit kann Adler sein früheres Verdikt über den destruktiven und antisozialen Charakter des ‚antimoralischen Anarchismus‘ Stirners49 in seine Beschreibung der ‚anarchistischen Sozialtheorie‘ Stirners integrieren. Stirner „proklamiert den mit allen Mitteln zu führenden Klassenkampf des Proletariats gegen die Staatsgewalt und die herrschende Bourgeoisie: Generalstreik, Diebstahl, terroristische Verbrechen aller Art.“ (S. 42 – H. i. O.) Dies erscheint als „die letzte Konsequenz seines fundamentalen Prinzips. Dieses postuliert die vollkommendste Souveränetät des Individuums. Da aus ihm ohne Rücksicht auf bestehendes Recht, Moral und Sitte alle Folgerungen gezogen werden sollen, so muß schließlich Stirner dazu kommen, zur Wegräumung der die Selbstherrlichkeit des Individuums einengenden Gewalten die Notwendigkeit der individuellen Gewaltakte und der rohsten Selbsthilfe des Proletariats anzuerkennen.“ (S. 42 – H. i. O.) Deswegen wiederholt Adler seine frühere Einschätzung, daß „Stirner als der Stammvater jener moralinfreien anarchistischen Doktrin anzusehen ist, die alle Exzesse der Revolutionäre, alle Orgien der Individuen rechtfertigt und anpreist.“ (S. 43) Die Konsequenzen „dieser furchtbaren Lehre“ müssen zwar, jenseits der rein taktischen Frage, zunächst auch generell auf „das Verhalten des Individuums im sozialen Leben“ bezogen werden, wie Adler ausdrücklich gegen „neuerdings [gemachte] Versuche“ einwendet, „Stirners Lehre als harmlosen Sozialismus hinzustellen“ (S. 24): „Das Individuum kennt keine Aufgabe und keinen Beruf, keine Pflicht und kein Ideal, kein Gewissen und keine Sünde! Eine Rücksicht auf Mitmenschen giebts nicht für den Einzigen, – außer wo sie in seinem Interesse gelegen ist. Er scheut, wenn es ihm gut dünkt, weder vor dem Bruch mit dem Liebsten auf Erden – mit der Mutter, der Gattin, 49

Vgl. Adler (1898); siehe auch oben, V. 2.

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dem Freunde – noch vor dem Einbruch in fremdes Gut oder fremdes Leben zurück. Unter jener Voraussetzung schreitet auch der Einzige (wie Stirner ausdrücklich mitteilt) kalten Blutes zu Meineid, Mord und Blutschande.“ (S. 24 – H. i. O.) Dieses rein antisoziale Bild des Einzigen relativiert Adler aber sogleich zugunsten einer sozial harmonischeren Konzeption von Je-Einzigkeit gemäß der von Stirner projektierten ‚anarchistischen Sozialtheorie‘, wenn er betont: „Man darf nun aber nicht glauben, daß in dem von Stirner postulierten Zustande der egoistischen Vereine, worin sich das Ich ausleben kann, wirklich fortwährend Scheußlichkeiten begangen werden würden. Es ist vielmehr die Meinung Stirners, daß sich neue Verkehrsregeln zwischen Individuum und Individuum ergeben würden, die – diktiert vom beiderseitigen Egoismus – ein Neben-einander-Leben und Zusammenleben ermöglichen würden, bei dem Niemand zu kurz kommen würde (genau so, wie sich aus der gegenseitigen Übereinkunft der Egoisten in wirtschaftlichen Dingen angeblich ebenfalls ein sehr erträglicher Zustand für Alle ergeben hat).“ (S. 25) So will Stirner „trotz seiner radikalen Immoralität“ selbst „die höheren Werte aus unseren Handlungen nicht verbannen“, sondern diese Werte, beispielsweise die Wahrheit, lediglich von ihren moralischen Begründungen befreien um „uns darüber aufzuklären, daß wir unser Interesse richtig verstehen“ und uns an diesen Werten aus „Eigennutz“ orientieren, also beispielsweise nicht zu lügen, um sich das Vertrauen anderer nicht zu „verscherze[n]“ (S. 25 – H. i. O.). Zudem wendet sich Stirner in seinem Streben nach Ich-Souveränität und mit der Kritik der ‚Besessenheit‘ nicht nur gegen die „fixen Ideen“, sondern auch – „von den Kritikern Stirners in der Regel übersehen“ – gegen die „menschlichen Leidenschaften“ (S. 26). „Leidenschaften sollen uns darum nicht beherrschen, weil wir dann unsre Eigenheit aufgeben, – wohl aber können wir alle lebhaften Gefühle hegen, mit denen keine Opferung unseres Ichs, vermutlich aber stets ein höherer Selbstgenuß verbunden ist.“ (S. 26 – H. i. O.) Und dies bezieht Adler mit Stirner gerade auch auf zwischenmenschliche Gefühle und die sozialen Beziehungen der Je-Einzigen untereinander, denn „ein Mensch, der all die Freuden nicht kennt und schmeckt, die aus der Teilnahme an Andern, d. h. daraus entspringen, daß man auch Andre ‚bedenkt‘, wäre ein Mensch, der unzählige Genüsse entbehrte, also eine – arme Natur! Wer einen Menschen liebt, ist um diese Liebe reicher als ein Andrer, der keinen liebt“ (S. 27 – H. i. O.) Und der Eigennutz souveräner Individuen sorgt schließlich in dem projektierten anarchistischen Zustand für eine nicht nur stabile, sondern auch gerechte soziale Ordnung: „Wenn man nun fragt: wird nicht bei dem zukünftigen Zusammenwirken der Menschen in den egoistischen Vereinen Jeder als Egoist auftreten und seinen Nutzen auf Kosten der Andern wollen? – so erwidert Stirner: Keiner wird auf Kosten der Andern sich mästen,

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weil – die Andern keine solchen Narren mehr sein wollen, ihn auf ihre Kosten leben zu lassen!“ (S. 28 – H. i. O.) Aus dem Prinzip der ‚vollkommensten Souveränität des Individuums‘ und seines ‚Eigennutzes‘ folgen also nicht nur negativistisch antisoziale und destruktive Tendenzen des Einzigen, sondern auch die positive Konzeption des Vereins mit seinem reichen Wirtschafts- und Sozialleben. Die Konzeption des Vereins ist für Adler die konsequente Umsetzung der normativen Vorstellungen, die der von Stirner artikulierten „Kritik der herrschenden Ordnung“ (S. 8) als Maßstäbe zugrunde liegen. Die anarchistische Quintessenz dieser Kritik, der „radikalste[n], die diese Ordnung je erfahren hat“ (S. 8), ist Adler zufolge Stirners fundamentaler Anti-Institutionalismus: „Solange – schließt Stirner seine Kritik der bestehenden Ordnung – auch nur Eine Institution noch besteht, die der einzelne nicht auflösen darf, ist die Eigenheit und Selbstangehörigkeit Meiner noch fern!“ (S. 12)50 Und eine Institution, die ein einzelner auflösen könnte, ist bekanntlich keine Institution, weswegen Stirners revolutionärer Appell zur ‚Empörung‘ nicht nur auf die „Zertrümmerung aller bestehenden Institutionen“ geht (S. 17), sondern auf die Vernichtung jeglicher institutioneller Struktur schlechthin; dies trennt seinen Anarchismus auch von anderen revolutionären Strömungen und Bewegungen und begründet namentlich seine Ablehnung auch des Kommunismus (vgl. S. 13 f.). Bei Stirners „Empörung“ handelt es sich „nicht um eine politische oder soziale Revolution, die neue Institutionen an Stelle der alten setzen soll [. . .], – sondern es handelt sich darum, daß die Individuen [. . .] sich gegen alle Institutionen empören, daß sie nicht die Aufrichtung irgend einer neuen sozialen oder politischen Verfassung erlauben, daß sie überhaupt sich nicht mehr einrichten lassen, sondern sich selbst als Egoisten einrichten.“ (S. 30 – H. i. O.)51 Mit der Darstellung des Anti-Institutionalismus als Dreh- und Angelpunkt des Stirnerschen Anarchismus, vom dem aus sich Stirners politisch-programmatische Aussagen sowohl zur „neue[n] Ordnung“ (S. 43) „einer nach fabrizierenden Konsumgenossenschaften gegliederten Gesellschaft“ (S. 41) als auch zur revolutionären Verwirklichung dieser Ordnung erschließen, nimmt Adlers Interpretation der Je-Einzigkeit eine spezifisch soziologische Wendung. Hiermit geht Adler in seiner Rekonstruktion und Kritik Stirners nochmals in signifikanter Weise über die Beiträge der Juristen Stammler und Eltzbacher hinaus. Das betrifft zwei von Adler an Stirner rekonstruierte und kritisierte Problemzusammenhänge. Zum einen liefert Stirner mit seiner anti-institutionalistischen Kritik zugleich sozialtheoretisch relevante Einsichten in die soziale Integrationsleistung und die Funktionsweise von Insti50 51

Vgl. Stirner, EE, S. 237 f. Vgl. Stirner, EE, S. 354 ff.

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tutionen, woraus er aber mit seinem daran anschließenden Projekt, Adler zufolge, falsche Schlüsse zieht (1). Zum andern liefert Stirner im Bemühen, das Proletariat als Adressaten seiner revolutionären Programmatik auszumachen, zwar bereits eine soziologische Analyse antagonistischer Strukturen in der Klassengesellschaft, verfehlt aber, wie Adler abschließend (in moderater Ideologiekritik) nachweist, den eigentlichen proletarischen Klassenstandpunkt und artikuliert statt dessen die Bewußtseinslage der ‚subproletarischen Boheme‘ (2). (1) Integrationstheoretischer Gehalt Stirner begründet seinen Anti-Institutionalismus damit, daß, wie Adler paraphrasiert, „alle[] sozialen Institutionen [. . .] die Eigenheit der Individuen an[tasten], sie sind eine Macht für sich, eine Macht über uns, ein von uns Unerreichbares, das wir zwar respektieren, anbeten, verehren, aber nicht bewältigen und verzehren können [. . .]. Sie bestehn durch unsre Resignation, unsre Selbstverleugnung, unsre Mutlosigkeit, genannt – Demut. Unsre Demut gibt ihnen Mut, unsre Unterwürfigkeit gibt ihnen die Herrschaft!“52 Abgesehen von aller Polemik erkennt Stirner damit das die Eigenart von Institutionen definierende Merkmal darin, daß diese gegenüber den Individuen einen von deren Eigenheiten unabhängigen, also überindividuellen, dauerhaften und im Konfliktfall sich gegen das Widerstreben einzelner durchsetzenden Geltungsanspruch erheben. Sie haben ihren Bestand darin, daß sie mit einer Macht, die auf ihrer sozialen Akzeptanz bzw. dem Glauben an ihre Legitimität beruht, eine überindividuelle Orientierung zur Geltung bringen; diese stellen sie als etwas ‚Absolutes‘ dar. „Institutionen nehmen in Anspruch, ein absolutes Interesse oder ein Interesse für sich zu repräsentieren, gleichviel ob Du daran ein Interesse nimmst oder nicht. Du sollst es zu Deinem Interesse machen“ (S. 11 – H. i. O.). Diese ‚Repräsentation‘ eines von den Eigenheiten der Individuen ‚Losgelösten‘ bzw. ‚Absoluten‘ bringt Gemeinsamkeiten der Individuen zur Darstellung53 und stiftet so eine dauerhafte Verbindung zwischen diesen, ein von deren Eigenheiten unabhängiges, individuell unverfügbares und deswegen sozialintegrativ wirk52 Adler (1907), S. 11 – H. i. O. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich im vorliegenden Unterabschnitt weiterhin auf Adler (1907). 53 Die neuere Institutionentheorie spricht diesbezüglich von ‚symbolischer Repräsentation‘ (z. B. von Wertüberzeugungen) und betont mit dem zeichentheoretischen Rekurs auf die semantische ‚Elastizität‘ des Symbols, als eines immer perspektivisch zu interpretierenden ‚hermeneutischen Phänomens‘, dessen sozialintegrative Leistungsfähigkeit, weil gerade dadurch gewährleistet wird, daß innerhalb eines relativ weitgesteckten Interpretationsrahmens Symbole individuell sehr verschieden gedeutet und daher je nach individueller Bedeutung als Identifikationsangebot angenommen werden können. Vgl. Göhler u. a. (1997) und Göhler (2000).

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sames „Band“, das die Individuen „umschließt“ (S. 12). Diese individuelle Unverfügbarkeit des ‚institutionellen Bandes‘ und der dadurch verbundenen bzw. integrierten und stabilisierten Sozialformen sowie die davon gegenüber den Einzelnen ausgehenden überindividuellen Orientierungsleistungen und Identifikations-‚Zumutungen‘54 stellt Stirner daher in unüberbrückbaren Gegensatz zum – in Adlers Deutung – Projekt der Je-Einzigkeit: „Die Individuen können nicht einzig sein, solange auch nur Ein Zusammenhang zwischen ihnen noch besteht. Hängt Ihr zusammen, so könnt Ihr nicht voneinander“ (S. 12 – H. i. O.). In soziologischer und spezifisch integrationstheoretischer Hinsicht ist Adler zufolge daher Stirners ‚Verein‘ – eine soziale Ordnung, die ausschließlich auf dem ‚aufgeklärten Eigennutz‘ der je-einzigen Individuen ‚basiert‘ (vgl. S. 25) – als die sozialtheoretische Alternative zu denjenigen sozialen Ordnungsformen konzipiert, die durch institutionelle, ein über-individuelles ‚Band‘ zwischen den Individuen knüpfende Strukturen stabilisiert und integriert werden. Letztere unterscheidet Stirner in Adlers Interpretation nochmals soziologisch nach der Beschaffenheit dieses ‚Bandes‘, nach der Art der institutionell symbolisierten Kollektividentität. „Den Verein hält (im Gegensatz zu Staat, Gesellschaft, Kirche usw.) weder ein natürliches noch ein geistiges Band zusammen: nicht Ein Blut, nicht Ein Glaube bringt ihn zustande. In einem natürlichen Bunde (wie einer Familie, einem Stamme, einer Nation) haben die einzelnen nur den Wert von Exemplaren derselben Art oder Gattung; in einem geistigen Bunde – wie einer Gemeinde, einer Kirche – bedeutet der Einzelne nur ein Glied desselben Geistes“.55 An die terminologische Unterscheidung von ‚Verein‘, ‚natürlichem‘ und ‚geistigem Bund‘ schließt später Hans Sveistrup systematisch in seiner Rekonstruktion der ‚Soziologie‘ Stirners an. Adler unterzieht im weiteren, im Lichte der auch von Stirner formulierten Einsichten, dessen „utopische Konstruktion eines streng von der Autonomie des Individuums ausgehenden sozialen Ideals“ (S. 36), nämlich des Vereins als einer sozialen Ordnung, die ohne Institutionen auskommen können soll, einer Kritik, die eben deren ‚utopischen‘ Charakter – im Sinne ihres Mangels an Realismus – nachweist. Gegen den ‚Verein‘ macht Adler die zivilisatorischen Errungenschaften und Orientierungs- und Disziplinierungsleistungen von Institutionen geltend, deren Wegfall keinen wünschenswerten Sozialzustand im Sinne der von Stirner idealisierten Je-Einzigkeit erwarten 54 So paraphrasiert Adler Stirners Auskünfte über den Staat als Institution: „der Staat [. . .] übt moralischen Einfluß, beherrscht meinen Geist, vertreibt mein Ich, um sich als ‚mein wahres Ich‘ an dessen Stelle zu setzen“ (Adler (1907), S. 17 – H. i. O.). 55 Adler (1907), S. 16 – H. i. O.; vgl. Stirner, EE, S. 349.

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ließe. Fällt nämlich „der Staat und jede ähnliche Institution fort, so tritt an die Stelle des öffentlichen Zwanges der – private! In Wirklichkeit würde darum die Aufhebung des Staates zur Proklamierung des Faustrechts führen.“ (S. 32 – H. i. O.) Überdies ginge der Verzicht auf die Entlastungs-Leistung von Institutionen an den Bedürfnissen der meisten Individuen vorbei, die sich von einem stetigen Reflexionszwang infolge des Verlustes dauerhaft gültiger lebensweltlicher Hintergrundgewißheiten und Selbstverständlichkeiten überfordert fühlten: „Ganz unrichtig ist [. . .] die Annahme, daß alle Menschen sich von den bestehenden Institutionen, Staat, Gemeinde, Familie usw., auch wirklich zu befreien wünschen. Stirner beurteilt hier die andern Menschen nach sich; in Wahrheit wollen die meisten Menschen in Ruhe und Frieden leben, auch wenn sie dabei einen Teil ihrer ‚Eigenheit‘ opfern müssen. Sie wollen nicht den fortwährenden Kampf um die Selbstbehauptung auf sich nehmen. Jeder wünscht vielmehr, sich in seiner sozialen Gruppe auszuleben, wodurch ihm viel Nachdenken und Kampf mit sich und Andern erlassen wird.“ (S. 32 f. – H. i. O.) – Freilich ist, wie Adler in seiner wissenssoziologisch-ideologiekritischen Analyse des ‚sozialphilosophischen Systems‘ Stirners zeigen wird, dieses selbst auch nichts anderes als die Idealisierung und Universalisierung der Selbstverständlichkeiten einer konkreten sozialen Lebensform, derjenigen der Boheme, deren anti-institutionalistischer Individualismus in einem Intellektuellen-typischen Akt grandioser Rücksichtslosigkeit von Stirner verabsolutiert und der restlichen Menschheit als Ideal zugemutet wird. Dies erklärt Adler aus der „unbedingte[n] Vorherrschaft des abstrakt-deduktiven Kalküls“ bei Stirner, welches ihn auch zu seiner Fehleinschätzung des Wertes von Institutionen führt: „aus der ‚Leibhaftigkeit‘ und Einzigkeit des Individuums werden Schlüsse über Schlüsse gezogen, – während die Notwendigkeiten der historischen Entwicklung und die Erfahrungstatsachen von Vergangenheit und Gegenwart kaum eines Blickes gewürdigt werden. Infolge davon bemerkt Stirner auch nicht, daß die Entwicklung von Kultur und Zivilisation und die Erhebung des Menschengeschlechts über die Tierheit zu einem sehr gewichtigen Teile auf der Ausbildung der Institution des Staates und von Moral und Sitte beruhen. Selbstverständlich spielen auch hier Gewalt und Unrecht eine große Rolle, – aber andererseits hat der menschliche Fortschritt nur durch die Disziplinierung der Individuen stattfinden können, und hierfür ist die Autorität der Sitte und des Gesetzes notwendig gewesen.“ (S. 33) Aus dem gleichen Grund unterschätzt Stirner schließlich auch die sinnstiftende und orientierende Bedeutung und die mobilisierende Kraft von Idealen und deren Identifikationswert nicht nur für die symbolisch-repräsentativen Mechanismen der von ihm verachteten Institutionen, sondern auch

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für die von ihm angestrebte „soziale Bewegung“, die er damit „von vorneherein zu Erfolglosigkeit verurteilt“ (S. 34). „Ideale und Illusionen sind neben vielem Anderen nötig gewesen, damit die Menschheit ihren Gang gehe und vom Zustande der Unkultur zu der gegenwärtigen Stufe der Zivilisation, Macht und Freiheit gelange. [. . .] Eine Bewegung, die sich gegen etwas Bestehendes richtet, muß, um die Einzelnen aus ihrer trägen Ruhe und Apathie zu reißen, an ihre Phantasie appellieren, ihr ein lockendes Bild vorgaukeln.“ (S. 34) Dagegen wird eine „Bewegung“, die sich darauf beschränkt, „den Leuten zu erklären: ihr könnt euch mit eurem Egoismus einrichten, wie ihr wollt, [. . .] ihren Anhang immer mehr schwinden sehn, da ihr blasses und schwächliches Ideal nicht Attraktionskraft genug besitzt, um den trägen und egoistisch gesinnten Einzelmenschen zu vermögen, seine Ruhe hinzugeben und sich das Herz zu beschweren oder gar wohl Opfer zu bringen. [. . .] Der Kitt, der eine Menge Menschen zu gemeinsamem Handeln verbindet und so aus der Masse der Einzelnen eine Einheit zustande bringt, – der elektrische Schlag, der die Trägheit des Individuums durchbricht, so daß es Ruhe und Gut, ja oft Freiheit und Blut dahin gibt, geht gerade von den von Stirner so sehr geschmähten Idealen aus.“ (S. 34) Daß aber der Anarchist Stirner dieses Anliegen hatte, eine soziale „Massenbewegung“ (S. 34), genauer, eine proletarische Bewegung ins Leben zu rufen, steht für Adler außer Zweifel. (2) Subproletarische Ideologie Stirners revolutionärer Appell richtet sich Adler zufolge eindeutig an das Proletariat, auf dessen Ausbeutung und Unterdrückung, aber auch auf dessen ‚pöbelhaftem‘ Verzicht, sich die Welt anzueignen, und auf dessen ‚uneigennütziger Unterordnung‘ die staatlich-kapitalistische Ordnung beruht, deren Nutznießer die Bourgeoisie ist.56 „Denn faktisch leben die oberen Stände auf Kosten der unteren, die viel arbeiten müssen – meist zwölf Stunden täglich – und dafür nur einen Lohn von ein paar Groschen erhalten. [. . .] Dieser Zustand erhält sich durch den Staatsschutz. Der Bourgeois ist, was er ist, durch den Staatsschutz. Er müßte fürchten, Alles zu verlieren, wenn die Macht des Staates gebrochen würde. Der Proletarier dagegen, der Nichts zu verlieren hat, braucht für sein ‚Nichts‘ den Staatsschutz nicht. Er kann im Gegenteil gewinnen, wenn jener Staatsschutz den bourgeoisen Schützlingen entzogen wird. [. . .] So bleibt die Klasse der Arbeiter [. . .] eine diesem Staate – dem Staate der Besitzenden – feindliche Macht. Ihr Prinzip, die Arbeit, ist nicht seinem Werte nach anerkannt; die Arbeiter56 Vgl. Adler (1907), S. 9, 29. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich im vorliegenden Unterabschnitt weiterhin auf Adler (1907).

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klasse wird ausgebeutet, ihre Leistungen von den Besitzenden, den Feinden, als Kriegsbeute betrachtet. So beruht der Staat auf der Sklaverei der Arbeit. Wird die Arbeit frei, so ist der Staat verloren!“ (S. 9 f. – H. i. O.)57 Aufgrund dieser Analyse erkennt Stirner im Proletariat das ‚revolutionäre Subjekt‘, oder genauer: diejenigen, die ‚sich empören‘ und so aufhören werden, ‚Pöbel‘ zu sein: „Der besitzlose Pöbel existiert nur dadurch, daß er den Gesetzen gehorcht: nur die Scheu des Zugreifens und die entsprechende Bestrafung desselben macht ihn zum Pöbel.“ (S. 29) Sobald ihm die Selbstverschuldetheit seiner Situation bewußt wird, wird das Proletariat – „die heute geknechteten Individuen“ (S. 28) – zum „Kampf gegen die herrschenden Mächte“ schreiten (S. 29), zum „Kampf der Selbstbehauptung“ (S. 7 – H. i. O.), womit der „Krieg Aller gegen Alle“ erklärt ist, „bis Staat und Gesellschaft aufgelöst und an ihre Stelle die egoistischen Vereine getreten sind.“ (S. 29) Denn „[n]ur der egoistische Kampf, der Kampf von Egoisten auf beiden Seiten, bringt Alles ins Klare!“ (S. 29 – H. i. O.) Dies ist Stirners Version des „Klassenkampf[es]“, über dessen ‚Organisation‘ „durch Anwendung von Gewalt gegen Arbeitswillige, durch Generalstreik, durch Diebstahl und alle terroristischen Verbrechen“ er detaillierte Auskünfte gibt (S. 29, vgl. S. 29 f.). Vom Kommunismus allerdings, mit dem Stirner in Adlers Interpretation die klassenkämpferische Entschlossenheit, den klassenanalytischen Zugriff und das Proletariat als Adressaten teilt, distanziert er sich Adler zufolge stramm anarchistisch. Stirner hat „entschiedener als jeder Andere Protest gegen alle Bestrebungen geistiger Dressur und Uniformierung eingelegt [. . .]. Er hat auch zuerst durchschaut, daß die Kommunisten, trotzdem sie den Staat angeblich abzuschaffen wünschen, faktisch einen neuen Staat aufrichten wollen, der vielleicht die Einzelnen materiell besser stellen mag, sich dagegen sicher an der freien Selbstbestimmung der Individuen grauenvoller versündigen würde, als der Staat der Gegenwart!“ (S. 35 f. – H. i. O.) In Adlers folgender Stirner-Paraphrase ist bereits 1907, ein Jahrzehnt vor der Oktoberrevolution und ein Vierteljahrhundert vor der nationalsozialistischen ‚Machtergreifung‘, etwas von der Ambivalenz in Stirners Kritik des Kommunismus erkennbar, aufgrund derer er dann rückblickend, aus der von diesen historischen Erfahrungen und dem Klima des Kalten Krieges geprägten Perspektive der 1960er Jahre, sowohl als frühzeitig warnender Totalitarismus-Kritiker als auch als antikommunistischer (und insofern in den Augen einiger Interpreten: protofaschistischer) Ideologe gedeutet werden konnte:58 „Gegen den Druck, den ich von den einzelnen Eigentümern erfahre, lehnt sich der Kommunismus mit Recht auf; aber grauenvoller noch 57 58

Vgl. Stirner, EE, S. 125 f., 127. Siehe unten, VIII. 1.

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ist die Gewalt, die er der Gesamtheit einhändigt! Die Braut von Korinth spricht jene grauenvollen Worte aus, mit denen das entsetzliche Verbrechen des Kommunismus gegen die freie Selbstbestimmung der Individuen enthüllt wird: ‚Opfer fallen hier, Weder Lamm noch Stier, Aber Menschenopfer unerhört!‘ Denn der Mensch wird geopfert, wo die freie Selbstbestimmung donnernd niedergeschmettert wird! Auf Sklavenschultern hoch emporgehoben, proklamiert der Kommunismus die Alleinherrschaft der Willenlosigkeit.“ (S. 14 – H. i. O.)59 Insbesondere vom Marxismus trennt den Anarchisten Stirner, neben der Kommunismus-Kritik und der von Adler hervorgehobenen terroristischen Taktik, sein mangelhaftes Verständnis des proletarischen Klassenbewußtseins. „Der moderne Proletarier, d. h. der Lohnarbeiter, hat keineswegs das Lazzaroni-Ideal, dessen Schönheit Stirner verkündet; er strebt auch nicht dahin, sich, unbekümmert um staatliche, soziale und sittliche Mächte, ‚auszuleben‘; er läßt sich auch nicht vom rohen Egoismus leiten, sondern er hat das volle Gefühl der Solidarität mit seinen Klassengenossen“ (S. 44). Ein Proletarier, der sich im Klassenkampf nicht von der klassenbewußten Solidarität, sondern vom Egoismus leiten ließe, würde um seines eigennützigen Vorteils willen schnell zum Klassenverräter, „der sich gegen gute Bezahlung von den Gegnern der proletarischen Interessen anwerben läßt: als Streikbrecher oder als ‚Spitzel‘“ (S. 35). Die Arbeiterbewegung kann daher nur in dieser Solidarität existieren und erfolgreich sein. Die klassenbewußten Proletarier wissen darüber hinaus auch „recht wohl, daß sie Moral und Sitte zu respektieren und eine ‚Aufgabe‘ zu verfolgen haben, die unter den heutigen Kulturzuständen nur lauten kann: regelmäßige Arbeit für jeden Gesunden und als Äquivalent dafür ein menschenwürdiges Dasein für den Proletarier! In Wahrheit entwickelt also die Arbeiterbewegung gerade moralische Potenzen“ (S. 44 – H. i. O.), die den „Lehren, die Stirner predigt“ diametral entgegengesetzt sind (S. 43). „Also: die Ansichten des Proletariats gibt die Stirnersche Lehre nun und nimmermehr wieder. Wohl aber sind hier die Ansichten des von Marx sog. Lumpenproletariats in ein geniales System gebracht.“ (S. 44 – H. i. O.) Aus einer ideologiekritischen Perspektive, die die durch ihren jeweiligen sozialen Entstehungskontext bedingten, spezifischen Latenzen bestimmter Weltdeutungen berücksichtigt, ist „Stirners Irrtum [. . .] erklärlich, denn – er kannte nicht das Proletariat. Was er kannte, waren die Philister und die – Bohêmiens, das gebildete Zigeunertum der Großstadt, unter denen er lebte und sich wohl fühlte. Das Proleta59

Die ‚Braut von Korinth‘ ist die weibliche Vampirfigur aus Goethes gleichnamigen Gedicht von 1797, die mit der von Adler zitierten Stelle den Verlust heidnischer Lebensbejahung unter dem asketischen Regime des christlichen Ideals beklagt. Vgl. Goethe (1797), S. 16; vgl. hierzu Sturm (1968), S. 560 f.; vgl. auch Stulpe (2001), S. 97.

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riat hatte er sich nach dem Bilde des Zigeunertums konstruiert, und so kam er dazu, es zu verwechseln mit dem – Lumpenproletariat.“ (S. 44 – H. i. O.) Damit gibt Adler die Antwort auf die von ihm selbst gestellte, wissenssoziologische Frage, „welche soziale Klasse und Gesellschaftsschicht es ist, deren Interessen- und Ideenkreis in Stirners Werk ihren theoretischen Ausdruck gefunden und sich hier gleichsam zu einem System krystallisiert hat.“ (S. 43 – H. i. O.) Was unter der Schicht des Lumpenproletariats und der Boheme zu verstehen ist, führt Adler weiter aus, unter Berufung auf das Kommunistische Manifest und den Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte.60 Demnach gibt Marx im Achtzehnten Brumaire die „genaueste Zeichnung des Lumpenproletariats“ in Form einer Aufzählung der sozialphänomenologischen Typen, die „die Affiliierten der bonapartistischen Bewegung“ bildeten: „neben zerrütteten Roués61 mit zweideutigen Subsistenzmitteln, neben verkommenen und abenteuernden Ablegern der Bourgeoisie Vagabunden, entlassene Soldaten, entlassene Zuchthaussträflinge, entlaufene Galeerensklaven, Gauner, Gaukler, Lazzaroni, Taschendiebe, Taschenspieler, Spieler, Kuppler, Bordellhalter, Lastträger, Literaten, Orgeldreher, Lumpensammler, Scherenschleifer, Kesselflicker, Bettler, kurz, die ganze unbestimmte, aufgelöste, hin- und hergeworfene Masse, die die Franzosen La Bohême nennen.“62 Adler folgt somit Marx’ diffamatorischer und soziologisch problematischer Gleichsetzung von ‚Lumpenproletariat‘ und ‚Boheme‘. In der von Adler zitierten Passage aus dem Achtzehnten Brumaire wird das ‚von den Franzosen als La Bohême‘ bezeichnete ‚lumpenproletarische‘ Milieu durch eine Aufzählung charakterisiert, durch die ‚Literaten‘ soziologisch der gleichen Gruppe wie Zuhälter zugeschrieben werden, und Adler beschreibt zwar eingangs – mit Blick auf Stirners Lebenswirklichkeit im Kreise der ‚Freien‘ im Berlin der 1840er Jahre – die ‚Boheme‘ als ‚gebildetes Zigeunertum der Großstadt‘ und verweist damit auf das gängige Verständnis von Boheme als ‚Intellektuellen-Subkultur‘,63 übernimmt dann aber das erweiterte und undifferenziertere Boheme/Lumpenproletariat-Verständnis von Marx.64 60 Den seit 1903/04 in den Dokumenten des Sozialismus III/IV zugänglichen Stirner-Abschnitt Sankt Max aus der – insgesamt erst 1932 veröffentlichten – Deutschen Ideologie von Marx und Engels erwähnt Adler hingegen nicht. 61 Roué = frz. ‚durchtriebene Person‘. 62 Marx, zit. n. Adler (1907), S. 45; vgl. Marx (1852), S. 80. 63 Vgl. z. B. Kreuzer (2000); Stein (1982). 64 Dies entspricht zwar, mit positiven Vorzeichen, durchaus den Selbststilisierungen einiger Bohemiens, wie oben zu sehen war; soziologisch ist es aber sinnvoller, derartige Selbst- und Gesellschaftsverständnisse als typisch bohemische Semantik von den sozialen Kontexten, in denen sie artikuliert werden, zu unterscheiden und den soziologischen Boheme-Begriff für die Bezeichnung dieser Intellektuellen-Subkulturen zu reservieren. – Siehe auch oben, VI. 2.

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Aus der in der vorliegenden Studie eingenommenen Perspektive einer Wissenssoziologie der Individualitätssemantik geht es nicht darum, Adler für seinen an dieser Stelle unreflektierten Anschluß an Marx zu kritisieren, oder gar Marx selbst; entscheidend und symptomatisch ist vielmehr, wie Marx und im Anschluß an ihn Adler in ihrem ideologiekritischen Beobachtungsschema dazu kommen, die soziologische Kategorie ‚Boheme/Lumpenproletariat‘ zu konstruieren, und welche sozialdiagnostischen Schlüsse sie daraus ziehen. Für Marx handelt es sich, von allen Diffamierungsabsichten abgesehen, bei dieser Begriffsbildung offensichtlich um eine soziologische und geschichtstheoretische Rest-Kategorie:65 Diejenigen, die sich klassensoziologisch weder der Bourgeoisie noch dem Proletariat zurechnen lassen, werden in ihrer Heterogenität unter dem Begriff ‚Lumpenproletariat‘ summarisch zusammengefaßt und mit geschichtstheoretischer Konnotation – von Adler aus dem Kommunistischen Manifest zitiert – insgesamt als die „passive Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft“66 charakterisiert. „Und für den Lumpenproletarier ist eben, nach Marx, charakteristisch, daß er sich nicht mit seiner Klasse solidarisch fühlt, sondern ausschließlich sein individuelles Interesse ins Auge faßt.“ (S. 45 – H. i. O.) Der Begriff des ‚Lumpenproletariats‘ und seine Gleichsetzung mit der ‚Boheme‘ ist also aus der ideologiekritischen Aufgabe und der klassensoziologischen Verlegenheit geboren, eine bestimmte, durch Amoralität und Egoismus charakterisierte ideologische Bewußtseinsdisposition bezüglich der ‚sozialen Klasse‘ oder ‚Gesellschaftsschicht‘ zu verorten, durch deren soziales Sein sie bedingt ist, ohne dabei auf die beiden großen antagonistischen Klassen, Bourgeoisie und Proletariat, zurückgreifen zu können. Gerade das von Marx konstatierte Fehlen von Klassensolidarität in dieser Ideologie und der ihr korrespondierenden lumpenproletarischen Schicht scheint zu belegen, daß es sich hierbei nicht um eine soziologisch und geschichtstheoretisch ernstzunehmende soziale Klasse handelt, sondern eben nur um „die ganze unbestimmte, aufgelöste, hin- und hergeworfene Masse, die die Franzosen la bohème nennen“.67 Daß der amoralische Egoismus das notwendige ideologische Korrelat einer klassenanalytisch nur negativ faßbaren, diffusen sozialen Lage ist, entspricht aus der Sicht einer Geschichtstheorie, die den Fortgang soziokultureller Entwicklungen wesentlich als Ergebnis von Klassenkämpfen versteht, der relativen Bedeutungslosigkeit dieser Ideologie wie auch der sozialen Schicht, der sie entspringt. Beide, das Lumpenproletariat wie auch sein amoralischer Egoismus, sind historische 65 Im Anschluß an die von Adler zitierte Passage aus dem Achtzehnten Brumaire bezeichnet Marx das „Lumpenproletariat“ als den „Auswurf, Abfall, Abhub aller Klassen“ (Marx (1852), S. 80). 66 Marx/Engels, zit. n. Adler (1907), S. 44; vgl. Marx/Engels (1848), S. 30. 67 Marx (1852), S. 80.

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Übergangsphänomene, die auf dem Weg zum Endkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat allenfalls ein retardierendes Moment darstellen können – wie Marx in seiner von Adler zitierten Bonapartismus-Analyse belegt –, im auf den Sieg der proletarischen Weltrevolution ausgelegten Klassenkampf-Finale aber keine Rolle spielen werden. Die klassensoziologische Unbestimmtheit entspricht der geschichtstheoretischen Bedeutungslosigkeit. Denn was sich innerhalb der Klassengesellschaft nicht als Klasse konstituiert – bzw. als Klasse beobachtbar ist – kann auch keine nennenswerte Rolle im Klassenkampf spielen – und deswegen letztlich geschichtstheoretisch keine Probleme machen: Wenn im Kommunistischen Manifest vom Lumpenproletariat als der ‚passiven Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft‘ die Rede ist, so schwingt in dieser Metaphorik auch diejenige Hegels von der „faule[n] Existenz“68 zur Bezeichnung eines geschichtsphilosophisch irrelevanten, weltgeschichtlich unwesentlichen bzw. ‚unwirklichen‘ Phänomens mit. Diesem Marxschen Gedankengang von der faktischen Bedeutungslosigkeit der lumpenproletarischen Ideologie folgt Adler zunächst in historischer Retrospektive, um die bisherige politische Wirkungslosigkeit des Stirnerschen Anarchismus im Gegensatz zur Geschichtsmächtigkeit des Marxismus zu erklären. Mit Blick auf die von Marx aufgezählten lumpenproletarischen „Affiliierten der bonapartistischen Bewegung“ befindet Adler: „In dieser Welt der Bohême war Stirner heimisch (wie wir aus den Tatsachen ersehen, die Mackay in seiner – trotz aller Verhimmelung – sehr verdienstvollen Biographie Stirners mitteilt): und ihre Anschauungen haben in Stirners Werk einen klassischen Ausdruck gefunden, sind hier gewissermaßen zu einer Theorie sublimiert. Stirner hat den Versuch unternommen, das moralinfreie Leben der Lumpenproletarier zu rechtfertigen, aber nicht auf rohe Manier, sondern durch die Entwicklung eines originellen und mit allen Bildungsmitteln der Zeit ausgerüsteten sozialphilosophischen Systems.“ (S. 45 – H. i. O.) Indem Adler Stirners ‚anarchistische‘ Ideenwelt einem bonapartistisch bewegbaren Lumpenproletariat zuordnet, legt er zugleich nahe, welche Art von sozialer Bewegung vom Anarchismus Stirners seiner Ansicht nach zu erwarten wäre – bei allen vorne dargestellten Vorbehalten, was die ideelle Tragfähigkeit und Mobilisierbarkeit einer solchen Bewegung seines Erachtens betrifft. Adler konnte, als er dies 1907 schrieb, noch nicht von den faschistischen Bewegungen der Zwischenkriegszeit wissen, und auch nicht von den auf diese bezogenen bonapartismustheoretischen Deutungsversuchen69 im An68

Hegel, Werke 12, S. 53. Also die – etwa von dem Austromarxisten Otto Bauer vorgelegte – Erklärung des Faschismus aus der Vorstellung, daß die Bourgeoisie angesichts einer erstarken69

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schluß an Marx’ Achtzehnten Brumaire – ebensowenig wie Marx selbst, von Stirner ganz zu schweigen. Dennoch ergibt sich aus Adlers – soziologisch diskutablem – Anschluß an die aus den schematischen Limitationen der Klassensoziologie entstandene Lumpenproletariat-Boheme-Terminologie von Marx mit ihren Bonapartismus-analytischen Implikationen und aus seiner wissenssoziologischen Anwendung dieser ideologiekritischen Schematik auf Stirners Anarchismus ein sozialdiagnostischer Befund, der über die Tendenzen der Vorkriegszeit hinausweist. Denn die zu diesem Zeitpunkt bereits bekannte Interpretationsformel ‚Stirner als Boheme-Philosoph‘ erfährt durch Adlers Analyse einen Bedeutungswandel. In seiner Interpretation steht sie nicht mehr für einen – für viele Zeitgenossen als ärgerlich wahrgenommenen, von den meisten aber als letztlich harmlos betrachteten und mitunter auch begrüßten – Individualismus, der mehr oder weniger effekthascherisch von Literaten, Publizisten und anderen Intellektuellen propagiert wird. Sondern sie steht hier für die politische Ideologie potentieller Massenbewegungen von klassenmäßig ungebundenen sozialen Schichten, die weder als ‚bürgerlich‘ noch als ‚proletarisch‘ zu klassifizieren sind, und die in ihrer antibürgerlichen, (sich daher mitunter fälschlich für proletarisch haltenden, aber dezidiert) nichtproletarischen Stoßrichtung eine größere Gefahr für die bürgerliche Klassengesellschaft und ihren Staat darstellen, als es die Intellektuellen-Subkulturen für sich mit ihrer Infragestellung der bürgerlichen den Arbeiterbewegung die politische Macht an eine ‚dritte‘, nichtproletarische und nicht-bourgeoise Kraft abgibt, nämlich die bonapartistische/faschistische Bewegung, um dadurch ihre sozioökonomische Machtposition nicht an das Proletariat zu verlieren (vgl. Wippermann (1997), S. 12 f.). „Die Bourgeoisie [. . .] begriff, daß alle sogenannten bürgerlichen Freiheiten und Fortschrittsorgane ihre Klassenherrschaft zugleich an der gesellschaftlichen Grundlage und an der politischen Spitze angriffen und bedrohten, also ‚sozialistisch‘ geworden waren. [. . .] Was sie aber nicht begriff, war die Konsequenz, daß ihr eignes parlamentarisches Regime, daß ihre politische Herrschaft überhaupt nun auch als sozialistisch dem allgemeinen Verdammungsurteil verfallen mußte.“ (Marx (1852), S. 70 f. – H. i. O.) Mit der Etablierung des Parlamentarismus und der liberalen Freiheiten und mit deren zunehmender Nutzung durch die sozialistischen Parteigänger des Proletariats mußte die Bourgeoisie dies aber schließlich erkennen. „Indem also die Bourgeoisie, was sie früher als ‚liberal‘ gefeiert, jetzt als ‚sozialistisch‘ verketzert, gesteht sie ein, daß ihr eignes Interesse gebietet, sie der Gefahr des Selbstregierens zu überheben, daß um die Ruhe im Lande herzustellen, vor allem ihr Bourgeoisparlament zur Ruhe gebracht, um ihre gesellschaftliche Macht unversehrt zu erhalten, ihre politische Macht gebrochen werden müsse; daß die Privatbourgeois nur fortfahren können, die andern Klassen zu exploitieren und sich ungetrübt des Eigentums, der Familie, der Religion und der Ordnung zu erfreuen, unter der Bedingung, daß ihre Klasse neben den andern Klassen zu gleicher politischer Nichtigkeit verdammt werde; daß, um ihren Beutel zu retten, die Krone ihr abgeschlagen und das Schwert, das sie beschützen solle, zugleich als Damoklesschwert über ihr eignes Haupt gehängt werden müsse.“ (Marx (1852), S. 71 f. – H. i. O.).

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Werteordnung könnten. Dementsprechend versteht Adler den Anarchismus Stirners auch weder als ein ideologisches Alternativangebot für die Arbeiterbewegung, das mit dem Marxismus um die Gunst des Proletariats rivalisierte, noch als eine letztlich affirmative Variante bürgerlicher Ideologie, sondern als den eigenständigen ideologischen Ausdruck einer potentiellen dritten, in Ermangelung besserer soziologischer Kategorien vorläufig ‚Lumpenproletariat‘ genannten sozialen Kraft jenseits von Bourgeoisie und Proletariat, die allerdings welthistorisch noch nicht in nennenswerter Weise in Erscheinung getreten ist. Adlers retrospektiver Befund ist daher – im Gegensatz zu den von Marx und den Marxisten gehegten geschichtstheoretischen Gewißheiten bezüglich der siegreichen proletarischen Weltrevolution – als prognostisch offen zu verstehen: „Unsere Vergleichung der beiden Systeme hat also gelehrt, daß das Stirnersche die Interessen des Lumpenproletariats, das Marxische dagegen die des arbeitenden Proletariats vertrat. Und daraus erklärt sich auch die Verschiedenheit ihrer Bedeutung für die spätere soziale Politik und Geschichte. Indem Marx das ausschließliche Klasseninteresse des Proletariats kultivierte und diesem in Gegenwart und Zukunft die Hauptrolle auf der Weltenbühne zuschrieb, lieferte er ihm sein Dogma, sein Stichwort und das für aktive politische Handlungen großen Stils nötige unverwüstliche Selbstvertrauen; und so hat seine Lehre die Arbeiterbataillone in nie geahntem Maße mobil gemacht und als Mittel zur Organisierung des internationalen Proletariats eine weltgeschichtliche Bedeutung erlangt. Stirner dagegen vermochte darum nicht zu wirken, weil er die Interessen der Lumpenproletarier vertrat, die bisher unfähig gewesen sind, sich zu organisieren und als politisch handelnde Klasse auf der Weltbühne zu erscheinen!“ (S. 46 – H. i. O.) – Auf dem ‚bisher‘ liegt 1907 die Betonung. Das weitere Schicksal Stirnerscher Je-Einzigkeit ist in dieser Sicht also mit demjenigen des Proletariats oder der Bourgeoisie nur negativ verbunden: Sie wird ihre Durchsetzung nur jenseits des klassischen Klassenantagonismus finden, als Alternative zur bürgerlichen Klassenherrschaft, aber auch zur Diktatur des Proletariats. Vorläufig bleibt die Je-Einzigkeit bzw. der ‚Verein‘ für Adler die Utopie des von Klassenbindungen freien ‚Lumpenproletariats‘. Stirners anarchistische Sozialtheorie war Georg Adlers Beitrag zu den Festgaben für Wilhelm Lexis, den vormaligen Göttinger Professor für Staatswissenschaften und Mitherausgeber jenes Handwörterbuchs der Staatswissenschaften, in denen sein Schüler Adler die Anarchismus-Artikel plazieren konnte. So schließt sich am Beispiel der Stirner-rezeptionsgeschichtlich relevanten Beiträge Adlers nicht nur karrierebiographisch ein Kreis, sondern es zeigt sich vor allem exemplarisch, wie sich das Bild des (Je-)Einzigen und seines Vereins als bezüglich ihrer sozialtheoretischen und

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sozialdiagnostischen Implikationen zumindest diskussionswürdige anarchistische Utopie im wissenschaftlichen Diskurs seit der Jahrhundertwende etablieren konnte. Darüber hinaus ist in Georg Adlers institutionen- und integrationstheoretischen Überlegungen bereits die im folgenden noch deutlicher bei Max Adler und später insbesondere bei Hans Sveistrup zu beobachtende Tendenz zu erkennen, Stirner auch unabhängig von der Anarchismus-Frage nicht nur als Objekt sozialwissenschaftlicher Analyse, sondern auch als deren theoretische Inspiration zu behandeln. Unter den Stirner-Interpretationen der Vorkriegszeit, die die Je-Einzigkeit unter dem Aspekt der sozialen Welt der Einzigen in den Blick nehmen, verdient diejenige des Austromarxisten Max Adler schließlich noch eine eingehendere Betrachtung, und zwar sowohl generell wegen ihres originellen und in vielen Details vorausweisenden Charakters als auch vor dem spezifischen Hintergrund der bisher behandelten Deutungen der sozialen Welt der Je-Einzigen. Unter diesen nimmt Max Adler eine Ausnahmeposition insofern ein, als er Stirners Einzigen und sein Eigentum zwar, ebenso wie seine Kollegen Stammler, Eltzbacher und Georg Adler, nicht bloß als individualistische Philosophie, sondern als politisch-ideologischen Projektentwurf deutet und diesen, wiederum ähnlich wie Stammler und Georg Adler, auch unter dem Aspekt seiner sozialwissenschaftlichen Anschlußfähigkeit betrachtet. Aber einerseits bewertet er Stirners sozialwissenschaftlich, insbesondere psychologisch relevante Einsichten bezüglich ihres Erkenntniswertes und ihrer Praktikabilität sehr viel positiver als insbesondere sein Namensvetter Georg – so daß bald ein Vierteljahrhundert später Hans Sveistrup in seiner Abhandlung Stirner als Soziologe (1928) sich auf beide Adlers stützen, dabei aber bemängeln kann, Georg sei, anders als Max, nicht konsequent genug weitergegangen in seiner Stirner-Deutung.70 Andererseits, und das ist die prinzipielle Differenz Max Adlers zu seinen genannten Zeitgenossen, deutet er das politisch-ideologische Projekt des Einzigen nicht als Anarchismus, sondern – und darin liegt Max Adlers Singularität in der marxistischen Stirner-Interpretation – als dezidiert proletarisch-sozialistische Weltanschauung. b) Max Adler und die marxistische Ideologiekritik Max Adler71 gilt neben Otto Bauer, Karl Renner und Rudolf Hilferding, mit dem zusammen er seit 1904 die Theoriezeitschrift Marx-Studien herausgab, als einer der profiliertesten Protagonisten des Austromarxismus und als der „politisch [. . .] exponierteste Vertreter der sozialistischen Linken in der 70 71

Vgl. Sveistrup (1928), S. 108, 111. 1873–1937.

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österreichischen Sozialdemokratie“ des frühen 20. Jahrhunderts.72 Mit seinem im Oktober des ‚Stirner-Jahres‘ 1906 in der Arbeiter-Zeitung, dem Zentralorgan der österreichischen Sozialdemokratie, erschienenen Artikel Max Stirner und der moderne Sozialismus markiert der Wiener Anwalt und spätere Professor für Gesellschaftslehre73 eine Sonderposition innerhalb der marxistischen Stirner-Rezeption. Im erst kurz zuvor von Eduard Bernstein in den Dokumenten des Sozialismus 1903/04 erstmals veröffentlichten Sankt Max-Abschnitt74 aus der Deutschen Ideologie von Marx und Engels und in Plechanows zuerst 1894 erschienener, für den Marxismus der Zweiten Internationale paradigmatischer Analyse zum Verhältnis von Anarchismus und Sozialismus75 war Stirners Einziger ein Objekt der Ideologiekritik, an dem in exemplarischer Weise die kognitive Beschränktheit, moralische Fragwürdigkeit und politisch-soziale Destruktivität bürgerlich-individualistischer Ideologien analysiert und decouvriert wurde – und dieses Schema wurde in dieser Deutungstradition noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fortgeschrieben und variiert.76 aa) Franz Mehring Diese Art der Inblicknahme Stirners wird im marxistischen Diskurs schon früh standardisiert. Der Einzige wird so in einer Weise als Objekt der Ideologiekritik etabliert, an die später auch andere weltanschauliche Perspektiven anschließen; dies wird an einigen Aspekten der in der Zwischenkriegszeit erkennbaren ‚Verbürgerlichungs‘-Tendenz des Einzigen zu beobachten sein, die einhergeht mit einer, ihrerseits durch die marxistische Ideologiekritik beförderten, semantischen Entgrenzung des Prädikats ‚bürgerlich‘. Jedenfalls ist der ‚bürgerliche‘ Charakter des Einzigen eine konstruktive Errungenschaft marxistischer Ideologiekritik. Bereits 1894 hatte Franz Mehring, unter Berufung auf Bernstein und Plechanow, in seinem in der Neuen Zeit erschienenen Aufsatz Drillinge, über „Julius Faucher, den bedeutendsten deutschen Manchestermann, [. . .] Max Stirner, de[n] bedeutendsten deutschen Anarchisten, und Bruno Bauer, de[n] bedeutendsten deutschen Antisemiten“,77 den Nachweis geführt, daß „Anarchismus, Manchestertum und Antisemitismus [. . .] Drillinge [sind], aus einer Wurzel entsprossen und belebt von gleichen Säften.“ (S. 148) Dabei gesteht er Stirner zu, „durchaus 72

Göhler/Klein (1993), S. 572, vgl. S. 571 ff. Vgl. Senft (1992), S. 43 f. 74 Vgl. Helms (1966), S. 552 f. 75 Siehe oben, V. 4. b). 76 Siehe z. B. unten, VIII. 3. a). 77 Mehring (1894), S. 158, vgl. S. 153. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben in diesem und dem folgenden Absatz beziehen sich ebenfalls auf Mehring (1894). 73

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eine philosophische und auch eine revolutionäre Natur“ gewesen zu sein, und daß, wenn „es je ein Buch gegeben [hat], auf das der oft mißbrauchte Vergleich zutrifft, daß es mit dem Herzblute seines Verfassers geschrieben sei“, dies für Der Einzige und sein Eigentum gilt (S. 152). Gleichwohl ist für Mehring „[d]er Einzige, den Stirner lebendig macht, [. . .] nicht der Mensch, sondern ein Mensch, die fortgeschrittenste Sorte Mensch, die der halbverhungerte Schulmeister Kaspar Schmidt in dem vormärzlichen Berlin kannte: der Bourgeois mit seinem ‚Eigentum‘, dem Kapital, das nicht mehr vom Despotismus gepäppelt sein will, sondern stark genug geworden ist, um in schrankenloser Konkurrenz, in reinem Genuß seines Daseins sich selbst zu leben.“ (S. 152 – H. i. O.) Die ideologische Wirklichkeit des von Stirner im Einzigen und dessen Anarchismus propagierten „sozialrevolutionäre[n]“ und „philosophischen Ideals“ (S. 153) zeigt sich in seiner Fortführung in und Konfrontation mit der Realität der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft: „Für Anhänger Stirners, wie Faucher, genügte der Entschluß, nicht aus der wirklichen Welt zu wollen, um sich vom Anarchisten zum Manchestermann zu mausern. Für diesen Zweck reicht die schlichte Erkenntnis aus: Wir brauchen die beste der Welten nicht erst zu erstreben, denn wir haben sie schon.“ (S. 154) Gegenüber dem Manchester-Liberalismus, der die Spannung zwischen dem Einzigen, als dem „philosophischen Ideal vom Menschen“ (S. 153), und der bürgerlich-kapitalistischen Wirklichkeit dadurch auflöst, daß er letztere für mit dem Ideal identisch erklärt, bleibt der Anarchist Stirner, der den „schneidenden Widerspruch“ zwischen dem wirklichen Bourgeois, „dieser Spottgeburt von Dreck und Feuer“ (S. 152) und seinem Ideal als ungelöste Spannung empfindet, mit seinen sozialrevolutionären Bestrebungen ein Idealist. Das wiederum hat er mit Bruno Bauer gemeinsam, dessen idealistisches Verzweifeln an jener ungelösten Spannung diesen dann schließlich in einer doppelten Realitätsflucht in den Antisemitismus führte. „Aber zwischen Stirner und Bauer bestand der tiefe Unterschied, daß, während Stirner den abstrakten Menschen aus den Wolken in die wirkliche Welt versetzen wollte, Bauer den wirklichen Menschen noch höher in die Wolken jagte, als er schon durch den deutschen Idealismus gejagt worden war. [. . .] Aber indem Bauer in den blauesten Äther flüchtete, wurde er die deutsche Welt so wenig los, wie Stirner sie los wurde, indem er den abstrakten Menschen aus den Wolken auf die Erde holte. [. . .] Bauer brauchte einen Sündenbock, auf den er die kapitalistische Masse abladen konnte, und er fand ihn im Juden. Bei ihm versetzte sich der Kapitalismus als Antisemitismus, wie er sich bei Stirner als Anarchismus versetzt hatte.“ (S. 155) Bei allen zugestandenen Differenzen in der jeweiligen ideologischen Vermittlung zwischen philosophischem Menschen-Ideal und der bürgerlich-kapitalistischen Wirklichkeit sind doch, Mehring zufolge, im Kern diese drei Ideologien der

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lediglich variierte und letztlich affirmative Ausdruck jener Wirklichkeit und ihrer ungelösten Widersprüche. Deshalb kann er schließen: „In schroffem und unversöhnlichem Gegensatz zu den Drillingen Anarchismus, Manchestertum und Antisemitismus stand von Anfang an der wissenschaftliche Sozialismus. Sie haben seitdem oft die Schärfe seines Schwertes gekostet, und nicht fern ist der Tag, wo er dem kapitalistischen Ungetüm seine drei Köpfe vor die Füße legen wird.“ (S. 158) In dieser für die marxistische Ideologiekritik typischen Entgegensetzung von wissenschaftlichem Sozialismus und bürgerlicher Ideologie erscheint Stirner regelmäßig auf der Seite der Ideologie, als Objekt der Ideologiekritik, und zwar unabhängig davon, ob er dem Anarchismus zugerechnet wird oder nicht. Mehring selbst nimmt diese weltanschauliche Zurechnung des Einzigen zum Anarchismus später zurück. In der vierten Auflage seiner Geschichte der Deutschen Sozialdemokratie betont er, daß Stirner keineswegs „im Sinne irgend einer Schule Anarchist war oder sein wollte, sondern [. . .] die Schilderung eines anarchischen Gesellschaftszustandes ausgeführt hatte“, wodurch der Einzige bei Julius Faucher und anderen ‚Manchester-Liberalen‘ zu einem „Evangelium des Freihandels“ wurde, nämlich zu einer Apotheose der kapitalistischen Markt-Anarchie, „wodurch die allgemeine Schachermacherei zum tausendjährigen Reiche der Menschheit aufgestutzt werden konnte.“78 Mehrings Stirner-Abschnitt in der Geschichte der Deutschen Sozialdemokratie ist, wie nicht zuletzt diese erneute Bestätigung der Linie ‚Stirner-Faucher‘ zeigt, eine nur in Nuancen veränderte Neufassung des früheren Drillinge-Artikels. Zu diesen Nuancen zählt zwar auch, daß neben dem Anarchismus auch der Antisemitismus in dieser Deutung des Einzigen keine Rolle mehr spielt und daß Mehring zugesteht, daß Stirner „gründlich aufräumt mit der bürgerlichen und christlichen Heuchelei“ und daß er sogar „in seiner Weise den Klassenkampf [predigt]“.79 Aber das prinzipielle ideologiekritische Verdikt, Stirners Einziger artikuliere die Interessenlage der Bourgeoisie, deren Freihandels-Ideologie er vorweggenommen habe, bleibt bestehen. Demnach war es nur folgerichtig, daß sich die „deutschen Freihändler“ die vom Einzigen propagierte Forderung nach der „Abschaffung der Moral und des Staates“ ihrerseits ‚zu eigen‘ machten; denn sie waren „erwerbslustige, rührige Leute. Ihr praktisches Ziel hieß: alle Schranken des kapitalistischen Konkurrenzkampfes niederwerfen, ihre Parole: Gehen- und Gehenlassen, denn die Welt geht von selber.“80 Dieses wirtschaftsliberale Laisser-faire erweist sich so bei Mehring als Kern der Stirnerschen Ideologie und als deutlichster Ausweis ihres bürgerlichen Charakters. 78 79 80

Mehring (1909), S. 271. Mehring (1909), S. 269. Mehring (1909), S. 271.

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bb) Eugen Dietzgen Zu einer im Ergebnis ähnlichen Einschätzung Stirners gelangt etwa zur gleichen Zeit auch Eugen Dietzgen in seinem Nachwort zu Josef Dietzgens Streifzüge eines Sozialisten in das Gebiet der Erkenntnistheorie.81 Für Eugen Dietzgen ist „Stirner [. . .] der konsequenteste neuzeitliche Verfechter der individualistisch-anarchistischen oder bourgeoismäßigen Denkart, die unter ihren literarischen Größen die Schopenhauer, Hartmann, Nietzsche, Hauptmann, Ibsen, Lombroso, D’Annunzio, Tolstoi, Maeterlinck und Leute, wie Chamberlain und Brooks Adams, zählt.“82 Dies ist ein typisches Beispiel für die diskursive Funktion und polemische Stoßrichtung marxistischer Ideologiekritik an Stirner. Die Entlarvung des Einzigen hat eine Pars-prototo-Funktion, er steht stellvertretend für eine ganze Gruppe von ‚bürgerlichen‘ Intellektuellen, die aufgrund der strukturellen Ähnlichkeiten ihrer Ideologien und ihrer gemeinsamen sozialen Klassenlage bei Bedarf jeweils exemplarisch für den gesamten von ihnen repräsentierten ideologischen Traditionszusammenhang diskreditiert werden können. Darin, daß Stirner, der „markanteste[] Apostel des Anarchismus“,83 über „[d]ie ‚einzige‘ Allgewalt der Individualität [. . .] nicht hinauskommt“, zeigt sich in pointierter Form das strukturelle Defizit der ‚bourgeoisen Ideologie‘ schlechthin (S. 69): „Es ist sein Malheur und das aller Liberalen, die darin wesens81 Letzteren ist in der „Vorrede“ die fulminante Feststellung beigegeben: „Der Intellekt ist allen Menschen gemein und deshalb eine Angelegenheit der Gemeinschaft oder Gesellschaft, ein sozialdemokratisches Instrument und eine sozialdemokratische Angelegenheit.“ (J. Dietzgen (1886), S. 3) Der im Folgenden betrachtete Aufsatz von Eugen Dietzgen trägt den vollen Titel Max Stirner und Josef Dietzgen. Zur Einführung in die Denkmethode und Weltanschauung des Proletariats und ist in der 1905 von der Buchhandlung ‚Vorwärts‘ verlegten Neuausgabe jener Streifzüge Josef Dietzgens als Anhang veröffentlicht. Dieser interessiert hier nur bezüglich der für den marxistischen Diskurs typischen Ideologiekritik an Stirner, nicht bezüglich des von Eugen Dietzgen herausgearbeiteten spezifischen Beitrags Josef Dietzgens zu diesem Diskurs. 82 Dietzgen (1905), S. 64. – Der spätere Faschist Gabriele D’Annunzio (1863– 1938) war zu diesem Zeitpunkt schon als nietzscheanischer Romancier, Dichter und Dramatiker, als nationalistischer Politiker und Liebhaber der Schauspielerin Leonora Druse berühmt-berüchtigt. Der belgische Dramatiker und baldige Literaturnobelpreisträger (1911) Maurice Maeterlinck (1862–1949) hatte sich bereits als symbolistischer Dichter und Verfasser populärwissenschaftlicher und philosophischer Abhandlungen einen Namen gemacht. Der amerikanische Historiker Brooks Adams (1848–1927), Ur-Enkel des US-Präsidenten John Adams, war, ähnlich wie Houston Stewart Chamberlain (1855–1927), als Verfechter rassistischer Zivilisationskritik bekannt. – Zu diesen und weiteren biographischen Angaben vgl. Magnusson [Ed.] (1990), hier S. 9, 286, 383, 952. 83 Dietzgen (1905), S. 67. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich in diesem Unterabschnitt ebenfalls auf Dietzgen (1905).

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gleich sind mit den Anarchisten und den Autokraten, kurz dem ganzen Bürgertum, daß sie an den Spuk des an und für sich freien Individuums glauben.“ (S. 69 f.) Die Positionen Stirners und Nietzsches markieren nur die radikale eskapistische Konsequenz der bereits im bürgerlichen Phantasma dieses ‚an und für sich freien Individuums‘ angelegten Realitätsverneinung. In ihr sind „[n]icht die Natur, welche des menschliche Individuum hervorbrachte, und nicht die Gesellschaft, welche ihm das Leben ermöglicht, [. . .] die maßgebenden Gewalten, sondern der einzelne, der jene nur anerkennt, sofern sie ihm dienstlich sind. Falls sie ihm aber diesen Gefallen nicht tun, stellt der einzelne sich über Natur und Gesellschaft und wird – Uebermensch.“ (S. 69) Die widerständige Realität löst den Rückzug auf die ideologische Position grandioser Individualität aus. Diese Fluchtreaktion resultiert selbst aus der ideologischen Befangenheit des Bürgertums, nämlich dem Unvermögen, die soziale Wirklichkeit des Individuums realistisch zu erkennen (vgl. S. 88). Indem Dietzgen diese ideologische Befangenheit exemplarisch an Stirner nachweist, führt er daher zugleich das typische Schema der marxistischen Ideologiekritik überhaupt vor. Der ‚bourgeoismäßigen‘ oder ‚bürgerlichen Denkart‘ steht hier die ‚proletarische‘ des Marxismus entgegen, dem ‚falschen, ideologischen Bewußtsein‘ das ‚wahre, wissenschaftliche‘. Am Anfang steht das bekannte wissenssoziologische Kerntheorem des Historischen Materialismus, demzufolge das ‚Bewußtsein‘ durch das ‚gesellschaftliche Sein‘ bedingt ist, so daß dieses sich mit all seinen spezifischen Ausprägungen in jenem ausdrückt und daher einerseits eine Bewußtseinsform ihre soziale Herkunft verrät und erkennbar macht, andererseits aus der Kenntnis des sozialen Seins Erwartungen über die durch dieses bedingten Bewußtseinsformen abgeleitet werden können. Durch die klassensoziologische Deutung des sozialen Seins der modernen Gesellschaft wird in der wissenssoziologischen Reflexion des Marxismus der Antagonismus von Bourgeoisie und Proletariat auf die Bewußtseinseinsebene transponiert und erhält die ideologiekritische Form der Unterscheidung von ideologischem, durch den bürgerlichen Klassenstandpunkt bedingten Bewußtsein und wahrem, durch den proletarischen Klassenstandpunkt bedingten Bewußtsein. Der „Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat [gibt sich] auch in der Denkweise kund“ (S. 72). Die wissenssoziologische Reflexion der sozialen Seinsbestimmtheit des Bewußtseins und ihre klassensoziologische Deutung erfolgt selbst auf der ‚wahren‘, ‚proletarischen‘ Seite der ideologiekritischen Unterscheidung und beglaubigt in zweifacher Hinsicht deren epistemologischen Überlegenheitsanspruch gegenüber der ‚bürgerlichen Ideologie‘: Erstens mangelt es der Ideologie an Einsicht in die soziale Bedingtheit von Bewußtsein, so daß im Gegensatz dazu der Marxismus der Ideologie

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sowohl bezüglich der gesellschaftstheoretischen Erkenntnis als auch bezüglich der erkenntnistheoretischen Selbstreflexion überlegen ist. Beides verdichtet sich im historisch-materialistischen Kerntheorem von der sozialen Seinsbedingtheit des Bewußtseins. Vor diesem Hintergrund läßt sich Stirner, einem „der geistreichsten Köpfe der liberalen Intelligenz“ beispielsweise zugestehen, daß er mit einem „temperamentvollen Weckruf des Selbstgefühls [. . .] wenigstens Zweifel anregt in jeglichen Autoritätsspuk, welchen die aprioristischen Konstruktionen der göttlich-klerikalen, sittlich-liberalen und sozial-humanen Ideologie erzeugt haben.“ (S. 65) Aber seine „schwache Seite“, die gegenüber jenen von ihm in Frage gestellten „ideologischspekulativen“ Konstruktionen „nicht minder ideologisch-phantastische[] Verherrlichung des reinen Egoismus“, ist Ausdruck eben jenes Mangels an sozialwissenschaftlicher Einsicht (S. 66), und insofern ein typisches Merkmal bürgerlicher Ideologie: „In seinem Ringen nach einer positiven Weltanschauung kommt Stirner aus mangelnder Erforschung der Denk- und Gesellschaftsgesetze zu keinem klaren Resultat über die Stellung des Individuums gegenüber Gesellschaft und Natur.“ (S. 67) Ideologie ist – im Gegensatz zur wissenschaftlichen Erkenntnis – zunächst durch den Mangel an Reflexion der sozialen Seinsbedingtheit von Bewußtsein bestimmt. Zweitens weist der Marxismus im Zuge seiner wissenssoziologischen Selbstreflexion denjenigen Ort im klassensoziologisch gedeuteten sozialen Sein, durch den er als wahres Bewußtsein in Gestalt wissenschaftlicher Erkenntnis selbst bedingt ist, als einen aus soziologisch und geschichtstheoretisch beschreibbaren Gründen privilegierten Erkenntniszugang aus; dies ist der Klassenstandpunkt des Proletariats. Durch diese Strategie immunisiert sich der Marxismus gegen den Verlust seines gesellschaftstheoretischen und ideologiekritischen Vorsprungs gegenüber der ‚bürgerlichen Ideologie‘ auch dann, wenn er das Monopol auf Gesellschaftstheorie und wissenssoziologische Reflexion verloren hat. Selbst dort, wo bürgerliche Wissenschaftler die Gesellschaft beschreiben und die soziale ‚Seinsverbundenheit‘84 auch ihres eigenen Denkens reflektieren, geschieht dies aus marxistischer Perspektive immer notwendig unter den strukturell gegebenen kognitiven Beschränkungen des ‚bourgeoisen‘ Klassenstandpunktes und muß daher mit derselben Notwendigkeit ‚Ideologie‘ produzieren – deren offenkundigstes Merkmal aus marxistischer Sicht freilich darin besteht, daß sie den durch den proletarischen Klassenstandpunkt bedingten Erkenntnisvorsprung des Marxismus nicht anerkennt.85 84

Vgl. Mannheim (1929), S. 227 ff. Daß diese theoretische Immunisierung die faktische Relativierung des marxistischen Überlegenheitsanspruchs im Fortgang der historischen Ereignisse und der sozialwissenschaftlichen Reflexion nach dem Ersten Weltkrieg, etwa in der klassischen Wissenssoziologie Karl Mannheims, nicht verhindern konnte, steht auf einem ande85

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Die objektive Interessenlage des bürgerlichen Klassenstandpunktes verhindert die Einsicht in die Notwendigkeit der sozialistischen Entwicklung und die Anerkennung der diese wissenschaftlich begründenden und politisch erkämpfenden „proletarischen Weltanschauung“ (S. 88). Und weil auf der Gegenseite „[d]as Proletariat [. . .] der Träger dieser größten aller bisherigen Kulturbewegungen“ ist, die „die harmonische Entwicklung aller zur notwendigen Bedingung derjenigen des Einzelnen macht“ (S. 88), prädisponiert seine Klassenlage den Proletarier – und jeden, der diesen Standpunkt bewußt bezieht – für die „Erkenntnis der gesellschaftlichen und natürlichen Zusammenhänge“ (S. 72), die dem Bourgeois aufgrund seiner Klassenlage verborgen bleiben müssen. „Als Persönlichkeit ist der Proletarier genauso beanlagt wie der Bourgeois. Was ihn von diesem geistig vorteilhaft unterscheidet, kommt ihm nicht als Individuum an und für sich, sondern nur als Glied einer bestimmten Gesellschaftsklasse zu. Als Angehöriger der Lohnabeiterklasse, des Proletariats, ist es seine Wirtschaftslage, die ihm als einzigen veräußerlichen Besitz seine geistige und körperliche Arbeitskraft läßt, und ihm daher die Erkenntnis bringt, daß seine Macht und Gewalt nicht in seiner individuellen Kraft an und für sich, sondern in deren Anschluß an die Arbeitskraft seiner Klasse liegt. Der Proletarier gelangt also durch die Not seiner ökonomischen Lage zu der Erkenntnis, seine individuelle Kraft als gesellschaftliche zu gebrauchen. Dadurch wird er klassenbewußt, bewußt der Bedeutung und Macht seiner Klasse in der Gesellschaft. Wie aus diesem Klassenbewußtsein die sozialistischen Ziele der Vergesellschaftung der Arbeitsmittel notwendig entstehen, ist unschwer zu erdenken. Umgekehrt verfolgt der Bourgeois auf Grund des Privateigentums an Produktionsmitteln die entgegengesetzte individualistische Interessenvertretung. Wenn dieser sich mit seinen Klassengenossen verbindet, so unter dem Druck der Konkurrenz oder der proletarischen Organisationen nur in einem Stirnerschen Verein, dessen ‚Freiheit‘ ihm erlaubt, jederzeit seine Anteilscheine zu verkaufen und auszutreten, sobald der Verein gegen sein individualistisches Prinzip verstößt. Er kann – natürlich auf Kosten anderer – mit Hülfe des genannten Privateigentums sich der ‚Freiheit‘ des Vereins bedienen. Nicht so der Proletarier. Diesem zeichnet seine wirtschaftliche Stellung notwendig die dauernde Angliederung an eine Gesellschaft Gleichberechtigter vor, welche im gemeinsamen Interesse die Produktionsmittel gesellschaftlich anren Blatt; darauf wird unten im Zusammenhang mit dem vom Frankfurter Institut für Sozialforschung begründeten Programm einer Kritischen Theorie der Gesellschaft zurückzukommen sein. Wichtig ist aber, theoriearchitektonisch zwischen den beiden genannten Elementen, dem ‚wissenssoziologisch-reflexiven‘ und dem ‚geschichtstheoretisch-essentialistischen‘ zu unterscheiden; nicht nur, um die große Leistung des Historischen Materialismus zu würdigen, sondern auch, um sein weiteres Schicksal, inklusive der wissenssoziologischen Entwicklung von Mannheim bis Luhmann, zu begreifen.

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wenden, um jedem Mitglied das größtmögliche Glück der freiesten Entwicklung seiner physischen und geistigen Kräfte zu sichern.“ (S. 72) So wie der Stirnersche ‚Verein von Egoisten‘ als bourgeoise Organisationsform zur individualistischen Interessendurchsetzung im Konkurrenzkampf sowie als antiproletarische bzw. antisozialistische Abwehrorganisation der gegenwärtigen, bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft angehört und der „egozentralen [. . .] Denkform“ der gegenwärtig herrschenden Klasse entspricht (S. 73), so erzeugt die proletarische Lebenswirklichkeit in dieser Klassengesellschaft mit Notwendigkeit im proletarischen Denken den sozialistischen Gegenentwurf jener Gesellschaftsform, die die Zukunft der Menschheit bestimmen wird. So wie zu den Spezifika des durch den proletarischen Klassenstandpunkt bedingten – und dessen soziales Sein in diesen Spezifika ausdrückenden – Bewußtseins politisch die sozialistische Programmatik und epistemologisch die Fähigkeit gehört, „zur klareren Erkenntnis der gesellschaftlichen und natürlichen Zusammenhänge [zu] kommen“ (S. 72), gehört es demnach zu den spezifischen Merkmalen des bürgerlichen Bewußtseins, ‚ideologisch‘ zu sein, also die soziale Wirklichkeit nicht in wissenschaftlich wahrer, sondern nur in (objektiv notwendig) verzerrter Form zu deuten. Das bürgerliche Bewußtsein, die ‚bourgeoismäßige‘ Ideologie steht also prinzipiell in einem epistemologisch asymmetrischen Verhältnis zum proletarischen Bewußtsein, entsprechend der geschichtstheoretischen Asymmetrie der beiden antagonistischen Klassen der bürgerlichen Gesellschaft. Aufgrund dieser Selbstreflexion kann der Marxist sich selbst gegenüber dem ‚bürgerlichen‘ Wissenschaftler immer auf der geschichtlichen und epistemologischen Siegerseite verorten: denn vom bourgeoisen Klassenstandpunkt des letzteren läßt sich auf die mindere epistemologische Dignität, die Ideologiehaftigkeit seiner Weltdeutungen schließen. Der strukturellen, durch den proletarischen Klassenstandpunkt bedingten, epistemologischen Überlegenheit des Marxismus entspricht also auf der anderen Seite die strukturelle, durch den bürgerlichen Klassenstandpunkt bedingte, Beschränktheit der Ideologie; und deren ‚strukturelle Latenzen‘86 deckt die marxistische Ideologiekritik auf.87 In den spezifischen Merkmalen der Ideologie erschließen sich dem Beobachter ferner die Charakteristika der Klassenlage, die sich darin artikuliert. Man kann nicht nur aufgrund der Kenntnis des sozialen Seins Erwartungen bezüglich des auf diesem basierenden Bewußtseins begründen – also daß es entweder ‚ideologisch‘ (bourgeois) oder ‚wahr‘ (proletarisch) ist –, sondern auch in der umgekehrten Beobachtungsrichtung von den typischen Struktu86

Vgl. Luhmann (1997a), S. 768, 1121. In diesem Sinne läßt sich Ideologiekritik auch als strukturelle Latenz-Beobachtung bezeichnen. 87

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ren einer Bewußtseinsform auf die materielle Realität des diese bedingenden sozialen Seins schließen und so sowohl Aufschluß über dieses Sein gewinnen als auch die jeweilige Bewußtseinsform selbst – als ‚bourgeois‘ oder ‚proletarisch‘ – klassifizieren.88 So erkennt der Ideologiekritiker Dietzgen in der „ideologische[n] Befangenheit“ Stirners die typischen Limitationen des bürgerlichen Klassenstandpunktes in kognitiver wie moralischer Hinsicht. Das ideologische Konstrukt des Einzigen, der „liberal-anarchistische Traum des Individuums und seines Eigentums an und für sich, des von den Banden der Gesellschaft losgelösten Individuums“ (S. 73) ist ein typischer Ausdruck der bourgeoisen Klassenlage, die durch das Privateigentum an Produktionsmitteln und die individuelle Interessenvertretung im Konkurrenzkampf bestimmt ist. Stirner entwickelt theoretisch die „so konfuse Vorstellung vom Egoismus und von der Bedeutung und Macht des einzelnen, von der Gesellschaft losgelösten Individuums“, die ihn „und seine Anhänger, die Anarchisten jeder Schattierung und die Uebermenschen à la Nietzsche, auf gespannten Fuß mit aller nüchternen Logik bringt.“ (S. 66) Und praktisch empfiehlt er aufgrund dieser ideologisch-verblendeten Realitätsdeutung „als Allheilmittel – wie alle Anarchisten seitdem –, das bewußt egoistische, sich über die Gesellschaft stellende Selbst, d. h. den Einzigen und dessen psychophysische Kraft, als individuelle Kraft und Eigenheit auf den Weltthron zu setzen, allwo dieser Autokrat und Uebermensch nur individuelle Rechte über Natur und Gesellschaft ohne Pflichten genießt.“ (S. 65 – H. i. O.) Darin wird schließlich auch die antisoziale Gefährlichkeit der Ideologie – und im Rückschluß auch die Destruktivität des sozialen Seins, das in ihr zum Ausdruck kommt, der bürgerlich-kapitalistischen Konkurrenz-Gesellschaft – erkennbar, denn „[d]er das Zusammenhangs- und Abhängigkeitsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft-Natur verkennende Egoist ist gemein- und eigenschädlich, mithin ein besessener Egoist à la Stirner.“ (S. 85) 88 Diese zweite Beobachtungsrichtung gewinnt in der wissenssoziologischen, nicht im engeren Sinne ideologiekritischen Beobachtung bzw. Beschreibung der modernen Gesellschaft in dem Maße an sozialwissenschaftlicher und insbesondere gesellschaftstheoretischer Relevanz, in dem, spätestens seit der Gründung der klassischen Wissenssoziologie durch Karl Mannheim – in Luhmanns operativ-konstruktivistischer Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft wird dies dann zum reflexiven Leitmotiv – die Möglichkeit einer konkurrenzfreien wahren Beschreibung des sozialen Seins an Plausibilität verliert. In dieser Situation nimmt die Bedeutung wissenssoziologischer Beobachtung von Bewußtseinsformen (bzw. ‚Semantik‘) zu, weil sich die Gesellschaft nur in diesen, immer schon in perspektivisch standortgebunden interpretierter Weise bezüglich bestimmter ihrer Aspekte zu erkennen gibt: auch in solchen, die von sich behaupten, das soziale Sein ‚objektiv‘ zu erfassen. Vgl. hierzu z. B. Luhmann (1997a), S. 876 ff., 886 f., 1109 ff. – Siehe auch oben, I. 3. und II. 1.

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cc) Max Adler Im – aus der wissenssoziologisch reflektierten Übersetzung des klassenantagonistisch gedeuteten sozialen Seins in die durch dieses bedingte Bewußtseinssphäre gewonnenen – binären Schema marxistischer Ideologiekritik, der Unterscheidung von wahrem, proletarischen Bewußtsein und ideologischem, bürgerlichen Bewußtsein, wird Stirner also – wie früher bei Plechanow zu sehen war und jetzt die Beispiele Mehrings und Dietzgens zeigen – regelmäßig auf der bürgerlichen Seite verortet und ist damit Gegenstand dieser vom proletarischen Klassenstandpunkt aus betriebenen Ideologiekritik. Bei Max Adler avanciert Stirner dagegen vom Gegenstand marxistischer Ideologiekritik zu einem verdienstvollen und anschlußfähigen „Vorläufer“ des Marxismus, der „dem Denken und der Auffassung des modernen Sozialismus weit näher steht als irgend einer anderen revolutionären Richtung, speziell der des Anarchismus, für den er so oft fälschlich in Anspruch genommen wird“.89 Von besonderer Bedeutung für den Marxismus ist Stirner Adler zufolge gerade aufgrund seiner psychologischen Einsichten in die Struktur des Einzelbewußtseins und seiner davon ausgehenden, „überall glanzvolle[n] und tief eindringende[n] Bekämpfung aller und jeder Ideologie“.90 Anders als im Hauptstrom marxistischer bzw. marxistisch inspirierter Ideologiekritik ist Stirner bei Max Adler also nicht der Prototyp des ‚Ideologen‘, sondern der ‚Anti-Ideologe‘ schlechthin; und der Einzige ist nicht der Inbegriff des ideologisch verblendeten bürgerlichen Subjekts, sondern die konzeptionelle „Zerstörung, Vernichtung des ideologischen Bewußtseins“.91 Dies hebt Adler bereits für die Ebene Stirnerscher „Grundbegriff[e]“ hervor,92 und sieht somit die Ideologiekritik im Zentrum der sachdimensionalen Unterscheidung von ‚Einzigkeit‘ und ‚Besessenheit‘: Der „Sinn des ‚Einzigen‘“ erschließt sich aus der Bedeutung seiner Gegenbegriffe, nämlich „des ‚Spukes‘, des ‚Geistes‘“93 bzw. der „Besessenheit“,94 und letztere bezeichnen für Adler nicht bloß die je partikulare Unterwerfung des Bewußtseins, beispielsweise gegenüber moralischen Konventionen, der christlichen Religion oder dem Staat – wie in der bohemischen, nietzscheanischen oder anarchistischen Stirner-Deutung –, sondern „den gesamten Bereich des ideologischen Bewußtseins“.95 „Der ‚Spuk‘“, als „dessen Auflösung, Vernichtung der ‚Einzige‘ erscheint“, ist Adler zufolge „die 89 90 91 92 93 94 95

Adler Adler Adler Adler Adler Adler Adler

(1906), (1906), (1906), (1906), (1906), (1906), (1906),

S. S. S. S. S. S. S.

4 f. 2 f. 3. 16. 16. 18. 3.

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Ideologie überhaupt, die Stirner mit einer bis dahin unerhörten Schärfe psychologischer Analyse bekämpft. Überall zeigt er uns den Menschen der Gegenwart von ideologischen Mächten beherrscht. Religion, Recht, Sittlichkeit sind nur verschiedene Richtungen der Geistesherrschaft, die in einem ganzen System von Gedanken, von ideellen Werten eine wahre Hierarchie aufgerichtet hat, welche das eigene Wollen des Menschen in absoluter Unterwürfigkeit unter ihre Gebote hält.“96 Allerdings bedarf es des soziologischen Reflexionsniveaus des Marxismus, um einerseits diese theoretische Leistung Stirners angemessen zu würdigen und ins rechte Licht zu stellen, und um andererseits auch in praktischer Hinsicht die Postulate des Einzigen fruchtbar zu machen und den Ausgang aus dem von ihm aufgewiesenen, jenseits seiner individuellen Leibhaftigkeit scheinbar umfassenden ideologischen „Verblendungszusammenhang“97 zu erwirken.98 Da nämlich, wie Adler betont, Stirners Hauptinteresse der Entwicklung des Einzelbewußtseins galt,99 trat für ihn „das Phänomen der Gesellschaft [. . .] ganz zurück[] hinter dem die Gesellschaft zusammensetzenden Einzelmenschen“, und so „konnte er nicht jene andere Höhe der Auffassung erlangen, von der aus die Ideologie nicht mehr als wesenloser Schein sich zeigte, auf dessen Grund bloß das leibhaftige, desillusionierte Ich entdeckt werden müsse.“100 Die wissenssoziologische Einsicht, daß ideologische Formen mehr sind als individuelle Einbildungen des Einzelbewußtseins, daß sie der notwendige Ausdruck der gesellschaftlichen Verhältnisse sind, in denen das Individuum lebt, und daß diesen durch das soziale Sein bedingten Bewußtseinsformen daher in der soziologischen Analyse und Reflexion ein Erkenntniswert zukommt – diese Einsicht konnte der Psychologe Stirner noch nicht formulieren. Dies aber ist der „große Leitgedanke von Karl Marx“: „Der große Gedanke, daß diese Ideologie trotz ihres Scheins einen realen Gehalt verbirgt, den es nicht zu negieren, sondern zu erklären gilt, und der bestimmt wird, als der im sozialen Milieu der Menschen ausgeprägte, das heißt seinem jeweils historisch bedingten Bewußtsein zustande gekommene Ausdruck vorhandener Lebensinteressen, die nur in gesellschaftlicher Form dem einzelnen gegenüber erscheinen können [. . .] Deshalb ist Stirner bei aller Genialität in der Behandlung seines Problems und trotz der vielfach mit Marx in den Ergebnissen übereinstimmenden Kritik der Ideologie doch nur als Vorläufer der marxistischen Gedankenwelt zu betrachten.“101 Stirners ‚Psychologie‘ und die 96

Adler (1906), S. 17. Adorno (1959), S. 22. 98 Vgl. Adler (1906), S. 18 f. 99 Vgl. Adler (1906), S. 26. 100 Adler (1906), S. 4. 101 Adler (1906), S. 4. 97

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marxistische ‚Soziologie‘ schließen einander aber keineswegs aus, sondern sie verweisen aufeinander und stehen als analytische Perspektiven in einem Komplementärverhältnis. Für den Austromarxisten Adler sind Stirners Einsichten daher als „Vorläuferwahrheit“ zu verstehen, die aber „durch den Marxismus nicht etwa beseitigt, sondern erst in den richtigen Zusammenhang gebracht wurde.“102 Daher will Adler Stirner vor ungerechtfertigten, auf Mißverständnissen beruhenden Anfeindungen, aber auch vor falschen Vereinnahmungen in Schutz nehmen, um somit dessen „Bedeutung in der Geistesgeschichte überhaupt und speziell für die Entwicklung der sozialistischen Gedankenwelt“ gerecht zu werden „und dadurch ein engeres Verhältnis zwischen ihm und dem Proletariat anzubahnen, dessen weltgeschichtlichem Kampfe auch Stirners Lebenswerk gewidmet war“.103 Gerade die letzte Wendung, mit der Adler Stirner dem Proletariat anempfiehlt, zeigt, daß es ihm bei der Rehabilitierung Stirners nicht bloß darum geht, Stirner den ihm gebührenden Platz in der Geschichte der menschheitlichen Emanzipation zuzuweisen. Vielmehr ist Stirner aus Adlers Sicht in sowohl theoretischer als auch politisch-praktischer Hinsicht aktuell. Zur „geschichtlichen Größe seines geistigen Befreiungsversuches“ gesellt sich demnach „seine[] fortwirkende[] Bedeutung, denn noch sind wir nicht so frei, als daß uns sein Denken nicht noch Aufgaben setzte.“104 Dieses nicht nur historische, sondern auch systematische Interesse an Stirner ist im Kontext der erkenntniskritischen Programmatik Adlers zu sehen, in deren Zentrum, wie er es 1913 formuliert, die „Frage nach dem Verhältnis des Materiellen zum Ideellen, nach der Art der zwischen beiden bestehenden Beziehungen“105 steht. Adler zielt somit auf eine genauere Formulierung derjenigen Antwort, die Marx und Engels bereits 1845/46 in der Deutschen Ideologie auf jene Frage gegeben hatten, daß es – in der gleichsam kanonischen Fassung aus Zur Kritik der Politischen Ökonomie – „nicht das Bewußtsein der Menschen [ist], das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein [ist], das ihr Bewußtsein bestimmt“.106 Dieses ursprünglich in ideologiekritischer Absetzung vom Junghegelianismus Stirners und Feuerbachs artikulierte historisch-materialistische Kerntheorem zur Relation von sozialem Sein und Bewußtsein gewinnt bei Adler eine spezifische Form.107 Als der 102

Adler (1906), S. 7. Adler (1906), S. 5. 104 Adler (1906), S. 31. 105 Max Adler, zit. n. Göhler/Klein (1993), S. 572. 106 Marx (1859), S. 13; vgl. Marx/Engels (1845/46), S. 26 f. 107 Auch Lenin kommt zur gleichen Zeit in seiner Avantgarde-Theorie mit der Unterscheidung des genuin proletarischen, bloß trade-unionistischen Bewußtseins vom revolutionären Bewußtsein, das erst in das Proletariat hineinzutragen ist, zu ei103

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„entschiedene Vertreter eines kantianischen Marxismus“ erweitert Adler einerseits die erkenntnistheoretische Perspektive Kants soziologisch auf „den Bereich der ursprünglichen Vergesellschaftung des Menschen in Bewußtsein, Sprache und Kultur“ und betrachtet andererseits das so erkenntniskritisch „in den Blick kommende ‚Sozial-Apriori‘“ als einen konstitutiven Aspekt des ‚gesellschaftlichen Seins‘.108 Anders als es die klassische Formulierung des historisch-materialistischen Kerntheorems mit ihrer zumindest begrifflich strikten Entgegensetzung von ‚gesellschaftlichem Sein‘ und ‚Bewußtsein‘ suggeriert,109 auf die sich dann orthodox-marxistische Kritiker jeglicher ‚Psychologie‘ berufen konnten, konzipiert Max Adler das ‚Bewußtsein‘ nicht als ein bloß aus dem ‚Sein‘ abgeleitetes und diesem analytisch nachgeordnetes Phänomen, sondern, ähnlich wie bald darauf Karl Mannheim in seiner klassischen Wissenssoziologie, als einen soziologisch relevanten und eigenwertigen Bestandteil des ‚sozialen Seins‘.110 Mit seinem an Kant geschulten Verständnis des Marxismus als einer erkenntniskritischen Soziologie und der darin betriebenen systematischen Aufwertung der wissenschaftlichen Beobachtung von Bewußtseinsstrukturen als Teil der sozialen Realität gilt Max Adler daher „als Vorläufer eines strikt methodisch kontrollierten Marxismus als Wissenschaft“111 und als ‚Wegbereiter der Wissenssoziologie‘ Karl Mannheims.112 Gegenüber der marxistischen Orthodoxie von Plechanow, Kautsky und anderen Theoretikern der Zweiten Internationale begründet Adler mit diesem Ansatz nicht nur in theoretischer, sondern auch in praktischer bzw. ner Neubestimmung der marxistischen Sein-Bewußtsein-Relation, für die ihm ja vorgeworfen wurde, er würde den Historischen Materialismus von den Füßen auf den Kopf stellen; siehe oben, V. 4. b) ff). Insofern handelt es sich, wissenssoziologisch betrachtet, sowohl bei Lenins als auch bei Max Adlers diesbezüglichen Auskünften zwar um typische Intellektuellenideologien, die die weltgeschichtliche Verantwortung und Bedeutung des – parteiergreifenden, engagierten – Intellektuellen betonen, die aber zugleich die Evidenz des bisherigen Ausbleibens der proletarischen Weltrevolution reflektieren, also eine ‚Anomalie‘ (vgl. Kuhn (1976), S. 65 f.) des marxistischen Paradigmas bearbeiten. 108 Göhler/Klein (1993), S. 572. 109 Eine nicht zuletzt der stilistischen Prägnanz der Formulierung geschuldete Suggestion, für deren hermeneutische Betrachtung die anti-idealistische, spezifisch auf den Junghegelianismus zielende Stoßrichtung zu berücksichtigen ist, der sich die formelhafte Pointierung verdankt, ähnlich der Metaphorik des ‚Vom Kopf auf die Füße Stellens‘. Es spricht indes vieles dafür, daß es Marx und Engels gerade nicht darum ging, die alten Dualismen von ‚Idee und Materie‘, ‚Seele und Körper‘, ‚Bewußtsein und Sein‘ einfach umzukehren, sondern vielmehr ‚aufzuheben‘ – im dialektischen Sinn von negare, conservare und elevare. 110 Vgl. z. B. Mannheim (1928b), S. 346 ff.; Mannheim (1929), S. 179 ff. 111 Göhler/Klein (1993), S. 572. 112 Vgl. Meja/Stehr (1982a); vgl. auch Adler (1925).

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politisch-strategischer Hinsicht eine abweichende Position. Denn wenn Bewußtseinsstrukturen nicht bloße Reflexe eines wesentlich ökonomisch bestimmten sozialen Seins sind, sondern als eigenständiger und eigenmächtiger, ökonomisch irreduzibler Faktor dieser – weiterhin als Klassenantagonismus gedeuteten – sozialen Wirklichkeit zu verstehen sind, dann kommt der Auseinandersetzung mit Fragen des Bewußtseins bzw. der Ideologie auch und gerade im Klassenkampf eine besondere Bedeutung zu. Stärker als in der orthodox-marxistischen Betonung der ökonomischen Gesetzmäßigkeiten und der daraus folgenden historischen Notwendigkeit der Entwicklung zum Sozialismus und im Gegensatz zu den attentistischen Implikationen solcher geschichtstheoretischen Gewißheit ergibt sich aus Adlers Sicht die Forderung, aktiv durch Aufklärung und Erziehung zur Schaffung der bewußtseinsmäßigen Voraussetzungen der Revolution beizutragen, da sich die der Emanzipation im Wege stehenden ideologischen Befangenheiten, auch und gerade in der Arbeiterschaft, nicht quasi-naturwüchsig – infolge der notwendigen Zuspitzung der Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise – auflösen werden. „Dies macht verständlich, warum Max Adler sich mit großem Nachdruck für eine sozialistische Erziehungsbewegung einsetzt, deren Ziele er in seinem Buch Neue Menschen [1924] beschreibt. Träger der von ihm propagierten Erziehungsbewegung sind die Intellektuellen.“113 Bereits 1903 engagierte sich Adler in dem zum Aufbau einer Arbeiterschule gegründeten Verein „Zukunft“.114 Und an diesem systematischen Punkt, nämlich der Aufklärung des ideologischen Bewußtseins, setzt Adlers Interesse an Stirner ein, an dem sich zugleich seine Sonderstellung innerhalb des Marxismus verdichtet.115 Äußerlich wird die sowohl gegenüber der zeitgenössischen marxistischen Stirner-Deutung der Jahrhundertwende116 als auch gegenüber deren weiterer Fortschreibung im 20. Jahrhundert117 außergewöhnlich positive Behandlung des Einzigen und seines Autors in Max Stirner und der moderne Sozialismus nicht nur durch den Umstand ersichtlich, daß Adler – zwei Jahre, nachdem mit der Veröffentlichung von Marx/Engels’ Sankt Max die marxistische Anathematisierung des kleinbürgerlichen Ideologen Stirner gleichsam kanonisch geworden war – Stirner diese essayistische Würdigung zur einhundertsten „Wiederkehr seines Geburtstages [. . .] am 25. Oktober“118 zu113

Göhler/Klein (1993), S. 572. Vgl. Senft (1992), S. 43. 115 Zugleich ist Adlers Auseinandersetzung mit Stirner, ebenso wie die ideologiekritischen Gegenpositionen, generell symptomatisch für die den psychologischen und soziologischen Aufklärungsbedarf des Bewußtseins konstatierende semantische Lage seit der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert. 116 Siehe auch oben, V. 4. b). 117 Siehe unten, VIII. 1. a) und c) sowie 3. a). 114

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kommen läßt; sondern auch dadurch, daß Adler denselben Aufsatz in nur leicht veränderter Fassung in seinem von 1914 bis 1931 mehrfach aufgelegten,119 einschlägig betitelten Sammelband Wegweiser. Studien zur Geistesgeschichte des Sozialismus aufnimmt. Der auffälligste Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Variante des Stirner-Aufsatzes besteht in dem symptomatischen Fehlen des Schlußsatzes von 1906 in der am Vorabend des Weltkrieges redigierten Fassung von 1914.120 Letztere endet mit der bereits zitierten Feststellung: „noch sind wir nicht so frei, als daß uns sein [Stirners] Denken nicht noch Aufgaben setzte.“121 Acht Jahre zuvor folgte hierauf noch die optimistische Einschätzung: „Und das Proletariat ist in der geschichtlichen Lage, sie zu erfüllen.“122 Gerade aber die veränderte weltgeschichtliche Situation – das Versagen der Zweiten Internationale und der Mehrheiten der sie konstituierenden Arbeiterparteien im Angesicht des Weltkrieges, die nationalistische Begeisterung, mit der die Arbeiter in den imperialistischen Krieg zogen, ideologisch vereint mit ihren nationalen Bourgeoisien gegen ihre Klassengenossen –, die Adler 1914 auf diesen hoffnungsfrohen Satz verzichten ließ, begründete um so mehr die Dringlichkeit der von ihm mit Stirner behandelten Problemstellung, nämlich der psychologischen Analyse und Auflösung des ideologischen, falschen Bewußtseins als Voraussetzung der Revolution.123 118

Adler (1906), S. 2. Vgl. Helms (1966), S. 562. 120 Im Folgenden wird prinzipiell aus der ersten Fassung von Adlers Artikel (1906) zitiert, wobei die in der Regel identischen Stellen aus der zweiten Fassung dahinter zusätzlich nachgewiesen werden. Bei kleineren Abweichungen in Orthographie oder Zeichensetzung wird aus der (als Reprint vorliegenden) zweiten Fassung (1914) zitiert und dahinter die entsprechende Stelle aus der (neuedierten) ersten Fassung (1906) angegeben. Zitate, die nur in einer der beiden hier verwendeten Fassungen des Artikels vorkommen, werden in der Regel im Text als solche gekennzeichnet und sind an dem jeweils nur einfachen Nachweis (1906 oder 1914) erkennbar. Auf einen Abgleich mit den späteren Fassungen des Stirner-Artikels in den folgenden Auflagen von Adlers Wegweisern wurde verzichtet, da die hier behandelte Fragestellung nicht Adler-philologischer, sondern Stirner-rezeptionsgeschichtlicher Art ist und sich diesbezüglich zunächst auf die jeweils frühesten, im Zuge oder in Folge der Stirner-Renaissance aufkommenden Deutungen des Einzigen (hier: als Je-Einzigen) konzentriert, um von da aus gegebenenfalls interpretatorische Anreicherungen oder Neu-Deutungen des Einzigen weiter zu verfolgen. 121 Adler (1914), S. 199; Adler (1906), S. 31. 122 Adler (1906), S. 31. 123 Symptomatisch dafür, wie sehr die Weltkriegserfahrung, das Ausbleiben proletarischer Revolutionen in den in ihrer kapitalistischen Entwicklung am weitesten fortgeschrittenen Staaten und nicht zuletzt der revolutionäre Voluntarismus der Oktoberrevolution 1917 – aber auch das Erstarken des Faschismus – die Bedeutung der Bewußtseinsfrage im marxistischen Diskurs in den Vordergrund rückte, sind auch Georg Lukács’ Überlegungen zu Geschichte und Klassenbewußtsein, mit fol119

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Hierfür kann sich Adler auf Stirners „Grundvorstellung“ berufen, „wonach die wahrhafte Kritik der Ideologie sich nur durch eine Revolutionierung des Einzelbewußtseins bewerkstelligen“ läßt.124 Die psychologische Aufklärung gehört demnach unabdingbar in das Waffenarsenal der Revolution, sie ist Mittel, nicht etwa Ersatz des Klassenkampfes. Bereits „Stirner [. . .] war der festen Überzeugung, daß gerade das Mittel, das er wies, die Revolutionierung des Bewußtseins, nicht das Ziel, sondern der Weg sein müsse, daß es nicht eine Folge, sondern eine Bedingung auch der materiellen Umwälzung der bestehenden Gesellschaftszustände wäre. Und er war damit nicht ganz und gar im Unrecht. Denn die neue Zeit braucht neue Ideen, neue Menschen“,125 weshalb Adler selbst dann 1924 unter dem Titel Neue Menschen seine Auffassung zur sozialistischen Erziehung darlegt.126 Die aufklärende Arbeit am Bewußtsein der Individuen ist integraler Bestandteil der revolutionären Bewegung. Bereits Marx habe – freilich noch in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern, also vor der Gründung des Historischen Materialismus in der Deutschen Ideologie – die „Reform des Bewußtseins“127 auf die revolutionäre Tagesordnung gesetzt. „Die Revolutionierung des Bewußtseins, bei Stirner noch eine Forderung“, ist daher, wie Marx dann gezeigt hat, eine „geschichtliche Notwendigkeit. An die Stelle des Ich, in dem diese Umwälzung vor sich geht, tritt nun der historische Prozeß, der sie bewirkt, und was bei Stirner nur Charakter des revolutionierten Ich war, wird jetzt [bei Marx] erkannt als der Charakter jener gendem, ‚objektive‘ Gesetzmäßigkeiten der historisch-gesellschaftlichen Entwicklung mit dem ‚subjektiven‘ Faktor des bewußten Wollens verbindenden Befund: „[D]ie blinde Macht der treibenden Kräfte führt nur so lange ‚automatisch‘ ihrem Ziele, der Selbstaufhebung zu, bis dieser Punkt nicht in erreichbarer Nähe ist. Ist der Augenblick des Überganges in das ‚Reich der Freiheit‘ objektiv gegeben, so äußert sich dies gerade darin, daß die blinden Kräfte in wirklichem Sinne blind, mit ständig wachsender, scheinbar unwiderstehlicher Gewalt zum Abgrund dahintreiben, und nur der bewußte Wille des Proletariats die Menschheit vor einer Katastrophe beschützen kann. Anders ausgedrückt: ist die endgültige Wirtschaftskrise des Kapitalismus eingetreten, so hängt das Schicksal der Revolution (und mit ihr das der Menschheit) von der ideologischen Reife des Proletariats, von seinem Klassenbewußtsein ab.“ (Lukács (1923), S. 154 – H. i. O.) Es ist gleichsam eine ‚objektive‘ Gesetzmäßigkeit, daß der ‚subjektive‘ Faktor am Vorabend einer möglichen Revolution immer wichtiger wird, und damit auch die Rolle des Intellektuellen, des Experten für Bewußtseinsarbeit: „D. h. die fördernde, beziehungsweise hemmende Bedeutung der richtigen oder falschen Theorie wächst mit dem Sichnähern der Entscheidungskämpfe im Kriege der Klassen.“ (S. 154) Deswegen bekämpft Lukács, nebenbei bemerkt, auch Max Adler als „groteskesten“ Vertreter des „Vulgärmarxismus“ (S. 73). 124 Adler (1906), S. 3; Adler (1914), S. 174. 125 Adler (1906), S. 5; Adler (1914), S. 175 f. 126 Vgl. Göhler/Klein (1993), S. 572. 127 Adler (1906), S. 6; Adler (1914), S. 176.

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Klasse, deren Lebensinteresse diese Revolutionierung ist. Die Bewegung des ‚Einzigen‘ in seinem Denken schlägt unmittelbar um in die Bewegung der Masse, die diesen ‚Einzigen‘ in jedem von ihr realisiert.“128 Aus marxistischer Sicht ist also „Stirners Grundgedanke – und sein ganzes Buch ist nur die vielfältige Auseinandersetzung dieses einen Gedankens von der Revolutionierung des Bewußtseins als Mittel zu der der Gesellschaft – nicht falsch.“129 Er ist nur, für sich betrachtet, noch unvollkommen, weil Stirners „Standpunkt unter dem des marxistischen gelegen war, [. . .] ihm der Blick für die Eigenart und Realität des Sozialen noch fehlte“130 und er die Analyse „des ideologischen Bewußtseins“ nur psychologisch, „nach ihrer subjektiven Seite durchführte“.131 Damit aber brachte Stirner „zum subjektiven Ausdruck [. . .], was Marx als objektive geschichtliche Potenz aufzeigte“.132 Noch 1931 betont Adler die „Bedeutung Stirners [. . .], die darin liegt, in durchaus eigenartiger Weise die psychologische Ergänzung zu der ökonomisch-politischen Revolutionierung des Marxismus gegeben zu haben“.133 Um Stirner daher für den und damit zugleich vor dem Marxismus zu retten, ihn also einerseits aus der Schußlinie marxistischer Ideologiekritik zu bewegen und ihn andererseits als psychologischen Ideologiekritiker für den proletarischen Klassenkampf einsetzen zu können, geht Adler in die Offensive. Er befreit Stirner vom Etikett des Anarchismus um ihn, als „Wegweiser“,134 der sozialistischen Tradition einzugemeinden. Der Einzige wird so bei Adler zum proletarischen Klassenkämpfer, und die seit Engels und Plechanow gängige marxistische Kritik am ‚Anarchisten‘ Stirner wird als „Mißverständnis[] Stirners“ aus dessen ‚vieldeutiger‘, „extrem individualistische[r]“ Darstellungsform und aus den rezeptionsgeschichtlichen Umständen erklärt und dadurch ausgehebelt.135 „Von allen Schicksalen, die bekanntlich auch Bücher haben, ist seinem Buche wohl das seltsamste und für sein Verständnis verhängnisvollste zuteil geworden: daß es nicht nach dem beurteilt wurde, was es ist, sondern was die Zeit aus ihm gemacht hat.“136 Vielfach wird es deswegen, „ganz unhistorisch[]“, so behandelt, „als ob es irgend ein Quidam heute geschrieben und in einem Literatencafé für Übermenschen zum Vortrag gebracht hätte“,137 wie Adler mit Blick auf die Stirner-Nietz128 129 130 131 132 133 134 135 136 137

Adler (1906), S. 6; Adler (1914), S. 176. Adler (1914), S. 176 f.; Adler (1906), S. 7. Adler (1914), S. 186; Adler (1906), S. 16. Adler (1906), S. 3; Adler (1914), S. 174. Adler (1906), S. 16; Adler (1914), S. 186. Zit. n. Adler (1992), S. 32. Adler (1914). Adler (1906), S. 7 f.; Adler (1914), S. 177. Adler (1906), S. 7; Adler (1914), S. 177. Adler (1906), S. 7; Adler (1914), S. 177.

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sche-Rezeption der Boheme bemerkt. Solche durchaus auch durch Stirners Text von 1844 selbst provozierten ‚Mißverständnisse‘ – etwa „seine Bekämpfung des Rechts und der Moral“ oder „seine Opposition gegen den Kommunismus“138 – begünstigten „die Ausschaltung seines Buches aus dem Gedankenkreise aller jener [. . .], die zur Erkenntnis der Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens strebten und damit die Bedeutung des Proletariats als Klasse erkannt haben, von wo aus ihnen der ‚Einzige‘ Stirners geradezu als Antipode erscheinen mußte. War erst einmal dieser ‚Einzige‘ als der isolierte Einzelne gründlich verkannt, war überdies damit auch noch das Schlagwort von der Souveränität des Individuums in scheinbarem Bunde, so konnte es nicht ausbleiben, daß Stirner für Anschauungen in Anspruch genommen wurde, deren Antagonismus zum Standpunkt des modernen Sozialismus ihn diesem noch mehr entfremdeten, ja zuletzt [. . .] sogar verdächtig machen mußte. Die Wiederbelebung Stirners durch den Anarchismus war das größte Mißgeschick, das Stirner nach seinem Tode traf.“139 Aus marxistischer Sicht hatte dementsprechend das die Deutung des Einzigen bislang bestimmende Interesse an Stirner primär darin bestanden, die anarchistischen Rivalen um die Führung der Arbeiterbewegung zu denunzieren. Wenn aber Stirner bzw. der Einzige, recht verstanden, kein Anarchist ist, dann, so Adlers Kalkül, taugt er nicht mehr zur Diffamierung des Anarchismus, und man kann sich ihm ohne Denunziationsabsicht nähern, so daß der Blick frei wird für seine theoretischen Verdienste und für die Fruchtbarkeit seiner psychologischen Einsichten im proletarischen Klassenkampf. In der Verfolgung dieser Argumentation wird Max Adler, erstens, ein Vierteljahrhundert vor der Erstveröffentlichung der Deutschen Ideologie, zu einem ersten Vertreter der ‚Scharnierthese‘,140 die während des Kalten Krieges von Marxisten als ideologische Waffe bürgerlicher Wissenschaftler bekämpft wurde.141 Marx wurde demnach durch die Feuerbach-Kritik Stirners veranlaßt, sich selbst (und Engels) vom Junghegelianismus zu lösen und, aufbauend auf der von Stirner übernommenen Kritik der Feuerbachschen Anthropologie, in der Deutschen Ideologie das historisch-materialistische Programm zu initiieren; Stirner erscheint in dieser Deutung als – typischerweise (freilich nicht bei Max Adler) ‚existentialistisch‘ gedeutetes – Binde138

Adler (1906), S. 9; Adler (1914), S. 178. Adler (1906), S. 8; Adler (1914), S. 177 f. 140 Vgl. auch Senft (1992), S. 39 f. 141 Kurz nach Max Adler wies auch der ebenfalls sozialdemokratische Historiker Gustav Mayer in seinem immer noch sehr lesenswerten Aufsatz über Die Anfänge des politischen Radikalismus im vormärzlichen Preußen auf die Parallelen zwischen Stirners und Marx/Engels’ Kritik der anderen Junghegelianer hin, allerdings auch auf die Überlegenheit der Begründer des Historischen Materialismus (vgl. Mayer (1913), S. 103 ff., vgl. auch S. 59, 97 f.). 139

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glied zwischen Feuerbach und Marx.142 Der typisch marxistischen ‚Katalysator-These‘ zufolge war dagegen Stirner die – im Grunde theoretisch sogar hinter den Materialismus Feuerbachs zurückfallende – absurde Zuspitzung der junghegelianischen Ideologie, die Marx und Engels als solche veranlaßte, mit der Gründung des Historischen Materialismus den Junghegelianismus hinter sich zu lassen; und jeder Versuch, im Sinne der ‚bürgerlichen‘ Scharnierthese den konstruktiven Beitrag Stirners bei der Entwicklung des Historischen Materialismus geltend zu machen, erscheint als Versuch, die originäre Leistung der Gründer des Historischen Materialismus zu schmälern und den Marxismus existentialistisch zu relativieren.143 Auch dies unterstreicht nochmals Max Adlers Sonderposition in der Stirner-Rezeptionsgeschichte. Für Adler ist Stirner derjenige, der Feuerbachs lediglich religionskritischen, daher bloß „ein[] Teilphänomen der Ideologie“ untersuchenden Standpunkt „überwunden[]“ und so Marx’ historisch-materialistische Gründung der Ideologiekritik ermöglicht hat.144 Indem Stirners „Name jenen beiden anderen zugesellt wird, ist [. . .] die Stelle genau bezeichnet, die ihm nach seiner Bedeutung in der Emanzipationsgeschichte des modernen Bewußtseins zukommt und nicht länger mehr vorenthalten bleiben sollte, nämlich mitten drinnen zwischen ihnen beiden als ein hochbedeutsames Glied in jenem für die Geistesgeschichte epochemachenden Ringen um Selbstverständigung, welche aus der in den Wolken schwebenden Spekulation Hegels über Feuerbach zu Marx und damit auf die Erde zurückführte.“145 Zweitens kommt Adler im Bestreben, das vermeintlich Anarchistische an Stirner als Marxismus-kompatibel bzw. genuin sozialdemokratisch und klassenkämpferisch auszuweisen, zu einer doppelten Beweisführung, in deren Ergebnissen er zwar die Distanz Stirners zum Anarchismus betont, aber zugleich auch den – recht verstandenen – Anarchismus vom Ruch einer pseudo-revolutionären, objektiv konterrevolutionären bürgerlichen Ideologie und eines antisozialen Individualismus befreit. „Freilich gibt es auch eine anarchistische Phrase, die vielleicht nicht den geringsten Raum auf seinem Gebiet [des Anarchismus] einnimmt und die absolute Schrankenlosigkeit des Individuums predigt. Gewöhnlich meint man sogar, daß Stirner eben dies getan habe; wir werden sehen, mit welchem Rechte. Indes perhorreszieren alle theoretischen Vertreter, die ernst genommen sein wollen, die Vorstellung der Anarchie im Sinne der Zügellosigkeit. Und ich glaube, daß man in der Bekämpfung des Anarchismus viel besser tun würde, ihn möglichst ernst und vernünftig zu fassen, statt ihn von vornherein nur als ein 142 143 144 145

Vgl. Arvon (1951); Fetscher (1951/52). Vgl. Herzberg (1968b); Meyer (1970/81), S. 451. – Siehe auch unten, VIII. 1. Adler (1906), S. 2, vgl. S. 3; Adler (1914), S. 173, vgl. S. 174. Adler (1906), S. 2; Adler (1914), S. 173.

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Wirrsal von Konfusion, Phrase und Widersinn darzustellen. Indem man gerade auf das eingeht, was in ihm richtig und wertvoll ist, was aber [. . .] als ein Element gerade des Sozialismus zu bezeichnen ist, werden seine Illusionen, Selbstwidersprüche und utopischen Hilflosigkeiten sich dann um so leichter aufzeigen lassen. Ja auf diesem Wege erschließt sich dann geradezu als Konsequenz der so gewonnenen Klarheit die sozialistische Theorie des Marxismus von der Art und Notwendigkeit des geschichtlichen Prozesses als das einzige Mittel, das eigentliche Ziel des Anarchismus, die freie Assoziation freier Menschen zu verwirklichen.“146 Drittens steht diese Öffnung gegenüber den ernstzunehmenden und wertvollen Gehalten des Anarchismus und die Betonung der revolutionären Zielgleichheit mit dem Marxismus im Zusammenhang mit Adlers eigener Position am linken Flügel innerhalb der Sozialdemokratie der Zweiten Internationale. Diese kommt wiederum in seiner Stirner-Interpretation, insbesondere an seiner Deutung des Stirnerschen ‚Vereins‘ als proletarischer Organisationsform zum Tragen,147 anläßlich derer er, gegen den auf die Ausweitung der sozialen Basis der Partei zielenden Revisionismus Bernsteins, aber auch gegen die attentistischen Implikationen der marxistischen Orthodoxie Kautskys,148 den Charakter der sozialdemokratischen Parteiorganisation als einer Agentur des klassenkämpfenden Proletariats hervorhebt, die aktiv auf die Revolution – und damit auf ihr Überflüssigwerden – hinzuarbeiten hat: „Nimmt jemand an der Zusammenstellung des Vereins mit der Partei Anstoß, dann sei daran erinnert, wie es gerade das Charakteristische der proletarischen Partei ist, daß ihre politische Erscheinung als Partei gar nicht ihr Wesen ist, da sie nicht wie alle anderen Parteien die Aufgabe hat, sich als solche zu behaupten.“149 – Im Folgenden sind diese drei in ihrem ideologiegeschichtlich-zeitgenössischen Kontext skizzierten Themenkomplexe in Adlers Stirner-Text mit Blick auf seine Deutung des Einzigen genauer zu betrachten. (1) Psychologische Ideologiekritik Max Adler deutet den Einzigen als das ideologiefreie Individuum im Gegensatz zum ideologisch verblendeten ‚Besessenen‘ und den von Stirner artikulierten Standpunkt als materialistisch-psychologische Anthropologie. Diese ist, im Gegensatz zur religionskritisch-humanistischen Anthropologie Feuerbachs und zu dessen junghegelianischen Derivaten und politisch-ideo146 147 148 149

Adler (1914), S. 183 f., vgl. S. 178 ff.; vgl. Adler (1906), S. 9 ff. Vgl. Adler (1906), S. 25 ff.; Adler (1914), S. 193 ff. Vgl. Lehnert (1983), S. 90 ff. Adler (1914), S. 194 – H. i. O.; Adler (1906), S. 26 f.

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logischen Verwandten, frei von jeglichen idealistischen Restbeständen. So kann Stirner noch den humanistischen Atheismus religionskritisch entlarven, und durch diese autologische Anwendung der Religionskritik auf diese selbst totalisiert er sie zur umfassenden Ideologiekritik, aus der schließlich das reale, leibhaftige Individuum als die Wirklichkeit hinter allem Ideologischen zum Vorschein kommt. „So ist auch der Glaube, daß das Sittliche oder das Recht zwar nicht göttlicher Natur sei, aber doch das Göttliche im Menschen darstellt, sein echtes Wesen ausmacht, wieder nur eine Religion. Nicht das Heilige ist beseitigt, sondern nur der frühere Träger des Heiligen; es ist bloß ein vollständiger Herrenwechsel eingetreten.“150 „Nur die Rückkehr zu unserem Selbst führt uns aus diesem Gespensterreich der ideologischen Mächte heraus ins reale Leben. Vor der Macht und dem Interesse des leibhaftigen Individuums verschwindet mit einem Male aller Spuk, wenn es nur erst sich in allen Erscheinungen desselben entdeckt hat.“151 Zwar fehlen bei Stirner noch die soziologischen Einsichten und Kategorien des Historischen Materialismus bzw. des Marxismus, aber seine Psychologie der Macht und des Interesses weist auf diesen, hochgradig anschlußfähig, voraus. „Die Begriffe des Klassenbewußtseins und des Klassenkampfes sind in Stirners Buch noch nirgends gefaßt, was mit der individualistischen Form, mit dem auf die Bewußtseinsseite der menschlichen Entwicklung gerichteten Interesse seiner Erörterung zusammenhängt. Aber sie sind das auf allen Seiten seines Buches zum Ausdruck Ringende, das nirgends Gesagte und doch überall nach dem Worte Verlangende, dem Marx erst die Sprache verliehen hat. Wie denn auch sein Begriff des Egoismus mit der aus ihm folgenden Zurückführung der Ideologie auf die in ihr wirkenden Interessen ein Grundbegriff der materialistischen Geschichtsauffassung ist.“152 Die terminologische und konzeptionelle Verknüpfung der Stirnerschen Psychologie mit der marxistischen Soziologie stellt Adler über die Begriffe des Egoismus, der Macht, des Interesses und des Kampfes her. „Sobald einmal hinter allen den ‚heiligen‘ Vorstellungen von Recht und Moral die nackten Machtinteressen erkannt, die egoistischen Menschen entlarvt sind, die sich in ihnen behaupten wollen und das Prunkgewand des Geistes nur angetan haben, um sich vor anderen, ihnen entgegenstehenden Interessen den vorteilhaften Anschein des Höheren zu geben, wird der Bann des Geistes gebrochen sein. Nun stehen nur mehr die einen Interessen den anderen gegenüber, beide gleich profan und doch jedem gleich wichtig. Der alte Glaube, daß die sittlichen und rechtlichen Begriffe ein von solchen Interessen unabhängiges, an sich wertvolles Dasein hätten, wird als das erkannt, 150 151 152

Adler (1914), S. 187; Adler (1906), S. 17. Adler (1914), S. 187; Adler (1906), S. 18. Adler (1906), S. 26; Adler (1914), S. 194.

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was es ist, ein ‚Spuk‘, der die Menschen lange genug genarrt hat, eine ‚Besessenheit‘, von der sie endlich genesen. Das Recht, von dem man sich so lange das ganze eigene Dasein vorschreiben und einengen ließ, entpuppt sich jetzt als die Macht, die sich behaupten kann. Wozu ich die Gewalt habe, dazu habe ich das Recht. Wer bittet, hat eben keine Gewalt und daher auch kein Recht. Ein Recht kann einem nicht gewährt werden, man muß es sich nehmen. Es kommt nur darauf an, daß der respektvolle ‚Pöbel‘ endlich lerne, sich zu holen, was er braucht. Erst dann hört er auf, Pöbel zu sein, wenn er zugreift. Nicht also das Weiterträumen unter dem entnervenden Einfluß der ideologischen Vorstellungen, sondern einzig der Kampf führt zum Ziele. Es gebrauche jeder seine Macht gegen jeden, der sie ihm zu schmälern sucht. Wem dies nicht recht ist, der wehre sich. Ich weiche nur der stärkeren Macht, die mich beschränken kann, ohne mich geistig zu unterwerfen.“153 Neben der konzeptionellen Vorwegnahme des ‚Klassenkampfes‘, die auf die politischen Anliegen und soziologischen Analysen des Marxismus verweist, wird am zuletzt Zitierten auch deutlich, worin Adler den spezifisch psychologischen Überschußgehalt der Stirnerschen Anthropologie sieht, aufgrund dessen er diese als psychologische Ergänzung des Marxismus empfiehlt. Mit Stirner läßt sich demnach psychologisch erkennen, daß der Ideologie – dem ‚Heiligen‘ usw. – nicht nur die soziologisch analysierbare Funktion zukommt, klassenspezifische Interessen zu legitimieren und soziale Herrschaftsstrukturen zu stabilisieren, sondern daß sie überdies eine narzißtische Funktion hat: sie erlaubt den Individuen, ihre eigenen ‚egoistischen‘ Interessen und Machtansprüche zu etwas Höherwertigem zu idealisieren und die diesen entgegenstehenden sozialen Anderen als ‚bloß egoistisch‘ zu entwerten. Die große aufklärerische Leistung der psychologischen Anthropologie Stirners besteht folglich darin, den Egoismus als Antrieb des menschlichen Handelns auch dort kenntlich zu machen, wo dieser verleugnet und abgewertet wird. „Bekanntlich hat Stirner in Konsequenz der [. . .] Auflösung der Ideologie in Machtinteressen als Grundlage alles menschlichen Handelns den Egoismus bezeichnet. Nicht das Wohlwollen, die Liebe oder Gerechtigkeit bestimme das Verhalten der Menschen zueinander, sondern einzig der Egoismus. Nur daß bisher ein bornierter Egoismus herrschte, ein heuchlerischer, unfreier Egoismus, weil die Menschen ihn nicht eingestehen wollten, solange sie nicht erkannten, daß er ihre Natur sei.“154 Die Beharrlichkeit und psychische Attraktivität der Ideologie erklärt sich gerade aus dieser narzißtischen Funktion und ihrer ‚egoistischen‘ Grundlage. Sie ist Ausdruck des uneingestandenen Egoismus von Individuen, die darin ihr 153 154

Adler (1906), S. 18 f.; Adler (1914), S. 187 f. Adler (1906), S. 20; Adler (1914), S. 189.

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grandioses Selbstbild pflegen und ihre narzißtischen Machtansprüche, eingehüllt in „das Prunkgewand des Geistes“, damit rechtfertigen und ausleben; in ihr idealisieren Individuen ihre eigene Position in der Welt und die Motive ihres Handelns, geben ihnen für sich und andere „den vorteilhaften Anschein des Höheren“.155 Damit ist die Ideologie ein Selbstmißverständnis des Egoismus, das ein gestörtes Selbstverhältnis des Individuums zu Ausdruck bringt, eine „völlige[] Selbstentfremdung“,156 die eine realistische Selbsterkenntnis abwehrt und damit auch das Verhältnis zum sozialen Anderen beeinträchtigt. Erst der bewußte Egoismus ermöglicht ein gelungenes Selbstverhältnis, die ‚Eigenheit‘, und diese ist wiederum die Voraussetzung für den ‚unideologischen‘ Bezug auf den sozialen Anderen. „Eigenheit heißt zunächst eigen sein im Denken und Fühlen, also Selbständigkeit seines geistigen Wesens; dann aber sich eigen sein, das heißt nicht bloß einen Charakter bilden, sondern diesen herausführen aus jener ideologischen Befangenheit, in welcher bisher alle Charakterbildung nur Stückwerk bleiben mußte. Kurz, Eigenheit ist nichts anderes als die Herausarbeitung der eignen Individualität in jener Form, in welcher alles die Menschen Verbindende nicht mehr als Zwang über ihnen besteht, sondern als Tat von ihnen gesetzt ist.“157 Die ideologiekritische Differenz zwischen ‚Einzigkeit‘ und ‚Besessenheit‘ bzw. zwischen egoistischem und ideologischem Bewußtsein ist also in psychologischer Perspektive die Differenz zwischen bewußtem und unbewußtem Egoismus. Das Bewußtsein sowohl des eigenen Egoismus als auch des Egoismus als anthropologischer Konstante – also der Verzicht auf die Selbstexemption des ‚Besessenen‘, der nur die Anderen des Egoismus bezichtigt – ist daher einerseits ein Erkenntnisfortschritt und Realitätsgewinn gegenüber dem unbewußten Egoismus der Ideologie. Andererseits eignet sich der Egoismus gerade wegen seiner anthropologischen Universalität nicht als Kriterium ethisch-moralischer Wertungen. Anders als in der Vorstellungswelt der Ideologie, die den Egoismus immer auf ihre Gegner projiziert und letztere auf der Grundlage dieser Projektion ethisch-moralisch entwertet, geht ja die psychologische Anthropologie Stirners davon aus, daß jeder Handlung ein egoistischer Antrieb unterliegt; insofern muß der Befund und Begriff des Egoismus bei Stirner als ethisch-moralisch indifferent verstanden werden: Adler zufolge ist „gleich von allem Anfang an zu betonen, daß die Ansicht, welche den Egoismus nicht anders denn als Eigennutz aufzufassen weiß, als eine durchaus spießbürgerliche, im Stirnerschen Sprachgebrauch 155 156 157

Adler (1906), S. 18; Adler (1914), S. 188. Adler (1906), S. 18; Adler (1914), S. 187. Adler (1914), S. 192; Adler (1906), S. 24.

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bornierte, tief unter dem Niveau seiner Erörterungen liegt. Solange man nicht erkannt hat, daß es gerade das Eigentümliche seines Standpunktes ausmacht, wonach die edelsten Handlungen der Nächstenliebe und der Aufopferung ebenso unter seinen Begriff des Egoismus fallen als die engherzigen Handlungen schnödester Selbstsucht, so lange fehlt einem noch so viel wie alles zum Verständnis seiner Entheiligung der Moral. Das ist ja eben die kritische Leistung seines psychologischen Standpunktes, mit dessen Durchführung gegenüber der Ethik Stirner ein ähnliches Werk vollbringt wie Feuerbach gegenüber der Religion, daß alle Handlungen vor dem Ich gleich wertvoll oder gleich wertlos werden, indem sie nur mehr als Mittel zu dessen Zwecken zu beurteilen sind, welche Zwecke selbst auch bloß die Art ihres Schöpfers widerspiegeln. Ein kleiner, niedriger Egoismus wird sich in niedrigen Zwecken verlieren. Je weiter der Gesichtskreis des Egoisten, desto größer seine Zwecke. Meint man wirklich, fragt Stirner einmal, daß der Egoist kein warmes Interesse an seinem Nächsten nehmen könne? Wäre er doch dann um ein Interesse ärmer. Spricht man von Uneigennützigkeit und Selbstaufopferung, so kann nur ein in den alten Vorstellungen befangener Sinn übersehen, wie beides lediglich eine Art besonderer Selbstbefriedigung sei.“158 Die nach ethisch-moralischen Gesichtspunkten ‚gute Tat‘ ist, psychologisch betrachtet, nicht weniger egoistisch als die ‚böse‘; und trotzdem bleibt sie, auf der ethisch-moralischen Ebene, ‚gut‘. Der Stirnersche Egoismus ist insofern konzeptuell ‚jenseits von Gut und Böse‘, aber damit wird gerade keine ‚anti-moralische‘ oder ‚neue moralische‘ (z. B. aristokratischethische) Position eingenommen, sondern eine moralisch neutrale (in diesem Sinne: a-moralische) psychologische Perspektive, die sich der moralischethischen Bewertung enthält, ohne diese auszuschließen: Sie wendet sich nur gegen die ‚heilige‘, die ideologische Form der Moral, die die – moralisch indifferente – egoistische Grundstruktur des Individuums leugnet und verteufelt. Insofern ‚predigt‘ Stirner nicht den Egoismus, sondern er weist dessen Unvermeidbarkeit auf und wirbt für deren Akzeptanz.159 Gegen die ethisch-moralischen Deutungen und Bewertungen des Stirnerschen Egoismus-Konzepts, etwa derjenigen, die sich ganz im Sinne des von Stirner aufgedeckten ideologischen Projektions- und Selbstaufwertungs-Mechanismus der ‚Besessenen‘ mit „Wohlgefallen an der eigenen moralischen Reinlichkeit“ über „die ‚Amoralität‘ Stirners [. . .] ereifern“,160 betont daher Max Adler den gewissermaßen ‚strukturalistischen‘ Charakter der Psycholo158

Adler (1914), S. 190; Adler (1906), S. 21 f. Kränkungspsychologisch handelt es sich bei dieser Deutung des Einzigen also um eine realistische, nicht eskapistische Position. Dem entspricht auch die im Folgenden genauer zu analysierende je-einzige Interpretation der Sozialdimension bei Adler. 160 Adler (1906), S. 20; Adler (1914), S. 189. 159

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gie des Egoismus, die von inhaltlichen Bestimmungen, die dann auf einer anderen Beobachtungsebene einer ethischen Bewertung zu unterziehen sind, abstrahiert. „Der Unterschied der Handlungen, welchen der Stirnersche Egoismus angeblich verwischen soll, hat mit seinem Begriff gar nichts zu tun. Ist doch, wie mir scheint, gerade dies der bleibende Gewinn der Stirnerschen Kritik, daß wir endlich erkennen mögen, wie der Egoismus in bezug einer ethischen Wertung absolut indifferent ist. In dem Egoismus, wie Stirner ihn faßt, greift er vielmehr eine wirkliche Wesensbestimmtheit der psychischen Natur auf, das heißt eine allgemeine Art ihres praktischen Verhaltens, innerhalb welcher erst die Wertunterschiede jeder Ethik Platz greifen können. Selbst eine Ethik, welche die Unterscheidung des Guten und Bösen gar nicht nach Gesichtspunkten sozialen Nutzens oder Schadens, sondern allein nach dem Pflichtgebot des kategorischen Imperativs vornimmt, wird gleichwohl keinen Widerspruch darin sehen, daß alle Handlungen egoistisch sind, weil der Egoismus der Handlung nur ihre kausale Gesetzlichkeit, nicht aber ihren ethischen Wert bestimmt. Man muß nur, was freilich gegenüber einem tausendjährigen Sprachgebrauch schwierig ist, im Ernst versuchen, jede moralische Ideenassoziation von dem Begriff des Egoismus radikal abzutrennen. Und das war der große Versuch Stirners.“161 – Stirner ist also, für Max Adler nicht unwichtig, nicht nur mit Marx, sondern auch mit Kant verträglich, denn sein Egoismus ist nicht auf der Ebene des Sollens angesiedelt, kommt also nicht mit dem normativen Gebot des Kategorischen Imperativs in Konflikt; vielmehr erhellt er gerade, welche Art von psychischem Sein es ist, an das sich dessen Sollen richtet. Der Egoismus, den Stirner analysiert, ist also per se weder gut noch schlecht; er ist schlichtweg psychisch-strukturell unumgänglich. Schlecht oder schädlich ist nur seine Leugnung, Abspaltung, Verdrängung. Die ethisch-moralische Beurteilung von Individuen und ihren Handlungen hat sich daher nicht auf deren egoistische Grundstruktur zu beziehen, sondern auf die inhaltliche Bestimmung dieser Struktur, also etwa Wertüberzeugungen und Intentionen; und auf diese Inhalte – und deren Bewertung – ist Stirners Egoismus-Begriff nicht anwendbar. „Sein Begriff des Egoismus darf daher auch nicht so mißverstanden werden, als ob er als Charakterelement des Handelns gefaßt wäre. So wenig er identisch ist mit Eigennutz, so wenig auch mit dem Bewußtsein der ausschließlichen Selbstbefriedigung in der Aktion. Er ist lediglich als Seinselement unseres Tuns zu verstehen, also als ein Bewußtsein von der Aktion, von ihrer egoistischen Natur. Das Bewußtsein des Handelnden selbst muß hierdurch gar nicht notwendig affiziert sein, solange es sich nicht Rechenschaft über sich selbst gibt.“162 In 161 162

Adler (1914), S. 191 – H. i. O.; Adler (1906), S. 22 f. Adler (1914), S. 191; Adler (1906), S. 23.

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bezug auf das handelnde Individuum bezeichnet ‚Egoismus‘ eine Reflexionsleistung, und nicht eine Motivlage, welch letztere dann wiederum ethisch zu bewerten wäre. Insofern irren all diejenigen, die – wie dies beispielsweise im Stirner-Nietzsche-Diskurs beobachtbar war – Stirner für die Position einer individualistischen Ethik oder einer individualistischen ‚Antimoral‘ in Anspruch nehmen, egal, ob sie sich positiv oder negativ auf ihn beziehen; ebenso, wie übrigens auch diejenigen irren, die – so wie der Psychiater Ernst Schultze wenige Jahre zuvor163 – den „wirklichen ‚Einzigen‘ schließlich im Irrenhaus enden“ sehen.164 (2) Anarchismus – Sozialismus Für Max Adler hat Stirner genausoviel und genausowenig mit dem Anarchismus zu tun wie der Marxismus. Von seinem Zeitgenossen Proudhon, mit dem zusammen ihn der gegenwärtige Anarchismus „seiner Ahnenreihe“ einverleibt,165 von dessen Konzeption der Anarchie und der Parole ‚Eigentum ist Diebstahl‘ hatte sich Stirner explizit und konsequent nach dem Schema seiner Ideologiekritik distanziert.166 „Für Stirner ist auch Proudhon ein ‚Rechtgläubiger‘, der sich noch nicht von der Ideologie des Rechts freigemacht hat“, wenn er den „Begriff ‚Diebstahl‘“ denunziatorisch verwendet,167 also die Kategorie des ‚Unrechts‘, womit er letztlich die Idee des Rechts und des Eigentums affirmiert und somit in ideologischen Vorstellungen befangen bleibt. „Proudhon negiere gar nicht das Eigentum, sondern nur dieses und jenes Eigentum. Indem er das Eigentum statt zu einem Gemeingut aller zu einem Eigentum der Gesellschaft macht, so daß die einzelnen alles Ihrige nur als Zuteilung erhalten, muß auch er noch ein Gegner 163

Siehe oben, IV. 1. Adler (1906), S. 20; Adler (1914), S. 189. – Vom Autor Stirner selbst behauptet dies indes nur Isaiah Berlin in The Roots of Romanticism. Seiner Geschichte zufolge ist „Stirner [. . .] tatsächlich verrückt geworden. Er beschloss sein Leben so ehrenhaft wie konsequent 1856 in einer Irrenanstalt, und zwar als ein vollkommen friedfertiger und harmloser Wahnsinniger.“ (Berlin (2004), S. 243) Diese bei Berlin nicht belegte – und wohl auch nicht belegbare – Behauptung dient in seinem Text einerseits der Überleitung zu „Nietzsche [. . .], der zwar ein unvergleichlich größerer Denker war, in mancherlei Hinsicht aber Stirner ähnelt“ (S. 243), andererseits der Warnung vor den Konsequenzen einer einseitig in ihrem Anti-Institutionalismus und ihrer Ich-Souveränität übersteigerten Romantik, in deren Tradition er Stirner sieht (vgl. S. 242 f.). Darauf, daß „Stirner, wenn auch in karikaturistischer Übersteigerung, fast in die Nähe des ‚magischen Idealismus‘ gelangt, den Novalis verkündet hat“, hatte bereits Egon Friedell in seiner Kulturgeschichte der Neuzeit hingewiesen (Friedell (1927–31 II), S. 1074). Zu Novalis vgl. Stulpe (2001). 165 Adler (1906), S. 10; Adler (1914), S. 179. 166 Vgl. Stirner, EE, S. 84, 135, 275 ff. 167 Adler (1906), S. 10; Adler (1914), S. 179. 164

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des Egoismus sein und die christlichen Prinzipien der Liebe und der Aufopferung vertreten.“168 Was Stirner also zeitgenössisch als Anarchismus vor Augen stand, lehnt er – ebenso und aus den gleichen Gründen wie das, was ihm zeitgenössisch als Kommunismus vor Augen stand169 – ab. Was aber die weitere Entwicklung des Anarchismus betrifft, mit der Stirner häufig „anachronistisch und irreführend“ ‚verknüpft‘ wird,170 so hebt Adler hervor, daß „Stirner [. . .] weder von dem Anarchismus von heute, noch von dem der sechziger und neunziger Jahre, noch von der Propaganda der Tat und dergleichen etwas wußte.“171 Was dagegen Stirner mit dem Anarchismus verbindet, verbindet ihn, Adler zufolge, auch mit dem Sozialismus, insbesondere die individualistische „Lehre von der Souveränität des Ich“ und die „Negierung der Staatsgewalt“.172 Es sind vor allem diese „zwei Momente, die man gewöhnlich und auch nach der eigenen Meinung des Anarchismus für diesen charakteristisch hält: das eine geht auf den Wortsinn zurück und bedeutet Herrschaftslosigkeit, das heißt Negierung jeder Herrschaftsorganisation, beileibe nicht jeder Organisation oder Ordnung überhaupt, die im Gegenteil auch die Anarchisten wollen. Das andere Moment geht auf die ungehemmte, wieder beileibe nicht zügellose Entwicklung des einzelnen zur vollen Ausprägung seines Ich.“173 Und „diese beiden Merkmale“ verbinden gleichermaßen Sozialismus und Anarchismus und sind deshalb „ungeeignet, den Anarchismus spezifisch zu charakterisieren“; mehr noch, sie kommen nicht nur „beide ebenso dem Sozialismus zu“, sondern – und damit steht Stirner wiederum dem Sozialismus näher als dem Anarchismus – „sie charakterisieren diesen sogar eher, da er sie nicht nur als Ziel propagiert, sondern auch ein klares Bewußtsein über den Weg zu diesem Ziele hat.“174 Unter Berufung auf die berühmte Prognose des Kommunistischen Manifests, der zufolge „[a]n die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen [. . .] eine Assoziation [tritt], worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“,175 betont Adler den antietatistischen und individualistischen Charakter des Marxismus bzw. der Sozialdemokratie. Indem er so deren programmatische Nähe zu Stirner, aber auch zum Anarchismus, akzentuiert, 168

Adler (1914), S. 179; Adler (1906), S. 10. Vgl. Adler (1906), S. 14 f.; Adler (1914), S. 184 f. 170 Adler (1906), S. 9; Adler (1914), S. 178. 171 Adler (1914), S. 178; Adler (1906), S. 9. 172 Adler (1906), S. 9; Adler (1914), S. 178. 173 Adler (1906), S. 10 f.; Adler (1914), S. 180. 174 Adler (1906), S. 11; Adler (1914), S. 180. 175 Zit. n. Adler (1906), S. 11 bzw. Adler (1914), S. 180; vgl. Marx/Engels (1848), S. 51. 169

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profiliert Adler zugleich sein eigenes politisches Verständnis von Marxismus und seine Position in der Sozialdemokratie der Zweiten Internationale. Gerade die Frage des Staates, sowohl das strategische Verhältnis zum bürgerlichen Staat als auch die Bedeutung und Form staatlicher Herrschaft in der Verwirklichung des Sozialismus, war innerhalb der Vorkriegssozialdemokratie ein anläßlich der Auseinandersetzung mit dem Anarchismus behandelbares Thema von höchster Brisanz. Symptomatisch hierfür ist, wie Lenin, der mit seiner Doktrin von der ‚Diktatur des Proletariats‘ – Inbegriff das ‚autoritären Kommunismus‘ aus anarchistischer bzw. ‚libertär-kommunistischer‘ Sicht – den staatlichen Herrschaftsanspruch der marxistischen Avantgarde-Partei begründete, Plechanow gerade für dessen in seinen Augen nur unzureichende Distanzierung vom anarchistischen Antietatismus aufs schärfste rügte.176 Für Max Adler indes ist die „Abschaffung des Staates als einer Herrschaftsorganisation durch Aufhebung des Klassenunterschiedes und Ersatz jeglicher Klassenherrschaft durch die gemeinsame Verwaltung der nun gleichinteressierten Gesellschaftsgenossen [. . .] der Grundgedanke des Marxismus, nur daß er dies nicht so sehr als ein politisches Programm aufgestellt, denn als einen historischen Prozeß erkannt hat.“177 Durch diese Akzentuierung rückt der Anarchismus dem Marxismus bezüglich des prinzipiellen Anliegens, der Überwindung der Herrschaft von Menschen über Menschen, näher. Und auch der anarchistische Individualismus ist für Max Adler, anders als beispielweise bei Plechanow, keineswegs eine bourgeoise Ideologie, konterrevolutionärer Ausdruck des antisozialen ‚Manchestertums‘, sondern seinem „eigentlichen Wesen nach [. . .] ein Grundprinzip des Sozialismus“ und dessen programmatisches Hauptanliegen,178 wie das Zitat aus dem Kommunistischen Manifest belegt: „Wenn unter Individualismus die Forderung nach der freien Entwicklung der Individualität eines jeden zu verstehen ist, wenn er das Streben bedeutet, alle Schranken für ein solches Ziel, die Menschengewalt beseitigen können, einzureißen und so jedem wenigstens die gleiche äußere Möglichkeit hierfür zu verschaffen, dann ist dies wieder gerade eine elementare Forderung des Sozialismus. Ist es ja nur eines jener Mißverständnisse, unter denen nicht bloß Stirner, sondern auch die Sozialdemokratie zu leiden hat, welches den Individualismus in dem dargelegten Sinne mit dem Sozialismus in Widerspruch glaubt. Nur wer den Individualismus nicht als Herausbildung eines freien Charakters, sondern als charakterlose Zügellosigkeit versteht, in welch letzterem Sinne ihn selbst kein Anarchist, der ernst genommen werden will, auffassen wird, mag ihn in Gegensatz zum Sozialismus bringen.“179 Ähnlich wie etwa bei 176 177 178 179

Siehe Adler Adler Adler

oben, V. 4. b) ff). (1906), S. 11; Adler (1914), S. 180. (1906), S. 12; Adler (1914), S. 181. (1914), S. 181 – H. i. O.; Adler (1906), S. 12.

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Kropotkin ist auch bei Max Adler der wirkliche Individualismus, verstanden als freie Entwicklung der Individualität, erst im Sozialismus zu haben; aber anders als beispielsweise bei Kropotkin ist bei Max Adler Stirners Einziger in seiner ‚Eigenheit‘180 der Inbegriff dieses emanzipatorischen Individualismus, der Adler zufolge den (ernstzunehmenden) Anarchismus ebenso wie die Sozialdemokratie auszeichnet. Der tatsächliche „Gegensatz[] von Anarchismus und Sozialismus“181 ist indes auf einer ganz anderen Ebene zu sehen, und damit begründet Adler den theoretischen Führungsanspruch des Marxismus und den politischen Führungsanspruch der Sozialdemokratie innerhalb der Arbeiterbewegung. „Der allerdings tiefe und gar nicht zu vermittelnde Gegensatz zwischen beiden ist nicht ein theoretischer, sondern ein praktischer, ein theoretischer höchstens insofern, als man die ausgereifte der unausgereiften Theorie entgegenstellen kann. Es liegt der Gegensatz nicht in den Prinzipien, sondern in ihrer Anwendung, welcher Unterschied zusammenhängt mit dem Unterschied des Verständnisses, das beide Richtungen von der Gesetzmäßigkeit der ökonomisch-sozialen Entwicklung gewonnen haben. Hierin liegt der Kern ihres Gegensatzes, er ist ein durchaus historischer: nicht zwei Theorien stehen sich gegenüber, sondern eine theoretisch geleitete Praxis und eine unpraktisch gebliebene Theorie.“182 Beiden, dem Anarchismus wie dem (wissenschaftlichen) Sozialismus, sind mit dem „Individualismus“ und „der konsequenten Verneinung jeder Herrschaftsorganisation“ die gleichen programmatischen Prinzipien eigen,183 aber dem Anarchismus fehlt noch das soziologische Aufklärungsniveau des Marxismus, das die Sozialdemokratie auszeichnet; dieser gegenüber ist jener, entwicklungsgeschichtlich betrachtet, ein Atavismus. Auch in dem von „kommunistischen Anarchisten (zum Beispiel Krapotkin)“, die „ihren Anarchismus gern als ‚regierungslosen Sozialismus‘ bezeichnen“,184 hervorgehobenen „Gegensatz des ‚freiheitlichen‘ zum ‚autoritären‘ Prinzip [. . .] dokumentiert sich [. . .] nur eine Verschiedenheit der propagandistischen Methoden, die geradezu jenen vorhin bezeichneten wirklichen Unterschied beider Richtungen illustriert, den wir in dem Mangel eines theoretischen Verständnisses der sozialen Entwicklung fanden.“185 180

Vgl. Adler (1906), S. 23 f.; Adler (1914), S. 192 f. Adler (1906), S. 12 f.; Adler (1914), S. 182. 182 Adler (1906), S. 13; Adler (1914), S. 183. 183 Adler (1906), S. 13; Adler (1914), S. 182. 184 Adler (1914), S. 182. 185 Adler (1914), S. 183; Adler (1906), S. 13. – In der 1914er Fassung seines Textes geht Adler auf diesen Punkt noch ausführlicher ein und betont mit stärkerem Nachdruck die – aufgrund wissenschaftlicher Einsichten gebotene – Notwendigkeit der proletarischen Organisation, für die bei ihm, wie gleich ausführlicher zu behan181

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Das Verhältnis des Einzigen zu Anarchismus und Sozialismus wird somit vor dem Hintergrund der Beziehung der beiden letzteren deutlich. „So ist also alles, was im Anarchismus richtig und wertvoll ist, ihm nicht eigentümlich, und was seine spezifische Bestimmtheit ausmacht, durchaus eine historische Erscheinung, die sich erst an der Folie des marxistischen Sozialismus, als einer auf der Höhe der sozialen Theorie stehenden Lehre, abheben konnte, so daß es von da aus nun in seiner ganzen anachronistischen Mißverständlichkeit klar wird, wenn man Stirner in irgend einen sachlichen Zusammenhang mit dieser Zeiterscheinung stellt.“186 Stirners Individualismus und seine Herrschaftskritik zeichnen ihn nicht spezifisch als Anarchisten aus, weil diese genausogut, oder eher noch: besser als sozialdemokratisch zu verstehen sind. Darüber hinaus hat Stirner der Organisationsfrage mit seinem ‚Verein‘ weit mehr Aufmerksamkeit geschenkt als der diese vernachlässigende Anarchismus. (3) Sozialdemokratische Intention und Organisation Inbegriff der sozialistischen Programmatik Stirners ist für Max Adler der „Verein der Egoisten“,187 und dieser ist zugleich der deutlichste und unmißverständliche Ausweis eines je-einzigen Verständnisses der Sozialdimension deln sein wird, Stirners ‚Verein‘ steht. „Der Sozialismus hat erkannt, daß er das Ziel der Befreiung des Individuums nur dadurch erreichen kann, daß er die sowohl in der kapitalistischen Wirtschaft wie im kapitalistischen Staat blind wirkenden Kräfte durch planmäßige politische und sozialwirtschaftliche Arbeit mehr und mehr unter die bewußte Einwirkung des Proletariats bringt, bis dieses dadurch stark genug geworden, um mit einer letzten Kraftanstrengung – die sehr wahrscheinlich, aber nicht notwendig, eine gewaltsame sein wird – die Gesellschaft endlich neu zu organisieren. Dabei ist für den Sozialismus die politische Tätigkeit ein zwar immer weniger zu Überschätzung verleitendes, aber gleichwohl selbstverständliches und unentbehrliches Mittel für diesen gesellschaftlichen Umwandlungsprozeß. Der Anarchismus sieht dagegen in dieser politischen Tätigkeit gleichsam den Sündenfall des Prinzips der freien Persönlichkeit, weil er sie nur als Mittel der Herrschaft auffaßt [. . .]. Er verkennt dabei, daß die politische Tätigkeit nicht so sehr die Anwendung eines Mittels ist, die man also auch unterlassen könnte, sondern selbst schon ein Stück der gesellschaftlichen Umwandlung ist“ (Adler (1914), S. 182 f. – H. i. O.). Tatsächlich handelt es sich demnach bei den politischen und organisatorischen Aktivitäten der Sozialdemokratie um eine „Aufklärungsarbeit“, die „das freie Individuum“ zum Ziel hat, die aber aufgrund der soziologischen Einsichten des Marxismus umfassend bei der „Umgestaltung der äußeren Lebensverhältnisse“ ansetzt, weil sie um die „Bedingungen der Realisierung dieses Ziels“ weiß (Adler (1914), S. 183; Adler (1906), S. 13). „Das ‚Autoritäre‘ des Sozialismus ist nur ein anderer Ausdruck für die vom Anarchismus so wenig gewürdigte gesellschaftliche und historische Bedingtheit des ‚Freiheitlichen‘.“ (Adler (1914), S. 183; Adler (1906), S. 14). 186 Adler (1906), S. 14; Adler (1914), S. 184. 187 Adler (1906), S. 25; Adler (1914), S. 193.

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des Einzigen. Dementsprechend hebt sich Stirners Individualismus für Adler auch in prägnanter Weise von der (mitunter auch falsch verstanden ‚anarchistischen‘) individualistischen Ideologie ab, die dem recht verstandenen Individualismus der Sozialdemokratie entgegensteht. Der Einzige ist demnach kein all-einziger „Ausnahmemensch[]“, nicht das großartige Individuum in einer Welt von Nicht-Einzigen, er „ist weder als ein Vereinzelter, Isolierter, noch als ein Einzigartiger im Sinne des Übermenschen aufzufassen.“188 Auch verschwindet vor seinem „Begriff der Eigenheit [. . .] jede solipsistische Deutung des Einzigen“,189 ebenso wie jede Form anti-sozialen oder auch nur symbolisch aggressiven Verhaltens: „Nicht um eine zügellose Selbstdurchsetzung, um eine schrankenlose Betonung des Ich handelt es sich bei ihm. Vielmehr hat er diejenigen, welche eine solche ‚Zügellosigkeit‘ zum Prinzip machen, um ihre vermeintliche Freiheit damit zu beweisen, als ‚eigentliche‘ Philister bezeichnet, da sie von den Rücksichten, die sie aus den Augen setzen, im Grunde nicht loskommen, nur daß sie als Bramarbasse sich gegen sie auflehnen.“190 Der immer nur auf Distinktionsgewinne bedachte ‚Nonkonformist‘ ist besessen vom (vermeintlichen) moralischen und ästhetischen Konformismus der Anderen, die er um jeden Preis provozieren will. Bei Stirner geht es in Max Adlers Sicht dagegen immer um die sozialdimensional symmetrische Konzeption des Einzigen in einer Welt von Einzigen, die weder unterschiedlichen Ranges, noch voneinander isoliert sind, sondern, auf der Basis und in der Verwirklichung ihrer als Individualität verstandenen ‚Eigenheit‘ miteinander sozial verkehren; es geht also um das Interpretationsschema der ‚Je-Einzigkeit‘ in einem egalitären Sinne: „Stirner selbst hat überall in seinem Buche es so deutlich ausgedrückt, daß sein ‚Einziger‘ eine Forderung ist, die sich an jeden richtet, daß man darüber staunen muß, wie man dies verkennen und ihn als einen Vorläufer des aristokratischen Übermenschen Nietzsche ausgeben konnte.“191 Stirners Je-Einzige sind also weder als eine ‚aristokratisch-individualistische‘ Elite über einer ‚Masse‘ von ‚Besessenen‘ zu verstehen, noch als eine manchesterliberale Bourgeoisie, die die durch die kapitalistische Verwertungslogik bedingte soziale Rücksichtslosigkeit des ökonomischen Wettbewerbs und die Destruktivität der bürgerlichen Gesellschaft sozialdarwinistisch naturalisiert und heroisiert, wie dies beispielweise Plechanow gezeigt hatte. Stirner nimmt, Adler zufolge, in beiden Beziehungen gerade die entgegengesetzte, die antiaristokratische und die antikapitalistische Position ein. „Seine Lehre ist durch und 188 189 190 191

Adler Adler Adler Adler

(1906), (1906), (1914), (1906),

S. S. S. S.

19; Adler (1914), S. 188 f. 24; Adler (1914), S. 193. 192; Adler (1906), S. 23 f. 24; Adler (1914), S. 193.

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durch demokratisch, so wie alle seine Leidenschaft auf der Seite des Proletariats steht, so daß es wiederum unerfindlich ist, wie manche Kritiker, irregeleitet durch die individualistischen Begriffe, ihn zu einem Apologeten des bürgerlichen Konkurrenzkampfes machen wollten. [. . .] Sein ganzes Buch ist erfüllt von den glühendsten Apostrophen an die Zeitgenossen, an die Arbeiter zumal, seine Bewußtseinsrevolutionierung nachzumachen. ‚Werdet Egoisten‘, so lautet der kategorische Imperativ Stirners. Es entspräche nur dem eigentlichen Sinne seines Werkes und hätte viel Mißdeutung verhindert, hieße es: ‚Millionen Einzige und ihr Eigentum‘.“192 Da somit Stirners ‚bewußtseinsrevolutionärer‘ Appell, Einzige zu werden, sich emanzipatorisch an jedes Individuum richtet, und dies insbesondere an die Arbeiter, ‚deren Sache‘, bzw. deren ‚weltgeschichtliche Mission‘ es ja aus marxistischer Perspektive ist, die Menschheit als ganze aus ihren Fesseln zu befreien, konstatiert Adler: „[W]as ist Stirners Verein anders als ein genialer, mit der Inbrunst der Überzeugung, die durch ihre logische Tat heraustreiben wollte, was geschichtlich noch nicht da war, vorausgenommener Ausdruck für die Vereinigung des klassenbewußten Proletariats? Alle Beispiele in seinem Buche zeigen, daß er bei den Menschen, die seinen ‚Einzigen‘ verwirklichen sollten, immer an das Proletariat dachte, und der entwickelte Charakter des ‚Einzigen‘ selbst als des wirklichen Befreiers aller seiner Interessen bringt ihn schon von da aus in die schärfste Gegnerschaft zum Bürgertum als dem Träger der zu beseitigenden Ideologie. Die Arbeiter erscheinen daher überall als die Pioniere seiner Ideen. ‚Die Arbeiter haben die ungeheuerste Macht in den Händen, und wenn sie ihrer einmal recht inne würden und sie gebrauchten, so widerstände ihnen nichts: sie dürften nur die Arbeit einstellen und das Gearbeitete als das Ihrige ansehen und genießen . . . der Staat beruht auf der Sklaverei der Arbeit. Wird die Arbeit frei, so ist der Staat verloren.‘ Das wäre also ein Verein nach dem Herzen Stirners! Aber schon vorher wird es gerade die Konsequenz seiner Egoisten verlangen, daß sie, wo sie sich gleich interessiert begegnen, vereinigen.“193 Daher hat der Stirnersche Verein der Egoisten für Adler drei Bedeutungen. „Der Verein Stirners ist, in kleinem Umfang gedacht, ein Widerspiel jeder proletarischen Organisation; er ist auf den Bereich der bürgerlichen Gesellschaft projiziert, in der Partei des klassenbewußten Proletariats realisiert; er bezeichnet endlich nach Aufhebung der Klassenunterschiede die freie Gesellschaft selbst“,194 welche letztere Adler an anderer Stelle auch als ‚solidarische Gesellschaft‘ beschreibt.195 Mit der in diesem Zusammenhang vorgenommenen Identifika192 193 194

Adler (1914), S. 193; Adler (1906), S. 24 f. Adler (1914), S. 193 f.; Adler (1906), S. 25 f.; vgl. Stirner, EE, S. 127. Adler (1914), S. 194 – H. i. O.; Adler (1906), S. 26.

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tion von ‚Verein‘ und sozialdemokratischer Partei betont Max Adler – gegen revisionistische Tendenzen in der Parteitheorie der Vorkriegssozialdemokratie – deren dezidiert proletarischen und revolutionären Charakter. „Nimmt jemand an der Zusammenstellung des Vereins mit der Partei Anstoß, dann sei daran erinnert, wie es gerade das Charakteristische der proletarischen Partei ist, daß ihre politische Erscheinung als Partei gar nicht ihr Wesen ist, da sie nicht wie alle anderen Parteien die Aufgabe hat, sich als solche zu behaupten.“196 Die sozialdemokratische Partei soll sich weder dauerhaft mit der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer parlamentarischen Regierungsform arrangieren, noch ihre Basis und Bündnispartnerschaften ins bürgerliche Lager ausbauen. Sie hat ihren Zweck und ihre Existenzberechtigung einzig darin, Agentur des proletarischen Klassenkampfes zu sein und sich als solche mit der erfolgreichen Revolution und Überwindung des Klassenantagonismus überflüssig zu machen. Der Verein ist die Sozialform, in der die Einzigen miteinander, sich gegenseitig in ihrer Eigenheit anerkennend und ohne äußeren Zwang, verkehren, also die soziale Welt des Einzigen nach dem Interpretationsschema der Je-Einzigkeit. Wesentliches Merkmal der Je-Einzigkeit ist für Adler in allen ihren Ausprägungen die Solidarität der Einzigen. Damit steht er im ganz im Gegensatz zu denjenigen Interpretationen der Je-Einzigkeit, die hierbei Stirners Hobbesianischen ‚Krieg aller gegen alle‘ betonen und diesen, ihm Sinne bürgerlich-liberaler Ideologie, sozialdarwinistisch als ‚Kampf ums Dasein‘ deuten. Für Max Adler sind die sozialen Erscheinungsformen der Je-Einzigkeit erstens generell in den Vergemeinschaftungsformen des proletarischen Milieus, von Arbeiterbildungs- und Sportvereinen bis zu den Gewerkschaften, zu sehen; daher auch zweitens insbesondere in der sozialdemokratischen Partei als der Kampforganisation der klassenbewußten Arbeiterschaft; und schließlich bezeichnet deswegen Je-Einzigkeit auch diejenige, durch den Kampf des revolutionären Proletariats erwirkte und in dessen jetzigen Organisationsformen vorweggenommene post-kapitalistische, klassenlose und ideologiefreie Gesellschaftsformation, in der die Freiheit eines jeden (Einzigen) zugleich die Bedingung der Freiheit aller (Einzigen) ist. Der Einzige selbst, „das kraftvolle Individuum“,197 ist jener aufgeklärte ‚neue Mensch‘, der mit Seinesgleichen die ‚solidarische Gesellschaft‘ des Sozialismus bildet, die er als klassenbewußter Proletarier revolutionär herbeigeführt hat. Gegen diese sozialdemokratische Deutung des Einzigen und insbesondere seines Vereins spricht Adler zufolge auch nicht die von Stirner zum Aus195 196 197

Vgl. Göhler/Klein (1993), S. 572. Adler (1914), S. 194 f. – H. i. O.; Adler (1906), S. 26 f. Adler (1906), S. 19; Adler (1914), S. 188.

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druck gebrachte „Opposition gegen den Kommunismus, den er am liebsten als ‚Lumpengesellschaft‘ bezeichnet“.198 „Dies zu meinen wäre nur eine besonders krasse Art der gekennzeichneten anachronistischen Auffassung“, die Stirner dem Anarchismus zuschlägt.199 Denn Stirner kritisiert den ihm zeitgenössisch vor Augen stehenden Kommunismus mit den gleichen guten Gründen, mit denen er auch jede andere Ideologie kritisiert – und, mehr noch, mit den gleichen guten Gründen, mit denen Marx dies tat. „Der Kommunismus, den Stirner kannte, war einerseits der französische, der entweder staatsgläubig war wie der des Louis Blanc, oder utopistisch wie der des Fourier, sentimental wie bei Lamennais, oder noch durchaus in der Ideologie der Menschenrechte befangen wie bei Cabet. Andererseits war es der deutsche Kommunismus, der zwar in Weitling einen ersten Anlauf zur Herausbildung eines proletarischen Klassenbewußtseins genommen hatte, aber auch hier in einer Ideologie, die an die Liebe und Brüderlichkeit des Evangeliums anknüpfte, verblieben war, welche die klare Erfassung des Klassenkampfes noch verhinderte. Was aber noch außerdem damals in Deutschland als Sozialismus vorhanden war, ist durch den Abschnitt des Kommunistischen Manifests über den ‚wahren‘ Sozialismus genügend bezeichnet [. . .]. Tatsächlich trifft die Kritik Stirners an dem Kommunismus mit der von Karl Marx an diesem ‚wahren‘ Sozialismus häufig sogar in den Redewendungen überein“,200 und in gewisser Weise ist insbesondere seine „kritische Auflösung der Begriffe Staat und Gesellschaft [. . .] nur das psychologische Pendant zu der soziologischen von Marx.“201 Stirners Opposition gegen den zeitgenössischen Kommunismus bestätigt geradezu seine eigenen kommunistischen bzw. sozialdemokratischen Ambitionen; sie ist die Konsequenz aus seinem ideologiekritischen und bewußtseinsrevolutionären Programm und dessen eindrücklichste Bewährung, in der sich die Aktualität seiner psychologischen Einsichten für den Marxismus zeigt. „Von hier aus rückt nun auch Stirners Verhältnis zum Kommunismus ins richtige Licht, indem jetzt ganz klar wird, was er in ihm als Lumpengesellschaft und Arbeitertum verhöhnt hat. Ist er doch [. . .] so wenig ein prinzipieller Gegner des Kommunismus, daß er ihn sogar selbst vertritt. Dieselbe Konsequenz, die ihn zum Verein führt, läßt ihn auch den Kommunismus anerkennen, soweit dieser Sache eines Vereins, das heißt wirkliches Interesse der Gesellschaft sein kann.“202 Deutlicher noch, Stirner 198 Adler (1906), S. 14; Adler (1914), S. 184. Vgl. z. B. Stirner, EE, S. 129, 143, 153 f., 294 f., 351. 199 Adler (1906), S. 14; Adler (1914), S. 184. 200 Adler (1914), S. 185; Adler (1906), S. 15; vgl. Marx/Engels (1848), S. 59 ff. 201 Adler (1906), S. 28; Adler (1914), S. 196. 202 Adler (1914), S. 195; Adler (1906), S. 27.

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macht „den Kommunismus sogar zur Grundlage auch seiner Zukunftsgesellschaft“, nur sah er – aus marxistischer Sicht: zurecht – „in dem Kommunismus seiner Zeit ein absolut untaugliches Mittel“ hierzu, weil dieser nicht geeignet war, dem Proletariat ein Bewußtsein seiner Stärke und seiner Interessen zu vermitteln, sondern dieses in einer Haltung der Passivität und Abhängigkeit von den vermeintlichen Wohltaten der Gesellschaft verharren ließ, anstatt die „selbstbewußte Persönlichkeit“203 und die „innere[] Selbständigkeit“204 zu fördern. Man darf „nicht aus dem Auge lassen, daß Stirners ganze Kritik ja auf eine Revolutionierung des Bewußtseins, der Gesinnung gerichtet ist, so daß also seine Ausführungen sich nicht so sehr auf den Gegenstand beziehen, als auf die Art der Auffassung, die wir von ihm haben. So kommt es also hier auch nicht so sehr auf den Kommunismus selbst an, als auf den Geist, in dem man Kommunist ist, ob es der stolze, selbstbewußte, tatkräftige Geist des Eigners aller Ideen ist, oder ob dieser Geist nur eine neue Form ist, die Selbständigkeit des Individuums nicht zur Entfaltung kommen zu lassen. Gerade letzteres mußte Stirner aber befürchten, wenn er den Sozialismus seiner Zeit betrachtete [. . .]. Diese ganze Entäußerung des eigenen Wesens, diese Selbstentfremdung, die dem Proletariat seine eigenen Forderungen nur wie ein Geschenk und eine Gnade höherer Mächte erfüllte, die auf diese Weise eine Gesinnung erzeugte, welche alles von außen erwartete, statt von der eigenen selbstbewußten und selbstinteressierten Tätigkeit – das ist es, was Stirner eine ‚Lumpengesellschaft‘ nennt, wohl auch in Nachwirkung jenes Goethewortes, das übrigens eine treffliche Illustration zu diesem Gegenstand bildet: ‚Nur Lumpe sind bescheiden!‘ So ist es also wirklich nicht der Kommunismus selbst, den er angreift, sondern nur jene geistige Verfassung desselben, welche, wie er es einmal direkt ausdrückt, den Abhängigkeitssinn seiner Mitglieder völlig unberührt gelassen hat, die alles, wie früher vom Staate, jetzt von der Gesellschaft erwarten. Es ist die Polemik gegen einen Begriff der Gesellschaft, in der diese als eine ‚neue Herrin‘ erscheint, ein selbständiges höheres Wesen über uns, statt daß sie als die Schöpfung der bewußtgewordenen Gemeinschaftsinteressen verstanden würde.“205 So wenig Stirner sich gegen den recht verstandenen Kommunismus richtet, so wenig lehnt er also die Gesellschaft ab, wie seine Konzeption des Vereins bereits verdeutlicht; er wendet sich nur gegen ein bestimmtes, falsches Verständnis von Gesellschaft und eine bestimmte, passive Mentalität dieser gegenüber – und gegen diejenige Gesellschaftsformation, die diese ideologischen Einstellungen einerseits bedingt, andererseits durch sie stabilisiert wird. 203 204 205

Adler (1914), S. 195; vgl. Adler (1906), S. 27. Adler (1914), S. 184. Adler (1914), S. 195 f. – H. i. O.; vgl. Adler (1906), S. 27 f.

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VII. Der Egoismus des Einzigen und sein Verein

Von hier aus – der Frage von ‚Gesinnung‘ und ‚geistiger Verfassung‘ bzw. der Erwartungshaltung gegenüber ‚der Gesellschaft‘ – entwickelt Adler schließlich mit Stirner eine ideologiekritische Unterscheidung von ideologischem ‚Arbeiterbewußtsein‘ und aufgeklärtem ‚Proletarierbewußtsein‘. „Es ist noch gar nichts für die Revolutionierung des Bewußtseins des Proletariers gewonnen, wenn er bloß das ‚Arbeiterbewußtsein‘ hat. Dadurch, daß der Proletarier sich als Arbeiter fühlt, steht er noch gar nicht im Gegensatz zur bürgerlichen Welt. [. . .] Erst wenn der Arbeiter sich als Proletarier fühlt, als Ausgestoßener der bürgerlichen Welt, dann gelangt er auf jenen Standpunkt, von dem aus er zum Klassenbewußtsein vordringen kann, während das bloße Arbeiterbewußtsein ihn mit einer scheinbaren Solidarität der Arbeit nur täuscht und verwirrt. Arbeiter sein, das heißt nur eine notwendige Funktionsbeziehung alles gesellschaftlichen Lebens betonen, noch dazu in ihrer heutigen verzerrten Form. Proletarier sein – in Stirners Sprache und in diesem Zusammenhang Egoist sein –, das heißt seine besondere geschichtliche Situation und sein besonderes Interesse innerhalb dieser Funktionsbeziehung klar erkannt haben und aus dieser Erkenntnis heraus handeln. Darum führt das erste auch bloß zur Deklamation von der Würde der Arbeit, das letztere aber zur Befreiung von den unwürdigen Formen der Arbeit. Und diese Befreiung ist nicht nur eine materielle, sondern auch eine ideelle – und darin liegt die eigentliche Bedeutung der Stirnerschen Polemik gegen das bloße ‚Arbeitertum‘. Es sollte mehr, als es bisher geschieht, im Bewußtsein des Proletariats der Gedanke herausgearbeitet werden, daß mit der Befreiung von der Knechtschaftsform der Arbeit, die durch die Jahrtausende gegangen ist, auch die Ideologie der Arbeit fallen wird, die nur einer Klassengesellschaft entspricht, wonach die Arbeit ein an sich Wertvolles, eine Tugend, ein heiliger Beruf sei.“206 Das Arbeiterbewußtsein bleibt der bürgerlich-kapitalistischen Produktionsweise verhaftet, das Proletarierbewußtsein ist revolutionär und sozialistisch. Das Bewußtsein des Einzigen, das sich von der Ideologie der Arbeit befreit, ist also das revolutionäre Bewußtsein des Proletariers, der erkennt, daß er, um seine elenden Existenzbedingungen aufzuheben, die Klassengesellschaft als solche revolutionär überwinden muß, daß er sich nicht mit dieser arrangieren und in ihr einrichten kann, ohne seine wahren Interessen zu verleugnen, und daß ihm hiermit zugleich die welthistorische Mission zufällt, die Menschheit insgesamt vom Joch der Klassenherrschaft und der Entfremdung zu befreien. Dieses Bewußtsein ist zugleich die Voraussetzung dafür, daß in der klassenlosen Gesellschaft der Arbeit ein ihrer objektiven Bedeutung als „notwendige Funktionsbeziehung alles gesellschaftlichen Lebens“207 angemessener Stellenwert zukommen wird. „Sie auf jenes Maß 206

Adler (1914), S. 197 – H. i. O.; vgl. Adler (1906), S. 28 ff.

2. Antibürgerliches Sozialmodell und revolutionäre Bewegung

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einzuschränken und so zu organisieren, daß ohne Beeinträchtigung der Anforderungen der Gesellschaft endlich jeder einzelne von ihrem Joche befreit werde und nun statt ein Leben der Arbeit ein menschliches Leben führen könne, ist ja der große neue Kulturgedanke des modernen Sozialismus, der für den alten der Arbeit keinen Raum mehr hat. Um mit Lafargue zu reden: Nicht das Recht auf Arbeit, sondern auf Faulheit ist die eigentliche Forderung des Sozialismus, auf jene edle Faulheit oder Muße, die allein auch die Mutter der Musen der Künste und Wissenschaften ist.“208 Mit dem Bezug auf Marx’ Schwiegersohn Paul Lafargue209 profiliert Adler sein Verständnis der sozialdemokratischen Vision. Im Kern ist die Sozialdemokratie ein Projekt der Aufklärung, nicht etwa ein materielles Nivellierungsprogramm, das die Einzelnen kollektiv in mentaler Unselbständigkeit und Abhängigkeit gegenüber den Wohltaten einer ideologisch überhöhten ‚Arbeitergesellschaft‘ beläßt.210 Mit einer ‚materiellen‘ Befreiung bzw. Gleichheit ist nichts gewonnen und nichts erreichbar, wenn nicht die ‚ideelle‘ dazukommt. Die ökonomische und politische Organisationsform der sozialdemokratischen Gesellschaft – des zukünftigen ‚Vereins der (solidarischen) Egoisten‘ in Adlers Interpretation Stirnerscher Je-Einzigkeit – ist als solche kein Selbstzweck, sondern rechtfertigt sich ausschließlich dadurch, das sie jedem einzelnen Individuum die bestmöglichen Entfaltungsbedingungen zu individueller Selbstverwirklichung und gesellschaftlicher, insbesondere kultureller Teilnahme gewährleistet: das sozialdemokratische Projekt rechtfertigt sich vom als Je-Einzigen verstandenen Individuum her, der so verstandene Einzige ist sein normativer Bezugspunkt. „So führt gerade diese dem Sozialismus so feindlich scheinende Opposition Stirners gegen den Kommunismus in die Gedankengänge seiner modernen Auffassung. Es wiederholt sich in diesem Punkte nur, was wir auch an den früher besprochenen Elementen des Stirnerschen Denkens erkannten: sie finden ihre Ergänzung, ihren vollen Sinn, ihre innerlich verlangte Ausführung in der entwickelten klassenbewußten Gesellschaftsauffassung des Proletariats oder, was dasselbe ist, soweit es auf deren theoretischen Ausdruck ankommt, des Marxismus.“211 JeEinzigkeit ist also, recht verstanden, Sozialismus, im ‚modernen‘ Sinne der 207

Adler (1914), S. 197; vgl. Adler (1906), S. 29. Adler (1914), S. 198; Adler (1906), S. 29. Vgl. Stirner, EE, S. 346. 209 1842–1911. – Neben Jule Guesde (1845–1922) einer der Gründer des französischen Marxismus (vgl. Göhler/Klein (1993), S. 557). 210 Man denke auch an den ‚Arbeiter- und Bauern-Staat‘ DDR und die Fetischisierung des ‚Sozialstaats‘ in bundesrepublikanischen Diskursen, die diesen zum Selbstzweck stilisieren, ohne ihn als historisch variables Mittel des Aufklärungsprojektes zu verstehen, für das in nicht nur Max Adlers Verständnis neben Kant auch die Junghegelianer, Marx und Engels und die auf letzteren fußende Sozialdemokratie stehen. 211 Adler (1914), S. 198; Adler (1906), S. 30. 208

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VII. Der Egoismus des Einzigen und sein Verein

höchsten ökonomischen und kulturellen Entwicklungsstufe der Menschheit und ihrer Gesellschaft, und Stirner wird erkennbar als ein früher, leidenschaftlicher Verfechter dieses wissenschaftlich begründeten „Kulturstandpunktes“.212 Mit dieser Deutung des Einzigen blieb Max Adler ein Außenseiter innerhalb des Marxismus.

3. Die ‚Verbürgerlichung‘ des Einzigen zwischen den Weltkriegen In der Zwischenkriegszeit wird die den Einzigen und seinen Verein dem Anarchismus zurechnende Deutungstradition prinzipiell fortgesetzt. Der Große Brockhaus zählt 1928 Stirner in seinem Artikel zum Anarchismus im Unterabschnitt „Ideenlehre des A[narchismus]“ neben Godwin und Proudhon zu den „Väter[n] des A[narchismus]“ und faßt dessen programmatische Quintessenz kurz und bündig zusammen: „Der Staat soll abgeschafft und die Menschheit in lauter ‚Vereine von Egoisten‘ aufgelöst werden.“213 Im darauf folgenden Unterabschnitt „Anarchistische Bewegungen“ wird im historischen Rückblick auf die bekannten Aktivisten und Aktionen seit den 70er Jahren die relative zeitgenössische Bedeutungslosigkeit des Anarchismus als soziale Bewegung Ende der zwanziger Jahre verdeutlicht. Der Anarchismus wird zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als aktuelles Problem wahrgenommen, wovon auch das Fehlen der für die Lexikonartikel der Vorkriegszeit typischen Diskussionen zeugt, die sich um sozialwissenschaftliche, psychopathologische und andere Erklärungen des Phänomens bemüht und Vorschläge für einen adäquaten politischen und juristischen Umgang damit unterbreitet hatten. Außerhalb von Frankreich, wo Anarchisten in den Gewerkschaften einen „ansehnlichen Bestandteil“ ausmachen, und Spanien, dessen „Gewerkschaftsbund fast völlig unter ihrem Einfluß“ steht, spielt der Anarchismus als organisierte soziale Bewegung „gegenwärtig“ kaum noch eine Rolle. Aber auch in Spanien, wo er seinen „Höhepunkt in den achtziger Jahren“ mit bis zu „70 000 Anhänger[n]“ hatte, und in Frankreich, wo er bekanntlich vor allem in den neunziger Jahren „durch verschiedene Attentate die Aufmerksamkeit auf sich lenkte“, hat er seinen Zenit längst überschritten.214 Das gilt auch für Italien, das als ‚romanisches Land‘ einst ebenfalls zu den „stärksten Ausbreitungs[gebieten]“ des Anarchismus zählte und in dem er „lange Zeit eine bedeutende Rolle gespielt“ hat; noch „nach dem Weltkrieg waren 35 000 Anarchisten in der ‚Anarchistischen Union Italiens‘ organisiert“, daneben gab es etliche anarchistische Zeitungen, und auch hier 212 213 214

Adler (1906), S. 29. Der Große Brockhaus (1928), S. 427. Der Große Brockhaus (1928), S. 428.

3. Die ‚Verbürgerlichung‘ des Einzigen zwischen den Weltkriegen

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wiederum hatte er einen erheblichen Einfluß auf die Gewerkschaften. Bald wurde allerdings die anarchistische „Bewegung [. . .] unter dem Faschismus stark unterdrückt.“215 Ein ähnliches Schicksal ereilte die Anarchisten mutatis mutandis in Rußland, wo sie sich zwar ohnehin gegenüber den anderen revolutionären Bewegungen „nie recht [hatten] durchsetzen können“, aber immerhin noch „1917 [. . .] 12 Tagszeitungen“ besaßen, die dann „von den Bolschewisten unterdrückt wurden“.216 Die beiden mit dem Ersten Weltkrieg ihren – die Physiognomie des 20. Jahrhunderts nachhaltig prägenden – Siegeszug antretenden großen revolutionären Bewegungen und totalitären Ideologien hatten den verschwisterten antitotalitären Rivalen – zunächst in ihren Mutterländern – erfolgreich ins Abseits gestellt. In den anderen europäischen Ländern schließlich kam dem Anarchismus ohnehin „eine verhältnismäßig recht geringe Bedeutung zu“, was sich auch in jüngster Zeit nicht geändert hat. In England beispielsweise gibt es „gegenwärtig [. . .] nur unbedeutende anarcho-syndikalistische Strömungen“, in Österreich kam es immerhin „neuerdings [. . .] wieder zu einer anarchistischen Bewegung kleineren Umfangs“;217 nicht anders sieht es in Deutschland aus, wo es „[g]egenwärtig [. . .] die ‚Anarchistische Föderation Deutschlands‘ mit einigen tausend Mitgliedern“ gibt.218 Alles in allem ist der Anarchismus in Europa keine bedeutende politische bzw. soziale Kraft, sieht man von seinem traditionellen Einfluß in den spanischen und französischen Gewerkschaften ab, und in den USA „verfielen“ bereits infolge der durch die Chicagoer Ereignisse um den 1. Mai 1886 veranlaßten Repressionen „alle anarchistischen Vereine [. . .] der Auflösung“.219 Dieser lexikalische Befund von 1928 ist symptomatisch für die relative Bedeutungslosigkeit des Anarchismus in der öffentlichen Wahrnehmung der Zwischenkriegszeit, verglichen mit seinem Aufmerksamkeitswert in der Vorkriegszeit. Der Anarchismus erscheint nunmehr weder als ernstzunehmende soziale Bewegung oder bedenkenswerte Weltanschauung, noch als Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder als Gefahr in Gestalt einzelner psychopathischer oder krimineller Elemente. Er ist nicht mehr, wie noch im Fin de siècle, spektakulär, aufregend oder distinktionserheischend. Er ist entzaubert: ein spezifisches historisches und weltanschauliches Phänomen neben vielen anderen, das zwar nach wie vor seine Anhänger und Vertreter findet, aber nicht mehr durch besondere Originalität oder aufsehenerregende Aktionen von sich reden macht. Die rezenten Erfahrungen des Weltkrieges, 215 216 217 218 219

Der Der Der Der Der

Große Große Große Große Große

Brockhaus Brockhaus Brockhaus Brockhaus Brockhaus

(1928), (1928), (1928), (1928), (1928),

S. S. S. S. S.

428. 428. 428. 429. 428. – Siehe hierzu oben, V. 1.

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VII. Der Egoismus des Einzigen und sein Verein

die jüngsten Entwicklungen in Rußland und die neuen sozialen Bewegungen der politischen Rechten stellen sowohl die aggressiven und destruktiven als auch die revolutionären und utopischen Potentiale, die in der Vorkriegszeit mit dem Anarchismus assoziiert wurden, in den Schatten. a) Der zeitgemäße Einzige als Totalitarismuskritiker und Feind der neuen Bürgerfeinde In dieser Situation – ernüchtert von der Autodestruktivität und Irrationalität der Menschheit, mit Blick auf das millionenfache Sterben und Leiden durch den nationalistisch aufgeputschten Weltkrieg, auf die bolschewistische Diktatur und den Vormarsch faschistischer Bewegungen – schrieb der anarchistische Historiograph des Anarchismus Max Nettlau am 15. Dezember 1924 im Schlußwort zu seinem Vorfrühling der Anarchie mit verhaltenem Optimismus: „Ob die Fortschritte der freiheitlichen Ideen groß oder klein, schnell oder langsam waren, wird erst eine spätere Zeit beurteilen können, und dies hängt augenscheinlich nicht nur von der mehr oder weniger großen Tüchtigkeit der Vertreter dieser Ideen ab, sondern ebenso von dem Grade der autoritären Vergiftung der Menschheit, der, wie wir täglich sehen, ein sehr starker ist. Desto schlimmer für die arme Menschheit, wenn sie so langsam sich die Möglichkeit von Glück und Freiheit vorstellen und die Wege zu denselben bahnen kann; uns Anarchisten gewährt schon der bloße Gedanke daran Freude und Hoffnung. Gegenwärtig rast die Autorität in den rohesten Formen, Militarismus, Nationalismus, Diktatur, Faszismus nebst Grausamkeit jeder Art und moralischer Stumpfheit; bedeutet dies, daß sie sich in ihre letzte Stellung gedrängt sieht, und steht ihre Krise bevor und eine freiheitliche Erneuerung der gemarterten Menschheit, oder läßt sich die große Mehrzahl der Menschen dadurch wirklich in ihrer Entwicklung zurückpeitschen und liefert sich ihren neuen Herren aus? Niemand kann dies voraussehen: wird die ‚freiwillige Knechtschaft‘ weiter dauern, oder wird es einmal heißen: ‚Die Knechtschaft hat ein Ende‘? Wie man sich bettet, so liegt man!“220 Im selben Jahr, 1924, war in London S. P. Melgunows Buch Der rote Terror in Rußland (1918–1924), der „Klassiker über den bolschewistischen Terror“, veröffentlicht worden, in dem auf Grundlage der Akten der seit Juni 1919 tätigen Denikin-„Untersuchungskommission für bolschewistische Verbrechen“ über die Greueltaten im von den Bolschewiki nach der Oktoberrevolution forcierten Bürgerkrieg berichtet wird.221 Zu den zeitgenössi220

Nettlau (1925), S. 233. Werth (1997), S. 74 f. – „Was sofort auffällt, ist der starke Kontrast zwischen den wenigen mobilisierten Streitkräften und der ungemeinen Härte, mit der die Bol221

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schen Evidenzen, deren Bekanntheit Nettlau 1924 bei seinen Lesern als Assoziationsfeld voraussetzen konnte, wenn er von ‚Diktatur, Faszismus und Grausamkeiten‘ sprach, zählten neben den seit 1918 von den Bolschewiki eingerichteten Konzentrationslagern, den Massenverhaftungen und -hinrichtungen, Schauprozessen und anderen Repressalien gegen ‚Volksfeinde‘ und ‚Konterrevolutionäre‘ in Rußland222 auch die Ereignisse und Entwicklungen in Italien. Hier überzogen die faschistischen Squadren seit 1920 mordend und brandschatzend, mit zunehmender Gewalttätigkeit gegen sozialistische Politiker, Arbeiter und ganze Dorfbevölkerungen das Land mit ihrem ‚Eroberungsfeldzug‘.223 Im Jahr 1922, mit dem ‚Marsch auf Rom‘ am 28. Okschewiki nicht nur gegen gefangene Soldaten, sondern auch gegen Zivilisten vorgingen. [. . .] Die von dieser Kommission gesammelten Berichte beziehen sich alle auf unzählige, schon im Januar 1918 verübte Grausamkeiten. [. . .] In Taganrog haben Spezialkommandos der Sivers-Armee 50 an Händen und Füßen gefesselte Gutsbesitzer und ‚weiße‘ Offiziere in einen Hochofen geworfen. In Ewpatoria wurden mehrere hundert Offiziere und Bürgerliche gefoltert und anschließend gefesselt ins Meer geworfen. Auf der Krim kam es in den meisten der von den Bolschewiki besetzten Städte – Sewastopol, Jalta, Aluschta und Simferopol – zu ähnlichen Gewaltverbrechen. Die gleichen Grausamkeiten geschahen ab April/Mai 1918 in den aufständischen Kosakengemeinden. Die peinlich genauen Akten der Denikin-Kommission berichten von ‚Leichen mit abgehackten Händen, zerschlagenen Knochen, abgerissenen Köpfen, zerschmetterten Kieferknochen und abgeschnittenen Genitalien‘. [. . .] Die Massaker, die bewußt nicht nur an den kämpfenden feindlichen Truppen, sondern auch an den zivilen ‚Volksfeinden‘ verübt wurden, waren meist von ‚bewaffneten Kommandos‘, ‚Roten Garden‘ und anderen nicht näher spezifizierten ‚bolschewistischen Elementen‘ durchgeführt worden.“ (Werth (1997), S. 74 f.). 222 Vgl. Werth (1997), S. 87 ff., 99 ff., 143 ff. 223 Vgl. Nolte (1963), S. 254 ff., vgl. auch S. 270 f., 320 ff. – Zwei der von Nolte angegebenen „frühe[n] Beispiele“ dieser „faschistische[n] Gewaltsamkeit“ (Nolte (1963), S. 258), aus der nicht nur die Brutalität und Menschenverachtung des Faschismus, sondern auch die Schwäche und Tatenlosigkeit des italienischen Staates vor der faschistischen Machtergreifung spricht: „Einer der berühmtesten Squadristen Italiens, Sandro Carosi, betritt mit einigen Genossen ein Arbeitercafé, zieht die Pistole und zwingt unter breitem Lächeln einen Anwesenden, sich mit einer Tasse auf dem Kopf an der Wand zu plazieren: er werde seine Schießkunst unter Beweis stellen. Doch der Schuß geht in den Kopf und ist tödlich – mit spöttischer Verzweiflung beklagt der Schütze seine unsicher gewordene Hand. Die Zeitung berichtet von dem Ereignis unter der Überschrift ‚Uno sfortunato Guglielmo Tell‘, und die Justiz sieht keinen Anlaß zum Einschreiten.“ (S. 259 – H. i. O.) – Folgend ein Beispiel dafür, wie faschistische Führer politisch unliebsame Gemeindevorstände unter der Androhung von Sanktionen aufforderten, ihr Amt niederzulegen, und damit nicht nur die antifaschistischen Bevölkerungsteile einschüchterten, sondern zugleich „eine Verhöhnung der Staatsautorität“ lieferten. „Der Bürgermeister von Roccastrada weigert sich zu demissionieren. Nach quälendem Warten kommen am 24. Juli die faschistischen Lastwagen. Verschiedene Häuser werden angezündet, die Landleute flüchten in die Felder. Endlich fahren die Faschisten ab, die Bevölkerung kehrt zurück. Aber schon wenige Minuten später heulen wieder die Motoren, kreischen die Bremsen, die Faschisten springen feldmarschmäßig ab, es ist zu spät zu neuer Flucht. Auf der

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tober und Mussolinis darauf folgender Regierungsübernahme am 30. Oktober das „Jahr der faschistischen Machtergreifung“,224 unterstehen „[g]anze Landschaften [. . .] der Kontrolle der Squadren, die es sich zur Gewohnheit machen, mißliebige Personen, vor allem sozialistische Führer, einfach ‚auszuweisen‘,“ – unter Einsatz von „Schlägen, Schüssen und Rizinusöl“ – „so daß selbst Abgeordnete, unter ihnen Giacomo Matteotti, in fremden Städten als ‚Flüchtlinge‘ hausen müssen.“225 Die Ermordung des sozialistischen Abgeordneten am 10. Juni 1924 – ein halbes Jahr, bevor Nettlau sein Schlußwort schrieb – führte landesweit zu einem „einzigen Aufschrei der Empörung und des Entsetzens [. . .]. Es war keineswegs die schlimmste der squadristischen Gewalttaten, und Matteotti war längst nicht der erste Abgeordnete, der starb; aber dieser Mann war in seiner Tapferkeit und seinem Edelmut zum Symbol der Opposition schlechthin geworden, und Mussolini hatte kurz vorher Äußerungen getan, die zum mindesten eine moralische Verantwortlichkeit unter Beweis stellten.“226 Die darauf folgende Niederschlagung der antifaschistischen Opposition leitete, zwei Jahre nach Mussolinis Regierungsübernahme, die „totale Machtergreifung“ und Errichtung der „totalitäre[n] Herrschaft“ ein.227 Rückfahrt war ein Squadrist von unbekannter Hand erschossen worden, und Rachegötter brechen über das unglückliche Dorf herein. Wahllose Exekutionen und brutale Brandlegungen verwandeln die friedliche Stätte nicht in ein Schlachtfeld, sondern in ein Szenarium aus Dantes Inferno.“ (259 – H. i. O.). 224 Nolte (1963), S. 268, vgl. S. 272 ff. 225 Nolte (1963), S. 269. 226 Nolte (1963), S. 277. 227 Nolte (1963), S. 278 f., vgl. S. 280 ff. – Die Begriffe ‚totalitär‘ und ‚Totalitarismus‘ wurden kurz zuvor von italienischen Antifaschisten als Kampfbegriffe gegen den Faschismus eingeführt (vgl. Wippermann (1997), S. 8 ff.). Bereits im November 1923 prangert der Liberale Giovanni Amendola in Il Mundo den „totalitäre[n] Geist“ der faschistischen Bewegung an, die auf absoluten Gehorsam durch die Ausschaltung der individuellen Gewissensfreiheit ziele (9 f.). Und der Sozialist Lelio Basso charakterisiert im Januar 1925 das „spezifisch Neue des ‚totalitären‘ faschistischen Staates [. . .] folgendermaßen: ‚Der faschistische Staat begnügt sich nicht damit, die etablierte Ordnung (. . .) aufrechtzuerhalten, innerhalb deren die oppositionellen Kräfte die Möglichkeit hätten, eine neue Form des gesellschaftlichen Lebens vorzubereiten; er repräsentiert das gesamte Volk, er verneint die Existenz von unabhängigen oder gegnerischen Bewegungen, und wenn sich eine solche auch nur vorsichtig zeigt, so versucht er, sie unerbittlich zu zerstören. (. . .) Alle Staatsorgane, die Krone, das Parlament, die Rechtsprechung, (. . .) die bewaffneten Streitkräfte (. . .) werden Instrumente einer einzigen Partei, die sich zum Interpreten des Volkswillens, des unterschiedslosen Totalitarismus macht.‘“ (Wippermann (1997), S. 10) Die Faschisten selbst versuchten sich daraufhin propagandistisch in einer positiven Umdeutung des Begriffs ‚totalitär‘ und übernahmen ihn seit Mitte der zwanziger Jahre in ihre eigene Programmatik, um die starke, ausschließliche und widerspruchsfreie Einheit aller Werte und allen Lebens im faschistischen Staat zu bezeichnen (vgl. S. 10 f.). Zur gleichen Zeit sind aber auch bereits die Anfänge einer

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aa) Max Nettlau Um so wichtiger und angesichts der gegenwärtig düsteren Aussichten auch dringlicher erscheint es daher für Nettlau, mit der Möglichkeit jener ‚Vorstellungen von Glück und Freiheit‘ auch deren Realisierbarkeit zu bewahren und deswegen die ‚freiheitlichen‘ bzw. „antiautoritären Ideen“,228 Hoffnungen, Projekte und Zukunftserwartungen vergangener Generationen und ihrer Vordenker in einer „Ideengeschichte der Anarchie“229 zu dokumentieren. Diese beginnt Nettlau mit einem, seine Grundunterscheidung entwickelnden Kapitel „Zur Urgeschichte von Freiheit und Autorität“.230 Die zuletzt behandelten wissenschaftlichen Beobachter des Anarchismus hatten diesen dadurch spezifiziert, daß er den ‚Rechtszwang‘ (Stammler), den ‚Staat‘ (Eltzbacher) oder die ‚Institutionen‘ (G. Adler) negiere und eine jeweils dementsprechend ‚rechts-‘, ‚staats-‘ bzw. ‚institutionenfreie‘ soziale Ordnung projektiere.231 Damit hatten sie jeweils einen bestimmten Aspekt von ‚Herrschaft‘ innerhalb der Unterscheidung von ‚Herrschaft vs. herrschaftsfreie Ordnung (Anarchie)‘ begrifflich akzentuiert. Nettlau faßt nun diese Unterscheidung weiter, indem er allgemein der ‚Autorität‘ (Herrschaft) die ‚Freiheit‘ (Anarchie) entgegenstellt. Systematisch gewinnt er mit dieser Erweiterung gegenüber den engeren Fassungen der begrifflichen Unterscheidung von ‚Herrschaft vs. Anarchie‘ erstens eine normative bzw. polemische Asymmetrie: Die Unterscheidung ‚Autorität vs. Freiheit‘ ist ein aufgrund der Wortkonnotationen normativ positiv imprägniertes ‚freiheitliches‘ bzw. ‚antiautoritäres‘ oder ‚anarchistisches‘ Beobachtungsschema. Dagegen lassen die anderen, enger gefaßten Varianten der Unterscheidung ‚Herrschaft vs. Anarchie‘ prinzipiell zunächst offen, welche Wertung der Totalitarismus-theoretischen Diskussion zu beobachten, die unter dem Begriff ‚Totalitarismus‘ ausdrücklich Faschismus und Bolschewismus in ihrer antiliberalen, antihumanistischen und antizivilisatorischen Frontstellung gegen die ‚Ideen von 1789‘ zusammenfaßt und gleichsetzt (vgl. S. 11 f.). Solche auf die Gemeinsamkeiten von Faschismus und Bolschewismus abstellenden Deutungsangebote wurden von italienischen Liberalen wie Giovanni Amendola vorgebracht, der schon den Totalitarismus-Begriff mitgeprägt hatte, oder Luigi Sturzo und Francesco Nitti, deren diesbezüglich einschlägige Bücher 1926 auch in Deutschland erschienen (vgl. S. 11 f.), aber auch außerhalb Italiens entwickelt, etwa von dem Austromarxisten Otto Bauer, der bereits 1924 in dem im SPÖ-Organ Der Kampf erschienenen Aufsatz über Das Gleichgewicht der Klassenkräfte den italienischen Faschismus bonapartismustheoretisch analysierte und die Analogien zur bolschewistischen Diktatur aufzeigte – hier wie dort „die Diktatur einer über den Klassen stehenden regierenden Kaste“ (Bauer, zit. n. Wippermann (1997), S. 12). 228 Nettlau (1925), S. 177. 229 Nettlau (1925), S. 234. 230 Nettlau (1925), S. 5. 231 Siehe oben, VII. 2. a).

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diese verwendende Beobachter damit verbindet, wie etwa an den Beiträgen Stammlers, Eltzbachers oder G. Adlers deutlich wird. Eine polemische Asymmetrie impliziert im Gegensatz hierzu auch die Unterscheidung von ‚Ordnung (= Herrschaft bzw. Staat) vs. Anarchie (= Chaos)‘, die ein antianarchistisches oder etatistisches – in Nettlaus Diktion: ‚autoritäres‘ – Schema ist. Zweitens enthält die begriffliche Unterscheidung von ‚Autorität vs. Freiheit‘, vor allem ihre adjektivischen Ableitungen ‚autoritär vs. freiheitlich bzw. antiautoritär‘ einen weiteren historisch-empirischen Referenzbereich als die rechtsphilosophischen bzw. ideologiegeschichtlichen Spezifikationen der oben behandelten Autoren. Dadurch kann Nettlau prinzipiell die gesamte Ideengeschichte dualistisch nach ‚autoritären‘ oder ‚freiheitlichen‘ Positionen einteilen. Und drittens fungiert bei Nettlau dieser aus der Antonymisierung von ‚Autorität‘ und ‚Freiheit‘ gewonnene Dualismus als antagonistisches Bewegungsprinzip der menschheitlichen Kulturgeschichte, deren Verlauf sich so aus den Kämpfen antiautoritärer Bewegungen – von „antistaatliche und anarchistische Ideen vertretenden Männer[n]“232 – gegen die jeweils Herrschenden erklären läßt. In dieser Perspektive erscheint der moderne Anarchismus von Stirner, Bakunin, Kropotkin usw. als der jüngste und fortgeschrittenste Ausdruck einer Jahrtausende alten antiautoritären Rebellion, die anthropologisch von so existentieller Bedeutung ist, daß die Menschheit sie in ihre eigene mythische Vorgeschichte rückprojiziert hat: „Ob wir [. . .] Reflexe alter Freiheitskämpfe in der Bibel oder der griechischen oder anderen Mythologien betrachten, immer sind es Kämpfe gegen die Autorität, in denen diese noch siegt, ihre Bekämpfer aber nicht mehr vergessen werden, so sehr die Priester und die höfischen Sänger ihre Rolle entstellen. Die aus dem Himmel geschleuderten Teufel, mit Satan, Bakunins Lieblingsfigur der Bibel, und Lucifer, dem Lichtbringer, oder die aus dem Olymp geschleuderten Titanenstürmer, die aus dem Paradies vertriebenen und von Jehova verfluchten Menschen, die vom Baum der Erkenntnis gegessen, oder der von Zeus gemarterte Prometheus, der das göttliche Monopol des Feuers gebrochen und den Menschen das Feuer gebracht hatte, – all das sind Rebellen durch und durch, und unbekannte soziale Freiheitskämpfe der Vorzeit fanden in ihnen einen geschickten, noch heute andauernden Niederschlag.“233 In dieser von Nettlau selbst vorgenommenen Rückprojektion erschließt sich nebenbei ein Aspekt der satanistischen Lesart des Stirnerschen Individualismus: der sich empörende Einzige erscheint als Reinkarnation Satans, des ersten Rebellen, der sich der Autorität Gottes nicht fügen wollte – oder richtiger: dieser Satan ist die mythologische Personifikation des sich empörenden Einzigen, 232 233

Nettlau (1925), S. 9. Nettlau (1925), S. 9.

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der Nichts über sich anerkennt und somit für sich selbst die Allmacht Gottes beansprucht.234 Entsprechend läßt sich auch der morphologische Wandel der Feindin der ‚Freiheit‘, der ‚Autorität‘, von den kulturgeschichtlich frühesten Verhältnissen bis zu den Ideologien der Gegenwart – mit der Aussicht auf deren zukünftige Überwindung – rekonstruieren. Die zeitgenössischen marxistischen Avantgarden werden in Nettlaus Sicht als in Wahrheit rückwärtsgewandt erkennbar, so „daß heute der autoritäre Sozialismus zu den Mächten der Vergangenheit und nicht zu den Entwicklungsfaktoren der Zukunft gezählt werden muß, und daß man wohl sagen kann, daß wie in der Urzeit der gewalttätige Stammeshäuptling und der Priester sich als erste der Freiheit entgegenstellten, der sozialistische Diktator und der Marx-Priester in einer vielleicht nahen Zukunft die letzten sein mögen, die dies tun.“235 Der am 234 Weitere Aspekte hängen mit der Funktion des satanisch-antichristlichen Bedeutungsfeldes zusammen – neben seinem reinen Provokationswert –, eine dionysisch-heidnische Sinnlichkeit im Gegensatz zur ‚normierenden Repressivität‘ christlich-bürgerlicher Moral zu symbolisieren; unter diesem Aspekt wird dann neben Stirner vor allem Nietzsche satanistisch rezipiert (siehe hierzu insbesondere oben, VI. 3. a) cc), und generell Kapitel VI. zur Moralkritik des Individualismus). Das gleiche gilt für den ja ebenfalls mit dem Stirnerschen Einzigen wie mit Nietzsches Übermenschen in Verbindung gebrachten Machtkult um das kraftstrotzende, ohne Rücksicht auf ‚christliche Sklavenmoral‘ seinen Willen durchsetzende, seine Leidenschaften ausagierende und sich selbst verwirklichende Ausnahme-Individuum, an den wiederum der sozialdarwinistische, häufig rassistisch geprägte Neo-Satanismus anschließen kann (vgl. Baddeley (1999); Dvorak (1979) u. (2000); Farin (2002), S. 166 ff.). – Benito Mussolinis Rede von der ‚Aktualität Stirners‘ (1919) und sein Appell, „den Weg frei [zu lassen] für die elementaren Kräfte der Individuen, denn eine andere menschliche Realität außer dem Individuum existiert nicht“ (zit. n. Nolte (1963), S. 244), ist von diesem radikal-individualistischen Bedeutungsfeld des Satanismus mit seinem die sozial rücksichtslose Selbstbezüglichkeit des Individuums verherrlichenden Kult des Bösen nicht weit entfernt (siehe auch oben, IV. 3.). Diese Nähe erhellt auch eine Beobachtung Ernst Noltes zur Psychologie der faschistischen Gewalt: „Es lebt in ihr etwas von urtümlich Bösem, von zynischer Menschenverachtung und diabolischer Freude an der Erniedrigung des anderen Menschen, von lichtloser Liebe zur Gewalt um ihrer selbst willen. Diesen ihren ‚vorbürgerlichen‘ Charakter darf man nie aus den Augen verlieren.“ (Nolte (1963), S. 260) – Zu den Ikonen satanistischer Subkulturen gehört nicht zufällig Adolf Hitler, dessen paranoiden und pathologisch-narzißtischen – die destruktiven und antisozialen Züge des Einzigen zum Extrem gesteigert in sich vereinigenden – Charakter Nolte eindringlich schildert (vgl. Nolte (1960), S. 357 ff.). – Bei all dem ist freilich zu differenzieren zwischen den künstlerischen Ausdrucksformen eines radikal-individualistischen Dekadenz-Satanismus in der philosophisch-aufklärerischen Tradition der Romantik, von Baudelaire über Przybyszewski bis zu Marilyn Manson einerseits, und den ideologischen Lizenzierungen antisozialer Verhaltensweisen von Individuen durch (neo-)satanistische Lehren und Kulte andererseits; abseits dieses radikal-individualistischen Spektrums sind die echten Psychotiker und Teufelsanbeter zu verorten, die an die übernatürliche Existenz einer ‚satanischen‘ Entität glauben.

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21. Januar 1924 verstorbene Revolutionsführer Lenin, dessen Leichnam seitdem am Verwesen gehindert wird,236 und sein Nachfolger Stalin, bereits seit April 1922 Generalsekretär der russischen KP, erscheinen als die blutrünstigen Wiedergänger archaischer Tyrannenfiguren.237 Der ‚Rote Terror‘ und die Diktatur der Bolschewiki erweisen sich als die konsequente und kongeniale Vollstreckung von Marx’ autoritären Wunschphantasien, die diesen zum erbitterten und gehässigen Widersacher des freiheitlichen Aufbruchs seiner Zeitgenossen machten: „Nur ein Mann, in welchem die Autorität eine ihrer buntesten und giftigsten Blüten produzierte, fühlte inmitten dieses philosophisch-politisch-ökonomischen Zugs zur Freiheit hin den herostratischen Trieb, die Freiheit mit all seinen reichen geistigen Mitteln zu bekämpfen, Karl Marx, der vom Ehrgeiz besessen war, Proudhon zu vernichten, wie er Stirner zu vernichten unternahm und Feuerbachs Licht auslöschen wollte, wie er jeden der kleineren zeitweiligen Helfer der Freiheit, die Brüder Bauer und Karl Grün zu zertreten suchte, wie er sich Heß zum unwilligen Sklaven machte und Friedrich Engels veranlaßte, seine etwas freiere Züge zeigende Vergangenheit mit dem dichtesten Schleier zu bedecken und seine anerkannte geistige Existenz erst vom Zusammentreffen mit Marx ab zu datieren, wie er endlich einen lebenslänglichen Kampf mit Bakunin führte und auch Proudhon 1865 auf dem Grabhügel schmähende Worte nachschleuderte.“238 Bereits der „Eintritt von Marx ins politische Leben“239 begann mit einem Angriff auf „Max Stirner und sein[en] Kreis“.240 Kaum war Marx 1842 leitender Redakteur der Rheinischen Zeitung, nutzte er schon seine Machtposition, um den „erste[n] feindlichen Akt gegen die freiheitlichste Gruppe im damaligen Deutschland“ zu begehen, indem er „die Berliner ‚Freien‘ aus dieser Zeitung heraus[warf]“.241 So schob sich fortan das „ungewöhnliche Talent von Marx, gepaart mit einem furchtbaren Ehrgeiz, [. . .] einer freiheitlichen Entwicklung in den Weg; alle Andersdenkenden wurden bekämpft, erniedrigt, entmutigt.“242 – Von russischen Gesinnungsgenossen, die 1922 im Berliner Exil eine Broschüre über die bolschewistische Repression herausgaben, konnte Nettlau bei der Niederschrift seines Buches wissen, daß sich schon unter den ersten Opfern von Dschersinskis seit 1918 gegen ‚Volksfeinde‘ und ‚Konterrevolutionäre‘ wütenden Tscheka Hunderte von Anarchisten be235 236 237 238 239 240 241 242

Nettlau (1925), S. 7. Vgl. Esch (2004). Siehe auch die diesbezüglichen Anmerkungen oben, III. 2. b) und 4. c) aa). Nettlau (1925), S. 155 – H. i. O. Nettlau (1925), S. 175. Nettlau (1925), S. 169. Nettlau (1925), S. 175. Nettlau (1925), S. 168, vgl. S. 155 f.

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fanden:243 eine Erfüllung Marxscher Unterdrückungs- und Vernichtungsphantasien durch „den ‚bewaffneten Arm der Diktatur des Proletariats‘“244, vollzogen an den ideellen Enkeln Stirners und Bakunins, der frühen antiautoritären Opponenten des autoritären Sozialisten Marx.245 Mit dieser historischen Rück- und Aussicht erhält bei Nettlau die ‚antiautoritäre‘ Kommunismus-Kritik des Einzigen, die bereits vor dem Weltkrieg Georg Adler gewürdigt hatte, dringende Aktualität. Stirner erscheint als vorausschauend warnender Kritiker eines auf den Erzrivalen Marx zurückgehenden Totalitarismus – und als dessen Opfer, ein Märtyrer des Anti-Totalitarismus. Während heute die „sozialen Bewegungen seit 1917 [. . .] beweisen“, daß ein dem „Drang nach Freiheit nicht entsprechender Sozialismus nicht lebensfähig ist, auch wenn ihm alle durch Gewalt erzwungenen Hilfsmittel zur Verfügung stehen“,246 hatte Stirner bereits 1844, eine solche Entwicklung vorausahnend, das Scheitern aller „Pöbelbeglückungsversuche“ theoretisch antizipiert, die „der autoritären Solidarität oder Bevormundung [. . .] entspringen“.247 „Er durchschaute den autoritären Charakter des an Staat und Gesellschaft festhaltenden Sozialismus und Kommunismus. [. . .] Stirner wies, wie noch keiner vor ihm und gewiß wenige nach ihm, auf die an den Revolutionär durch seine Aufgabe gestellten Anforderungen hin und warnte vor den autoritären Gefahren.“248 Stirners als Alternative zur ‚autoritären‘ Gesellschaft projektiertes soziales Ordnungskonzept waren die „Vereine“, Nettlau zufolge „Stirners Ausdruck für freie Gruppen“.249 Sowohl mit dieser ‚freiheitlichen‘ sozialprogrammatischen Zielbestimmung als auch mit seiner konsequenten ‚antiauto243

Vgl. Werth (1997), S. 97, vgl. S. 68 ff. Werth (1997), S. 70 f., vgl. S. 67 ff. 245 „In der Nacht vom 11. auf den 12. April 1918 startete die Tscheka ihre erste Großoperation: Mit mehr als 1000 ihrer Leute überfielen die Spezialeinheiten in Moskau etwa 20 von Anarchisten besetzte Häuser. Nach einem stundenlangen heftigen Kampf wurden 520 Anarchisten verhaftet. 25 von ihnen wurden als ‚Banditen‘ standrechtlich hingerichtet. Als Bandit galt von diesem Zeitpunkt an der streikende Arbeiter, der sich der Wehrpflicht entziehende Deserteur oder der sich gegen Beschlagnahmungen zur Wehr setzende Bauer.“ (Werth (1997), S. 78) Der obengenannten – nach Werths Einschätzung bezüglich der Opferzahlen „wahrscheinlich unvollständigen“ – Bilanz der Berliner Exilanten zufolge „wurden von 1919 bis 1921 138 militante Anarchisten hingerichtet und 281 exiliert. Weitere 608 saßen am 1. Januar 1922 immer noch in Haft.“ (S. 97) Während man 1922 im Ausland diese Zahlen anarchistischer Opfer vor Augen hatte, geht Werth heute von „Tausende[n]“ während des Bürgerkrieges hingerichteter Anarchisten aus (S. 97). 246 Nettlau (1925), S. 5. 247 Nettlau (1925), S. 170; vgl. Stirner, EE, S. 285 ff., bes. S. 287. 248 Nettlau (1925), S. 173. 249 Nettlau (1925), S. 170 – H. i. O. 244

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ritären‘ Kritik nicht nur an der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und ihrem Staat, sondern insbesondere auch an revolutionären Bewegungen mit ‚autoritärem‘ programmatischen Profil, erweist sich „Max Stirner als durch und durch bewußte[r] anarchistische[r] Empörer, der das Wesen der ‚freiwilligen Knechtschaft‘ durchschaute [. . .] und die freie Gruppe, das heißt das freie Verhältnis jedes einzelnen zur frei gewählten Gruppe, als Art des Zusammenlebens ihrer Freiheit bewußter Menschen ansah.“250 Diesem die Freiheit eines jeden Individuums bejahenden Ziel, der Je-Einzigkeit als einer Sozialform, in der das antiautoritäre Ideal zum Wohle aller verwirklicht ist, dient demnach Stirners ganzes Streben, und auch seine vordergründig negativistisch-destruktiven Parolen sind Nettlau zufolge nur von dieser positiv-projektierenden Seite aus zu verstehen. „Er suchte den einzelnen vorzubereiten, in diesem Sinn zu handeln, jedes Abhängigkeitsverhältnis von sich zu stoßen und er gab ebenso den Massen manche drastischen Winke, den Landarbeitern und den Arbeitern überhaupt. Er sah sehr gut ein, daß eine ungeheure Revolution das Ende mit Schrecken bereiten werde, deren nähere Umstände er nicht vorauszusagen hatte, aber die ‚Empörung‘, die Selbstbefreiung, das Emporwachsen vieler, ihre Losreißung vom Bestehenden mußte vorausgehen. [. . .] Mit einem Wort, er sah, was erforderlich war und ist, wirkliche Anarchisten zu machen oder vielmehr, jeden einzelnen freiheitlich handeln zu lassen, und er erklärte dies; er übersah keine der Schwierigkeiten der Losreißung der Geister aus der autoritären Mentalität. [. . .] Daher ist es eine Verzerrung seiner Ideen, in ihm einen Lobredner des Egoismus zu sehen oder einen Nichtsozialisten oder auch einen Mutualisten im Sinne Proudhons oder Warrens, oder auch einen Antirevolutionär.“251 Stirner, den im Anschluß an Engels252 zuerst seine ideologischen Gegner aus dem marxistischen Lager für den Anarchismus entdeckt hatten, um diesen ideologiekritisch zu diskreditieren, und dessen Status als Anarchist diskursiv von ‚bürgerlichen‘ Wissenschaftlern gefestigt wurde, die dem Anarchismus wie dem Marxismus zumeist gleichermaßen distanziert gegenüberstanden, wird nun auch von quasi offiziell-anarchistischer Seite in den Kanon der Klassiker des Anarchismus aufgenommen. Nachdem so anerkannte Wortführer wie Nettlaus Parteigänger und Freund Kropotkin lange Zeit Stirner und seinen ‚bourgeois-individualistischen‘ Anhängern wegen der vermeintlichen Nietzsche-Affinität und fragwürdiger ‚dekadenter‘ Verehrer das Prädikat ‚anarchistisch‘ nicht zuerkennen wollten, stellt Nettlau gleich zu Anfang seines Stirner-Kapitels im Vorfrühling der Anarchie das 250

Nettlau (1925), S. 173. Nettlau (1925), S. 173 – H. i. O. 252 Vgl. Engels (1850), S. 418 ff.; Engels (1888), S. 271, 291; vgl. auch Engels (1844/45), S. 519; Engels (1845a), S. 257, 488. 251

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Mißverständnis seiner Genossen richtig, indem er dekretiert: „Max Stirners (Johann Kaspar Schmidts, 1806–1856) ‚Der Einzige und sein Eigentum‘, Dezember 1844, ist in der bisher besprochenen Literatur mit Godwins Political Justice, 1793, und Proudhons Idée générale de la Révolution au XIXe siècle, 1851, das bedeutendste Werk, dem sich später die Werke von Bakunin, Elisée Reclus und Kropotkin als ebenso wuchtige, wie bis ins einzelste durchdachte und durchfühlte Vertreter des Freiheitsgedankens des 19. Jahrhunderts anschließen, wodurch ich die vielen, die zu einer derart vollendet ausgearbeiteten Darstellung ihrer Ideen nicht gekommen sind, nicht herabsetzen möchte. Dieses Buch ist das bekannteste und am leichtesten zugängliche Buch des älteren Anarchismus geworden [. . .]. Trotzdem werden wenige Bücher so mißverstanden oder so verschiedenartig beurteilt, wie dieses, und viele Leser bleiben bei einem auf die Spitze getriebenen Individualismus oder Egoismus stehen, den sie herauslesen wollen. Mir erscheint das Buch als ein viel revolutionärer gedachtes, als es oft den Anschein hat“,253 und deshalb will es Nettlau nicht inneranarchistischen Streitigkeiten opfern. Angesichts des Abschwungs der anarchistischen Bewegung und der neuen autoritären Bedrohungen seit dem Weltkrieg ist das Interesse an inneranarchistischen Grabenkämpfen zwischen ‚Individualisten‘ und ‚Kommunisten‘ der Dringlichkeit einer Selbstvergewisserung der ‚freiheitlich-antiautoritären‘ Tradition in einem umfassenderen Verständnis gewichen. „Anarchismus ist Leben, das Leben selbst in seiner ganzen Vielseitigkeit, befreit von der Krankheit der Autorität und den Staats-, Eigentums-, Religions-, Nationalitäts- und anderen Parasiten, den parasitischen Ausbeutern, welche die Autorität züchtet, – und dieses Leben wird sich zwischen kollektiver und individueller Betätigung, Solidarität und Freiheit, freiem Kommunismus und Individualismus in endlosen Variationen und Nuancen bewegen.“254 Für Nettlau, der auch bei anderer Gelegenheit betont, daß er Stirner, anders als Nietzsche, nicht für ‚einen Autoritären‘, sondern für einen ‚sehr sozialen Individualisten‘ halte,255 bedeutet dies, den Einzigen und seinen Verfasser – und übrigens auch seinen ‚Wiederentdecker‘ John Henry Mackay,256 dessen Anspruch Nettlau gleichwohl relativiert – nicht dessen ‚falschen Freunden‘ zu überlassen, die in ihm beispielsweise den Vertreter eines sozialprogrammatisch nicht anschlußfähigen, dem Wesen nach ‚aristokratischen‘ Individualismus sehen, wie etwa der oben zitierte Anselm Ruest.257 In dieser Absicht resümiert Nettlau: „Max Stirner war nie verges253 254 255 256

Nettlau (1925), S. 169 – H. i. O. Nettlau (1925), S. 132. Vgl. Nettlau (1926), S. 178 f. – Siehe auch oben, V. 4. a). Vgl. Nettlau (1932), S. 209 ff.

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sen, wurde aber meist mißverstanden, zu seiner Zeit und seitdem. Für mich gehört er keineswegs dem engen Individualismus an, der nur Individualist sein will und dadurch vom Bourgeois oder Tyrannen nicht zu scheiden ist, sondern er begründete jenen breiten, echten Individualismus, der die Grundlage jedes freiheitlichen Sozialismus ist, die Selbstbestimmung eines jeden über die Beziehungen, in die er mit anderen zu treten wünscht: diese können mutualistisch oder kommunistisch sein, eng oder entfernter, kurz oder lang usw. Daß der einzelne hierüber aus eigenem Wissen und eigener Kraft entscheide, das hat Stirner gewünscht, und dazu suchte er ihn aus den Fesseln und Netzen der Autorität zu befreien. Der Individualismus als ausschließliches Prinzip ist eine einseitige Lösung und daher nicht Freiheit, sondern Enge; der Individualismus aber als feinstes Werkzeug, um jeden in das von ihm gewünschte Milieu zu versetzen, muß jeder freien Gruppierung der Menschen zugrunde liegen.“258 Bei Nettlau erscheint Stirners Konzeption des Vereins und der Je-Einzigkeit somit als anarchistisches Sozialmodell; aus seiner eigenen ‚freiheitlichen‘ Perspektive betont Nettlau, anders als die gegenüber der Stirnerschen Vereins-Utopie skeptischen nicht-anarchistischen Autoren Stammler, Eltzbacher und Georg Adler, die Praktikabilität dieser Je-Einzigkeit. Allerdings ist diese Differenz in der Einschätzung der Praktikabilität Stirnerscher Je-Einzigkeit nicht bloß weltanschaulich bedingt; sie ist auch symptomatisch für die (ausführlicher bei Hans Sveistrup zu beobachtende) Tendenz der Zwischenkriegszeit, Stirner einen sozialtheoretischen Realismus zuzugestehen.259 Wegen ihrer antiautoritären Frontstellung empfiehlt sich Nettlaus Deutung der Je-Einzigkeit überdies auch als prinzipielle Alternative zu den Utopien, die sich zeitgenössisch in ihrer Verwirklichung in Kommunismus und Faschismus gerade diskreditierten. In dieser Beziehung, insbesondere weil für Stirner der Freiheit verbürgende Bruch mit den ‚autoritären‘ Ideologien die „erste Aufgabe [ist], der auch die soziale Frage untergeordnet ist“,260 und weil für ihn die konkrete soziale Gestaltung der Je-Einzigkeit – ob „mutu257

Siehe auch oben, VI. 4. b) bb). Nettlau (1925), S. 179 – H. i. O. 259 In diesem Sinne schreibt Ernst von Aster 1930: Stirners „Verein der Egoisten ist der lose Interessenverband derer, die eben durch die Gemeinsamkeit ihrer gleichgerichteten Interessen zusammengeführt werden, ein Verband, der sich selbstverständlich auflöst und dem Kampf der Glieder Platz macht, wenn das gemeinsame Interesse aufhört, das aber nach Stirner immer stark genug sein wird, um als bessere Basis für das Vertrauen und das Zusammenhandeln der Menschen zu dienen, als Versprechen, Eide, moralische Verpflichtungen, geschlossene und unterschriebene Bündnisse. Man kann natürlich zweifeln, ob Stirner hier Recht hat, und man kann seine Umwertungen, wie sie oben angedeutet waren, ablehnen, aber man kann ihm nicht vorwerfen, daß er Absurdes oder Unmögliches lehre.“ (Aster (1930), S. 449). 260 Nettlau (1925), S. 173. 258

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alistisch oder kommunistisch“ – dem absoluten Prinzip der „Selbstbestimmung eines jeden“ nachgeordnet ist und sich daraus erst ergeben muß,261 tritt das sozialutopische Potential der Je-Einzigkeit gegenüber seiner defensiv-kritischen Haltung in den Hintergrund: In dieser Perspektive muß die – im Deutschland der Weimarer Republik noch existente, aber in jüngster Zeit durch rechtsradikale Angriffe, zuletzt durch die Morde an Erzberger (26.8.1921) und Rathenau (24.6.1922) und durch den Putschversuch Hitlers (9.11.1923) in Frage gestellte – liberale Demokratie im Verhältnis zu den totalitären Diktaturen in Rußland und Italien als zumindest das kleinere Übel erscheinen, mit größerer Nähe zum freiheitlichen Ideal und einer günstigeren Ausgangsposition für die Verwirklichung der anarchistischen JeEinzigkeit. So bilden in der Zwischenkriegszeit Diktatur und Terror der Bolschewisten und Faschisten die neue Evidenz dessen, wogegen der Anarchist Stirner seinen Einzigen im Vormärz hatte antreten lassen. Der Erzfeind des Einzigen ist nach dem Weltkrieg nicht mehr, wie vom Fin de siècle bis zum Kriegsausbruch, die moralische und kulturelle Normalität und Repressivität des Bürgertums, das im liberalen Klima der Weimarer Republik ohnehin seine Hegemonialstellung eingebüßt hatte, sondern die ihrerseits aggressiv antibürgerlichen, neuen ideologischen Formationen des Faschismus und Kommunismus. In diesen waren dem seit dem Beginn seines eigenen Zeitalters verhaßten ‚Bürger‘ zwei schreckliche und entschlossene Feinde erwachsen,262 deren im Grauen des Weltkrieges gezüchteter Vernichtungswille das dekadente Épater le bourgeois wie das terroristische ‚Dynamiter les bourgeois‘ der Jahrhundertwende263 in Wort und Taten übertraf.264 Im grausamen Detail erscheint die Praxis des faschistischen und bolschewistischen Terrors als Materialisation und Konkretion der unheilvollsten Visionen, die Lucchesi, Türck und andere besorgte bürgerliche Beobachter der Stirner-Nietzsche-Begeisterung der Jahrhundertwende angesichts der Abgründe und Gefahren eines entfesselten Individualismus von amoralischen Übermenschen befielen; in ihrer Realität und Quantität überflügeln die Greueltaten der Squadristen und Roten Garden noch die von den ‚Anarchisten‘ Stirner und Nietzsche genährten Angstphantasien Türcks.265 261

Nettlau (1925), S. 179. Vgl. Furet (1995), S. 16 ff., 26 ff., 33 ff., 45 f., 50, vgl. auch S. 215 ff., bes. S. 223, 229. 263 Siehe oben, insbesondere V. 1. und 2. c) sowie VI. 1., 2. und 3. a). 264 „Bolschewismus und Faschismus sind ein Produkt des Krieges und sind in ihren wesentlichen Merkmalen durch ihn geprägt. Das in den Schützengräben Gelernte wird auf die Politik übertragen: Gewaltgewöhnung, leichte Entfachung extremer Leidenschaften, Unterwerfung des Individuums unter die Gemeinschaft und schließlich die Verbitterung über unnötige Opfer und Verrat.“ (Furet (1995), S. 217, vgl. auch S. 34 f., 219 ff.). 265 Siehe oben, VI. 4. b) ee). 262

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So beerben die neuen Ideologien des Bolschewismus und Faschismus den Einzigen einerseits in seiner ostentativen Antibürgerlichkeit,266 andererseits zwängen sie ihn selbst, zusammen mit allen anderen Feinden, in das – durch ihren Siegeszug dem Untergang geweihte – bürgerliche Lager. Nach dem bekannten Schema ‚Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns‘, wird von bolschewistischer Seite der Einzige zusammen mit dem Faschismus, von faschistischer Seite der Einzige zusammen mit dem Bolschewismus für ‚bürgerlich‘ erklärt. Das ist nicht nur symptomatisch für die binäre FreundFeind-Schematik totalitärer Ideologie, sondern auch für die Plausibilisierungskraft und semantische Beharrlichkeit einer seit langem eingeübten Negativ-Stereotypisierung des Bürgers als polemisches Symbol. Furet zufolge versinnbildlicht sich der Affekt gegen den Bürger „am besten in der Erniedrigung, die er durch die Ästhetik erfährt: Vom 19. Jahrhundert an verkörpert er den Antipoden des Künstlers. Er ist engstirnig, häßlich, geizig, eingebildet, spießig, während der Künstler edel, schön, großzügig, genial und ein Bohemien ist. Das Geld verhärtet die Seele des einen und erniedrigt ihn, die Verachtung des Geldes erhebt den anderen und befähigt ihn, im Leben große Dinge zu vollbringen. Dieser Überzeugung sind sowohl die ‚revolutionären‘ Schriftsteller und Künstler als auch die konservativen und fortschrittsfeindlichen“.267 In der ‚Wiedergeburt‘ des Einzigen wie in seinen verschiedenen individualistischen Ausgestaltungen ist – in exemplarischer Weise – eine Radikalisierung dieser modernen antibürgerlichen Tradition zu erkennen: Das individualistische Syndrom der Jahrhundertwende, inklusive seiner verschiedenen weltanschaulichen Ausprägungen, stellt die bürgerliche Welt – ihre Normalitätskriterien, ihre Werteordnung, ihre Stabilitätserwartungen – in auf breiter Front geführten Angriffen grundsätzlich in Frage. Nach dem Weltkrieg griffen Faschismus und Bolschewismus auf die um die antibürgerlichen Errungenschaften des Vorkriegsindividualismus maßgeblich angereicherte bürgerfeindliche Tradition zurück. Der „neue[] Mensch“, den Faschismus und Bolschewismus in der Zerstörung der bür266 Nolte beschreibt die Strukturfeindschaft des Faschismus als dessen „‚vorbürgerlichen‘ Charakter“, den er sowohl in der antihumanistischen Gewaltverherrlichung und antisozialen Gewaltpraxis als auch „in der eigentümlichen Staatsfeindlichkeit dieser Bewegung“ zum Ausdruck kommen sieht (Nolte (1963), S. 260): „Sie beschränkte sich für ein genaueres Hinsehen nicht auf einen Gegensatz zu dieser bestimmten Form des Staates, sondern erwies sich als Feindschaft gegen den Staat schlechthin, sofern er eine Schranke ihres Willens war, das heißt gegen Legalität überhaupt.“ (S. 260) Von dieser Parallele zum Anarchismus wollen die faschistischen bzw. nationalsozialistischen Ideologen bekanntlich in der Regel nichts wissen und werfen ihrerseits, wie unten noch ausführlicher zu betrachten sein wird, ihren ‚bürgerlichen‘ Feinden, den – aus ihrer Sicht verkappt anarchistischen – Liberalen, ‚Staatsfeindschaft‘ vor. 267 Furet (1995), S. 27.

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gerlichen Welt hervorbringen wollten,268 löste den antibürgerlichen Individualisten als revolutionären Typus ab. Und auf der anderen Seite wurde der Antitypus zum ‚neuen Menschen‘, das Negativ-Symbol des Bürgers, zugleich um den – bereits im Fin de siècle von bürgerlicher Seite als ‚zersetzend‘ erkannten – Individualisten erweitert. Der Individualismus wurde ‚bürgerlich‘ und ‚der Bürger‘ zum Individualisten. Aber auch der jeweilige Feind im totalitären Lager wurde als ‚bürgerlich‘ gebrandmarkt: Das „Bürgertum ist sowohl für Lenin als auch für Hitler [. . .] der Sündenbock für alles Unglück dieser Welt. Es steht für den Kapitalismus, der für die einen ein Wegbereiter des Imperialismus und Faschismus ist, für die anderen der des Kommunismus; in beiden Fällen jedoch ist er der Ursprung all dessen, was zutiefst verabscheut wird. Der Begriff ist so abstrakt, daß man ihm die unterschiedlichsten Symbole zuordnen kann, und zugleich konkret genug, um dem Haß ein geeignetes Ziel zu bieten.“269 Bei Hitler erhält der „Haß auf das Bürgertum“270 zudem seine spezifisch antisemitische Einfärbung und Grundierung: „Das Neue an Hitler, gemessen an Mussolini, ist sein Haß auf die Juden, die ihm sowohl Symbol für den Kapitalismus als auch für den Bolschewismus sind. [. . .] In der Person des Juden kann man den Bürger und zugleich den ‚Bolschewiken‘ verabscheuen, und das ist Hitlers Erfindung. Er versteht es, diese persönliche Leidenschaft auszuweiten, die eine ganze Epoche prägt.“271 Im Nationalsozialismus wird der Kampf gegen die bürgerliche Welt zum Rassenwahn, der mental in der paranoiden Disposition antisozialer All-Einzigkeit wurzelt.272 Was die Interpreten paranoischer, antisemitischer und psychopathischer All-Einzigkeit um die Jahrhundertwende als gefährliche Möglichkeit der modernen antibürgerlichen Individualitätsverfassung erkannt haben,273 nimmt nach Jahrzehnten in Hitler völkermörderische Gestalt an. An diesen wahnhaften Zug des Einzigen erinnert man sich zu diesem Zeitpunkt allerdings kaum noch, auch wenn auf Stirner sich berufende und als Einzige sich präsentierende hypomanische Persönlichkeiten wie der ‚Inflationsheilige‘ Louis Haeusser und andere völkische Erlösung predigende ‚barfüßige Propheten‘ als – zeitweise mit 268 Furet (1995), S. 220; Nolte (1963), S. 464; vgl. Furet (1995), S. 209 ff., bes. S. 229. 269 Furet (1995), S. 16 f. 270 Furet (1995), S. 16. 271 Furet (1995), S. 38, vgl. S. 67; vgl. auch Bracher/Schulz/Sauer (1974 II), S. 35 ff. 272 Der 1889 geborene Adolf Hitler ist passender Weise gleichaltrig mit dem um 1890 virtuell ‚wiedergeborenen‘ Einzigen. Vgl. Nolte (1963), S. 356 ff. u. S. 468, psychogrammatisch-biographisch zu Hitler. Vgl. auch Fromm (1973), S. 415 ff. 273 Siehe oben, IV. 1. c) und d), 2. c) und 3., V. 2. d) und 3. a) dd) sowie VI. 4. b) ee).

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Hitler rivalisierende – Heilsbringer die Straßen und Bahnhofshallen der Weimarer Republik bevölkerten.274 Auf der ideologischen (und ideologiekritischen) Ebene, als Anarchist und Vertreter einer anti-bürgerlichen individualistischen Weltanschauung hat der Einzige in der Zwischenkriegszeit die Faszination, die ihm – als Schrecken und Hoffnung – um die Jahrhundertwende zugekommen war, weitgehend eingebüßt. Das frühere Schreckensbild des entfesselten Individualismus und seiner anarchistischen Exzesse verblaßte vor dem Hintergrund des millionenfach unmittelbar erlebten und erlittenen Weltkriegs-Grauens.275 Ebenso gerieten angesichts dieser rezenten Erfahrungen die von anderer Seite in einen emanzipatorisch interpretierten Individualismus bzw. Anarchismus gesetzten idealistischen Hoffnungen auf eine Überwindung der moralisch und nationalistisch verblendeten Herrschafts- und Gewaltverhältnisse in die Defensive. Das, wogegen der Einzige sich empört hatte, war im Malstrom des Weltkrieges verschwunden: „Der Krieg wird von Massen einberufener Zivilisten bestritten, die von der bürgerlichen Selbstbestimmung zu militärischem Gehorsam übergewechselt sind und nicht wissen, für welchen Zeitraum; man schickt sie in eine Feuerhölle, in der ‚Durchhalten‘ mehr gilt als Kalkül, Wagnis oder Sieg. Nie zuvor war dem militärischen Dienst weniger Würde beschieden als in den Augen dieser Millionen an die Front verfrachteter Männer, die soeben erst die sittliche Welt bürgerlicher Rechtsordnung verlassen hatten.“276 Die moralisch-soziale Ordnung der bürgerlichen Vorkriegswelt, gegen deren Enge, Mittelmäßigkeit und Normalität der Einzige 274

Vgl. Linse (1983); siehe oben, III. 1. und 4. c) cc) und dd). Eine Ahnung davon gibt Furet mit seiner Schilderung des im Westen bereits nach der Marneschlacht im September 1914 einsetzenden Stellungskrieges: „Die beiden Armeen [Frankreichs und Deutschlands] bilden auf unabsehbare Zeit zwei Verteidigungswälle, die sich gegenseitig angreifen und anhaltend unter Beschuß nehmen. [. . .] Jetzt ist die Zeit jener endlosen Front angebrochen, die sich von der Somme bis zu den Vogesen erstreckt, wie es in jenem berühmten Kommuniqué vom September 1914 heißt. Es war zugleich, ohne daß sich irgend jemand dessen bewußt gewesen wäre, die Ankündigung des routinemäßigen Blutvergießens und eines sinnlosen ‚Sturms‘ von einem Schützengraben zum nächsten. Man nimmt dreißigtausend Tote in Kauf, um zweihundert Meter Land zu gewinnen. Nie zuvor hat ein Krieg auf beiden Seiten der Front Millionen überbewaffneter Männer begraben, die erwerbstätige Masse zweier Völker, deren einzige Mission darin bestand, sich gegenseitig zu töten, sei es aus der Entfernung oder von Angesicht zu Angesicht, und zwar ohne jede Hoffnung auf einen entscheidenden Durchbruch, ohne zeitliche Vorgabe für einen Sieg und auch ohne jahreszeitlich bedingte Unterbrechung oder Winterquartiere. Das trifft unterschiedslos auf sämtliche Kriegsbeteiligten zu. [. . .] Die Kombination von Industrie und Gleichgewicht der Kräfte in Verbindung mit der Anzahl der Soldaten hat diesen grauenvollen Kampf hervorgebracht, für den stellvertretend die Schlacht von Verdun steht. Die Geschosse, die die Soldaten töten, begraben gleichzeitig ihre Körper. Die Toten ‚bleiben‘ im Krieg.“ (Furet (1995), S. 69 f.). 276 Furet (1995), S. 71. 275

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der Jahrhundertwende aufbegehrt hatte, war in der Erfahrung des Weltkrieges bis auf weiteres untergegangen, und die kollektivistischen Tendenzen in den sozialen Organisationsformen und Ideologien, denen er mit seiner Apotheose der Individualität entgegengetreten war, hatten sich in den kollektiv erzwungenen Gemeinschaftserlebnissen und Massenerfahrungen vorerst als die massivere Wirklichkeit erwiesen. Vom individualistischen bzw. anarchistischen Einzigen ist nichts mehr zu befürchten, abgesehen von einigen schnell in den Kunstbetrieb der Weimarer Republik aufgenommenen dadaistischen und verwandten symbolischen Provokationen,277 die trotz ihrer bürger-schreckerischen Intentionen den neuen Bürgerfeinden allenfalls als integraler Bestandteil und als Ausweis der Verkommenheit der bürgerlichen Gesellschaft anmuten. Und von seinem Individualismus und Anarchismus ist auch kaum mehr an revolutionären oder utopischen Energien zu erwarten als diejenigen, die sich in der Marginalität einer Alternativkultur von Landkommunen, freiwirtschaftlichen Vereinigungen, Handwerkssiedlungen und anderen Sozialexperimenten erschöpften.278 Der Einzige gehört trotz seiner antibürgerlichen Vergangenheit jetzt der Welt an, die die neuen antibürgerlichen Bewegungen des Faschismus und Bolschewismus vernichten wollen.279 Als Sinnbild des Individualismus ist der Einzige der Feind der neuen, totalitären Zerstörer der bürgerlichen Welt, die deshalb nicht erkennen können, wie sehr sie selbst seinem Begehren entspringen.280 Der Einzige wird so zum Bestandteil einer Moderne, die zwar von der bürgerlichen Welt der Vorkriegszeit verschieden ist, die aber, weil sie im277

Vgl. Lehner (1988); Schlichting (1995). Vgl. Senft (1988), S. 119 ff.; Helms (1966), S. 381 ff.; Linse (1983), S. 123 ff., 134 ff.; Hepp (1992), S. 78 ff. 279 Vgl. auch Schulze (1983), S. 15 ff. 280 Mussolini immerhin erahnte diesen Zusammenhang, als er 1919 forderte: „Laßt den Weg frei für die elementaren Kräfte der Individuen, denn eine andere menschliche Realität außer dem Individuum existiert nicht. Weshalb sollte Stirner nicht wieder aktuell werden?“ (zit. n. Nolte (1963), S. 244) – Und Carl Schmitt erkannte diesen Zusammenhang zumindest (bzw. spätestens) im nachhinein, als er im April 1947 in seiner Entnazifizierungs-Zelle, nach dem geistigen ‚Besuch‘ Stirners – „In diesem Augenblick ist Max der Einzige, der mich in meiner Zelle besucht“ (Schmitt (1950), S. 81 f.) – die berühmte Passage formulierte, in der das projektive Wesen der Feindschaft zur Einsicht kommt: „Wen kann ich überhaupt als meinen Feind anerkennen? Offenbar nur den, der mich in Frage stellen kann. Indem ich ihn als Feind anerkenne, erkenne ich an, daß er mich in Frage stellen kann. Und wer kann mich wirklich in Frage stellen? Nur ich mich selbst. Oder mein Bruder. Das ist es. Der Andere ist mein Bruder. Der Andere erweist sich als mein Bruder, und der Bruder erweist sich als mein Feind. [. . .] Der Feind ist unsre eigne Frage als Gestalt.“ (Schmitt (1950), S. 89 f. – H. i. O.) – Vgl. auch Meuter (1994), S. 421 ff., zum ambivalenten Verhältnis Schmitts zu Stirner. 278

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mer noch von als ‚antibürgerlich‘ sich verstehenden Alternativen in Frage gestellt wird, als ‚bürgerlich‘ gilt. In diesem Sinne läßt sich von einer ‚Verbürgerlichung des Einzigen‘ in der Zwischenkriegszeit sprechen. Damit ist die Stirner-rezeptionsgeschichtliche Tendenz gemeint, den Einzigen nicht als revolutionäre bzw. utopische Alternative oder als fundamentale Bedrohung bzw. radikale Infragestellung der ‚bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft‘ zu interpretieren, sondern als typischen Angehörigen dieser Gesellschaft. Darin kommt zugleich die semantische Tendenz zu einer weiteren Entspezifizierung des Begriffsfeldes ‚Bürger, bürgerlich‘ zum Ausdruck. Dies zeigt sich exemplarisch darin, daß der Individualismus, in dessen Namen der Einzige vor dem Weltkrieg gegen die moralisch-kulturelle Hegemonialordnung des wilhelminischen Bürgertums aufbegehrt hatte, nun seinerseits als ‚bürgerliches‘ Phänomen gilt. Befand sich der Einzige vor dem Weltkrieg in antibürgerlicher Fundamental-Opposition, so wird er in der Zwischenkriegszeit zum Angehörigen einer ‚bürgerlichen Gesellschaft‘, die nun von einer neuen Fundamental-Opposition angegriffen wird. Die ‚Verbürgerlichung‘ des Einzigen impliziert daher in den Interpretationen der JeEinzigkeit ein stärkeres Hervortreten des modernitäts- und sozialdiagnostischen Deutungspotentials gegenüber dem vormals dominanten revolutionärutopischen. Dies zeigt sich auch an der veränderten Art, wie der Anarchismus, der in politisch-ideologischer Hinsicht vormals am signifikantesten für die antibürgerliche Opposition und den utopisch-revolutionären Impetus (und auch die terroristische Energie) des Einzigen gestanden hatte, nun im Zusammenhang mit Stirner thematisiert wird. Zur Verbürgerlichung des Einzigen gehört auch, daß das Interesse an Stirners Anarchismus, etwa die vor dem Weltkrieg heiß umkämpfte Frage, ob, inwieweit und in welcher Weise Stirner dem Anarchismus zuzurechnen ist, in den Hintergrund tritt. Ernst von Aster beispielsweise erwähnt in seiner Würdigung des gebürtigen Bayreuthers Stirner, Max (Johann Caspar Schmidt) in den Lebensläufen aus Franken kurz, daß zur Zeit der StirnerRenaissance die „Beziehungen“ diskutiert wurden, die zwischen „seiner und der Theorie des Anarchismus bestehen“, und daß „die sog. individualistischen Anarchisten, zu denen Stirners Biograph J. H. Mackay gehört, [an ihn an]knüpfen“,281 beläßt es aber, was den Anarchismus betrifft, bei diesen beiden Bemerkungen. Das Prädikat ‚anarchistisch‘ findet in der Zwischenkriegszeit zur Kennzeichnung Stirnerscher Positionen zwar weiterhin regelmäßig Verwendung,282 der Anarchismus selbst jedoch hatte thematisch an 281

Aster (1930), S. 450. Im achtzehnten Band der 15. Auflage des Großen Brockhaus wird 1934 im Artikel zu Stirner nur noch auf den „Anarchismus“ verwiesen, und ansonsten Stirners „äußerster Individualismus“, sein „radikale[r] Solipsismus und Egoismus auf 282

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Aktualität und politischer Brisanz verloren. Als revolutionäre politische Ideologie und soziale Bewegung im engeren Sinne war der Anarchismus, mit dem vor dem Weltkrieg die Marxisten der ersten beiden Internationalen um die Gunst des Proletariats rivalisiert und dessen lautstarke Dynamiteurs die Vorkriegsbourgeoisien der europäischen Metropolen in Furcht und Verzückung versetzt hatten, nun ein weitgehend historisches Phänomen. Und als solches war er primär von ideengeschichtlichem Interesse, oder aber Gegenstand von Betrachtungen, die ihn unter dem Aspekt seiner Signifikanz für weltanschauliche Tendenzen, mentale Dispositionen und soziale Entwicklungen der modernen Gesellschaft analysierten, ohne sich noch politisch mit ihm auseinandersetzen zu müssen. Wo daher Stirner spezifisch als Anarchist behandelt wird, gilt das Interesse nicht mehr der Frage, wie sich der Einzige etwa zu Ravachol, Vaillant, Henry und anderen historischen Attentätern verhält oder in welcher Beziehung er zu Bakunin oder Kropotkin und deren Anhängern steht, sondern worin das Typische des Anarchismus als einer Variante bürgerlich-individualistischer Ideologie besteht. Andere Stirner-Interpreten sehen in ihren Deutungen von der Anarchismus-Frage ab und konzentrieren sich auf solche weltanschaulichen und modernitätsdiagnostischen Aspekte, in denen sich ihrer Ansicht nach die Zeitgemäßheit des Einzigen bzw. seine Zugehörigkeit zur – je nach Perspektive: gegenwärtigen oder untergegangenen – bürgerlichen Gesellschaft ausdrückt. Beispielhaft hierfür sind die auch im Fortgang der Stirner-Rezeptionsgeschichte einflußreichen, im Folgenden ausführlicher zu betrachtenden Beiträge von Hans Sveistrup und Kurt Adolf Mautz.283

erkenntnistheoret. und sittlichem Gebiet“ hervorgehoben und neben der Bedeutung Nietzsches das Verdienst John Henry Mackays bei der „Wiederentdeckung S[tirner]s“ erwähnt (Der Große Brockhaus (1934), S. 192). Und Max Ettlinger nennt Stirner zehn Jahre zuvor in seiner Geschichte der Philosophie von der Romantik bis zur Gegenwart den „rücksichtslosen Verkünder eines ethischen Anarchismus“ oder eines „auf das eigene Ich konzentrierten Kollektivegoismus“ bzw. eines „absoluten Egoismus oder ethischen Solipsismus“, der „die wahren Konsequenzen materialistischer Weltansicht vollzieh[t]“ (Ettlinger (1924), S. 160). 283 Beide werden – angesichts ihrer hermeneutischen und philologischen Gewissenhaftigkeit und ihrer Berücksichtigung vieler der bis dato vorliegenden Stirner-Interpretationen: zurecht – auch in jüngeren Beiträgen noch als Sekundärliteratur zu Stirner gehandelt; vgl. z. B. Patterson (1971); Senft (1988). Im Folgenden sind sie dagegen als Stirner-rezeptionsgeschichtliche Primärtexte von Interesse, wobei sich die Darstellung und Analyse hier auf die bezüglich der Deutung des Einzigen neuen Aspekte konzentriert, die dessen Bild also – vier Jahrzehnte nach Beginn der Stirner-Renaissance – um weitere Facetten erweitern.

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bb) Hans Sveistrup Hans Sveistrup führt den vor dem Weltkrieg schon bei Rudolf Stammler und Georg Adler sichtbaren und insbesondere von Max Adler verfolgten Ansatz, Stirner sozialwissenschaftlich fruchtbar zu machen, konsequent weiter. Ihm zufolge ist Stirner „durch den Begriff des Anarchismus ganz unzulänglich bestimmt“.284 In seinem Aufsatz Stirner als Soziologe (1928) und in seiner darin angekündigten „kritischen Gesamtdarstellung Stirners“285 Stirners drei Egoismen (1932) begründet Sveistrup, daß Stirners Zeitgemäßheit und Modernität im sozialdiagnostischen bzw. sozialtheoretischen Potential des Einzigen (1), in seiner kritisch-normativen Frontstellung (2) und generell in seinem epistemologischen und sozialphilosophischen Reflexionsniveau zu sehen ist (3). (1) Anti-atomistische Soziologie Stirner ist in Sveistrups Sicht kein Utopist, sondern ein realistischer Gesellschaftstheoretiker. Der Einzige enthält eine – bisher von keinem anderen Interpreten „entdeckt[e]“ – „positive Soziologie“,286 durch die Stirner „zum Vorläufer von Ferdinand Tönnies geworden ist“287 und deren gegenwartsdiagnostisches Potential und sozialtheoretisches Niveau demjenigen der „modernen Grupplebenlehre“ und ihrem „beziehungsbegrifflich[en]“ Denken entspricht.288 Kern von Stirners Soziologie sind die sozialtheoretischen Unterscheidungen von ‚Verein‘ bzw. ‚Vereinigung‘, ‚natürlichem Bund‘ bzw. ‚Gemeinschaft‘ und ‚geistigem Bund‘ bzw. ‚Gesellschaft‘.289 Hiermit nimmt Stirner, sogar in begrifflich „differenziertere[r]“ Form,290 den von Ferdinand Tönnies291 in seinem seit 1887 vielfach neuaufgelegten Hauptwerk bereits im Titel Gemeinschaft und Gesellschaft klassisch auf den soziologischen Begriff gebrachten „Gegensatz von natürlichem, emotional-traditionalistischem und rationalisiertem Zusammenleben“ vorweg.292 „Als Soziologe mit offenem Blick für die Tatsachen beobachtet Stirner, daß es Einzelne von sehr unterschiedlichem Verhalten und soziale Gebilde von 284 285 286 287

Sveistrup Sveistrup Sveistrup Sveistrup

(1928), S. 107. (1928), S. 103. (1928), S. 103. (1932), S. 28, vgl. S. 21, 60; vgl. Sveistrup (1928), S. 103, 110,

113 f. 288 289 290 291 292

Sveistrup (1932), S. 18, vgl. S. 71 f. Vgl. Sveistrup (1928), S. 107 ff.; Sveistrup (1932), S. 21 ff. Sveistrup (1928), S. 114. 1855–1936. Sveistrup (1928), S. 113; vgl. Bickel (2002).

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sehr unterschiedlicher Provenienz gibt. Damit hat er Feld gewonnen für eine Soziologie von größtem Fassungsvermögen. Nach der Stellung des Einzelnen hinsichtlich seiner Einzigkeit finden wir von Stirner zwei Gruppen von Gemeinsamkeiten mit aller Klarheit unterschieden. Vereine oder, schärfer als dynamische Vorgänge gekennzeichnet, Vereinigungen werden von Einzelnen durch Übereinkunft geschaffen oder [. . .] übernommen. Gemeinsamkeiten aber, bei denen der Einzelne hinsichtlich seiner Einzigkeit den passiven Aufpunkt ihrer Wirksamkeit, ihres Wirkungswillens bildet, bei denen der Einzelne Art und Maß seiner Funktion und Geltung von ihnen zu Lehen erhält, bezeichnet Stirner mit dem Terminus Bund, weil die Einzelnen in ihnen verbunden sind. Solchen Bundes kennt Stirner zwei Arten, nämlich Bund, der seinen Ursprung in der Natur hat, und Bund, der seinen Ursprung in Geist hat. Einen Bund natürlicher Provenienz nennt er – (genau wie Tönnies) – Gemeinschaft, einen Bund geistiger Provenienz Gesellschaft – (in diesem Terminus mit Tönnies ebenfalls insofern übereinstimmend, als auch Stirners Gesellschaft rationalisiertes menschliches Zusammenleben ist).“293 Konzeptionell deckt sich Stirners „Vereinigung [. . .] im wesentlichen mit Tönnies‘ Gesellschaft [. . .]. Stirners Gemeinschaft gehört ganz der Gemeinschaft Tönnies‘ an; diese begreift aber einen Teil dessen in sich, was bei Stirner der Gesellschaft zugehört.“294 Stirner unterscheidet diese drei Sozialformen nach dem jeweils in ihnen wirksamen Integrationsmodus, „von Stirner ‚Sozialprinzip‘ genannt“:295 Das Sozialprinzip der Gemeinschaft ist das „natürliche[] Band des Blutes“, das der Gesellschaft das „geistige[] Band der Ideen“ und das des Vereins die „Übereinkunft“ oder „Verständigung“.296 Das „Sozialprinzip“ definiert Sveistrup mit Stirner als „das, wodurch eine Gemeinsamkeit (Gruppe) begründet wird [. . .]. Ich wiederhole: begründet wird. Denn es ist nicht das bloße äußere Dasein eines grupplichen Gebildes, was über seine Zugehörigkeit zu einem der drei Typen Gemeinschaft, Gesellschaft, Vereinigung entscheidet, sondern sein Gestaltungsgrund“.297 Entscheidend für die soziologische Klassifikation – und dies ist sowohl in integrationstheoretischer als 293

Sveistrup (1928), S. 110 – H. i. O. Sveistrup (1928), S. 114. – Letzteres ergibt sich aus dem Umstand, daß Stirner auch bei ‚geistigen Bünden‘, also ‚Gesellschaften‘ in seinem (bzw. Sveistrups) Sinne, die Bedeutung emotional-traditionaler Integration und die spezifisch affektuelle Bindungskraft von Ideen theoretisch – nicht normativ – hoch veranschlagt, ohne diese deswegen im Tönniesschen Sinne zu ‚Gemeinschaften‘ zu erklären. Dies entspricht Stirners integrationstheoretischen Vorstellungen und seiner, Sveistrup zufolge, primär gegen ‚Gesellschaften‘ gerichteten ideologiekritischen Stoßrichtung. 295 Sveistrup (1932), S. 24. 296 Sveistrup (1932), S. 22. Vgl. Stirner, EE, S. 147, 349 ff. 297 Sveistrup (1932), S. 24. 294

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auch ideologiekritischer und normativer Hinsicht bedeutsam – ist daher die „Ansicht“,298 die die Individuen von diesen Gemeinsamkeiten haben, ihr bewußtseinsmäßiges Verhältnis zueinander und zum sozialen Ganzen. Welcher Typus von sozialem Gebilde vorliegt, läßt sich demnach nur an den darin geltenden Vorstellungen von seiner Einheit und den diesen komplementären Einstellungen der darin lebenden Individuen erkennen. „Gruppliche Gebilde, die äußerlich ganz gleich aussehen mögen, können sehr verschiedenen Typen von Gemeinsamkeit angehören. Es kommt eben darauf an, als was sie aufgefaßt werden, als was sie sich im Bewußtsein der Teilnehmer darstellen“,299 also welche Bedeutung ihnen von den Teilnehmern beigemessen wird. So ist zwar das „natürliche Band, mit dem der Einzelne einer Gemeinschaft verknüpft ist, [. . .] selbstverständlich weder wegzuleugnen, noch aus der Welt zu schaffen. [. . .] Gemeinschaft ist erlebnisgegeben“, und insofern befinden sich nach Stirners Sozialtheorie – entgegen allen atomistisch-mechanistischen Vorstellungen und Fehldeutungen – Individuen immer schon in ‚Gemeinschaft‘: „Stirner [hat] mit Einzigkeit nicht Isoliertheit gemeint“. Aber „[n]atürlicher Art kann es viele Gemeinsamkeiten geben“,300 und es kommt daher für die soziologische Beobachtung und Klassifizierung der Gruppentypen darauf an, festzustellen, welche dieser Gemeinsamkeiten in welcher Form im sozialen Selbstverständnis von Gruppen und Individuen auftauchen. So kann durch die ideologische Überhöhung ‚natürlicher‘ Merkmale aus einer ‚Gemeinschaft‘ eine ‚Gesellschaft‘ im Stirnerschen Sinn werden: „Die natürliche Abstammung (Rassen- und Volksabstammung), die als solche Gemeinschaft stiftet, kann zu einer Idee, zu einem gebietenden Leitgedanken und Hochziel werden. Alsdann schließt die Idee ihre Anhänger zu einer Gesellschaft zusammen: Beispiel eines solchen Anhangens im bejahenden Sinne bieten die Slavophilen, in ablehnendem Sinne die Antisemiten“.301 Die ‚natürliche Gemeinschaft‘ wird dann zur Ideologie, zur ‚Idee‘, die als ‚geistiges Band‘ ein „gruppliche[s] Gebilde vom Typus Gesellschaft“ konstituiert und integriert. In diesem Fall ist dann „[d]ie Idee [. . .] das Band, das diesen Bund stiftet“, und nicht die ‚natürliche Gemeinsamkeit‘.302 Da die ‚Ansicht‘ der Teilnehmer das ‚Sozialprinzip‘ bedingt, bedarf ein ‚Bund‘ vom Typus ‚Gesellschaft‘ keiner tatsächlichen ‚natürlichen Gemeinsamkeiten‘, und viele solcher ‚geistigen Bünde‘ verzichten auch auf die 298 299 300 301 302

Sveistrup Sveistrup Sveistrup Sveistrup Sveistrup

(1932), (1932), (1932), (1932), (1932),

S. S. S. S. S.

24 f. 25. 23. Vgl. Stirner, EE, S. 342. 25. 23.

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Vorstellung, sie seien ‚natürlich‘ gegründet; entscheidend ist hier einzig und allein das ‚geistige Band‘, die ‚Idee‘. Die für den ‚gesellschaftlichen‘ Integrationsmodus konstitutive soziale Geltung der ‚Idee‘ beruht auf ihrer Verwurzelung in der mentalen Struktur der Individuen. „Damit eine Idee gesellschaftlichen Bund stifte, ist Glaube an die Idee erforderlich, ein Fürwahr- und Fürwerthalten der Idee, sei es der Idee der Kirche, der Nation, der Menschheit oder was sonst für einer Idee. Die Idee ist ein leitender Gedanke, als Gebot vorgestellt ein Hochziel (Ideal), dessen Betätigung gesollt wird, also nicht schon in der Erfahrung gegeben ist und vorgefunden wird. Weil die Idee geglaubt werden muß, um ihre Betätigung zu bewirken, hat für die Entstehung, den Bestand und das Wachstum gesellschaftlicher Gebilde die Überlieferung eine so hervorragende Bedeutung. [. . .] Die Idee muß heilig gehalten werden, um ihre Anhänger zu einem bestimmten äußeren und vor allem auch inneren Verhalten zu verbinden. Ein Neger303 kann sein Blut verachten, er bleibt doch Neger. Die Idee muß ein Heiligtum (Fanum) sein. Sie fordert eine Gesinnung, Pflichtbewußtsein, Gehorsam, Korpsgeist; sie braucht eifrige Jünger, Fanatiker, Enthusiasten, Begeisterte.“304 Deswegen sind sowohl für die sozialtheoretische Klassifikation und Diagnose als auch in politisch-praktischer Hinsicht die mentalen Einstellungen der Individuen zu einem sozialen Gebilde und dessen herrschendes Selbstverständnis das entscheidende Kriterium: „unsere ‚Ansicht‘ von den Dingen verändert unser Verhalten zu ihnen [. . .]. Das Bewußtsein, mit dem der Einzelne an einem grupplichen Gebilde teilnimmt, kann Gemeinschaft in Gesellschaft, Gesellschaft in Vereinigung und Vereinigung in Gesellschaft verwandeln.“305 Gesellschaft und Vereinigung mögen zunächst „ähnlich aussehen[]“,306 aber in der Art, wie sich in ihnen jeweils die Individuen zueinander und zum sozialen Ganzen durch ihre Ansicht verhalten und in Beziehung setzen, liegt die Differenz ums Ganze.307 Der „Verein [ist] ein solcher [. . .] durch ein bestimmtes Sehen, während ein anderes Sehen die äußerlich gleiche Gemeinsamkeit zu etwas anderem machen würde“.308 Diejenige „Änderung der Ansicht“, die aus einem ‚Bund‘ einen ‚Verein‘ macht – und so beispielsweise ein „Gesellschaftsgebilde unter dem Geltungsanspruch [. . .] der Idee der herrschaftlichen Ordnung, der Staatshoheit,“ in einen „ganz ähnlich aussehende[n] Verwaltungskörper“ als „Vereinigung“ transfor303 Für Sveistrup ein Beispiel für den Angehörigen einer ‚natürlichen Gemeinschaft‘ (vgl. Sveistrup (1932), S. 23). 304 Sveistrup (1932), S. 23 f. 305 Sveistrup (1932), S. 25. 306 Sveistrup (1932), S. 25. 307 Vgl. Sveistrup (1932), S. 71 f. 308 Sveistrup (1928), S. 111 – H. i. O.

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miert – „nennt Stirner ‚Empörung‘.“309 In der Empörung gewinnt das Individuum das Bewußtsein, daß die Dinge ihm prinzipiell – und real nach Maßgabe seiner Macht – verfügbar sind und es selbst willentlich sein mentales Verhältnis zu ihnen bestimmt; darin wird der Einzige zum „Eigner“ mit dem Bewußtsein der „Eigenheit“ oder „Eignerschaft“.310 Die Differenz von ‚Gesellschaft‘ und ‚Verein‘ ist also eine Frage des mentalen Verhältnisses der Individuen zum sozialen Ganzen und der daraus resultierenden Haltungen und Verhaltensweisen. „Eigenheit ist bei Stirner ein Beziehungsbegriff und bezeichnet das Verhältnis des Einzigen als Eigners zu seinen Willensgegenständen. Eigenheit ist Eignerschaft. Wenn und insoweit sich der Einzige zu den Gegenständen aus eigenem Willen in ein Verhältnis setzt, werden die Gegenstände sein Eigentum, wird er Eigner, ist das Verhältnis Eigenheit. Die Vereinigung als Lebensform der Menschen miteinander ist dann eine wechselnde Fülle von Zusammenschlüssen aus eigenem Wollen der jeweiligen Teilnehmer.“311 Im Gegensatz dazu sind „Gesellschaften [. . .] auf den Glauben an die Verbindlichkeit von Ideen gegründete Bünde“,312 in denen sich die Individuen in einem mentalen Verhältnis der Unterwerfung und ‚Hörigkeit‘ gegenüber der Gesellschaft und den ‚Ideen‘ befinden, über die sie nicht als über ihre Willensgegenstände bzw. ihr ‚Eigentum‘ verfügen, sondern die sie als unverfügbar und unbedingt verbindlich, also als ‚heilig‘ ansehen.313 Mit diesem „beziehungsbegrifflich[en]“ Verständnis des Sozialen steht Stirner Sveistrup zufolge auf dem Niveau der modernen Soziologie314 und jenseits der „dingbegrifflich[en]“ Auffassung der Gesellschaft, die sowohl vom „soziologische[n] Organizismus“ durch die an biologischen Modellen orientierte Verabsolutierung des gesellschaftlichen Ganzen als auch von dessen Antipoden, dem „[s]oziologische[n] Individualismus“ – dem Stirner fälschlich oft zugerechnet werde – durch die atomistisch-mechanistische Verabsolutierung der Individuen betrieben wird.315 Insbesondere aufgrund der sowohl integrations- wie auch ideologietheoretischen Implikationen der soziologischen Leitunterscheidung von ‚Vereinigung vs. Bund‘ ist Stirner den historisch-materialistischen Gründern der Gesellschaftstheorie, deren Auseinandersetzung mit ‚Sankt Max‘ seit kurzem erstmals vollständig im Kontext der Deutschen Ideologie zugänglich war und von Sveistrup in Stir309 310 311 312 313 314 315

Sveistrup (1932), S. 25. Sveistrup (1932), S. 71. Sveistrup (1932), S. 71. Sveistrup (1932), S. 71. Vgl. Sveistrup (1932), S. 23 f. Sveistrup (1932), S. 18, vgl. S. 71. Sveistrup (1932), S. 18, vgl. S. 16 ff., 99; vgl. Sveistrup (1928), S. 103 ff.

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ners drei Egoismen dementsprechend häufig angeführt wird,316 nicht nur ebenbürtig, sondern er ist sogar ‚moderner‘: „Stirner veranschlagt die Rückwirkung von Ideologien, den Einfluß des Glaubens an ideale Gebote auf das Gesellschaftsleben höher als Marx und Engels. Das ist der ganze Unterschied. Von der modernen Soziologie ist Stirner darin eher bestätigt als widerlegt.“317 Und auch vom politischen Zeitgeschehen: Gerade gegenwärtig, in der Endzeit der Weimarer Republik und insbesondere angesichts der an Zulauf gewinnenden NSDAP Adolf Hitlers, die bei der Reichstagswahl im Juli 1932 weit über ein Drittel der Mandate gewann, ist die von Stirner formulierte Einsicht in die – nicht einfach als ‚Überbau‘ aus der ökonomischen ‚Basis‘ ableitbare – Eigendynamik und irrationale Kraft des Ideologischen aktueller denn je. Die „Produktionsverhältnisse und die Klassenverhältnisse sind für alle Proletarier und insbesondere für die“ Anfang 1932 bereits über sechs Millionen „Arbeitslosen die gleichen. [. . .] Wir können aber vor unseren Augen sehen, wie die Arbeiterklasse mit verschwommenen Vorstellungen längst versunkener Wirtschaftsverhältnisse gespalten wird, wie Millionen mit ganz verblasenen Wahnvorstellungen geködert und berauscht werden, um gegen ihre eigenen durch die Arbeitsteilung fixierten Interessen eingesetzt zu werden und zu wirken. Wenn je ein Geschlecht Gelegenheit hatte, die gruppenkampfliche Bedeutung von hohlen, in den Produktionsverhältnissen und den durch sie verursachten Klassenverhältnissen in keiner Weise begründeten Wahnvorstellungen zu studieren, so ist es das unsere. Stirners Kampf galt den Wahnvorstellungen“.318

(2) Anti-organizistische Kritik Angesichts der jüngsten Angriffe auf die „Ideen von 1789“319 ist Stirner für Sveistrup politisch aktuell. Sein ‚sozialtheoretisches‘ (deskriptives) Verständnis der modernen Gesellschaft, seine ‚sozialaxiologische‘ (normative) Position320 und seine durch diese motivierte und durch jenes fundierte Ideologiekritik machen ihn zu einer wichtigen Referenz gegen die rechtsradikalen Angriffe auf die individualistischen Errungenschaften der Moderne, die gegenwärtig auf die Weimarer Nachkriegsordnung geführt werden.321 Zu den Feinden, gegen die der Einzige in Stellung gebracht wird, gehören 316

Vgl. Sveistrup (1932), S. 7, 25 ff., 48 f., 89 ff. Sveistrup (1932), S. 49. 318 Sveistrup (1932), S. 91, vgl. S. 92 f. 319 Sveistrup (1932), S. 92. 320 Vgl. Sveistrup (1928), S. 106; Sveistrup (1932), S. 17 ff. 321 Vgl. Sveistrup (1932), S. 16 ff., 28 f., 34, 59 f., 92 f., 96; Sveistrup (1928), S. 106 f., 120 f. 317

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neben dem Nationalsozialismus322 auch konservativ-revolutionäre Intellektuelle, beispielsweise „Karl Schmitt“323, dessen durchaus „geistvollen“ Begriff des Politischen Sveistrup als Kronzeugnis für die Unabdingbarkeit des Freund-Feind-Denkens in Herrschaftsideologien zitiert.324 Zu den Feinden des Einzigen zählt Sveistrup auch Oswald Spengler325 mit seinem Untergang des Abendlandes (1922), der mit „seinem politischen Gefolge“ das „Gegensatzpaar Blut und Geist“ ‚ausbeutet‘,326 ein Schema, das Sveistrup als ein Beispiel für die ideologische Naturalisierung gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse beobachtet. Als Hauptgegner aus diesem IntellektuellenMilieu nennt Sveistrup aber vor allem Othmar Spann327, seit 1919 bis zu seiner Absetzung durch die Nationalsozialisten nach dem ‚Anschluß‘ Österreichs Professor für Politische Ökonomie und Gesellschaftslehre an der Universität Wien. Mit seinem in Werken wie der Gesellschaftslehre (1914) und Der wahre Staat (1921) begründeten, wissenschaftlich wie politisch einflußreichen antiindividualistischen ‚Universalismus‘ und der damit vertretenen organizistischen Staats- und Gesellschaftsauffassung liefert Spann für Sveistrup das zeitgenössische Paradigma einer Ideologie, die durch die pseudo-biologische Verwendung von Körpermetaphorik soziale Herrschaftsverhältnisse naturalisiert.328 Das „Bild vom Organismus [hat] noch immer jeder politischen und sozialen Rückwärtserei zur Begründung und Verteidigung ihrer angegriffenen Herrschaft dienen müssen“.329 Mit Stirner, der „solche Ideologie als Waffe von Herrschaft erkannt hat“,330 läßt sich sehen, daß mit derartigen Ideologien versucht wird, „gesatzte gesellschaftliche geistige Bindungen [. . .] als natürliche oder als gottgewollte Abhängigkeiten hinzustellen“.331 Der Stirner-geschulte Soziologe, der um die sozialkonstitutive und sozialintegrative Bedeutung der ‚Ansicht von den Dingen‘ weiß, erkennt in der organizistischen Gesellschaftsbeschreibung eine diskursive Strategie, die 322

Vgl. Sveistrup (1932), S. 92. Carl Schmitt (1888–1985). 324 Sveistrup (1932), S. 94; vgl. Schmitt (1932). 325 1880–1936. 326 Sveistrup (1932), S. 95. 327 1878–1950. 328 Vgl. Sveistrup (1932), S. 18, 20, 93, 99; Sveistrup (1928), S. 104 ff. – Zur Konservativen Revolution und zu ihren Protagonisten vgl. die Standardwerke Mohler (1994) und Breuer (1993); vgl. auch Breuer (1999), S. 103 ff.; insbesondere zu Othmar Spann vgl. Münkler (1987), S. 303 f., vgl. auch S. 311 ff. 329 Sveistrup (1932), S. 92. 330 Sveistrup (1932), S. 76. 331 Sveistrup (1932), S. 28. – Mit Luhmann kann man sagen: das für einen Beobachter zweiter Ordnung als artifiziell und kontingent Erkennbare wird als natürlich und notwendig präsentiert (vgl. Luhmann (1997a), S. 1119, 1122). 323

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‚effektiv, wenn nicht sogar intentional‘, wie Sveistrup unter Berufung auf Dewey feststellt,332 bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse als unverfügbar darstellt. Das für den ‚gesellschaftlichen‘ Integrationsmodus spezifische ‚geistige Band‘ wird durch den Rekurs auf metaphysische Instanzen oder eben auf ‚die Natur‘ als etwas Unbedingtes und Unabänderliches konstruiert und dadurch im Bewußtsein der Individuen deren Willen entzogen. „Alle Verteidigung von Herrschaft ist deshalb bemüht, die Einrichtung herrschaftlicher Ordnung nicht als Gesellschaft, sondern als naturbegründete Gemeinschaft hinzustellen.“333 Deshalb „pflegen“ auch die Feinde der republikanischen Nachkriegsordnung, die das Weimarer ‚System‘ für seinen ‚bindungslosen‘ Individualismus und seine ‚westliche‘ Liberalität bekämpfen und eine neue Herrschaftsordnung errichten wollen, „die Bündelei und die Lehre von der Gemeinschaftsnatur der Gruppenlebensgebilde. Bünde und Gemeinschaften wurden die Gesinnungsschulen des Aufgebots gegen das, was bei dem Weltkriege herausgekommen war.“334 Die mit der Rede von ‚Gemeinschaft‘ und ‚Organismus‘ betriebene ideologische Naturalisierung ‚gesellschaftlicher Bünde‘, also die Konstruktion der Natürlichkeit von sozialen Gebilden dient somit entweder (affirmativ) der Stabilisierung oder (revolutionär) der Durchsetzung von „[h]errschaftlicher Ordnung“.335 Stirners Sozialtheorie stellt demgegenüber einerseits eine nicht-atomistische Alternative zu organizistischen Vorstellungen dar, die diesen aufgrund ihrer ‚beziehungsbegrifflichen‘ Anlage theoretisch überlegen ist. Die Art, wie der Organizist Spann dagegen mit theoretischen Widersachern seines ‚Universalismus‘ umgeht, bezeichnet Sveistrup als „[w]issenschaftliche[n] Faschismus“.336 Andererseits bietet Stirners Sozialtheorie mit ihrer „Unterscheidung von Gemeinschaft, Gesellschaft und Vereinigung“ und ihrer Fokussierung der ‚Ansicht‘ das Instrumentarium zur Entlarvung der ideologischen Natur-Konstruktionen, wie sie zeitgenössisch im soziologischen Organizismus Spanns oder im völkischen Gemeinschaftsverständnis des Antisemitismus,337 und nicht zuletzt in der beides kombinierenden Ideologie des Nationalsozialismus zu beobachten sind.338 332

Vgl. Sveistrup (1932), S. 92. Sveistrup (1932), S. 28. 334 Sveistrup (1932), S. 29. 335 Sveistrup (1932), S. 93. 336 Sveistrup (1932), S. 99. 337 Vgl. Sveistrup (1932), S. 25, 95. 338 Vgl. Sveistrup (1932), S. 92 f. – Sveistrup zitiert aus einer nationalsozialistischen Selbstdarstellung von 1931: „Hören wir, wie so etwas heute in krumme Worte eingewickelt wird: ‚Entsprechend seiner Auffassung vom Volk als Organismus versteht der Nationalsozialismus unter einem Führer einen Menschen, der sich mit seinem Gefolge organisch verbunden fühlt, wie dies mit ihm. Ohne Kopf und Hand ist 333

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Dabei versteht es Sveistrup als Vorteil der Stirnerschen Sozialtheorie, daß sie es erlaubt, zwischen solchen ideologisch als ‚Gemeinschaften‘ dargestellten ‚Gesellschaften‘ und auf ‚wirklich‘ „naturgegebene[r] Gebundenheit“ beruhenden „Gemeinschaften“ zu unterscheiden.339 Die Differenz macht er am „Verbindlichkeit[s]“-Charakter der als Gemeinschaft sich darstellenden Gebilde fest: „Gemeinschaft bindet, Gesellschaft verbindet“, daß heißt sobald aus den – ‚tatsächlichen‘ oder ‚vermeintlichen‘ – ‚natürlichen‘ Gemeinsamkeiten eine „Verbindlichkeit“, ein normativer „Geltungsanspruch“ gegenüber den Individuen abgeleitet wird, handelt es sich um eine ‚Gesellschaft‘ in Stirners Sinne.340 Ein soziales Gebilde, das ein Sollen gegenüber den Individuen behauptet, ist demnach, egal ob dieses Sollen ‚geistig‘ oder ‚natürlich‘ begründet wird, eine ‚Gesellschaft‘; die ‚natürliche‘ Begründung ist nur eine bestimmte ideologische Legitimationsstrategie. Deshalb kann Sveistrup den Organizismus und die völkische Gemeinschaftsideologie mit Stirners ‚Gesellschafts‘-Kritik angreifen, ohne die Vorstellung von ‚natürlichen Gemeinschaften‘ aufgeben zu müssen. Da Individuen mit Notwendigkeit immer ‚natürliche Gemeinsamkeiten‘ miteinander haben und die durch diese konstituierten ‚Gemeinschaften‘ per definitionem keinen „Glauben an gesollte Ideen“341 verlangen – also nur gewußt, nicht gesollt werden, sonst werden sie zu ‚Gesellschaften‘ – kann der Einzige gut mit und in der ‚Gemeinschaft‘ leben; und tut es unausweichlich auch.342 Deswegen kann in ‚sozialaxiologischer‘ (normativer) Hinsicht die „Verteidigung von Einzigkeit sich nicht richten wollen gegen die naturgegebene Gebundenheit der Gemeinschaften, wohl aber“ gegen die „Verbindlichkeit“ des Sollens von „geistig wesenden Geboten“, gleichviel, ob diese als ‚Ideen‘ oder als ‚Natur‘ präsentiert werden.343 Und diese Sozialaxiologie ist der „Kern“ von Stirners „Hauptwerk[]“:344 ihr dient seine sozialtheoretische Analyse der Vergesellschaftungsformen und der Bedeutung von ‚Ideen‘ und ‚geistigen Bindungen‘, und sie liefert die normativen Maßstäbe seiner Ideologiekritik. In politischer Hinsicht ist Stirner daher angesichts der gegenein menschlicher Körper nicht lebensfähig, ohne Führer ist die Masse hilflos. [. . .] Völker sind zugrunde gegangen, weil sie dies Naturgesetz an Kopf und Gliedern mißachteten. [. . .]‘ Man braucht nur die ganze Liederlichkeit, mit der gedanklich der Vergleich durchgeführt ist, mit logischer Kühle genauer anzusehen, um zu wissen, daß das an die Adresse der Urteilslosigkeit gerichtet ist“ (Sveistrup (1932), S. 92 f.). 339 Sveistrup (1932), S. 28. 340 Sveistrup (1932), S. 28. 341 Sveistrup (1932), S. 28. 342 Vgl. Sveistrup (1928), S. 119 f. – In Sveistrups Rekonstruktion werden ‚Gemeinschaften‘ ‚gewußt‘, ‚Gesellschaften‘ ‚gesollt‘ und ‚Vereine‘ ‚gewollt‘, und ‚Sollen‘ und ‚Wollen‘ erscheint ihm unvereinbar. 343 Sveistrup (1932), S. 28. 344 Sveistrup (1932), S. 22.

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wärtigen Angriffe auf die individualistischen Errungenschaften der Moderne nicht nur als Sozialtheoretiker, sondern auch als ‚Sozialaxiologe‘ aktuell, und dies um so mehr, als seine normativ-individualistische Stellungnahme – im Gegensatz zu anderen Varianten des normativen Individualismus – nicht auf der Leugnung, sondern auf der Erkenntnis der Realität beruht, „daß Ideen tatsächlich Gesellschaft konstituieren“.345 „Die Verknüpftheit im Bund erkennt Stirner an (Sozialtheorie), er leugnet die Verbindlichkeit der die Verknüpfung stiftenden Ideen (Sozialaxiologie).“346 Stirners normativ-individualistische Position, die als sozialaxiologische Programmatik zugleich der Kritik an ‚Gesellschaft‘ und naturalisierenden Herrschaftsideologien zu Grunde liegt, bezeichnet Sveistrup als „Unikalismus“.347 Die normative Gegenposition bezeichnet er als „Universalismus“,348 in jener etwa von Spann vertretenen, anti-individualistischen Begriffsbedeutung. Der Unikalist „will die Erlebnistatsache der Einzigkeit [. . .] gegen Bedrängung, Verkürzung und Bedrückung verteidigen. Solche Bedrängung und Bedrückung von Einzigkeit betreibt, wer Allgemeines als gesollt gebietet.“ Dies ist der Standpunkt des anti-individualistischen ‚Universalisten‘, der „dem Allgemeinen ein höheres Recht zuerkennt, ihm als dem Gebotenen gegebene Einzigkeit umgestaltend zu fügen gewillt ist“. Der ‚Universalismus‘ „macht Allgemeines mit dem Anspruch Vorschrift gebender Geltung, als Sollen, als Gebot, zum Rechtsgrund der Beherrschung, Gängelung und Lebensbeengung von Einzigkeit. Die Kürung von Allgemeinem als Gesolltem schließt eine Abwertung von Einzigkeit ein.“349 Dementsprechend übersetzt Sveistrup das sozialaxiologische Begriffspaar ‚Unikalismus vs. Universalismus‘ auch mit „Einzigkeitskürung“ im Gegensatz zu „Allgemeinigkeitskürung“.350 Aus seiner unikalistischen Motivation heraus gelang es Stirner in gegenwärtig anschlußfähiger Weise, „die Allgemeinigkeitskürung (Universalismus) als Ideologie der Gesellschaftsgebilde, d. h. der Errichtung und Erhaltung von Herrschaft mit Hilfe von geistigen Wesenheiten und Geboten, zu entlarven“.351 Den „neuen Terminus“ Unikalismus352 leitet Sveistrup von seinem Verständnis Stirnerscher Einzigkeit ab und kennzeichnet damit interpretationsschematisch eine dezidiert je-einzige Position, die er gegen alle all-einzigen, 345 346 347 348 349 350 351 352

Sveistrup Sveistrup Sveistrup Sveistrup Sveistrup Sveistrup Sveistrup Sveistrup

(1928), (1928), (1928), (1932), (1932), (1932), (1932), (1928),

S. S. S. S. S. S. S. S.

121. 121 – H. i. O. 108; Sveistrup (1932), S. 20. 20. 20. 19 f. 35. 108; vgl. Sveistrup (1932), S. 55 f.

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insbesondere solipsistischen Stirner-Deutungen behauptet: „Einzig hat bei Stirner nicht die Bedeutung des lateinischen ‚solus‘, sondern kann nur durch ‚unicalis‘ (einzigartig, nicht der Anzahl, sondern dem Sosein, der Beschaffenheit nach) wiedergegeben werden. Um das zu sichern [. . .] wollen wir für den von Stirner gemeinten Sachverhalt [. . .] noch ausdrücklich unbelastete Kunstwörter festlegen und einzig auch ‚unikal‘, Einzigkeit auch ‚Unikalität‘ nennen.“353 Der Einzige ist also „nicht solus noch absolutus, sondern unicus“, er ist „nicht selbstgenügsam, weder leiblich noch geistig“,354 und deswegen war es „der schwere Fehlgriff Eduard von Hartmanns“, die Je-Einzigkeit als All-Einzigkeit zu deuten und somit „Stirners Egoismus als erkenntnistheoretischen und metaphysischen Solipsismus mißzuverstehen“.355 Im „‚Solipsismus‘ (vom lateinischen solus ipse = allein ich selbst) [. . .] wird das Ich zum alleinigen Gott und Weltschöpfer“,356 und dies ist gerade in Stirners je-einziger Konzeption nicht der Fall: „Die äußere Welt war ihm nicht die bloße Traumvorstellung seines allein seienden Ichs“,357 und es ist ethischpsychologisch, im „Sinne der Selbstzucht“, und „[n]icht im Sinne der Welterschaffung [. . .] zu verstehen, wenn Stirner den Einzigen den Schöpfer seiner selbst, Schöpfer und Geschöpf in einem nennt.“358 Im Sinne dieser unikalistischen Konzeption des Guten und der Psychologie des Egoismus bezeichnet Sveistrup mit Stirner den ‚selbstzüchtigen‘ – und gerade nicht ‚selbstsüchtigen‘ – Einzigen als „Eigner“.359 Der „Eigner“, der sich selbst und die Dinge zu Gegenständen seines Willens macht, wird charakterologisch einerseits vom „Süchtige[n]“, der sich von „Trieben“ beherrschen läßt, und andererseits vom „Besessene[n]“ bzw. „Fanatiker“, der sich von „Ideen“ beherrschen läßt, unterschieden.360 Dieser charakterologischen Trias entspricht schematisch diejenige der sozialen Gebilde ‚natürlicher Bund‘ (‚Gemeinschaft‘), ‚geistiger Bund‘ (‚Gesellschaft‘), ‚Verein‘, und auch diejenige der im Titel von Sveistrups Buch genannten ‚drei Egoismen‘.361 Den Unikalismus Stirners bezeichnet Sveistrup dementsprechend auch als „Egoismus des Eigners (Egoismus III)“ oder als „eignerschaft353

Sveistrup (1932), S. 13. Sveistrup (1928), S. 105. 355 Sveistrup (1932), S. 63. – Siehe oben, IV. 2. c) und 3. b). 356 Sveistrup (1932), S. 39. 357 Sveistrup (1932), S. 12. 358 Sveistrup (1932), S. 46; vgl. Sveistrup (1928), S. 109. 359 Sveistrup (1932), S. 36. – „Man gewinnt von Stirners Werk nur dann ein richtiges Bild, wenn man stets im Auge behält, daß der Einzige die Grundlage und der Eigner die Spitze des Ganzen ist. Von Einzigkeit zu Eigentum, das ist der Kern, Eigentum an der Einzigkeit.“ (Sveistrup (1932), S. 63). 360 Sveistrup (1932), S. 36. 361 Vgl. Sveistrup (1932), S. 36, 58, 65. 354

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liche[n] Egoismus“.362 Unter diesem Gesichtspunkt ist dann zwar „[j]eder Mensch [. . .] Einziger“,363 und jeder Mensch ‚Egoist‘, aber nicht jeder Mensch ist zu jeder Zeit „eignerschaftliche[r] Egoist“.364 Vielmehr, und darauf wird im folgenden Abschnitt noch näher einzugehen sein, lassen sich die je-einzigen Individuen nach Charaktertypen „zusammenfassen: in die Süchtigen, die Besessenen und die Eigner. Die charakterkundliche Ordnung Stirners lehrt zweifelsfrei, daß der Einzige kein Gott ist, der in nachbarloser Einsamkeit überhaupt allein Dasein hat, daß mithin die solipsistische Auslegung Stirners ein offenkundiger Irrtum ist.“365 Und das gilt auch für alle anderen Varianten all-einziger Stirner-Interpretation, die je nach Perspektive die Exzeptionalität oder Antisozialität des Einzigen hervorheben. „Einzige können durchaus in Massen auftreten. [. . .] Ganz abwegig darum die Auffassung, mit dem Einzigen etwa das Genie oder so etwas wie Nietzsches Übermenschen gemeint zu glauben. [. . .] Stirners Einziger ist kein Einsamer, sondern ein unter anderen Einzigen und mit ihnen Lebender. Stirners Einziger hat andere Einzige zu Feinden und zu Freunden, tritt mit ihnen in Wettbewerb, kämpft und verbündet sich mit ihnen. Kurzum Einzige leben in Gruppen.“366 (3) Philosophische und psychologische Affinitäten Mit seinen epistemologischen, psychologischen und sozialphilosophischen Positionen befindet sich Stirner, Sveistrup zufolge, auf dem Reflexionsniveau gegenwärtig aktueller Denkströmungen. Sveistrup sieht ihn als Begründer des philosophischen Pragmatismus, stellt ihn in den Traditionszusammenhang der Lebensphilosophie und erkennt in ihm einen Vorläufer der Individual-Psychologie des abtrünnigen Freud-Schülers Alfred Adler367. Zentral für diese Einschätzungen ist Stirners Konzeption der ‚eignerschaftlichen‘ Beziehung des Einzigen zu ‚den Dingen‘, in der das Individuum die – ‚natürlichen‘ wie ‚geistigen‘ – ‚Dinge‘ mit dem Bewußtsein behandelt, daß sie Objekte seines Willens sind und von diesem beherrscht, benutzt und in ihrer Geltung bestimmt werden, und nicht umgekehrt. „Erkenntnistheoretisch ist Stirner Nominalist und Instrumentalist; Pragmatist, wenn man will. Die Begriffe sind Nomina, keine selbstexistenten Realia, sind Werkzeuge des lebenden Menschen“, die keine von diesem unabhängige Wahrheits362 363 364 365 366 367

Sveistrup (1932), Sveistrup (1928), Sveistrup (1932), Sveistrup (1932), Sveistrup (1932), 1870–1937.

S. S. S. S. S.

63 f., vgl. 55 f., 70. 105 – H. i. O. 64. 37. 16.

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oder Sollensgeltung haben.368 Aus diesem Grund weist Stirner dem „urteilenden Denken und der Wissenschaft [. . .] eine andere Lebensfunktion, einen anderen Wertrang zu als die wissenschaftstheoretische Tradition.“369 Für ihn bestimmt sich der Wert von Normen und Erkenntnissen nach ihrem praktischen Nutzen, als instrumenteller oder gebrauchsmäßiger Wert. So wird „Stirner [. . .] zum ersten modernen Pragmatisten“,370 zum Vorläufer von angelsächsischen Denkern wie John Dewey,371 „William James, F. C. S. Schiller und zahlreichen anderen [Denkern, die] der Philosophie des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts das Gepräge einer die Willensvorgänge in den Mittelpunkt stellenden Betrachtungsweise gegeben haben.“372 Weil Stirner den Wert von Gedanken, Begriffen und Idealen unter dem Aspekt ihres praktischen Nutzens für das Leben der Individuen bemißt und daher deren Geltung unter den Vorbehalt des ‚eignerschaftlichen‘ Willens 368

Sveistrup (1928), S. 113. Sveistrup (1928), S. 117. 370 Sveistrup (1928), S. 117. 371 Vgl. Sveistrup (1932), S. 92. 372 Sveistrup (1932), S. 60. – Als Begründer des Pragmatismus gilt Charles Sanders Peirce (1839–1914), der seine eigene Fassung später zur Abgrenzung von anderen Varianten des ‚pragmatism‘ ‚pragmaticism‘ nannte. Im deutschen Sprachraum war der Pragmatismus bereits vor dem Ersten Weltkrieg durch die Übersetzung der Arbeiten von Peirces Freund William James (1842–1910) und Ferdinand Canning Scott Schiller (1864–1937) bekannt – zuerst 1899 James‘ Der Wille zum Glauben / The Will to Believe (1897), neben anderen Schriften dann 1908 seine den Terminus hier einführenden Pragmatismus-Vorlesungen / Pragmatism (1907) und 1911 Schillers Humanismus. Beiträge zu einer pragmatischen Philosophie / Humanism (1907). Es waren zunächst vor allem die beiden letztgenannten Autoren und der ebenfalls von Sveistrup zitierte John Dewey (1859–1952), die den Pragmatismus weltweit popularisierten. Von seinen Kritikern, wie z. B. Bloch, Russell, Horkheimer, Marcuse, wurde der Pragmatismus als ‚unkritischer Zweck-Mittel-Instrumentalismus‘ wahrgenommen, der in seiner normativ und kognitiv relativistischen, einseitigen Ausrichtung an Effektivitätskriterien als ideologischer Ausdruck des amerikanischen Kapitalismus oder sogar (wenn auch ungewollt) als Wegbereiter des Faschismus zu kritisieren ist. Solchen und anderen reduktionistischen Auffassungen des Pragmatismus, die diesen beispielsweise als „ideologiefreien Aktivismus“ begrüßen oder als vermeintliche „Abwehr jeder philosophischen Reflexion“ angreifen, hält Ekkehard Martens in seinem Vorwort zu der von ihm herausgegebenen Auswahl klassischer Texte des Pragmatismus entgegen, daß „der Pragmatismus keine einheitliche Richtung [ist], nicht einmal bei seinen verschiedenen Vertretern, sondern er reicht von einer Methode zur Begriffsklärung über eine Handlungs- und Konsenstheorie bis zu einer Lebensphilosophie. Dennoch kann man als gemeinsames Kennzeichen den Versuch einer Vermittlung von Theorie und Praxis, Erkenntnis und Interesse anführen, hierin dem Marxismus und Existentialismus vergleichbar, jedoch in spezifischer Reaktion auf die durch die moderne Wissenschaft geschaffene Situation.“ (Martens (1975), S. 3, vgl. S. 4 ff.; vgl. Martens [Hg.] (1997), S. 247 ff., 252 f.; Hügli/ Lübcke (2000), S. 146 f., 329 f., 482 f., 515, 559.). 369

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stellt, sieht er in dem vermeintlich unbedingten „Sollen des Ideals [. . .] die begriffliche Verkleidung eines fremden Willens“, der damit unbedingte Geltung und Unverfügbarkeit beansprucht und den Einzigen zur Unterwerfung nötigt.373 Hierbei sieht er eine spezifisch sprachlich-begriffliche Strategie wirksam werden, mit der über Jahrtausende kulturgeschichtlicher Entwicklung die Ansprüche der Einzigkeit entwertet und diejenigen der Herrschaft aufgewertet wurden. „Im ‚Einzigen‘ hat Stirner den Zusammenhang zwischen herrschaftlicher Gebotslehre und Wortwertprägung gefunden, den Nietzsche hernach in seiner Lehre von dem Ineinandergreifen von Wertumwertung und Wortumwertung je durch Herrenmoral oder Sklavenmoral weiter verfolgt hat“374 – die bekannte, von Nietzsche genealogisch analysierte Ersetzung des ‚aristokratischen‘ Gegensatzes ‚gut-schlecht‘ durch den ‚sklavenmoralischen‘ Gegensatz ‚böse-gut‘.375 Wenn Stirner in nicht nur provozierender, sondern auch konterkarierender Absicht den Einzigen als ‚Unmenschen‘ tituliert und systematisch Begriffe wie ‚Eigennutz‘ und ‚Eigenliebe‘ von ihrer moralischen Anrüchigkeit zu befreien sucht, so ist dies als sprachkritischer „Angriff[] auf die Ideologie des Sollens“ zu verstehen,376 mit dem sich der Einzige gegen die ‚herrschaftliche Gebotslehre‘, die sich in dieser ‚Wortwertprägung‘ stabilisiert, ‚wert- und wortumwertend‘ empört.377 Weil „in der Ideologie des Sollens der fremde Herrschaftswille steckt und wirkt, deshalb setzt Stirner ihm den eigenen Willen, den Eigenwillen, die Willkür entgegen“.378 Eigennutz und Willkür werden als gegenüber dem ideologisch gebotenen Sollen minderwertig dargestellt, der eignerschaftliche Wille aber akzeptiert kein ihn einschränkendes Sollen über sich, sondern erkennt in letzterem die ideologische Verkleidung und Überhöhung eines fremden Willens, der tatsächlich nicht weniger ‚eigennützig‘ und ‚willkürlich‘ ist als der eignerschaftliche Wille.379 373

Sveistrup (1932), S. 59. Sveistrup (1932), S. 44. 375 Vgl. Nietzsche, KSA 5, S. 208 ff., 257 ff. 376 Sveistrup (1932), S. 60. Vgl. z. B. Stirner, EE, S. 186 f., 376, 404 f. 377 Vgl. Sveistrup (1932), S. 44, 55; Sveistrup (1928), S. 118. – In Hinblick auf die Bedeutung, die Stirner solchen ‚symbolischen Kämpfen‘ beimißt, befindet Ernst von Aster ähnlich, wenn er von „Stirners Auffassung des sozialen Kampfes als eines reinen Machtkampfes“, ähnlich derjenigen von Marx und Engels, spricht und betont, Stirner „würde auch anerkennen, daß moralische Wertungen ein Kampfmittel in diesem Kampfe um die Macht sind“, das er allerdings „selbst ablehnen“ und seinerseits „mit allen Mitteln der Satire bekämpfen“ würde (Aster (1930), S. 447). 378 Sveistrup (1932), S. 59. 379 Bei Nietzsche, den Sveistrup, neben Schopenhauer, Bergson u. a., ebenfalls in seiner Aufzählung der Denker nennt, die Willensvorgänge in das Zentrum der Betrachtung rückten (vgl. Sveistrup (1932), S. 60), heißt es in der seinerzeit als sein ‚philosophisches Hauptwerk‘ verstandenen, von seiner Schwester Elisabeth FörsterNietzsche besorgten postumen Kompilation Der Wille zu Macht: „Diese Welt ist der 374

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In diesem Sinne ist als der „Gegenstand des Buches vom Einzigen und seinem Eigentum [. . .] weder Der Einzige noch dessen Eigentum“ zu verstehen, „sondern die Beziehung des Einzigen zu seinem Eigentum“ als bewußtes Willensverhältnis.380 „Die Tendenz des Buches ist, die Welt als Eigentum jedes Einzelnen nach Maßgabe seiner effektiven Kraft, sich Geltung zu verschaffen, in Anspruch zu nehmen auf dem Wege einer Verteidigung dieser Beziehung gegen Ansprüche, die ihm die Welt einschließlich seiner selbst als Eigentum streitig machen.“381 Damit entwickelt „Der Einzige [. . .] zusammenfassend die entscheidende Bedingung für das Eigentum des Einzigen an der Welt: Ist Religion das Selbstbewußtsein Gottes, des Irrealen, Antirealen, Idealen im Menschen und Sittlichkeit die Verwirklichung des Idealen, dessen Sollen das Seiende verneint; so ist Eigentum nur durch das Selbstbewußtsein des Realen, das immer einzig nie allgemein ist, in Mir, durch Selbstbejahung Meiner durch Mich, durch Selbstbehauptung des Seienden. Es ist das Leben selber, das sich im Einzigen gegen den Nihilismus des Ideals zur Wehr setzt.“382 Stirner ist also – entgegen anderslautenden Behauptungen – kein Nihilist, vielmehr ist sein Werk „eine Verteidigung des Lebens“.383 „Richtig hat deshalb Hellmuth Falkenberg in seiner ‚Einführung in die Philosophie‘ [1926] [. . .] Stirner unter der Lebensphilosophie in der Linie Stirner, Nietzsche, Bergson, Simmel behandelt“.384 Mit seiner ‚Verteidigung des Lebens‘ gegen den ‚Nihilismus des Ideals‘ befindet sich Stirner darüber hinaus in „Verwandtschaft [. . .] mit Alfred Adlers Lehre vom nervösen Charakter [. . .] Nach Adler sucht der Neurotiker und Psychotiker im Gefühl seiner Unterlegenheit und im Streben nach Selbstsicherung eine psychische Kompensation seiner Minderwertigkeit. Diesem Zwecke dient der verstärkte Anschluß an Fiktionen, Maximen, Ideale, Prinzipien, deren sich auch der Gesunde bedient, derart, daß der Neurotiker solche Gedankengebilde hypostasiert, anthropomorphisiert, dogmatisch überstark betont und zu verwirklichen sucht. Einerseits benutzt er seine Ideale, um an ihrem Maßstabe messend die Überlegenen um ihn her kritisch zu entwerten. Andererseits dienen sie ihm als Mittel der Vorsicht Wille zur Macht – und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem!“ (Nietzsche (1930), S. 697 – H. i. O.; vgl. Baeumler (1930), S. 699 f.). Vgl. dagegen die Notiz aus Nietzsches Nachlaß: „Exoterisch – esoterisch 1. – alles ist Wille gegen Willen 2 Es giebt gar keinen Willen“ (Nietzsche, KSA 12, S. 187 – H. i. O.; vgl. auch Nietzsche, KSA 11, S. 629). Vgl. Harders (2007), S. 365 ff., zu Nietzsches Konzeption des Willens zur Macht. 380 Sveistrup (1928), S. 118 – H. i. O., vgl. S. 108. 381 Sveistrup (1928), S. 118; vgl. Sveistrup (1932), S. 57. 382 Sveistrup (1928), S. 109 – H. i. O. 383 Sveistrup (1928), S. 120. 384 Sveistrup (1928), S. 119 – H. i. O.

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vor Gefahren, denen er sich in seiner Minderwertigkeit nicht gewachsen glaubt; sie helfen ihm seiner Schwäche eingedenk zu sein. [. . .] Ohne Glauben an sich selbst, hin- und hergerissen zwischen den Anforderungen der Realitäten um ihn und den imaginären Forderungen der Ideale, unter deren hypnotische Wirkung er sich gestellt hat, gelangt der Neurotiker zu einer lähmenden Spaltung seiner Persönlichkeit. Krankheit als Quelle der idealen Forderungen, der Selbstverleugnung und Selbstentzweiung mit all ihren Formen der Selbstentwertung und Nächstenentwertung: Stirner hat den Gedanken antizipiert. Zunächst in der Richtung vom Minderwertigkeitsgefühl zur Aufrichtung des Ideals. [. . .] Sodann die Entwertung der Umwelt von dem hohen Standort des Ideals herab, die aggressive Kritik des neurotischen Idealisten.“385 Darüber hinaus gibt Stirner diesem Gedanken die sozialpsychologische und spezifisch anti-ideologische Wendung, „daß die Ideale in kunstvoller suggestiver Machination zu unserer Unterwerfung gebraucht werden. Das Wunschbild eines besseren Ichs und einer besseren Welt läßt uns unser und der Welt nicht unbefangen froh werden, setzt uns vor uns selber herab und die Welt, wie sie ist. Verleidet den Menschen sich selber und Ihr erzieht Idealisten. [. . .] Schmeichelt dem Menschen damit, er sei zu etwas ‚Höherem‘ berufen, und Ihr entfremdet ihn sich selbst. Fanatisiert ihn für etwas Heiliges, und Ihr könnt ihn gebrauchen, wie ihr wollt. Anderes tat auch Nietzsche nicht, als er mit dem Truge einer unikalistischen Geste lehrte, daß man suchen müsse zu werden, was man sei“.386 Aus dieser Perspektive erscheint somit auch der ‚Lebensphilosoph‘ und große Analytiker des Ressentiments Nietzsche als ‚neurotischer Idealist‘ – und Stirner als sein überlegener Pathologe. Denn in „dieser Entgegensetzung von Werdensollen und Sein steckt die ganze Selbstverwerfung des kranken Nietzsche und sein Hunger, die Menschheit unter die Herrschaft seiner Religionsstiftung zu zwingen. Die fixe Idee ist eine Besessenheit, eine Psychose, entsprungen aus der illusionären Absolutsetzung und Heiligung von Gedanken. Ungepeinigt von der bangen Wahl zwischen Ideal und Leben ist der seiner selbst frohe Einzige niemand anders als der Gesunde, denn er ist nichts als das unangekränkelte Leben selber.“387 Im Gegensatz zu der – auch Sveistrup bekannten388 – Studie des Psychiaters Schultze, der seine psychotische Patientin S. als Inkarnation des (all385

Sveistrup (1928), S. 118 f. – H. i. O. Sveistrup (1928), S. 119. 387 Sveistrup (1928), S. 119 – H. i. O. 388 Vgl. Sveistrup (1932), S. 100. – Wie bereits erwähnt, zitiert und kommentiert Sveistrup viele der im vorliegenden Zusammenhang bereits behandelten Autoren der Stirner-Rezeptionsgeschichte bis 1932, was nicht nur für ihn spricht, sondern auch als Beleg für den diskursiven Zusammenhang der Stirner-Rezeptionsgeschichte seit der Stirner-Renaissance gelten kann – und für die diskursive Relevanz der in der 386

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VII. Der Egoismus des Einzigen und sein Verein

einzig interpretierten) Einzigen präsentierte (siehe oben, IV. 1.), ist bei Sveistrup gerade der ‚besessene‘ Gegentypus zum ‚eignerschaftlich-egoistischen‘ Einzigen der Psychotiker, oder zumindest ein ‚neurotischer Idealist‘. Die zur Zeit der Stirner-Renaissance von Interpreten wie Panizza, Türck und Schultze auf den Gegensatz von ‚Einzigkeit‘ und ‚Nicht-Einzigkeit‘ angewendete Unterscheidung von ‚Krankheit/Abnormität‘ und ‚Gesundheit/ Normalität‘389 kann Sveistrup jetzt, unter Berufung auf neuere psychologische Einsichten, in umgekehrter Weise geltend machen. Dem entspricht Sveistrups systematische Rekonstruktion der ‚drei Egoismen‘ bei Stirner. Demzufolge versteht Stirner „Ich-Sucht, Ich-Wahn und Ich-Eignerschaft als dreierlei Egoismus“.390 Abgeleitet ist dies von der charakterologischen Typologie ‚Süchtiger‘, ‚Besessener/Fanatiker‘ und ‚Eigner‘391 und der psychologischen Unterscheidung „von Trieben beherrscht, von Ideen beherrscht und seinem eigenen Willen angehörig“.392 Das ‚Ich‘/ ‚Ego‘ hat dabei jeweils unterschiedliche Bedeutungen und Funktionen: Im „Egoismus I“ ist es das „Trieb-Ich“, im „Egoismus II“ ist es das „WahnIch“; in beiden Fällen ist das jeweilige ‚Ich‘ das Handlungsziel.393 Im „Egoismus III“ dagegen ist das ‚Ich‘, verstanden als „Wille“, der „Ausgangspunkt“ des Handelns.394 Insofern ist „Stirners Lehre vom Willensich [. . .] die wichtigste Grundlage seiner Philosophie und zugleich diejenige, die er am meisten im Dunkel gelassen hat.“395 Über die drei Egoismen läßt sich gleichwohl, in psycho(patho)logischer, ethischer und sozialphilosophischer Hinsicht mehr sagen: vorliegenden Studie exemplarisch ausgewählten und analysierten Texte. Zustimmend erwähnt Sveistrup v. a. Max Adler (vgl. Sveistrup (1928), S. 108; (1932), S. 69, 99), aber auch u. a. Hermann Schultheiss (vgl. Sveistrup (1928), S. 103, 120, 123; (1932), S. 7, 89, 95), Anselm Ruest (vgl. Sveistrup (1928), S. 107), Karl Löwith (vgl. S. 118) und Rudolf Stammler (vgl. Sveistrup (1932), S. 71 f., 99). Kritisch äußert er sich u. a. zu Georg Adler (vgl. Sveistrup (1928), S. 111; (1932), S. 21, 95), Eduard v. Hartmann (vgl. Sveistrup (1932), S. 7, 63, 89, 98) und Georg Plechanow (vgl. Sveistrup (1928), S. 108). Zu den immer wieder genannten Referenzautoren zählen außerdem John Henry Mackay (vgl. Sveistrup (1928), S. 105; (1932), S. 54 f., 98 u. ö.) und Rolf Engert (vgl. Sveistrup (1928), S. 105; (1932), S. 8, 29, 57 f., 76 ff., bes. S. 99), welch letzteren Sveistrup auch als Gegenstand seiner eigenen Kritik an der ‚individualistisch-anarchistischen‘ Auslegung sowohl Stirners als auch der Freiwirtschaftslehre Silvio Gesells durch die „Physiokraten“ heranzieht (Sveistrup (1932), S. 7 f., vgl. S. 76 ff., bes. S. 82 f., 84 f.). 389 Siehe oben, insbesondere IV. 1. d), 2. a) und b) sowie VI. 4. b) ee). 390 Sveistrup (1932), S. 58. 391 Vgl. Sveistrup (1932), S. 36. 392 Sveistrup (1932), S. 59. 393 Sveistrup (1932), S. 58. 394 Sveistrup (1932), S. 58. 395 Sveistrup (1932), S. 62.

3. Die ‚Verbürgerlichung‘ des Einzigen zwischen den Weltkriegen

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Der Egoismus III, oder eignerschaftliche Egoismus, „ist Handeln aus eigenem Willen, im Gegensatz zu triebhaftem Handeln und zu gesolltem Handeln“.396 Er ist „der dritte Standpunkt der Einzigkeitskürung (Unikalismus), der weder ein Müssen noch ein Sollen, sondern Wollen enthält.“397 Egoismus III bezeichnet psychologisch die „Eignerschaft an sich selbst“398 als gesunde „Selbstbeherrschung seiner Triebe und seines Vorstellungslebens“,399 die Stirner laut Sveistrup zugleich ethisch als formale Konzeption des Guten propagiert. Diesem Egoismus III wird folgerichtig „die Knechtschaft doppelter Art [. . .], Knechtschaft unter der Herrschaft von Trieben und von Ideen“,400 also „Triebzwang und ideales Sollen [. . .] entgegengestellt, de[r] Egoismus als Naturtrieb, als Ich-Sucht, und de[r] Egoismus als Gebot eines besseren Ichs, als Ich-Wahn“,401 also die „Egoismen I und II“.402 Der Egoismus II ist der Egoismus des Fanatikers oder Besessenen, der bereits ausführlicher dargestellte ‚neurotische Idealismus‘; zu seinen Ausprägungen gehört auch der dem Unikalismus entgegengesetzte antiindividualistische Universalismus. Egoismus II bezeichnet den kranken Standpunkt des „Wahn[s] als Herrschaft von Ideen“,403 die dem Individuum gebieten, sich am „Leitgedanke[n] eines besseren Ichs“ auszurichten, in das es sich „umgestalten zu sollen“ glaubt.404 Dieses „Wahn-Ich erzeugt dann die Besessenheit eines Ich-Wahns“,405 der sich, motiviert, orientiert, legitimiert – und fanatisiert – durch die „fixe Idee“,406 als Egoismus II mit rücksichtsloser Selbstgerechtigkeit auslebt. Sozialpsychologisch betrachtet, ist der Egoismus II Bedingung und Effekt der ‚Ideologie des Sollens‘. Der Egoismus I ist der „naturhafte[] Triebegoismus“,407 die „Sucht als Triebherrschaft“.408 Er ist der Egoismus des ‚Süchtigen‘, der „zügellos“ seinen Begierden folgt.409 Egoismus I bezeichnet im weiteren Sinne die „Selbstsucht in all ihren Spielarten, als Eitelkeit, Gewinnsucht, Habgier, 396 397 398 399 400 401 402 403 404 405 406 407 408 409

Sveistrup Sveistrup Sveistrup Sveistrup Sveistrup Sveistrup Sveistrup Sveistrup Sveistrup Sveistrup Sveistrup Sveistrup Sveistrup Sveistrup

(1932), (1932), (1932), (1932), (1932), (1932), (1932), (1932), (1932), (1932), (1932), (1932), (1932), (1932),

S. S. S. S. S. S. S. S. S. S. S. S. S. S.

69. 57. 57. 51. 51. 57. 65, vgl. S. 58. 48. 73. 73. 37. 57. 48. 51.

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VII. Der Egoismus des Einzigen und sein Verein

Ämtergier, Dienstbeflissenheit, Rücksichtslosigkeit, Unbarmherzigkeit usw.,“ und all dies ist für Stirner „eben eine Sucht, in der der Mensch sich nicht zu eigen und in der Gewalt hat, nicht sein eigener Eigner ist.“410 Gegen die häufige Unterstellung, Stirner propagiere auch diesen Egoismus I, wehrt sich Sveistrup daher vehement: „Stirners eignerschaftlicher Egoismus ist die Verneinung des Triebegoismus.“411 Das verbreitete Mißverständnis, „der von Stirner vertretene Egoismus sei der des natürlichen Trieblebens“, rührt daher, daß Stirners Hauptangriff der ‚Ideologie des Sollens‘, der ‚Ideenherrschaft‘ usw., also den ‚geistigen Bindungen‘ gilt. „Weil im Mittelpunkt des Buches vom Einzigen der Kampf gegen den Glauben an die Verbindlichkeit geistig wesender Gebote steht, weil Stirner seinen eignerschaftlichen Egoismus des Willens gegen das Sollen fixer Ideen ausspielt, hat man wegen des anderen Gegensatzes zwischen Natur und Idee Stirners eignerschaftlichen Egoismus mit dem natürlichen Triebleben zusammengeworfen, hat man übersehen, daß Stirner Triebleben und Willensleben unterscheidet. In seinem Kampf gegen die Herrschaft von Ideen ist der eignerschaftliche Egoist der ‚Entheiliger‘, der Wahnzerstörer [. . .]. Den Naturtrieben gegenüber ist er aber zugleich der Suchtbezwinger.“412 Stirners „entschiedene[] Ablehnung jeder Art von Triebherrschaft“,413 also Egoismus I, hat, ebenso wie der Kampf gegen den Egoismus II und die in ihm wurzelnde ‚Ideologie des Sollens‘, nicht nur eine im engeren Sinne ethische und psychohygienische, sondern auch eine politische und sozialphilosophische Bedeutung. Als Triebherrschaft bzw. Sucht ist Egoismus I nicht nur ethisch inakzeptabel und krankhaft – so wie mutatis mutandis der Wahn bzw. neurotische Idealismus des Egoismus II –, sondern er ist zugleich ein opportunes Medium der Herrschaftsausübung. Bei der Errichtung, Stabilisierung und Ausübung sozialer Herrschaft haben Egoismus I und II ähnliche Funktionen und verstärken sich gegenseitig in ihrer Wirkungsweise. „Herrschaft der Triebe, Begierden, Leidenschaften macht den Menschen zum Sklaven, zum Knecht, zum Narren, zum Besessenen [. . .]. Ja, es ist nach Stirner die Begierde, die der Staat sich zunutze macht, um den Einzelnen unter seine Herrschaft zu locken. Deshalb parzelliert er den Grund und Boden und gibt den Begehrlichen Privateigentum daran. Mit dem Köder der Grundrente packt er den Menschen bei dem Triebe der Habsucht und gewinnt ergebene und treue Untertanen. Gegen Menschen, die die Herrschaft über diesen Trieb besitzen, könnte er mit dem Mittel nichts 410 411 412 413

Sveistrup Sveistrup Sveistrup Sveistrup

(1932), (1932), (1932), (1932),

S. S. S. S.

63. 64. 64. 63.

3. Die ‚Verbürgerlichung‘ des Einzigen zwischen den Weltkriegen

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ausrichten. In der Rechtseinrichtung der Heiligkeit des Privateigentums wird diese Besessenheit vergeistigt und erhöht, ins Reich der fixen Ideen hinübergeschoben, der Naturtrieb gerechtfertigt, gebilligt, geboten“.414 Aufgrund dieser Wechselwirkungen mit gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen handelt es sich bei den Egoismen I und II nicht nur um individuelle, sondern um soziale Pathologien; das ist die spezifisch sozialphilosophische Diagnose, die Sveistrups Rekonstruktion der drei Egoismen impliziert. Die unikalistische Therapie ist jener Wechsel der ‚Ansicht‘, in dem sich die Einzigen zu eignerschaftlichen Egoisten erschaffen und die ‚gesellschaftlichen‘ Bindungen durch ‚Empörung‘ ‚lösen‘.415 Normativer Bezugspunkt der Diagnose und Therapieziel ist die unikalistische Ordnung des Vereins, in dem zwar die ‚gesellschaftlichen‘ Bindungen, nicht aber die Regeln des menschlichen Zusammenlebens aufgelöst sind. Letztere sind lediglich aus dem Bereich vermeintlich unbedingter Geltung herausgelöst, ihres ebenso pathologischen wie pathogenen Charakters beraubt und auf die solidere und ideologiefreie Basis des bewußten Willens der Einzigen gestellt: „Der Unikalist gibt den kategorischen, den unbedingten Imperativ preis, aber er anerkennt hypothetische Imperative, bedingte Regeln, in deren Vordersatz sein eigener Wille zum Verkehr steht.“416 Sveistrup befindet, daß dieser psychische und soziale Gestaltwandel in Ansätzen bereits beobachtbar ist. Zwar ist noch immer „der Glaube an den Staat [. . .] die herrschende Religion der Gegenwart. Noch beherrscht der Glaube an die Notwendigkeit herrschaftlicher Lebensordnung die Köpfe“, aber gegenüber der älteren und vormals machtvolleren religiösen und sozialen Herrschaftsinstitution, der „Kirche gegenüber ist die innere Umstellung, die veränderte Bewußtseinshaltung schon viel weiter fortgeschritten und – nicht ohne erhebliche äußere Wirkung geblieben.“417 Dieses Vorbild illustriert zugleich die Vorstellung, die Stirner Sveistrup zufolge von dem durch den Wechsel der ‚Ansicht‘ bewirkten Gestaltwandel der ‚Gesellschaft‘ zum ‚Verein‘ hat. Auch der ‚Staat‘ mag – wie die nun machtlose Kirche – äußerlich sichtbar fortbestehen, aber „wenn der Einzelne ihm gegenüber eine innere Haltung einnimmt, die den Staat zu einer Vereinigung macht“, ist er nicht mehr als ein für die Einzigen zweckmäßiges Verwaltungsinstrument, dem niemand Interessen, Glück oder gar sein Leben opfern wird.418 Gerade 414

Sveistrup (1932), S. 64. Vgl. Sveistrup (1932), S. 48. – Vgl. Honneth (1994b), bes. S. 10 f., 49 ff., zu Begriff und Struktur der Sozialphilosophie als formale Theorie des Guten, Sozialpathologie-Diagnose und Therapeutik. 416 Sveistrup (1932), S. 73. 417 Sveistrup (1932), S. 27. 418 Sveistrup (1932), S. 25; vgl. Sveistrup (1928), S. 111. 415

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solche Fortschritte des unikalistischen Bewußtseins rufen verstärkt die in Egoismus I und II befangenen Feinde der ‚Eigenheit‘ – also Je-Einzigkeit – auf den Plan.419 Insgesamt ergibt sich so bei Sveistrup das Bild einer je-einzigen sozialen Welt, in der die Individuen in vielfältigen, verschiedenartigen sozialen Beziehungen zueinander stehen, ihre jeweiligen Interessen gegen- und miteinander behaupten, Konflikte austragen, Vereinbarungen eingehen und auflösen, Überzeugungen, Einstellungen und Vorlieben teilen – und die alles in allem eine soziale Ordnung darstellt, die ein geregeltes Zusammenleben ermöglicht. Zwar gibt es auch in dieser Welt Individuen, die sich aufgrund von Willensschwäche und mangelhafter Triebbeherrschung zu antisozialem Verhalten treiben lassen, aber diese sind krank, ‚Süchtige‘. Auch gibt es Individuen, die an die eigenständige Existenz überindividueller Entitäten und deren unbedingte Werthaftigkeit glauben, ‚Ideen‘ wie ‚Wahrheit‘, ‚Gott‘, ‚Nation‘ oder ‚Menschheit‘ als ‚heilig‘ behandeln und für sie zu töten und zu sterben bereit sind; aber auch diese sind entweder krank (‚psychotisch‘) oder ‚Fanatiker‘. Die ‚normale‘ Haltung ist demgegenüber die ‚eignerschaftliche Ansicht‘ des Unikalisten oder aufgeklärten Egoisten (‚III‘), der soziale Regeln befolgt, weil und solange deren Geltung ihm nützt, und der zu seinen Begierden und Leidenschaften ein ebenso pragmatisches Verhältnis unterhält, indem er sie als Objekte seines Willens zuläßt, sich aber nicht in dem Maße von ihnen hinreißen läßt, daß er zu deren Sklaven wird und seinem unikalistischen Interesse schadet. Gleiches gilt für den Umgang der unikalistischen Individuen mit Idealen und anderen geistigen Entitäten, und auch für ihre ‚eignerschaftliche Ansicht‘ des sozialen Ganzen: Sie wissen um ihre konstitutiv soziale Existenz in Gemeinschaft mit Anderen, sie vereinigen sich willentlich zu verschiedensten Zwecken miteinander, sie sind mitunter auch bereit, sich füreinander zu opfern. Aber sie fühlen sich weder als ‚Glied‘ eines ‚Gesellschaftskörpers‘, noch als Anhänger einer ‚Idee‘, die größer ist als sie selbst. Sie akzeptieren keinen staatlichen, kirchlichen, nationalen oder sonstigen institutionellen oder ideologischen Verfügungsanspruch über ihr Leben und werden dieses daher auch für keine Gemeinschaft riskieren oder gar opfern, noch unterwerfen sie ihr Leben der Herrschaft eines fremden Willens, der sich in Form vermeintlich naturbedingter und notwendiger Gebote als unabweisbar präsentiert, sondern lassen beispielsweise moralische und rechtliche Vorschriften nur auf Grundlage und nach Maßgabe ihrer jeweils eigenen Willen gelten. In welchem Ausmaß dieses je-einzige Szenario in der Zwischenkriegszeit bereits der soziokulturellen Realität in der Weimarer Republik und anderen westlichen Industriestaaten entsprach und ob es daher stärker zeitdiagnosti419

Vgl. Sveistrup (1932), S. 27 ff.

3. Die ‚Verbürgerlichung‘ des Einzigen zwischen den Weltkriegen

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schen oder sozialprogrammatischen Charakters ist, bleibt dabei eine Frage der tatsächlichen Proportion von ‚eignerschaftlichen Egoisten‘ bzw. ‚Unikalisten‘ zu ‚Süchtigen‘ und ‚Besessenen‘ bzw. ‚Fanatikern‘; es ist eine quantitative, keine qualitative Frage, denn für die Qualität der von Sveistrup entworfenen Je-Einzigkeit – ob diagnostisch oder programmatisch – ist entscheidend, daß die ‚eignerschaftlich-egoistische‘ bzw. ‚unikalistische‘ Einstellung die normale ist, während die entgegengesetzten Haltungen diskreditiert und teilweise pathologisiert werden. Der antiindividualistische ‚Universalismus‘ beispielsweise, aber auch jeder andere ‚Idealismus‘, erscheint aus der unikalistischen Sicht des Egoismus III als Fanatismus und wahnhafte Besessenheit vom Typ Egoismus II, und der Egoismus I ist als ‚Sucht‘ ohnehin krankhaft, beide potentiell antisozial und gefährlich. Dagegen hat der eignerschaftliche Egoist ein gesundes Verhältnis zu seinen Begierden, Trieben, Phantasien und Gedanken und ist sozial unauffällig. Man sieht, wie sich die Sicht auf das Individuum seit Türck, Panizza, Hartmann und anderen Pathologen des Individualismus ändern konnte. Die fortgeführten Angriffe auf die Moderne zeigen aber gleichwohl, daß man sich mit dem modernen Individuum in der vorliegenden individualistischen Form noch nicht abfinden konnte. b) Nach dem Untergang des bürgerlichen Individualismus Das beschriebene Verständnis von Je-Einzigkeit stellt Sveistrup am Vorabend der nationalsozialistischen ‚Machtergreifung‘ im Januar 1933 den antibürgerlichen Angriffen der extremen Rechten auf das zu diesem Zeitpunkt bereits untergangsbedrohte ‚Weimarer System‘ entgegen, dessen verhaßte kulturelle Liberalität, wirtschaftliche Krisenhaftigkeit und politische Instabilität für seine Feinde Folge und Ausdruck all dessen war, was sie als ‚westlich‘, ‚liberal‘, ‚bürgerlich‘ und ‚individualistisch‘ bekämpften.420 Die JeEinzigkeit, die Sveistrup präsentiert, entspricht in vielerlei Hinsicht – und sehr viel deutlicher als ihre sozialprogrammatischen bzw. anarchistisch-utopistischen Deutungen der Vorkriegszeit – dem Bild der damals für ihre Bindungslosigkeit und ihren Mangel an Heroismus als bürgerlich-individualistisch angefeindeten modernen Gesellschaft. In gewisser Weise war der Einzige in der Gegenwart angekommen. Bei Sveistrup steht er nicht mehr für eine ganz andere Zukunft, allenfalls für eine graduelle Optimierung der gegenwärtigen Gesellschaft, die sich auf dem Wege des ‚Empörung‘ genannten ‚Gestalt-switch‘421, als Transformation ‚gesellschaftlicher‘ Gebilde in 420 Zu den gemeinsamen Feindbildern und ideologischen Frontstellungen der Weimarer Rechten vgl. Breuer (1993), bes. S. 115 ff.; Sontheimer (1978), bes. S. 141 ff., 244 ff.; Lenk (1989), bes. S. 105 ff. Vgl. auch Breuer (1999). 421 Vgl. Kuhn (1976), S. 123 ff.

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VII. Der Egoismus des Einzigen und sein Verein

‚Vereinigungen‘ durch Wechsel der ‚Ansicht‘ von ‚Verbindlichkeiten‘, für immer mehr soziale Lebensbereiche würde vollziehen lassen, so daß sich letztlich die moderne Gesellschaft als ‚Verein‘ von Pragmatisten, oder eher: Pragmatikern darstellt. Allerdings wurde diese Gegenwart in der Zwischenkriegszeit von verschiedenen Seiten – nicht zuletzt von denjenigen, gegen die Sveistrup Stirner in Stellung bringt – als überwindungsbedürftig verstanden, und in Deutschland rechnete sich nach der Zerstörung der Weimarer Republik der Nationalsozialismus diesen Erfolg zu. Stirner erscheint hiernach als Angehöriger einer überwundenen Welt, als Relikt der bürgerlich-individualistischen Vergangenheit. aa) Kurt Adolf Mautz Drei Jahre nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten erscheint als Band 101 der von Hans R. G. Günther und Erich Rothacker herausgegebenen Schriftenreihe Neue Deutsche Forschungen Kurt Adolf Mautz’ Dissertation Die Philosophie Max Stirners im Gegensatz zum Hegelschen Idealismus. Unter diesem vordergründig bloß philosophiegeschichtlich anmutenden Titel zielt Mautz auf die noch „unverminderte Aktualität“ der „ursprüngliche[n] Intention des Stirnerschen Denkens“, nämlich dessen „umfassend antiintellektualistische[]“ und „antiidealistische Opposition“.422 Damit will er einen „Beitrag [. . .] liefern zu der geschichtsphilosophischen Fragestellung, die mit dem Problem des ‚Idealismus‘ für die Gegenwart gegeben ist“ (S. 6 f.). In Stirner-rezeptionsgeschichtlicher Perspektive ist Mautz’ Buch eine weitere interpretatorische Anreicherung des Einzigen, und zwar insbesondere der zu diesem Zeitpunkt noch jungen, von Karl Löwith ausgehenden existentialistischen Deutungstradition der Je-Einzigkeit, die er entscheidend in Richtung dessen radikalisiert, was später als ‚individualistischer Existentialismus‘ Stirners beobachtet und prominent im Waldgang (1951) Ernst Jüngers artikuliert worden ist.423 Das „Urfaktum“, von dem Stirner Mautz zufolge ausgeht, ist demnach die „Existenz“, die er allein dem „lebendige[n] Ich des konkreten menschlichen Individuums“ zuspricht (S. 56). Nur die „leibhaft unmittelbare[] Persönlichkeit des Ich“ ‚existiert‘, die „überindividuellen Gebilde“ sind im Gegensatz dazu „nur ein scheinhaftes Sein“ (S. 122). „Stirners Existenzbegriff ist also nicht wie der Hegelsche eine logische Bestimmung, sondern bezeichnet eine vorlogi422 Mautz (1936), S. 6 f. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich in diesem Unterabschnitt ebenfalls auf Mautz (1936). 423 Vgl. Meuter (1994), S. 421 ff., bes. S. 422, 426 f., 430 f., 438 f.; vgl. z. B. Jünger (1951), S. 81 ff.; vgl. auch Helms (1966), S. 69, 495 ff. – Zu Stirners Existentialismus siehe auch unten, VIII. 1. und 3.

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sche Gegebenheit.“ (S. 56 – H. i. O.) Dementsprechend, erläutert Mautz, meint der „Begriff des ‚Einzigen‘ [. . .] nichts anderes als die einmalige Existenz eines menschlichen Individuums als einer leibhaften ‚Person‘. Diese Existenz entzieht sich für Stirner jeder logischen Bestimmung. Sie stellt ein schlechthin Irrationales dar. Jede begriffliche Aussage, die von ihr gemacht wird, trifft nur eine allgemeine, gemeinsame Eigenschaft der Individuen, nicht aber den spezifisch individuellen Persönlichkeitskern des einzelnen Ich.“ (S. 57) Im Sinne von Löwiths Unterscheidung von Individualität und Personalität ist nur diese, als ‚gemeinsame Eigenschaft der Individuen‘, begrifflich faßbar, jene aber, als ‚spezifisch individueller Persönlichkeitskern‘, unaussprechlich. Allerdings waren bei Löwith durch die immer schon währende Anwesenheit des Anderen im Weltbezug des Einzigen Personalität und Individualität existentiell gleichursprünglich. Mautz dagegen radikalisiert den Existentialismus der Je-Einzigkeit individualistisch, indem er die Seite der „Individualität des einzelnen Ich in ihrer irrationalen ‚Ausschließlichkeit‘“ akzentuiert (S. 57); mit ‚Person‘ bezeichnet er daher nicht das Individuum in seiner Personalität, sondern das Individuum in seiner Individualität.424 „Stirners Grundproblem ist also die Irrationalität des Individuums. Sie verbürgt sich ihm durch die nicht substituierbare Leiblichkeit der einzelmenschlichen ‚Person‘“, die ‚intuitiv‘, ‚prälogisch‘, ‚unterrational‘ und ‚nicht-diskursiv‘ in „der ‚Begegnung‘ lebendiger Individualitäten“ erlebt wird (S. 58). Die Betonung des ‚individualistischen‘ Aspekts in Mautz’ existentialistischer bzw. „personalistisch[er]“425 Interpretation der Je-Einzigkeit wird auch hier deutlich: Denn diese im „Personerlebnis“ sich vollziehende „Begegnung ist primär Selbstbegegnung des eigenen Ich, Urerlebnis der ‚Einzigkeit‘, d. h. der irrationalen Ausschließlichkeit des Ich.“ (S. 58)426 424 So meint Mautz auch immer wieder ‚solipsistische‘ Anklänge bei Stirner feststellen zu können (vgl. z. B. Mautz (1936), S. 67, 101), die er aber vor dem Hintergrund seiner je-einzigen Stirner-Interpretation als polemische Verschärfungen von Stirners radikal-individualistischem Anliegen deutet, und nicht als erkenntnistheoretischen Solipsismus eines All-Einzigen, wie dies etwa bei Panizza und v. Hartmann zu beobachten war; siehe oben, IV. 2. c). Es ist daher symptomatisch für die individualistische Radikalisierung des je-einzigen Existentialismus durch Mautz, wenn er „Überspitzungen und Ausschweifungen eines solipsistischen Individualismus“ bei Stirner hervorhebt und diese als Folge jenes individualistisch-existentialistischen Bestrebens erklärt, „das personalistische Grundmotiv als Ursprungsquell alles menschlichen Handelns zu sichern“ (Mautz (1936), S. 6). 425 Mautz (1936), S. 58 u. ö., vgl. z. B. S. 63. 426 „Stirners Irrationalismus ist also personalistisch fundiert. Stirner führt überhaupt als erster in der Philosophiegeschichte den Begriff des ‚Personalismus‘ ein: in seiner 1842 in der ‚Rheinischen Zeitung‘ erschienenen Schrift: ‚Das unwahre Prinzip unserer Erziehung oder der Humanismus und Realismus‘“ (Mautz (1936), S. 58).

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(1) Antiintellektualistische Lebensphilosophie und individualistische Ethik der Existenz Stirners Verständnis der „Existenz“ ist demnach als Unvertretbarkeit und Inkommunikabilität gekennzeichnet; Mautz spricht von „Verstummung und Sprachlosigkeit“, von „unmittelbarer Kommunikation“ und der „stummen Symbolik des ‚Einzigen‘“,427 die die „leibhafte ‚Existenz‘“ nicht begrifflich erfaßt, sondern nur auf diese „hinweist“ (S. 58, vgl. S. 63). „Der Begriff der ‚Einzigkeit‘ dient also als Grundsymbol für die personalistische Gebundenheit aller durch das Denken und das Leben getätigten Wertungsakte an ein leibhaftes, einzelnes Ich. [. . .] Der Begriff der ‚Einzigkeit‘ meint [. . .] die qualitative Urbeschaffenheit, den Erlebnisgrund des Personindividuums als einer nicht substituierbaren organischen Wirkungseinheit. [. . .] ‚Einzigkeit‘ bezeichnet demnach die autonome Individualität des konkreten einzelnen Menschen, die keinem höheren Gericht, keiner subjektfremden, heteronomen Instanz unterworfen ist.“ (S. 62 f.) Wegen der Nicht-Anerkennung überindividueller ‚letzter Instanzen‘ und ‚Letztwirklichkeiten‘ (vgl. S. 5) spricht Mautz auch von „Stirners anarchische[m] [sic] Individualismus“ (S. 63) und von der „metaphysischen Einsamkeit“ (S. 5), in der die je-einzigen Individuen der „Stirnerschen Wirklichkeitsauffassung“ zufolge existieren (S. 64). „Die Stirnersche ‚Wirklichkeit‘ ist die vorrationale Wirklichkeit des konkreten Personindividuums, das sich als ‚einzig‘ weiß. Der Bruch, der durch diese Wirklichkeit geht [. . .], ist in der Endlichkeit und In dem von Mautz genannten Text postuliert Stirner „die Ausbildung der freien Persönlichkeit“ als „Anfang und Ziel“ der „Pädagogik“ und resümiert: „Will man diejenigen, welche diesem Principe folgen, wieder –isten nennen, so nenne man sie meinetwegen Personalisten.“ (Stirner (1842), S. 28 f. – H. i. O.) – Philosophiegeschichtlich bezeichnet der Terminus ‚Personalismus‘ allgemein die Auffassung des Menschen nicht als denkendes Wesen, sondern als primär handelnde, wertende und Stellung nehmende Person, die insbesondere aktiv am Erkenntnisprozeß teilnimmt. In diesem umfassenden Sinne gilt die gesamte Philosophie seit Nietzsche als mehr oder weniger ‚personalistisch‘, terminologisch-systematisch wird der Begriff aber erst im 20. Jahrhundert gebraucht. In einer engeren Bedeutung bezeichnet ‚Personalismus‘ dann eine u. a. bei Ch. Renouvier (1815–1903), F. C. S. Schiller und W. James anzutreffende Spielart des Pragmatismus, mit dem schon Sveistrup Stirner in Verbindung gebracht hatte. Und diese (pragmatistische) Variante des Personalismus, der zufolge die ‚Person‘ als ‚Individuum‘ im Sinne eines ‚individuellen Willens‘ und ‚individuellen Bewußtseins‘ zu verstehen ist, meint auch Mautz, wenn er Stirner als ‚Personalisten‘ charakterisiert. Eine zweite, dem radikal-individualistischen Personalismus-Verständnis Mautz’ entgegensetzte systematische Bedeutung hat der Terminus ‚Personalismus‘ zur Kennzeichnung einer Lehre, die – so wie Löwith – zwischen Individuum und Person unterscheidet. Vgl. Schischkoff (1982), S. 522; Hügli/ Lübcke (2000), S. 485 f. 427 Mautz (1936), S. 62 f. – H. i. O. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich in diesem Unterabschnitt weiterhin auf Mautz (1936).

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Zeitlichkeit der einzelmenschlichen Person zu sehen, die sich als metaphysisch einsames Ich erlebt. Diese Wirklichkeit ist daher [. . .] einem Mosaik von Bruchstücken“ zu vergleichen (S. 64). Dieses Bild prägt Mautz’ individualistisch-existentialistisches Verständnis der Je-Einzigkeit: „Jedes einzelne Ich ist für sich ein Fragment, ein beschränktes persönliches Sein, eine in sich selbst determinierte Individualität.“ (S. 64) Die moralphilosophische Folge dieses durch die metaphysische Einsamkeit der Je-Einzigen gekennzeichneten Wirklichkeitsverständnisses ist Mautz zufolge die individualistisch-existentialistische Variante eines ethischen Dezisionismus, die „den Menschen in seinem sittlichen Handeln vor die streng persönliche Entscheidung [stellt], die er als selbständiges ‚Ich‘ aus sich selbst heraus vollzieht.“ (S. 5) Mit seinem ‚ethisch-individualistischen‘ Dezisionismus befindet sich Stirner in seiner Zeit in doppelter Frontstellung sowohl gegenüber „der ‚absoluten Philosophie‘“ Hegels als auch gegenüber den junghegelianischen „Theorien des liberalen Welt- und Menschenbildes“ (S. 121). Beide fordert Stirner heraus von einem „radikal antiidealistischen Standpunkt, der mit dem Glauben an die wirklichkeitgestaltende, universalgeschichtliche Schöpferkraft der eigenständigen Idee [. . .] grundsätzlich bricht und von der irrationalen, vorgeistigen Struktur des ‚Lebens‘ als solchem und von der auf ihren persönlichen Willen und ihre persönliche Entscheidungsfähigkeit allein angewiesenen ‚Existenz‘ des wirklichen Einzelmenschen ausgeht.“ (S. 121) Wenn daher auch die „Tendenz des ethischen Individualismus Stirners [. . .] auf die Herauslösung des Einzelmenschen aus jedem umfassenden überindividuellen Strukturzusammenhang gerichtet“ ist (S. 121), so ist doch gleichwohl diese ‚Tendenz‘ nicht rein negativistisch, als bloße Destruktion überindividueller Strukturen zu verstehen. Zwar sucht Stirner „alle Kollektivwerte wie ein allgemeines Ideal der Moralität oder ein objektiv gültiges Recht [. . .] aufzulösen. Seine Kritik gilt aber in erster Linie nicht den Kollektivwerten als solchen, sondern legt den Akzent auf den personalen Vollzugscharakter jeder sittlichen Entscheidung; sie will diese Entscheidung nicht abschieben auf eine überpersönliche Wirklichkeit, sodaß das Individuum nur vollstreckendes Organ eines höheren Ganzen ist, sondern behauptet sie als den ursprünglichen, eignerschaftlichen Akt des ‚Einzigen‘.“ (S. 121 f.) Dieser „eignerschaftliche Vollzug des persönlich-individuellen Verhaltens des ‚Ich‘ in seiner Stellung zur Welt und zum Mitmenschen“ steht daher im „Mittelpunkt der Stirnerschen Ethik“ (S. 127). „Maßgebend“ für diese ist der „Gedanke, daß die sittlichen Maßstäbe und Wertvorstellungen dem Einzelnen nicht als vorgefundene Kollektivwerte geliefert [. . .] werden sollen, sondern daß der Einzelne eine individuelle Welt für sich bedeute, und daß der Entschluß, wahrhaft handeln zu wollen, ausschließlich aus der rein persönlichen Entscheidung des Individuums stamme. Der einzelne Mensch orientiert sich also in

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seinem Handeln nicht an einer objektiven sittlichen Norm, er hat ‚Werte‘ nicht hinzunehmen, sondern ‚anzueignen‘.“ (S. 126 f.) Als Kern des individualistisch-existentialistischen Dezisionismus bzw. „ethische[n] Individualismus Stirners“ (S. 126) kommt so bei Mautz die moralisch anspruchsvolle Forderung einer radikalen Selbstverantwortlichkeit des Je-Einzigen zum Vorschein. Folgerichtig enthält sich Stirner selbst jedweder substantiellen Bestimmung des Guten, mit der er Anderen etwas vorgäbe, er „stellt keinen ethischen Imperativ irgendwelcher Art auf“ (S. 99). Aber sein Dezisionismus ist als „‚ethische‘ Grundmaxime“ aufzufassen, der zufolge ein „wirklicher ethischer Vollzug [. . .] nur in jenem Handeln [vorliegt], das auf einer persönlichen Entscheidung des Einzelnen beruht. [. . .] Mit der Preisgabe jeder objektiven ethischen Norm, jedes Ideals eines allgemeinen sittlichen ‚Sollens‘, erhält Stirners Individualismus notwendig ein immoralistisches Gepräge. Dieser ‚Immoralismus‘ erweist sich jedoch im Grunde als eine Verschärfung des ethischen Prinzips. Denn sittliches Handeln erscheint nun nicht mehr als Produkt eines teils unbewußten, teils bewußten Sicheinfügens in ein vorgegebenes überindividuelles Ganze, sondern die Last der Entscheidung, aus welcher sittliches Handeln entspringt, übernimmt voll und ganz die selbständige Persönlichkeit des einzelnen, konkreten Ich.“ (S. 99 f.) Der bereits von Georg Adler herausgearbeitete, spezifisch antiinstitutionalistische Zug bei Stirner richtet sich demnach nicht bloß gegen die potentiell den Einzelwillen der Individuen einschränkende Machtwirkung von Institutionen (also auf Dauer gestellten, individuell unverfügbaren symbolischen Ordnungsstrukturen), sondern insbesondere gegen die ‚Entlastungsleistung‘ von Institutionen, die im Sinne Arnold Gehlens die Individuen von Reflexionsnötigungen und Entscheidungsdruck befreit.428 Für Mautz’ Stirner liegt darin die Flucht vor der existentiell aufgegebenen Selbstverantwortung des Individuums, weswegen er den Verzicht auf jegliche institutionelle Entlastungsleistung fordert. Insgesamt geht Mautz ausdrücklich auf Distanz zur „individualistischen Weltanschauung Max Stirners“, auch wenn er mit Blick auf das „Problem des ‚Idealismus‘ für die Gegenwart“ (S. 7) die „antiintellektualistische Tendenz seiner Philosophie“ begrüßt (S. 58). Dieser liegt ein „dynamischer Voluntarismus“ zugrunde (S. 64), den Mautz terminologisch aus „Stirners Willensbegriff“ ableitet, der sich „am besten mit Hilfe der Kategorie des ‚Dynamischen‘ charakterisieren“ läßt, und konzeptionell dem ‚Intellekt‘ und 428 Arnold Gehlen (1904–1976) fungierte als einer der Mitherausgeber der Neuen Deutschen Forschungen (Abteilung Philosophie) und wendete sich 1936, als Mautz’ Dissertation in dieser Reihe erschien, ursprünglich von der Existenzphilosophie kommend, nach einer zwischenzeitlichen, an Fichte und Hegel orientierten idealistischen Phase, der Philosophischen Anthropologie zu, die die Grundlage seines Entlastungstheorems und seiner Institutionentheorie bildete (vgl. Rehberg (2002), S. 78 ff.).

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dessen ‚idealistischen‘ und ‚liberalistischen‘ Erzeugnissen entgegengesetzt ist (S. 101, vgl. S. 103). „Der von uns verwandte Begriff des ‚Dynamischen‘ wird von Stirner selbst – aus der Antithese heraus – indirekt geliefert, wenn er das dem von ihm bekämpften Welt- und Menschenbild des religiösen Denkens, des Idealismus und Liberalismus zugrundeliegende gemeinsame metaphysische Prinzip als ‚Stabilitätsprinzip‘ kennzeichnet, das bestimmte Wertvorstellungen des Menschen ‚fixiert‘ und zu ewigen, unerschütterlichen Maßstäben des Handelns erhebt.“ (S. 102) Diese antiintellektualistische Frontstellung Stirners erscheint in einzelnen Aspekten zeitgemäß insoweit, als sie eben jene Tendenzen der ‚bürgerlichen Gesellschaft‘ und des ‚Liberalismus‘ kritisiert, die in der deutschen Gegenwart erst jüngst ‚revolutionär‘ überwunden wurden: Beispielsweise ist die „Stirnersche Opposition gegen die konservierenden Mächte von Staat und Gesellschaft aus der Isolierung des Individuums im atomistischen System der Demokratie zu verstehen, [. . .] die jeder substantiellen Lebensmächtigkeit entäußert, von keinem Gemeinschafts- oder Gefolgschaftsethos getragen, das einzelne Individuum seiner Innerlichkeit überläßt.“ (S. 123) Auch Stirners „Ablehnung des Völkerbundsgedankens“ ist Mautz zufolge „antidemokratisch“ motiviert (S. 124). Und mit Stirners Feindschaft gegen die ‚bindungslose westliche Demokratie‘ und gegen den ‚Völkerbundgedanken‘ mußte man 1936 einverstanden sein können, schließlich war Deutschland bereits im Oktober 1933 aus dem Völkerbund ausgetreten, nachdem der nationalsozialistische Staat das ‚westlich-demokratische‘ Weimarer ‚System‘ vernichtet hatte. Aber Stirners antidemokratische Haltung ist radikal individualistisch begründet und „in ihrer schlechthin antistaatlichen Tendenz eben doch eine Erscheinung des überfällig gewordenen Liberalismus des 19. Jahrhunderts“ (S. 124, vgl. S. 122 f.) – und als solche eine Kritik von der falschen Seite. „Stirners streng individualistischer und dynamischer Willensbegriff, der auf die unmittelbare Mächtigkeit des chaotisch bewegten ‚Lebens‘ selbst rekurriert, vermag nicht zum Fundament irgendeiner Staatskonstruktion überhaupt zu werden“ (S. 123) und steht letztlich selbst dem „individualistischen Willensbegriff des Liberalismus“ nahe (S. 100). In „seiner Stellung zu Staat und Gesellschaft vertritt Stirner den Standpunkt des extremen Liberalismus. Seine eigene Polemik gegen den Liberalismus besagt hierbei nicht das Geringste, denn sie macht diesem nur den Mangel an Radikalismus, an konsequenter Durchführung seines Prinzips zum Vorwurf“ (S. 129). Und so betont Mautz gleich zu Beginn seiner Studie: „Es versteht sich von selbst, daß die Lösungen und Aufstellungen der individualistischen Weltanschauung Max Stirners in geistiger, sozialer, politischer Hinsicht usw. für unser Zeitalter überholt und zum Teil überhaupt indiskutabel“ sind (S. 7). Diese ‚Selbstverständlichkeit‘ ist zeitdiagnostisch symptomatisch, weil in ihr, als Selbstverständnis des nationalsozialistischen Deutschland, die Hin-

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tergrundgewißheit mitschwingt, daß das ‚individualistische Zeitalter‘ spätestens seit 1933 endgültig der Vergangenheit angehört.429 Hierzu paßt, daß Mautz’ Bild des Einzigen in vielen interpretatorischen Details mit dem Verständnis von Je-Einzigkeit übereinstimmt, das Sveistrup kurz vor der nationalsozialistischen Machtübernahme dem antiindividualistischen ‚Fanatismus‘ entgegengestellt hatte. Auch Mautz betrachtet den Einzigen als Kampfansage an den antiindividualistischen ‚Universalismus‘, der Stirner zeitgenössisch in Hegels Absolutem Idealismus vor Augen Stand. Stirners Philosophie sucht „die Einzelexistenz des Menschen, die im universalistischen System des Hegelschen Idealismus Sinn, Wert und Würde erst als ‚Glied‘ und ‚Moment‘ eines Ganzen [. . .] erhielt, gerade in ihrer individuellen Vereinzelung und metaphysischen Einsamkeit zu erschließen.“ (S. 5, vgl. S. 122) Durch die von Stirner historisch gegen den „idealistischen Universalismus Hegels“ vorgenommene „Zuspitzung des Persönlichkeitsgedankens“ (S. 126) wird das „menschliche Einzelwesen [. . .] ethisch aus den Bindungen des vernünftigen Geistganzen des sittlichen Sozialkörpers herausgelöst und auf sich selbst gestellt.“ (S. 99) In seinem radikalen „Gegensatz zum Ganzheitsdenken“ (S. 122), löst Stirner, wie Mautz in organizistischer Metaphorik konstatiert, „auch die unterstaatlichen Gemeinschaftskörper der ‚Familie‘ und der ‚bürgerlichen Gesellschaft‘ auf“ (S. 127). Trotz dieser anti-organizistischen bzw. anti-universalistischen Opposition des Einzigen betont Mautz wie Sveistrup und in der Terminologie Simmels430, daß Stirner kein Vertreter eines „quantitativen Individualismus 429 Hans G. Helms, in dessen ideologiekritischer Perspektive das nationalsozialistische Deutschland als „Reich der Einzigen“ erscheint (Helms (1966), S. 473) und der mit Blick auf Mautz feststellt, daß „1936 [. . .] in Deutschland der einzig legitime und realisierbare ‚schöpferische Wille‘ eines Einzigen der Wille Adolf Hitlers“ war (Helms (1966), S. 159), will Mautz für seine kritische Sicht auf Stirner sogar eine versteckte Kritik an Hitler zugestehen: „Mautz war freilich schon sehr mutig zu schreiben: ‚Um sich in dem Labyrinth systemloser Gedankengänge zurechtzufinden und zum eigentlichen Kern vorzudringen, gilt es vor allem jene Fassade des subjektivistischen Titanismus zu durchstoßen, an die sich vulgäre Auffassungen zu halten pflegen.‘ Wenn der Leser damals, 1936, statt an Stirner und den ‚Einzigen‘ dabei an Hitler und ‚Mein Kampf‘ gedacht hätte, die Folgen hätten letal sein können.“ (Helms (1966), S. 197; vgl. Mautz (1936), S. 6) – Unabhängig davon, welche Intentionen Mautz man dafür zuschreiben mag – und Helms selbst ist sich dabei nicht recht einig (vgl. Helms (1966), S. 159 f.) –, ist Mautz’ Deutung des Einzigen wissenssoziologisch im Kontext jenes offiziellen Selbstverständnisses zu verstehen, zu dessen ‚Individualismus‘-Konstruktion sie effektiv beiträgt, nicht zuletzt durch die Aufnahme in die Neuen Deutschen Forschungen beglaubigt. – Helms’ eigene diesbezügliche Unsicherheit erklärt sich aus der ambivalenten Haltung, die Faschismus und Marxismus in Fragen des ‚bürgerlichen Individualismus‘ zu- und gegeneinander einnehmen: eigentlich müßte man sich gegenseitig zustimmen, will sich aber auch gegenseitig als ‚bürgerlich-individualistisch‘ denunzieren. 430 Siehe oben, VI. 4. b) aa).

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[ist], der aus atomistischen Einheiten und Strebungen ein höheres Ganzes konstruiert“ (S. 63). Vielmehr ist „Stirners ‚Individualismus‘ [. . .] ebensosehr von dem aufklärerischen Individualismus der liberalistischen Theorien wie von dem romantisch-organischen Ganzheitsdenken des Hegelschen Universalismus entfernt.“ (S. 63) Wie Sveistrup gesteht Mautz Stirner also eine ‚dritte‘ Position zu, jenseits von atomistischem Individualismus und antiindividualistischem Universalismus. Und wegen der „eigentliche[n] ‚lebensphilosophische[n]‘ Ausrichtung des Stirnerschen Denkens“, die Mautz in dessen „radikale[m] Rekurs [. . .] auf den Punkt (Ich = Nichts) der Existenz“ erblickt (S. 62), qualifiziert er Stirners „Standpunkt“ als „individualistischlebensphilosophisch“.431 Auch in der Klassifizierung Stirners als ‚Lebensphilosoph‘ stimmt Mautz also mit Sveistrup überein, und wie dieser spricht er vom „erkenntnistheoretischen Nominalismus“ Stirners (S. 99) und bezeichnet dessen „Ausgangspunkt als einen ‚pragmatischen‘ im Gegensatz zum metaphysisch-religiösen des klassischen Idealismus.“ (S. 56) Mit dem Hinweis, daß „Stirner von einer ‚pragmatischen‘“ Voraussetzung ausgeht, welche er „unter dem Begriff des ‚Interesses‘“ entwickelt (S. 51) und die auf den „Eigner“ (S. 57) und den Stirnerschen „Willensbegriff“ zielt,432 ähnelt Mautz’ Interpretation der Je-Einzigkeit derjenigen Sveistrups wiederum terminologisch und konzeptionell.433 Wie bei Sveistrup kennzeichnet ‚pragmatisch‘ und ‚lebensphilosophisch‘ auch bei Mautz die antimetaphysische und antiideologische Stoßrichtung der Stirnerschen Argumentation. „Stirners polemischer Ideologiebegriff ist ebenso wie der Perspektivismus Nietzsches, der die geschichtlichen Formen der Kultur, Moral usw. auf verschiedene seelische, lebensmäßige Grundverfassungen naturgeschichtlich reduziert, von einem individualistisch-lebensphilosophischen Standpunkte bestimmt.“ (S. 67) Von diesem aus „[b]ekämpft Stirner die Eigenständigkeit der Ideen als ‚Ideologie‘, die das konkrete, persönliche Dasein der menschlichen Existenz nicht erfaßt“ (S. 67). Anders als Sveistrup aber, der von Stirners ‚Verteidigung des Lebens gegen den Nihilismus des Ideals‘ gesprochen und somit Stirners ‚Lebensphilosophie‘ dem ‚Nihilismus‘ ausdrücklich entgegengesetzt hatte, bezeichnet Mautz Stirners „Lebensphilosophie“ (S. 66) aufgrund ihrer ‚individualistischen‘ Grundlage und ‚Preisgabe‘ der „überindividuellen [. . .] Wertmaßstäbe“ (S. 66) zugleich als „Stirnerschen Nihilismus“ (S. 67). Indem dieser 431

Mautz (1936), S. 67, vgl. S. 66 ff., 121. Mautz (1936), S. 98 – H. i. O., vgl. S. 100 f. 433 Vgl. auch oben die Anmerkung zum Zusammenhang von Pragmatismus und Personalismus; hierzu gehören auch Mautz’ Charakterisierungen Stirners als ‚voluntaristisch‘, ‚dynamistisch‘ und ‚antiintellektualistisch‘. 432

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sich auf die „Personalität des leibhaft existierenden Ich, die ‚Einzigkeit‘ des menschlichen Individuums als die unmittelbare Gewißheit“ stützt,434 „glaubt“ er sich „jenseits aller ‚Ideologien‘ zu einer positiven Philosophie zu retten“ (S. 67). Wenn man aber „den Stirnerschen Individualismus selbst auf seinen ‚ideologischen‘ Charakter hin“ prüft, kann man Mautz zufolge erkennen, daß Stirners „Opposition gegen diese angeblichen Ideologien öffentlichen, allgemeinverbindlichen Charakters“ nur „einer neuen ideologischen Befangenheit Tür und Tor“ öffnet (S. 67 – H. v. A. S.). Mautz zufolge sieht „Stirner [. . .] den ideologischen Charakter der religiösen, humanitären, klassisch-idealistischen Ideen in einer Bewußtseinstäuschung, nämlich in der Bindung, ‚Fixierung‘ des individuellen Bewußtseins an überindividuelle, subjektfremde und allgemeinverbindliche Wertvorstellungen.“ (S. 67) Indem Stirner diese aber unter Berufung auf die „irrationale[] Ausschließlichkeit des Einzigkeitserlebnisses“ bekämpft, „liefert er das Bewußtsein des einzelnen Menschen der unkontrollierbaren Innerlichkeit der Subjektivität aus. An Stelle der Kollektiv-‚Ideologie‘ tritt damit nur die Privat-‚Ideologie‘ des einzelnen Individuums.“ (S. 67 f.) Übereinstimmend mit Sveistrup erkennt Mautz also in Stirner den lebensphilosophisch motivierten, pragmatisch, nominalistisch und psychologisch argumentierenden, anti-‚universalistischen‘ Ideologiekritiker, betont aber, anders als Sveistrup, zugleich den nihilistischen und seinerseits ideologischen Charakter des Stirnerschen Individualismus. (2) Individualismus als Krisensymptom des bürgerlichen Bewußtseins Solche Abweichungen435 sind symptomatisch für die – Autoren wie Sveistrup oder auch Nettlau entgegengesetzte – Grundtendenz in Mautz’ Bewertung des Einzigen insgesamt, die sich vor allem in der Einschätzung der 434 Hier ist wiederum zu sehen, wie Mautz Löwiths begriffliche Unterscheidung von ‚Personalität‘ und ‚Individualität‘ unterläuft, indem er beides in der ‚Einzigkeit‘ gleichsetzt. 435 Teilweise auch nur in Nuancen, etwa, wenn Mautz in Sveistrups Sinne auf Stirners ‚sozialtheoretische‘ Unterscheidung von „Gemeinschaft, Gesellschaft, Verein“ rekurriert, dabei aber die „Nation“ der „Gemeinschaft“ zuschlägt und den von Sveistrup zentral herausgearbeiteten Aspekt der ideologischen Naturalisierung ‚gesellschaftlicher Gebilde‘ außen vor läßt (Mautz (1936), S. 125). Eine ähnliche Abweichung liegt vor, wenn Mautz zunächst Sveistrups Rekonstruktion der Stirnerschen „Lehre von den drei Seelenteilen [. . .] Trieb, Geist und Wille“ folgt und betont, daß „der Stirnersche Begriff des ‚Egoismus‘ nicht die blinde Handlungsfreiheit, sondern den ethisch zu qualifizierenden personalen Vollzug des sittlichen Handelns bezeichnet“, den man nicht mit dem „Egoismus“ in „seinen vulgären Bedeutungen, mit einem hedonistischen Eudämonismus etwa, ohne weiteres gleichsetzen darf“, dann aber „eine gewisse Sympathie Stirners mit dem instinktiv durch den Trieb geleiteten, quasi ‚Vulgär-Egoisten‘“ konstatiert (Mautz (1936), S. 102 f.).

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sozialen Welt der Je-Einzigen bekundet. Wo Nettlau und Sveistrup – in der Deutungstradition Rudolf Stammlers, der ja bereits in den 1890er Jahren den antisozial-destruktiven Exzessen des anarchistischen Terrorismus ausdrücklich Stirners ‚sozialen Anarchismus‘ entgegenstellte436 – in der Weimarer Zeit die soziale Kompatibilität des ‚antiautoritären‘ und ‚pragmatischen‘ Einzigen betonen und die auf eine so verstandene Je-Einzigkeit gegründete postideologische soziale Ordnung als Gegenentwurf zu den von den zeitgenössischen antiliberalen Bewegungen propagierten – und zu diesem Zeitpunkt in der Sowjetunion und Italien bereits realisierten – totalitären Herrschaftskonzeptionen verstanden, hebt Mautz, drei Jahre nach dem Untergang des liberalen Weimarer ‚Systems‘, die „antisoziale, individualistische Haltung“437 dieses Einzigen hervor. Vom Standpunkt der nationalsozialistischen Diktatur kann das, was ihrer totalitären Herrschaftsform konzeptionell als individualistische Sozialordnung entgegengesetzt wurde, keine wirkliche Ordnungsalternative sein. Was Nettlau und Sveistrup vor der nationalsozialistischen Diktatur noch als realisierbare soziale Ordnung ‚antiautoritärer‘ bzw. ‚pragmatischer‘ Je-Einziger interpretiert hatten, erscheint jetzt bei Mautz als eine Utopie sozialer Instabilität. „Stirners anarchistische Utopie des ‚Vereins‘ bedeutet im Gegensatz zu jenen von einer festen, unveränderlich im Prozeß der zeitlichen Vergänglichkeit beharrenden ‚Substanz‘ getragenen Formen der menschlichen Gemeinschaft eine dynamisch in sich bewegte ‚Vereinigung‘ einzelner Egoismen, die freiwillige Übereinkunft verschiedener egoistischer Interessen, deren Bestand [. . .] jederzeit aufgekündigt werden kann.“ (S. 131) Er ist keine dauerhafte soziale Ordnung, sondern nur die „freiwillige Vereinigung einzelner Individuen aufgrund spontaner Übereinkunft und unter Befolgung ihres augenblicklichen egoistischen Interesses.“ (S. 131) Stirners „grundsätzliche[] Front gegen das Prinzip der geistigen Bindung“, das sich in seiner „Gesellschaftsauffassung“ als Ablehnung jeder „geistigen ‚Gebundenheit‘“ in „‚Gemeinschaft‘ und ‚Gesellschaft‘“ ausdrückt, „gipfelt also letzten Endes in einer antisozialen Einstellung schlechthin“ (S. 126). Mit „seinem ‚sozialen‘ Ideal des ‚Vereins‘“ (S. 128) tritt „Stirner für eine uneingeschränkte, unmittelbar ‚egoistische‘ Form des Gesellschafts- und Wirtschaftslebens ein“ (S. 130). Neben sittlichen und religiösen ‚Schranken‘ sollen im ‚Verein‘ insbesondere diejenigen fallen, die dem „‚egoistisch‘ begründeten ‚Verkehr‘ der freien Einzelmenschen untereinander“ und ihrem Aneignungsstreben durch das staatlich sanktionierte Recht gesetzt werden (S. 128). Hier soll an die „Stelle der Verbindung von 436

Siehe oben, VII. 2. a) aa). Mautz (1936), S. 130, vgl. S. 126 f. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich in diesem Unterabschnitt weiterhin auf Mautz (1936). 437

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Eigentum mit Recht“, die die ‚bürgerliche Gesellschaft‘ kennzeichnet, die „Verbindung von Eigentum und Gewalt“ treten, womit „Stirner eine außerordentliche Verschärfung des Gedankens des Privateigentums“ vornimmt: für ihn stellt die „rechtliche[] Sanktion des Privateigentums“ eine Form der Enteignung dar, weil sie das Eigentum unter den Vorbehalt staatlicher Anerkennung stellt, wohingegen es tatsächlich „in der persönlichen Gewalt des Einzelnen wurzelt“, der sich damit als ‚Eigner‘ selbst behauptet (S. 129).438 Die Antisozialität des Einzigen – und der sozialen Welt der Je-Einzigen – ist in Mautz’ Interpretation letztlich nur der deutliche Ausdruck derjenigen des „bürgerlichen Individualismus“ (S. 136), den Stirner im Ausgang vom liberalistischen Willens- und Eigentumsverständnis radikalisiert. „Wir haben so in Stirners ‚anarchischem Individualismus‘ (Max Schelers Bezeichnung!) nichts anderes als eine Fortbildung des Liberalismus zu sehen“ (S. 130). Nicht zuletzt in seiner „antistaatliche[n] Tendenz“ (S. 126) gibt sich Stirners ‚anarchischer Individualismus‘ als „Standpunkt des extremen Liberalismus“ zu erkennen (S. 129). Sein ‚soziales Ideal‘ des ‚Vereins‘ und ‚Verkehrs‘ von ‚Egoisten‘ entpuppt sich als der liberal-bourgeoise Traum von der in jeder Hinsicht grenzenlosen Handels- und Akkumulationsfreiheit, rechtlich unbeschränkt und sozial rücksichtslos. Stirners „Streben nach ‚Exklusivität‘ und Autonomie des Individuums gegenüber der Heteronomie religiöser, staatlicher, gesellschaftlicher Bindung [. . .] ist das Prinzip des bürgerlichen Individualismus, das als Philosophie des Egoismus in brutalisierter Form erscheint.“ (S. 136) Mit diesem Befund schließt Mautz offensichtlich – allerdings unausdrücklich439 – an Plechanows Ideologiekritik des Einzigen an.440 So schreibt 438

Damit unterläuft Stirner Hegels Unterscheidung von ‚Eigentum vs. Besitz‘; ob dies eine ‚Verschärfung‘, oder doch eher eine Auflösung des Privateigentums-Begriffs ist, mag man diskutieren. 439 Mautz’ Literaturverzeichnis nennt, außer dem sozialdemokratischen Historiker Gustav Mayer, keinen der ausgewiesenermaßen marxistischen Autoren, die im vorliegenden Zusammenhang bisher behandelt wurden. Dies ist um so auffälliger, da er – ähnlich wie der selbstverständlich auch bei ihm zitierte Sveistrup – ansonsten einen großen Teil der Stirner-rezeptionsgeschichtlich relevanten Beiträge anführt, inklusive u. a. der bei Sveistrup vernachlässigten Arbeiten zum Anarchismus und zum Verhältnis Stirners zu Nietzsche; darin zeigt sich wiederum der diskursive Zusammenhang der Stirner-Rezeptionsgeschichte: von beispielsweise Hansson, Schellwien, Hartmann und Mackay, über Stammler, Zenker, Eltzbacher, G. Adler und Lucchesi, Simmel, Ruest, Messer, Schultheiss, Lachmann bis zu R. Engert, Nettlau, Löwith und eben Sveistrup. Da diese alle – und einige mehr – bei Mautz genannt werden, fällt das Fehlen eines für seine Deutung offensichtlich so wichtigen Autors wie Plechanow auf, aber auch die Nichtnennung anderer wichtiger marxistischer Stirner-Interpreten wie Mehring und insbesondere Max Adler. Besonders deutlich schließlich wird das zeitgemäße Bemühen, nicht erkennbar zu machen, was diese Stirner-Deutung dem marxistischen Diskurs verdankt, dort, wo Mautz sich auf die bekanntlich

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Mautz in den nationalsozialistisch lizenzierten Neuen Deutschen Forschungen das seitens der marxistischen Ideologiekritik bereits etablierte Bild des ‚bürgerlichen Individualisten‘ Stirner fort, variiert es und gewinnt ihm überdies noch originelle eigene Einsichten ab, die ihrerseits spätere marxistische Entlarvungen ‚bürgerlicher‘ Rebellionsphänomene wie des Existentialismus vorwegnehmen.441 In Anlehnung an Georg Adlers historisch-materialistisch inspirierte, wissenssoziologische Überlegungen zur Boheme erkennt Mautz in Stirners individualistisch-existentialistischer Weltanschauung eine „Paraphrase über Genialität, eine Darstellung des bürgerlich-individualistischen Geniebegriffs“ (S. 132), in der sich zugleich dessen „Krise“ ausdrückt (S. 137). Wie Mackay, Joël u. a. gezeigt hatten, war Stirner „der Philosoph der vormärzlichen Berliner Intellektuellen-Bohème.“ (S. 130) Und wie der von Mautz bibliographisch angeführte Georg Adler wissenssoziologisch unter Verwendung Marxscher Kategorien analysiert hatte, ist „[d]er ‚Einzige und sein Eigentum‘ [. . .] der philosophische Ausdruck der sozial entwurzelten Bohème“ schlechthin (S. 130). „Die Bohème ist dadurch charakterisiert, daß sie einerseits aus der durch Arbeitsteilung rational bestimmten ‚bürgerlichen‘ Gesellschaft herausfällt, andererseits aber nolens volens selbst eine spezifisch ‚bürgerliche‘ Kunst und Philosophie liefert, indem ihre Art von Produktivität, die sich zwar in ihrer Äußerungsform in posierten Gegensatz zu allem ‚Bürgerlichen‘ stellt, als ‚Ausdruck‘ gerade innerhalb des ‚bürgerlich‘-gesellschaftlichen Ganzen durchaus ihre Stelle und Funktion und ihren tragenden Hintergrund hat.“ (S. 130 f.) Und mit dieser Wendung nähert sich Mautz gegenüber Georg Adler, der das weder ‚bourgeoise‘ noch ‚proletarische‘ ‚Lumpenproletariat‘ zum Träger individualistischer Je-Einzigkeit gemacht hatte, wiederum stärker der marxistischen Ideologiekritik im engeren Sinne an, wenn er den antibürgerlich ‚posierenden‘ Individualismus als ‚bürgerlich‘ entlarvt. So ist es „für Stirners antisoziale, individualistische Haltung“ zwar „[t]ypisch“, daß er „auf Schritt und Tritt“ eine „Satire des erst vier Jahre zuvor vollständig erschienene, deshalb etwa von Sveistrup immer wieder explizit herangezogene Deutsche Ideologie bezieht, wenn er im Anschluß an Marx und Engels von Stirners „Donquichotterien“ spricht, aber dieses Wort nur vage der „zeitgenössische[n] Kritik von 1845“ zuschreibt (Mautz (1936), S. 68; vgl. z. B. Marx/Engels (1845/46), S. 324 ff., 356 ff.). Ob es sich hierbei um Opportunismus oder um ein vorsichtig verklausuliertes Bekenntnis handelt, ist schwer zu entscheiden; jedenfalls tauchen Marx und Engels auch im Literaturverzeichnis nicht auf. Für den Stirner-Diskurs im nationalsozialistischen Deutschland ist entscheidend, daß man Stirner ideologiekritisch als ‚bürgerlichen Individualisten‘ entlarven konnte, ohne sich dafür auf marxistische Literatur zu berufen. 440 Daher auch die vorsichtige Zustimmung, die Helms Mautz entgegenbringt (vgl. Helms (1966), S. 49 f., 69 f., 196 f.). 441 Vgl. z. B. Holz (1976); siehe unten, VIII. 3. a).

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seßhaften ‚Bürgers‘“ liefert (S. 130) und „das ‚Juste Milieu‘“, die bourgeoise Mediokrität und Konformität, „geißelt“ (S. 131). Aber in seiner ideologischen Verblendung „karikiert [Stirner] den ‚Bürger‘, ohne zu ahnen, wie gerade in diesem Unternehmen noch sein Denken sich als ‚bürgerlich‘ erweist. Stirner vertritt eben nur nicht mehr den loyal-saturierten, sondern den anarchisch-‚empörten‘ Typ des Bourgeois, der Sturm läuft gegen die bestehende Ordnung, ohne politisch revolutionär sein zu wollen.“ (S. 131) In seiner bloß ‚rebellischen‘, nicht ‚wahrhaft revolutionären‘ Attitüde erweist sich Stirner als zutiefst ‚bürgerlich‘. Hierin greift Stirner, als „Bildungsphilister mit atavistischen Neigungen“ (S. 131), auf eine ältere Schicht der bürgerlichen Kulturgeschichte zurück, die Genie-Figur, die „der ‚Sturm und Drang‘ [. . .] als Gestalt des ewigen Revolutionärs“ konzipiert hatte (S. 132), als „die übergeschichtliche Erscheinung der Empörernatur, die [. . .] als irrationale originale Schöpferkraft auftritt“ (S. 134). So lebt der „Geniebegriff des ‚Sturm und Drang‘ [. . .] im Stirnerschen Begriff der ‚Empörung‘ fort“ (S. 133). Im ‚irrationalistisch-individualistischen‘ Einzigen (vgl. S. 47 ff.) erkennt Mautz die späte Ausprägung jener „schöpferische[n] Natur, die in Protest zur Konvention steht und deren revolutionäre Innerlichkeit sich in den elementaren Phantasmagorien der künstlerischen Phantasie entlädt. [. . .] Gegen den mechanistischen Gesetzesbegriff der Aufklärung stellt der ‚Sturm und Drang‘ die chaotische Innerlichkeit des Genies. Es befolgt nicht Gesetze, sondern wird bezeichnet durch die elementare Unmittelbarkeit des Anorganisch-Eruptiven. Im Reiche des Natürlichen findet dies seinen Ausdruck in den Darstellungen der Perversionen und Anomalien: Brudermord, Kindesmord, Fraß menschlicher Leichen, Inzest usw.“ (S. 132) Im Kult des Abnormen äußert sich, als symbolische Aggression gegen die Konvention, der „prometheische Frevelmut des genialen Individuums, der ‚Kraftnatur‘, des ‚genialischen Menschen‘“ (S. 133). Dies ist es, was bei Stirner „als Empörung gefeiert“ wird (S. 133) und als „individualistischer Kultus der freien Persönlichkeit und des Genies [. . .] in seinem ‚Immoralismus‘ Ausdruck“ findet (S. 135). Dabei erweist sich der Stirnersche „Einzige“, und erst recht seine späteren Nachbildungen, bereits als „das depravierte ‚Genie‘ des bürgerlichen Individualismus“ (S. 136), seine dekadente und degenerierte Variante, in der sich „die ‚Krise‘ des individualistischen Geniebegriffs“ kundtut (S. 137). Die antiintellektualistischen Versuche der „Stirnerschen Esoterik“, theoretische Konstrukte wie „Eigenheit“ und „Einzigkeit“, die nicht als „wissenschaftliche[] Kategorien“, sondern als „Namen“ gemeint sind, die „auf einen irrationalen, wissenschaftlich nicht erfaßbaren Erlebnisinhalt“ hinweisen, mit „ekstatische[r] Qualität“ und „affektive[m] Pathos“ aufzuladen, scheitern (S. 137). Stirners bloß theoretische „Esoterik“ des Einzigen steht

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im Gegensatz zu „jeder echten Esoterik“, deren „charismatische Substanz [. . .] in unmittelbarer Gestalt als Dichter-, Priester-, Führertum usw. gegenwärtig ist“ (S. 137 – H. i. O.). Deshalb ergeht sie sich in Ermangelung solchen „naturhaft-organische[n] Gepräge[s]“ (S. 137) statt dessen in „mephistophelische[r] Spekulation“ und „blasphemische[m] Pathos“ und mündet in den individualistischen Immoralismus (S. 138).442 Die im Einzigen sich manifestierende Verfallsform des bürgerlich-individualistischen Genies „erscheint von Haus aus als ‚Verbrecher‘. Es ist das Verbrechertum als ursprünglicher prometheischer Frevel, als ‚Urhandlung‘ der ‚Empörung‘ des ‚eigenen‘ Menschen, des ‚Einzigen‘, das zum Genie disponiert und dieses vom Herdentypus des ‚sittlichen Menschen‘ unterscheidet. Stirner vertritt den modernen ‚Immoralismus‘, dem man in der modernen Literatur z. B. in der Strömung des sog. ‚Satanismus‘ begegnet und der schließlich zur Pubertätsphilosophie der bürgerlichen Jugend herabgesunken ist. In diesem Zusammenhang vergleiche man als Parallele wieder Nietzsche-Zarathustras Sympathie mit dem Verbrecher“ (S. 135). Mautz sieht Stirner also in einer ‚bürgerlich-individualistischen‘ Rebellionstradition, zu der er neben dem Sturm und Drang, Nietzsche und dem Satanismus u. a. auch die modernen literarischen Strömungen des „Naturalismus“ und „Expressionismus“ rechnet (S. 138 f.). Mit dem den Einzigen als Empörer charakterisierenden Hinweis auf die mythologischen Archetypen des Rebellen, Prometheus und Satan, wird zugleich die von Nettlau bekannte antiautoritäre Motivwelt zitiert, der auch letzterer den Einzigen – anders als Mautz in affirmativer Absicht – eingeschrieben hatte. Im Zentrum dieser Motivwelt steht Mautz zufolge bei Stirner und seinen Nachfolgern die „antihistorisch[e]“ (S. 126) Vorstellung von der „übergeschichtliche[n] Erscheinung der Empörernatur“, die „als irrationale, originale Schöpferkraft auftritt“ (S. 134). Die darin beobachtbare Tendenz, die „Rebellion schlechthin“ zur „naturhaft-ewige[n] Kategorie“ (S. 133) zu erklären, weist nochmals den bürgerlich-ideologischen Charakter des Individualismus in seinem Mangel an historischer und sozialwissenschaftlicher Reflexion aus: der ‚Empörer‘ und seine ‚Rebellion‘ werden „weder historisch noch psychologisch noch überhaupt wissenschaftlich erfaßt, sondern als spontanes Naturphänomen“ konstruiert, also ideologisch naturalisiert (S. 133 f.). Damit dreht Mautz den von Nettlau und Sveistrup mit Stirner geschmiedeten ideologiekritischen Spieß um. Der von Nettlau propagierte antiautoritäre Kampf gegen die Herrschaft und ihre Ideologien beglaubigt 442

Zugleich ist dieser Nihilismus – und darin liegt für Mautz „der tiefere Wahrheitsgehalt des ‚Einzigen und seines Eigentumes‘“ – der „Ausdruck eines in die ausweglose Immanenz eines gnadenlosen Schöpfungsstandes verstrickten Bewußtseins“ (Mautz (1936), S. 138), das die Welt nicht mehr als „ewige gottgewollte Ordnung“ zu erkennen vermag und noch nicht zu neuen Bindungen gefunden hat (S. 139).

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sich Mautz zufolge aus der antihistorischen Rebellionsideologie. Und Sveistrups Dekonstruktion der ideologischen Naturalisierung von Herrschaft im Organizismus beruht demnach auf der ideologischen Naturalisierung ‚anorganisch-eruptiver‘ Individualität. Die diskursive Verbürgerlichung des Einzigen schreitet voran und über die ideologischen Gegensätze hinweg. Im nationalsozialistischen Deutschland erscheint auch die antibürgerliche Stoßrichtung des Individualismus als die ihrerseits ‚bürgerliche‘ Attitüde eines nunmehr überwundenen ‚Zeitalters‘. In der marxistischen Ideologiekritik war die Verbürgerlichung des Einzigen schon vor dem Ersten Weltkrieg beobachtbar, paradigmatisch in Plechanows Entlarvung des Anarchismus als einer Variante bürgerlicher Ideologie.443 Die Stoßrichtung dieser Ideologiekritik ging damals sowohl auf die Diskreditierung eines Rivalen im revolutionären Lager als auch auf die Kritik der bestehenden, bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die solche individualistisch-exzessiven Blüten wie den anarchistischen Terrorismus treibt; in beiden Hinsichten wurde die Notwendigkeit und Dringlichkeit eines marxistisch geführten Klassenkampfes zur Überwindung der bestehenden Gesellschaft aufgewiesen, und die Decouvrierung des bürgerlichen Charakters des Einzigen war hierfür von zentraler Bedeutung. Denn noch war nichts entschieden: daß die Revolution kommen würde, war zwar wissenschaftlich bewiesen, aber wann dies sein würde, war noch offen und hing, bei aller Einsicht in die objektive Notwendigkeit der historischen Entwicklungsprozesse gerade bei Plechanow und den meisten Theoretikern der Zweiten Internationale, entscheidend auch vom subjektiven Faktor, dem Verhalten des Proletariats und seiner Partei ab. Man konnte nicht eindringlich genug darauf hinweisen und ideologiekritisch darüber aufklären, was es mit rebellischen Figuren wie dem Einzigen und Ideologien wie dem Anarchismus in Wahrheit auf sich hatte, denn das Wissen um deren bürgerlichen, faktisch konterrevolutionären Charakter war noch keineswegs selbstverständlich. Es gab diesbezüglich sogar Einsprüche aus dem eigenen, marxistischen Lager, wie oben an Max Adlers Stirner-Apologetik zu sehen war. Jetzt, im postrevolutionären Zeitalter des Totalitarismus, ist die Lage eine andere. bb) Meyers Lexikon 1936/39 Aus Sicht des siegreichen Totalitarismus ist der ‚bürgerliche‘ Charakter des Einzigen und seines Anarchismus und Individualismus zur fraglosen Selbstverständlichkeit geworden. Der Anspruch des Einzigen, eine sozialprogrammatische Alternative zur bürgerlichen Welt darzustellen, muß nicht 443

Siehe oben, V. 4. b).

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mehr ideologiekritisch entlarvt werden, weil diese Welt in den totalitären Revolutionen der neuen antibürgerlichen Bewegungen überwunden wurde – und der Einzige mit ihr. Er ist mit der Welt untergegangen, gegen die er sich empört hatte, und darin bestätigt sich, wie sehr er dieser Welt angehörte. Der Erfolg gibt dem Sieger Recht. Aber zugleich zeigt der neugewonnene Rückblick auf das Untergegangene, wie wichtig dieser Sieg war und wie notwendig es ist, in dieser Richtung fortzuschreiten. Denn auch, wenn das, wofür der Einzige steht, vorerst unschädlich gemacht wurde, so war es doch keineswegs harmlos, und der Kampf muß daher fortschreiten, bis es vollständig vernichtet ist. Diese Sicht wird in besonders drastischer Weise deutlich an den vom gleichgeschalteten Standpunkt des siegreichen Nationalsozialismus444 geschriebenen Artikeln über ‚Anarchismus‘, ‚Individualismus‘ und ‚Liberalismus‘ in Meyers Lexikon aus den Jahren 1936 und 1939. Hinter der vordergründigen Vielfalt der ideologischen Ströme der bürgerlichen Welt und ihrer als schädlich diffamierten Erscheinungen wird hier das Judentum mit seinen verschwörerischen Aktivitäten als Kern des Ganzen kenntlich gemacht, auf dessen ‚Einfluß‘ immer wieder hingewiesen wird. In diesem Kontext ist das wenige, aber um so Einschlägigere zu verstehen, das sich zu Stirner findet. Die Bedeutung der Stirnerschen Ideen ergibt sich hier aus dem paranoischen Wahnsystem des Antisemitismus. Aber anders als bei Schultze, dessen Psychotikerin sich selbst als Einzige gebärdete, und anders als bei Zenker, der im Antisemitismus eine Pathologie und im Antisemiten Dühring einen größenwahnsinnigen Einzigen erkannte,445 wird der Einzige diesmal auf der anderen Seite verortet; er gehört zu den Feinden des Nationalsozialismus. Der Anarchismus-Artikel erklärt, daß sich der Anarchismus „[t]heoretisch [. . .] gegen jede auf Zwang beruhende Ordnung [wendet], [. . .] aber praktisch zur völligen Auflösung der Ordnung überhaupt“ kommt.446 Er „spricht dem Einzelnen das Recht der letzten Entscheidung über alle sittlichen, politischen und wirtschaftlichen Fragen zu“, wobei in letztgenannter Hinsicht der Anarchismus entweder „individualistisch (Stirner) oder kommunistisch (Proudhon; ‚Eigentum ist Diebstahl‘)“ ist. Insgesamt ist der Anarchismus „die folgerichtige Fortsetzung des " Liberalismus und die krasseste Form des " Individualismus“. Seine „Kampfmethoden (Verbrechen und " Attentate)“ wurden in Rußland vom „Bolschewismus“ übernommen und gehen auf „Stirner und Bakunin“ zurück, die die „Berechtigung und Verpflichtung zur ‚direkten " Aktion‘ und zur ‚Propaganda der Tat‘“ behaupteten. Stirner 444 445 446

Vgl. Nolte (1963), S. 420 ff. Siehe oben, IV. 1. und V. 3. a) dd). Meyers Lexikon (1936), S. 364.

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ist überdies derjenige, der den Anarchismus „[i]n Deutschland [. . .] hauptsächlich vertreten“ hat.447 Stirner ist also eindeutig ein Hauptvertreter des Anarchismus, der aber einerseits eine extreme Form nicht nur des Individualismus, sondern auch des Liberalismus ist, und andererseits zugleich auf den Bolschewismus verweist, der die von Stirner maßgeblich mitentwickelten verbrecherischen Kampfmethoden des praktisch jede Ordnung auflösenden Anarchismus übernommen hat. Dieser Zusammenhang von Anarchismus, Individualismus, Liberalismus und Bolschewismus, von Auflösung und Verbrechen, in dem der Einzige hier präsentiert wird, erhellt sich zunächst durch die abschließende Feststellung des Anarchismus-Artikels: „Bes[onders] stark ist der Anteil des Judentums am A[narchismus], angefangen vom ‚Kommunistenrabbi‘ Moses Heß bis zu den ‚Edelanarchisten‘ Mühsam und Landauer.“448 Der Individualismus-Artikel verdeutlicht diesen Zusammenhang unter Berufung auf Alfred Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts und bezieht explizit die politisch-doktrinäre Bewertung des Phänomens bereits in seine Definition ein. Wurde der Anarchismus zuvor als ‚krasseste Form des Individualismus‘ bestimmt und auf den entsprechenden Artikel verwiesen, so beginnt nun der Eintrag zu diesem Stichwort: „Individualismus (neulat.), eine vom Nationalsozialismus aufs schärfste abgelehnte weltanschaul[iche] Haltung, die das von der Gemeinschaft losgelöste Einzelwesen (lat. individuum, ‚das Unteilbare‘) in den Mittelpunkt stellt und nur ihm Bedeutung, Wert und Wirklichkeit zumißt.“449 Der Grund für diese schärfste Ablehnung des Individualismus durch den Nationalsozialismus ist schnell erklärt: Der Individualismus ist ihm Ausdruck einer für die rassisch-völkische Gemeinschaft lebensbedrohlichen Erkrankung des Blutes.450 Bereits in der griechischen Antike „[e]ntspringt“ der Individualismus aus dem ‚Zerfall‘ der „Blutgrundlagen des völkischen Lebens“, aus „einer Zerstörung der Blutwelt“.451 Unter diesem Aspekt ganz anders zu bewerten ist dagegen „der sog[enannte] I[ndividualismus] der anbrechenden Neuzeit [. . .], der im Kraftideal des Renaissancemenschen und im Freiheitsbegriff Luthers die kirchlich-universalist[ischen], der Vollentfaltung einer völkischen Wirklichkeit entgegengesetzten Schranken zu sprengen suchte. Wenn diese Wirklichkeit auch erst mit der nat[ional]-soz[ialistischen] Revolution wieder ersteht, so erhält doch gerade die Zeit der Reformation schon einen auf die Gegenwart hinzielen447 448 449 450 451

Meyers Lexikon Meyers Lexikon Meyers Lexikon Vgl. auch Nolte Meyers Lexikon

(1936), S. 364. (1936), S. 364. (1939a), S. 187 – H. i. O. (1963), S. 502 ff. (1939a), S. 187.

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den Ansatz.“452 Allerdings liegen „[z]wischen jener Zeit und der Gegenwart [. . .] schwere individualist[ische] Fehlentwicklungen, hervorgerufen durch gewisse Züge der Aufklärung u[nd] der Romantik sowie durch das Eindringen des jüd[ischen] Geistes und des Liberalismus des 19. Jh.“453 Schon bei den „z. T. jüdisch beeinflußten Romantikern [macht sich] ein äußerst verderbl[icher] I[ndividualismus] breit, der im Streben nach Bildung und Schönheit jedem Wirken in der Gemeinschaft abgeneigt ist und das Ich in ästhet[ischen] Stimmungen und Gefühlen schwelgen und sich selbst genießen läßt. Diesem ästhet[ischen] I[ndividualismus], für den der geistige Hochmut des ‚Gebildeten‘ kennzeichnend ist, tritt im Zeitalter des Liberalismus der wirtschaftl[iche] I[ndividualismus] an die Seite, für den die schrankenlose Profitgier des verantwortungslos und wurzellos gewordenen Einzel-Ichs oberster Grundsatz ist. Der Bolschewismus zeigt, daß die universalistisch-marxistische Internationale mit ihrem Kollektivismus, der jenem liberalist[ischen] Ausbeutertum zu steuern vorgibt, selbst nur wieder zu einem brutalen I[ndividualismus] des Verbrechertums führt.“454 Verbrecherischer Bolschewismus und Ausbeuter-Liberalismus werden als zwei nur scheinbar entgegengesetzte Ausdrucksformen derselben individualistisch-jüdischen Wurzellosigkeit entlarvt, die die völkische Gemeinschaft durch Blutvergiftung und Auflösung bedroht; in dem plebejischen Einschlag von Intellektuellenfeindlichkeit, mit dem gegen den ‚Hochmut des Gebildeten‘ gewettert wird, wird eine weitere typische Facette des antisemitischen Feindbildes sichtbar.455 Stirner selbst findet hier keine eigenständige Erwähnung, allerdings sind die individualistischen Formeln von der ausschließlichen Wirklichkeit des Individuums und dem Selbstgenuß des Ich bekanntlich auch für den Einzigen einschlägig.456 Der ‚jüdische Einfluß‘ erscheint als allgegenwärtig, und der im Anarchismus-Artikel hergestellte Zusammenhang von Anarchismus, Individualismus, Liberalismus und Bolschewismus wird hier um den ‚Universalismus‘ und weitere Hinweise auf jüdische Einflüsse erweitert, im Sinne der nationalsozialistischen Doktrin unter dem völkischen Aspekt bewertet und in seinen verderblichen und zersetzenden Zügen und verbrecherischen Konsequenzen herausgestellt. Noch weiter konkretisiert wird dies, insbesondere bezüglich der metahistorischen und politischen Implikationen des ‚Rassenkampfes‘ und der darin dem Nationalsozialismus obliegenden weltgeschichtlichen Rolle,457 in dem 452 453 454 455 456 457

Meyers Lexikon (1939a), S. 187. Meyers Lexikon (1939a), S. 187. Meyers Lexikon (1939a), S. 188. Vgl. auch Bracher/Schulz/Sauer (1974 I), S. 378 f. Vgl. z. B. Stirner, EE, S. 199 f., 358 ff. Vgl. Bracher/Schulz/Sauer (1974 I), S. 375 ff.

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noch ausführlicheren Liberalismus-Artikel. Auch der „Individualismus“ taucht hier wieder auf, er zählt neben den aus ihm abgeleiteten „Menschenrechte[n], die als sog[enannte] " Grundrechte durch die Frz. Revolution Eingang in alle lib[eralen] Verfassungen fanden“, zu den „Hauptpunkte[n]“ des Liberalismus, ebenso wie die auf die ihrerseits ‚individualistische‘ Vertragstheorie zurückgehende Vorstellung von der „Volkssouveränität“, die in der „Demokratie die ihr gemäße Form finden [sollte], ohne jede Berücksichtigung der ihr durch Rasse und Volkstum gesetzten Bindungen.“458 Mit diesen ‚Hauptpunkten‘ wird der Liberalismus einleitend vorgestellt als eine „aus der " Aufklärung hervorgegangene Welt-, Staats- und Wirtschaftsauffassung, deren politische Wirksamkeit bis ins 17. Jh. zurückgeht.“ (S. 495) Die weitere Rekapitulation der Geschichte des Liberalismus liest sich als Geschichte einer Verschwörung und des durch sie bewirkten Verfalls des Abendlandes, bis zum in der Weltkriegsniederlage und der darauf errichteten liberalen Republik sich manifestierenden ‚deutschen Zusammenbruch‘ (vgl. S. 497), den zu stoppen dann der Nationalsozialismus angetreten ist: Im Gefolge der französischen Aufklärer wurde „mit dem Begriff des ‚3. Standes‘ [. . .] das Bürgertum Träger der Gedanken, die auch in den Organisationen der " Freimaurerei Gestalt gewonnen hatten. – Aus all diesen Quellen floß das Gedankengut des ‚Weltbürgertums‘, der ‚Humanität‘, wie es sich in der Bildungsschicht Europas entwickelte, und der ‚Freiheit‘, ‚Gleichheit‘, ‚Brüderlichkeit‘ in breitesten Volksschichten. Die Frz. Revolution brachte diesen L[iberalismus] dann zum Durchbruch nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa.“ (S. 496) Die verderblichen „Folgeerscheinungen“ sind in den „sog[enannten] ‚westl[ichen] Demokratien‘“, in England, den „V. St. v. A.“ und vor allem Frankreich noch heute zu beobachten: „Kapitalismus, Parlamentarismus, soziale Unruhen, Gleichheit weißer, schwarzer und jüdischer, gelber, brauner ‚Staatsbürger‘ usw.“ (S. 498) Auch in Deutschland, das sich mittlerweile, wie „Italien[] und andere[] Staaten von lib[eralen] Prinzipien“ abgewandt hat (S. 498), hatten sich bereits zu Anfang des 19. Jahrhunderts „die schlimmsten Begleiterscheinungen des fr[anzösischen] L[iberalismus]“ gezeigt: „Bereits 1810 hatte der immer stärker unter jüdischen Einfluß geratende Freimaurer " Hardenberg der preuß[ischen] Reform die Wendung zum L[iberalismus] gegeben. Die Lehren der alles nivellierenden ‚Gleichheit‘, das schrankenlose Betonen des Individuums entwickelten sich.“ (S. 496) Das von Juden und Freimaurern zur Zersetzung des deutschen Volkskörpers und zur Verderbnis der germanischen Rasse in Gang gesetzte Unheil nahm seinen Lauf. Alles, was es dage458

Meyers Lexikon (1939b), S. 495. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben in diesem und den folgenden Absätzen beziehen sich ebenfalls auf den LiberalismusArtikel.

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gen an „freiheitlichen Regungen [. . .] ausgesprochen deutscher Prägung“ im 19. Jahrhundert gab, wurde mit der Zeit, infolge der „Judenemanzipation“ und durch die „tiefgehende Zersetzung[sarbeit]“ des „sog[enannten] " ‚Junge[n] Deutschland‘“ – Intellektuelle wie Heinrich Heine – vom Liberalismus befallen (S. 496). „Die schon vom westl[ichen] " Parlamentarismus angekränkelte Arbeit der Frankfurter Paulskirche [. . .] stand schon im Zeichen des Verfalls: Die lib[eralen] Parteien aller Schattierungen haben hier ihren Ursprung“ (S. 496), die, als Inbegriff des verhaßten Weimarer ‚Systems‘, binnen eines halben Jahres nach der nationalsozialistischen ‚Machtergreifung‘ aufgelöst wurden. Auch die als für die Gesundheit und Stärke des Volkskörpers weitaus bedrohlicher erachtete „‚Frauenemanzipation‘ und die Bestrebungen der ‚Frauenrechtlerinnen‘ entsprangen der liberalist[ischen] Auffassung von der Gleichheit aller Menschen auch hinsichtlich der Geschlechter“ (S. 496), ein bereits in der Individualismus-Debatte der Jahrhundertwende – damals sowohl antiindividualistisch-kulturkritisch als auch affirmativ-individualistisch – behandeltes Motiv.459 Die Frauenbewegung gilt im nationalsozialistischen Rückblick auf die deutsche Weltkriegsniederlage und deren Fortsetzung und Institutionalisierung im aus dem – vom ‚Dolchstoß‘ vorbereiteten – Versailler ‚Schandfrieden‘ geborenen Weimarer ‚System‘ der ‚Novemberverbrecher‘ als mehr denn bloß ein Symptom dieses Untergangs: „Das Streben der Frauen nach Gleichstellung auf polit[ischem] Gebiet mit Hilfe des Frauenwahlrechts und durch weibl[iche] Parlamentsabgeordnete war ein bezeichnendes Ergebnis dieser liberalist[ischen] Anschauungen und Bestrebungen. Der Liberalismus in seiner vollen Folgerichtigkeit wurde so zur Ursache des d[eutschen] Zusammenbruchs, den Bismarck nur aufzuhalten vermochte“ (S. 496 f.), und dessen ganzes Ausmaß in den gesellschaftlichen Verhältnissen der Weimarer Republik sichtbar wurde. Das deutsche Volk war seit dem beginnenden 19. Jahrhundert durch den Liberalismus geschwächt worden, und seitdem zeigte sich auf „allen Lebensgebieten [. . .] die Wirkung dieses stetigen Niedergangs“ (S. 497). Der liberale „Grundsatz des hemmungslosen Individualismus und der bindungslosen Freiheit“ zeitigte „furchtbare Wirkungen“, etwa die „sog[enannte] ‚Pressefreiheit‘“, die zur „weitgehenden Zersetzung und Verhetzung des Volkes“ beitrug, oder auch die „Verwirrung der Geister“ in der Kunst und Literatur, „deren Vollendung wir in den kulturbolschewistischen Tendenzen einer überwundenen Vergangenheit sehen: Entartung und Auflösung.“ (S. 497) Durch den Liberalismus wurde die Wirtschaft „zu einem Eigenwesen, das unabhängig von Volk und Staat sich entfalten konnte“ (S. 497). Das aus der marxistischen Ideologiekritik am Anarchismus wie auch aus 459

Siehe oben, insbesondere VI. 3. b) bb), cc) und dd).

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der anarchistischen Ideologiekritik an Stirner bekannte460 wirtschaftsliberale „Manchestertum“ erscheint auch vom völkischen Standpunkt als Inbegriff der sozial destruktiven Zügellosigkeit des „ungebundenen Kapitalismus“ (S. 497). „Der bindungslose, nur seinem individuellen Vorteil lebende Mensch arbeitet nur aus Eigennutz und lehnt jedes Eingreifen des Staates zur Wahrung der Belange der Gemeinschaft oder zugunsten der wirtschaftlich Schwächeren ab. Die Wirtschaft hat den Grundsatz des freien Spiels der Kräfte zu verwirklichen: der wirtschaftlich Stärkere kann hemmungsund gewissenlos gegenüber den wirtschaftlich Schwächeren und der Volksgemeinschaft sein Erwerbsinteresse verfolgen.“ Die Folgen sind „Wirtschaftskämpfe“, die „wirtschaftl[iche] Abhängigkeit breiter Volksmassen“, „Klassenkampf“, „Wirtschaftskrisen und Arbeitslosigkeit“ (S. 497). Diese vom Liberalismus verursachten „sozialen Schäden“ wurden schließlich zur Brutstätte eines noch gefährlicheren Übels: Die unter den „Folgen einer derartigen Ungebundenheit“ leidende „neu entstandene Schicht der Industriearbeiterschaft [. . .] wurde dem von jüdischen Agitatoren verbreiteten " Marxismus geradezu in die Hände getrieben, als dessen tiefste Ursache deshalb der L[iberalismus] betrachtet werden muß.“ (S. 497) Der Liberalismus ist also die Ursache des Marxismus, der als Bolschewismus die verbrecherische Praxis des Anarchismus übernommen hat, welcher selbst die äußerste Konsequenz des Liberalismus und extremste Erscheinung des Individualismus ist, der wiederum zu den Wurzeln des Liberalismus zählt und mit diesem den Universalismus teilt, den auch der Bolschewismus vertritt; die soziale Phänomenologie des Ganzen: Auflösung, Zersetzung, Bindungslosigkeit, Gleichmacherei, Widernatürlichkeit, Entartung, Hemmungslosigkeit, Verfall, Niedergang, Zerstörung, Zusammenbruch, Verbrechen, Grausamkeit, Krisen, Not, Untergang und Chaos. Hinter all dem, immer in entscheidenden historischen Momenten auftauchend, Einfluß nehmend und Strippen ziehend: ‚der Jude‘. Stirner hat in all dem quasi einen Fußnotenstatus, als ‚Hauptvertreter des Anarchismus‘, aber sein Einziger ist implizit, mit einschlägigen ‚individualistischen‘ Formeln und in einigen seiner rezeptionsgeschichtlich konkretisierten Gestalten (z. B. Verbrecher, Terrorist, Décadent, Intellektueller, Manchester-Liberaler), überall in diesem paranoiden Bedrohungs-Szenario präsent. Er ist – wie der Liberalismus – eine Zentralfigur jener bürgerlichen Welt und ihres auf die ideelle Trias von 1789 zurückgehenden Universalismus und Individualismus, die der Nationalsozialismus mit ‚den Juden‘ zu vernichten angetreten ist. Im Liberalismus-Artikel triumphiert der Nationalsozialismus über die in Deutschland besiegte Welt des Liberalismus: „Der Nationalsozialismus, der 460 Siehe z. B. oben, V. 4., die entsprechenden Ausführungen bei Plechanow und Kropotkin.

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den Grundsatz der rassischen Gebundenheit und die Auffassung von Wert und Bedeutung der in der blutlichen Volksgemeinschaft verwurzelten schöpferischen Persönlichkeit vertritt, hat den L[iberalismus] im d[eutschen] Volk überwunden. An Stelle der hemmungslosen Freiheit und Ungebundenheit sieht der Nationalsozialismus das höchste Freiheitsideal im freiwilligen Dienst an der Gemeinschaft und in der Einsatzbereitschaft für das Volk. Die Freiheit und Größe der Nation stehen vor der Freiheit des einzelnen, der nur ein Teil der Gemeinschaft ist. [. . .] Der Auffassung von der Gleichheit aller Menschen setzt der Nationalsozialismus die Erkenntnis von der natürlichen Verschiedenheit der Rassen entgegen. Er überträgt diesen Grundsatz auch auf das einzelne Volk und vertritt die Erkenntnis von der Verschiedenheit der Menschen, ihrer Anlagen und ihrer Fähigkeiten, was zum nat[ional]soz[ialistischen] Persönlichkeitsprinzip sowie zum Ausleseund Führerprinzip führt. Aus der Verschiedenheit der Menschen ergibt sich die Ablehnung der parlamentar[ischen] Demokratie und der Parteienwirtschaft. An ihre Stelle tritt der autoritäre Führerstaat. Dieser nat[ional]soz[ialistische] Staat dient nicht den Interessen der einzelnen, sondern allein dem Wohl der gesamten Volksgemeinschaft [. . .]. Auch die Wirtschaft dient der Volksgemeinschaft [. . .]. Genau so hat auch die Kultur dem Volke zu dienen. Sie schwebt nicht im leeren Raum und ist nicht voraussetzungslos, sondern sie ist rassisch bedingt. Während also der L[iberalismus] die Lösung von allen organisch-natürl[ichen] Bindungen und Gegebenheiten ausruft, bedeutet demgegenüber der Nationalsozialismus die Rückführung der Lebensauffassung auf natürl[iche] Voraussetzungen. Während der L[iberalismus] die völkischen Gemeinschaften auflöst, ist für den Nationalsozialismus ihre Erhaltung und Förderung das höchste Ziel.“ (S. 497 f.) Die durch die Erkenntnis der ‚natürlichen‘, also ‚rassischen‘ Voraussetzungen des Lebens instruierte nationalsozialistische Politik der ‚Erhaltung und Förderung der völkischen Gemeinschaft‘ durch ‚Rassenhygiene‘ und ‚Rassenpolitik‘, die Verfolgung, Entrechtung, Enteignung und Expatriierung Hunderttausender deutscher Staatsbürger als ‚Juden‘ war zu diesem Zeitpunkt bereits weit fortgeschritten.461 Auf der legalistischen Ebene dieser Politik, also ihrer Umsetzung durch die Demontage der liberal-rechtsstaatlichen Errungenschaften der zerstörten Weimarer Republik, wurde, flankiert von Propaganda und Pogromen, das „Gesetz zur Wiederherstellung des 461

Vgl. Nolte (1963), S. 457 ff. – „Vorsichtige Schätzungen, die sich auf die Statistiken verschiedener Hilfsorganisationen, Einwanderungsbehörden und Berechnungen der ‚Reichsvertretung [der Deutschen Juden]‘ stützen, kommen für 1933 auf 37000, für 1934 auf 23000 jüdische Flüchtlinge, die 1933 vor allem nach Westeuropa, 1934 stärker nach Palästina, von da an vor allem nach Übersee strebten; bis 1938 hatte sich ungefähr ein Viertel der 550 000 deutschen Juden dem Zugriff des ‚Dritten Reiches‘ entzogen.“ (Bracher/Schulz/Sauer (1974 I), S. 386, vgl. S. 379 ff.).

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Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 [grundlegend], das als erstes den ‚Arierparagraphen‘ enthielt und mit ihm die Pensionierung aller Beamten nichtarischer Abstammung bestimmte [. . .]. Dieser Paragraph wurde sinngemäß sehr bald auf Rechtsanwälte und Kassenärzte ausgedehnt, nicht viel später auf Schriftsteller und Künstler, Studenten und Schüler; es dauerte nicht lange, bis der ‚Nachweis arischer Abstammung‘ für die meisten Deutschen eine zwingende Forderung wurde.“462 Am 14. Juli desselben Jahres folgte das ‚Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit‘, und diese Politik der ‚Ausscheidung der Juden aus dem deutschen Volkskörper‘ gipfelte in ihrer ersten Phase in den Nürnberger Gesetzen vom 15. September 1935:463 „Das Reichsbürgergesetz trennt den bloßen Staatsangehörigen vom Reichsbürger, der allein Träger der vollen politischen Rechte ist [. . .]. Das Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre macht den Geschlechtsverkehr zwischen erwachsenen Menschen ungleichen ‚Blutes‘ zu einem strafbaren Tatbestand, ja es verbietet eine bloß vermutete proxima occasio. Daß es die Strafandrohung auf den Mann beschränkt, gibt im Vorbeigehen die neu-alte Einschätzung der Geschlechter als solcher zu erkennen.“464 So weit war die „Politik ‚rassischer Gesundung‘“465 gediehen, als 1936 im zitierten Artikel Stirner als Hauptvertreter des stark jüdisch beeinflußten Anarchismus vorgestellt und letzterer als extremer Individualismus und Liberalismus eingestuft wurde – ein Diskurs-Splitter, der den Stand reflektiert und das Folgende mit vorbereitet. Angesichts der Fixierung auf das Schema des ‚Rassenkampfes‘ galt diese Politik der „‚Ausscheidung der Juden aus dem deutschen Volkskörper‘“466 ihren Projekteuren als die bis dato wichtigste Errungenschaft der nationalsozialistischen Revolution.467 Im September 1937 verkündete Hitler auf dem ‚Reichsparteitag der Arbeit‘: „Die größte Revolution aber hat Deutschland erlebt durch die in diesem Lande zum erstenmal planmäßig in Angriff genommene Volks- und Rassenhygiene. Die Folgen dieser deutschen Rassen462 Nolte (1963), S. 458 – H. i. O. – „Nach Feststellungen der Reichsvertretung der Deutschen Juden und ausländischen Hilfskomitees hatten bis zum April 1934 neben Hunderten von Hochschullehrern etwa 4000 jüdische Rechtsanwälte, 3000 Ärzte, 2000 Beamte und 2000 Schauspieler und Musiker ihre Arbeitsplätze verloren.“ (Bracher/Schulz/Sauer (1974 I), S. 387) Anfängliche Ausnahmeregelungen für ehemalige Frontkämpfer wurden – wegen ihrer Unverträglichkeit mit dem Biologismus des Konstruktes ‚Jude‘ – bald darauf aufgehoben (vgl. Nolte (1963), S. 460). 463 Vgl. Nolte (1963), S. 458 f. 464 Nolte (1963), S. 460 – H. i. O. 465 Nolte (1963), S. 460. 466 Nolte (1963), S. 458. 467 Vgl. Bracher/Schulz/Sauer (1974 I), S. 375 ff.

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politik werden entscheidender sein für die Zukunft unseres Volkes als die Auswirkungen aller anderen Gesetze. Denn sie schaffen den neuen Menschen.“468 Die Vernichtung des Liberalismus, Individualismus, Universalismus usw. ging damit quasi automatisch einher; ‚Rassenpolitik‘ hieß aus nationalsozialistischer Sicht, das vielgestaltige Übel – vom raffgierigen Bürger über den zersetzenden Intellektuellen bis hin zum verbrecherischen Bolschewisten – gleichsam an der Wurzel zu packen.469 Als 1939 die beiden Referenzartikel über den jüdisch infiltrierten Liberalismus und Individualismus erschienen, war die antisemitische Politik folgerichtig wiederum verschärft worden: „Die energische Wiederaufnahme der Politik ‚rassischer Gesundung‘ brachte das Jahr 1938. Neue Ausführungsverordnungen zum Reichsbürgergesetz erklären die Bestallungen jüdischer Ärzte für erloschen und beseitigen die noch bestehenden Ausnahmen für Rechtsanwälte und Patentanwälte. Im Anschluß daran erfolgt eine ‚Reinigung‘ des gesamten Gesundheitswesens. Selbst das Steuerrecht erfährt 1938 einen ‚rassischen‘ Ausbau, indem zum Beispiel Kinderermäßigungen für Juden fortfallen. Eine Verordnung Görings über die Anmeldung jüdischer Vermögen läßt den zukünftigen Lauf der Dinge erahnen. Im Juli wird auch die Ausübung bestimmter Gewerbe verboten. Eine Verordnung im Oktober verfügt, daß alle Reisepässe von Juden durch ein gestempeltes ‚J‘ kenntlich zu machen seien. Einen ähnlichen Zweck hatte bereits das Gesetz über die Änderung von Familiennamen und Vornamen vom 5. Januar 1938 verfolgt. Wie die Einbürgerung so wird jetzt auch die Assimilation der Namen rückgängig gemacht. Eine Durchführungsverordnung vom August schreibt die zusätzliche Annahme eines jüdischen Vornamens (Sara oder Israel) zwingend vor.“470 Die in den zitierten Artikeln von 1939 gegenüber Individualismus, Liberalismus und bürgerlicher Welt eingenommene Siegerpose des Nationalsozialismus und der betont retrospektive Duktus, mit dem jene bürgerliche Welt in den Blick genommen wird, beglaubigen sich mit der Evidenz dieser allgemein bekannten Wirklichkeit des nationalsozialistischen Deutschland am Vorabend des Zweiten Weltkrieges und des industriellen Massenmordes. Umgekehrt rechtfertigen diese Lexikonartikel, die mit ihrem quasi objektivwissenschaftlichem Anspruch das gleichsam offizielle Selbstverständnis des nationalsozialistischen Deutschland repräsentieren, in der Darstellung dieses Triumphes als Teilsieg im universalgeschichtlichen Szenario des ‚Rassenkampfes‘ die antisemitische – zu diesem Zeitpunkt zuletzt spektakulär in den Morden, Brandschatzungen und Massenverhaftungen der ‚Reichskristallnacht‘ am 9. November 1938 inszenierte – Praxis und deren Auswei468 469 470

Zit. n. Nolte (1963), S. 464. Vgl. Nolte (1963), S. 502 ff. Nolte (1963), S. 460 f.

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tung zu Vernichtungskrieg und Völkermord.471 Ideologisches Narrativ und politisch-soziale Praxis stehen in einem wechselseitigen Legitimationszusammenhang. Trotz des paranoid-antisemitischen und propagandistischen Charakters des in den Artikeln aus Meyers Lexikon präsentierten Stücks offizieller nationalsozialistischer Ideen-Geschichtsschreibung bleibt doch die darin Stirners Anarchismus zugewiesene Bedeutung – abgesehen von jener spezifisch antisemitischen Einfärbung –, der historisch faktisch überwundenen und ideell obsoleten Welt des bürgerlichen Liberalismus anzugehören, keine Singularität. Auch für die jeglicher Sympathie für irgendeinen Totalitarismus gänzlich unverdächtigen Intellektuellen der Frankfurter Schule, die selbst vor dem nationalsozialistischen Terror – diesem gleich in mehrfacher Hinsicht das Inbild seiner Feinbestimmung bietend, nicht zuletzt durch die theoretische Verbindung von Marxismus und Psychoanalyse – geflohen waren,472 waren der Einzige und sein Anarchismus insgesamt ein der ‚bürgerlichen Gesellschaft‘ angehörendes Phänomen. In den 1936 bereits aus dem US-amerikanischen Exil veröffentlichten Studien über Autorität und Familie des Frankfurter Instituts für Sozialforschung473 erscheint Stirners Einziger als Vertreter einer im Untergang begriffenen Welt, dessen Anarchismus weder kritisch über diese hinausweist, noch den totalitären Bedrohungen Widerstand entgegenzusetzen hätte. cc) Max Horkheimer Die prinzipielle Einordnung des Anarchismus gibt zunächst Max Horkheimer in seinem theoretischen Einleitungsartikel über Autorität und Familie vor: „Die grundsätzlich anti-autoritäre Haltung des Anarchisten ist [. . .] eine Übertreibung des bürgerlichen Selbstbewußtseins von der eigenen Freiheit, die jetzt und überall zu verwirklichen sei, wenn man nur wolle: eine Konsequenz der idealistischen Ansicht, daß die materiellen Bedingungen keine Rolle spielen.“474 Diese „Freiheit ist eine Ideologie, das heißt ein 471 Mit der Zerstörung Guernicas im April 1937, dem Anschluß Österreichs im März 1938, der Annexion des Sudetenlandes im Oktober 1938 und der ‚Zerschlagung der Resttschechei‘ im März 1939 war die Fortsetzung der Offensive im globalen Rassenkampf zu diesem Zeitpunkt bereits erprobt und vorbereitet worden. Im Jahr nach der Veröffentlichung der beiden Artikel wurde, bereits kurz nach dem offiziellen Kriegsbeginn mit dem Angriff auf Polen am 1. September 1939, im Juni 1940 das Vernichtungslager Auschwitz in Betrieb genommen (vgl. Matz (1999), S. 332 ff.). 472 Vgl. Wiggershaus (1988), S. 147 ff. 473 Vgl. Wiggershaus (1988), S. 171 ff., vgl. auch S. 160 ff. 474 Horkheimer (1936c), S. 173.

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durch die spezifische Form des gesellschaftlichen Lebensprozesses notwendiger Schein.“475 Die ideologische Vorstellung von der „Freiheit des abstrakten Individuums“476 ist, wie Horkheimer kurz darauf in seinem Aufsatz Traditionelle und kritische Theorie (1937) erläutert, spezifisch für das „bürgerliche Denken“, denn dieses „ist so beschaffen, daß es in der Rückwendung auf sein eigenes Subjekt mit logischer Notwendigkeit das Ego erkennt, das sich autonom dünkt. Es ist seinem Wesen nach abstrakt, und die als Urgrund der Welt oder gar als Welt überhaupt sich aufblähende, vom Geschehen abgeschlossene Individualität ist sein Prinzip.“477 Der Anarchismus kommt mit seiner auf dieser Individualitätsvorstellung beruhenden, abstrakten – von Nettlau bekannten – Entgegensetzung von ‚Freiheit und Autorität‘ bzw. „Vernunft und Autorität“478 weder zu einer adäquaten Analyse der „komplizierte[n] Struktur der Autorität“ und ihrer ambivalenten Bedeutung im soziokulturellen Prozeß, noch kann er eine tragfähige Alternative zu den jetzt, „in der Periode des totalitären Staats“ gegenwärtigen479 „irrationale[n] Autoritätsverhältnissen“ bieten, welche erst „mit dem Zusammenbruch der Autorität im bürgerlichen Sinn [. . .] ihre stärkste ideologische Basis“ verlieren würden.480 Vielmehr bleibt der Anarchismus mit seiner antiautoritären Leitunterscheidung selbst in diesem ideologischen Denken befangen: „Der Formalismus, Vernunft und Autorität einander entgegenzusetzen, zu der einen sich zu bekennen und die andere zu verachten, der Anarchismus und die autoritäre Staatsgesinnung gehören beide noch derselben kulturellen Epoche an.“481 Und programmatisch ist der mit der „anarchistische[n] Autoritätslosigkeit“ im „gesellschaftliche[n] Arbeitsprozeß“ geforderte „Verzicht auf die Scheidung leitender und ausführender Funktionen [. . .] nicht bloß eine Utopie, sondern bedeutete den Rückfall in die Urzeit.“482 Der Anarchismus ist also, so lautet zunächst Horkheimers Fazit, bürgerlich-ideologisch, utopistisch und regressiv – und aus diesen Gründen, trotz und wegen seiner antiautoritären Stoßrichtung, für die Analyse und Kritik von Autoritätsverhältnissen unbrauchbar.483 Eine 475

Horkheimer (1936c), S. 166. Horkheimer (1936c), S. 174. 477 Horkheimer (1937), S. 227. 478 Horkheimer (1936c), S. 174. 479 Horkheimer (1936c), S. 166. 480 Horkheimer (1936c), S. 167. 481 Horkheimer (1936c), S. 174. 482 Horkheimer (1936c), S. 173. 483 Dagegen liegt der „wahre Widerspruch zum bürgerlichen Begriff der Autorität [. . .] in ihrer Loslösung von egoistischem Interesse und Ausbeutung. Dieser Widerspruch ist mit der Idee einer heute möglichen höheren Gesellschaftsform verbunden. Nur wenn die leitenden und ausführenden Funktionen bei der Arbeit weder mit gu476

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detailliertere ideengeschichtliche Darstellung und ideologiekritische Analyse von anarchistischen Autoren wie Stirner, Bakunin und Kropotkin leistet dann im selben Band Hans Mayer in seinem Artikel über Autorität und Familie in der Theorie des Anarchismus. Horkheimer selbst liefert gleichwohl zur selben Zeit noch die Möglichkeit einer etwas wohlwollenderen Lesart ‚egoistischer Ideologie‘ (1) aus der Perspektive des kritisch-theoretischen Aufklärungsprojektes, dessen Selbstverständnis (2) zugleich den Hintergrund zum Verständnis der im Anschluß zu behandelnden Ausführungen Mayers bildet. (1) „Egoismus und Freiheitsbewegung“ Horkheimer veröffentlichte, ebenfalls 1936, in der institutseigenen Zeitschrift für Sozialforschung seinen Artikel Egoismus und Freiheitsbewegung.484 Angesichts des titelgebenden Themas und der mehrfachen Verwendung Stirnerscher Formeln und Motive485 ist es nicht allzu gewagt davon auszugehen, daß auch der Autor des Einzigen Horkheimer bei der Niederschrift von Egoismus und Freiheitsbewegung präsent war, auch wenn Stirner hier an keiner Stelle namentlich erwähnt wird. Immerhin war Stirner ein zentrales Thema nicht nur in Hans Mayers Beitrag zu den von Horkheimer zu dieser Zeit redigierten Studien über Autorität und Familie, sondern auch in der kurz zuvor erstmals vollständig edierten Deutschen Ideologie von Marx und Engels – und allein deswegen schon im rezenten Erinnerungsbestand der Frankfurter Kritischen Theoretiker. Daß Stirner von Horkheimer nicht eigens genannt wird, läßt am ehesten den Schluß zu, daß dieser jenem nicht die gleiche theoretische Originalität zuerkannte wie anderen tem und schlechtem Leben verbunden noch an feste gesellschaftliche Klassen verteilt sind, nimmt die Kategorie der Autorität eine andere Bedeutung an. In der individualistischen Gesellschaft sind auch Fähigkeiten ein Besitz, aus dem man Kapital schlägt – und gewöhnlich fließen sie auch teilweise aus dem Kapital, das heißt aus einer guten Ausbildung und der Ermutigung durch Erfolg. Entstehen jedoch die Güter, welche die Menschen zum Leben brauchen, einmal nicht mehr in einer Wirtschaft scheinbar freier Produzenten, von denen die einen infolge ihrer Armut sich an die anderen verdingen müssen und diese anstatt für die menschlichen Bedürfnisse nur für ihren ‚zahlungsfähigen‘ Teil zu fabrizieren gezwungen sind, sondern aus einer planmäßig geleiteten Anstrengung der Menschheit, dann wird die Freiheit des abstrakten Individuums, das tatsächlich gebunden war, zur solidarischen Arbeit konkreter Menschen, deren Freiheit wirklich nur noch durch die Naturnotwendigkeit beschränkt ist. [. . .] In der Disziplin und im Gehorsam derer, die um diesen Zustand ringen, zeichnet sich bereits die Idee einer anderen Autorität ab.“ (Horkheimer (1936c), S. 173 f.). 484 Rolf Wiggershaus spricht diesbezüglich mit einiger Berechtigung vom „wohl großartigste[n] Aufsatz Horkheimers“ (Wiggershaus (1988), S. 205). 485 Vgl. z. B. Horkheimer (1936d), S. 61, 104 f., 117.

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‚egoistischen‘ Denkern, die, wie der von Horkheimer bezeichnenderweise angeführte Nietzsche, „im Gegensatz zum herrschenden Geist, den Egoismus weder verhüllt noch verkleinert noch angeklagt, sondern sich selbst zu ihm bekannt [haben]. Nicht zu jener abstrakten und jämmerlichen Fiktion, in welcher er bei manchen Nationalökonomen und bei Jeremias Bentham auftritt, sondern zum Genuß und Höchstmaß an Glück, in das auch die Befriedigung grausamer Regungen mit eingeschlossen ist. Sie haben keinen der Triebe, die ihnen historisch als ursprünglich gegeben waren, idealisiert, sondern die von der offiziellen Ideologie hervorgerufene Verbiegung der Triebe gebrandmarkt. Diese Denker, seit Aristipp und Epikur, sind in der neueren Geschichte wesentlich nur nach ihrem Gegensatz zur herrschenden Moral verstanden worden. Von da her wurden sie verteidigt und verdammt. Aber mit diesen Apologeten des unbeschränkten Egoismus hat es eine eigene Bewandtnis. Indem sie selbst den verpönten Triebregungen nachspürten und sie ohne Ablehnung und Verkleinlichung ins Bewußtsein hoben, verloren die Mächte ihre dämonische Gewalt.“486 De Sade, Nietzsche und andere der von Horkheimer „so geschätzten dunklen Schriftsteller der bürgerlichen Epoche“487 leisteten mit dieser Entzauberung des Trieblebens einen Ent-Täuschungs-Beitrag, der auf die dritte Kränkung der psychoanalytischen Aufklärungserzählung vorauswies (siehe oben, II. 2.) und in ähnlicher Weise Widerstände, in seiner Ambivalenz aber auch Mißverständnisse und falsche Gefolgschaft hervorrief. „Diese hedonistischen Psychologen wurden in der Regel als die Feinde der Menschheit hingestellt oder von eben diesen auf den Schild gehoben. Am meisten ist das Nietzsche widerfahren. Man hat den Übermenschen, den problematischsten Begriff, mit dem der Psychologe den von ihm beherrschten analytischen Bereich verließ, nach dem Wunschtraum des Spießbürgers gedeutet und Nietzsche selbst mit diesem verwechselt. Das Abenteuerliche schien daran so schön. Größe, Blut und Gefahr waren auf Bildern und Denkmälern seit je beliebt. Aber Nietzsche ist das Gegenteil dieses aufgespreizten Kraftgefühls. [. . .] Nietzsche selbst kann man sich nicht als Henker denken wie manchen seiner Jünger. Seine inoffensive Existenz entspringt aus der tiefsten Erkenntnis seelischer Zusammenhänge, die es vielleicht in der Geschichte gegeben hat. Nietzsches Vorläufer in der Analyse von Egoismus und Grausamkeit, Mandeville, Helvétius, de Sade, sind wie er selbst von Freuds herablassender Toleranz gegen den ‚leider‘ nun einmal vorhandenen Destruktionstrieb, von seiner resignierenden Skepsis so frei wie vom Ressentiment des liebenden Rousseau.“488 – Hätte Horkheimer Stirner in die486 487 488

Horkheimer (1936d), S. 120 f. Wiggershaus (1988), S. 208. Horkheimer (1936d), S. 121 f.

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sem Zusammenhang mitnennen wollen, so hätte diese Aufzählung der ‚Vorläufer Nietzsches‘ den geeigneten Anlaß geboten. Und auch wenn die unmittelbar anschließende Passage zu einer apologetischen Stirner-Lektüre à la Sveistrup passen würde, so bleiben doch der Einzige und sein Schöpfer unerwähnt: „Durch ihr eigenes Dasein scheinen diese Psychologen darauf hinzuweisen, daß die Befreiung von der asketischen Moral mit ihren nihilistischen Konsequenzen eine menschliche Veränderung im umgekehrten Sinne zu bewirken vermag wie die Verinnerlichung. Dieser sie aufhebende Prozeß wirft den Menschen nicht auf die vorhergehende seelische Stufe zurück, gleichsam als ob jener erste Prozeß nicht geschehen wäre, sondern bringt ihn zu einer höheren Lebensform.“489 Man mag trotzdem spekulieren, ob Stirner hier mitgemeint ist – und dementsprechend, bei aller Ambiguität in Horkheimers Einschätzung des Egoismus, in einem günstigeren Licht erschiene, als in der Analyse des Anarchismus. Die ‚offizielle‘ Stellungnahme der Kritischen Theorie zu Stirner findet sich jedenfalls in Mayers, Stirner explizit behandelnden und von Horkheimer als Herausgeber autorisierten Artikel in Autorität und Familie. Bevor hierauf genauer eingegangen wird, ist zunächst kurz zu skizzieren, welcher theoretischen Perspektive und welchen damit verbundenen Frontstellungen und programmatischen Anliegen sich diese kritisch-theoretische Thematisierung des Einzigen verdankt. (2) ‚Flaschenpost‘ und innerweltliche Transzendenz Das von Max Horkheimer als Fünfter Band der Schriften des Instituts für Sozialforschung herausgegebene Gemeinschaftswerk war, wie es in der Widmung an den Institutsgründer Felix Weil heißt,490 der „erste[] Bericht über gemeinsame Forschungen“,491 dessen empirische Vorarbeiten, u. a. in der Schweiz, in die ersten Jahre der Emigration, unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtübernahme – die Repressalien begannen bereits im März 1933 mit der Schließung des Frankfurter Instituts – zurückdatieren.492 Als großangelegter,493 erster gemeinsamer Forschungsbericht der Instituts489

Horkheimer (1936d), S. 122. Vgl. Wiggershaus (1988), S. 19 ff. 491 Horkheimer [Hg.] (1936a), S. III. 492 Vgl. Wiggershaus (1988), S. 148, 160 ff. 493 Das Buch ist in drei Hauptabteilungen gegliedert, dessen erste aus drei „Theoretische[n] Entwürfe[n] über Autorität und Familie“ besteht – dem bereits zitierten allgemeinen von Horkheimer, einem sozialpsychologischen von Erich Fromm und einem ideengeschichtlichen von Herbert Marcuse –, die zweite enthält die empirischen Erhebungen und die dritte umfaßt „Einzelstudien“ und „Literaturberichte“ (Horkheimer [Hg.] (1936a), S. XIII f.; vgl. Horkheimer (1936b), S. IX ff.). Zu letz490

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mitarbeiter – unter Hinzuziehung der Ergebnisse externer Wissenschaftler, denen für die Vertiefung spezieller Einzelfragen Forschungsaufträge erteilt worden waren, so daß insgesamt die Beiträge von mehr als zwei Dutzend namentlich genannten Autoren unterschiedlicher Fachrichtungen Eingang in das Buch fanden494 –, waren die Studien über Autorität und Familie bis auf weiteres zugleich die letzte Veröffentlichung des Instituts, die in ihrer Konzeption dem anspruchsvollen Programm einer interdisziplinär angelegten, empirische Forschung einbeziehenden Kritischen Theorie der Gesellschaft entsprach,495 das Horkheimer im Anfang 1931 in seiner Antrittsrede als Institutsleiter über Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung entworfen hatte.496 Danach konzentrierte man sich auf das sozialphilosophische Kerngeschäft einer in ihren Diagnosen zunehmend pessimistischer ausfallenden Kritischen Theorie, für die wie kein anderes Werk die während des Zweiten Weltkrieges im amerikanischen Exil von Horkheimer und Adorno gemeinsam verfaßte Dialektik der Aufklärung steht. Die berühmte ‚Flaschenpost‘Metapher, die sich als Bezeichnung dieses Hauptwerkes der Kritischen Theorie eingebürgert hat, aber bereits um 1941, also zu Beginn der Entstehungszeit der 1944 abgeschlossenen Dialektik der Aufklärung, von den Frankfurter Emigranten auch umfassender zur Kennzeichnung ihres wissenschaftlich-publizistischen Selbstverständnisses und der Wirkungsaussichten des Aufklärungsprojektes ‚Kritische Theorie‘ verwendet wurde,497 verweist nicht nur auf die Modernitätsdiagnose vor dem düsteren zeitgeschichtlichen Horizont, sondern auch auf den Identitätskern der Kritischen Theorie und ihre spezifische Problematik. Die Flaschenpost ist das Inbild einer Botschaft an einen unbekannten Adressaten, von dem man in prekärer Lage – die metaphorische Referenz ist die des Schiffbrüchigen auf einer einsamen Insel498 teren zählt auch die Abhandlung über Autorität und Familie in der Theorie des Anarchismus von Hans Mayer, die Stirner thematisiert. 494 Vgl. Horkheimer (1936b), S. XI f. 495 Vgl. Wiggershaus (1988), S. 171 f., 178, 200 f. 496 Vgl. Wiggershaus (1988), S. 51 ff., 203. – Im Vorwort zu Studien über Autorität und Familie nimmt Horkheimer selbst ausdrücklich auf diesen Vortrag bezug (vgl. Horkheimer (1936b), S. VIII f.), betont die Zusammenarbeit der Institutsmitarbeiter in „seminarartigen Besprechungen“ bei der Konzeption des Problems, des Forschungsdesigns und der redaktionellen Gestaltung des Bandes (S. IX) und präsentiert diesen als Ergebnis auch „fernerhin“ zu verfolgender „durchgängiger Zusammenarbeit verschiedener Fachvertreter sowie der Durchdringung konstruktiver und empirischer Verfahrensweisen“ (S. XII). Vgl. kritisch zu diesen Ansprüchen Wiggershaus (1988), S. 171 ff., bes. S. 173. 497 Vgl. Reijen/Schmidt Noerr (1987b), S. 8 f. 498 Ein gehaltvolles und assoziationsreiches metaphorisches Feld, das nicht nur den gesamten Bereich nautischer Metaphorik – insbesondere im Politischen – und

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– Rettung erwartet: ein Notruf, von dem man nicht wissen kann, ob er jemanden erreicht; und wenn ja: wann und wen; und schließlich, ob und wie er verstanden wird. So resignativ dieses Bild insgesamt anmutet – die Flaschenpost selbst ist um so mehr auch ein Hoffnungssymbol: das einzige in einer scheinbar ausweglosen Situation.499 Abgesehen von der also darin enthaltenen, Intellektuellen-typischen Selbststilisierung – nicht unähnlich Karl Mannheims Missionsbestimmung des Intellektuellen, ‚Wächter in allzu finsterer Nacht zu sein‘, und zugleich aus der Perspektive seiner Wissenssoziologie der ‚relativ freischwebenden Intelligenz‘ erklärbar500 – steckt in dieser Figur das typologisch identitätsbestimmende Merkmal Kritischer Theorie, das Axel Honneth im Zuge kritisch-theoretischer Selbstverständigung im Ende des 20. Jahrhunderts treffend als ‚Moment innerweltlicher Transzendenz‘ bezeichnet hat.501 Denn der Autor der Flaschenpost kann einerseits nicht selbst die Rettung bewirken, sondern er ist darauf angewiesen, daß seine Botschaft auf einen Adressaten trifft, der diese versteht und zu Hilfe eilt; andererseits ist der Hilferuf die Voraussetzung dafür, daß die objektiv gegebene Notlage überhaupt in das Bewußtsein derer gerät, die die Not abzuwenden in der Lage sind. Der Autor der Flaschenpost kann die Rettung nicht dekretieren, er kann sie auch nicht eigenständig organisieren, aber er kann die Notsituation beschreiben und damit die Voraussetzung dafür schaffen, daß andere das Notwendige tun; die Notwendigkeit entsteht nicht durch die Flaschenpost, sie ist unabhängig von ihr objektiv gegeben, aber sie wird erst durch den in ihr artikulierten Hilferuf erkannt. Die Flaschenpost-Metapher steht bereits für eine fortgeschritten pessimistische Situationseinschätzung, in der sich die Kritische Theorie ihres Adressaten und dessen Responsivität nicht mehr sicher sein kann. Gleichwohl lebt in ihr der konstitutive Anspruch der Kritischen Theorie fort, noch in ihrer insularen Situation mit einer kongenialen Kraft in der sozialen Wirklichkeit rechnen zu können, deren Existenz der Kritik, wie Honneth es formuliert, „einen objektiven Halt“ verleiht und umgekehrt durch diese erst aufgeklärt wird: eine „vorwissenschaftliche Instanz der Emanzipation“, in der das kritisch-theoretisch artikulierte „Interesse an Emanzipation vorwissenschaftlich verankert sein kann“.502 das Bild des ‚Untergangs‘ evoziert, sondern auch die insulare Metaphorik der Raum-Utopien und die ‚Robinsonaden‘ bürgerlich-individualistischer Anthropologie. 499 Und als deutscher Intellektueller konnte man ja spätestens seit Hölderlins Hymne Patmos wissen, daß, ‚wo aber Gefahr ist, das Rettende auch wächst‘. – Vgl. zur ‚Flaschenpost‘ auch Adorno (1951), S. 279. 500 Vgl. Mannheim (1929), S. 134 ff., bes. S. 140; vgl. aber Horkheimer (1937), S. 239 f.; Horkheimer (1930). 501 Vgl. Honneth (1994a), bes. S. 79 ff.

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Ihrem Selbstverständnis nach hat die Kritische Theorie daher die „Aufgabe, die soziale Realität kategorial so zu erschließen, daß in ihr [. . .] ein Moment der innerweltlichen Transzendenz sichtbar wird“.503 Dementsprechend läßt sich die Kritische Theorie typologisch dadurch bestimmen, daß in ihrer Gesellschaftsbeschreibung ein solches ‚innerweltliches Transzendenzmoment‘ vorkommt. Indem die Kritische Theorie die soziale Wirklichkeit so beschreibt, daß in ihr etwas gegenwärtig ist (‚innerweltlich‘), das die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse in Richtung auf einen qualitativ anderen, unter dem Aspekt der Befriedigung nicht-entfremdeter menschlicher Bedürfnisse besseren gesellschaftlichen Zustand überschreitet (‚Transzendenz‘), und sich selbst in eine spezifische Beziehung zu diesem innerweltlichen Transzendenzmoment setzt, weist sie den Ort aus, von dem aus sie ihre eigene kritische Gesellschaftsbeschreibung anfertigt. Damit entspricht sie nicht nur der jeder Gesellschaftstheorie angetragenen Reflexionsnötigung, in ihrer Beschreibung der Gesellschaft zugleich darzulegen, wie sie selbst als Theorie möglich geworden ist und wo sie in der Gesellschaft 502 Honneth (1994a), S. 80 f. – Das klassische und historisch einflußreichste Paradigma eines innerweltlichen Transzendenzmomentes ist das Proletariat in der Gesellschaftstheorie des Historischen Materialismus. Marx und Engels hatten das Proletariat als eigenständigen weltgeschichtlichen Akteur und revolutionäres Subjekt konstruiert, dem, erzeugt durch die objektive Wirklichkeit der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die mit ihm ihren „Totengräber“ hervorgebracht hatte (Marx/Engels (1848), S. 33), aufgrund von historisch-gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten die Mission zukommt, die letzte Gesellschaftsformation, die Entfremdung und Ideologie notwendig hervorbringt, zu überwinden und mit der Aufhebung des Klassenantagonismus seine eigene leidvolle Existenzweise als Proletariat aufzuheben und damit zugleich die vollständige Emanzipation der gesamten Menschheit in der noch zukünftigen ‚Gesellschaft der Freien und Gleichen‘ zu bewirken (vgl. Marx/Engels (1848), S. 9 ff.; Marx/Engels (1845/46), S. 33 ff., 53 ff., bes. S. 69 f., 77; vgl. auch Marx/Engels (1845), S. 37 f.). Gewonnen ist diese geschichtstheoretisch beglaubigte Konstruktion aus der Soziologisierung der junghegelianischen Figur antizipatorischer Wissensgründung. In ihrer Kritik an der Endgeschichtlichkeitskonstruktion Hegels hatten Junghegelianer wie Feuerbach und Ruge den Anspruch geltend gemacht, die bei Hegel vorzeitig im System des Absoluten Idealismus abgebrochene Dialektik in die politische Praxis zu überführen und dadurch die Philosophie erst zu verwirklichen. Die Praxis, als vor allem publizistische Intervention von Intellektuellen, beglaubigte sich in ihrer Kritik der Gegenwart und ihrer programmatischen Stoßrichtung aus dem Wissen um das zukünftige emanzipatorische Entwicklungsziel der Menschheit, das philosophisch bereits erkennbar, aber eben noch durch aktives politisches Engagement der junghegelianischen Intellektuellen für die Partei und Prinzipien des Fortschritts zu verwirklichen war. In diesem Engagement wurde die Wahrheit der zukünftigen, vollständig aufgeklärten Gesellschaft und damit der Rückblick auf die gesellschaftliche Gegenwart quasi vorweggenommen, und in diesem Sinne beglaubigte die Kritik ihren epistemologisch privilegierten Standpunkt antizipatorisch; die Hegelsche Endgeschichtlichkeit wurde gleichsam in die Zukunft verschoben. Vgl. auch Stulpe (1998). 503 Honneth (1994a), S. 81.

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vorkommt, womit sie der spätestens seit Marx und Engels unabweisbaren Einsicht Rechnung trägt, daß ein Beobachter der Gesellschaft sich immer schon in der Gesellschaft befindet,504 diese also nicht von außen beschreib504 Vgl. Neusüss (1997). – Für die Begründung des epistemologischen Vorsprungs des ‚wissenschaftlichen Sozialismus‘ gegenüber der ‚bürgerlichen‘ Wissenschaft nahm die Figur des innerweltlichen Transzendenzmomentes in dem Maße an Bedeutung zu, wie der Marxismus sein früheres Monopol auf gesellschaftstheoretische und insbesondere wissenssoziologisch-ideologiekritische Reflexion einbüßte. Der Marxismus mußte in dem Moment, da auch seine ideologischen Gegner Gesellschaftstheorie betrieben und – in soziologischer und psychologischer Perspektive – die nicht-ideellen, ‚seinsmäßigen‘ Bedingungen von Ideen und Bewußtsein thematisierten, zur Behauptung und Verteidigung seines überlegenen Wahrheitsanspruchs insistieren, daß nicht nur die Reflexion der sozialen Bedingtheit von Bewußtsein als solche, sondern der spezifische soziale Standort, von dem aus diese Reflexion – und überhaupt jede Realitätsbeschreibung – erfolgte, über ‚Wahrheit‘ oder ‚Ideologie‘ entschied; wahre Erkenntnis war demnach nur vom proletarischen Klassenstandpunkt aus möglich. Diese Beglaubigungsstrategie machte aber den Marxismus in der veränderten Situation in gewisser Weise noch angreifbarer für diejenigen Positionen, die die erste, wissenssoziologische Lektion des Historischen Materialismus – die Nötigung zur Seinsreflexion des Bewußtseins – gelernt hatten, ohne jene zweite, ideologiekritische Lektion von der epistemologischen Überlegenheit des proletarischen Klassenstandpunktes zu übernehmen. In symptomatischer und exemplarischer Weise wird dies artikuliert, reflektiert und vorangetrieben in Karl Mannheims klassischer Wissenssoziologie und dem seit den letzten Jahren der Weimarer Republik um diese geführten ‚Streit‘; vgl. Meja/Stehr (1982b); vgl. Mannheim (1928b); Mannheim (1929). Der Marxismus war aus Sicht der Mannheimschen Wissenssoziologie – die ihrerseits, je nach ideologischem Standort, z. B. für ihren ‚Relativismus‘ als ‚bürgerlich‘, für ihren ‚Materialismus‘ als ‚marxistisch‘ angegriffen wurde – als eine jener Partikularsichten erkennbar, die mit- und gegeneinander im ‚Kampf um die öffentliche Auslegung des Seins‘ konkurrierten und die alle gleichermaßen in ihrer standortgebundenen Seinsverbundenheit je spezifische Aspekte dieses Seins sichtbar machten; die aber auch alle in dem Maße von der – je historisch-gesellschaftlich bedingt relativ bestmöglichen – synthetischen Erkenntnis der Wirklichkeit entfernt waren, wie sie sich selbst in ihrer Partikularität verabsolutierten (vgl. Mannheim (1928b), S. 334, 349 ff., 360 ff.; Mannheim (1929), S. 68 ff., 108 ff., 129 ff., 215 ff., 239 ff., 257 ff.). Daß diese von Mannheim an die synthetische Perspektive einer ‚sozial relativ freischwebenden Intelligenz‘ gebundene sozialwissenschaftliche Erkenntnis und Sicht auf das Problem der Ideologie derjenigen von proletarisch klassengebundenen marxistischen Intellektuellen überlegen war, ließ sich zwar von letzteren als ein typischer Fall bürgerlich-relativistischer Ideologie bestreiten; vgl. z. B. Neurath (1930) und Wittfogel (1931). Aber ebenso war dieser ideologiekritische Angriff auf die Wissenssoziologie von letzterer theoretisch antizipier- und erklärbar – als eine von ihre faktische Klassenbindungslosigkeit kompensieren wollenden Intellektuellen betriebene Verabsolutierung einer Partikularsicht – und konnte ihr somit als Bestätigung ihrer ideologie-theoretischen und intellektuellensoziologischen Einsichten dienen (vgl. Mannheim (1929), S. 135 ff., 221 ff.). Der wissensund intellektuellensoziologische Ausweis der ‚Standortvorteile‘ der ‚sozial relativ freischwebenden Intelligenz‘ fungiert in Mannheims Wissenssoziologie zugleich als soziale Seinsreflexion ihrer eigenen Perspektive: Die Intelligenz rekrutiert sich aus allen sozialen Schichten; dies ermöglicht die Synthese vieler standortgebunden ge-

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bar ist. Aufgrund der Art, wie sie das innerweltliche Transzendenzmoment und ihre Beziehung zu diesem bestimmt, beglaubigt sie darüber hinaus ihren spezifisch kritischen, auf das gesellschaftliche Ganze der Gegenwart und auf die Zukunft der Menschheit bezogenen Anspruch und entzieht diesen der Kontingenz. In seinem 1937 in der Zeitschrift für Sozialforschung veröffentlichten programmatischen Aufsatz Traditionelle und kritische Theorie kennzeichnet Horkheimer das „kritische Verhalten“505 als „ein menschliches Verhalten, das die Gesellschaft selbst zu seinem Gegenstand hat. Es ist nicht darauf gerichtet, irgendwelche Mißstände abzustellen, diese erscheinen ihm vielmehr als notwendig mit der ganzen Einrichtung des Gesellschaftsbaus verknüpft. Wenngleich es aus der gesellschaftlichen Struktur hervorgeht, so ist es doch weder seiner bewußten Absicht noch seiner objektiven Bedeutung nach darauf bezogen, daß irgend etwas in dieser Struktur besser funktioniere.“506 Vielmehr hat dieses Verhalten „die Veränderung des Ganzen zum Ziel“ (S. 225). Es ist auf „Emanzipation gerichtet“ (S. 225), und die Kritische Theorie, die ihrerseits „zur Transformation des gesellschaftlichen Ganzen treibt“ (S. 236), ist „die intellektuelle Seite“ des historischen Emanzipationsprozesses (S. 232), den sie durch ihre Einsichten reflektiert und vorantreibt. Hierbei weiß sie sich in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis zum innerweltlichen Transzendenzmoment. Die Kritische Theorie erkennt, daß die emanzipatorischen Ziele, „vor allem die Idee einer vernünftigen, der Allgemeinheit entsprechenden gesellschaftlichen Organisation, [. . .] der menschlichen Arbeit immanent [sind], ohne den Individuen oder dem öffentlichen Geist in richtiger Form gegenwärtig zu sein. Es gehört eine bestimmte Richtung des Interesses dazu, diese Tendenzen zu erfahren und wahrzunehmen. Daß es im Proletariat, der unmittelbar produktiven Klasse, notwendig erzeugt wird, ist die Lehre von Marx und Engels. [. . .] Aber auch die Situation des Proletariats bildet in dieser Gesellschaft keine Garantie der richtigen Erkenntnis.“ (S. 229 f.) Bei aller Verpflichtung gegenüber der historisch-materialistischen Gesellschaftsanalyse507 und ihrer klassischen innerweltlichen Transzendenzkonstruktion gebener Aspekte der historisch sozialen Wirklichkeit, distanziert von den Borniertheiten der Herkunftsschichten, reflektiert und zusammengeführt im intellektuellenspezifischen Medium der Bildung. Zugleich impliziert diese Bewußtseinslage aber auch die Entfremdung von naturwüchsiger sozialer Zugehörigkeit und begründet daher die wiederum intellektuellenspezifische Disposition, das gesellschaftliche Ganze erkennen und dafür Verantwortung tragen zu wollen (vgl. Mannheim (1929), S. 134 ff., 241 ff.). 505 Horkheimer (1937), S. 224; vgl. Wiggershaus (1988), S. 211 f. 506 Horkheimer (1937), S. 223. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben in diesem und den folgenden Absätzen beziehen sich ebenfalls auf Horkheimer (1937).

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grenzt sich Horkheimer hiermit insbesondere vom zeitgenössischen Marxismus ab. Denn das „Bewußtsein jeder Schicht vermag unter den gegenwärtigen Verhältnissen ideologisch beengt und korrumpiert zu werden, wie sehr sie ihrer Lage nach auch zur Wahrheit bestimmt sei. Die kritische Theorie hat [. . .] keine spezifische Instanz für sich als das mit ihr selbst verknüpfte Interesse an der Aufhebung der Klassenherrschaft.“ (S. 259) Der Kritische Theoretiker ist kein klassengebundener Intellektueller, der den Standpunkt des Proletariats artikuliert bzw. das, was dessen Partei als solchen dekretiert, aber er versteht sich auch nicht als Angehöriger der Mannheimschen ‚freischwebenden Intelligenz‘, sondern er beansprucht bezüglich seiner sozialen Verortung und seines Engagements eine dritte Position: „Die kritische Theorie ist weder ‚verwurzelt‘ wie die totalitäre Propaganda noch ‚freischwebend‘ wie die liberalistische Intelligenz.“ (S. 240) Dieser dritte Standpunkt wird garantiert durch das jenem ‚kritischen Verhalten‘ entsprechende Interesse, das die Erkenntnis emanzipatorischer Entwicklungstendenzen in der (vorwissenschaftlichen) sozialen Wirklichkeit gewährleistet und den Kritischen Theoretiker zur Aufklärung der Menschheit verpflichtet. „Der Theoretiker, dessen einziges Geschäft darin besteht, eine Entwicklung zu beschleunigen, die zur Gesellschaft ohne Unrecht führen soll, kann sich [. . .] im Gegensatz zu Ansichten befinden, die bei den Ausgebeuteten gerade vorherrschen. Ohne die Möglichkeit dieses Konflikts bedürfte es keiner Theorie; denen, die sie brauchen, fiele sie unmittelbar zu.“ (S. 238) Kritische Theorie und innerweltliche Transzendenz sind also nicht identisch: der Kritische Theoretiker kann emanzipatorische Tendenzen in der sozialen Realität durch Aufklärung beschleunigen, nicht – wie der ‚liberale Intellektuelle‘ glauben mag – auslösen; sie müssen schon vortheoretisch vorhanden sein. Aber um ihr vortheoretisches Vorhandensein zu erkennen und wirksam werden zu lassen, genügt es nicht – wie der marxistische Parteiintellektuelle glaubt –, sich mit einem bestimmten Klassenstandpunkt zu identifizieren und sich der politischen Partei anzuschließen, die vorgibt, die Avantgarde des Proletariats und daher mit dem revolutionären Subjekt identisch zu sein. Vielmehr bedarf es hierzu der Kritischen Theorie, die die emanzipatorischen Tendenzen in der sozialen Wirklichkeit nicht mit den Bewußtseinslagen bestimmter Klassen identifiziert, sondern gerade um dieser Tendenzen willen stetig an der Aufklärung derjenigen „sozialen Kräfte, von denen die Befreiung erwartet wird“ (S. 232), arbeitet. Es ist „die Aufgabe des kritischen Theoretikers, die Spannung zwischen seiner Einsicht und der unterdrückten Menschheit, für die er denkt, zu verringern“ (S. 238 f.). Aufgelöst werden kann diese Spannung, solange es einen Bedarf an kritischem Verhalten gibt, nur scheinbar: nur in der Ideologie, die diesen 507

Vgl. Horkheimer (1937), S. 235, 242 ff.

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Bedarf leugnet. Für die Kritische Theorie in ihrem Verhältnis zum innerweltlichen Transzendenzmoment ist diese Spannung konstitutiv. Die von der Kritischen Theorie vorgebrachte Kritik der Gesellschaft entspringt demnach nicht bloß subjektiven Überzeugungen von Intellektuellen bzw. in metaphysischer Spekulation gewonnenen Idealen, sondern sie ist der wissenschaftlich begriffene und sozialphilosophisch reflektierte Ausdruck von objektiv in der gesellschaftlichen Wirklichkeit angelegten fortschrittlichen Entwicklungstendenzen und menschlichen Emanzipationsinteressen, der „Elemente der zukünftigen Kultur“, die gegenwärtig „schon vorhanden sind“ (S. 250). Die Kritische Theorie erkennt gleichsam in der Gegenwart den Keim einer besseren Zukunft, und sei es nur ex negativo, indem sie die Entfremdung und das Leiden in der gegenwärtigen Gesellschaft artikuliert und als objektiven Bedarf einer auf das gesellschaftliche Ganze zielenden Veränderung ausweist. Das Ziel, die „Assoziation freier Menschen, bei der jeder die gleiche Möglichkeit hat, sich zu entfalten“ (S. 236), gründet in „der Not der Gegenwart. Mit dieser Not ist jedoch das Bild ihrer Beseitigung nicht schon gegeben. Die Theorie, die es entwirft, arbeitet nicht im Dienst einer schon vorhandenen Realität; sie spricht nur ihr Geheimnis aus“ (S. 233 f.), nämlich das menschliche Bedürfnis nach der Überwindung der gegenwärtigen Gesellschaft, deren „Unmenschlichkeit“ ohnmächtig zu ertragen „widermenschlich und widervernünftig ist“ (S. 227). Daher ist in „einer geschichtlichen Periode wie dieser die wahre Theorie nicht so sehr affirmativ als kritisch“ (S. 259). Dementsprechend ist die „vom Interesse an vernünftigen Zuständen durchherrschte kritische Theorie der bestehenden Gesellschaft“ die „Selbsterkenntnis des Menschen in der Gegenwart“ (S. 215). Denn als „die theoretische Anstrengung, die im Interesse einer vernünftig organisierten zukünftigen Gesellschaft die gegenwärtige kritisch durchleuchtet“, ist sie die Negation dessen, was die menschlichen Bedürfnisse gegenwärtig negiert (S. 250). Deswegen ist „die kritische Theorie der Gesellschaft“, in die „jede konsequente intellektuelle Anstrengung, die sich um den Menschen kümmert, sinngemäß [. . .] einmündet“, die „fortgeschrittenste Gestalt des Denkens in der Gegenwart“ (S. 249). Als solche weist sie über die gegenwärtige „undurchsichtige[], bewußtlose[] Gesellschaft“ hinaus und nimmt die von einem zukünftigen gesellschaftlichen Standpunkt mögliche menschliche Selbsterkenntnis vorweg (S. 228), allerdings „ermangelt“ sie in dieser Vorwegnahme „des Vorzugs, vielen Subjekten gemeinsam zu sein“ (S. 257).508 508 Aber die „Version“ gesellschaftlicher Zukunft, „die den Apparat der Propaganda und die Mehrheit für sich hat, ist nicht schon deshalb die bessere. Vor dem allgemeinen historischen Umschlag kann die Wahrheit bei zahlenmäßig geringen Einheiten sein.“ (Horkheimer (1937), S. 258).

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Aus „dem tiefsten Verständnis der Gegenwart“ und dem „Eigensinn der Phantasie“, den der „Theoretiker [. . .] aufbringen muß“, entspringt so ein „Bild der Zukunft“ (S. 237) und begründet die „Hoffnung, die menschliche Existenz grundlegend zu verbessern“ (S. 250). Diese „Idee“ der Zukunft unterscheidet sich von „abstrakter Utopie“ durch den aus der kritisch-theoretischen Perspektive wissenschaftlich geführten „Nachweis ihrer realen Möglichkeit beim heutigen Stand der Produktivkräfte“ (S. 236). Der angestrebte „Zustand ohne Ausbeutung und Unterdrückung, in dem tatsächlich ein umgreifendes Subjekt, das heißt die selbstbewußte Menschheit existiert und in dem von einheitlicher Theoriebildung, von einem die Individuen übergreifenden Denken gesprochen werden kann“ (S. 257), also ein ideologiefreier Zustand, ist somit nicht bloß wünschenswert, sondern seine Verwirklichung ist objektiv möglich – und letztlich notwendig, um den Untergang der Menschheit abzuwenden. „Heute“, schreibt Horkheimer 1937, „da die ganze Macht des Bestehenden zur Preisgabe aller Kultur und zur finstersten Barbarei hindrängt“ (S. 258), hängt an „der Existenz des kritischen Verhaltens [. . .] die Zukunft der Humanität.“ (S. 259)509 Das innerweltliche Transzendenzmoment hat als identitätsbestimmendes Strukturelement kritisch-theoretischer Gesellschaftsbeschreibung also epistemologische und sozialphilosophische Funktionen. In ihm reflektiert die Kritische Theorie ihre eigene soziale Bedingtheit. Es ist dasjenige soziale Sein innerhalb der Gesellschaftsbeschreibung der Kritischen Theorie, das letzterer einen gegenüber anderen Perspektiven epistemologisch privilegierten Blick auf die – überwindungsbedürftige – gesellschaftliche Gegenwart gewährt, weil es über diese Gegenwart hinausweist. Die ‚Außenperspektive‘ auf die gesellschaftliche Totalität wird gleichsam verzeitlicht: im Rückblick sieht man mehr, und die Figur der Transzendenz, die innerweltlich ist – also schon zeitlich gegenwärtig und im sozialen Sein, nicht metaphysisch, gegeben – erlaubt diesen epistemologisch privilegierten Blick bereits jetzt. Deswegen sind auch in spezifisch sozialphilosophischer Hinsicht die normativen Maßstäbe, an denen die Kritische Theorie ihre Diagnose und Therapeutik sozialer Pathologien der gegenwärtigen Gesellschaft ausrichtet,510 nicht beliebig oder spekulativ, noch ist ihre kritische Programmatik ohnmächtig oder utopisch. Denn aus dem innerweltlichen Transzendenzmoment bezieht sie einerseits die Maßstäbe ihrer Kritik an den bestehenden Verhält509 Vgl. die ähnliche und doch ganz andere Prognose von Georg Lukács, anderthalb Jahrzehnte zuvor: Wenn „die blinden Kräfte in wirklichem Sinne blind, mit ständig wachsender, scheinbar unwiderstehlicher Gewalt zum Abgrund dahintreiben, [. . .] so hängt das Schicksal der Revolution (und mit ihr das der Menschheit) von der ideologischen Reife des Proletariats, von seinem Klassenbewußtsein ab.“ (Lukács (1923), S. 154 – H. i. O.). 510 Vgl. Honneth (1994b).

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nissen. Sie bringt gewissermaßen mandatarisch auf den Begriff, was an Entfremdung und Bedürfnisnegation unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen und durch diese bedingt erlebt und erlitten wird, analysiert diese soziale Bedingtheit und reflektiert ‚sozialtherapeutische‘ Möglichkeiten, diese soziale Wirklichkeit im ganzen zu verändern. Andererseits weiß die Kritische Theorie jenes innerweltliche Transzendenzmoment als das vorwissenschaftliche Movens jener Veränderungen, die sie selbst nur sozialphilosophisch als Bedürfnis artikulieren und als zukünftige Wirklichkeit antizipieren kann. Es ist der Garant dafür, daß die Kritik nicht im luftleeren Raum eines metaphysischen Ideenhimmels hängen bleibt, sondern nicht nur gerechtfertigt, sondern auch realisierbar ist. Dem Selbstverständnis Kritischer Theorie zufolge kommen sich also im innerweltlichen Transzendenzmoment Kritische Theorie und soziale Wirklichkeit entgegen. Günstigstenfalls ist das innerweltliche Transzendenzmoment ein Akteur, den die Kritische Theorie zum Zwecke seiner Selbstaufklärung adressiert, wie dies beim Proletariat des Historischen Materialismus der Fall gewesen war, das aber der Frankfurter Schule in der Dialektik der Aufklärung längst abhanden gekommen war. Bezüglich des Proletariats im engeren, klassensoziologischen Sinn war man schon früher skeptisch, wie Horkheimers diesbezügliche Ausführungen in Traditionelle und kritische Theorie gezeigt haben; in der Dialektik der Aufklärung und der mit ihr verbundenen Flaschenpost-Metapher kann man sich nicht einmal mehr eines adressierbaren Akteurs überhaupt sicher sein. Entscheidend für den anhand dieser theoretischen Strukturelemente und Funktionszusammenhänge beschriebenen Theorietypus ist aber nicht, worin das innerweltliche Transzendenzmoment erkannt und wie optimistisch bzw. pessimistisch seine Handlungsfähigkeit eingeschätzt wird, sondern daß es überhaupt als solches in einer relativen Eigenständigkeit von der Kritischen Theorie ausgemacht wird. Dabei variiert auch das Ausmaß an kritisch-theoretischem Aufklärungsbedarf bzw. historischer Eigendynamik, die dem innerweltlichen Transzendenzmoment von Seiten der Kritischen Theorie zugeschrieben wird. Für Marx und Engels bedurfte es theoretisch im Grunde keiner Intervention von Intellektuellen, damit das Proletariat seiner historischen Mission, die Klassengesellschaft aufzuheben und die Menschheit zu emanzipieren, nachkomme; allenfalls konnte man diesen mit gesetzmäßiger Notwendigkeit stattfindenden Prozeß durch Aufklärung beschleunigen, um so die Menschheit früher in den Genuß der Freiheit zu bringen und die Opferzahlen niedrig zu halten. Wenn eine solche Möglichkeit besteht, ist dies freilich moralisch geboten. Für die marxistischen Nachfolger des Historischen Materialismus war dies Grund genug, sich um die politische Organisation und Agitation des Proletariats zu kümmern, um den historischen

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Prozeß voranzutreiben. Aber spätestens mit Lenin und seiner Theorie der Avantgarde, die das revolutionäre Bewußtsein überhaupt erst in das von sich aus bloß reformistisch-gewerkschaftlich orientierte Proletariat hineinzutragen habe,511 wurde die Aktivität des Intellektuellen wieder – wie schon bei den Junghegelianern, gegen die Marx und Engels die Eigendynamik des innerweltlichen Transzendenzmomentes geltend gemacht hatten – zur conditio sine qua non für die Emanzipation der Menschheit. Die weltgeschichtliche Mission, als deren historischen Agenten Marx und Engels das Proletariat ausgemacht hatten, geht in der Theorie und Praxis des Bolschewismus faktisch an die Partei und deren Führer über. Hatte der Historische Materialismus von Marx und Engels im Proletariat noch jenes Movens in der sozialen Wirklichkeit erkannt, das mit objektiver Notwendigkeit die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft überwinden werde – dabei vom Wissenschaftlichen Sozialismus allenfalls zusätzlich motiviert und beschleunigt, aber nicht auf diesen angewiesen –, so werden nun die Aktivitäten marxistischer Intellektueller selbst zum eigentlichen Schrittmacher der Weltrevolution, ohne den das Proletariat weder wüßte daß, noch wohin es sich bewegen soll. Zugleich gingen damit im leninistisch-stalinistischen Experiment die beiden vormals geschiedenen Elemente des auf die Veränderung des Ganzen zielenden Intellektuellen und des diese Veränderung in der sozialen Realität bewirkenden Akteurs eine Verbindung ein, die theoretisch und in ihren praktischen Konsequenzen den ursprünglichen Sinn einer Kritischen Theorie dementierte. Wo das revolutionäre Subjekt und sein theoretischer Interpret in Gestalt der totalitär herrschenden Partei bzw. ihres Führers identisch sind, da ist die Theorie nicht mehr kritisch und das Subjekt nicht mehr emanzipatorisch. Hier ist der Marxismus zur Ideologie geronnen; als solche leugnet er den durch die von ihm beglaubigte Herrschaft noch drängender erzeugten Bedarf an Transzendenz und unterbindet Kritik. Die Wirklichkeit des Leninschen Dogmas: „Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist“,512 ist seine Umkehrung.513 511

Siehe oben, V. 4. b) aa) und ff). Lenin (1913), S. 329. 513 Rückblickend sieht es so aus, als hätten die Gründer des Historischen Materialismus zu hohe Erwartungen in das Proletariat gesetzt und in gewisser Weise – so wie in Feuerbachs Erzählung von der Projektion des Menschenwesens in die Gottheit – ihr eigenes ‚Intellektuellenwesen‘ in die zum weltgeschichtlich-emanzipatorischen Subjekt stilisierte Arbeiterklasse projiziert. In Lenins Revision des Marxismus wird diese ‚Entäußerung‘ gleichsam zurückgenommen, und es kommt zum Ausdruck, daß die Intellektuellen von jeher die besseren ‚Proletarier‘ waren, nämlich diejenigen mit dem wahrhaft kritischen und revolutionären Bewußtsein. Mannheim hat dieses Geheimnis ausgeplaudert und wurde dafür gerügt; vgl. z. B. Mannheim (1929), S. 137 ff., 221 f.; Lewalter (1930); Neurath (1930); Wittfogel (1931). Die 512

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Gegen diese ideologische Entwicklung des Marxismus machte die Frankfurter Schule das originär kritisch-theoretische Erbe des Historischen Materialismus geltend, allerdings, wie dargestellt, mit der historisch, aufgrund der Erfahrungen mit den Irrwegen der Arbeiterbewegung seit 1914 und 1917, wie theoretisch gebotenen Skepsis gegenüber dem Proletariat als dem klassischen Paradigma eines innerweltlichen Transzendenzmoments. Stattdessen betonte man in stärkerem Maße die Aufklärungsverpflichtung der Kritischen Theorie, und dies nicht nur gegenüber einem potentiell adressierbaren emanzipatorischen Akteur, sondern zunächst vor allem hinsichtlich der Existenz emanzipatorischer Interessen in der Wirklichkeit überhaupt. Letztere ließen sich nicht mehr einfach mit dem Klassenstandpunkt des Proletariats identifizieren, sie mußten aber als innerweltliches Transzendenzmoment vorhanden sein; und so bestand die Aufgabe der Kritischen Theorie darin, nicht zuletzt um ihrer epistemologischen und sozialphilosophischen Selbstbeglaubigung willen, dieses auszuweisen, dabei aber zugleich von Lenin betriebene Identifikation des avantgardistischen Intellektuellen – des von Nettlau so genannten ‚marxistischen Hohepriesters‘ – mit dem im Proletariat repräsentierten innerweltlichen Transzendenzmoment entbehrt, angesichts der Weigerung des Proletariats, seiner welthistorischen Mission nachzukommen, nicht der Konsequenz: wenn das reale Proletariat nicht aktiv wird, muß der Intellektuelle selbst anpacken und jenes aufklären, organisieren, führen – und in letzter Instanz auch selbst die ‚Diktatur des Proletariats‘ errichten, um anstelle und im Namen des Proletariats zu herrschen. Für die Intellektuellen der Frankfurter Schule war diese Konsequenz nicht nur inakzeptabel, sondern auch einer der Anlässe für ihre eigene kritische Revision und (vor allem psychoanalytische) Erweiterung der historisch-materialistischen Tradition im Programm einer Kritischen Theorie der Gesellschaft. – Gleichwohl geht in beiden Fällen die ursprünglich von Marx und Engels dem Proletariat zugewiesene welthistorische Verantwortung an den Intellektuellen über, wenn auch in den entgegengesetzten sozialphänomenologischen Formen einer totalitären Diktatur, die als eine solche des ‚Proletariats‘ ideologisch verbrämt wird, einerseits und einer – von den Parteigängern jener als „Grand Hotel Abgrund“ (Lukács (1962), S. 16) geschmähten (vgl. Reijen/Schmidt Noerr (1990a), S. 10 f.) – kritischen Intellektuellenschule andererseits, die sich zuletzt im Bewußtsein der ideologisch-verblendungsbedingten Abwesenheit eines revolutionären Subjekts und Adressaten ihrer Kritik selbstbewußt als Statthalter jenes vormals im Proletariat erkannten innerweltlichen Transzendenzmomentes weiß. Die Akzentsetzungen im Umgang mit der Unbotmäßigkeit des Proletariats sind verschiedene. Lenin antwortet auf sie mit der bewußtseinstheoretisch beglaubigten Aufwertung des avantgardistischen Intellektuellen, der das revolutionäre Bewußtsein in das von sich aus nur zu trade-unionistischem Bewußtsein disponierte Proletariat hineinzutragen hat und damit einen Erziehungs- und Führungsauftrag erhält, der faktisch die Diktatur der Bolschewiki legitimiert. Horkheimer und die Seinen fragen überhaupt erst nach den Ursachen für diese Unbotmäßigkeit, und suchen sie in dem komplexen Zusammenwirken der psychischen und soziokulturellen Reproduktionsbedingungen der modernen bürgerlichen Gesellschaft. Deren wissenschaftliche Erforschung ist daher die vorrangige Aufgabe der Kritischen Theorie, und dieser widmen sich die Studien über Autorität und Familie.

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gesellschaftstheoretisch und psychoanalytisch zu erklären, was seiner Verwirklichung in der herrschaftlich-ideologischen Realität im Wege steht. Für den kritisch-theoretischen Aufklärer tritt an die Stelle des politischen, organisatorischen und agitatorischen Engagements, mit dem der marxistische Intellektuelle unmittelbar auf die proletarische Bewußtseinsbildung zielen konnte, nun die erneute wissenschaftliche Analyse und theoretische Reflexion der psychischen und soziokulturellen Produktions- und Reproduktionszusammenhänge in der Moderne, um überhaupt erst zu erfassen, was an innerweltlich-transzendenten, also emanzipatorischen Tendenzen in der gegenwärtigen Gesellschaft vorhanden ist, wie diese zu aktivieren sind, und was ihrer Durchsetzung entgegensteht. Diesem Ziel dienen auch die Studien über Autorität und Familie. Im Vorwort hierzu bestimmt Horkheimer die „Aufgaben des Instituts [für Sozialforschung]“ dahingehend, den „Zusammenhang zwischen den verschiedenen Bereichen der materiellen und geistigen Kultur zu erforschen“ und insbesondere das ‚grundlegende Problem‘ zu untersuchen, „wie es zugeht, daß die verschiedenen Kultursphären fortlaufend in einer für die Gesellschaft lebenswichtigen Art miteinander in Beziehung stehen und erneuert werden.“514 Daraus begründet er auch die „Wahl des Themas Autorität und Familie“:515 „Je mehr wir die Bedeutung der politischen, moralischen und religiösen Anschauungen der neueren Zeit für die Gesellschaft analysierten, umso deutlicher trat die Autorität als ein entscheidender Faktor hervor. Die Stärkung des Glaubens, dass es immer ein Oben und Unten geben muss und Gehorsam notwendig ist, gehört mit zu den wichtigsten Funktionen in der bisherigen Kultur. [. . .] Unter allen gesellschaftlichen Institutionen, welche die Individuen für Autorität empfänglich machen, steht aber die Familie an erster Stelle. Nicht bloß erfährt der Einzelne in ihrem Kreis zuerst den Einfluss der kulturellen Lebensmächte, so dass seine Auffassung der geistigen Inhalte und ihre Rolle in seinem seelischen Leben wesentlich durch dieses Medium bestimmt ist, sondern die patriarchalische Struktur der Familie in der neueren Zeit wirkt selbst als entscheidende Vorbereitung auf die Autorität in der Gesellschaft, die der Einzelne im späteren Leben anerkennen soll. Die grossen zivilisatorischen Werke des bürgerlichen Zeitalters sind Produkte einer spezifischen Form menschlicher Zusammenarbeit, zu deren stetiger Erneuerung die Familie mit ihrer Erziehung zur Autorität einen wichtigen Teil beigetragen hat.“516 Gerade an der letzten Wendung, an der Horkheimers „Tendenz zur Vergoldung einstigen liberalen Bürgertums“ im Angesicht des Totalitarismus 514 515 516

Horkheimer (1936b), S. VII f. Horkheimer (1936b), S. VII. Horkheimer (1936b), S. VIII.

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zum Ausdruck kommt,517 wird nochmals deutlich, daß es aus kritisch-theoretischer Perspektive nicht, wie für den ‚antiautoritären Anarchismus‘, darum gehen kann, ‚die Autorität‘ als solche und im Ganzen zu verwerfen, sondern daß diese zunächst in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen und soziokulturellen wie psychischen Wirkungszusammenhängen zu analysieren ist. Wenn daher auch das „Problem von Autorität und Familie [. . .] nicht in den Mittelpunkt der Theorie der Gesellschaft“ gehört, so verdient es doch „eine grössere Aufmerksamkeit, als sie ihm bisher zugewandt worden ist. In ihrer Bedeutung für die Autorität in der gegenwärtigen Gesellschaft hat die Familie stets einen zwischen materieller und geistiger Kultur vermittelnden Faktor gebildet und bei dem regelmäßigen Ablauf und der Erneuerung des allgemeinen Lebens in der gegebenen historischen Form eine unvertretbare Rolle gespielt.“518 „Aber“, so führt Horkheimer in seinem theoretischen Beitrag dann aus, von dieser „gegenwärtig in Europa vorherrschenden Gesellschaftsform, die sich auch über Amerika erstreckt und allen kolonialen Gebieten ihren Stempel aufdrückt, ist es im höchsten Maße wahr, daß sie trotz der in ihrem Rahmen sich gleichmäßig wiederholenden Prozesse ein aus immanenten Gründen zum Untergang treibendes Gebilde darstellt. Diese Gestalt des menschlichen Zusammenlebens befindet sich in heller Krise. [. . .] Die Betrachtungsart der Kultur, welche in diesem kritischen Augenblick [. . .] angemessen ist, betrifft die Rolle der einzelnen Kultursphären und ihre sich wandelnden Strukturverhältnisse bei der Aufrechterhaltung oder Auflösung der jeweiligen Gesellschaftsform.“519 Um die gegenwärtige Krise, ihre Gefahren, aber auch in ihr sich darbietende emanzipatorische Auswege realistisch einschätzen zu können, bedarf es gegenüber dem ökonomistisch-klassensoziologischen Reduktionismus der marxistischen Tradition einer komplexer ansetzenden Analyse der „einzelnen Kultursphären und ihre[r] sich wandelnden Strukturverhältnisse“,520 der „Einrichtungen und Vorgänge auf allen Kulturgebieten“ in ihrer Bedeutung „als zusammenhaltende beziehungsweise auflösende Momente der gesellschaftlichen Dynamik“,521 der hierbei „vermittelnden Institutionen“522 und anderer „kultureller Faktoren“ in ihrer „relative[n] Eigengesetzlichkeit“523 und in ihren „ineinandergreifende[n]“ Zusammenhängen und den Wechselwirkungen mit der „seelischen Beschaffenheit der Menschen“,524 517 518 519 520 521 522 523 524

Wiggershaus (1988), S. 177; vgl. auch Horkheimer (1936c), S. 166, 204. Horkheimer (1936b), S. XII. Horkheimer (1936c), S. 129 f. Horkheimer (1936c), S. 130. Horkheimer (1936c), S. 131. Horkheimer (1936c), S. 133. Horkheimer (1936c), S. 135. Horkheimer (1936c), S. 136.

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deren „jeweilige[] psychische[] Verfassung“, „spezifische Fähigkeiten und Dispositionen“ schließlich in ihrem historisch-sozialen Bedingungszusammenhang „in den verschiedenen sozialen Gruppen“ und „im Zusammenhang mit allen kulturellen Bildungsmächten der Zeit“ zu erforschen und zu begreifen sind.525 Kurz: Es bedarf der Kritischen Theorie und ihrer komplexitätsadäquaten Perspektive auf die Gesellschaft, um in der gegenwärtigen Situation noch ein Moment innerweltlicher Transzendenz auszumachen. Worin dieses Moment besteht, versteht sich nicht mehr – wie noch in der marxistischen Tradition – von selbst. Aber in jedem Fall beschreibt die Kritische Theorie das innerweltliche Transzendenzmoment als etwas – und sei es nur als Ahnung der Abwesenheit von Leid – von ihr unabhängig in der vortheoretischen Wirklichkeit Existierendes. Das Verhältnis von innerweltlichem Transzendenzmoment und Kritischer Theorie läßt sich also als eine spannungsreiche Kopplung verstehen, die sich erst in einer Gesellschaft auflösen wird, die weder der Kritik, noch der Transzendenz bedarf. Bis dahin markiert diese Figur die Identität der Kritischen Theorie in Differenz zu solchen Positionen, die das gegebene Sein als solches bloß zu beschreiben oder zu optimieren beanspruchen oder diesem Sein in einem unvermittelten Dualismus ein von diesem getrenntes, sozial unreflektiertes und wirkungsloses Sollen gegenüberstellen, wie z. B. Positivismus, Pragmatismus und Neukantianismus.526 Und auch in Differenz zu solchen Positionen, die die herrschenden Verhältnisse ideologisch verklären und deren Kritik- und Transzendenzbedarf leugnen, oder aber diese durch eine andere ideologisch verklärte Herrschaftsform zu ersetzen streben, wie die völkischen und faschistischen Ideologien,527 aber auch die zeitgenössischen Varianten des dogmatischen Marxismus, insbesondere seine zur totalitären Herrschaftsideologie geronnene doktrinäre Fassung in Gestalt des Marxismus-Leninismus. dd) Hans Mayer Die Inblicknahme Stirners in Hans Mayers Beitrag Autorität und Familie in der Theorie des Anarchismus ist in analytischer wie wertender Hinsicht durch dieses spezifische Selbstverständnis bestimmt, in dem sich die Kritische Theorie im Hinblick auf ein ihr kongeniales innerweltlich-transzendentes Moment in der sozialen Wirklichkeit epistemologisch und sozialphilosophisch reflektiert. Diese Figur liefert zum einen den Maßstab, anhand dessen das antiautoritäre Theorieangebot von Anarchisten wie Stirner geprüft, 525 526 527

Horkheimer (1936c), S. 130 f. Vgl. Horkheimer (1937), S. 213 ff. Vgl. Horkheimer (1937), S. 227, 256.

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für theoretisch zu leicht befunden und verworfen wird (1).528 Zum andern bildet sie den perspektivischen Hintergrund und die reflexive Beglaubigung für die ideologiekritische Einordnung und Analyse der gesellschaftlichen Funktion und Wirkungsweisen der anarchistischen Ideologie (2). (1) Kritische Theorie vs. dualistische Sozialethik Bezüglich seiner semantischen Struktur charakterisiert Hans Mayer das anarchistische Theorieangebot als „dualistische[] Sozialethik“529 auf der ideellen Grundlage des „Antiautoritarismus“ (S. 826). Als Leitdifferenz aller anarchistischen Lehren fungiert der von Nettlau bekannte „Gegensatz[] von Autorität und Freiheit“ (S. 834). Dieser wird als „ethischer Dualismus“ (S. 838) dem „Dualismus von Sein und Sollen“ eingeschrieben und erscheint so als Gegensatz „von herrschender Autorität und geforderter Freiheit“ (S. 841). Die anarchistische Unterscheidung ‚Autorität vs. Freiheit‘ ist also ethisch (nicht wissenschaftlich) und dualistisch (nicht dialektisch) und unterscheidet sich insofern in beiderlei Hinsicht von der Kritischen Theorie, die in der wissenschaftlichen Analyse der Gesellschaft jenes im sozialen Sein selbst wirksame innerweltliche Transzendenzmoment gewinnt, das den Bezugspunkt ihrer Kritik bildet. „Jede anarchistische Theorie steht im Zeichen des ‚Dualismus von Sein und Sollen‘. Dieser besteht darin, dass die wirkliche Welt, welche die Anarchisten kritisieren und die sie vernichten wollen, das ‚Sein‘ bildet, dem die zukünftige anarchistische Gesellschaftsordnung als das ‚Sollen‘ gegenübergestellt wird. Der Zustand der Anarchie ist also ein Sollen, ein Gebot und zwar ein Gebot der politischen Ethik. Die Anarchie ‚soll‘ entstehen, weil sie die Ungerechtigkeiten des heutigen Seins aufheben wird. Sie ‚soll‘ sein, weil in ihr die ‚Gerechtigkeit‘ herrschen wird. Mehr noch: auch das Sein, die bekämpfte Wirklichkeit, wird ethisiert. Sie ‚soll‘ untergehen, weil sie die Gerechtigkeit nicht verwirklicht, sondern unterdrückt. [. . .] Die Anarchie 528 Mayers Artikel steht in der Dritten Abteilung der Studien über Autorität und Familie im Abschnitt ‚Literaturberichte‘ im Kontext von Beiträgen, die die Problematisierung des Themas ‚Autorität und Familie‘ in verschiedenen wissenschaftlichen Zusammenhängen behandeln; die meisten dieser Beiträge haben soziologische Texte zu dieser Problematik zum Gegenstand. D. h. es geht in dieser Abteilung prinzipiell um eine kritische Sichtung – und potentielle Aneignung – bereits vorliegender Erkenntnisse bzw. wissenschaftlicher Theorieangebote zum Thema ‚Autorität und Familie‘, so daß also auch die ‚Theorie des Anarchismus‘ unter der Fragestellung, was diese wissenschaftlich zum Thema beizutragen habe, behandelt wird, obwohl sie als einziges der in den ‚Literaturberichten‘ thematisierten Theorieangebote zugleich eine politische Weltanschauung ist (vgl. Horkheimer [Hg.] (1936a), S. XIV f.). 529 Mayer (1936a), S. 828. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich im vorliegenden Unterabschnitt ebenfalls auf Mayer (1936a).

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erscheint als ethisches Postulat, die heutige Welt als seine Negation, als ‚das Böse‘, die ‚Ungerechtigkeit‘.“ (S. 827 – H. i. O.) Diese bloß ethischdualistische Betrachtungsweise des Anarchismus kontrastiert Mayer „zur Verdeutlichung“ mit der innerweltlichen Transzendenzkonstruktion des Historischen Materialismus: „Marx sieht in den Gegensätzen Kapitalismus – Kommunismus keine ethischen Gegensätze“, vielmehr geht er in seiner „methodische[n] Betrachtungsweise“ sozialwissenschaftlich „von der Wirklichkeit, von der Anatomie der kapitalistischen Gesellschaft aus; nach ihm zielen ihre Widersprüche tendenziell zur Aufhebung der Grundlagen des bestehenden Systems hin, und zwar durch die Arbeit einer bestimmten sozialen Klasse, des Proletariats, von dem ebenfalls nicht postuliert wird, dass es den Kapitalismus stürzen ‚soll‘, sondern dem Marx die Realitäten aufzeigt, welche die Arbeiterklasse zum Zusammenschluss und zur Aktion treiben werden. Der Sozialismus wird so zum sozialen Prozess mit realer Entwicklung und notwendigen Etappen, nicht zum ethischen Postulat.“ (S. 827 f. – H. i. O.) Dieser historisch-materialistischen Theoriefigur eines in der sozialen Realität auszumachenden innerweltlichen Transzendenzmomentes, dessen Erkenntnis das eigene kritisch-theoretische Geschäft beglaubigt, bleibt, bei allen Weiterentwicklungen gegenüber dem originären Historischen Materialismus, wie dargestellt, auch die Frankfurter Schule verpflichtet. Anders als in der innerweltlichen Transzendenzkonstruktion der Kritischen Theorie wird also in der Theorie des Anarchismus dem kritisierten gesellschaftlichen Sein abstrakt und unvermittelt ein sozial unreflektiertes ideales Sollen entgegengesetzt. Durch die einfache Gleichsetzung von „Autorität“ und „Sein“ einerseits, von „Freiheit“ und „Sollen“ andererseits (S. 841) kann der Anarchismus aber weder erklären, woher die Maßstäbe kommen, anhand derer das ‚Sein‘ kritisiert wird, noch kann er begründen, welche Verwirklichungsaussichten das ‚Sollen‘ hat. Entscheidend „für das Verständnis des ganzen anarchistischen Denkens“ ist dementsprechend diese „Zusammenhangslosigkeit [. . .] zwischen der Kritik an den bestehenden sozialen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen einerseits, dem Ideal, der prophetisch ausgemalten anarchistischen Gesellschaft und dem Weg zu diesem Ziel andererseits.“ (S. 825) Diese ‚Zusammenhangslosigkeit‘, das theoretische Unvermögen, sozialwissenschaftlich zwischen ‚Sein und Sollen‘ zu vermitteln, ist aufs engste mit dem abstrakten Autoritätsverständnis des Anarchismus bzw. seiner ‚antiautoritären‘ Grundlage und Zielsetzung verbunden. Der Anarchismus bekennt sich programmatisch „zur Abschaffung des Staates und Rechts und zu einem Zustand der Freiheit des Individuums, in welchem alle zwangsweisen Bindungen und Einschränkungen dieser Freiheit, so weit sie nicht freiwillig übernommen werden, aufgehört haben.“ (S. 825) Um dies zu er-

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reichen, fordert die anarchistische Theorie den „Kampf gegen die ‚Autorität‘“, da sie aber als „autoritär“ völlig abstrakt und undifferenziert „jede Bindung an Befehle oder Gesetze [. . .], jede verpflichtende Subordination [. . .] bezeichnet“ (S. 824 f.), scheut sie sich, Auskunft über ihre eigene Rolle in diesem Emanzipationsprojekt zu geben. Dies zählt zu den „Grundantinomien jeder anarchistischen Konzeption“, die bereits bei der „[S]ystemfeindlich[keit]“ anarchistischer Theorie und den daraus erwachsenden formalen Problemen beginnen und bezüglich der anarchistischen Praxis und ihrer „programmatischen Festlegung“ in das „Problem der Spontaneität“ im Widerspruch zu Planung und Organisation münden (S. 825 f.). Das betrifft nicht nur die Vorstellung davon, wie die angestrebte „freie Assoziation“ als zukünftige Sozialform auszusehen habe (S. 840), sondern bereits die Frage, wie diese herbeizuführen ist. „Die Antinomien des anarchistischen Denkens tauchen stets da auf, wo der anarchistische Theoretiker von der Grundlage der antiautoritären Gesinnung aus darzustellen versucht, wie die Aktion aussehen wird, die das anarchistische Ziel, die sofortige Abschaffung des Staates und des Rechtssystems, verwirklicht und die nicht – das ist ja ebenfalls durch das autoritäre Prinzip vorausgesetzt – organisierte und von Führern geleitete Aktion sein soll.“ (S. 826 – H. i. O.) Die anarchistische Theorie hat also aufgrund ihrer ethisch-dualistischen Form und der spezifisch antiautoritären inhaltlichen Bestimmung dieser Form ein doppeltes Problem bezüglich der Verwirklichung der von ihr propagierten emanzipatorischen Zielsetzung. Einerseits kann sie diese Zielsetzung nur ethisch postulieren, und nicht als reale Entwicklungstendenz in der sozialen Wirklichkeit nachweisen, ist also darauf angewiesen, dem Sein ein bloßes Sollen entgegenzusetzen; und andererseits kann sie dieses Sollen nicht einmal mit der eigenen theoretischen Autorität ausstatten und vertreten, ohne zum eigenen antiautoritären – gesollten – Prinzip in Widerspruch zu geraten. Das Sollen bleibt bezüglich der in ihm postulierten emanzipatorischen Ideale ohnmächtig – aber dafür ideologisch disponibel, weil ‚spontan‘ von den jeweils realiter in der sozialen Wirklichkeit vorkommenden Interessen und weltanschaulichen Tendenzen interpretierbar und gestaltbar. So machte es beispielsweise die „Reduzierung auf das antiautoritäre und antistaatliche Bekenntnis [. . .] dem Anarchismus auch so leicht, um die Jahrhundertwende in die Künstler- und Literatenkreise Münchens und des Montparnasse einzudringen und dort die merkwürdige Form der ‚anarchistischen‘ Libertinage zu schaffen.“ (S. 826)530 Dieser ideologischen Verfügbarkeit leistet zusätzlich der Umstand Vorschub, daß der für den Anarchismus identitätsbestimmende „Dualismus von 530

bb).

Siehe oben, V. 2. c) und 4. a) und b) gg). Siehe auch IV. 2., VI. 2. und 3. a)

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VII. Der Egoismus des Einzigen und sein Verein

Autorität und Freiheit“ (S. 838 – H. i. O.) innerhalb der anarchistischen Theorietradition selbst in zwei grundsätzlich unterscheidbaren Ausdeutungen vorliegt. Die anarchistische Leitdifferenz ‚Freiheit vs. Autorität‘ wird auf der Seite des normativ positiven Wertes mit der Unterscheidung ‚Gesellschaft vs. Individuum‘ gekreuzt und findet sich dementsprechend in der anarchistischen Tradition zum einen in Form der Unterscheidung ‚soziale Gleichheit vs. Ungleichheit‘, die als Prinzip historisch in den sogenannten „kommunistischen Anarchismus“ mündet (S. 844), zum anderen in Form der Unterscheidung ‚Freiheit vs. Unfreiheit des Einzelnen‘, deren historischer Ausdruck der „individualistische Anarchismus“ ist (S. 845).531 Diese „zwei grossen und untereinander sehr verschiedenen Strömungen [. . .], die beide unter dem Namen Anarchismus laufen“ haben somit zwar jenen ethischen Dualismus „und die daraus entspringenden Antinomien“ gemeinsam, und in ideologiegeschichtlicher Hinsicht auch „die Herkunft von den bürgerlichen Revolutionen und ihren Problemen. Von dieser Grundlage aus entwickelt sich aber auf der einen Seite ein Anarchismus, der das Problem Autorität und Freiheit in Gestalt des Gegensatzes Egalität und Inegalität konzipiert, der auf eine kollektivistische Form der anarchistischen Gesellschaft hinarbeitet und durch das Prinzip der Solidarität den Aufbau einer autoritätslosen Gesellschaft verwirklichen will. Diese anarchistische Richtung geht aus von Godwin und Babeuf, sie führt über Proudhon zu Bakunin und Kropotkin und landet beim Syndikalismus. Es ist im Grunde eine revolutionäre, wenn auch bürgerlich-revolutionäre Bewegung. Die andere Strömung des Anarchismus geht vom Individuum und seinen alleinigen Interessen aus. Sie stellt den Gegensatz: Autorität – Freiheit in der schroffsten Form des Gegensatzes Freiheit oder Unfreiheit des Einzelnen. Sie kennt keine kollektive anarchistische Gesellschaft der Zukunft und kein Solidaritätsprinzip, sie kennt nur den ‚Egoismus‘ des Einzelnen. Diese Strömung des Anarchismus beginnt mit Max Stirner und endet bei den Libertins und Literaten des ‚anarchistischen Individualismus‘, der den anarchistischen Kollektivismus leidenschaftlich bekämpft. Diese Strömung ist bewusst unrevolutionär, sie ist in ihren kulturpolitischen Zielen ein Ausläufer des kulturpolitischen Liberalismus gewesen. Für diese Bewegung und ihren ‚Anarchismus‘ ist Stirner tatsächlich der erste Anarchist ihres Sinnes, konservativ und antirevolutionär wie sie.“ (S. 833 f. – H. i. O.) Es ist von daher „[k]ein Zufall“, daß dieser „Individualismus [. . .] erst Stirners ‚Einzigen‘ sich als Stammvater entdeckt“ hat, denn er „macht mit der absoluten Präponderanz des Individuums ernst und schreitet, weil auf diesem Wege alle Hoffnung, eine Zukunftsgesellschaft bauen zu können, als eitle Utopie erscheint und erscheinen muss, konsequent zur Preisgabe dieser ganzen 531

Siehe auch oben, V. 3. a) und 4. a).

3. Die ‚Verbürgerlichung‘ des Einzigen zwischen den Weltkriegen

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Ideen von der anarchistischen Gesellschaft der Zukunft. Dieser Individualismus begnügt sich mit der Libertinage des ‚sich frei auslebenden Individuums‘ in der Gegenwart und mit dem Kampf gegen bestehende Schranken der individuellen Freiheit.“ (S. 845 – H. i. O.) Das ohnmächtig gesollte, vormals ethisch-kritische Ideal der Freiheit wird im anarchistischen Individualismus zur seinsbejahenden, affirmativen Ideologie des „sozialen Reformismus“ und der „individualistische[n] Libertinage“ (S. 848). Folgerichtig wurde der „Anarchismus zum reinen Individualismus“, der sich nicht mehr für die „Schaffung einer autoritätslosen Zukunftsgesellschaft“ interessiert, sondern in seinen Bestrebungen ganz der Gegenwart verhaftet bleibt (S. 848). Hier kehrt der Anarchismus wieder zu dem „liberalen Individualismus“ zurück, den William Godwin einst zur „anarchistischen Konzeption weiter[getrieben]“ hatte (S. 832). Stirner, der am Anfang dieser Linie ‚individualistischer Anarchismus – anarchistischer Individualismus – reiner Individualismus‘ steht, ist zugleich ein typischer Vertreter der Theorie des Anarchismus überhaupt, so daß sich an der semantischen Struktur seiner Konzeption des Einzigen – wie dann auch an dessen ideologiekritischer Analyse – die Grundprobleme des Anarchismus verdeutlichen lassen. Und so gilt umgekehrt das, was für den Anarchismus generell gilt, auch für den Einzigen. Seine Besonderheit gegenüber anderen anarchistischen Konzeptionen, etwa denjenigen Bakunins und Kropotkins, besteht lediglich in der spezifisch „idealistische[n] Form“, in der Stirner „die Kritik an der Autorität eröffnet und durchführt“ (S. 834). Und dieser verdankt sich der „rein konservative Charakter“ seines individualistischen Anarchismus (S. 838), während Mayer ja der anderen, kollektivistisch-kommunistischen Strömung des Anarchismus zumindest revolutionäre Intentionen – wenn auch objektiv ‚bürgerlich-revolutionär‘ – konzediert. „Anders darin als etwa Bakunin oder Grave, die durchaus in ihrer Autoritätskritik gegen die wirklichen Machthaber und gegen reale Autoritätsakte angingen“, führt Stirner „seine Paraden nicht gegen die wirklichen Institutionen der Autorität (Familie, Staat usw.), sucht also in seiner Kritik nicht an die Funktionen und die gesellschaftlichen Grundlagen jener Bollwerke der Autorität zu rühren, sondern bleibt stets bei einer Kritik an den Ideen oder Ideologien stehen, mit denen die realen Autoritätsmächte sich wie mit Schleiern umgeben.“ (S. 834 – H. i. O.) Daher sind Stirners „Kämpfe [. . .] beständig Schattenkämpfe“ (S. 834), die die wirklichen gesellschaftlichen Macht-, Herrschafts- und Gewaltverhältnisse unberührt lassen. Letztlich sind aber diese Unterschiede zwischen Stirners individualistischem Anarchismus und der kollektivistisch-kommunistischen Linie gradueller Art. In gewisser Weise enthüllt sich im „rein konservativen Charakter des Stirnerschen Anarchismus“ (S. 836) und seiner historischen Entwick-

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VII. Der Egoismus des Einzigen und sein Verein

lung zum ‚reinen Individualismus‘ die ideologische Wahrheit des Anarchismus überhaupt. In Mayers ideologiekritischer Betrachtung erweist sich der Einzige als Prototyp einer bestimmten gesellschaftlichen Bewußtseinslage innerhalb der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die je nach der historischen Situation auch – aber nicht nur – vom Anarchismus in seinen verschiedenen Ausprägungen bedient wird und sich in dessen Antiautoritarismus widerspiegelt.532 Bereits auf der Ebene der Semantik des Einzigen läßt sich „die typische anarchistische Fassung des Staats- und Autoritätsproblems“ erkennen (S. 834). „In den Grundproblemen des Gegensatzes von Autorität und Freiheit und den hieraus entspringenden Antinomien des anarchistischen Denkens ist Stirner in der Grundstruktur vollkommen den Grundkonzeptionen der Proudhon-Bakunin-Richtung vergleichbar. ‚Der Einzige und sein Eigentum‘ hat im Grunde nur ein einziges Problem: das der Autorität. Der ‚Einzige‘ sieht in der Welt (wie er sie sieht!) um sich und entdeckt überall Bindung, Unterordnung, die Forderungen der Unterwerfung, der ‚Aufopferung‘, die an sein Ich gestellt werden“ (S. 834 – H. i. O.). Ebenso wie diese Sichtweise des Einzigen ist auch seine ‚antiautoritäre‘ Folgerung, „die gänzliche Ablehnung aller Bindung“, für den Anarchismus „typisch“: „die Autorität wird nicht verneint, weil sie Herrschaft Unwürdiger ist oder weil sie eine ungerechte Sozialordnung schützt, sondern weil sie – Autorität ist, d. h. Unterordnung verlangt, ‚Mich unterdrückt hat‘. Diese Alternativen, die nicht nach Inhalt, Ziel und Trägern der Staatsmacht fragen, sondern das Individuum und die Autorität verabsolutierend gegeneinanderstellen, die Freiheit des Einzelnen nur im Abstreifen aller Bindungen, gleich welcher Art, erblicken, bilden die Grundkonzeption des anarchistischen Denkens schlechthin.“ (S. 834 f. – H. i. O.) Auch die anderen „typischen Abstraktionen des Anarchismus“ finden sich bei Stirner: zum einen in der Frage, wie die „Autorität“ zu besiegen und die dazu notwendige „planmässige[] Aktion mit der Spontaneität“ der Individuen zu verbinden sei, zum anderen „die Frage des Aufbaus der autoritätslosen Gesellschaft, der möglichen Verbindung eines äussersten Individualismus mit dem Zwang zur Assoziation“ (S. 835), also in den Fragen nach der Konzeption von Je-Einzigkeit als, erstens, gemeinsamer Aktion und als, zweitens, zukünftiger sozialer Ordnung. „Wie alle Anarchisten scheitert Stirner auch hier; er muss scheitern. Die erste Frage versucht er durch die Gegenüberstellung von ‚autoritärer‘ Revolution und anarchistischer ‚Empörung‘ zu lösen.“ (S. 835 – H. i. O.) Die ‚Revolution‘ setze Stirners Auffassung zufolge lediglich ‚neue Einrichtungen‘ an die Stelle der in ihr bloß politisch und sozial überwundenen alten institutionellen Ordnung, wogegen die ‚Empörung‘ die Institutionen schlechthin abschaffe, weil in ihr 532

Hierzu sogleich ausführlicher.

3. Die ‚Verbürgerlichung‘ des Einzigen zwischen den Weltkriegen

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die Individuen zu dem Bewußtsein kommen, sich nicht mehr ‚einrichten zu lassen‘, sondern sich nur noch ‚selbst einzurichten‘.533 Im Hinblick auf die Vorstellung gemeinsamer Aktionen gegen ‚die Autorität‘ bildet die ‚Empörung‘ für Mayer den „Kern nicht nur der Stirnerschen, sondern auch jeder anderen anarchistischen Konzeption [. . .]. Die Übereinstimmung geht bis in die Formulierung. Die ‚Empörung‘ Stirners ist ‚l’esprit de révolte‘ bei Grave und Kropotkin. Stirners Verachtung für die ‚neuen Einrichtungen‘ einer ‚autoritären‘ Revolution wird man bei Bakunin und Grave als Ablehnung der ‚Dekrete‘ einer revolutionären Regierung wiederfinden; der Spontaneitätsglaube der späteren Anarchisten findet sich bei Stirner in dem Begriff des ‚Emporkommens ohne Rücksicht auf die Einrichtungen‘.“ (S. 835 – H. i. O.) In der effektiv ‚antirevolutionären‘ Rebellionskonzeption stimmen der ‚konservative‘ Anarchismus Stirnerscher Provenienz und die andere, ‚revolutionär‘ auftretende Strömung des Anarchismus also überein. Und der Einzige ist das prototypische Inbild dieser Rebellion, in der die „anarchistische Antinomie von Spontaneität und planmäßiger Aktion [. . .] ungelöst“ bleibt (S. 836). Mit dieser „Unmöglichkeit, ein konkretes Bild des Umsturzprozesses zu geben, entsteht gleichzeitig die Unmöglichkeit, eine konkrete Taktik auszuarbeiten. Daher das völlig hilflose Suchen nach taktischen ‚Rezepten‘, womit Bakunin beim Terrorismus, Kropotkin beim Syndikalismus, Grave und Stirner bei trivialen Allgemeinheiten von ‚ideologischer Bewusstseinsklärung‘ und ‚Emporrichtung‘ landeten. Nichts enthüllt besser den rein konservativen Charakter des Stirnerschen Anarchismus.“ (S. 836 – H. i. O.) Aber dieser anarchistische ‚Konservatismus‘ ist nicht weniger rebellisch, individualistisch und ‚spontanistisch‘ als der anarchistische Terrorismus, und beide erwachsen aus demselben Prinzip bzw. derselben ungelösten ‚Antinomie‘. Die abstrakte Forderung nach je-einziger ‚Bindungslosigkeit‘ läßt sich nicht mit dem Planungs- und Organisationsbedarf gemeinsamer Aktionen vermitteln – und auch nicht mit den strukturellen Ordnungs-, Orientierungsund Verbindlichkeitserfordernissen sozialen Zusammenlebens. Dementsprechend zeigt sich das „gleiche Bild“ auch in Stirners Beantwortung der zweiten Frage, seinem „Versuch, eine Darstellung des autoritätslosen ‚egoistischen‘ Zustands zu geben. Dem Staate und der autoritären Gesellschaft wird der autoritätslose ‚Verein‘ entgegengestellt, dem der Einzelne freiwillig beitritt [. . .], aus dem er aber auch beliebig austreten kann. Die Autorität, die offiziell hier verbannt ist, wird durch ein Hintertürchen aber wieder eingelassen“ (S. 836 – H. i. O.), nämlich durch Stirners Unter533

Diesen Aspekt hatte bereits Georg Adler bei seiner Darstellung des Stirnerschen Anti-Institutionalismus hervorgehoben; siehe oben, VII. 2. a) cc). Vgl. auch Stirner, EE, S. 354 f.

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scheidung von ‚Freiheit‘ und ‚Eigenheit‘ und sein Zugeständnis, daß auch im ‚Verein‘ die ‚Freiheit‘ nicht grenzenlos, und nicht einmal unbedingt von derjenigen im staatlichen Zustand verschieden sei; entscheidend sei allerdings für Stirner, daß im ‚Verein‘ die ‚Eigenheit‘ gewahrt bleibe,534 was Mayer freilich nicht überzeugend findet: „Der Unterschied von ‚Freiheit‘ und ‚Eigenheit‘ ist nur ein Spiel mit Worten. In Wahrheit ist der Versuch, ein konkretes Bild des autoritätslosen Zustandes zu geben, gescheitert.“ (S. 836) So unzulänglich aus kritisch-theoretischer Sicht Stirners Auseinandersetzung mit dem Phänomen ‚Autorität‘ auch ist: zumindest wird es von ihm ausführlich behandelt. Indem sich Stirner als der Einzige von allen aus seiner Sicht als Einschränkungen erfahrenen „Bindungen zu befreien, ‚seine Sache auf sich selbst zu stellen‘ sucht, wird der ganze Gedankenweg seines Buches zur Kritik der Autorität und der autoritären Institutionen der Familie, der bürgerlichen Gesellschaft, der Partei, des Staates.“ (S. 834) Diese antiautoritäre Haltung macht die anarchistische Grundstimmung seines Buches aus. Über die Familie selbst, den zweiten in den kritisch-theoretischen Studien fokussierten thematischen Aspekt, erfährt man bei Stirner allerdings wenig. Und dieses wenige wird, Mayer zufolge, nach dem bekannten, abstrakt ‚ideologiekritischen‘ Schema abgehandelt, wobei sich die spezifisch anarchistischen Antinomien im Umgang mit der Gegenwart und in der Projektierung der Zukunft wiederholen. Grundsätzlich sind die „Probleme des Familienlebens [. . .] bei Stirner nur Besonderheiten des allgemeinen Autoritätsproblems“ (S. 836 – H. i. O.). Ebenso wie bei Bakunin ist bei Stirner die „bestehende bürgerliche Familie nur ein Teil der bekämpften Autorität schlechthin“, und beide richten ihre antiautoritäre Kritik nicht so sehr gegen die „unvollkommene Autorität des bürgerlichen Familienrechts“, sondern vornehmlich gleich gegen „die gewichtigere Autorität, den Staat“ (S. 841). An Stirners abstrakte „Reduzierung aller Probleme des Familienlebens auf das Autoritätsproblem“ schließt in der für ihn charakteristischen Weise die „Reduzierung des Autoritätsproblems auf den Ideologieschleier der Autorität“ an (S. 837). In spezifizierter, über „das nackte Autoritätsproblem“ hinausgehender Gestalt kommt bei ihm die ‚Familie‘ daher lediglich unter dem Aspekt der „Ideologien des ‚Familienwohls‘ und der ‚Pietät‘“ vor,535 ohne daß er diese allerdings bezüglich der „sozialen und ökonomischen Verhältnisse[], welche die bürgerliche Familie der Neuzeit schufen“, analysierte (S. 837 – H. i. O.). Stattdessen setzt er diesen ‚Ideologien‘ wie allen anderen abstrakt den „Egoismus“ des Einzigen und seine Weigerung, sich der „Familienidee“ – wie sonst einer ‚Idee‘ – ‚aufzuopfern‘, entgegen (S. 837 f.). 534 535

Vgl. Stirner, EE, S. 342 ff. Vgl. Stirner, EE, S. 82, 95 f., 150, 241 ff., 327.

3. Die ‚Verbürgerlichung‘ des Einzigen zwischen den Weltkriegen

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Stirners „völlige[m] Verzicht auf eine politisch und sozial ausgeprägte Kritik am System der bestehenden bürgerlichen Familie“ entspricht mit Blick auf den von ihm projektierten ‚Verein‘ der ebenfalls „völlige[] Verzicht auf eine konkrete Konzeption zukünftiger Familienverhältnisse“ (S. 838). Bezüglich der Familie wiederholt sich das allgemeine, aus den Antinomien des antiautoritären Denkens erwachsende Problem, eine als ‚bindungslos‘ vorgestellte ‚autoritätslose‘ Ordnung der Je-Einzigkeit zu konzipieren: „Vergeblich wird man auf konkrete Darstellungen der Familienbeziehungen in jenem ‚Verein‘ stossen. Wie Stirner nirgendwo konkrete Darstellungen des egoistischen Zustandes gibt, so auch nicht bei der egoistischen Familie der Zukunft.“ (S. 837 – H. i. O.) Im Hinblick auf die Familie als Primärsozialisationsinstanz verschärft sich jenes allgemeine Problem sogar. Denn wie Horkheimer und Erich Fromm in ihren Beiträgen zu den Studien über Autorität und Familie gezeigt hatten, konnte gerade der Mangel an elterlicher Autorität die Ausbildung ich-schwacher, autoritärer Charaktere begünstigen.536 Diese psychoanalytische Einsicht mußte die Vermutung nahelegen, daß die unreflektierte Anwendung des antiautoritären Ideals in der Erziehung nicht geeignet ist, jene ich-starken, reifen Charakterstrukturen hervorzubringen, in denen Stirner-Apologeten wie Nettlau und insbesondere Sveistrup die psychische Voraussetzung und den eigentlichen ethischen Wert der von Stirner projektierten Je-Einzigkeit erblickten. Auf dem sozialpsychologischen Reflexionsniveau der Kritischen Theorie erscheint Stirners von Mayer dargestellter Verzicht, eine bezüglich der Primärsozialisation der ‚autoritären Familie‘ funktional äquivalente Struktur im ‚Verein‘ zu skizzieren, daher als grobes Versäumnis, das aber wiederum für das Unvermögen anarchistischer Theorie bezeichnend ist, das abstrakte antiautoritäre Ideal in realistischer Weise mit den Ansprüchen und Erfordernissen gesellschaftsverändernder Praxis in Einklang zu bringen. (2) Ideologie der Mittelschichten Bezüglich ihrer sozialen Verortung, Funktion und Effekte charakterisiert Mayer die anarchistische Weltanschauung als Ideologie der „Mittelschichten“537 bzw. der „Mittelklassen“ (S. 830), also von sozialen Gruppen, die sich in klassensoziologischer Perspektive weder der Bourgeoisie noch dem Proletariat zurechnen lassen. Das marxistische Verständnis des Anarchismus als einer ‚bürgerlichen Ideologie‘, die mitunter „‚ideologisch rückständige[]‘ Arbeiterschichten“ anzusprechen vermag (S. 829), greift Mayer zu536

Vgl. Wiggershaus (1988), S. 173 ff.; vgl. auch Horkheimer (1936d), S. 66 f.,

113. 537 Mayer (1936a), S. 829. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich im vorliegenden Unterabschnitt weiterhin auf Mayer (1936a).

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VII. Der Egoismus des Einzigen und sein Verein

folge zu kurz. Es ist das reduktionistische Ergebnis der Anwendung des klassenantagonistischen Beobachtungsschemas, demzufolge das, was nicht ‚proletarisch‘ ist – und das heißt im doktrinären Stadium des Marxismus: das, was nicht dogmatisch marxistisch ist – ‚bürgerlich‘ sein muß. Dieser marxistische Reduktionismus wird aber weder dem Anarchismus in seinem Selbstverständnis und seiner eigenständigen ideologischen Funktion, noch der Bedeutung jener ihn zeitweise tragenden ‚Mittelschichten‘ in der modernen Gesellschaft gerecht. Bereits der sozialgeschichtliche Blick auf die „ökonomische oder soziale Zusammensetzung der anarchistischen Gruppen“ zeigt, daß sich die Trägerschichten des Anarchismus im historischen Wandel einer eindeutigen Verortung auf einer Seite der Unterscheidung ‚Bourgeoisie vs. Proletariat‘ entziehen. Stirner war „der Sprecher des intellektuellen Kleinbürgertums im vormärzlichen Preussen“, und der „Bakunismus fand seine Heimat in verbürgerlichten Arbeiterkreisen des Schweizer Jura und bei belgischen und Schweizer Handwerkern und Intellektuellen. Die Narodniki und Sozialrevolutionäre fanden die Resonanz des mittleren russischen Bauerntums. Der Anarchismus der 90er Jahre in Frankreich und Deutschland wurde zur Mode der fortschrittlichen bürgerlichen Intelligenz.“ (S. 829) Das „Geheimnis jener merkwürdigen sozialen Umschichtung vom Anarchismus in der ersten Internationale bis zur späteren Libertinage in Paris und München“ liegt darin, daß „der Anarchismus beständig mit keiner Klassenlage in Einklang zu bringen war.“ (S. 829 – H. i. O.) Seine Anhänger sind in jenem sozialen Raum zu finden, der zwischen den beiden vom Marxismus beschriebenen großen Klassen der ‚bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft‘ und jenseits ihres Antagonismus liegt. So ist es zwar richtig, daß der Anarchismus „nicht eine Theorie des Klassenkampfes ist“ (S. 828). Zur adäquaten Erklärung für „die Anziehungskraft des Anarchismus auf bestimmte Gruppen“ und zur „Erkenntnis der sozialen Funktion des Anarchismus“ ist es aber ebenso wichtig, die Tatsache zu berücksichtigen, daß „er nicht bewusst eine bürgerliche Ideologie darstellt“ (S. 828 f.), obwohl er aus dem bürgerlich-revolutionären Traditionsbestand schöpft. Sowohl die normativ-dualistische Form als auch die inhaltliche Bestimmung des Anarchismus als einer „politischen Ethik“ bezeugt seine semantische Herkunft aus der bürgerlichen Revolution. Die „‚Gerechtigkeit‘ der Anarchisten“, in deren Namen das gegenwärtige gesellschaftliche Sein bekämpft wird und untergehen soll, „ist der Kampfruf der bürgerlichen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Die heutige Welt ‚soll‘ untergehen, weil in ihr die Ungleichheit herrscht und die Autorität, der Staat und das Recht – d. h. die Unfreiheit. Die Anarchie ‚soll‘ entstehen, weil sie der Zustand ist, in dem die völlige Freiheit (Vernichtung aller autoritären Insti-

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tutionen und Privilegien) und damit völlige Gleichheit – und damit eben die völlige Brüderlichkeit oder ‚justice‘ konstituiert ist.“ (S. 827) Bakunin etwa „verheimlicht seine Verbindung mit den Ideen von 1789 durchaus nicht, betrachtet im Gegenteil seinen Anarchismus als wirkliche und einzige Konsequenz des Jakobinertums“ (S. 839). Diese „Herkunft von den Ideen der bürgerlichen Revolution, vor allen von den Menschenrechten“, ist eine Gemeinsamkeit aller „anarchistischen Ideen“ (S. 829). Selbst „Stirner, obwohl er gegen den Liberalismus polemisiert, bildet hier keine Ausnahme. Die übrigen anarchistischen Theoretiker berufen sich stets auf die französische Revolution (über die Bakunin wie Kropotkin grosse Spezialstudien machten) und vor allem auf Babeuf.“ (S. 829 – H. i. O.) Daß Stirner sich explizit gegen die Ideale der bürgerlichen Revolution von 1789 wendet, spiegelt zunächst den ‚konservativen‘, ‚antirevolutionären‘ (vgl. S. 834) – und, wie es im Abstract zu Mayers Artikel heißt, sogar ‚reaktionären‘538 – Charakter seines Anarchismus. Es zeigt darüber hinaus aber auch dessen spezifisch ideologische Befangenheit, aufgrund derer er seine eigenen soziokulturellen Voraussetzungen nicht zu reflektieren vermag. Gegenüber dem selbstbewußt ‚revolutionären‘ Anarchismus der Bakunin-Linie, der um seine ‚bürgerlich-revolutionäre‘ Herkunft weiß, spricht gleichwohl der in den ‚reinen Individualismus‘ mündende Anarchismus Stirners die Wahrheit der anarchistischen Weltanschauung bezüglich ihrer ideologischen Funktionen und Effekte aus: Nach der Durchsetzung und vor dem Untergang der kapitalistischen Gesellschaft ist die vormals revolutionäre Semantik des Bürgertums, die der Anarchismus – wenn auch in radikalisierter Form – übernimmt, nur noch eine effektiv affirmative (in diesem Sinne ‚konservative‘), antirevolutionäre Ideologie. An der Libertinage und dem sozialen Reformismus des auf Stirner zurückgehenden anarchistischen Individualismus zeigt sich deutlich die ideologische Funktion des Anarchismus insgesamt. Die ursprünglich emanzipatorischen Ideen der bürgerlichen Revolution werden nun, da die wirklichen emanzipatorischen Bestrebungen über die von jener durchgesetzte kapitalistische Gesellschaft hinaustreiben, im Anarchismus zur Ideologie nichtbourgeoiser Schichten, die darin gegen das Bürgertum, seine Moral und seinen Staat rebellieren, ohne dabei aber die mit dem vergangenen Siegeszug des Bürgertums durchgesetzte kapitalistische Produktionsweise in Frage zu stellen. Die antiautoritäre Rebellion des Anarchismus gegen die politische und kulturelle Hegemonie des Bürgertums entspricht der Bewußtseinslage sozialer Schichten, deren Interesse nicht emanzipatorisch auf die Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise, sondern auf die Ausweitung ihres eigenen Einflusses innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsformation 538

Vgl. Mayer (1936b), S. 933.

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VII. Der Egoismus des Einzigen und sein Verein

gerichtet ist. Diese Bewußtseinslage findet ihren ideologischen Ausdruck in der für den Einzigen wie den Anarchismus generell charakteristischen „Zweifrontenstellung: einmal gegen das Bürgertum und den Staatsapparat, zum anderen gegen den Marxismus und die Ziele und Methoden des Klassenkampfes. Das entspricht einer typischen Ideenlage von Mittelschichten. Wie diese selbst in sich heterogen sind, mit wechselnden Klassenschicksalen, so wechseln bei ihnen auch Anziehungskraft oder Ablehnung der anarchistischen Ideen. Immer aber bleibt die ‚Revolution‘ von welcher der Anarchismus spricht, im Grunde die ‚allgemein menschliche‘ Revolution, die, nach anarchistischer Ansicht, von der Bourgeoisie verraten wurde und die vom ‚autoritären‘ Marxismus bedroht ist.“ (S. 829 f.) Die anarchistische Theorie, auch die diesbezüglich am wenigsten naive Stirners, kann diese ideologische Funktion aufgrund ihrer ethisch-dualistischen – und in diesem Sinne ‚bürgerlich-ideologischen‘ – Struktur nicht erkennen. Der bereits dargestellte „ethische Dualismus im Anarchismus macht verständlich, warum jene Zusammenhangslosigkeit zwischen der anarchistischen Kritik an den bestehenden Zuständen und ihrem Endziel besteht. In der rein philosophischen Sphäre gibt es keine Brücken zwischen den getrennten Reichen des Seins und des Sollens, des Rechtes und der Realität, der Werte und der Wirklichkeit. Aber der Anarchismus ist nicht reine Philosophie, sondern soziale Bewegung. Er muss sich real die Frage des Übergangs vom Heute zum Endziel stellen.“ Und darauf weiß er keine adäquate Antwort. Anders als der Historische Materialismus, der „von sozialen Prozessen“ ausgeht und in seiner Reflexion des innerweltlichen Transzendenzmoments das emanzipatorische „Endziel als Aufgabe einer bestimmten Klasse, des Proletariats“ erkennt, fehlt bei den vom „ethischen Dualismus“ ausgehenden anarchistischen Theoretikern „jede[] Fixierung an bestimmte soziale Gruppen“ (S. 828). Gerade dieses Unvermögen der anarchistischen Theorie, ihre eigene soziale Seinsbedingtheit zu reflektieren und ihren sozialen Standort auszuweisen, verrät aber den ideologischen Charakter des Anarchismus bezüglich seiner wirklichen „sozialen Heimstätte“ und seiner „Rolle in der heutigen Sozialordnung“ (S. 829). „Die Charakterisierung des anarchistischen Denkens als einer dualistischen Sozialethik ist zugleich eine soziologische Charakterisierung der anarchistischen Bewegung und ihrer sozialen Grundlagen.“ (S. 828) Die innerweltliche Transzendenzfigur Kritischer Theorie ist dem ‚ethischen Dualismus‘ des Anarchismus nicht nur entgegengesetzt, sondern sie bietet aufgrund ihres eigenen sozialen-Seins-reflexiven Vorsprungs auch die epistemologisch privilegierte Perspektive, die diese soziale Verortung und ideologiekritische Analyse des Anarchismus erlaubt. Aus dieser Perspektive wird erkennbar, daß gerade in dem anarchistischen Ver-

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zicht darauf, sich auf bestimmte soziale Gruppen zu stützen, und in der Unfähigkeit des Anarchismus, in der sozialen Wirklichkeit reale Tendenzen des von ihm propagierten Projektes auszumachen, seine ideologische Funktion und Fungibilität besteht. Denn das anarchistische „Postulat der ‚justice‘ braucht einen Mittler. In den Interessen und dem sozialen Schicksal bestimmter Klassen sucht man ihn nicht, also muss man ihn aus der Anhängerschaft an die anarchistischen Ideen zu gewinnen suchen, gleichgültig welcher sozialen Herkunft diese propagandistischen Anhänger solcher Ideen sein mögen [. . .] Von der eigentümlichen Indifferenz des Anarchismus gegenüber einzelnen sozialen Klassen wurde bereits gesprochen. Der Anarchismus bleibt die Theorie jener kleinen ‚Elite‘, die sich im Verurteilen des Bestehenden und in ihren Ansichten über die Struktur der zukünftigen Gesellschaft einig ist, gleichgültig, welcher sozialen Herkunft diese Elite sei. Von Stirner bis Kropotkin will der Anarchismus für ‚alle Menschen‘ Geltung haben, der Emanzipation ‚aller‘ dienen. Aber steht er damit ‚über den Klassen‘? Keineswegs. Bekanntlich ist die Entscheidung für die Indifferenz auch eine positive Entscheidung, und zwar im Grunde zugunsten des Bestehenden. Diesem Schicksal entgeht auch der Anarchismus nicht.“ (S. 828 – H. i. O.) So konnte der Anarchismus in seiner rebellisch-antiautoritären Attitüde die größte Attraktivität stets auf diejenigen historisch wechselnden Schichten ausüben, die jeweils innerhalb der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse ihren Zugang zu Wohlstand, Macht und Prestige zu erweitern strebten, ohne die kapitalistische und herrschaftliche Ordnung prinzipiell in Frage zu stellen. Diese konnten sich jeweils für die Geltendmachung ihrer partikularen Ansprüche mit dem Anarchismus auf die ursprünglich universalistisch-emanzipatorischen Ideen der bürgerlichen Revolution berufen, die nunmehr zur ideologischen Infrastruktur der gegenwärtigen Gesellschaft geronnen waren. Im ‚English Abstract‘ seines Artikels im Anhang der Studien über Autorität und Familie resümiert Mayer dementsprechend bezüglich des Mangels einer innerweltlichen Transzendenzfigur und der ideologischen Funktion des Anarchismus: „The anarchistic struggle against authority is itself part and parcel of bourgeois society and nowhere points beyond it.“539 Mit Blick auf das Thema der Studien über Autorität und Familie erklärt sich aus diesen Interessen- und Bewußtseinslagen und ihrer Berufung auf das Erbe der bürgerlichen Revolution nicht nur das abstrakt-individualistische Autoritätsverständnis des Anarchismus, sondern „auch, warum die Ideen des Anarchismus über die Probleme der Familie im Grunde nichts anderes sind als Konsequenzen (und teilweise nicht einmal dies) aus kulturpolitischen Programmen des Liberalismus.“ (S. 830) Im Kampf gegen die kulturelle Hegemonie der Bourgeoisie bedienten sich die Mittelschichten 539

Mayer (1936b), S. 933.

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VII. Der Egoismus des Einzigen und sein Verein

aus dem ideologischen Arsenal des Bürgertums, um sich dessen soziale Position anzueignen. Dabei konkurriert der Anarchismus immer mit anderen Ideologien um die Gunst der Mittelschichten. Seine Attraktivität für diese Schichten variiert einerseits mit deren historischer Situation und dem generellen gesellschaftlichen Klima, andererseits mit dem Erfolg und der Anziehungskraft konkurrierender Ideologieangebote für die mittelständische Bewußtseinslage. „Wo die bürgerliche Revolution noch auf der Tagesordnung steht, kann der Anarchismus als eine ihrer extremen Strömungen zeitweilig eine Massenbasis finden. Im übrigen sinkt er in den Sektenbetrieb hinab, je mehr die Gegenwart andere, umfassendere Formen des gesellschaftlichen Bewusstseins der Mittelklassen entwickelt.“ (S. 830) Mayers Analyse entsprechend, spiegelt sich innerhalb der historischen Entwicklung „der anarchistischen Bewegung“ (S. 830) dieser generelle Trend zur Verdrängung des bürgerlich-revolutionären Impetus des Anarchismus, für den die Tradition Bakunins steht, im Siegeszug des auf Stirner zurückgehenden anarchistischen Individualismus mit seinem sozialen Reformismus und seiner individualistischen Libertinage wider (vgl. S. 848). Sofern die Mittelschichten überhaupt noch anarchistisch bewegt sind, spricht sie der Einzige mit seinem antiautoritären Individualismus an. Der, wie dann Horkheimer im Jahr darauf befindet, „in den Massenbewegungen der Mittelklassen gegenwärtig dominierende irrationalistische Zug“540 läßt sich weniger mit dem Jakobinismus Bakunins vereinbaren als mit den Verbalattacken des Einzigen auf die Ideen von 1789. Insgesamt erscheint der in den Studien über Autorität und Familie dargestellte Einzige als ideologische Gestalt der ‚Mittelschichten‘, die, ähnlich wie schon bei Georg Adler, als Ausdruck weder bourgeoiser, noch proletarischer Klassenlage zu verstehen ist. Und dieser Einzige wird, ähnlich wie bei Adolf Mautz, im Kontext einer ganz der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft angehörenden, nicht über diese hinausweisenden Rebellionstradition betrachtet. Die soziologische Kategorie der ‚Mittelschicht‘ oder ‚Mittelklassen‘ dient aber, anders als noch vor dem Ersten Weltkrieg Georg Adlers Marx entlehnte klassensoziologische Verlegenheitskategorie des ‚Lumpenproletariats‘, nicht der Benennung historisch und empirisch unbedeutender sozialer Residualgruppen; vielmehr bezeichnet sie die klassenmäßig weder der Bourgeoisie, noch dem Proletariat zurechenbare soziale Schicht, die jetzt, da die Zwischenkriegszeit in ihre ‚totalitäre Periode‘ getreten ist, die gegenwärtige, ‚spätkapitalistische‘ Gesellschaft dominiert.541 Und wie Mayer in seinem Beitrag zu den Studien über Autorität und Fami540 541

Horkheimer (1937), S. 256. Vgl. Horkheimer (1936c), S. 166; Horkheimer (1937), S. 254.

3. Die ‚Verbürgerlichung‘ des Einzigen zwischen den Weltkriegen

853

lie verdeutlicht, ist, anders als bei Mautz im gleichen Jahr, die ideologische Stimmung dieses Einzigen mindestens ebenso ‚konservativ‘, wie sie ‚rebellisch‘ ist, weil Stirner für die anti-revolutionäre und individualistische Ausprägung der anarchistischen Tradition steht. Hiermit wird in dieser kritischtheoretischen Interpretation des Einzigen zugleich der von der marxistischen Ideologiekritik seit Plechanow und Mehring gepflegte – aber auch von der nationalsozialistischen Deutung in Meyers Lexikon herausgestellte – Befund aufgenommen, daß der Einzige, wie der Anarchismus insgesamt, nicht über die bürgerlich-revolutionäre Semantik von 1789 hinausgeht und letztlich als ideologischer Ausläufer des Liberalismus zu betrachten ist. Dementsprechend wird auch dem Einzigen der Studien über Autorität und Familie zugestanden, daß er es, zumindest auf der normativen Ebene seiner politischen Ethik, mit seinem individualistischen Antiautoritarismus ernst meint, so daß Nettlau und Sveistrup ihm die – bereits von Georg und Max Adler vorausgeahnte – antitotalitäre Stoßrichtung zurecht zuschreiben. Allerdings verbleibt diese ehrenwerte Ambition aus kritisch-theoretischer Sicht in der theoretischen Abstraktheit und praktischen Ohnmacht – und damit wiederum potentiell gegenläufigen ideologischen Verfügbarkeit – sozialtheoretisch unvermittelter, dualistischer Normativität. Auch der theoretisch dem Anliegen und der Vorgehensweise der Frankfurter Schule entgegenkommende, von Stirner-Apologeten wie Max Adler und Sveistrup, oder auch Ruest, Messer und anderen Autoren des Stirner-Nietzsche-Diskurses hervorgehobene psychologische Zug bei Stirner, demzufolge der Einzige das ethisch-charakterologisch wertvolle Resultat eines auf Selbst-Aufklärung und Ich-Stärke zielenden Reflexionsprozesses ist,542 kann vor dem kritisch-theoretischen Blick nicht bestehen. Denn, wie in allen die soziale Welt der Je-Einzigkeit betreffenden Fragen, bleibt Stirner auch in der für die psychologische Betrachtung entscheidenden Fragestellung nach den sozialen Strukturen der Primärsozialisation – also der Familie und ihrer funktionalen Äquivalente im ‚Verein‘ – sowohl in kritischer als auch in programmatischer Hinsicht abstrakt. Insofern ist dieser Einzige in seinen normativ anspruchsvollsten Vorstellungen der Utopist, der die Antworten auf die Frage nach realisierbaren Konzeptionen der Je-Einzigkeit schuldig bleibt; in diesem Punkt stimmt das Bild des Einzigen in den Studien über Autorität und Familie mit demjenigen überein, das die frühen Stirner-Interpreten Stammler und Eltzbacher von der Nichtpraktikabilität einer herrschaftsfreien Ordnung der Je-Einzigkeit gegeben hatten. Aus kritisch-theoretischer Sicht bedingt aber das Defizit an sozialtheoretischer Reflexivität nicht nur den unrealistisch-utopischen Charakter der JeEinzigkeit, sondern zugleich deren ideologische Attraktivität und Fungibili542

Siehe z. B. oben, VI. 1. und 4. b) bb) (2).

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VII. Der Egoismus des Einzigen und sein Verein

tät, aufgrund derer der Einzige als wirkliches und wirksames Phänomen in der sozialen Realität zu betrachten ist. In seinem Mangel an sozialer Reflexion und seiner rebellisch-antirevolutionären Haltung ist die typische Bewußtseinslage historisch variierender Mittelschichten erkennbar, die im antiautoritären Individualismus des Einzigen einen spezifischen Ausdruck finden. Der Anarchismus Stirners ist demnach nur ein bestimmtes weltanschaulich-ideologisches Angebot, das mit völkischen, faschistischen und anderen irrationalistischen Ideologien um die Gunst der Mittelschichten konkurriert. Stirners Antiautoritarismus erscheint so als die liberal-individualistische Variante der im Einzigen zum Vorschein kommenden Bewußtseinslage der Mittelschichten, die je nach historischer und gesellschaftlicher Situation in antiliberalen und antiindividualistischen Autoritarismus umschlagen kann, weil in ihr keine angemessene soziale Reflexion des Verhältnisses von Individuum, Gesellschaft und Autorität stattfindet. In dieser Sicht ist der Einzige eine zentrale Figur des bestehenden ideologischen ‚Verblendungszusammenhanges‘, aus dem die Kritische Theorie schon bald keinen Ausweg auszumachen vermögen wird,543 sein rebellisch-affirmativer Anarchismus bzw. antiautoritärer Individualismus ist ein potentielles, die diesem zugrundeliegende Bewußtseinsstruktur ein tatsächliches Massenphänomen der modernen kapitalistischen Gesellschaft. Der spezifisch kritisch-theoretischen Perspektive der Frankfurter Schule, die sich bezüglich der Aussichten, ihr innerweltliches Transzendenzmoment in der gesellschaftlichen Wirklichkeit ausmachen zu können, im Flaschenpost-Befund weiter verdüstert, verdankt sich die Einsicht in den weder proletarischen, noch bourgeoisen Charakter des Einzigen. Diese Einsicht weist auf die konstruktivistisch-wissenssoziologische Modernitätsdiagnose bezüglich des Einzigen als Individualitätssemantik voraus.544 Denn die kritischtheoretische Abkehr vom klassenantagonistischen Schema des dogmatischen Marxismus wie von dessen geschichtstheoretisch optimistischer, proletarisch-weltrevolutionärer Emanzipationsgewißheit macht den Blick frei für die Registratur des zwischenkriegszeitlichen Siegeszuges der antibürgerlichen und zugleich nichtproletarischen Bewußtseinslage, als deren kongenialen Ausdruck die Frankfurter Schule den Einzigen unter der soziologischen Kategorie ‚Mittelschicht‘ bzw. ‚Mittelklasse‘ erkannte. Wenn das Proletariat als potentiell revolutionäre Klasse im totalen ideologischen Verblendungszusammenhang verschwindet, dann verliert nicht nur die Kritische Theorie ihren klassischen Adressaten: Dann verliert auch die klassensoziologische Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft ihre Plausibilität. Wenn das Proletariat verschwindet, dann verschwindet auch die 543 544

Vgl. Adorno (1959). Siehe unten, VIII. 4.; siehe auch oben, I. 4. und VI. 4. b) aa) (2).

3. Die ‚Verbürgerlichung‘ des Einzigen zwischen den Weltkriegen

855

Bourgeoisie – so wie Marx es wußte, als er mit der revolutionären Selbstaufhebung des Proletariats die Aufhebung der Klassengesellschaft prognostizierte, aber ganz anders, als er es sich vorgestellt hatte. Denn mit dem Wegfall einer Seite des Klassenantagonismus wird dieser selbst ‚abgeschafft‘ – mit der gleichen differenztheoretischen Logik, aufgrund derer Nietzsche von der ‚Abschaffung der scheinbaren Welt‘ durch die ‚Abschaffung der wahren Welt‘ sprach: Wenn die wahre Welt nicht mehr existiert, dann hat auch die metaphysische Unterscheidung von Wesen (wahre Welt) und Erscheinung (scheinbare Welt) keinen Sinn; und dann gibt es auch keine scheinbare Welt mehr, sondern die Welt, die unter dem Regime der Metaphysik zur ‚scheinbaren Welt‘ entwertet wurde, wird als Realität erkennbar.545 Wenn analog dazu das Proletariat nicht mehr existiert, dann hat auch die klassensoziologische Unterscheidung der beiden antagonistischen Hauptklassen, Proletariat vs. Bourgeoisie, keinen Sinn; und dann gibt es auch keine Bourgeoisie mehr, und auch keine durch deren Klassenherrschaft definierte ‚bürgerliche Gesellschaft‘. Die Kategorie ‚bürgerlich‘ verliert ihre klassensoziologische Prägnanz mitsamt den geschichtsteleologischen Implikationen. Wo sie fortan zeitdiagnostisch (nicht historisch) verwendet wird, bezeichnet sie nur noch in unspezifischer Weise die ideologische und sozialphänomenologische Realität der gegenwärtigen modernen Gesellschaft, jenseits des Klassenantagonismus der im prägnanten Sinne ‚bürgerlichen‘ Gesellschaft des 19. Jahrhunderts und der in diesem begründeten Transzendenzerwartungen; allerdings nicht: jenseits kapitalistischer Ökonomie, sozialer Herrschaftsverhältnisse und ihrer ideologischen Verblendungen; und auch nicht: jenseits sozialer Kämpfe und des Bedarfs an Aufklärung, Kritik und – Transzendenz.

545

Vgl. Nietzsche, KSA 6, S. 80 f.

VIII. Nachhuten der Avantgarden Er ist der Widersacher, der sich erhebt über alles, was Gott oder Gottesdienst heißt, so daß er sich in den Tempel Gottes setzt und vorgibt, er sei Gott. Paulus1 I don’t think she’s evil – just insensitive to anyone else. And I really do love Penelope, though I know it may sound strange for me to say. But I really, really do love Penelope – not that it makes much difference, anyway. Hey Paulette2

In der Mitte des 20. Jahrhunderts ist das rezeptionsgeschichtliche Interpretationsspektrum des Einzigen weitgehend durchmessen. Anders als noch in der Zwischenkriegszeit gegenüber der Stirner-Renaissance, sind nach dem Zweiten Weltkrieg keine prinzipiell neuen interpretatorischen Ansätze im Umgang mit Stirner und dem Einzigen zu beobachten. Stattdessen kommt es zu selektiven Wiederbeschreibungen und Neukombinationen bekannter Deutungsmuster im Lichte der historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts. Bestimmte Interpretationslinien, insbesondere die noch relativ junge existentialistische, treten stärker in den Vordergrund. Andere gehen teils in diese ein, teils werden sie neu akzentuiert, die individualistische Deutungstradition etwa in ihren politisch liberalen, antiautoritären und antikommunistischen Implikationen. Im Anschluß an die ideologiekritische Analyse der Kritischen Theorie und in Fortführung der marxistischen Tradition erscheint der Einzige auch weiterhin als ‚(klein-)bürgerliches‘ bzw. ‚mittelständisches‘ Phänomen, das mit den jüngsten historischen und zeitgenössischen Erfahrungen verrechnet wird. Insgesamt wird das Bild des Einzigen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts so vor allem auf der Ebene neuer, historisch rezenter und zeitgenössisch beobachtbarer sozialphänomenologischer Evidenzen erweitert, mit denen die etablierten Deutungsmuster angereichert werden. 1 2

2. Thess 2, 4. „I Really Do Love Penelope“ (1988).

VIII. Nachhuten der Avantgarden

857

In dieser Form bleibt der Einzige nach dem Zweiten Weltkrieg vorerst diskursiv präsent, wenn auch in – verglichen mit der Stirner-rezeptionsgeschichtlichen Hochphase – quantitativ recht bescheidener Weise. Die Rezeptionsgeschichte Stirners hat zu diesem Zeitpunkt auch in dieser Hinsicht, nicht bloß bezüglich der Kreativität in der Hervorbringung neuer Deutungsangebote, längst ihren Zenit überschritten, aber für eine gewisse Zeit setzt sie sich noch fort und bringt auch noch einige in modernitätsdiagnostischer Perspektive bedeutende Beiträge hervor. Aspekte des in der zweiten Jahrhunderthälfte zugänglichen historischen Erfahrungsraumes, die für das politische und kulturelle Selbstverständnis der modernen Gesellschaft wesentlich sind, spiegeln sich bis in die 70er Jahre auch in den Auseinandersetzungen mit dem Einzigen wider: namentlich die Erfahrung des Faschismus bzw. Totalitarismus und des Ost-West-Konflikts, aber auch die 1968er Studentenrevolte und deren kulturelle Ausläufer in den siebziger Jahren. So erscheinen die Auseinandersetzung mit Stirner und die darin vorgebrachten Deutungen des Einzigen, nun vor allem im Zusammenhang mit Marx, noch einmal als ein Politikum – wenn auch ein marginales, gemessen etwa an der Aufregung um den Stirner-Nietzsche-Individualismus zur Jahrhundertwende –, das seine spezifische Einfärbung im Kontext des globalen Wettstreits zwischen kapitalistisch-liberaldemokratischer und sozialistisch-zentralistischer Gesellschaftsordnung erhält. Aber spätestens seit den 80er Jahren, mit der Erosion der Blockkonfrontation einerseits und andererseits der Proliferation und Etablierung der kulturellen Errungenschaften des Individualisierungsschubes, den die 68er-Revolte in der westlichen Moderne ausgelöst hatte, verblaßt die Erinnerung an Stirner, dessen frühe Interpreten schon um die Wende zum 20. Jahrhundert theoretisch wie praktisch das meiste von dem vorweggenommen hatten, was nun zunehmend gesellschaftlich selbstverständlich wurde. Auch die Relevanz des Einzigen gerät in dieser Zeit in Vergessenheit, von einigen punktuellen Erwähnungen bis in die Gegenwart abgesehen. Daß dies mit der modernitätsdiagnostischen Signifikanz des Einzigen und seiner Bedeutung für das Verständnis des modernen Individuums, und auch der Art, wie dieses gegenwärtig gesellschaftlich thematisiert wird, in Verbindung steht, ist eine der erkenntnisleitenden Thesen der vorliegenden Arbeit. Dementsprechend werden im Folgenden zunächst die letzten rezeptionsgeschichtlichen Thematisierungen des Einzigen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges – im Spannungsfeld von Existentialismus und Mittelstandsideologie, Faschismus- und Totalitarismuskritik – kurz rekapituliert (1.). Anschließend wird das weitgehende rezeptionsgeschichtliche Verschwinden Stirners und sozialphänomenologische Überdauern des Einzigen in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts illustriert (2.) und im Sinne jenes Individualisierungsschubs gedeutet (3.), um dann im Anschluß an die wissens-

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VIII. Nachhuten der Avantgarden

soziologische Rekonstruktion der Stirner-Rezeptionsgeschichte als einer exemplarischen Individualitätssemantik abschließend auf die oben3 formulierte Ausgangsthese von der heutigen Selbstverständlichkeit bzw. vom Selbstverständlichgewordensein des Einzigen zurückzukommen – und darauf, was dies für die Gegenwart bedeutet (4.).

1. Vergangenheitsbewältigung und Kalter Krieg In Max Stirner – eine geistig nicht bewältigte Tendenz bezeichnet Carl August Emge „Max Stirners Grundthese: ‚Mir geht nichts über mich‘“ als eine mittlerweile „plausibel gewordene Haltung“,4 die „uns als selbstverständlich erscheint“.5 In der bundesrepublikanischen Gegenwart der frühen 60er Jahre beobachtet er, „daß die Gesellschaft zunehmend beim Einzelnen seine bewußten Forderungen, sowie die sich im Unbewußten bekundenden, teils toleriert teils billigt, jedenfalls soweit es für sie als erträglich erscheint.“6 Stirner steht demnach „für einen sinnvollen Pragmatismus“,7 der nicht mit der „unästhetische[n] Erscheinungsform“ eines ökonomisch-materialistisch enggeführten Egoismus zu verwechseln ist.8 Hans Sveistrup hatte bereits in der Endzeit der Weimarer Republik den pragmatistischen, die Willensvorgänge der Individuen ins Zentrum philosophischer Begründungszusammenhänge und normativer Orientierungen stellenden Aspekt des Einzigen hervorgehoben.9 Drei Jahrzehnte später, nach der Befreiung von der nationalsozialistischen Diktatur und in der Hochphase des Kalten Kriegs, im Angesicht der erfahrenen und weiterhin erfahrbaren Gefährdungen des Individuums durch die „totalitären“10 Infragestellungen seiner individuellen Existenz im Namen hypostasierter Allgemeinheiten,11 erscheint Emge das im Einzigen verkörperte Anliegen, „das ideologische Geschwätz abzuwehren“,12 als besonders aktuell. Ihm zufolge kann Stirners Zeit „in gewisser Hinsicht mit der heutigen verglichen werden: Revolutionäre Ereignisse mit 3

Siehe oben, I. 4. und 5. Emge (1963), S. 1233. 5 Emge (1963), S. 1239. 6 Emge (1963), S. 1233. 7 Emge (1963), S. 1236, vgl. 1234 ff, 1247 ff. 8 Emge (1963), S. 1233. 9 Siehe oben, VII. 3. a) bb), insbesondere (3). 10 Emge (1963), S. 1233. 11 „Wir haben ja eine sehr drastische Folge jener Auffassung erlebt: in Regimen, die mit dem Begriff einer ‚Allheit‘ Propaganda machten, der tatsächlich einer Nullmenge gleich kam: einer Menge ohne Element, wobei dann wirklich das Einzelne Nichts, das Ganze ‚alles‘ wäre!“ (Emge (1963), S. 1256). 12 Emge (1963), S. 1234. 4

1. Vergangenheitsbewältigung und Kalter Krieg

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sinnlosen Auswüchsen, Schrecken und Greueln im Hintergrund.“13 Zu seiner Zeit ging es „Stirner [. . .] um die Verteidigung des wirklichen Menschen, der damals wie heute in Gefahr ist, im Schnittpunkt idealistischer Realisierungsversuche zerrieben zu werden.“14 Konkreter wird Emge in seinen zeitgeschichtlichen Referenzen nicht, aber bereits seine – von den Zeitgenossen leicht verstehbaren – Andeutungen illustrieren, wie vor dem Hintergrund der rezenten historischen Geschehnisse und aktueller Entwicklungen etablierte Deutungen des Einzigen in neuem Licht erscheinen, neu akzentuiert und mit neuen Evidenzen verknüpft werden. Aus dem gegenüber der Zwischenkriegszeit massiv veränderten historischen Erfahrungsraum und dessen reflexivem Verarbeitungsbedarf wie aus der zeitgenössischen Gegenwart des globalen politisch-ideologischen Systemwettstreits beziehen nun bestimmte Interpretationen des Einzigen eine besondere Plausibilität und Dringlichkeit. Eine solche Akzentuierung erfährt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts insbesondere die noch vergleichsweise junge, in der Zwischenkriegszeit begonnene existentialistische Deutungslinie des Einzigen15, die nun aus weltanschaulich unterschiedlich imprägnierten Perspektiven in verschiedener Weise in Beziehung zu den dominierenden politisch-ideologischen Formationen und den damit verbundenen Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart gesetzt wird. Einerseits wird der Einzige von Beobachtern marxistischer16 und kritisch-theoretischer17 Provenienz zur Entlarvung der faschistischen Prädisposition, der antikommunistischen Tendenzen und des (klein)bürgerlichen bzw. mittelständischen Charakters des Existentialismus und verwandter ideologischer Phänomene der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft benutzt, womit zugleich die faschistische Anfälligkeit letzterer belegt wird. Damit wird unter veränderten historischen Bedingungen die Tradition historisch-materialistischer Ideologiekritik des Einzigen mit dem seit Plechanows Polemik gegen den Anarchismus, noch bei Hans Mayer in modifizierter Form beobachtbaren Verfahren fortgeschrieben, die Stirner als Bezugspunkt einer ganzen weltanschaulichen Tradition ‚bürgerlicher Ideologie‘ und stellvertretend für diese kritisiert.18 Von der ‚bürgerlichen‘ Gegenposition wird der Einzige andererseits, etwa bei Rudolf Hirsch, unter dem Titel eines Ersten Kritikers Marxens (1957) unter affirmativem 13

Emge (1963), S. 1235. Emge (1963), S. 1236. 15 Vgl. Löwith (1928); Löwith (1941); Mautz (1936); Anders (1947); Arvon (1951); Arvon (1954); Arvon (1975); Fetscher (1951/52); Patterson (1971); Schaefer (1989); vgl. auch Lipp (1975); Pleger (1996), S. 141 f.; Schulte (2001), S. 124 ff. 16 Beispielsweise Herzberg und Holz, siehe unten. 17 Beispielsweise Anders und Helms, siehe unten. 18 Siehe oben, V. 4. b) und VII. 3. b) dd). Siehe auch VII. 2. b) bb). 14

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VIII. Nachhuten der Avantgarden

Rückgriff insbesondere auf die dezidiert anti-kollektivistische Erbmasse der individualanarchistischen Deutungstradition als geistesgeschichtliche Voraussetzung für Marx’ Historischen Materialismus und als philosophische, in ihren politischen Implikationen bessere Alternative zum Marxismus in Anspruch genommen. Stirner erscheint dadurch nicht nur als der gegenüber Marx und Engels frühere und weitsichtigere Kritiker und Überwinder der Feuerbachschen Religionskritik wie des Junghegelianismus überhaupt, sondern auch als der Begründer einer in den Existentialismus mündenden weltanschaulichen Opposition zu kollektivistischen Ideologien und mit metaphysischem Wahrheitsanspruch auftretenden politischen Projekten, insbesondere zu den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts.19 Auch aufgrund dieser Art der politischen und philosophischen Vergegenwärtigung der Konfliktlinien des Junghegelianismus hatte bei marxismuskritischen wie marxistischen Autoren das Thema ‚Karl Marx und Max Stirner‘, ebenso wie die Beschäftigung mit anderen Vertretern der ‚Hegelschen Linken‘, bis in die 70er Jahre eine gewisse Konjunktur.20 a) Guntolf Herzberg Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges konnten Marxisten den Existentialismus und die Besinnung ‚bürgerlicher‘ Wissenschaftler auf dessen Ahnherrn Stirner als einen ‚Kritiker Marxens‘21 leicht – unter Rückgriff auf die reichhaltige Tradition marxistischer Ideologiekritik an bürgerlichindividualistischen und anarchistischen Lehren seit Plechanow, Mehring und Lenin – als ideologisches Angriffsmanöver des Klassenfeindes durchschauen: Wieder einmal versucht dieser, gegen Marx und den Wissenschaftlichen Sozialismus den theoretisch bereits im Historischen Materialismus der Deutschen Ideologie widerlegten und auch praktisch in Gestalt der Gesellschaftsordnung des siegreichen Marxismus-Leninismus längst überwundenen Stirner und seine Epigonen ins Feld zu führen.22 Aus Sicht des in dieser Gesellschaftsordnung beheimateten Marxisten Guntolf Herzberg 19

Vgl. z. B. Arvon (1951) u. (1954); Hirsch (1957); Schaefer (1989). Vgl. z. B. Löwith (1962a) u. (1962b); Stuke (1963); Herzberg (1968a) u. (1968b); Lobkowicz (1969); Meyer (1970/81); Carroll (1974); Thomas (1975); Arvon (1975); Lipp (1975); Mader (1975); Lübbe/Saß [Hg.] (1975); Dematteis (1976). Vgl. auch Maruhn (1982); Pepperle/Pepperle (1985) u. (1986); Eßbach (1988). 21 Vgl. Hirsch (1957). 22 In ähnlicher Weise deutete man auch das seit der Mitte des 20. Jahrhunderts beobachtbare verstärkte Interesse der ‚bürgerlichen‘ Wissenschaft und Philosophie am Junghegelianismus generell als Versuch des Klassenfeindes, „den bisher doch allgemein primitiven Formen der Auseinandersetzung mit dem Marxismus ernsthaftere und vor allem weltanschaulich fundierte an die Seite zu stellen“, wofür bereits Löwith (1941) symptomatisch sei (Pepperle/Pepperle (1985), S. 8). 20

1. Vergangenheitsbewältigung und Kalter Krieg

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wirkte nach dem Zweiten Weltkrieg, auch wenn „zu diesem Zeitpunkt die Stirnerliteratur in Deutschland trotz starker Ausbreitung seit dem Ende des vergangenen Jahrhunderts ihren Höhepunkt längst überschritten hatte“,23 der Einzige „weiter: in der Existenzphilosophie, als Geheimwaffe an der antimarxistischen Front“.24 Durch die zu Beginn der fünfziger Jahre zunächst von Henri Arvon ‚existentialisierend‘ aufgestellte, diesseits des Rheins sogleich vom „Linksliberalen“ Iring Fetscher25 und anderen „bürgerlichen Marxkritiker[n]“ aufgenommene Scharnierthese, der zufolge „Stirner das eigentliche Bindeglied zwischen Feuerbach und Marx sei“,26 und durch daran anschließende Versuche, die Position Stirners als der Marxschen mindestens gleichrangig zu behaupten, verbunden mit der „anmaßenden These, Marx habe Stirner nie verstanden“,27 verfolgt Herzberg zufolge die „revisionistische und existentialistische Marxkritik“28 eine doppelte Strategie. Defensiv zielt die „bürgerliche[] Marxkritik“29 darauf, „der marxistischen Philosophie ein ‚Mißverstehen‘ jeder irgendwie gearteten ‚Existenzproblematik‘ vorzuwerfen und letztlich einen abgeschirmten Innenbezirk für Denker wie Stirner zu beanspruchen, um jegliches bürgerliche Reflektieren über die ‚Existenz‘ gegen 23

Herzberg (1968b), S. 1455. Herzberg (1968a), S. 633; vgl. Helms (1966), S. 495 ff. 25 Herzberg (1968a), S. 633; vgl. Herzberg (1968b), S. 1454 f.; vgl. Arvon (1951) und Fetscher (1951/52). Vgl. auch Arvon (1975) und Lipp (1975). 26 Herzberg (1968b), S. 1454 f., vgl. S. 1459. – Arvons Landsmann Gilles Deleuze bestätigt wenig später zunächst diese Bedeutung Stirners innerhalb der „Hegelsche[n] Bewegung“ (Deleuze (1962), S. 177), geht aber, indem er auf die aus der „sozialistischen Anverwandlung der Dialektik“ bei Marx erwachsenden Aporien hinweist (S. 176), noch einen Schritt weiter und schreibt Stirner die entscheidende Schlüsselposition zwischen dem Hegelianismus im ganzen, der seinen „Abschluß in einem triumphierenden Nihilismus“ – demjenigen des Einzigen – findet, und Nietzsche zu (S. 176). „Es liegt auf der Hand, daß in alldem“ – Nietzsches Angriffen auf den ‚christlichen‘, ‚nihilistischen‘, ‚dialektischen‘ Charakter der ‚deutschen Philosophie‘ – „Stirner eine aufklärende, enthüllende Rolle gespielt hat. Er treibt die Dialektik bis zu ihren letzten Konsequenzen, darin aufweisend, worauf sie hinausläuft und wodurch sie angetrieben wird.“ (S. 177) Das Ergebnis ist der „extreme[] Nihilismus Stirners“ (S. 177). „Stirner kommt als Dialektiker das Verdienst zu, den Nihilismus als Wahrheit der Dialektik enthüllt zu haben. Dazu genügte ihm, die Frage ‚Wer?‘ zu stellen. Das einzelne Ich überantwortet alles, was nicht es ist, dem Nichts, das gerade sein eigenes Nichts, das des Ich ist. Stirner ist [. . .] zu anspruchsvoll, um nicht zu erkennen, wohin ein solches Denken führt: zum Ich, das Nichts ist, zum Nihilismus.“ (S. 176 – H. i. O.) Stirner kommt nicht aus seiner Haut: Er bleibt selbst, wie auch Marx in seiner Kritik, noch in der Dialektik befangen. Hier setzt, Deleuze zufolge, Nietzsche an: Incipit Zarathustra . . . 27 Herzberg (1968b), S. 1457. 28 Herzberg (1968b), S. 1455. 29 Herzberg (1968b), S. 1454. 24

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VIII. Nachhuten der Avantgarden

die Angriffe des Marxismus zu immunisieren.“30 Offensiv zielt sie auf die Denunziation des Marxismus, indem sie die unvergleichlich großartige, wie Herzberg 1968 in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie hervorhebt, „unübertroffen[e]“ wissenschaftliche Leistung und „Überlegenheit“ der Gründer des Historischen Materialismus durch die Scharnierthese relativiert und abwertet.31 Herzberg hält dem die Katalysator-These entgegen, der zufolge die „Rolle und Bedeutung Stirners [. . .] nicht in der Exekution von Hegel oder Marx – wie Hirsch es weiszumachen versucht –, sondern in der unfreiwilligen Selbstauflösung der vorrevolutionären progressiven bürgerlichen Ideologie [bestand]; Stirner konnte deren Zersetzungsprozeß nur vorantreiben und insofern auch die Herausbildung der marxistischen Gesellschaftstheorie beschleunigen helfen.“32 Darüber hinaus zielen Stirner-Apologeten wie Rudolf Hirsch, den Herzberg dafür scharf angreift, daß er „in selten primitiver Weise Stirner gegen Marx auszuspielen“ versucht,33 darauf, den emanzipatorischen Anspruch und die fortschrittlichen Errungenschaften des Marxismus-Leninismus insgesamt zu diskreditieren. Indem der proto-existentialistische Denker Stirner zum „wohl gefährlichste[n] Gegner“34 der gegen den „Vorrang des Individuellen [. . .] Stellung“ beziehenden35 Lehre von Marx und Engels stilisiert wird, wird zugleich der Marxismus zu einem „Kollektivismus“ erklärt, der „für das Individuum unheilbringend, ja vernichtend“ ist.36 Der nun „als ‚Stammvater des Existentialismus‘ fungierende[] Stirner“37 wird von ‚bürgerlichen‘ Wissenschaftlern gegen den als ‚totalitär‘ diffamierten Marxismus ins Feld geführt und dient damit der totalitarismustheoretischen Gleichsetzung von Faschismus und Kommunismus unter dem Aspekt ihrer Herrschaftsstrukturen, -mechanismen und -techniken. „[V]or dem Karren der Demokratie“38 im Sinne des ‚bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftssystems‘ wirkt Stirner nun als totalitarismuskritischer Kronzeuge gegen die sozialistische Gesellschaftsordnung und als „antimarxistische[r]“ Ideologe der bundesrepublikanischen „anonymen Gesellschaft“.39

30 31 32 33 34 35 36 37 38 39

Herzberg (1968b), S. 1457. Herzberg (1968b), S. 1468 – H. i. O. Herzberg (1968b), S. 1469 f., vgl. S. 1454, 1461. Herzberg (1968b), S. 1455. Hirsch (1957), S. 248. Hirsch (1957), S. 254. Hirsch (1957), S. 256 f. Herzberg (1968b), S. 1455. Herzberg (1968a), S. 633. Helms (1966), S. 499.

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b) Alfred Schaefer Als eine solche, ideologisch-polemisch intendierte Diskreditierung des antifaschistischen Selbstverständnisses des Marxismus-Leninismus und seiner Staatsapparate (inklusive seiner Geheimpolizei) mußte die Stirner-Interpretation Alfred Schaefers anmuten. Erstmals 1968, „auf dem Höhepunkt der Marx-Rezeption“40 unter dem Titel Macht und Protest erschienen und den „Genossen des Widerstandes von 1933 bis 1945“ gewidmet (S. 198),41 stellt Schaefers Buch Der Staat und das Reservat der Eigenheit gleichsam die existentialistische Antithese zu Herzbergs im selben Jahr veröffentlichter Bedeutung der Kritik von Marx und Engels an Max Stirner dar. In diesem Sinne befindet Schaefer über Marx’ und Engels’ Polemik gegen Stirner in der Deutschen Ideologie: „Sie gaben uns die erste und allein authentische Konfrontation von Marxismus und Existentialismus. Stirners Protest gegen Konformismus und schon geahnten Totalitarismus ist von erstaunlicher Aktualität.“ (S. 6) Zentral ist in Schaefers Deutung Stirners Konzept der Empörung: „Empörung“ bedeutet, sich sein „Recht auf Eigenheit [. . .] selber [zu] nehmen“ und so seine individuelle Integrität vor den ideologischen Vereinnahmungen und Zwängen durch Herrschaftsapparate und kollektivistische Entitäten zu schützen. „Das ist der Sinn der Empörung, der ureigensten Regung des Menschen. Vertrauen in die eigene Menschlichkeit und Mißtrauen in den Staat als ‚Hüter des Menschlichen‘ – ‚weil der Egoist sich selbst der Hüter des Menschlichen ist und mit dem Staate nur die Worte spricht: ‚Geh‘ Mir aus der Sonne‘, das ist die Lehre Max Stirners.“ (S. 193) Damit hat Stirner „vor einem Jahrhundert Antwort gegeben“ auf die Frage, wie „die Existenz des Einzelnen im totalitären Staat möglich [ist], wenn ihm die Persönlichkeitsrechte fehlen“ (S. 195), nämlich im eigensinnigen Rückzug auf sich selbst, in der Behauptung der eigenen Würde und der distanzierten Haltung gegenüber dem „totalitären System[]“ (S. 66). Der „Massenappell und sein Echo in den Massen“ ist ein wesensbestimmendes Merkmal des „modernen Totalitarismus“ (S. 66), und indem der Einzige sich diesem in einer „Aura der Unverbindlichkeit“ entzieht (S. 185), verweigert er sich dem totalitären Staat. Mit ihm ist kein solcher Staat zu machen, und auch keine Revolution. Deswegen erkennt in ihm der Totalitarismus den Feind: „Der Eigene, Einzelne will sich dem Moloch der Diktatur nicht freiwillig ausliefern. [. . .] [D]er Eigene, Einzelne ist es, der ‚geschlachtet‘ werden 40 Schaefer (1989), S. 196. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben in diesem und den folgenden Absätzen beziehen sich ebenfalls auf Schaefer (1989). 41 Schaefer, geboren 1907, war wegen ‚Vorbereitung zum Hochverrat‘ 1935 zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt worden und nach seiner Entlassung 1940 emigriert (vgl. Schaefer (1989), S. 219).

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muß, soll die Diktatur im Namen des souveränen Volkes Total sein. Nicht die Anhänger des gestürzten Regimes sind gefährlich; sie lassen sich nur zu gern in die neue Herrschaft einbauen. (Unsere Zeit hat in Ost und West Beispiele hierfür im Überfluß geliefert.) Die Grenze jeder Herrschaft ist die ‚Eigenheit‘ und daher die Grenze der Revolution, die nichts anderes als Herrschaft ist.“ (S. 188) Im Lichte ihres Verhältnisses zum Einzigen und seiner Eigenheit relativiert sich der Unterschied zwischen kommunistischer und faschistischer Diktatur (vgl. S. 64 ff.). Zwar war, wie Schaefer hervorhebt, der Nationalsozialismus die „erbarmungsloseste Diktatur der europäischen Geschichte“ (S. 198), aber der Stalinismus stand ihm im totalen Verfügungsanspruch über die Individuen in nichts nach: „Kein Diktator hat Stalin an Dauer und Allmacht der Herrschaft übertroffen. [. . .] Den Opfern seiner Tyrannei mußte sein Handeln von faschistischer Willkür ununterscheidbar vorkommen.“ (S. 81) Nach dem Untergang des Faschismus und auch nach dem Tode Stalins ist „das kommunistische System“ am „weitesten und bis jetzt ganz prinzipiell entfernt“ (S. 60) vom „progressive[n]“ Ideal einer gesellschaftlichen Ordnung, die „die unbeschränkte Entfaltung individueller Initiative in allen sittlich und legal vertretbaren Betätigungen“ garantiert (S. 57). Insofern ist das kommunistische System mehr als jede andere noch existierende Herrschaftsform der unbedingte Feind des Einzigen. „Der Kommunismus erstickt die Empörung. Entweder sie verzichtet auf ihren ‚Egoismus‘ und opfert ihre Eigenheit den neuen Institutionen, oder sie wird im Namen des souveränen Volkes guillotiniert.“ (S. 192 f.) Der wahre Gegensatz ist demzufolge nicht der zwischen Faschismus und Kommunismus, sondern der zwischen dem seine Integrität und Individualität behauptenden Einzigen einerseits und den diesen dafür vernichten wollenden Agenten von Totalitarismen jeglicher Couleur andererseits. Wie ähnlich letztere einander sind, führt nicht nur ihre gemeinsame Frontstellung gegen den Einzigen vor Augen, sondern auch Schaefers Hinweis auf ihre rasche Anpassungsfähigkeit im Falle von Regimewechseln. „Stirners Ahnungen haben nicht getrogen. Dessen sind wir Zeugen.“ (S. 188) Von marxistischer Seite konnte eine derartige totalitarismuskritische Indienstnahme des im Zuge des jüngsten ideologischen Aufgebotes des Klassenfeindes existentialistisch gedeuteten Einzigen im Kalten Krieg als ideologieintern konsequenter Rückgriff auf den bereits vor dem Ersten Weltkrieg von Sozialisten kritisierten ‚bürgerlich-individualistischen‘ Antikommunismus des (individual-)anarchistischen Einzigen erkannt werden. Als dessen positiv-programmatisches Pendant hatten marxistische Ideologiekritiker wie Plechanow und Mehring im Ende des 19. Jahrhunderts den Manchester-Liberalismus ausgemacht; und die Ansicht, daß bei aller anti-bourgeoi-

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sen Attitüde der Einzige und sein Anarchismus als individualistische Erscheinung bloß eine radikale Variante des Liberalismus war und als solche der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft angehörte, setzte sich nicht nur in der historisch-materialistischen Deutungstradition – trotz Max Adler und inklusive der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule – in der Zwischenkriegszeit fort und durch, sondern ging auch, wie dargestellt, mutatis mutandis in die nationalsozialistische Deutung des Einzigen im Themenkomplex ‚Anarchismus, Liberalismus, Individualismus‘ ein.42 Der Ideologiekritik erschien der totalitarismustheoretisch gewandete Antikommunismus des Einzigen nur als neugestalteter Ausdruck des bürgerlich-individualistischen, antikommunistischen Liberalismus, eine späte Neuauflage der anarchistischen Revolte gegen den ‚autoritären‘ Kommunismus: ein schwaches Echo des alten Streites zwischen Bakunin und Marx in der Ersten Internationale, der aus marxistischer Sicht seitdem theoretisch, seit der Zweiten Internationale mit dem Ausschluß der Anarchisten auch organisatorisch und spätestens mit 42

Siehe oben, VII. 3. b) bb). – Ein Nachhall des am Einzigen durchexerzierten nationalsozialistischen Antiliberalismus und Antiindividualismus findet sich noch zwei Jahre nach dem Untergang des real existierenden ‚Tausendjährigen Reiches‘ in Martin Kessels erstmals 1936 in der Tat erschienenem, 1947 in nur leicht veränderter Fassung wiederveröffentlichten Essay Der Einzige und die Milchwirtschaft. Kessels Haltung zur nationalsozialistischen Diktatur und die Erklärung seiner eigenen Verstrickung läßt sich in seinem hier dargebotenem Verständnis des Freiheitsbegriffs erahnen: „[E]rst ein höherer, durch Schicksalsschläge erhärteter Auftrag gestattet dem Menschen oder einem Volk, sich jene Freiheit zu nehmen, die zu seiner Auswirkung notwendig ist. Das ist der Grund, weshalb der Freiheitsbegriff für jede Zeit anders gefärbt, weshalb er teils voll Gehalt, teils voll Phraseologie sein wird, und weshalb eine Einigung darüber nur selten, ja nur in Ausnahmefällen und Begeisterungszuständen erzielt wird.“ (Kessel (1947), S. 15 f.) Der ursprünglich unter dem vollständigen Titel Der Einzige und die Milchwirtschaft. Groteske eines deutschen Individualisten veröffentlichte Essay zielt in einer Weise auf die Verächtlichmachung Stirners und seines individualistischen Freiheitsverständnisses, durch die sich sogar Hans G. Helms veranlaßt sieht, Stirner vor „Kessels bösartige[m] Pasquill“ in Schutz zu nehmen (Helms (1966), S. 479). „Der westberliner Feuilletonist Martin Kessel, jüngst mit einem der besser dotierten Literaturpreise der BRD als deutscher Dichter belohnt und anerkannt, damals Mitarbeiter der Zeitschrift ‚Die Tat‘, des [. . .] Organs der mittelständischen Geisteselite, [. . .] sah sich, von schlechtem Gewissen getrieben und in Verkennung der ideologischen Situation, zu einer Verkleinerung Stirners bemüßigt, die des Mittelstands bedeutendster und gefährlichster Kopf wahrhaftig nicht verdient hatte. Kessel strengte natürlich nicht seinen ungleich unbedeutenderen Kopf an, um Stirners Theorie zu kritisieren. Er fiel über Stirners glückloses Privatleben her, insbesondere über seine Pleite als berliner Milchgroßhändler. [. . .] Der Aufsatz Kessels gehört zum Schmierigsten, was ich bei meinen Studien der oft nicht eben appetitlichen Dokumente des Stirnerianismus‘ zu lesen bekommen habe.“ (S. 479 f.) – Unabhängig von Helms’ Einschätzung war es offenbar 1936 opportun, auf den Individualisten Stirner einzuschlagen, was für den antitotalitären Einzigen spricht, den Alfred Schaefer präsentiert, der zu diesem Zeitpunkt bereits im Zuchthaus saß.

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der siegreichen marxistisch-leninistisch geführten Diktatur des Proletariats in der Sowjetunion im Grunde auch politisch erledigt war. Es hatte allerdings eine durch die jüngsten historischen Erfahrungen des 20 Jahrhunderts bedingte neue Qualität, daß dieser liberale Antikommunismus, indem er als Anti-Totalitarismus auftrat, den Kommunismus mit dem Faschismus und dessen Greueltaten gleichsetzte, dem er doch – aus marxistischer Sicht – als bürgerliche Ideologie selbst viel näher verwandt war. Als ideologische Korrelate der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft waren aus marxistischer Perspektive Liberalismus und Faschismus zwei Seiten derselben Medaille, zwei Überbau-Varianten derselben ökonomischen Basis, wenn auch in unterschiedlichen historischen Situationen und Phasen des Klassenkampfes. Entgegengesetzt dazu erschienen aus liberaler Perspektive Sowjetkommunismus und Nationalsozialismus nur als zwei unterschiedliche Ausprägungen desselben Totalitarismus. Der Einzige wurde so im Zuge seiner Verrechnung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und der Gegenwart des Kalten Krieges in den Streit zweier prinzipieller Deutungsmuster involviert, die bei aller analytischen Fruchtbarkeit beide auch den Effekt – und mitunter auch die polemische Intention – hatten, die jeweilige politische Gegenseite im Ost-West-Konflikt durch den Nachweis struktureller Analogien mit den faschistischen Diktaturen und damit insbesondere auch durch die Verbindung mit den nationalsozialistischen Verbrechen zu denunzieren. Entweder konnte man anhand der historisch-materialistischen Leitunterscheidung ‚bürgerlich-kapitalistische vs. kommunistische Gesellschaftsformation bzw. Produktionsweise‘ den Nationalsozialismus und den Faschismus generell zusammen mit dem Liberalismus der kapitalistischen Produktionsweise zuordnen, ihre Gemeinsamkeiten klassenanalytisch und ideologiekritisch akzentuieren und ihnen den Kommunismus entgegensetzen, so daß dadurch selbst dessen stalinistische Variante als etwas prinzipiell vom faschistischen Staatsterrorismus Verschiedenes erschien. Dabei wurde zugleich die stete Gefährdung des westlichen Gesellschaftsmodells durch erneute faschistische Tendenzen beschworen, vor denen – wie vor allen sonstigen Dekadenzerscheinungen der westlichen Welt – nur die sozialistische Gesellschaftsordnung des Ostblocks gefeit war. Ob man auf dieser schematischen Grundlage den traditionell antikommunistischen Einzigen dann primär als bürgerlich-individualistischen Liberalen oder als kleinbürgerlich-mittelständischen Faschisten – und dann auch noch als ‚sublimiert faschistischen Existentialisten‘43 – deutete, machte angesichts des tiefer liegenden Gegensatzes von kapitalistischer und sozialistischer Gesellschaftsordnung einen eher graduellen Unterschied. 43

Vgl. Helms (1966), S. 497.

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Oder man konnte anhand der totalitarismustheoretischen Leitunterscheidung ‚liberaldemokratischer Rechtsstaat bzw. Freiheitlich demokratische Grundordnung (FDGO) vs. totalitäre Diktatur‘ in Faschismus und Kommunismus bzw. Nationalsozialismus und Stalinismus vergleichbare, in vielen Merkmalen übereinstimmende Varianten des Totalitarismus erkennen und diesem den Liberalismus und das westliche Gesellschafts- und Regierungsmodell als Hort und Garant der Freiheit entgegensetzen.44 Der individualanarchistische Einzige hatte dann aufgrund seiner anti-autoritär(kommunistisch)en Tradition und seiner ‚Verbürgerlichungsgeschichte‘ in der Zwischenkriegszeit45 gute Chancen, auf der liberalen, antitotalitären Seite der Unterscheidung verortet zu werden. In diesem Sinne konnte man beispielsweise 1967 – anläßlich einer Besprechung von Hans G. Helms’ Ideologie der anonymen Gesellschaft, allerdings nicht im Einklang mit dieser – im Hamburger Nachrichtenmagazin Der Spiegel über Stirner kurzerhand schreiben: „Den Stalinismus sah er voraus: ‚Vor dem höchsten Gebieter, dem alleinigen Befehlshaber‘ im Sozialismus, werden alle gleich sein, ‚gleiche Personen, das heißt Null‘.“46 c) Hans G. Helms Hans G. Helms ist den Vertretern des historisch-materialistischen Deutungsmusters zuzurechnen, das die Kontinuität faschistischer und liberaldemokratischer Ideologien und Administrationsformen innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise betont. In seiner großen Untersuchung zur Ideologie der anonymen Gesellschaft. Max Stirners ‚Einziger‘ und der Fortschritt des demokratischen Selbstbewußtseins vom Vormärz bis zur Bundesrepublik befindet er über die Situation des kapitalistischen Westdeutschland Mitte der 1960er Jahre: „Der Faschismus gibt sich heute demokratisch. Statt totalitärer Herrschaft jetzt die Autorität von common sense und sachlicher Notwendigkeit. Autoritäre Verwaltungen herrschen nach den Geboten kapitalistischer Interessen, neue, wirksamere totalitäre Argumente und Maßnahmen in der notgesetzlichen Hinterhand. Die herrschaftlichen Verfahrensweisen sind statistisch und wirken freiheitlich. Gesellschafts- und geschichtsfeindlich, ahnungslos, apolitisch, konsum- und ich-orientiert, berstend voll fader Lust der Mittelstand.“47 Daß der Einzige, wie Helms in der ideologiekritischen Tradition der Frankfurter Schule herausarbeitet, seiner 44

Vgl. Wippermann (1997), S. 45 ff., 111 ff. Siehe oben, insbesondere VII. 3. a). Siehe beispielsweise auch V. 3. a) aa) und VII. 2. a) cc) (2). 46 Anonym (1967), S. 146; vgl. Stirner, EE, S. 129. 47 Helms (1966), S. 499 – H. i. O. 45

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Struktur und Wirkungsgeschichte nach ein paradigmatisches Produkt mittelständischer Ideologie ist, begründet in Verbindung mit dem klassenanalytischen Befund, daß der Mittelstand die soziale Basis des Faschismus ist, den Leitgedanken von Helms’ Untersuchung, dem zufolge „die Geschichte des Stirnerianismus’ zugleich eine Geschichte des Faschismus‘“ ist und „Stirnerianismus und Nationalsozialismus Variationsformen desselben faschistischen Ungeistes sind“.48 Dieser ‚faschistische Ungeist‘ hat nach dem Untergang des Nationalsozialismus in der bundesrepublikanischen Variante der Mittelstandsideologie Helms zufolge lediglich eine neue Gestalt angenommen. Der Einzige, der seit den Tagen der ‚Stirner-Renaissance‘ als Verdichtung mittelständischen Bewußtseins auf dem ‚Vormarsch‘ und im nationalsozialistischen ‚Reich des Einzigen‘ zur ersten vollen „Entfaltung‘ gekommen ist,49 ist demnach ideologisch präsent und wirksam wie nie zuvor. Im Selbstverständlichkeitsbefund bezüglich des Einzigen mit dem ansonsten als „Ex-[NS-]Parteigenossen“ geschmähten Carl August Emge übereinstimmend, konstatiert Helms: „Nie ist Stirner gegenwärtiger, nie zeitgemäßer gewesen als heute“.50 Die gegenwärtige Selbstverständlichkeit des Einzigen ist in Helms’ Sicht Ausdruck der gesellschaftlichen Dominanz der ‚Mittelklasse‘ in der Bundesrepublik und durch diese bedingt. Seinem wohlwollenden Rezensenten aus der Hauptstadt der DDR Guntolf Herzberg zufolge, kann Helms dies erkennen, weil er „den Reichtum der Marxschen Kritik an Stirner“ in der Deutschen Ideologie „für sich fruchtbar gemacht“ hat und „ihr wesentliche Einsichten“ verdankt, mit deren Hilfe er den Stirnerianismus „treffend kritisieren kann“.51 Bei Stirner, so führt Helms aus, hat die „Ideologie der Mittelklasse [. . .] ihre früheste konsequente Formulierung [. . .] gefunden. Das ist kein Zufall. Die Industrialisierung hat mit dem Proletariat, der arbeitenden Klasse, auch die moderne Mittelklasse produziert, deren Funktionen Verwaltung der Arbeit und Verwaltung und Verteilung der Waren sind. [. . .] Das Proletariat fand in Marx und Engels seine Fürsprecher, die halfen, seinem Klassenbewußtsein adäquaten Ausdruck zu verschaffen und es politisch zu entfalten. Die Mittelklasse fand ihren Apostel in Stirner. Aber statt einer gesellschaftlich determinierten Analyse ihrer Situation präsentierte er eine egozentrische Ideologie; statt Klassensolidarität empfahl er Konkurrenzkampf bis aufs Messer; statt der gesellschaftlichen Interessen legte er ihr ihre je eigenen Privatinteressen nahe; statt politisch in die gesellschaftlichen Prozesse einzugreifen, forderte er, sich unpolitisch im Bestehenden 48 49 50 51

Helms (1966), S. 4 f. Vgl. Helms (1966), S. 295 ff., 396 ff., 427 ff., 473 ff. Helms (1966), S. 499. Herzberg (1968a), S. 633.

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zu arrangieren und jeweils jener Fraktion ihr Votum zu geben, die ihre partikularen Interessen am besten zu fördern verspreche.“52 Im Vormärz war Stirner demnach, gemessen an der objektiven Entwicklungsdynamik der kapitalistischen Produktions-, Administrations- und Distributionsverhältnisse, noch seiner Zeit voraus, aber bereits die Stirner-Renaissance der 1890er Jahre spiegelt die seitdem wachsende gesellschaftliche Bedeutung der „Mittelklasse“ bzw. des „Mittelstand[es]“:53 „Die Arbeitsteilung von Kapitalbesitz und Kapitalkontrolle hat der Mittelklasse ein wachsendes Maß an Verfügungsgewalt verliehen, ohne sie zum verantwortlichen Eigentümer oder Miteigentümer der Produktionsmittel zu erheben. Die Mittelklasse herrscht vermittels der von ihr verwesten Administrationen stellvertretend für die Klasse der Eigentümer, die Bourgeoisie. Repräsentative Demokratie ist die ihr adäquate politische Organisationsform. Deren Spielarten reichen vom freiheitlichen Mehrparteiensystem über die ‚formierte Gesellschaft‘ bis zur Monokratie eines auf Mitläufermillionen gestützten Führers. [. . .] Die Exekutivgewalt bedient sich der Verwaltungskanäle. Der einzelne Exekutor ist austauschbar. Seine Fungibilität enthebt ihn persönlich der Verantwortung für seine Anordnungen und lastet sie dem Amt auf, das er zeitweilig anonym verwest. Die ideologisch virulente Differenzierung zwischen verantwortlichem Amt, das mit dem Schein sachlicher Notwendigkeit ausgestattet ist, und unverantwortlichem Amtsverweser – auf die dieser sich beruft, wird er im Ausnahmefall persönlich zur Verantwortung gezogen – und das hierarchische Gewebe neben- und übergeordneter Zuständigkeiten, das jeglichen Verwaltungsakt nach oben, unten und seitwärts abzusichern erlaubt und zwingt, befähigen den Amtsverweser, mit dem Verwaltungsmaterial, den Menschen, beliebig zu verfahren. Liquidation von Menschen ist nur ein Verwaltungsakt von vielen.“54 Die vormals nationalsozialistische ‚Mittelstandgesellschaft‘ und ihre „von Stirner zuerst formulierte Ideologie dauert kontinuierlich an“.55 Auch wenn letztere „heute in der gesellschaftlichen Praxis anders umgesetzt“ wird, als dies vor 1945 der Fall war,56 bieten doch die „ideologische Lage in der Bundesrepublik Deutschland“ und „ihre gefährliche Entwicklung“ allenthalben Anlaß zur Sorge.57 Für Herzberg ist der an der ideologiekritischen Untersuchung des Stirnerianismus und seiner Geschichte erarbeitete Befund vom ‚bundesrepublika52 53 54 55 56 57

Helms Helms Helms Helms Helms Helms

(1966), (1966), (1966), (1966), (1966), (1966),

S. S. S. S. S. S.

3. 2, vgl. S. 3 f. 2. 499. 499. 1.

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nischen Faschismus‘ die „wohl schärfste Konsequenz, die Helms aus der westdeutschen Entwicklung ziehen konnte“,58 und zugleich eine Kritik, deren „Dringlichkeit angesichts des Rechtskurses der ‚Großen Koalition‘ [. . .] evident“ ist.59 Allerdings weist der gegenüber dem von der Frankfurter Schule inspirierten Helms sehr distinktionsbewußte „Marxist“60 Herzberg dessen Konzeption des Faschismus als Mittelstandsideologie und Herrschaft der Mittelschichten zurück.61 Zwar ist, wie man in nach wie vor gültiger Weise schon der Deutschen Ideologie entnehmen kann, „Stirners eigene soziale Position [. . .] durch und durch kleinbürgerlich-mittelständisch“, mit der dafür charakteristischen „doppelten Frontstellung“ gegenüber „Bourgeoisie und Proletariat“ und den damit verbundenen Ängsten vor individueller Deklassierung und davor, als soziale Schicht „in der kommenden Auseinandersetzung [. . .] zerrieben [. . .] zu werden“.62 „Stirner reflektierte den Konkurrenzkampf aus der Sicht des ‚kleinen Mannes‘, der vom Erfolg träumt, er spricht ihm aus der Seele, wenn er dessen Egoismus zum eigentlichen Gegenstand seines Selbstbewußtseins macht. Er proklamiert die Ideale des Mittelstandes: das Eigentum, die unverwechselbare Eigenheit, Freiheit, Geltung und ein bißchen Macht. Aus den in ihrer Isoliertheit so macht- und kapitallosen Mittelständlern macht er lauter ‚Einzige‘ – jeder partikuläre Geist kann sich jetzt als Weltgeist fühlen.“63 Aber „so eindeutig Helms auch den ‚Einzigen‘ zum Ahnherrn der modernen ‚Mittelstands‘Ideologie macht [. . .] und die Stirner-Rezeption schließlich im Faschismus auslaufen läßt“,64 so „irreführend“ ist doch Herzberg zufolge der „von Helms durchgehend verwandte[] Begriff des Mittelstandes oder der Mittelklasse, worunter er die habituell vom Proletariat unterschiedenen Angestellten, Handwerker, Händler, Lehrer und Beamten, die Manager usw. subsumiert“.65 Aus Sicht marxistischer Orthodoxie ist Helms’ Mittelstandskonzeption also klassenanalytisch zu unpräzise. Darüber hinaus weckt sie in faschismustheoretischer Hinsicht die falschen, nämlich bonapartismustheoretischen und totalitarismustheoretischen Assoziationen. So hält Herzberg, bei allem Lob für „Helms’ umfangreiche und fleißige, vor allem scharfsinnige Publikation“,66 dem westdeutschen Parteigänger mit der – staatlich bewehrten und in der Wirklichkeit der Verhältnisse in der 58 59 60 61 62 63 64 65 66

Herzberg (1968a), S. 629. Herzberg (1968a), S. 634. Herzberg (1968a), S. 633. Vgl. Herzberg (1968a), S. 630 ff. Herzberg (1968b), S. 1463, vgl. S. 1466 ff.; vgl. Herzberg (1968a), S. 633. Herzberg (1968a), S. 630. Herzberg (1968a), S. 633. Herzberg (1968a), S. 632. Herzberg (1968a), S. 634.

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DDR beglaubigten – Autorität marxistisch-leninistischer Orthodoxie die seit den Tagen der Dritten Internationale faschismustheoretisch verbindliche Dimitroff-These entgegen: Helms’ Bezeichnung des „Faschismus“ als „Produkt des Mittelstandes“, seiner „Ideologie“ als „Ersatzklassenbewußtsein der Mittelklasse [. . .], der Verwalter und Verteiler, der übrigen dienstleistenden Berufe, der Scheinproduzenten und Produzenten des ideologischen Scheins“,67 kann, insbesondere im Blick auf die gegenwärtige Mittelstandsgesellschaft der BRD „subjektiv natürlich zur schärfsten Kritik der Verhältnisse dienen, verschleiert aber die eigentliche Basis des Faschismus und analysiert ihn nur von der Administration her.“68 Der Herzberg zufolge mangelhaften „Berücksichtigung der sozial-ökonomischen Basis“ in der Ideologie der anonymen Gesellschaft ist es geschuldet, daß die „tatsächliche ‚offene terroristische Diktatur der reaktionärsten Elemente des Finanzkapitals‘ (Dimitroff)“ bei Helms „auf Kosten des Kleinbürgertums gehen“ soll.69 Zwar hat Helms, wie Herzberg gerne betont, ein „gutes und nützliches Buch“ vorgelegt: „Frei von antimarxistischen oder -sozialistischen Ausfällen kämpft er mit seinen Mitteln gegen die Phrase von der ‚klassenlosen Gesellschaft‘, gegen die Notstandsgesetzgebung, den Antibolschewismus und die Kapitulation der Sozialdemokratie.“70 Aber daß er die ‚Ideologie‘ der ‚klassenlosen Gesellschaft‘ bekämpft und es ihm dennoch – wegen seines Mittelstandstheorems – nicht gelingt, die Karriere des faschistischen Einzigen klassensoziologisch sauber aus dem die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsformation sozial-ökonomisch bestimmenden Basisantagonismus zwischen Bourgeoisie und Proletariat abzuleiten und ihr innerhalb des Klassenkampfes eine klare Position zuzuordnen, bleibt aus marxistischer Sicht dilemmatisch, weil dadurch die Schärfe des Klassenantagonismus zwischen Kapital und Arbeit selbst ideologisch ‚verschleiert‘ wird und damit dessen gesellschaftswie geschichtstheoretische Implikationen relativiert werden. Dieses Dilemma verstärkt sich zudem noch durch Anklänge der ‚bürgerlichen‘, die Klassenbasis des Faschismus leugnenden und diesen mit dem Stalinismus gleichsetzenden Totalitarismustheorie Hannah Arendts bei Helms, wenn dieser im Einzigen das Paradigma jener massenhaft vereinzelten „Unpolitischen“ erblickt, die sich im „Ekel“ vor der „Weimarer Parteienkungelei“ in der nationalsozialistischen „Bewegung“ ‚vereinigen‘: „Das dem Stirner’schen Traktat immanente agitatorische Moment radikalisiert nicht die gesellschaftlichen Bindungen, auf die die Partei ihrem Sinne nach insistiert, es radikalisiert die Bindungslosigkeit der Einzelnen zum dröhnen67 68 69 70

Helms (1966), S. 1. Herzberg (1968a), S. 634. Herzberg (1968a), S. 634 – H. i. O. Herzberg (1968a), S. 634.

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den Marschschritt des beziehungslosen Nebeneinanders in der Bewegung. Bindungslosigkeit ist Vorbedingung totalitärer Herrschaft. Stirner wendet sich nicht ‚an die Wenigen‘, sie über die Grundsätze moderner Herrschaft aufzuklären. Er wirkt auf die Massen der Einzelnen, sie für die Gefolgschaft vorzubereiten. Darin ist er ohnegleichen. Nicht, ob Hitler Stirner gelesen hat, ist entscheidend; aber daß ungezählte seiner Wähler Stirner gelesen haben, hat beigetragen, das Dritte Reich zu ermöglichen.“71 Hannah Arendt spricht in ähnlicher Weise vom Zusammenhang einer aus „atomisierten“, durch „Verlassenheit“, „Kontaktlosigkeit und Entwurzeltsein“, „persönliche[] Individualisierung“ und „politische[] Apathie“ gekennzeichneten Individuen bestehenden „Massengesellschaft“ mit der Entstehung von „totalitären Bewegungen“.72 Dies verbindet sie explizit mit der – von Helms vermiedenen – These vom „Zusammenbruch der Klassengesellschaft“,73 dem „Wegfall der Klassenstruktur“ und ihrer sozialintegrativen Leistungen.74 „Wie sehr gerade die eigentümliche Individualisierung und Atomisierung der modernen Massengesellschaft notwendig ist, um totalitäre Herrschaft überhaupt zu ermöglichen, kann man am besten durch einen Vergleich des Nazismus mit dem Bolschewismus erhellen, die unter den denkbar disparatesten historischen und sozialen Umständen entstanden sind, um schließlich in einer verblüffenden Ähnlichkeit der Herrschaftsformen wie der Institutionen zu enden.“75 Der „Zusammenbruch des Klassensystems“76 ermöglicht mit der Entstehung einer „atomisierte[n] Masse“77 von „Indivi71

Helms (1966), S. 13 – H. i. O. Arendt (1955), S. 682. 73 Arendt (1955), S. 671. 74 Arendt (1955), S. 677, vgl. S. 663 ff. – Die „unorganisierte, unstrukturierte Masse verzweifelter und haßerfüllter Individuen“ (Arendt (1955), S. 677), die Basis totalitärer Bewegungen und Herrschaft, ist Arendt zufolge „das Produkt der Zersetzung einer Klassengesellschaft, die, was den einzelnen anlangte, im wesentlichen individualistisch gesonnen blieb“, was zur Folge hatte, daß die sich „in Vorstellungen von individuellem Erfolg [. . .] be- und verurteilen[den]“ (S. 678), „vermassten Individuen“ (S. 679) in ihrer „egozentrische[r] Bitterkeit“ angesichts der Krisen der Zwischenkriegszeit eine „furchtbare negative Solidarität“ (S. 678) und ein „allgemeine[s] Ressentiment“ entwickelten (S. 679), das in den totalitären Bewegungen mit ihren „abstraktesten Vorstellungen“ aufgefangen wurde (S. 680). Der „Verlust der gemeinsamen Welt“ (S. 679) der die Einzelnen durch ihre jeweilige „Klassenzugehörigkeit“ interessenspezifisch, parteilich, weltanschaulich und habituell ‚bindenden‘ „bürgerlichen Klassengesellschaft“ (S. 674 f.) macht die in „monotone[r] Gleichförmigkeit“ vom „gleiche[n] Schicksal“ befallenen „Massen von Individuen“ (S. 678) anfällig für die ihre Befindlichkeiten aufgreifende Ansprache der totalitären Führer und verfügbar für den organisatorischen Zugriff totalitärer Bewegungen und Herrschaftsapparate. 75 Arendt (1955), S. 685. 76 Arendt (1955), S. 676. 77 Arendt (1955), S. 688. 72

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duen [. . .], zwischen denen eine gemeinsame Welt in Stücke zerfallen ist“,78 dieser theoretischen Perspektive zufolge den Totalitarismus. Und die theoretische Erklärung „totalitärer Bewegungen“ und „totalitärer“ bzw. „totaler Herrschaft“79 aus dem „Auseinanderfall der Klassengesellschaft“80 und der damit einhergehenden „fortschreitenden Vermassung“81 ermöglicht die Identifikation von Nationalsozialismus und Stalinismus im Begriff des Totalitarismus. d) Günther Anders Arendts Ex-Mann Günther Anders82, den mit Helms die Nähe zur Kritischen Theorie verbindet, wofür dieser jenen in kritischer Zustimmung zitiert,83 hatte bereits unmittelbar nach dem Krieg auf die totalitäre Disposition des Einzigen hingewiesen und, bezugnehmend auf Stirner und Heidegger, den Zusammenhang von Atomismus, Totalitarismus, Existentialismus und kleinbürgerlicher bzw. mittelständischer Ideologie unter dem Titel Nihilismus und Existenz thematisiert. Die „Diktatur“ stellte demnach „im Zuge der Totalisierung [. . .] jenen sozialen Atomismus vollkommen her[], der, von Hobbes an, als die anarchische Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft gegolten hatte“, indem sie durch ‚Terror‘ alle von ihr unabhängigen „mitmenschlichen Gruppierungen auseinandersprengte“ und durch die Praxis der ‚Bespitzelung‘ und ‚Denunziation‘ das zwischenmenschliche Vertrauen als sozialintegrative Ressource zerstörte.84 Denn dadurch war „jeder des anderen Todfeind [. . .], weil der andere, jeder andere, statt eines Mitmenschen eine Falle sein konnte; [. . .] hinter uns liegt eine Periode, in der Mißtrauen die einzige Verkehrsform war. Daß in dieser Periode, oder in der ihr folgenden [. . .], daß gestern und noch heute man selbst die einzige Zuflucht war und ist; man selbst ‚die Wahrheit‘; man selbst sein einziger moralischer Partner, das ist zwar begreiflich; wenn es auch alles andere als wünschenswert ist, daß es eine Philosophie gebe, die dieses grauenhafte Resultat des Terrors als ein Apriori besiegelt.“ (S. 49 – H. i. O.) Diese „Philosophie der absoluten Vereinzelung“, die der „Vereinzelung“, dem „Kind des Terrors“, die ontologische Beglaubigung liefert, ist „die Existenzphilosophie“ (S. 48). 78

Arendt (1955), S. 685. Arendt (1955), z. B. S. 663 f., 665, 667, 673 f. u. ö. 80 Arendt (1955), S. 676. 81 Arendt (1955), S. 672. 82 Günther Stern, 1902–1992. 83 Vgl. Helms (1966), S. 85, 150 f. – In gewisser Weise fungiert also Anders als Bindeglied zwischen der Totalitarismustheorie Arendts, die Stirner nicht erwähnt, und Helms’ Ideologiekritik des Einzigen, die sich nicht explizit auf Arendt beruft. 84 Anders (1947), S. 48 f. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich in diesem Unterabschnitt ebenfalls auf Anders (1947). 79

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Die Existenzphilosophie, die in Frankreich gerade die „paradoxe Form einer Massenmode“ annimmt (S. 49), ist eigentlich ein „Produkt der [vorigen] deutschen Nachkriegsperiode: der Zeit der Verzweiflung des Bürgertums, besonders des Mittelstandes, der Zeit des Vis-à-vis-de-rien-Stehens, der Zeit der aus dem Kriege Heimkehrenden, die sozial nirgendwohin zurückfinden konnten, aber ‚da zu sein‘ entschlossen waren, ihr Leben nicht versäumen und endlich ‚sie selbst‘ sein wollten.“ (S. 50 f.) Die Zwischenkriegszeit war auch, „kulturell, die Zeit des bürgerlichen Nihilismus“, in der die „Ethik der bürgerlichen Philosophie“ längst „zweifelhaft geworden“ war, „da sie keine sanktionierende Instanz mehr kannte (‚Gott ist tot‘ – Nietzsche), und da ihre Autonomie- und Würdevokabeln mit der Wirklichkeit des ohnmächtigen Menschen nichts mehr zu tun zu haben schienen. Schon vorher hatte der Historismus die letzten Spuren der ‚Absolutheit der Werte‘ fortgewischt. Das Leben als solches war das einzig Zweifellose und wurde nun in der sogenannten ‚Lebensphilosophie‘ heiliggesprochen; das heißt: es war nicht mehr ‚für etwas‘ da; war also ‚zu nichts‘ da“ (S. 51 – H. i. O.). In dieser Zeit entwarf Martin Heidegger, der als „nicht zurückfindender kleinbürgerlicher Heimkehrer [. . .] vis-à-vis de rien [stand], nachdem er während des Krieges vis-à-vis de la mort gestanden hatte“, in der Existenzphilosophie „die ‚Heilslehre‘, die neben derjenigen Hitlers und noch nach dessen Sturz Europa erobert hat. ‚La deuxième invasion allemande‘ nennt sie eine französische Zeitschrift. [. . .] Dies ist die Geburtskonstellation: die Bewegung wurde geboren im Schatten des ersten Nachkriegs; um europäisches Ereignis zu werden in den Trümmerstätten des zweiten.“ (S. 51 – H. i. O.) Nihilismus und Existenz ist vor allem eine Abrechnung mit Martin Heidegger, auf den der Emigrant Anders aus nachvollziehbaren Gründen nicht gut zu sprechen ist.85 Aber auch „Stirner, der verbockte Monopolist seiner selbst“ (S. 48), als dessen später Epigone der „provinzielle[] Mittelständler“ Heidegger (S. 51) mit seiner „düsteren nihilistischen Trotztechnik“ (S. 57) und seiner ontologischen „Heiligung der Selbstsucht“ erscheint,86 bekommt 85 Anders floh 1933 unter dem Druck der unmittelbar nach der nationalsozialistischen ‚Machtergreifung‘ einsetzenden Verfolgung Oppositioneller von Berlin nach Paris, während der ehemalige Liebhaber seiner damaligen Frau – Anders und Arendt waren von 1929 bis 1937 verheiratet – in seiner berüchtigten Freiburger Rektoratsrede Die Selbstbehauptung der deutschen Universität (1933) seine „berühmte Verherrlichung der nationalen Erhebung“ ablieferte (Anders (1947), S. 76; vgl. Heuer (1987), S. 20 f., 25 f., 29, 129). Anders erwähnt selbstverständlich nichts von der Heidegger-Arendt-Affäre, stellt aber heraus, daß Edmund Husserl, sein Doktorvater, Heidegger „jahrelang förderte“ – Heidegger war bis 1923 Husserls Assistent –, um „vom Tage der Machtergreifung an auf der Straße von Heidegger nicht mehr erkannt zu werden.“ (Anders (1947), S. 51). 86 Anders (1947), S. 64, vgl. S. 61 ff., 74.

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hierbei seinen Platz als Ahnherr des existenzphilosophischen Nihilismus zugewiesen.87 Anders beabsichtigt insgesamt, über die geistesgeschichtlichen Voraussetzungen, sozialen Bedingungen und politisch fatalen Konsequenzen des „Existenzialismus“ aufzuklären und dadurch ‚zu verhindern‘, daß seine ‚Zeitgenossen‘ in diese „Philosophie der Vereinzelung“ ‚hineingeraten‘ (S. 50, vgl. S. 53). Denn wer sich mit dieser „unselige[n] und unhumane[n] Philosophie“ einläßt (S. 74), betritt ein „Escapismus-Feld“, das „eine Flucht aus den ernsten Aufgaben der Zeit in den Ernst als Aufgabe darstellt“ (S. 50 – H. i. O.) – mit, wie die jüngsten historischen Erfahrungen zeigen, verheerenden Folgen: Schon das Heideggersche „Chamäleonwort“ (S. 53), der „Begriff ‚Dasein‘ ist eine Flucht“, und die darin versteckte apolitische „Neutralität“ – aufgrund derer bereits Heidegger sich so schnell und kritiklos mit der „siegreiche[n] Macht“ arrangierte (S. 67) und „nichts Eiligeres zu tun [hatte], als sich ihr an den geharnischten Hals zu werfen“ (S. 75) – auch „heute so gefährlich“ (S. 67). Die Grundlage des existenzphilosophischen Nihilismus ist so alt wie die bürgerliche Philosophie selbst. Anders bezeichnet sie als den „HomunkulusKomplex“ (S. 58) des im Gegensatz zum Angehörigen der alteuropäischen Adelsschicht „stammbaumlosen bürgerlichen Individuum[s]“ (S. 59 – H. i. O.), das sich, anders als der durch Geburt und Herkunft bereits ‚gemachte‘, in seiner gesellschaftlichen Position und Identität definierte und seiner Privilegien versicherte Aristokrat, ‚selbst machen‘ mußte. Das bürgerliche Individuum hatte sich in seiner Identität selbst zu entwerfen, mußte sein gesellschaftliches Schicksal selbst in die Hand nehmen und beanspruchte seit der Französischen Revolution überdies, seine sozialen Verhältnisse selbst einzurichten (vgl. S. 59 ff.). Beispielhaft findet diese „Homunkulus-Idee“ ihren „spekulativen Ausdruck“ in der Fichteschen ‚Selbstsetzung des Ich‘, bevor sie dann ihre zunächst wirtschaftliche Wirklichkeit auch diesseits des Rheins im Aufstieg des Bürgertums fand (S. 61, vgl. S. 60). Einerseits gehört dementsprechend das „Homunkulus-Postulat“ der „bürgerlichen Freiheits-Philosophie“ an (S. 61). Die „Kehrseite der bürgerlichen Freiheit“ ist aber der „Nihilismus“ (S. 72), die als Abwesenheit metaphysischen ‚Sinns‘ im 19. und 20. Jahrhunderts „tausendfach[]“ beklagte Orientierungslosigkeit infolge der fortschreitenden Auflösung traditionaler Gebundenheiten: „Das XIX. Jahrhundert, das Jahrhundert des Individuums, das für nichts und niemanden arbeitet als für sich bezw. sein Unternehmen, ist zugleich das Jahrhundert der verzweifelten Suche nach dem ‚Sinn des Lebens‘.“ (S. 71)88 In diesem „Umschlag aus Freiheit in Nihilismus“ ist 87

Vgl. Anders (1947), S. 57 ff., 71 ff. Anders weist hier auf das der teleologischen Frage nach dem „Sinn des Lebens“ eingeschriebene „Paradox“ hin, das „eine der Grundlagen des modernen Nihilismus“ darstellt: „einerseits scheint das Leben, das ‚keinen Sinn‘ hat, wertlos zu 88

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also, andererseits, die dem ‚Homunkulus-Komplex‘ innewohnende „Identität von Individualismus und Nihilismus“ zu erkennen (S. 71), deren Bewußtsein als „melancholische oder verzweifelte Musik [. . .] von der Romantik an das ganze Jahrhundert“ begleitete und in der „nihilistische[n] Würdelehre Nietzsches, der die Würde des (völlig unabhängigen) Übermenschen gerade darein setzt, daß dieser im Nichts stehen und stehenbleiben kann“, noch einmal seine Herkunft aus der bürgerlichen Freiheitsphilosophie offenbart (S. 72). Vor diesem Hintergrund wird die Existenzphilosophie erkennbar als „die letzte, verbrämte Ausformung jenes Nihilismus, der, offen oder versteckt, in allem, und nicht nur in den philosophischen Manifestationen der letzten hundertfünfzig Jahre gesteckt hatte“ (S. 57). Das „existentialistische Selbst“ erscheint als „letzter trotziger Anhänger“ des „verzweifelten Nihilismus“ (S. 73), das sich die Frage nach dem „Sinn des Daseins“ mit „Existenz“ beantwortet. Anders’ Einschätzung zufolge ist dies „ein Vorgang, zu dem Münchhausen Modell stand, als er sich selbst aus dem Graben am Zopfe herauszog“ (S. 72 f.), dessen philosophischer Prototyp aber der Einzige Stirners ist. Heidegger und Stirner stellen mit ihren Philosophemen vom ‚Dasein‘, das sich in seiner ‚Geworfenheit‘ aus der ‚Verfallenheit‘ des ‚man‘ selbst erlöst, indem es sich zur ‚Eigentlichkeit‘ des ‚Seins zum Tode‘ ‚entschließt‘ (vgl. S. 54 ff.), und von dem durch ‚Aneignung‘ die ‚Besessenheit‘ überwindenden und ‚sich selbst erschaffenden Einzigen‘, der sich ‚auf sich selbst, also auf Nichts stellt‘, kleinbürgerliche und, gemessen an den „großen Idealen der Freiheit und Autonomie“ (S. 62) der früheren bürgerlichen Philosophie degenerative Varianten der „Homunkulus-Idee“ dar (S. 61). Diese nahm „bei Stirner“ die „[k]omisch[e]“ Form des Einzigen an, „der sich, mangels massiveren Eigentums, als seinen schlechthinnigen Alleineigentümer und Schöpfergott geriert.“ (S. 61) Stirners „Attitude ist die des vom mächtigen Bürgertum bereits überholten und nicht konkurrenzfähigen Kleinbürgers; des Mannes, der, in Heideggers Worten, freilich in sehr viel konkreterem Sinne, in der ‚Angst um seine Existenz‘ vor dem ‚Nichts‘ steht. Besitzlos wie er ist, bescheidet und tröstet er sich nun mit dem zweideutigen Possessivpronomen ‚mein‘ und gibt sein Sehen, sein Hören, sein Fühlen, seinen Hunger, kurz: alles als Eigentum aus, während andere in einem wirklichen Sinne Eigentümer sind. [. . .] Den ‚stolzen Eigentümer seines Nicht-Eigentums‘ nannte ihn Marx daher mit Recht. ‚Wenn er Hungers stürbe, stürbe er nicht durch Mangel an Lebensmitteln, sondern durch sein sein; andererseits aber ist ja gerade dort, wo das Leben ‚sinnvoll‘ ist, dieses Leben selbst als Wertquelle geleugnet: es hat ja Sinn für etwas (den Heilsplan, die Weltordnung und dergl.), das mehr oder größer als das Leben ist.“ (Anders (1947), S. 71 – H. i. O., vgl. S. 72) – Die „ewige Frage: wozu?“, die sich mittlerweile als „Kinderfrage“ erkennen ließ (Benn (1953), S. 427).

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Eigentum: das Verhungernkönnen‘ . . . ein Wort, das nun auf Heidegger, dessen Dasein Inhaber seiner Selbst, ja Stockholder seines eigenen Todes ist, mit gleicher Schärfe zutrifft.“ (S. 61 – H. i. O.) Die Parallelen zwischen Stirner und Heidegger sind für Anders evident. Der historische Entstehungskontext des Heideggerschen „Nihilismus“ ist demjenigen des Stirnerschen „ähnlich[]“, allerdings ist im Falle Heideggers die Lage „unvergleichlich düstererer“ (S. 62). Dessen Existenzphilosophie spiegelt die „Situation des vollkommenen Verfalls des deutschen Kleinbürgertums nach dem ersten Weltkriege. Der ‚kleine Mann‘ kommt aus dem Nichts. Aber nun nicht mehr, um stolz in seine selbstgesetzten Rechte und die von ihm selbst gemachte und verwaltete und ihm gehörige Gesellschaft hineinspringen zu können. Kleiner Mann, was nun? Aus dem Nichts angekommen, findet es sich in etwas Nichtigem: in dem anonymen, mit Meinungen, Geschwätz, Unfreiheit und unrealisierbaren Maximen erfüllten Brei des ‚man‘; und will heraus.“ (S. 62) In der Sprache Heideggers ruft ihn die „Angst“ auf, „nicht der Welt ‚zu eigen‘ zu sein, sondern eigentlich zu werden.“ (S. 56 – H. i. O.) Und wird dieser Aufruf akzeptiert, so „beginnt die Verwandlung des uneigentlichen Daseins ins eigentliche“ – wie, parallel dazu bei Stirner, die Bewußtwerdung der Einzigkeit (S. 57 – H. i. O.) „[W]as anhebt, ist die Formulierung einer Askesetechnik, einer Technik der Ablösung von der Welt zum Zwecke des Selbst-werdens. [. . .] Es ist ein Weg der Rechtfertigung und Erlösung, aber der Erlösung ohne Gott, in der Erlöser und Erlöste identisch sind: beide sind ‚Dasein‘, denn Heidegger hat keinen Gott neben ihm“ – wie der Einzige (S. 57 – H. i. O.). „Es ist ein furchtbarer Weg ins Nichts: denn das was den ‚Eigentlichen‘ ganz eigentlich und ganz vereinzelt macht, ist das schlechthin Unvertretbare: der Tod, oder richtiger: das Sterben. Das Sterben wird der Leitstern des Lebens, und das Dasein ein ‚Sein zum Tode‘. Die Welt, an die es verfallen war, ist nun von ihm abgefallen, er ist allein, mit den leeren Möglichkeiten seiner selbst und marschiert kühn dem Tode entgegen (‚Entschlossenheit‘, ‚Vorlauf zum Tode‘), der gewissermaßen als ständig gegenwärtiger das Leben zu einem lebenslänglichen Sterben macht. Wozu das Dasein entschlossen ist? [. . .] Einzig und allein zu sich selbst, das heißt zu dem geworfenen, das nun einmal ist, ohne sich selbst gemacht zu haben; zu den ‚eigensten Möglichkeiten‘, die es nun aber übernimmt und ‚wählt‘, als seien sie doch sein eigenes Produkt.“ (S. 57 – H. i. O.) Die Abkehr von der menschlichen Mitwelt in der tautologischen Selbstbezüglichkeit dieses existentialistischen Einzigen besiegelt dessen Nihilismus. Für Anders offenbart sich in der Wiedergeburt des Einzigen in der Existenzphilosophie deren eigentümlich anachronistischer Charakter. Der provinzielle Katholik „Heidegger ist in einer Zeit, deren Kultur bereits seit

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mehr als hundert Jahren religiös indifferent gewesen war, [. . .] noch ein echter Häretiker: er hat persönlich, durch den Zufall seiner Herkunft, den ganzen Prozeß der längst abgeschlossenen und für viele bereits uninteressant gewordenen Sekularisierung noch einmal zurücklegen müssen; noch einmal hat er Luthers Reformation durchgemacht, [. . .] sich auf die Beine seines Fichtischen Ichs gestellt“, wie „Feuerbach oder Nietzsche die Erbsünde geleugnet“ und schließlich sich, „mangels besseren Kapitals, sich selbst ‚angeeignet‘ wie Stirner“ (S. 74 – H. i. O.). Aber so veraltet Heidegger vom geistesgeschichtlichen Standpunkt erscheint, so sehr konnte er doch gerade in „einer Zeit, da alle diese Schritte, die zum religiös neutralisierten Weltbilde des XX. Jahrhunderts geführt hatten, bereits halb vergessen waren“ und von „der Mehrzahl der Menschen“ ohnehin nur in ihren „Resultate[n]“ vorgefunden worden waren (S. 74), mit seinem existentialistischen Daseins-Sinn-Angebot (vgl. S. 72) eine unheilvolle Anziehungskraft ausüben. „Die orientierungslos gewordene Mitwelt, die sich, bereits unbefriedigt von ihrem eigenen Positivismus, bereits mißtrauisch gegen ihre eigene Moral, bereits gelangweilt von der eigenen Kultur gierig nach ‚Ernsterem‘ umsah, mißverstand die religiösen Reste des gerade noch mit religiösen Worten redenden Nihilisten als die ersten Stücke einer neuen Religiosität. Und da die Unerbittlichkeit seines Tons den Eindruck erregte, er wisse, worum es gehe [. . .], war man glücklich, mit ihm zu fliehen: [. . .] aus den ernsten Problemen in den Ernst als Beruf.“ (S. 74 – H. i. O.) Insbesondere Intellektuelle und „die Jugend der zwanziger Jahre“, von dem „Wort ‚Sinn‘ [. . .] fasziniert“ (S. 70, vgl. S. 64), folgten dem Ruf des existentialistischen Daseins und wurden dadurch, Anders zufolge, in besonderer Weise dazu prädisponiert, sich „totalitär bindende[n] Gewaltherrschaften wie de[m] Nationalsozialismus“ einzufügen, die „erfolgreich behaupten, sie verliehen dem Leben (der Gebundenen) wieder Sinn.“ (S. 71) Heidegger selbst ging mit dem Beispiel seiner „Gleichschaltung“ voran (S. 75), darin dem existenzphilosophischen Neutralitätsgebot folgend, „denn im Dritten Reich hätte“ jede Form der Distanzierung von den totalen Machthabern – wie sie dagegen Alfred Schaefer geradezu als zwangsläufige Option des existentialistischen Einzigen im Totalitarismus sah – „Opposition, kurz: Neutralitätsaufgabe bedeutet.“ (S. 67) Die ‚Neutralität‘ des „existenzialistische[n] Selbst“ (S. 73) begründet Anders zufolge dessen Neigung, sich der „siegreiche[n] Macht“ (S. 67) des Nationalsozialismus zu fügen, und der „verzweifelte Nihilismus“ (S. 73) dieses Selbst macht es anfällig für die Verlockungen totalitärer Sinn-Angebote. Aber die „Beziehungen zwischen der Philosophie des Nationalsozialismus und der Daseinsphilosophie“ gehen noch weiter: „Beide treffen sich erst einmal im anti-demokratischen Affekt“, worin Anders den kleinbürgerlichen „Emporkömmlings-Affekt“ erkennt, den er vom „Aristokraten-Af-

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fekt“ unterschieden wissen will (S. 75 – H. i. O.).89 „Beide Philosophien sind Anti-Zivilisationstheorien“ und „gegen jede Art von Universalien“ wie Menschheit, Internationalität usw. gerichtet (S. 76 – H. i. O.), in beiden „wird der Tod zugleich verherrlicht und bagatellisiert“ und in der Art von „Okkupations-Doktrinen [. . .] die Welt [. . .] zum Attribut der eigenen Existenz“ degradiert (S. 75 – H. i. O.). Beide schließlich „sind skrupellos: das nationale oder das existentielle ‚Selbstsein‘ sind die einzigen Ziele, an denen gemessen jede andere humane Rücksicht gegenstandslos wird.“ (S. 75 – H. i. O.) Die ideologischen „Parallelen zeigen bereits, daß das Modell des Eigentlichwerdens in beiden Fällen sehr ähnlich ist. Die nationale Erhebung war gewissermaßen der national-rituale Akt, durch den sich die formlose deutsche Bevölkerung (‚uneigentlich‘ geworden durch Parlamentarismus, Judentum etc.) in die Eigentlichkeit des Volkes oder des Reichs zusammenraffte.“ (S. 76) Das nationalsozialistische ‚Volk‘ ist gleichsam die MakroVariante des existentialistischen ‚Daseins‘.90 Anders gibt, indem er Stirner mit Heidegger, Heidegger aber mit Hitler verknüpft, nicht Stirner die Schuld am Nationalsozialismus oder erklärt ihn, so wie später dann Helms, zum protofaschistischen Ideologen. Aber der Einzige, der sich nach dem Ersten Weltkrieg in das ‚existentialistische Selbst‘ verwandelt hatte – worin für Schaefer gerade die Immunität und das Widerstandspotential gegen totalitäre Versuchungen besteht – und sich der Verantwortung für den Bestand des liberaldemokratischen Gemeinwesens entzog, das der gleichen bürgerlichen Freiheitstradition der Ideen von 1789 entsprang, die ihn ermöglicht hatte, erscheint bei Anders als Paradigma jener 89

Ebenso wie in dem Insistieren auf der ‚Kleinbürgerlichkeit‘ Heideggers (und Stirners) kommt hierin Anders’ eigene bildungsaristokratische Haltung zum Ausdruck. 90 In der Frage ‚Einzel- oder Makro-Subjekt?‘ läßt sich allerdings auch die Differenz ums Ganze sehen. Diese Differenz hebt Günter Meuter in seiner Untersuchung über Carl Schmitt als „Kollektiv-Stirnerianer“ (Meuter (1994), S. 422) hervor, dabei im Anschluß an Alfred Schaefer und ebenfalls, wie Anders, im Rekurs auf Heidegger Stirner als „Proto-Existenzialisten“ und Schmitt als „politischen Existenzialisten“ (S. 427) verstehend, der etwa den Existentialisten Sartre „mit größtmöglicher Geringschätzung, beispielsweise als Buribunke oder als Verschnitt aus Stirner, Heidegger und Maquis“ behandelt (Meuter (1994), S. 444, vgl. S. 421 ff., bes. S. 426 ff.; vgl. auch Schmitt (1918) und Schmitt (1950), S. 80 ff.). „Schmitts Stirnerianismus erfüllte sich [. . .] in der Projektion des Einzigen auf eine metaphysisch hypostasierte Kollektivindividualität. Statt ‚Ich will mich selbst‘ gälte jetzt ‚Wir wollen uns selbst‘.“ (Meuter (1994), S. 422) „Schmitts Verhältnis zu Stirners Einzigem bestimmt sich derart als Umschlag des individualistischen in politischen Existenzialismus. [. . .] Schmitts spezifische Differenz zu Stirner liegt in der bewußten Politisierung der Existenzbegriffe, in der Ent-Privatisierung und Ent-Innerlichung der individualistischen Konzeption des Einzigen zum politischen Souverän, an den die Einzel-Existenz mindestens der Möglichkeit nach restlos ausgeliefert wird.“ (S. 430 f. – H. i. O., vgl. S. 436 f.).

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„Philosophie der Vereinzelung“ (S. 49 f.) und „Desolidarisierung“ (S. 62, 74), die dem nationalsozialistischen Zivilisationsbruch nicht nur nichts entgegenzusetzen hatte, sondern ihm mental Vorschub geleistet, ihn begünstigt und sich letztlich mit ihm eingelassen hat – und stets gefährdet bleibt, derartigen Verlockungen erneut zu erliegen; anders als etwa bei Hirsch oder Schaefer ist hier der Einzige kein Aktivposten des Antitotalitarismus. Im Hinblick auf sein Verhalten vor 1945 war also nach 1945 dem Einzigen rückblickend alles zuzutrauen: offener Widerstand, innere Emigration und andere, mehr oder weniger heroische Formen der Opposition,91 aber 91 In diesem Zusammenhang ist auch an Ernst Jünger zu erinnern, dessen Verhältnis zu Stirner – und auch zum Nationalsozialismus – sehr viel weniger ambivalent war als dasjenige Carl Schmitts. Im Februar 1992 gedenkt Jünger in seinem Tagebuch Stirners: „Beim Gegensatz von Staat und Gesellschaft vergißt man allzuleicht den Einzelnen. Theoretisch wird er von beiden gehätschelt, praktisch um die Wette gerupft. Selbst von den Anarchisten wird er angezapft. Jedes neue System beginnt mit einem Aderlaß. Es bleibt seine Sache, wie er sich zwischen all dem hindurchwindet. Als Hauptproblem wird es zwar von den meisten empfunden, doch nur von wenigen erkannt. In dieser Hinsicht hat Stirner mehr zu bieten als Karl Marx.“ (Jünger (1995), S. 63) Günter Meuter zufolge ist der „Einzige [. . .] ein Bruder des Jünger’schen Anarchen“ (Meuter (1994), S. 426). In Der Waldgang, in dem „Stirner [. . .] eine offenbar nicht unerhebliche Rolle“ spielt (Meuter (1994), S. 422, vgl. S. 439 ff.), schreibt Jünger über den Widerstand des Einzelnen in totalitären Verhältnissen: „Die Massen werden der Propaganda folgen, die sie in ein technisches Verhältnis zu Recht und Moral versetzt. Nicht so der Waldgänger. Es ist ein harter Entschluß, den er zu fassen hat: auf alle Fälle sich die Prüfung dessen vorzubehalten, für das man von ihm Zustimmung oder Mitwirkung verlangt. Die Opfer werden bedeutend sein. Jedoch verbindet sich mit ihnen auch ein unmittelbarer Gewinn an Souveränität. Die Dinge liegen freilich so, daß dieser Gewinn nur von den wenigsten als solcher empfunden wird.“ (Jünger (1951), S. 80) Wie diese ‚wenigsten‘, individualistische Aristokraten, „die durch keine Übermacht zum Verzicht auf menschliches Handeln zu bringen sind [. . .] [,] das leisten, bleibt eine Frage des Widerstandes, der durchaus nicht immer offen geführt zu werden braucht. Das zu verlangen, gehört zwar zu den Lieblingstheorien der Unbeteiligten, bedeutet aber praktisch wohl das gleiche, als wenn man die Liste der letzten Menschen den Tyrannen auslieferte.“ (S. 81) Den folgenden Satz Jüngers hat später Ulrike Meinhoff in ihrem Diktum über die Pflichtmäßigkeit des Widerstandes angesichts der Unrechtwerdung des Rechts variiert: „Wenn alle Institutionen zweifelhaft oder sogar anrüchig werden und man selbst in den Kirchen nicht etwa für die Verfolgten, sondern für die Verfolger öffentlich beten hört, dann geht die sittliche Verantwortung auf den Einzelnen über oder, besser gesagt, auf den noch ungebrochenen Einzelnen.“ (S. 81) Dieser Einzelne – oder Einzige –, der seine eigene, psychische und moralische Integrität dem verfügenden, korrumpierenden und verletzenden Zugriff der Institutionen entzieht und diesem sich widersetzt, ist der Waldgänger: „Der Waldgänger ist der konkrete Einzelne, er handelt im konkreten Fall. Er braucht nicht Theorien, nicht von Parteijuristen ausgeheckte Gesetze, um zu wissen, was rechtens ist. Er steigt zu den noch nicht in die Kanäle der Institutionen verteilten Quellen der Sittlichkeit hinab. Hier werden die Dinge einfach, falls noch Unverfälschtes in ihm lebt. Wir sahen die große Erfahrung des Waldes in der Begegnung mit dem eigenen Ich, dem unverletz-

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ebenso auch Mitläufertum und Täterschaft, aus Opportunismus wie aus Überzeugung. Und solange dieser Einzige als Schöpfung des ‚ersten Kritikers Marxens‘92 bekannt war und solange Marx bzw. die Kritik an ihm symbolisch gleichbedeutend war damit, sich auf der einen oder anderen Seite der Blockkonfrontation des Kalten Krieges zu positionieren, war dieser Einzige und die Frage, wie er’s mit dem Nationalsozialismus hielt, als Politikum behandelbar. Weitgehende Einigkeit herrschte allerdings darüber, daß der Einzige, egal ob man ihn als totalitarismuskritischen Antifaschisten oder als antikommunistischen Protofaschisten verstand, innerhalb des OstWest-Konflikts zwischen Sozialismus und Kapitalismus auf der westlichen Seite, als Angehöriger der rechtsstaatlich verfaßten, pluralistischen Liberaldemokratien einzuordnen ist, wenn auch mit unterschiedlichen polemischpolitischen und geschichtstheoretischen Implikationen, die Frage nach dem welthistorischen Schicksal dieser Demokratien betreffend. Im Verlaufe der 1970er Jahre und spätestens mit dem Ende der Blockkonfrontation in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts hatte aber auch diese Frage an Brisanz verloren: vorläufig schien sie, nach dem Untergang der Sowjetunion, zugunsten der kapitalistischen Liberaldemokratien des Westens beantwortet zu sein.

baren Kerne, dem Wesen, aus dem sich die zeitliche und individuelle Erscheinung speist. Diese Begegnung, die sowohl auf die Gesundung wie auf die Verbannung der Furcht so großen Einfluß übt, ist moralisch von höchstem Rang. Sie führt auf jene Schicht, die allem Sozialen zugrunde liegt und urgemeinsam ist. Sie führt auf den Menschen zu, der unter dem Individuellen den Grundstock bildet und von dem die Individuationen ausstrahlen. In dieser Zone ist nicht nur Gemeinsamkeit; hier ist Identität. Das ist es, was das Symbol der Umarmung andeutet. Das Ich erkennt sich im Anderen – es folgt der uralten Weisheit des ‚Das bist du‘. Der andere kann der Geliebte, er kann auch der Bruder, der Leidende, der Schutzlose sein. Indem das Ich ihm Hilfe spendet, fördert es sich zugleich im Unvergänglichen. Darin bestätigt sich die Grundordnung der Welt. [. . .] Zahllose leben heute, welche die Zentren des nihilistischen Vorganges, die Tiefpunkte des Malstromes passiert haben. Sie wissen, daß dort die Mechanik sich immer drohender enthüllt; der Mensch befindet sich im Inneren einer großen Maschine, die zu seiner Vernichtung ersonnen ist. [. . .] Ein Wunder muß geschehen, wenn man solchen Wirbeln entkommen soll. Das Wunder hat sich unzählige Mal vollzogen, und zwar dadurch, daß inmitten der unbelebten Ziffern der Mensch erschien und Hilfe spendete. Das galt bis in die Gefängnisse, ja gerade dort. In jeder Lage und jedem gegenüber kann so der Einzelne zum Nächsten werden – darin verrät sich sein unmittelbarer, sein fürstlicher Zug. Der Ursprung des Adels liegt darin, daß er Schutz gewährte – Schutz gegenüber der Bedrohung durch Untiere und Unholde. Das ist das Kennzeichen des Vornehmen, und es leuchtet noch auf im Wächter, der einem Gefangenen heimlich ein Stück Brot zusteckt. Das kann nicht verloren gehen, und davon lebt die Welt. Es sind die Opfer, auf denen sie beruht.“ (S. 81 f. – H. i. O.). 92 Vgl. Hirsch (1957).

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2. Nach dem Ende der Geschichte In dieser Situation konnte der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama hegelianisierend die schnell in symptomatischer Weise zum geflügelten Wort werdende Parole vom ‚Ende der Geschichte‘ ausgeben, das mit dem weltweiten Siegeszug der liberalen Demokratien westlichen Typs erreicht sei.93 „As mankind approaches the end of the millenium, the twin crises of authoritarianism and socialist central planning have left only one competitior standing in the ring as an ideology of potentially universal validity: liberal democracy, the doctrine of individual freedom and popular sovereignty. Two hundred years after they first animated the French and American revolutions, the principles of liberty and equality have proven not just durable, but resurgent.“94 Nicht nur haben „[f]ascism and communism, liberal democracy’s main competitors up till now, both [. . .] discredited themselves“, während „the only form of government that has survived intact to the end of the twentieth century has been liberal democracy“;95 darüber hinaus ist gegenwärtig eine „worldwide liberal revolution“ beobachtbar,96 an der sich die Alternativlosigkeit der „victorious [. . .] liberal idea“ zeigt, gegen die auch der Islam, die letzte ansonsten noch verbliebene antiliberale, „potentially universal“, „systematic and coherent ideology“ mit einem „own code of morality and doctrine of political and social justice“,97 nicht ankommen kann, denn „[t]he days of Islam’s cultural conquests [. . .] are over: it [. . .] has no resonance for young people in Berlin, Tokyo or Moscow.“98 Der Blick auf die menschheitsgeschichtliche Gesamtentwicklung liefert „further evidence that there is a fundamental pro93 Vgl. Fukuyama (1992). – Die nach Fukuyamas eigener Aussage „distant origins“ seines Buches liegen in einem damals sogleich vielbeachteten Artikel, The End of History?, den er bereits im Sommer 1989 in der Zeitschrift The National Interest veröffentlicht hatte (Fukuyama (1992), S. XI). Im Buchtitel von 1992 kommt dann, nach der offiziellen Auflösung des Warschauer Pakts im Juli und der Sowjetunion am ersten Weihnachtsfeiertag 1991 (vgl. Matz (1999), S. 369), kein Fragezeichen mehr vor. 94 Fukuyama (1992), S. 42. 95 Fukuyama (1992), S. 45. 96 Fukuyama (1992), S. 46. 97 Fukuyama (1992), S. 45 – H. i. O. 98 Fukuyama (1992), S. 46. – Ein knappes Jahrzehnt vor dem 11. September 2001 kann Fukuyama selbst den islamischen Fundamentalismus noch mit Zuversicht betrachten: er ist eine symptomatische Abwehrreaktion der kulturell überholten und politisch in die Defensive geratenen „Islamic World“, die der siegreichen „liberal democracy“ ideell nichts entgegenzusetzen hat und „in the long run“ gegenüber liberalen Ideen „more vulnerable“ ist als umgekehrt. „Part of the reason for the current, fundamentalist revival is the strength of the perceived threat from liberal, Western values to traditional Islamic societies.“ (Fukuyama (1992), S. 46).

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cess at work that dictates a common evolutionary pattern for all human societies – in short, something like a Universal History of mankind in the direction of liberal democracy.“99 Dies, zusammen mit der Tatsache, daß die Angehörigen liberaler Demokratien heute, anders als noch zu früheren Zeiten, Probleme hätten „imagining a world that is radically better than our own, or a future that is not essentially democratic and capitalist“100 – Ergebnis eines opferreichen historischen Lernprozesses101 –, begründet die endgeschichtliche Siegesgewißheit, mit der Fukuyama die liberaldemokratisch verfaßte, kapitalistische Marktgesellschaft zum End of History erklärt. „History was not a blind concatenation of events, but a meaningful whole in which human ideas concerning the nature of a just political and social order developed and played themselves out. And if we are now at a point where we cannot imagine a world substantially different from our own, in which there is no apparent or obvious way in which the future will represent a fundamental improvement over our current order, then we must also take into consideration the possibility that History itself might be at an end.“102 – Besseres ist nicht zu erwarten, und das ist auch gut so. Jacques Derrida nennt diese liberaldemokratische ‚Frohe Botschaft‘ Fukuyamas „das am meisten Lärm entfaltende, das medientauglichste, das erfolgreichste Evangelium über den Tod des Marxismus als Ende der Geschichte“.103 Als solches ist es exemplarisch für einen „triumphierende[n]“,104 „herrschenden Diskurs – oder vielmehr einen Diskurs, der im Begriff ist, dominierend zu werden“,105 der „in allen Tonlagen, mit unerschütterlicher Selbstsicherheit, nicht nur das Ende der Gesellschaften diagnostiziert, die nach marxistischem Vorbild konstruiert waren, sondern auch das Ende der ganzen marxistischen Tradition und damit der Referenz auf das Marxsche Werk, um nicht zu sagen das Ende der Geschichte überhaupt. All das wäre schließlich in der Euphorie der liberalen Demokratie und der Marktwirtschaft zum Abschluß gelangt.“106 „Im Rhythmus des Gleich99

Fukuyama (1992), S. 48 – H. i. O. Fukuyama (1992), S. 46. 101 „We who live in stable, long-standing liberal democracies face an unusual situation. In our grandparents‘ time, many reasonable people could foresee a radiant socialist future in which private property and capitalism had been abolished, and in which politics itself was somehow overcome. Today [. . .] we cannot picture to ourselves a world that is essentially different from the present one, and at the same time better. Other, less reflective ages also thought of themselves as the best, but we arrive at this conclusion exhausted, as it were, from the pursuit of alternatives we felt had to be better than liberal democracy.“ (Fukuyama (1992), S. 46 – H. i. O.). 102 Fukuyama (1992), S. 51. 103 Derrida (1993), S. 96, vgl. S. 97 ff. 104 Derrida (1993), S. 96. 105 Derrida (1993), S. 88 – H. i. O. 100

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schritts“ jubiliert dieser „herrschsüchtige Diskurs“ demnach: „Marx ist tot, der Kommunismus ist tot, ganz und gar tot, mit seinen Hoffnungen, seinem Diskurs, seinen Theorien und seinen Praktiken, es lebe der Kapitalismus, es lebe der Markt, es überlebe der ökonomische und politische Liberalismus!“107 Im „Neo-Evangelismus [. . .] einer Rhetorik vom Typ ‚Fukuyama‘“ sieht Derrida jenen „hegelianischen Neo-Evangelismus“ wiederkehren, „den Marx mit soviel Vehemenz und Verve an der Stirnerschen Theorie der Gespenster denunziert hat“:108 Diesem neo-evangelistischen Diskurs zufolge, als dessen Agenten Marx Stirner und Derrida Fukuyama kritisiert, erweisen sich aufgrund des jetzt gegebenen historischen Erfahrungsraumes und möglichen Reflexionsniveaus alle vormals verfolgten emanzipatorischen Projekte und Ideen, an die naivere Generationen noch hatten glauben können, als – ‚gespenstische‘ – Illusionen. Sie sind jetzt erkennbar als – in der Diktion Stirners: – ‚fixe Ideen‘, ‚Besessenheiten‘, ‚Fanatismen‘, ‚Sparren‘ und ‚Spuk‘.109 Der endgeschichtlichen Perspektive dieses Neo-Evangelismus erscheinen sie als Illusionen, denen anzuhängen nicht nur von Aberglauben zeugt, sondern in den Konsequenzen schädlich und gefährlich ist, während dagegen das mit dieser Perspektive verbundene Bewußtsein der beste Garant dafür ist, in der Welt, wie sie ist – und als solche nun unverstellt zu erkennen ist – so gut leben zu können, wie es für menschliche Individuen möglich ist. Der hegelianisierende Neo-Evangelist Fukuyama, der den Marxismus für tot erklärt, erscheint in Derridas Marx’ Gespenster gleichsam als der triumphierende Wiedergänger desjenigen Einzigen, den Marx und Engels in der Deutschen Ideologie noch in der Erwartung kritisiert hatten, sich mit ihm, als einer ideologischen Ausgeburt der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, gar nicht weiter beschäftigen zu müssen, weil diesem Einzigen in absehbarer Zeit mit der proletarischen Weltrevolution ohnehin die Grundlage im gesellschaftlichen Sein entzogen sein würde. Deren Herauszögerung brachte es unter anderem auch mit sich, daß die Nachfolger von Marx und Engels sich auch weiterhin mit dem Einzigen auseinanderzusetzen veranlaßt sahen. Damit bereicherten sie die Stirner-Rezeptionsgeschichte in interpretatorischer wie modernitätsdiagnostischer Hinsicht, indem sie exemplarisch den ideologischen Zustand der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft analysierten, um die Notwendigkeit ihres Unterganges und zugleich dessen bisherige Verzögerung zu erklären. Der von Fukuyama ausgerufene Sieg der kapitalistischen Liberaldemokratien markiert die unbestimmte Vertagung je106 107 108 109

Derrida (1993), S. 95 f. Derrida (1993), S. 89. Derrida (1993), S. 161 f. Vgl. Stirner, EE, S. 42 ff., 46 ff., 80 ff., 374 ff.

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nes Unterganges und bedeutet zugleich den Fortbestand dessen, was Marx und seine Anhänger am Einzigen bekämpft hatten. Der Marxismus und die ideologisch auf ihm fußende kommunistische Welt waren verschwunden, der Einzige war geblieben; und es gab, zumindest in diesem historischen Augenblick keinen Feind, der ihn in Frage stellen könnte – allenfalls ihn selbst.110 In diesem Sinne war der Einzige fraglos, also selbstverständlich geworden, so daß auch der keine hundert Jahre zuvor noch berühmt-berüchtigte Name seines Schöpfers, Max Stirner, getrost vergessen werden konnte. In seiner Fraglosigkeit war der Einzige, anders als noch während des Kalten Krieges, kein Politikum mehr, weil nach dem Verschwinden der Blockkonfrontation das, wofür er stand, als alternativlos vorgestellt wurde. Er war in einer Weise in der modernen Gesellschaft angekommen, aufgrund derer seine namentliche Erwähnung sich erübrigte. Und als namenlos hatte ihn ja sein Schöpfer Stirner in seiner Endgeschichtlichkeitserzählung anderthalb Jahrhunderte zuvor vorgestellt111 – mit der bekannten Folge eines über Jahrzehnte sich erstreckenden rezeptionsgeschichtlichen Ringens um die Frage, wer der Einzige sei. Die Antwort, daß er das moderne Individuum in seiner Vielgestaltigkeit ist, erscheint in wissenssoziologischer Perspektive als das Ergebnis dieser Rezeptionsgeschichte. Hiermit endet die StirnerRezeptionsgeschichte, und der Einzige geht, als Individuum der modernen Gesellschaft, in seiner rezeptionsgeschichtlich entfalteten Vielgesichtigkeit, aber ohne Stirner, in deren Selbstbeobachtungen ein. a) Hans Magnus Enzensberger Ein Bild hiervon vermittelt bereits in der Abenddämmerung der Blockkonfrontation Hans Magnus Enzensbergers häufig für die Diagnose eines individualistischen Zeitgeistes herangezogener Essay Mittelmaß und Wahn aus der Endzeit der alten Bundesrepublik.112 Anders als frühere Autoren, die die diagnostizierte Gegenwart des Einzigen als „geistig nicht bewältigte Tendenz“113 oder „Ideologie der anonymen Gesellschaft“114 unter Rekurs auf Stirner thematisiert hatten, verzichtet Enzensberger auf die explizite Erwähnung Stirners und seines Einzigen. Gegenwärtig ist der Einzige bezüglich wesentlicher seiner rezeptionsgeschichtlich bekannten Aspekte dennoch in dem, was Enzensberger als die dominierende Mentalitätsstruktur und das soziokulturelle Selbstverständnis der Bundesrepublik beschreibt. Letztere 110 111 112 113 114

Vgl. Schmitt (1950), S. 89. Vgl. Stirner, EE, S. 412. Vgl. Vogelsang (1997), S. 26; Anonym (1994), S. 72. Emge (1963). Helms (1966).

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erscheint als Mittelstandsparadies, das Enzensberger zufolge von etlichen Millionen pragmatisch orientierter und distinktionsbewußter Nonkonformisten bevölkert ist, die „von politischen Abenteuern nichts mehr wissen“ wollen, „jeden ideologischen Fanatismus ab[lehnen]“ und denen „Utopien aller Art und totalisierende Träume [. . .] zutiefst verdächtig“ sind.115 Derart ‚entpolitisiert‘ kümmern diese sich, in ‚pluralistischer Indifferenz‘ (vgl. S. 261 f.), um ihre jeweils eigenen Angelegenheiten, ihre Lebensentwürfe, Vorlieben und sonstigen Interessen und nutzen so den seit den 60er Jahren beobachtbaren (vgl. S. 255) gesellschaftlichen „Zuwachs an Freiheitsgraden, Chancen, Wahlmöglichkeiten“ (S. 263). In den vergangenen Jahrzehnten hat die Bundesrepublik in den breiten Mittelschichten einen Individualisierungsschub erlebt, im Zuge dessen „sich ein ganzes Volk nach außen hin von seinen imperialen Ambitionen, nach innen von lieben Gewohnheiten wie dem Obrigkeitsglauben, dem Kadavergehorsam“ (S. 259) und von den „überlieferten Idealen der Vergangenheit“ (S. 255) restlos verabschiedet hat, zugunsten eines pragmatischen Umgangs mit den neu gewonnenen Freiheitsspielräumen und Selbstverwirklichungschancen, mit dem man sich ohne weitergehende ideologische oder politische Projekt-Ambitionen im „Mittelmaß“ einrichtet, es „bejaht“ und „seine Vorzüge und seine Freuden zu schätzen weiß“ (S. 261). Auch Enzensberger ‚bejaht‘ dies: „Diese Gesellschaft ist mittelmäßig. Mittelmäßig sind ihre Machthaber und ihre Kunstwerke, ihre Repräsentanten und ihr Geschmack, ihre Freuden, ihre Meinungen, ihre Architektur, ihre Medien, ihre Ängste, Laster, Leiden und Gebräuche . . . Diese Einsicht hat etwas Erlösendes. Es wäre heroisch, sie zu bestreiten. [. . .] Soziologisch und kulturell ist die Republik durch die unangefochtene Hegemonie der middle class gekennzeichnet. Die ölfleckartige Ausbreitung dieser unerhört diffusen Klasse war in den Plänen der Theoretiker nicht vorgesehen. Jahrzehntelang galt die Auszehrung, respektive die Proletarisierung des Mittelstandes, vulgo auch Kleinbürgertum genannt, als ausgemacht. Die widerspenstige Wirklichkeit hat die bekümmerten Prognosen der Konservativen ebenso falsifiziert wie die sehnsüchtigen der Marxisten.“ (S. 258 f. – H. i. O.) Der kritische Einwand, der „die Vermehrung individueller Optionen als Massenbetrug denunziert“ (S. 264) und damit die traditionellen Affekte der Konservativen gegen die „Nivellierung“, diejenigen der „Linke[n]“ gegen „den ‚bürgerlichen Individualismus‘“ bedient (S. 253), „scheitert an den Lebenserfahrungen der Mehrheit. Die Pluralität von Glücks- und Unglücksstrategien, Kulturen und Subkulturen, Abspaltungen, Nischenexistenzen, Minoritäten aller Art ist nämlich kein bloßer Werbetrick, sondern um115 Enzensberger (1988), S. 260. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich in diesem Unterabschnitt ebenfalls auf Enzensberger (1988).

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gekehrt: die kaleidoskopisch wechselnden Moden und Bewegungen, Interessen und Obsessionen, Hobbies und Therapien, Kulte und Katastrophen, Manien und Marktlücken, Sekten, Krisen, Trends und Trips hängen sich an bereits existierende Bedürfnisse, Leiden und Wünsche an. Es liegt in der Natur der Sache, daß alles, was da durcheinander kribbelt, unter der Schirmherrschaft des Mittelmaßes bleibt. Die Vielfalt, die sich anbietet, entspringt nicht der persönlichen Originalität, sondern einer gesellschaftlichen Kombinatorik“, die „innerhalb ihrer Grenzen eine endlose Variabilität“ zeigt (S. 264). Als Beispiele für die „durchschnittliche Exotik des Alltags“, die „dabei zum Vorschein kommt“, nennt Enzensberger „Figuren, von denen noch vor dreißig Jahren niemand sich etwas träumen ließ“, und die jetzt sogar die bundesrepublikanische „Provinz [. . .] bevölkern“, etwa „golfspielende Metzger“, „V-Männer mit Schrebergärten“, „Apothekerinnen in Nicaragua-Komitées, mercedesfahrende Landstreicher, Autonome mit Bio-Gärten, waffensammelnde Finanzbeamte, pfauenzüchtende Kleinbauern, militante Lesbierinnen“, „extremistische Tierschützer, Kokaindealer mit Bräunungsstudios, Dominas mit Kunden im höheren Management“, „Sterbehelfer und PornoProduzenten“ (S. 264 f.). In diesem Ausschnitt aus dem Pandämonium individueller Lebensentwürfe präsentiert sich die „abnorme Normalität“ der „westdeutschen Gesellschaft“ in ihrer ganzen schillernden Banalität: das nach dem Maßstabe früherer Zeiten Abnorme ist unter der Ägide „des triumphierenden Mittelmaßes“ zum Normalfall geworden, an „die Stelle der Eigenbrötler und der Dorfidioten, der Käuze und der Sonderlinge ist der durchschnittliche Abweichler getreten, der unter Millionen seinesgleichen gar nicht mehr auffällt.“ (S. 265) Im Ergebnis ist die Bundesrepublik ein „Gemeinwesen von seltener Buntscheckigkeit. Das Mittelmaß, das in dieser Republik herrscht, zeichnet sich durch ein Maximum an Variation und Differenzierung aus.“ (S. 263)116 Das zwei Jahrzehnte zuvor von Helms ent116 Enzensberger versäumt nicht, darauf hinzuweisen, daß „Millionen von Verlierern [. . .] hinter den Anforderungen dieses unerbittlichen Paradieses zurück[bleiben]. Die Rigidität, mit der sie ausgegrenzt werden, ist die Kehrseite der herrschenden Toleranz.“ (Enzensberger (1988), S. 266) „Wer nicht mithalten kann, der gerät nicht nur ökonomisch unter Druck. Schon die latente Drohung mit dem Abstieg führt zu ‚privaten‘ Beschädigungen, psychischen und physischen Einbrüchen, mit denen der rapide wachsende therapeutische Sektor nicht fertigwird. Vor den Versagern, zu denen in einem stochastischen Spiel grundsätzlich jeder gehören kann, versagen die Mittel der organisierten Mittelmäßigkeit“ (S. 267 f.), nämlich diejenigen des „Sozialstaat[s]“ (S. 267). Die unter den Vorzeichen des ‚Eigenverantwortungs‘-Ideologems im neoliberalen Diskurs bewirkte Privatisierung von sozialen Risiken ist, als Gegenstand von Enzensbergers Kritik, bereits erahnbar, durch die den Individuen ihre durch das ‚stochastische Spiel‘ der Ökonomie bedingte Ausgrenzung als individuelles Versagen zugerechnet wird – eine Sicht, die diese sich, soweit sie sich mit den herrschenden Standards identifizieren, als individuelles Schuldbewußtsein zuei-

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worfene Schreckensbild einer faschistoiden bundesrepublikanischen ‚anonymen Mittelstandsgesellschaft‘ konformistischer Einziger korrigiert sich in Mittelmaß und Wahn zum Befund einer durch routinemäßige Normabweichungen und standardisierten Nonkonformismus in den Lebensentwürfen ihrer Bürger erreichten „hyperbolische[n] Normalität“ der „westdeutsche[n] Gesellschaft“ (S. 266). Wer in diesem „massenhaften Marathon der Außenseiter“ (S. 271) noch seine Authentizität und Individualität gegen die Mediokrität und Konformität des Massenindividualismus zur Geltung bringen will, hat es naturgemäß schwer. Diejenigen, die sich in der Tradition kultureller Opposition der im 19. und frühen 20. Jahrhundert von der Boheme kultivierten Distinktionsund Provokationspraktiken bedienen, sehen sich schnell vom konformistischen Nonkonformismus des Mittelmaßes, von dem sie sich in programmatischer „Transgression“ abzuheben beanspruchen, mit offenen Armen empfangen, umschlungen und eingemeindet (S. 269, vgl. S. 268 ff.). Enzensberger rekapituliert dies anhand der auch Stirner-rezeptionsgeschichtlich einschlägigen Kontexte: Trat „bereits am fin de siècle das theatralische Moment“ ästhetisch-avantgardistischer „Selbstinszenierung immer deutlich hervor“ (S. 269 – H. i. O.), so steigerte sich bei den ‚Mit‘- und ‚Nachläufern Zarathustras‘ der von diesem kultivierte Affekt gegen die „Durchschnittlichkeit“ der „kleine[n] Leute“ (S. 268 f.) bald geradezu zum vom „Verlangen nach Selbstausgrenzung“ getragenen „Zunftzwang“, aus „dem Konsens auszubrechen, um dem Mittelmaß zu entkommen“ (S. 270). Heute ist es schließlich soweit, daß die mit nur noch „minimale[m] Risiko“ behafteten „kulturelle[n] Provokationen“ die regulären Erwartungen eines interessierten Publikums bedienen (S. 272). „Der ewige ‚Bruch mit den Sehgewohnheiten‘ ist zur lieben Gewohnheit geworden, die intellektuelle Subversion zur Routine, der Tabu-Bruch zur Unterhaltung. Die Umgebung, vor der sie immerzu auf der Flucht sind, hat die kulturellen Abweichler eingeholt, und es nützt ihnen nichts, wenn sie auf das exzessive Mittelmaß mit Exzessen reagieren. [. . .] Die Mehrheit läßt es sich gefallen, als Kompensation, ‚Denkanstoß‘, ‚Bereicherung‘, als ‚Herausforderung‘, die auf tausend Symposien und Volkshochschulen ‚nachdenklich macht‘ und ‚verarbeitet wird‘, die also mit einem Wort das Mittelmaß in seiner phantastischen Lernfähigkeit nur noch unangreifbarer macht, was wiederum den Wunsch, sich zu unterscheiden, weiter steigert, usw.“ (S. 270 f.) gen machen. „Eines haben die ‚Sozialfälle‘ von heute, Arbeitslose, Asylanten, Suchtopfer, chronisch kranke und psychisch ‚auffällige‘ Personen, mit den Paupers der Vergangenheit gemeinsam: ihre Lage hat nichts mit einer bewußt getroffenen Wahl zu tun. So gut wie nie haben sie sich gegen das Mittelmaß entschieden; sie haben es im Gegenteil als Norm verinnerlicht und leiden darunter, daß sie es nicht erreichen.“ (S. 268).

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Der um die Wende zum 20. Jahrhundert von avantgardistischen Minderheiten in kultureller Opposition praktizierte Individualismus wird also in der vom Mittelmaß dominierten Gesellschaft des Jahrhundert-Endes bezüglich seines nonkonformistischen Anspruchs zum Opfer seiner Inflationierung.117 „Das Mittelmaß nimmt Rache an seinem Gegenspieler. Es hat die kulturelle Opposition eingemeindet, das Außenseitertum verschluckt.“ (S. 272) Daß es sich im hochsubventionierten und großzügig gesponserten Kulturbetrieb als professioneller Tabuverletzer in der Regel gut leben läßt, stellt nur eine schwache Entschädigung für die „narzißtische Kränkung“ dar, „welche die Kultur des Mittelstandes ihren Außenseitern zufügt“, die, durch „die Routine [. . .] aufgezehrt“, von „Profilneurose und Wiederholungszwang“ getrieben, als „Outsiders für die Medien inszeniert“ werden und dadurch im standardisierten Rahmen als „Monster auf Bestellung, zahme Wilde“ gesellschaftlicher Aufmerksamkeit teilhaftig werden können (S. 271). Keine Gefahr, vom eigenen Erfolg gleichsam verschluckt und von dem gesellschaftlichen Mittelmaß, gegen das sie aufbegehren, vereinnahmt zu werden, laufen hingegen diejenigen, die in der Tradition „politische[r] Fundamentalopposition“ den mediokren „Konsens aufkündigen“ (S. 272). Wie die „kulturellen Frondeure[]“ fühlen auch sie sich „dem Mittelmaß überlegen“, pflegen ihr „eigenes Repertoire von Mythen und Legenden“ aus der „Vorgeschichte“ der Rebellion gegen „die bürgerliche Gesellschaft“, bedienen sich der in dieser Tradition eingeübten „Aktionsformen“ und entgehen nicht „einem Medienkalkül, das alle öffentlichen Handlungen zum Spektakel umfunktioniert“ (S. 272). Anders aber als die „Außenseiter der Kultur“ (S. 272), deren „kulturelle Opposition“ schon „bei der bürgerlichen Gesellschaft auf immer schwächeren Widerstand“ gestoßen war, so daß „das Risiko, das mit ihr verbunden war, zusehends ab[nahm]“ und in der Bundesrepublik spätestens nach der „Zeit Adenauers“ (S. 270) nur noch „minimal[]“ war, müssen diejenigen, die ihren Nonkonformismus im „politischen Angriff auf die Majorität“ artikulieren, nicht selten einen hohen Preis zahlen: „Selbstausbeutung und Selbstgefährdung verstehen sich auf den Aktionsfeldern extremer Politik von selbst; ja die Bereitschaft, aufs Ganze zu gehen, führt oft bis zur Selbstverstümmelung [. . .]. Und zum anderen braucht die politische Radikalität, gleich welcher Couleur, kaum zu befürchten, daß sie vom Beifall eingeholt und vom Erfolg überwältigt wird. Sie sieht ihre Notwendigkeit ganz im Gegenteil durch die Abwehr bestätigt, die ihr begegnet.“ (S. 272) Gerade dies führt aber zu einem zunehmenden „Realitätsverlust“ (S. 273), der in Sektierertum, „Paranoia“ und „gewalttätige[m] Extremismus“ endet (S. 274). „Im harmlosesten Fall igelt sich das oppositionelle Milieu ein und verschafft sich so eine sekundäre Nestwärme 117

Siehe auch oben, insbesondere VI. 5. b) cc) und ee).

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[. . .]. Wenn die Selbstausgrenzung jedoch verzweifelte Formen annimmt, kommt es zur Flucht nach vorn, und die führt in den Wahn. Der Terrorismus, soweit er überhaupt noch politische Motive für sich in Anspruch nimmt, agiert diesen Wahn aus“ (S. 273 f.). Aber selbst an diese extreme – und pathologische – Form der Nonkonformität hatte sich die Gesellschaft Ende der 80er Jahre gewöhnt. „Im Herbst 1977“ war es den Terroristen noch gelungen, „den Wahn, dem sie zum Opfer gefallen waren, der Gesellschaft im Ganzen zu oktroyieren. [. . .] Heute werden terroristische Anschläge auf der fünften Seite der Tageszeitungen verzeichnet. Die Mitte ist zur Tagesordnung zurückgekehrt.“ (S. 274) Der massenmediale Alarmismus, der eine jeweils neue Welle von spektakulären Terroranschlägen regelmäßig begleitet und auch eine gewisse Zeit nachwirkt, scheint – je nach Umfang, Dauer, Nähe und Ausmaß des durch diese bewirkten Leides – jeweils nach einer gewissen Zeit in der von Enzensberger angedeuteten Weise abzuflauen: Der Terrorismus wird weiterhin Aufmerksamkeit erzwingen und zur deutenden Auseinandersetzung, zu pround reaktiven Maßnahmen nötigen, aber er unterliegt ähnlichen Inflationierungsbedingungen wie andere spektakuläre Verbrechen oder Tabubrüche, so daß es ihm in einer anhaltenden Serie immer weniger gelingt, die Tagesordnung öffentlicher Wahrnehmung zu dominieren. Daß ihn dies – wie den ungleich harmloseren kulturellen Provokateur – in eine fatale Steigerungslogik treibt, ist ein anderes Problem.118 Dem von Enzensberger exemplarisch entfalteten und seitdem unter Stichworten wie ‚Individualisierung‘ und ‚neue Mitte‘ von unzähligen soziologischen, zeitgeist- und lebensgefühl-essayistischen, zeitdiagnostischen und sonstigen literarischen Beiträgen119 wiederholten, variierten und ausge118

Siehe auch oben, V. 2. Aufschlußreich in Form und Inhalt ist beispielsweise die um die jüngste Jahrtausendwende florierende Selbstbespiegelungsliteratur und Kollektiv-Biographik, die die pragmatische, ich-bezogene und distinktionsbewußte, tendenziell politikferne und ebenso ideologiefeindliche wie zu Hedonismus und harmlosen Eskapismen neigende Weltsicht und Lebenshaltung derjenigen ‚Generation‘ darzustellen und zu reflektieren beansprucht, die, zwischen 1965 und 1975 geboren, in jenen 70er und 80er Jahren aufgewachsen ist, in denen die von Enzensberger in Mittelmaß und Wahn beschriebene Mentalität und das dieser entsprechende kulturelle Selbstverständnis in Westdeutschland sich durchgesetzt hat. Beispielhaft: Bessing (1999); Illies (2000); Kullmann (2002). – Aber auch der Blick ins Feuilleton einer Tageszeitung fördert jederzeit schnell einschlägige Reminiszenzen zutage, etwa (in der Berliner Zeitung vom 20. Juni 2006, S. 18) eine schlicht Ich betitelte Kolumne oder (auf derselben Seite) einen Kommentar über ein als politische Demonstration für die Rechte von Vätern getarntes Selbstdarstellungs-Happening eines deutschen Fernsehseriendarstellers, der sich öffentlich als Gekreuzigter in Szene setzte: Die „Demonstration [war] Unfug, wie all die absichtsvollen Grenzüberschreitungen, Provokationen, Tabubrüche und Infragestellungen konventioneller Sichtweisen. Das sind längst 119

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leuchteten Panorama wäre unter Berufung auf den Stirnerschen Einzigen wenig hinzuzufügen gewesen. „Wie kein anderer hat Hans Magnus Enzensberger den Zugewinn an Selbstbestimmung und Stilexklusivität plastisch beschrieben, und zwar als eine die Gegenwart prägende Form der ‚Exotik des Alltags‘“, schreibt ein Jahrzehnt später der Jugend- und Mediensoziologe Waldemar Vogelsang; in Mittelmaß und Wahn werde ein Prozeß reflektiert, „dessen zeitdiagnostische Schlüsselbegriffe – Individualisierung, Traditionsverlust, Pluralisierung von Lebensstilen – einen grundlegenden Wandel der Moderne signalisieren. Angesprochen ist die sukzessive Loslösung (und Auflösung) von kollektiv-bindenden Normen und Bezügen. Kategorien wie Herkunft, Geschlechtsrollen, Familie, Nachbarschaft, Religion verlieren in der Gegenwartsgesellschaft an Prägekraft. Das bedeutet, ursprünglich gesellschaftlich vorgezeichnete Lebenspläne werden individuell verfügbar, geraten zunehmend in die Hoheit des einzelnen.“120 Wo dies der Fall ist, ist der Einzige selbstverständlich und Stirner vergessen: vergessen auf der Ebene des gesellschaftlichen Gedächtnisses, d. h. aktuell keine relevante diskursive Referenz. Die von Enzensberger beschriebenen Typen von Gegenwartsindividualisten – die mittelmäßig-durchschnittlichen Außenseiter, distinktionsbewußten Mittelständler und nonkonformistischen Massenexemplare, die willfährig vom Kulturbetrieb einverleibten Kulturkritiker, die professionellen Provokateure und gewohnheitsmäßigen Tabuverletzer, die im terroristischen Wahn sich verlierenden und ausagierenden politischen Fundamentaloppositionellen – dürften mehrheitlich in ihren empirischen Inkarnationen von Stirner noch nie gehört haben; und brauchen es auch nicht, um sich als Einzige dieser oder jener Couleur zu gerieren. Und Enzensberger braucht Stirner oder dessen Figur des Einzigen nicht zu erwähnen, um seinen Gegenwartsbefund den Zeitgenossen der späten 1980er Jahre verständlich zu machen. Die Evidenzen sprechen offenbar für sich. Und sie nehmen eine Aufmerksamkeit in Anspruch, die sich zu Anfang der 90er Jahre – also ein Jahrhundert nach Beginn der Stirner-Renaissance – in den massenmedialen Selbstbeschreibungen der Gesellschaft schnell in der Diagnose eines neuen Trends zu individuellem Eigensinn, Hedonismus und Egoismus äußert, die ihrerseits diese Evidenzen reproduziert: in Form der Vorstellung von empirischen Individuen, deren Lebensentwürfe und Selbstdarstellungen als Variationen des Grundmotivs erscheinen, das der Einzige, der ‚seine Sache auf sich stellt‘ und ‚die Welt und sich selbst als sein Eigentum genießt‘, verkündet: „Mir geht nichts über Mich!“121 Mittelstandsaufregungen, Pantoffelkühnheiten, ein Born to be wild oder Sympathy for the devil, gerade gut, um davon aufgekratzt mal wieder mit dem Moped um die Ecke zu knattern.“ 120 Vogelsang (1997), S. 26. 121 Stirner, EE, S. 5, vgl. S. 358 f., 412.

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b) Der „Tanz ums goldene Selbst“ Beispielhaft für diese Art massenmedialer Zeitdiagnose, und zugleich illustrativ für die entsprechende Evidenzerzeugung in der massenmedialen Realitätskonstruktion, ist ein Artikel über den „Tanz ums goldene Selbst“,122 dem Der Spiegel 1994 einen Titel widmete: „Jeder für sich und gegen alle. Die Ego-Gesellschaft“.123 Die hier beschriebene Gesellschaft besteht aus Individuen wie „Daniel Hermann, 29,“ der „sich am liebsten um sich selbst [kümmert]. Der Kunsthistoriker verdient sein Geld als Immobilienmakler und legt einmal pro Woche in einer Diskothek Platten auf. Hermann hat keine Freundin, aber einen Porsche. Er sieht sich als eine Art Lebensingenieur, der seine Biographie aus verschiedenen Elementen zusammenmontiert.“ (S. 58) Als weiteres Exemplar dieses Typus wird die Cutterin „Sylvia Schneider, 35,“ vorgestellt, die „ihren Weg ebenfalls allein“ geht. „Manchmal wünscht sich die Hobby-Kampfsportlerin ein Kind, aber eine Familie will sie nicht gründen. Gelegentliche Übernachtungen bei ihrem Freund genügen ihr vollauf. Sich selbst bezeichnet sie als Egoistin, ‚weil mich weder die anderen noch die Dritte Welt interessieren, sondern nur das, was ich als nächstes tue‘.“ (S. 58) Hermann, Schneider und ihresgleichen – etwa die „Friseurin Isolde Brinkmann, 46,“ die „Bürokauffrau Sabine Hatzel, 27,“ (S. 63) und der Anwalt „Christian Wolff, 32,“ (S. 58) – folgen der Maxime „Erst komme ich und dann lange nichts“, die sich gesellschaftlich als „Motto [. . .] durchgesetzt“ hat (S. 59). Dem Spiegel-Befund zufolge sind sie daher nicht bloß ein „paar Exoten“ und „unverbesserliche Narzißten“, sondern in ihrer gewöhnlichen Durchschnittlichkeit die „Repräsentanten einer Gesellschaft von Hedonisten, die Steuerhinterziehung als Kavaliersdelikt betrachtet und es nicht weiter tragisch findet, wenn Kleinverdiener und Rentner, Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger den schiefen Staatshaushalt sanieren sollen“ (S. 59). Deren „erste[s] Gebot [. . .] formulierte der Kölner Werbe-Experte Willi Schalk jüngst bei einem Vortrag über die Konsumtrends der Zukunft: ‚Nimm deine eigenen Bedürfnisse wichtiger als alles andere, und erfülle deine Wünsche konsequent. Egal, wer darunter zu leiden hat. Hauptsache, du entbehrst nichts.‘ Greif zu, wikkel es aus, schieb es in den Mund und erfahre das Glück: ‚Ich & mein Magnum‘. So wirbt Langnese jetzt für ein Speiseeis.“ (S. 61)124 122

Anonym (1994). – Seitenzahlen ohne weitere Angaben in diesem und den folgenden Absätzen beziehen sich auf den genannten Artikel. 123 Der Spiegel, Heft 22, 1994. – Im November desselben Jahres veröffentlichte Der Spiegel zudem ein special, das dieses Thema mit der zu dieser Zeit ebenfalls publizistisch florierenden Generationen-Identitäts-Suche verband: Die Eigensinnigen. Selbstporträt einer Generation. 124 ‚Der Einzige und sein Speiseeis‘ – Vor einigen Jahren kam auch ein Parfum mit dem Namen ‚Egoïste‘ auf den Markt, und mittlerweile bedient sich die Werbe-

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Heute, so lautet der Befund, hat „die Entwicklung der eigenen Fähigkeiten, die Suche nach der persönlichen Identität oberste Priorität“, und „die Konzentration aufs Ich hat sich vom Makel zu einem kategorischen Imperativ entwickelt“, dessen Befolgung Erfolg und Wertschätzung verspricht (S. 61). „Der brave Bürger denkt an sich selbst zuerst – und die Großen der Republik machen ihm vor, wie das geht.“ Als Beispiele werden etwa der Franz-Josef-Strauß-‚Amigo‘ und „Bäderkönig Eduard Zwick“, dem „vom freundlichen Freistaat Bayern eine Steuerschuld von 62 Millionen Mark erlassen“ wurde oder „der Baulöwe Jürgen Schneider“ genannt, der „Milliarden-Kredite erschwindelt und sich ins Ausland“ abgesetzt hat, aber auch der prominente „Tennis-Veteran Boris Becker“, der „samt Steuern nach Monaco um[siedelt] und [. . .] trotzdem der Liebling der Nation“ bleibe: „Bewundert wird, wer sich nimmt, was er braucht.“ (S. 59 f.) Wenn er diese Maxime befolgt und es schafft, sich damit in Szene zu setzen, kann zumindest kurzzeitig auch „ein Normalmensch wie der Gelegenheitsarbeiter Arno Funke, alias Dagobert“, der Kaufhauserpresser, der es eine zeitlang geschafft hatte, unter reger Anteilnahme der Tagespresse die Ermittlungsbehörden zu narren, bis er schließlich dingfest gemacht wurde, „zum Star werden, wenn er sich auf listige Weise selbst bedienen will: kein Robin Hood, sondern ein Kleinbürger, der eben auch mal so richtig in Talern schwimmen will.“ (S. 61)125 Der Verbreitung dieser als asozial-egoistisch charakterisierten Mentalität entsprechend, die sich in Figuren wie Boris Becker oder Arno Funke selbst glorifiziert und ihr ganz alltägliches Gesicht etwa in ‚Sylvia Schneider, 35‘, oder ‚Daniel Hermann, 29‘, präsentiert, stehen auch „Ratgeber zur Umgehung der Abgabenpflicht (‚Tausend ganz legale Steuertricks‘) [. . .] auf Bestsellerlisten ganz oben. [. . .] Selbstsucht, so scheint es, ist kein Grund mehr, sich zu schämen. ‚Die Kunst, ein Egoist zu wirtschaft auch aggressiverer Slogans, die dazu aufrufen, etwaige moralische Restskrupel gegenüber selbstsüchtigem Verhalten abzubauen und Schamgrenzen weiter zu senken: ‚Geiz ist geil!‘ u. ä. – Neben der inhaltlichen Ausrichtung stehen solche provokativen Werbetechniken auch formal in der Stirner-rezeptionsgeschichtlichen Tradition, insbesondere der dadaistischen und der tat-propagandistischen. 125 Dem präsumtiven, passiven wie aktiven Begehren von ‚Normalmenschen‘ nach „Instant-Prominenz“ (Neckel (2004), S. 7) entspricht mittlerweile im massenmedialen Unterhaltungssegment eine unüberschaubare Zahl von (vor allem noch: Fernseh-)Formaten, die systematisch Raum für die Beobachtung von „provokante[r] Selbstdarstellung“, „abweichende[m] Verhalten“ und „Durchschnittlichkeit“ als „Schauobjekt“ bereitstellen und die vermeintliche Verwirklichung von Karriere- und Ruhmesträumen präsentieren (Neckel (2004), S. 9), indem sie beispielsweise vorführen, wie „Prominente[]“ und „Stars aus dem Nichts produziert werden“, die aber sogleich nach ihrer Minuten-Berühmtheit am Ende der jeweiligen Sendung oder „in dem Moment, in dem die Staffel beendet ist, [. . .] ins Nichts versinken. Die haben höchstens ein kleines Nachleben in den Zeitungen und Zeitschriften“ (Bolz (2003), S. 16).

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sein‘ heißt ein Buch, das sich bestens verkauft. Ego, eine neue deutsche Männerzeitschrift, hängt ab Juni am Kiosk.“ (S. 59) In einer derart das ‚Ego‘ fetischisierenden Gesellschaft ist, wie generell festgestellt wird, bei den Individuen der Anspruch auf „Ich-Verwirklichung“ (S. 65), „Einzigartigkeit“ (S. 74), „Selbstbestimmung und individuelles Glück“ vorherrschend (S. 65). Dieser Anspruch prägt „die moderne Partnerschaft“ ebenso wie das Berufsleben und Freizeitverhalten der Individuen (S. 65) und hat als „Ich-Sucht oder Ich-Suche“ eine geradezu pathologische „Fixierung auf das Ich“ und den „Zwang zur ständigen Selbstbespiegelung“ zur Folge (S. 69). „Der Kult ums Ich, den der amerikanische Historiker Christopher Lasch vor anderthalb Jahrzehnten als zivilisatorische Tendenz benannte,126 hat sich inzwischen zu einer alle Lebensbereiche durchdringenden kollektiven Besessenheit gewandelt. Geradezu süchtig“ sind „die neuen Narzißten“ nach der insbesondere auch äußerlich wahrnehmbaren, durch „Kosmetik und Kleidung, Fitneß und notfalls Operationen“ bewirkten „Optimierung ihres Selbst“, um sich und anderen ihr „starkes Ich“ vorzuspiegeln (S. 69). „Denn die anderen braucht der Narziß zur permanenten Bestätigung seines wackligen Egos. [. . .] Gerade die Schwäche des eigenen Ego macht den Narzißten zum Super-Egoisten.“ (S. 69) Dies macht ihn umgekehrt anfällig dafür, „nahezu jedes Problem, von Liebeskummer über Arbeitslosigkeit bis zu Fettleibigkeit, als individuelles Versagen“ wahrzunehmen (S. 69). Auch aus diesem Grunde wollen die „Wohlstandsnarzißten“ (S. 69) lieber „nicht an die ganz unten denken“, denn, so befürchten „Menschen wie die Cutterin Sylvia, die sich zum ‚oberen Drittel‘ der Gesellschaft zählt – ‚wer Angst vor dem Absturz hat, den erwischt es bestimmt‘.“ (S. 63) Gerade in Zeiten der „Rezession, in der es immer weniger zu verteilen gibt“ und der „Kampf um den Reichtum, der noch bleibt“ sich verschärft (S. 63), gelte in der „in egoistische Gruppen und Grüppchen“ zerfallenen Gesellschaft mehr denn je: „jeder gegen jeden und jeder nur für sich.“ (S. 61) Diese und andere Evidenzen von allerorten anzutreffenden „MöchtegernIndividualisten“ (S. 74), „Wohlstandsnarzißten“ (S. 69) und „Ego-Menschen“ (S. 74) werden unter Berufung auf zeitgenössische wissenschaftliche und publizistische Beobachter – auch auf Hans Magnus Enzensberger, der bereits „in dem Essay ‚Mittelmaß und Wahn‘ beschrieben“ hat, welche „bizarren Erscheinungen“ der „Pluralismus von Werten und Lebensformen“ hervorgebracht hat (S. 72) – in zeitdiagnostischen Formeln wie „Ego-Gesellschaft“ (S. 59), „Ich-Kultur“ (S. 74) und „Ego-Zeitalter“ (S. 69) verdichtet und in den Kontext von plausiblen Realitätsdeutungen gebracht, in 126

In Das Zeitalter des Narzißmus (1979). Lasch bezeichnet hier die „Ausprägung der narzißtischen Persönlichkeit“ als die „häufigste[] Charakterstruktur unserer heutigen Gesellschaft“ (Lasch (1979), S. 227).

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denen sich die moderne Gesellschaft Rechenschaft darüber abgibt, mit was für Individuen sie zu rechnen hat, was sie von diesen zu erwarten hat und woran das liegt. Dabei wird das Neue der gegenwärtigen Situation registrativ betont. Die allgegenwärtige „radikale Ich-Bezogenheit“ (S. 61) ist demnach das „Kennzeichen einer neuen, zersplitterten Gesellschaft, deren Angehörige nur noch eine verbindliche Bezugsgröße haben: ihr Ego.“ (S. 63) Denn „[ü]berkommene Lebensformen, die sich an Klassen und Religionsgemeinschaften, Familie und Geschlechterrollen orientierten, zerfallen. Genormte Biographien werden abgelöst durch hochindividuelle Lebensgestaltungen, in denen Solidarität mit anderen allenfalls eine Nebenrolle spielt.“ (S. 59) Was nach der Entwertung traditioneller „gesellschaftliche[r] Bindemittel“ motivational beispielsweise an die Stelle von „Utopien und Religion“ tritt, ist ein „individuelle[s] harte[s] Kosten-Nutzen-Denken“ (S. 72). Es ist aber auch in dem vom Spiegel entworfenen Szenario nicht alles düster. Denn zugleich geht die „Auflösung tradierter Lebensformen [. . .] einher mit der Etablierung neuer Kulturen und Werte.“ (S. 72) In der Verfolgung ihrer „persönlichen Neigungen und Wünsche“ bilden die Einzelnen „neue soziale Gruppen“: „Selbstverwirklichungs-Milieus“, zu denen der Zugang aufgrund individueller Merkmale wie „Stil, Alter und Bildung“ geregelt wird (S. 72). „Durch diese Art der Gruppenbildung zeichnet sich ein neues Verhältnis von Individuum und Gesellschaft ab. Gemeinsamkeit, so scheint es, kann nicht von oben verordnet und empfangen werden. Sie muß vielmehr erforscht und erstritten werden im Durchgang durch das Individuelle, muß abgesprochen, ausgehandelt, begründet, erlebt, gegen die zentrifugale Kraft der Biographien bewußt bewahrt werden.“ (S. 72) Deswegen erhält „jede private Bindung in der zersplitterten Gesellschaft neue Bedeutung. Wenn Gemeinschaften“ nicht mehr quasi ‚naturwüchsig‘ „garantiert sind, wird es wichtiger, Freundschaften zu suchen und zu pflegen. Und vielleicht haben ja jene Soziologen recht, die solchen frei gewählten Beziehungen ganz besondere Tiefe unterstellen. [. . .] Die Psychologin Eva Jaeggi jedenfalls hat bei Singles schon eine neue Art von Freundschaft festgestellt: ‚Menschen, die nicht auf eine Familie oder einen Ehepartner zurückgreifen können, gehen in der Regel viel bewußter und behutsamer mit den Leuten um, die an ihrem Leben teilhaben.‘ Sie benehmen sich plötzlich sensibel und sozial – aus Egoismus.“ (S. 74) Neu erscheint aus Stirner-rezeptionsgeschichtlicher Sicht all dies allerdings nicht, zumindest in der Theorie: weder die dargestellte ‚egoistische‘, ‚ich-fixierte‘, ‚selbstsüchtige‘, ‚narzißtische‘, ‚individualistische‘ Haltung in ihren verschiedenen konkret individuellen Ausprägungen, noch die ihr entsprechende soziale Phänomenologie von zur Beförderung des Eigennutzes ihrer Mitglieder gebildeten ‚egoistischen Grüppchen‘ und nach Maßgabe in-

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dividueller Bedürfnisse ihrer Angehörigen frei gewählten ‚Selbstverwirklichungs-Milieus‘ – ‚Vereinen von Egoisten‘ –, und auch nicht der Befund der ‚Bindungslosigkeit‘ und des ‚Werteverfalls‘ bzw. der ‚Etablierung neuer Werte‘, oder die Beobachtung eines Kampfes ‚jeder gegen jeden‘ – eines ‚Krieges Aller gegen Alle‘ – um den Zugang zu knappen gesellschaftlichen Ressourcen wie Wohlstand oder Aufmerksamkeit, oder schließlich der Hinweis auf die Möglichkeit einer aus einem recht verstandenen Eigeninteresse und dem Bewußtsein um die eigene Bedürfnisstruktur erwachsenden ‚sozialen Einstellung‘ und ‚Sensibilität‘ gegenüber anderen Individuen. Was hier 1994 im Rahmen einer plausiblen Gesellschaftsbeschreibung im System der Massenmedien als ‚neu‘ diagnostiziert wird,127 läßt sich daher angesichts der hierbei verwendeten Evidenzen als Beleg für die Selbstverständlichkeit wesentlicher Aspekte jenes Einzigen anführen, der ein Jahrhundert zuvor ‚wiedergeboren‘ und als ‚Individualist‘, ‚Anarchist‘, ‚Kleinbürger‘, ‚Bohemien‘ usw. aus der Taufe gehoben worden war und in den etwa acht darauffolgenden Jahrzehnten um weitere Gestaltungen seiner ‚Persönlichkeit‘ bereichert wurde. Umgekehrt zeigt sich aber an massenmedialen Gesellschaftsbeschreibungen wie „Tanz ums goldene Selbst“, wie gut die darin präsentierten Individualidentitätsangebote ohne Stirner als philosophische Referenz auskommen. Im Unterschied zum Kollegen Nietzsche ist Stirner schon lange kein Modephilosoph mehr. Trotzdem findet der Stirnersche Einzige auch im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert noch gelegentlich öffentliche Erwähnung. Abge127 Die Betonung der ‚Neuheit‘ ist hierbei auch der nachrichtenwertorientierten Funktionslogik der Massenmedien geschuldet, eine Relevanz-Signatur, die das Berichtete als berichtenswert markiert. Noch zwölf Jahre später berichtet beispielsweise die Berliner Zeitung unter der Überschrift „Religion und Ehe verlieren an Wert“ von einer „neue[n] Individualität“, die wesentliche Züge der im „Tanz ums goldene Selbst“ beschriebenen ‚Ich-Kultur‘ trägt, wobei unter Berufung auf eine wissenschaftliche „Weltwertestudie (WWS)“ der in der „westlichen Welt“ sich vollziehende „grundlegende[] Wandel hin zu emanzipatorischen Werten“ oder „Entfaltungswerten“ betont wird. „Dagegen nehme die Bedeutung von ‚alten Bindungswerten‘ wie Religiosität, Nationalstolz und Autoritäten ab“. „Durch die neue Individualität verlören nicht selbst gewählte Gemeinschaften ihre Bindungskraft“ (Berliner Zeitung, 15./16. Juli 2006, S. 6). – Erinnert sei beispielsweise Stirner-rezeptionsgeschichtlich an Sveistrup, oder auch an Stirner selbst: „Alles Heilige ist ein Band, eine Fessel.“ (Stirner, EE, S. 237 – H. i. O.) „Es ist Keiner für Mich eine Respektsperson, auch ein Mitmensch nicht, sondern lediglich wie andere Wesen ein Gegenstand, für den Ich Teilnahme habe oder auch nicht [. . .]. Und wenn Ich ihn gebrauchen kann, so verständige Ich wohl und einige Mich mit ihm [. . .]. In dieser Gemeinsamkeit sehe Ich durchaus nichts anderes, als eine Multiplikation meiner Kraft, und nur solange sie meine vervielfachte Kraft ist, behalte Ich sie bei. So aber ist sie ein – Verein. Den Verein hält weder ein natürliches, noch ein geistiges Band zusammen. Nicht Ein Blut, nicht Ein Glaube bringt ihn zu Stande.“ (S. 349 – H. i. O.) „[D]er Verein ist für Dich und durch Dich da“ (S. 351).

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sehen von vereinzelten, philologisch-geisteswissenschaftlichen Beiträgen zu Stirner,128 taucht der Einzige gelegentlich in feuilletonistischen Kontexten auf. Dies geschieht mitunter recht spektakulär, wie etwa bei Ulrich Raulff, der vor dem Hintergrund der Terroranschläge vom 11. September 2001 deren mutmaßlichen Drahtzieher Osama Bin Laden als „Stirnersche[n] Einzige[n]“ bezeichnet, der „bereit [ist], die böse Sache als die seine zu vertreten“ – ‚die böse Sache‘ aus Sicht der noch ein Jahrzehnt zuvor von Fukuyama und anderen in Endgeschichtlichkeitseuphorie zum universalen Telos der Menschheitsentwicklung erklärten „freien Welt“, mit der „Bruder Laden“ in selbsterklärter „absolute[r] Feindschaft“ verbunden ist.129 Es mag zunächst kontraintuitiv erscheinen, ausgerechnet den islamistischen ‚Top-Terroristen‘ Bin Laden mit dem radikalen Individualisten Stirner in Verbindung zu brin128

Vgl. z. B. Machinek (1986); Lehner (1988); Suren (1991); Linares (1995). Raulff (2001), S. 17. – In explizitem Anschluß an Carl Schmitts Reflexionen über die Feindschaft als Grundbegriff des Politischen und das Politische als existentielles Merkmal des menschlichen Daseins im Begriff des Politischen und im – zugleich Stirner thematisierenden – Weisheit der Zelle betitelten Abschnitt aus Ex Captivitate Salus (Schmitt (1950), S. 79 ff.), in dem der Feind als derjenige bestimmt wird, der „mich in Frage stellen kann“ und sich deswegen „als mein Bruder [. . .] erweist“ (S. 89), hält Raulff der sich ihrem idealisierten Selbstbild nach als liberaldemokratisch verfaßte, frei marktwirtschaftende kapitalistische Gesellschaft verstehenden Moderne in exemplarischer Weise einen Spiegel vor, der sie – in seiner Reflexion die mit den von ‚Bruder Bin Laden‘ initiierten Anschlägen vom 11. September 2001 betretene Schwelle zum 21. Jahrhundert überschreitend – erkennen läßt, daß dieses terroristisch sich ausagierende Andere der modernen westlichen Zivilisation in ihr selbst hervorgebracht wurde und wird. Fukuyamas Vision des dritten Jahrtausends als Apotheose der globalisierten Liberaldemokratie westlichen Typs wird mit dem ‚gefühlt wirklichen‘ Eintritt des dritten Jahrtausends in der gezielten Verletzung dessen gebrochen, was in der liberalen westlichen Kultur den höchsten normativen Rang beansprucht, die Unverletzlichkeit der Person und ihrer Würde, die in Fortführung der Ereignisse vom 11. September fortan zunehmend unter den Vorbehalt der Willkür nicht nur von Agenten, sondern auch – symbolisiert in Ortsnamen wie ‚Guantanamo‘ und ‚Abu Ghureib‘ – von selbsternannten Kontrahenten des Terrors gestellt wurde. Auch hierin wird, was Raulff im Oktober 2001 noch nicht wissen konnte, aber schon geahnt hat, die ‚brüderliche‘ Beziehung Osama Bin Ladens mit seinen Feinden erkennbar. „Eines ist es, die Agenten dieses Terrors zu bekämpfen, ein anderes, sie zu absoluten Feinden zu erklären und ihnen im Namen der Zivilisation den absoluten Krieg zu erklären. Damit läuft man Gefahr, das Zerstörungswerk, das man verhindern will, selbst fortzusetzen. Darauf hat Carl Schmitt hingewiesen, auf einer jener Seiten, die seltener zitiert werden als die bellizistisch tönenden vom Freund-Feind-Gegensatz. Die Relativierung der Feindschaft, die Verneinung der absoluten Feindschaft, so Schmitt, ist eine der größten Errungenschaften der europäischen Zivilisation: ‚Es ist ja wirklich etwas Seltenes, ja unwahrscheinlich Humanes, Menschen dahin zu bringen, dass sie auf eine Diskriminierung und Diffamierung ihrer Feinde verzichten.‘ Die Erinnerung daran könnte in diesen Tagen nötig sein, in denen die bewaffneten Freunde der Zivilisation meinen, auch den Diskurs der freien Welt führen zu müssen.“ (Raulff (2001), S. 17; vgl. Schmitt (1932), S. 11 f., 26 ff.). 129

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gen, leuchtet aber angesichts des tat-propagandistischen Stirner-rezeptionsgeschichtlichen Stranges, des Interpretationsschemas der All-Einzigkeit und der diesem korrespondierenden sozialen Phänomenologie von Terrorismus, Paranoia und anderen Varianten der Antisozialität ein. Die antisoziale Struktur des All-Einzigen verbindet sich mit beliebigen ideologischen Inhalten, wie Stirner-rezeptionsgeschichtlich etwa an den anarchistischen ‚Dynamiteurs‘ der Jahrhundertwende, dem Antisemitismus Eugen Dührings und nicht zuletzt auch an den Offenbarungslehren der Inflationsheiligen ersichtlich wurde130 und noch in Enzensbergers Anspielung auf die Sektierer und Paranoiker des ‚Deutschen Herbstes 1977‘ illustriert wird. Auf eine andere Stirner-rezeptionsgeschichtliche Tradition, diejenige marxistischer Ideologiekritik am ‚Manchester-Liberalismus‘ des individualistischen Einzigen, konnte sich indes kürzlich Frank Castorf berufen, als er in historisch-materialistischer Inspiration den Einzigen als Paradigma neoliberaler Eigenverantwortungs- und Selbsthilfeideologie vorführte, deren sozial ruinöse Folgen ihr Schöpfer Stirner am eigenen Leibe erfahren mußte.131 In einem Der Einzige und sein Offenbarungseid betitelten Gastkommentar in der Berliner Zeitung reflektiert Castorf die ökonomische und ideologische Entwicklung in Deutschland nach dem von Fukuyama ausgerufenen ‚Ende der Geschichte‘ und stellt damit seinerseits – in kritischer Absicht – dem Einzigen eine Selbstverständlichkeitsbescheinigung aus. Der Einzige ist bei Castorf der ideologische Schein eines Marktradikalismus, dessen (a-)soziale Wirklichkeit sich historisch im verarmten Stirner exemplarisch manifestiert und in Folge der deutschen Wiedervereinigung auch den ehemals realsozialistischen Osten der Bundesrepublik bestimmt: „Das paradoxe Wunder der Marktwirtschaft liegt darin, dass ich der Allgemeinheit am meisten nutze, wenn ich mich ausschließlich für meinen eigenen privaten Vorteil interessiere. Den Rest erledigt der Markt, hinter meinem Rücken. Wer nicht dazu 130

Siehe oben, III. 1. sowie V. 1., 2. und 3. a) dd); siehe auch IV 2. d) und 3. b). Darauf, daß die Kritik am ‚bürgerlichen Individualismus‘ des Einzigen spätestens seit der Zwischenkriegszeit kein Monopol marxistischer Beobachter war, wurde bereits hingewiesen (siehe oben, VII. 3.). Und ähnlich wie bereits 1936 Martin Kessel in Der Einzige und die Milchwirtschaft – damals allerdings unter opportunistischen Vorzeichen, zugunsten der totalitären Diktatur – benutzt Castorf 2004 in Der Einzige und sein Offenbarungseid – in kritischer, die bestehenden Verhältnisse in Frage stellender Absicht – das berufliche Scheitern Stirners, um das in dessen Einzigem Verkörperte, den bürgerlichen Individualismus (Kessel) bzw. neoliberalen Marktradikalismus (Castorf) zu denunzieren; vgl. Kessel (1947). – Zu Castorfs Befund paßt zunächst auch die im Oktober 1987 gegenüber dem Womens Own Magazine geäußerte, Stirner-kongeniale Feststellung der damaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher, daß „there is no such thing as society. There are individual men and women“, die sie dann allerdings – ganz unstirnerisch – ergänzt: „and there are families.“ (Vgl. Schröder (2006), S. 90 ff.). 131

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in der Lage ist, sich um seinen privaten Vorteil zu kümmern, der muss durch Bildung oder Anschubfinanzierung oder Entwicklungshilfe dazu in die Lage versetzt werden. Solcherart Hilfe betreibt die Gesellschaft der Egoisten im wohlverstandenen Eigeninteresse. Und indem sie dieses Angebot macht, schließt sich der Deckel [. . .]. Wer es nicht schafft, ist selber schuld: Persönliches Versagen. Das ist der Unterschied zum früheren Osten, wo man immer sagen konnte, dass man durchaus könnte, wenn man nur dürfte. 17 Millionen haben ihre eigene Verantwortung wegdelegiert, weil es immer etwas über ihnen gab, das Zentralkomitee, die Gesellschaft, ein anonymes Man, dem man die Schuld geben konnte. [. . .] Max Stirner, kleinbürgerlicher Antipode von Karl Marx und einer der ersten Ideologen des verschärften Individualanarchismus, musste schon vor 150 Jahren die Kehrseite des Marktegoismus erfahren, als er die Konsequenzen aus seinem einzigen großen philosophischen Werk: ‚Der Einzige und sein Eigentum‘ in der Praxis ziehen wollte, einfach um – schon um frei zu sein – sehr viel Geld zu verdienen. Er [. . .] gründete ein ambitioniertes Unternehmen: den ersten zentralen Berliner Milchvertrieb. [. . .] Seine Ich-AG ging in kürzester Zeit Pleite [. . .]. Stirner wurde depressiv und starb als verarmte Fußnote zu Marx und Nietzsche. Er hatte in seiner Einzigkeit vergessen, dass er von anderen Einzigen abhängig ist, und dass sein Egoismus notwendig im Egoismus der andern seine Grenze findet – dass vor seinem Eigentum plötzlich ein Minuszeichen stehen kann und dass es dann heißt: Der Einzige und sein Offenbarungseid.“132 Wer sich heute, wie Raulff oder Castorf, auf Stirner und den Einzigen bezieht, muß dann auch erklären, um wen es sich dabei überhaupt handelt; oder damit rechnen, daß seine Leser die Bedeutung der Anspielung in der Regel nur aus dem thematischen Kontext erschließen können. Das ist ein signifikanter Unterschied zur Situation vor hundert Jahren, in der man die Bekanntheit Stirners weitgehend voraussetzen und den Einzigen deshalb zur Erklärung und Verdeutlichung von bestimmten Phänomen einsetzen konnte, an die sich die Gesellschaft noch nicht gewöhnt hatte. Mit Blick auf die von Raulff und Castorf mit dem Stirnerschen Einzigen in Verbindung gebrachten aktuellen Phänomene zeugt heute vor allem die Häufigkeit und Alltäglichkeit, mit der ‚Top-Terroristen‘, ‚Neoliberale‘, ‚Ich-AGs‘ und ihresgleichen ansonsten auch ohne diese Referenz auf Stirner massenmedial vorkommen, davon, wie sehr der Einzige in der modernen Gesellschaft heimisch geworden ist und sein Schöpfer vergessen werden konnte. Die Kolumnistin Silke Stuck spricht in der Berliner Zeitung beispielsweise von „unserer Ich-AG-Gesellschaft“ und berichtet unter dem Titel Ich ist ein Monster über eine „Firma ichdesign.de“, die die Entwicklung individueller 132

Castorf (2004), S. 4.

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„Ego-Logos“ für „knapp 500 Euro“ als Marktlücke entdeckt hat: „‚Die Entwicklung eines eigenen Symbols ist orientierend, identitätsstärkend und anregend‘, heißt es bei ichdesign.de.“133 Zur konsequenten Selbstvermarktung gehört auch eine entsprechende Selbst-Ver-Markung: „Über der Pforte unserer Zeit steht nicht jenes apollinische: ‚Erkenne Dich selbst‘, sondern ein: Verwerte Dich!“134 Diesem Zeitgeist entsprechend ist nun auch der islamistische Terrorismus als „Franchise-Unternehmen des Glaubenskrieges“ beobachtbar, in dem „AlQaida [. . .] zum Markennamen geworden“ ist,135 wie Der Spiegel in einem der „Al-Qaida-Offensive fünf Jahre nach dem 11. September 2001“ gewidmeten Heft unter dem Titel Rekruten des Irrsinns befindet. Wie bereits ein Jahrhundert zuvor die Attentatsstrategie und sonstigen Gewaltverbrechen des anarchistischen Terrorismus kann nun auch dessen islamistischer Wiedergänger als hochgradig ‚individualistisch‘ beschrieben werden – ohne daß allerdings hierfür Stirner als ‚Begründer jener Doktrin‘ angeführt werden muß, die ‚alle Gewaltexzesse‘ der zu ‚tätigen Propagandisten‘ sich berufen wähnenden Individuen rechtfertigt und anpreist.136 Wiederum erscheinen Herostratismus, individuelle Depravation und individual-psychopathologische Faktoren als Antriebe zum „gewaltige[n], rücksichtslose[n], schamlose[n], gewissenlose[n] [. . .] Verbrechen“137 auf eigene Faust zu ‚roher Selbsthilfe‘ greifender, sich ‚empörender‘ Individuen, die ihre Aggressionen und Frustrationen unter ideologischem Vorwand destruktiv ausagieren: „Al133

Stuck (2003), S. 22; vgl. auch Neckel (2004). Stirner, EE, S. 353 – H. i. O. – Im Bemühen, symbolisch gegen diese Tendenz anzukämpfen, wählte „eine unabhängige Jury aus Sprachwissenschaftlern und Journalisten“ den Begriff „Ich-AG als Unwort des Jahres 2002“: „Die Wortbildung leide sachlich unter lächerlicher Unlogik, da ein Individuum keine Aktiengesellschaft sein könne, befand die Jury. Selbst als ironisches Bild sei der Begriff nicht hinzunehmen, da sich die aktuelle Arbeitslosigkeit mit solcher Art von Humor kaum noch vertrage. Ausschlaggebend für die Wahl sei aber die Herabstufung von menschlichen Schicksalen auf ein sprachliches Börsenniveau.“ (Berliner Zeitung, 22. Januar 2003, S. 13) In Lüneburg, läßt sich wiederum der Tagespresse entnehmen, kam man bald darauf bei einem Foucault-Symposium zu der Erkenntnis, „dass sich aktuelle Formen und Forderungen der (Selbst-)Regierung wie Ich-AG oder Elite-Uni mit dem ‚späten‘ Foucault ausgesprochen gut analysieren lassen“, daß aber „dessen Überlegungen zur Verschränkung von Macht und Subjektivität nicht unbedingt zu politischen Veränderungsmodellen inspirieren. Immer wieder verhakte sich die Diskussion in der Frage, wie politische Veränderung denkbar sei, wenn sich das Individuum ohne die Hoffnung auf ein Außerhalb der Macht abplagt. Es zeichnete sich ab, dass die akademischen Theoretiker zu anderen Antworten kamen als Gäste aus dem Feld der Kunstpraxis.“ (Rohlf (2004), S. 10). 135 Cziesche u. a. (2006), S. 96. 136 Vgl. G. Adler (1898), S. 306; siehe oben, V. 2. b). Siehe zum Folgenden auch oben, IV. 2. d) und 3., V. 1. und generell V. 2. 137 Stirner, EE, S. 267 – H. i. O. 134

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Qaida steht heute nicht nur für die Dezentralisierung des Mordens, sondern auch für seine Individualisierung. Jeder schlecht integrierte Muslim, jeder Gescheiterte, Enttäuschte darf sich eingeladen fühlen, seinem verpfuschten Leben einen scheinbar höheren Sinn zu verleihen.“138 Wie der ‚illusionistisch-dämonistische Individualist‘ Panizzas139 entflieht auch der islamistische Selbstmordattentäter der widerständigen Realität und opfert sein Leben dem „grausigen Traum [. . .], mit einer einzigen herostratischen Geste, einem Martyrium zu Ehren Allahs, die westliche Welt zu erschüttern“.140 Die von Al-Qaida propagierte „Strategie Massenmord“141 erscheint als opportunes Mittel von antisozialen All-Einzigen, die sich – getrieben von ihrem Panizzaschen ‚Dämon‘, und um diesem in der Menschenwelt Geltung zu verschaffen – ‚berechtigt wissen zu morden‘142. Aber weder die Firma ‚ichdesign.de‘, Mohammed Atta und die selbstbewußte ‚Egoistin Sylvia Schneider, 35‘, noch ihre massenmedialen Beobachter brauchen Stirner als Stichwortgeber. Die Einzigen haben sich von ihrem philosophischen Vordenker und seinen Interpreten vollends emanzipiert. Wo allerdings eine philosophische Referenz noch als erforderlich betrachtet wird, läuft Stirner regelmäßig sein präsumtiver und soviel prominenterer Nachfolger Nietzsche den Rang ab. Symptomatisch hierfür ist der Fall Reinhold Messner. Messner setzt allein sechs Kapiteln des seinen Besteigungen der 14 Achttausender gewidmeten Buches Überlebt Stirner-Zitate als Motti voran143 und reflektiert den Umgang mit seiner – mehr als Kunst denn als Sport verstandenen144 – bergsteigerischen ‚Besessenheit‘, seinen ‚Egoismus‘ und die damit verbundenen Erlebniswelten und Grenzerfahrungen in Motiven, die sowohl der existentialistischen als auch der Stirner-Nietzsche-diskursiven Deutungstradition entstammen.145 Im Sammelband Reinhold Messners Philosophie wird 138

Cziesche u. a. (2006), S. 96. Siehe oben, IV. 2. c) und d). 140 Cziesche u. a. (2006), S. 91. 141 Cziesche u. a. (2006), S. 92. 142 Vgl. Stirner, EE, S. 208. 143 Vgl. Messner (2002), S. 11, 57, 89, 105, 121, 217. 144 Vgl. Augustin u. a. (2002), S. 25. 145 „Der Himmel über dem Nanga Parbat erschien mir als schwarze Unendlichkeit. Mit jedem Schritt nach oben tat er sich weiter auf. [. . .] Dieses Hineingetauchtsein in das Nichts an den großen Bergen hat mir mehr als alle anderen Erfahrungen und immer wieder die existentielle Problematik des Menschen vor Augen geführt. Warum sind wir da, woher und wohin? Ich fand keine Antwort; es gibt keine, wenn ich Religionen ausklammere. Nur das Aktivsein im Dasein hebt die wesentlichen Fragen des Lebens auf. Da oben habe ich mich nicht gefragt, warum ich das tue, warum ich da bin. Das Steigen, die Konzentration, das Sich-Aufwärtsmühen waren 139

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der „reflexive Extremismus Messners“146 allerdings nur mit Nietzsche, nicht mit Stirner in Verbindung gebracht: „Messner [konnte] im Spannungsfeld von normalem Menschen und Übermenschen so etwas wie Nietzsches boy werden [. . .]: Mit der bewußten, frei gewählten Stilisierung seiner Existenz macht dieser Sportlerkünstler nicht nur den Grenzgang zum Gesamtkunstwerk, sondern nähert sich mit einer kalkulierten Askese um der Ekstase willen auch einer philosophischen Existenz im nietzscheanischen Sinne. In Nietzsches Terminologie bedeutet dies: Einsatz des Apollinischen zu dionysischen Zwecken“.147 Messner selbst beruft sich hier, Stirner paraphrasierend, explizit ebenfalls auf Nietzsche als Religions- und Moralkritiker, Verkünder individualistischer Selbstbestimmung und Eigenverantwortung148 – und als Psychologen des Egoismus: „Mir geht dieses Geschwätz der selbst ernannten Altruisten fürchterlich auf die Nerven, denn alle diese Altruisten, die ich kennen gelernt habe, diese selbstherrlichen Gutmenschen sind, wenn es darauf ankommt, die reinen Egoisten. Das ist die Regel. Ich bin nicht der Erste, der es sagt, auch Nietzsche hat es gesagt. Es ist meine Erfahrung: Wenn Leute zu mir kommen und sagen, ‚ich stelle mich zurück, ich bin ein Altruist, ich kümmere mich nur um die anderen‘, werde ich mißtrauisch. Denen geht es doch nur um sich! Ich stehe zu meinem Egoismus, und ich weiß, dass jeder Mensch ein Egoist ist. Das Gegenteil davon, der Nicht-Egoist, kann nicht leben, er ist nicht überlebensfähig. Wir werden als Egoisten geboren und lernen gemeinsam zu leben!“149

3. Der letzte Individualisierungsschub des 20. Jahrhunderts Vieles spricht dafür, den Beginn des gesellschaftlichen Individualisierungsschubes, dem sich die skizzierte Durchsetzung des Einzigen verdankt, in den 1960er und 70er Jahren anzusetzen, als auch die letzten größeren politisch motivierten Beiträge zur Stirner-Rezeptionsgeschichte erschienen und diese, vom erwähnten punktuellen Aufflackern abgesehen, auslief. Sozialphänomenologisch läßt sich dieser beginnende Individualisierungsdie Antwort. Ich selbst war die Antwort, die Frage war aufgehoben.“ (Messner (2002), S. 30) „Obwohl ich weiß, daß es unbeliebt macht, die Wahrheit zu sagen, sage ich die meine. Immer noch und immer wieder. Ich habe mich nie einem Journalisten angebiedert, ich habe ein Erwachsenenleben lang meinen Egoismus verteidigt. [. . .] ‚Adel verpflichtet‘, hieß es einmal. Heute hingegen scheinen wir nur in der Zeit der personalisierten Slogans zu leben.“ (S. 238, vgl. S. 218). 146 Caysa (2002), S. 61. 147 Caysa/Schmid (2002b), S. 11 – H. i. O. 148 Vgl. Augustin u. a. (2002), S. 22, 24; Caysa/Schmid (2002c), S. 204 f., 214 f. 149 Messner, in Caysa/Schmid (2002c), S. 164 f.

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schub an der Studentenrevolte und ihren alternativkulturellen Ausläufern festmachen.150 Im Vorwort zu einer Textsammlung über Boheme und Alternativkultur erinnert Anfang der 80er Jahre Gerd Stein an Max Stirner, der mit seinem „radikalen Individualismus“ der „wichtigste Philosoph der Boheme“ der Jahrhundertwende wurde; und dessen „Verein“ beschreibt Stein als Prototyp der in der gegenwärtigen „Alternativkultur“ vorherrschenden „Formen eines lockeren, nutznießenden und jederzeit aufkündbaren Sozialzusammenhangs“, als „Kehrseite jenes auf die Spitze getriebenen Individualismus“.151 Mit der klassischen Boheme teilt die heutige „Alternativkultur“ bzw. „Alternativszene“152 demnach habituell die mitunter schon zum „Ritual[]“ geronnene „Spontaneität, die als Bedingung jeglicher Selbstverwirklichung begriffen wird“,153 das „gegenbürgerliche[] Lebensgefühl[]“,154 den beidem entsprechenden „programmatische[n] Individualismus“155 sowie den Hang zu „relativ milden und mehr symbolischen Aggressionen [. . .] gegenüber der Welt der Bürger“156 und nicht zuletzt die „innere[] Vielfalt und Widersprüchlichkeit“.157 Demzufolge sind also die „Eigenschaften und Lebensweisen, die der Boheme nachgesagt wurden, [. . .] keineswegs verschwunden. Im Gegenteil: Ihr Verhalten scheint inzwischen so verbreitet zu sein, daß der Boheme darüber die eigene Grundlage, nämlich ihr relativ exklusiver Charakter, verlorenging. Statt dessen bildete sich – vor allem im letzten Jahrzehnt – eine sogenannte Zweite beziehungsweise Alternativkultur her150 Gleichwohl erschöpft sich dieser Individualisierungsschub weder historisch noch sozialphänomenologisch in der 68er-Revolte – auch wenn ihr gewiß bezüglich Initialisierung, Breitenwirkung und Nachhaltigkeit eine besondere Bedeutung zukommt –, sondern läßt sich zeitgleich und darüber hinaus in verschiedenen anderen, in ihrer Gesamtheit erwartungsgemäß heterogenen – und im einzelnen z. T. recht esoterischen, aber nicht minder symptomatischen (wie beispielsweise oben, VI. 4. b) ee), bezüglich des Satanismus im Fin de siècle und in der 1960er Jahren angemerkt) – Erscheinungen beobachten, denen er mitunter weitere Impulse verdankt; man denke beispielsweise an die Hippie-Bewegung der 60er Jahre und in den 70er und 80er Jahren an Punk, Postpunk und die popkulturellen Folgen. – Insgesamt läßt sich von einer sozialphänomenologischen Diversifikation und Diffusion des in den 60er und 70er Jahren einsetzenden Individualisierungsschubes sprechen, dessen Fortgang und vorläufige Resultate in den folgenden Jahrzehnten in einigen Aspekten an den im vorangegangenen Abschnitt exemplarisch behandelten Diagnosen und Impressionen sichtbar wurden. 151 Stein (1981), S. 13. 152 Stein (1981), S. 16. 153 Stein (1981), S. 11. 154 Stein (1981), S. 12. 155 Stein (1981), S. 13. 156 Stein (1981), S. 16. 157 Stein (1981), S. 17.

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aus, die die Funktionen der ehemaligen Boheme weitgehend übernommen hat, dabei aber die inselhafte Eigenständigkeit der Boheme-Zentren (Montmartre, Schwabing, Ascona u. a.) in eine breitere gegenkulturelle Bewegung verwandelte. Wer sich der heutigen alternativen Kulturszene zurechnet, pflegt nicht mehr jene isoliert-kapriziöse Existenz, die das Leben der Bohemiens mehr oder minder deutlich bestimmte. Neben der offiziellen hat sich in den siebziger Jahren mit beträchtlicher Selbstverständlichkeit eine inoffizielle Kultur etabliert, die sich kaum noch als Sub-Kultur, sondern einfach als eine ‚andere‘ Kultur versteht. Dieselbe Verbreiterungstendenz konnte zuvor schon der Hippie-Bewegung nachgesagt werden“.158 Katalysator dieser kulturellen Veränderungen waren, sozialpsychologisch betrachtet, die Entwicklungen an den Universitäten seit den 60er Jahren:159 „Im studentischen Milieu entwickelte sich ein Typ der – hochsensibel für die eigenen momentanen Bedürfnisse – sich egozentrisch und expressiv zugleich verhält. Es handelt sich um den sogenannten oralen Flipper, ein Typ, der gleichsam lutschend und flutschend als narzißtischer Springinsfeld in der alternativen Szene sich profiliert und behauptet und als Inbegriff der Sponti-Bewegung angesehen werden darf. Jedenfalls fand ‚Narziß‘ in ihm seinen aktuellsten und prägnantesten Ausdruck. Es muß allerdings angemerkt werden, daß das stärkere Hervortreten des Narzißmus-Problems seine Grundlage keineswegs allein in der Alternativkultur hat, sondern aus gesamtgesellschaftlichen Prozessen resultiert, die sich mehr oder minder deutlich in allen Bereichen niederschlagen.“160 Diese Tendenz konnte in ihrer fortgeschrittenen Entfaltung dann Ende der 80er Jahre Enzensberger in Mittelmaß und Wahn an der Gemeingutwerdung alternativkultureller Lebensstile und an den konventionellen Nonkonformismen beobachten. In ähnlichem Sinne sprach Jürgen Habermas zur selben Zeit in einem Interview mit der italienischen Wochenzeitung L’Espresso mit Blick auf die Bedeutung der „68er Bewegung“ für das kulturelle Selbstverständnis der gegenwärtigen Gesellschaft von einer „Fundamentalliberalisierung“, deren ‚diffuse‘ Ausbreitung sich zwanzig Jahre nach Beginn der „studentischen Kulturrevolution“ in der westlichen Gesellschaft beobachten läßt. „Die studentische Protestszene hat in der Bundesrepublik den ersten Schub einer Fundamentalliberalisierung ausgelöst. [. . .] Ich meine den neuen Individualismus der Lebensstile, die sich an libertären Vorbildern orientieren, auch die neuen Formen autonomer Öffentlichkeit, in denen die Grenzen zwischen Demonstration und zivilem Ungehorsam, zwischen Diskussion, Festival und expressiver Selbstdarstellung verschwimmen. Darin sehe ich eine 158 159 160

Stein (1981), S. 10. Vgl. Stein (1981), S. 16 f. Stein (1981), S. 14.

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Langzeitwirkung der damaligen Protestformen und dessen, was Marcuse damals schon eine ‚neue Sensibilität‘ genannt hat. [. . .] Und das alles spielt sich ab in Sphären der Entdifferenzierung, wo sich alles mit allem berührt: die existentiellen Anliegen adoleszenter Kirchentagsbesucher mit dem vergnüglichen Hedonismus der Yuppies, die Lust an einer Politik der ersten Person mit dem Kalkül der Warenästhetik und dem Ernst von Informationen und Argumentationen, die aus aller Welt heranfluten und das nervöse Bewußtsein von Überkomplexität erzeugen.“161 Der von Enzensberger beschriebene, massenhafte Mittelmaß-Individualismus läßt sich in dieser Perspektive als ein Resultat der von Habermas diagnostizierten Fundamentalliberalisierung der zu diesem Zeitpunkt noch nicht um das Staatsgebiet der ehemaligen DDR erweiterten Bundesrepublik begreifen. Nach dem im Berliner Mauerfall symbolisch verdichteten Untergang des Ostblocks nimmt Heinz Bude in seiner Untersuchung über die ‚Achtundsechziger-Generation‘ Habermas’ Wort auf und bekräftigt den damit verbundenen Befund. Er identifiziert die – ihrem ein Vierteljahrhundert zuvor gepflegten Selbst(-miß-)verständnis zufolge: – „Helden der Revolte als Agenten eines evolutionären Trends“, als „Träger einer sozialen Bewegung [. . .], die eine Revision des vorherrschenden Lebenszuschnitts in den westlichen Gesellschaften bewirkt hat. Sie gelten als Katalysatoren eines kulturellen Umbruchs, der neue Modelle der Lebensführung hervorgebracht hat, die uns im Laufe der Zeit selbstverständlich geworden sind. So spricht man in der Tradition der Zivilisationstheorie von Norbert Elias von Prozessen der Informalisierung im Alltagsleben, die mit einer Veränderung der Machtbalance zwischen den stilbildenden gesellschaftlichen Gruppen durch den ‚Mittelklassen-Radikalismus‘ (Frank Parkin) der Studentenbewegung in einen Zusammenhang gebracht werden. Zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern im Betrieb, zwischen Eltern und Kindern in der Familie, zwischen Beamten und Klienten in der Behörde, zwischen Männern und Frauen in der Liebe verringerte sich im Gefolge der Kulturrevolte von 1968 das Machtgefälle: aus der starren Ordnung von Befehl und Gehorsam entwikkelte sich ein flüssigeres Spiel von Kooperation und Aushandlung. Angesichts dieser Fundamentalliberalisierung unserer alltäglichen Normalitätserwartungen muß jeder wertkonservative Aufruf einer Rückkehr zu den festen Regeln von Sitte und Anstand wie ein Kampf mit Windmühlen wirken.“162 Umkehrt rennt der Einzige in dieser Situation gleichsam offene Türen ein: Ein Individuum, das seinen bloßen Willen zur legitimen Handlungsgrundlage erklärt, gesellschaftliche Konventionen und Traditionen in Frage stellt und Autoritäten und Institutionen, durch die es sich in seiner Selbstverwirk161 162

Habermas (1988b), S. 26 f. Bude (1997), S. 18 f.

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lichung eingeschränkt fühlt, nicht akzeptiert, muß sich hierfür, anders als hundert Jahre zuvor, nicht mehr auf Stirner berufen – sondern im Zweifelsfall nur noch auf sich selbst.163 a) Hans Heinz Holz Welche Rolle der Einzige selbst bei diesem heute allseits mit der 68er Kulturrevolte und ihren Ausläufern verbundenen Individualisierungsschub spielte, der seine Rezeptionsgeschichte letztlich in eine neue Latenzphase164 – Vergessensein Stirners wegen Selbstverständlichkeit des Einzigen – übergehen ließ, erhellt, nochmals aus marxistischer Sicht, Hans Heinz Holz. Seine Untersuchung über Die Abenteuerliche Rebellion demonstriert noch ein letztes Mal vor jener Latenzphase innerhalb der Stirner-Rezeptionsgeschichte – und noch mit der Hintergrund-Sicherheit einer ‚realsozialistischen‘ Alternative zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft des Westens – das analytische Potential marxistischer Semantikbeobachtung, das sich der dem ideologiekritischen Interesse geschuldeten Sensibilität für strukturelle Analogien in den beobachteten semantischen Angeboten ver163 Obwohl, wie Bude betont, die 68er-Revolte als internationales Phänomen Ausdruck eines evolutionären Trends der modernen Gesellschaft in allen Regionen der (politisch:) westlichen Welt (inklusive Japan) war, kommt ihrer bundesrepublikanischen Fassung aufgrund der Besonderheiten der deutschen Geschichte in zweifacher Hinsicht eine herausgehobene Bedeutung zu, einerseits im internationalen Vergleich aufgrund ihres kulturrevolutionär ‚nachholenden‘ Charakters, andererseits im Hinblick auf die mentalitätsgeschichtlichen Probleme der deutschen Teilung – vor und nach 1989: „Allein in Deutschland gilt 1968 als eine entscheidende Zäsur der Gesellschaftsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg“, als „kurze[], aber turbulente[] Teilgeschichte im Gesamtprozeß, die von entscheidender Bedeutung für das kollektive Selbstverständnis wird“, als „Markierung“ im „Periodisierungsschema“ des sozialen Gedächtnisses, für die es „ein Davor und ein Danach“ gibt: Demnach ist die Bundesrepublik „[e]rst 1968 [. . .] ein westliches und liberales Land geworden“ – später als beispielsweise England oder Frankreich (Bude (1997), S. 20 f., vgl. S. 19 ff.). Und anders als die DDR: „Das macht im übrigen verständlich, warum 1968 heute als der Punkt gilt, von dem ab sich die beiden Teile Deutschlands erst richtig auseinanderentwickelt haben. Das Fehlen der Kulturrevolte ist dafür verantwortlich, daß die DDR in der deutschen Tradition des tragischen Ernstes verhaftet geblieben ist und den Anschluß an die westliche Kultur der ironischen Leichtigkeit verloren hat. [. . .] So sind auch in dieser Hinsicht die Ostdeutschen deutscher, das heißt schwerer und vergrübelter als die Westdeutschen geblieben.“ (S. 21 f.). 164 In der ersten rezeptionsgeschichtlichen Latenzphase in den vier Jahrzehnten zwischen der Erstveröffentlichung des Einzigen und der Stirner-Renaissance war Stirner aus entgegengesetzten Gründen vergessen: der Einzige war noch zu weit davon entfernt, in seiner Radikalität überhaupt mit der sozialen Realität plausibel in Verbindung gebracht werden zu können, was sich geradezu schlagartig änderte, als er im Fin de siècle, in der Epoche des (umkämpften) Individualismus, dem Einvernehmen seiner Interpreten zufolge den Nerv der Zeit traf.

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dankt.165 In Verbindung mit ihrem polemischen Gespür prädisponiert diese Perspektive Marxisten wie Holz dazu, in der sich selbst als Avantgarde der proletarischen Weltrevolution mißverstehenden 68er Studentenbewegung und ihrer individualistisch-anarchistischen Revolte eine erneute Wiederkehr jener erstmals an Stirners Einzigem beobachtbaren ‚abenteuerlichen Rebellion‘ zu erkennen.166 Im rekonstruktiven Anschluß an diese Sichtweise war dem Einzigen also, nach ersten vielversprechenden Versuchen, insbesondere der Avantgarden um 1900, ein später, nachholend kulturrevolutionärer Erfolg beschieden, dessen Ergebnis sich unter Gesichtspunkten der Fundamentalliberalisierung und Individualisierung begreifen läßt. Für Holz ist der Einzige der „Archetyp“ (S. 255), Stirner der „Stammvater“ (S. 256, 258) der „abenteuerlichen Rebellionsideologien“ (S. 8) und „Rebellionsphilosophien des bürgerlichen Zeitalters“ (S. 17). Aus marxistischer Perspektive sind diese einerseits als „Indiz für die Krise“ erkennbar, „in die die bürgerliche Weltanschauung geraten ist, nachdem die heroischen Illusionen der französischen Revolution an der Wirklichkeit der kapitalistischen Produktionsverhältnisse gescheitert waren“ (S. 7 f.). Andererseits sind sie aber in ihrer objektiven Funktion als „ideologische Waffe im Klassenkampf“ deswegen nicht minder gefährlich, wie sowohl das Beispiel der ‚Verkehrung‘ des durchaus zuzugestehenden „kritischen Potential[s] einer abenteuerlichen Rebellion“ im Faschismus (S. 8)167 als auch die „konterrevolutionär[en]“ Effekte der gegenwärtigen „antiautoritären Ideologie“ und des Existentialismus zeigen (S. 269). Holz würdigt zwar das ‚kritische Potential‘ und auch die heterogene Vielgestaltigkeit in dieser mit dem Einzigen einsetzenden „Geschichte des revolutionären Scheins in der spätbürgerlichen Welt“ (S. 8), die er in „paradigmatisch[er]“ Vorgehensweise, beginnend mit Stirner, an solchen Autoren nachzeichnet, „die typologisch aufschlußreich sind, die aktuelles Problembewußtsein bewiesen und darum ein respektables philosophisches Niveau erreicht haben und die eine nachhaltige Wirkung erlangen konnten“ (S. 8 f.). Aber er macht doch diesbezüglich von Anfang an deutlich, daß es sich, erstens, hierbei um ideologisches, also objektiv notwendig falsches, nämlich im Horizont der bürgerlich-kapi165

Vgl. Holz (1976), S. 8 f., 267 ff. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich in diesem Unterabschnitt ebenfalls auf Holz (1976). 166 Bereits im Schlüsseljahr 1968 betont Herzberg, ohne dies allerdings so wie sein bundesrepublikanischer Kollege Holz auszuführen, daß der „aktuelle[] Wert der Marxschen Kritik an Stirner [. . .] letztlich in der Abrechnung mit dem damaligen kleinbürgerlichen Anarchismus besteht – mit Auffassungen, die noch heute, so im Kampf der ‚außerparlamentarischen Opposition‘, eine Rolle spielen.“ (Herzberg (1968b), S. 1459). 167 Holz beruft sich hier wiederholt auf Helms, vgl. z. B. Holz (1976), S. 8, 11, 16, 268.

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talistischen Gesellschaft verbleibendes Bewußtsein handelt, das, zweitens, in seinen Grundstrukturen bei aller Variation selbst bei profiliertesten philosophischen Denkern immer wieder seinen kleinbürgerlichen Charakter verrät. Und dieser läßt sich, drittens, auch in der historisch jüngsten Metamorphose des Einzigen und seiner Rebellionsideologie, nämlich an den Ideen und Akteuren der 68er-Revolte erkennen. aa) Ideologische Beschränktheit und politische Folgen der Abenteuerlichen Rebellion Das ‚kritische Potential‘ der Rebellionsideologie muß aufgrund des nichtproletarischen Standpunktes auch bei jenen ‚philosophisch respektablen‘ Autoren im ‚Ideologisch-Scheinhaften‘ verbleiben: „Die fortschreitende Desavouierung der bürgerlichen Libertät und Liberalität durch die gesellschaftliche Praxis in dem Jahrhundert 1870 bis 1970 brachte – vom Boden eines selbst bürgerlichen Bildungs-, Erziehungs- und Autonomie-Ideals aus – eine weltanschauliche Rebellionsbewegung in Gang, die sich in den verschiedensten philosophischen Strömungen manifestierte. Diese Rebellionsbewegungen konnten jedoch, weil ihrer theoretischen Ausgangslage die Klasseninteressen des Bürgertums inhärierten, nur abenteuerliche Alternativen produzieren, die letztlich wieder in den ideologischen Mechanismus der Hegemonie des Bürgertums einmündeten (obschon sie dabei dessen weltanschauliche Konsistenz und Überzeugungskraft zerfällen mußten).“168 Die soziale Basis dieser weltanschaulichen Rebellionsbewegung verortet Holz – wie die meisten historisch-materialistisch inspirierten bzw. marxistischen Ideologiekritiker mutatis mutandis bei der Analyse des Einzigen – in den „ihrer selbständigen gesellschaftlichen Rolle immer mehr beraubten kleinbürgerlichen Schichten“, deren „Unbehagen“ sich „in Ansätzen zu einer Kritik des Bestehenden aus[drückt], die auf nunmehr politisch entleerte Vorstellungen von der Freiheit und dem Selbstsein des Menschen, will sagen des Individuums zurückgreifen, die aus der Aufstiegsperiode des Bürgertums übernommen werden. Da jedoch diese Schichten ihren sozialen Status an die Erhaltung der bürgerlichen Welt geknüpft wähnen, gelingt es ihnen zumeist nicht, ihre Kritik in eine politische Theorie einmünden zu lassen, die als Leitfaden gesellschaftsverändernden Handelns dienen könnte. Ihre Negation des Bestehenden bleibt individualistisch, anarchisch und ephemer“ (S. 8) – und in diesem Sinne eben auch ‚abenteuerlich‘ (vgl. S. 249 ff.): „Abenteuer ist eine auf die Person bezogene Kategorie: das Individuum erlebt ein Abenteuer, ist ein Abenteurer.“ (S. 250) 168 Holz (1976), S. 7. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich in diesem Unterabschnitt weiterhin auf Holz (1976).

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Der „Wortgruppe Abenteuer“ haftet dabei eine „eigentümliche Wertambivalenz“ an: Das Abenteuer kann als „eine wohl aufregende, aber doch prinzipiell positiv bewertete Lebenserfahrung, die eine Steigerung des Selbstgefühls, ein Erlebnis der Hochspannung einschließt“, begriffen werden, es „gewinnt aber sofort einen negativen Akzent“ als „unüberlegte[s]“, planloses, vernunftwidriges Handeln mit potentiell „verhängnisvollen Konsequenzen“ (S. 249 f.). Für Holz verdichtet sich dies im Stirnerschen Konzept der „[i]ndividuelle[n] Empörung“, die sich als „politische[] Aktion“ sowohl im gewalttätigen Aktionismus der Faschisten als auch im „individuelle[n] Terror“ anarchistischer und anderer Attentäter wiederfindet, der in „merkwürdiger Weise [. . .] die Gesellschaft, gegen deren Repressivität er sich richtet, mit den Funktionären, die die ausführenden Organe dieses Gesellschaftssystems sind“, verwechselt (S. 250 f.). „Die Identifikation von Personen mit den Mechanismen eines Gesellschaftssystems hat einen literarischen Zug. [. . .] Es ist eine ästhetische Einstellung, den Weltzustand unter dem Gesichtspunkt der Personifikation begreifen zu wollen“, die in der Kunst ihre Berechtigung und Notwendigkeit hat, in den politischen und kritisch-theoretischen Ambitionen der ‚abenteuerlichen Rebellion‘ aber zur Ideologie gerinnt (S. 252). Diese genuin realitätsflüchtige Tendenz führt die individualistische Empörung, die sich ohnmächtig gegen die Übermacht der ideologisch verkannten gesellschaftlichen Verhältnisse zur abstrakten Negation alles Bestehenden aufspreizt, in die soziale Wirkungslosigkeit des Privaten und in die ‚Innerlichkeit‘ eines häufig ästhetizistisch gefärbten, extremen Subjektivismus – Holz nennt hier exemplarisch Nietzsche, Sartre, Adorno –, der effektiv auf gesellschaftliche Veränderung verzichtet (vgl. S. 256). „Dieser Verinnerlichungsprozeß wird daran kenntlich, daß die Negation die bestimmte Qualität verliert, dergemäß sie sich gegen ein Moment des allgemeinen Weltzustandes richtete. [. . .] Die Ausdehnung der Protesthaltung auf eine grundsätzliche Verweigerung allem Bestehenden gegenüber führt mit Notwendigkeit zu einer Verinnerlichung und Vergeistigung der Revolte. [. . .] Die Veränderung des Ganzen auf einen Schlag zu wollen, heißt nichts zu wollen, denn das Andere des ganzen Bestehenden ist das Nichts.“ (S. 257) bb) Der Einzige als Strukturmodell kleinbürgerlichen Bewußtseins In der vordergründigen weltanschaulichen Vielfalt der rebellionsideologischen Tradition ist eine wiederkehrende Grundstruktur erkennbar, die all jene damit verbundenen Autoren als – je aktualisierte – Nachfolger Stirners ausweist: So „zeigen sich – von Nietzsche bis zu Adorno, von Sartre bis zu Marcuse – in der neueren bürgerlichen Rebellionsphilosophie die Topoi Stirnerschen Denkens erhalten, wenn auch ihre Herkunft meist unter dem

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Schleier eines elaborierten Code verborgen bleibt.“169 Was beispielsweise Adorno und Marcuse mit Heidegger und Sartre verbindet (vgl. S. 26 ff.), tritt an Stirner in „paradigmatische[r] Deutlichkeit“ hervor (S. 29), der, „darin spätere Rebellionsphilosophien antizipierend“ (S. 26), mit seinem „auf die absolute Freiheit oder Autonomie bezogene[n] Immoralismus“, mit seiner „Begründung der Singularität des Individuums“ und dem „Postulat eines uneingeschränkten, ungesellschaftlichen Selbstseins“ (S. 26), mit seiner „Polemik gegen den Bürger“ (S. 16), mit seiner Apotheose des „Aneignungswillens“ (S. 14) und dem „scheinrevolutionären Stichwort Empörung“ die „Leitmotive kleinbürgerlichen Bewußtseins [. . .] samt und sonders geliefert“ hat (S. 29 – H. i. O.). Insofern erweist sich „Stirners Denken [. . .] als das Strukturmodell des kleinbürgerlichen Selbstbewußtseins“ (S. 11), das sich auch bei seinen rebellischen Epigonen wiedererkennen läßt. Wie diese nach ihm geht Stirner „vom Unbehagen des Individuums in einer Gesellschaft [aus], die eben diesem Individuum keinerlei Chance läßt, sich zu dem zu entfalten, was es sein könnte, sondern es einhegt in von außen auferlegte Bestimmungen.“ (S. 11) „Stirners Trick“ besteht nun darin (S. 11), diesem Individuum die „Denkmöglichkeit“ vor Augen zu führen, „sich die ganze Welt anzueignen“, und dies mit der „Realmöglichkeit“ gleichzusetzen, „dies als Einziger zu tun“ (S. 12 – H. i. O.). Dem Individuum wird also angeboten, sich bei allem seinem Tun als Einziger zu imaginieren, der seine Handlungen und Ansprüche gegenüber den sozialen Andern wie gegenüber der real existierenden Gesellschaft und ihren Institutionen aus der im „Rückzug auf das bloße unmittelbare Bewußtsein“ seiner selbst (S. 12) gewonnenen „Gottähnlichkeit“ (S. 13) beglaubigt. Damit ist der Einzige weit entfernt davon, eine wirklich emanzipatorische oder revolutionäre Perspektive zu entwikkeln. Vielmehr gefällt er sich in seiner Selbstbespiegelung und agiert die von ihm reklamierte Position in einer Praxis aus, die Stirner mit den zentralen Ideologemen der ‚Aneignung‘ und der ‚Empörung‘ bezeichnet hat (vgl. S. 14 ff.). Die „Aneignung der Welt durch Verbrauch“ hat dabei, „in glatter Umkehrung des Kantschen kategorischen Imperativs“, die „Mediatisierung von Dingen und Menschen zu Gebrauchsgegenständen“ zur Konsequenz (S. 14) und erhebt so effektiv „als die metaphysische Doktrin eines radikalen Liberalismus“ das „ökonomische ‚laissez-faire‘ [. . .] zum geschichtsphilosophischen und anthropologischen Axiom“ (S. 20 f.): „Der schrankenlose Egoismus als Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft erhält hier seine weltanschauliche Legitimation.“ (S. 15) Mit der „Empörung“ richtet sich der Einzige gegen den „Staat“, der ihm, weil er sich durch die169 Holz (1976), S. 17. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich in diesem Unterabschnitt weiterhin auf Holz (1976).

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sen „in der absoluten Freiheit seiner Einzelheit [. . .] beschränkt“ sieht, „als repressiv“ erscheint: „ein Protest, der sich noch ebenso anarchistisch wie nominalistisch bei Adorno wiederholt“ (S. 16)170 und von dessen Formulierung bei Stirner „sich der Bogen zu den antiautoritären Ideologien des 20. Jahrhunderts“ schlägt (S. 29). cc) Der Einzige als 68er Insgesamt markiert so Stirner den Beginn des „scheinrevolutionären Dramas“ der ‚Abenteuerlichen Rebellion‘, dessen gegenwärtige Erscheinungsform „die Ideologie der Studentenführer von 1968“ ist, „die sich in groteskem Mißverständnis auch noch auf Marx und Lenin beriefen“, obwohl tatsächlich in ihnen der Einzige wiederkehrt171 – wie zuvor schon in Nietzsche, Sartre und Marcuse, den „Paradigmata, an denen die Phasen der ‚kritischen Kritik‘ und die in ihnen sich vollziehende Selbstzerstörung der bürgerlichen Philosophie als ideologischer Prozeß einsichtig“ werden.172 Am Verhalten und in den Verlautbarungen Daniel Cohn-Bendits, Rudi Dutschkes und anderer Protagonisten der 68er-Revolte macht Holz genau jenen Individualismus, Aktionismus und Utopismus aus, den Marx bereits an Stirner, Proudhon und Bakunin kritisiert hatte – und dessen marxistische Nachfolger an deren anarchistischen Nachfolgern (vgl. S. 260 ff.). „Es ist bemerkenswert festzustellen, wie sich die eschatologische Euphorie des Anarchismus im ausgehenden 19. Jahrhundert bei der revoltierenden Jugend der Gegenwart wiederholte.“ (S. 262) Wie die damaligen Anarchisten in ihrem individualistischen Glauben an das ‚Hic et nunc‘ der befreienden Tat betrachten auch die Aktivisten „jenes ideologischen Untergrunds, aus dem die Revolten der ausgehenden sechziger Jahre ihre Antriebskräfte bezogen“ (S. 261), die „Revolution und den Anbruch der Zeit der Verheißung 170 Holz nennt Adorno auch den „Meister eines verschämten Anarchismus“ (Holz (1976), S. 255) und weist wiederholt auf die Parallelen zwischen dessen Negativer Dialektik und Stirners Einzigem hin (vgl. Holz (1976), S. 26 f., 29 f.). – Zugleich hat Stirner aber mit seiner Verherrlichung der „nackte[n] Gewalt“ und der „Willkürherrschaft eines Einzigen, nämlich des Stärksten“, wie Holz unter Berufung auf Helms hervorhebt, „direkt die Ideologie des Faschismus vorbereitet“ (S. 16). 171 Arnhelm Neusüss formuliert in einem Rückblick auf die 68er-Revolte im Kontext der deutschen Modernisierungsgeschichte diesen Gedanken – aus einer anderen Perspektive und mit anderen Konsequenzen als Holz – in und unter dem treffenden Titel: Aufstand der Einzigen. Wie sich die deutschen Studenten einmal mit Marx empörten (vgl. Neusüss (2008), bes. S. 175 ff., 183 ff.). Vgl. auch, ebenfalls mit Blick u. a. auf Stirner im Interesse wissenssoziologischer Modernitätsdiagnose, Neusüss (2007), S. 97 ff., 117 f., 203 ff., bes. S. 207, 218. 172 Holz (1976), S. 9. – Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich in diesem Unterabschnitt weiterhin auf Holz (1976).

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als unmittelbar bevorstehend“ (S. 262). Getragen von dem „Utopismus, eine sozialistische Gesellschaft sei in kurzer Frist in den hochindustrialisierten kapitalistischen Staaten zu verwirklichen“, proklamierte in ‚revolutionärer Ungeduld‘ der von „Cohn-Bendit repräsentierte Flügel der Pariser Studenten [. . .] großspurig als ‚unmittelbares Nahziel den Sturz der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, den Aufbau des Sozialismus‘ und behauptete von den völlig undisziplinierten und uneinheitlichen studentischen Gruppen: ‚In der revolutionären Organisation, die zur Zeit im Aufbau begriffen ist, gibt es keine Studenten, Arbeiter, Angestellten usw. mehr, sondern nur noch revolutionäre Intellektuelle.‘ Hier liegt nun allerdings eine Überschätzung der Leitfunktion der intellektuellen Avantgarde vor, die zu den klassischen Irrtümern der anarchistischen Bewegung gehört.“ (S. 261) Diese intellektuellentypische „Überschätzung des agitatorischen Moments“ ist Ausdruck einer individualistischen Vorstellungswelt, die Holz auch diesseits des Rheins, in der „deutschen Studentenbewegung“ ausmacht und für das er repräsentativ das (scheinrevolutionäre) „Selbstverständnis Rudi Dutschkes“ zitiert (S. 261): „Darin liegt die Stärke dieser antiautoritären Bewegung, daß die praktisch-kritische Tätigkeit der Antiautoritären der reale Ausdruck der eigenen Interessen und Bedürfnisse der Individuen ist.“173 Diese vermeintliche Stärke der ‚antiautoritären‘, ‚dezentralen‘ Bewegung von eigeninteressierten Individuen ist allerdings, Holz zufolge, in Wahrheit eine ihrer zentralen Schwächen: „Es liegt in der Natur einer anarchistischen, grundsätzlich organisations- und institutionenfeindlichen Bewegung, daß sie durch Abspaltungen und Aufsplitterungen“ – durch die ständige Neubildung von kurzlebigen ‚Vereinen von Egoisten‘ – „eine lähmende Wirkung ausübt.“ (S. 263) Dem „individualistischen Tendenzenpluralismus“ (S. 264) und anderen aus ihrem Individualismus resultierenden Defiziten versucht die „antiautoritäre Bewegung“ (S. 269) wiederum individualistisch – und damit ohne Aussicht auf Erfolg – zu begegnen: „Die tatsächliche Wirkungslosigkeit der anarchistischen Bewegung wird durch die Lehre von der Auslöserfunktion stellvertretender Aktionen kompensiert.“ (S. 262) Hierzu zählen insbesondere „[i]ndividuelle Gewalthandlungen und Provokationen“ (S. 262),174 die 173

Dutschke, zit. n. Holz (1976), S. 261 f. „Die anarchistische, antiautoritäre Bewegung verfällt immer wieder in Personalisierungen, die die Richtung des Klassenkampfs in einen Aufstand gegen die Funktionsträger ablenken. Ein Strukturverhältnis ist auf den Nenner eines negativen Fetischs gebracht, demgegenüber positiv die Revolution fetischisiert wird, statt als Resultat historischer Entwicklungen begriffen zu werden.“ (Holz (1976), S. 269) Die destruktiven Konsequenzen dieser von Holz analysierten Sichtweise lassen sich auch an den terroristischen Ausläufern der 68er-Revolte in der Attentats-Praxis der RAF beobachten. 174

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aber zugleich, in dem Maße, wie sie – weit entfernt von den „wirklichen Klassenkämpfen“ und damit davon, eine „Gefahr für die bestehende Gesellschaftsordnung“ darzustellen – zunehmend als bloße „Ritualhandlung vollzogen werden“, in eine „völlige Privatisierung der Revolte“ übergehen, „die schließlich dem Rebellen einen ästhetischen Genuß in der Perspektive auf ein unerfülltes, aber geahntes Weltkunstwerk gewährt.“ (S. 265) In ihren Vorstellungswelten, Aktionsformen und Habitus an den Anarchismus und den Nonkonformismus der Boheme um die Jahrhundertwende erinnernd, befleißigen sich die Einzigen von 1968 der ‚Empörung‘ und der ‚Aneignung‘, wobei das eine in das andere übergeht, wenn etwa die „Provokationspraktiken“ (S. 264) zur „Selbstverwirklichung“ (S. 266) werden und die „Ausflucht ins Reich des privaten Eigensinns“ (S. 266) sich „zur ‚reinen‘ Protesthaltung [formalisiert], die der ‚Großen Weigerung‘ Herbert Marcuses entspricht und die mangels konkreter Alternativen zur bestehenden Gesellschaft keine große Attraktivität besitzen kann“ (S. 264) – nur die, den „Ideologen der privaten Lustgewinnung“, den Kunzelmann, Langhans und Teufel, als Vorwand für „lustvolle Protesthandlungen“ zu dienen (S. 266, vgl. S. 263 ff.). Hier vollendet sich die „Privatisierung der Rebellion“, was sich ablesen läßt „an dem Gewicht, das der Befreiung von sexuellen Tabus beigemessen wird. [. . .] Wo [. . .] die sexuelle Befreiung als Ersatzhandlung für die ökonomische eintritt oder diese in den Hintergrund treten läßt, da wird das Streben nach privater Glückserfüllung (oder Triebbefriedigung) zum Korrelat verfestigter gesellschaftlicher Herrschaftsausübung, zum Moment der Manipulation.“ (S. 265 f.) Der Aneignungswille des Einzigen und seine Empörung gegen die Mächte, die diesen beschränken, reduziert sich in der Konsequenz in einem von Holz exemplarisch angeführten ‚Manifest‘ der „subversiven Aktion“ auf dasjenige „Streben nach Selbstverwirklichung“, das „boykottiert“ wird durch die „Repression, der die Sexualität innerhalb der industriellen Gesellschaft unterliegt“.175 Mit diesen Rebellen, die in Fortschreibung der bohemischen Bürgerschreck-Tradition selbstgefällig und selbstgenügsam dem „Klassenkampf“, dieser „harte[n], mühe- und leidensvolle[n] Erfahrung“, das „ästhetische[] Vergnügen“, das „lustvolle Kampfspiel“ oder auch die „psychodelische[] Lustgewinnung“ vorziehen (S. 266), ist wahrlich keine Revolution zu machen. „Die Selbstbeschränkung auf die individuelle Aktion, die ‚Leidenschaft der an sich selbst Interessierten‘ (wie es ganz à la mode de Stirner in einem frühen studentischen Aufruf zur Kommunenbildung heißt) ist gesellschaftlich zu wenig. Hier zelebriert der Bürger seine Rebellion, unverbindlich und ineffektiv“ (S. 266). Durch die ‚abenteuerliche Rebellion‘ des Einzigen wird die als bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft beschriebene Mo175

Zit. n. Holz (1976), S. 266.

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derne nicht überwunden; dafür hat er sich zu sehr in ihr eingerichtet und ihr seinen Stempel aufgedrückt. Der Einzige findet sich also, läßt sich Holz’ Argumentation zusammenfassen, in einer beachtlichen Bandbreite von ‚rebellionsideologischen‘ Angeboten wieder, die, indem sie seine Grundstruktur variieren, seit Stirner die spezifische Lage des Kleinbürgertums innerhalb der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zum Ausdruck brachten – und bringen: zuletzt in Gestalt der für die objektiven historisch-sozialen Entwicklungsgesetzmäßigkeiten blinden „Revolte des Individuums gegen die Geschichte“, die seit 1968 die „neuen Jünger des Anarchismus“ aufführten (S. 258).176 Stirner hat, wie Holz in der ideologiekritischen Entgegensetzung von Stirners ‚kleinbürgerlicher Rebellions-Ideologie‘ und der ‚proletarischen revolutionären Theorie‘ von Marx und Engels konstatiert – worin zugleich die klassensoziologischen, geschichtstheoretischen und epistemologischen Prämissen des Marxismus in ihrer gegenseitigen Verschränkung verdichtet präsentiert werden –, „ein Repertoire von ideologischen Topoi aufgestellt, aus dem die nachfolgenden Generationen die Inhalte einer ebenso radikalistischen wie politisch wirkungslosen Rebellion schöpften und die Arkana der Selbstbefriedigung rebellischen Bewußtseins nehmen konnten. Von Nietzsche bis zu Heidegger und Sartre, von Buber bis zu Adorno und Marcuse ist die Linie der philosophischen Stirner-Nachfolge nachzuzeichnen (um von den gedanklich 176

„Schon eine knappe Darstellung der leitenden Motive des Stirnerschen Werks führt uns auf Positionen, die wir in späteren scheinradikalen Philosophien mutatis mutandis wiederfinden [. . .]. Ist die Subsumption aller Lebensverhältnisse unter die Kategorie der Aneignung (bei völliger Auslassung und Verachtung der Produktionssphäre) schon ein Indiz kleinbürgerlicher Akkomodation an die bürgerlich-rechtliche Institutionsform der kapitalistischen Produktionsweise, so ist die Verlagerung der Aneignung in den Bereich des Geistes der unmittelbare Ausdruck der Klassenlage des Kleinbürgertums: ausgeschlossen nicht nur von der politischen, sondern auch von der ökonomischen Macht, der Inhalte seiner einst progressiv-aufklärerischen Weltanschauung beraubt, der neu aufsteigenden Klasse des Proletariats ebenso feindlich gesonnen wie von Ressentiments gegen das erfolgreiche kapitalistische Großbürgertum erfüllt, versteifte sich das Kleinbürgertum in einer Negativität, die aus mürrischer Misanthropie, engherziger Moral und verbalem Auftrumpfen gemischt war und der realen Bedeutungslosigkeit sich durch geistige Selbstbestätigung zu entziehen suchte. [. . .] Innerhalb dieses Spektrums fällt Stirner nicht nur wegen seiner zugespitzten Formulierungen auf. Vielmehr finden wir bei ihm aus der Basiskategorie der Aneignung alle jene Weltanschauungsbegriffe herausgesponnen, die von späteren Rebellionsideologien aufgenommen wurden. Aneignung der Welt durch den Einzigen stellt sich ihm dar als Macht, als Eigentlichkeit, als totale Negation, als Befreiung, als Selbsterzeugung – und all das im Bereich einer schrankenlosen Subjektivität, die nur deshalb schrankenlos ist, weil sie sich nicht an der widerständigen Wirklichkeit, sondern nur in der Vorstellung bewähren muß. Wir sehen, wie sich hier die privatistischen Protesthaltungen vorbereitet finden.“ (Holz (1976), S. 24 – H. i. O.).

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minderen, aber politisch nicht minder wirkungsträchtigen Epigonen zu schweigen). Marx und Engels haben die Risiken der kleinbürgerlichen Rebellionsideologien bereits in ihren Anfängen erkannt und nicht ohne Grund die Mühe aufgewandt, den ‚Sankt Max‘ einer so aufwendigen Kritik zu unterziehen. Wie Stirner das Arsenal anarchistischer Gedankenmotive bereitstellte, so ließen Marx und Engels die Batterien der revolutionären Theorie auffahren: die polemischen Argumente der ‚Deutschen Ideologie‘ sind solange aktuell, wie Stirners Hirngespinste noch in den Köpfen der Ideologen einer Gesellschaft spuken, die abenteuerlicher Rebellionen als Katalysatoren ihrer Konsolidierung bedarf.“ (S. 30) Analytisch ist damit der Fall Stirner und die Wiederkehr seines Einzigen in der 68er-Bewegung für Holz erledigt: Als Ausdruck kleinbürgerlichen Unbehagens an der bürgerlich-kapitalistischen Klassengesellschaft – und gleichsam als eine die Klassenherrschaft nicht wirklich gefährdende, sondern effektiv stabilisierende Erregungsabfuhr – gehört der Einzige zum ideologischen Kernbestand dieser Gesellschaftsformation. Politisch wird er daher aus marxistischer Sicht ein dauerhaftes, in wechselnden Gestalten sich präsentierendes Problem bleiben, bis durch die revolutionäre Überwindung der gegenwärtigen Gesellschaftsformation der Ideologie des revoltierenden Einzigen ihre kleinbürgerliche Grundlage und seiner Rebellion der Anlaß entzogen sein wird. Solange wird also weiterhin mit ihm zu rechnen sein – und möglicherweise seit seiner jüngsten Metamorphose in der 68erRevolte mehr denn je.

4. Der Einzige der modernen Gesellschaft In Holz’ ideologiekritischer Entgegensetzung von Stirners ‚RebellionsIdeologie‘ und Marx/Engels’ revolutionärer Theorie verdichten sich die klassensoziologischen, epistemologischen und geschichtstheoretischen Prämissen des Marxismus in ihrer gegenseitigen Verschränkung: ‚Revolutionär‘ – im Gegensatz zu ‚rebellisch‘ – kann nur eine im Sinne der objektiven Entwicklungsgesetze der Gesellschaft fortschrittliche, in der gegenwärtigen historischen Situation auf die Aufhebung der Klassenherrschaft zielende Theorie sein, die deswegen nur vom proletarischen Klassenstandpunkt aus formuliert werden kann. Denn nur das Klasseninteresse des ‚Proletariats‘ – und nicht etwa des ‚Kleinbürgertums‘ – zielt mit objektiver Notwendigkeit darauf, die klassenlose Gesellschaft zu verwirklichen, in der mit der Herrschaft von Menschen über Menschen auch die Notwendigkeit von ‚falschem, ideologischem Bewußtsein‘ – im Gegensatz zur wissenschaftlichen Wahrheit – überwunden sein wird. Deswegen garantiert nur dieser soziale Standort die wissenschaftlich wahre Erfassung der ‚objektiven‘ Realität. Dagegen kann

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auf einem nichtproletarischen sozialen Standort, wie dem kleinbürgerlichen des Einzigen, nur ‚Rebellion‘ und nur ‚Ideologie‘ erwachsen. Diese in den Leitunterscheidungen ‚Revolution vs. Rebellion‘, ‚Wahrheit vs. Ideologie‘ und ‚Proletariat vs. (Klein-)Bürgertum‘ implizierten geschichtstheoretischen, epistemologischen und klassensoziologischen Annahmen des Marxismus, die Holz’ Blick auf den Einzigen bzw. auf Stirner und die mit diesem begonnene Ahnenreihe prägen, haben im Lichte historischer Erfahrungen und theoretischer Entwicklungen an Plausibilität eingebüßt. Aus Sicht einer sozialtheoretisch perspektivierten Untersuchung historischer Semantik relativiert dies den wissenschaftlichen Ertrag von Holz’ ideologiekritischer Rekonstruktion der Geschichte des Einzigen vom Vormärz bis zur 68er-Revolte, wie auch denjenigen der anderen in der vorliegenden Arbeit behandelten marxistischen Auseinandersetzungen mit dem Einzigen, bei allen zugleich zuzugestehenden Verdiensten der historisch-materialistischen Beobachtungstradition. Denn zum einen sensibilisiert zwar die polemischdenunziatorische Intention marxistischer Ideologiekritik in analytisch fruchtbarer Weise für strukturelle Analogien in Weltdeutungsangeboten, deren Erkenntnis sich dann in der Konstruktion von Ahnenreihen und Traditionslinien von Stirners Einzigem bis zu je gegenwärtigen politisch-weltanschaulichen Gegnern bewährt. Aber mit dem Bestreben, die so konstruierte ideologische Traditionslinie und insbesondere ihre je aktuell zu bekämpfenden Vertreter mit dem Hinweis auf die bereits von Marx und Engels erkannte Ideologiehaftigkeit Stirnerschen Denkens zu erledigen, inhäriert dieser Vorgehensweise zugleich die hermeneutisch problematische Tendenz, die in das ideologiekritische Denunziationsschema sich nicht fügenden Aspekte der Stirner-Rezeptionsgeschichte, sowohl ihrer historischen Kontexte als auch einzelner ihrer Textbeiträge, außer acht zu lassen. Und zum anderen kommt die marxistische Ideologiekritik mit ihrem klassensoziologischen Beobachtungsschema – an das sie aufgrund ihrer geschichtstheoretisch-epistemologischen Beglaubigungsnötigungen gebunden bleibt – auch wissenssoziologisch nicht zu befriedigenden Auskünften. In klassensoziologischen Restkategorien und Verlegenheitsbegrifflichkeiten wie ‚Mittelstand‘, ‚Mittelklassen‘, ‚Mittelschichten‘, ‚Kleinbürgertum‘, ‚Sub‘- und ‚Lumpenproletariat‘, wie sie Stirner-rezeptionsgeschichtlich immer wieder in dem Bemühen zutage traten, dem Einzigen einen sozialen Standort innerhalb der als ‚bürgerlich-kapitalistisch‘ begriffenen modernen Gesellschaft zuzuweisen, äußert sich die Schwierigkeit, den Einzigen eindeutig auf einer der beiden Seiten des (präsumtiv für diese Gesellschaft basalen) Klassenantagonismus ‚Bourgeoisie vs. Proletariat‘ zu verorten. Ex negativo läßt sich daraus schließen, daß der Einzige klassensoziologisch weder der Bourgeoisie zuzurechnen ist, wie bereits Max Adler nach-

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drücklich – und im Einvernehmen mit den meisten ‚bürgerlichen‘ StirnerInterpreten – festgestellt hatte, noch dem Proletariat, wie die restlichen in der marxistischen Tradition stehenden Interpreten unzweifelhaft herausarbeiteten.177 Nach dem klassensoziologischen Beobachtungsschema des Historischen Materialismus kommt er nur unscharf als ein Drittes in den Blick. Aber dieses Dritte kann es als soziologisch relevante Größe einerseits aus geschichtstheoretischen Gründen nicht geben, weil es die klare antagonistische Frontlinie zwischen den beiden Hauptklassen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsformation verwischen würde. Damit würde der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat, der Motor der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung zur weltrevolutionär sich verwirklichen177 Neben den in der vorliegenden Arbeit ausführlicher Behandelten ist in diesem Zusammenhang auch an Ernst Bloch zu erinnern, aus dessen essayistischen Bemerkungen über die „Leitfiguren der Grenzüberschreitung“ (Bloch (1959 III), S. 1175) in Das Prinzip Hoffnung sowohl Helms als auch Holz, aber schließlich auch Enzensberger Inspiration schöpfen konnten: „Freilich gerieten auch die trotzig Einsamen, je weiter sie sich vom deutlichen sozialen Gegner entfernten, notwendig mehrdeutig. Sie wurden zwar noch nicht die barbarisch-eleganten Auslebegestalten vom Fin de siècle, einen lustfeinen Fascio vorbereitend. Wohl aber konnte diese bleibend individuelle Art von Überschreiten asozial schlechthin werden; bis hin zum Verbrecher, der die Stirn und den Stirner und den Nietzsche hat, sich als Zerbrecher zu gerieren. [. . .] Die bürgerliche Gesellschaft hat mit der individuellen Wirtschaftsweise den Sinn für abenteuerliche und gigantische Subjektreize erst erzeugt; gleichzeitig erschienen ihr diese, gemessen am wirklichen Bürger, dem Bourgeois, als ‚unbürgerlich‘.“ (Bloch (1959 III), S. 1179) Der bürgerlichen Gesellschaft in Wirklichkeit zugehörig, aber scheinbar nicht wirklich ‚bourgeois‘ – also ‚kleinbürgerlich‘. An einer anderen Stelle bemerkt Bloch über „Stirner, [der] mehr ein wilder Oberlehrer als ein Löwe“ war: „die merkwürdige Schrift ‚Der Einzige und sein Eigentum‘, 1844, will den Einzelnen, sonst niemand, von den letzten ‚Sparren‘ oder ‚Gespenstern‘ befreien, die aus dem Jenseits übriggeblieben sind. Übriggeblieben sind so, vom Standpunkt des völligen Privatmanns aus, die sozialen und sittlichen Sparren. Der Einzige verschmäht es, sich weiter zu solch idealem Dienst abrichten zu lassen, zu einem Dienst am Nächsten, am Volk, an der Menschheit. [. . .] Das Ich ist sich selbst sein Über-Ich und auch sein utopischer Staat, es unterhält mit anderen seinesgleichen äußerstenfalls einen ‚Verkehr oder Verein‘, und zwar so lange, wie dieser dem Selbstgenuß nützt. [. . .] Das losgelassene Individuum kommt auch als sozialer Traum nicht weiter als die Gesellschaft von Privatunternehmern, gar Kleinrentnern, die es entbunden hat. Der Einzige und sein Eigentum – diese Aufschrift schmückt folgerichtig nicht nur das Wappen der Libertinage, sondern auch das Hausschild der Philisterei“ (Bloch (1959 II), S. 663 f. – H. i. O.). Den zweiten Aspekt sieht Bloch bei Proudhon in vereinseitigter Form zu voller Entfaltung kommen; hier tritt der „kleinbürgerlich[e]“ Charakter des Anarchismus deutlich hervor (Bloch (1959 II), S. 664, vgl. S. 665 ff.): „Das Ende der Proudhonschen Utopie wäre Allmacht der Provinz, also, da als Mehrheit gerade die Mittelklasse verewigt wird, Diktatur der Mittelmäßigkeit. Diese Diktatur der Mittelmäßigkeit droht übrigens überall dort, wo eine Demokratie sich auf breite Mittelschichten stützt und zwangsläufig deren GuteStube-Infektion, ein Gemisch aus Ressentiment und Kulturlosigkeit, in sich aufnimmt.“ (Bloch (1959 II), S. 667).

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den, kommunistischen Gesellschaft der Freien und Gleichen, und schließlich auch die gesetzmäßige Notwendigkeit dieses Ziels selbst in Frage gestellt. Und andererseits fehlt, um dieses Dritte zu erfassen, das eindeutige klassenanalytische Instrumentarium, wie in den oben genannten, klassensoziologisch derivativen Begriffsbildungen (Kleinbürger, Mittelklasse, Subproletariat) und den um diese im marxistischen Diskurs geführten Kontroversen (beispielsweise anläßlich der Faschismustheorie) ersichtlich ist. Was das ideologiekritisch-klassensoziologische Beobachtungsschema insgesamt nahelegt, ist, daß die Figur des Einzigen ein Bewußtseinsphänomen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsformation ist, dessen ideologischer – die soziale Realität verschleiernder – Charakter darin besteht, daß die um diese Figur gebildeten Weltanschauungen typischerweise, erstens, ihre eigene soziale Seinsbedingtheit nicht – aus historisch-materialistischer Sicht: zumindest nicht adäquat – reflektieren. Zweitens zeichnen demnach diese Weltanschauungen, indem sie die Maßgeblichkeit kollektiver gesellschaftlicher Strukturen – wie z. B. ‚Klassen‘ – für die Identität, soziale Existenz, Bewußtseinsformen und Handlungsspielräume von Individuen leugnen oder mindestens relativieren, ein ‚objektiv falsches‘ Bild von der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Sie produzieren und reproduzieren ein ideologisches Gesellschaftsbild, demzufolge das Individuum in seiner Identität nicht durch seine Klassenzugehörigkeit geprägt ist und das es diesem daher auch nicht ermöglicht, sein Interesse als Angehöriger einer sozialen Klasse klassenbewußt zu artikulieren. Aus Sicht der klassensoziologischen Ideologiekritik des Historischen Materialismus bzw. Marxismus erscheinen die unterschiedlichen individualistischen Ausprägungen des Einzigen also allein deswegen schon als Ideologie, weil sie das bewußtseinsbestimmende soziale Sein der Individuen nicht in deren Klassenzugehörigkeit erkennen und, wo sie die Existenz sozialer Klassenstrukturen nicht sowieso kurzerhand leugnen, entweder deren Relevanz bestreiten oder sich gegen diese, als kollektivistische Vereinnahmung in Form von ‚Klassenbewußtsein‘, auflehnen. Die skizzierten Aporien dieser Sichtweise, über den bloßen Aufweis von Ideologiehaftigkeit hinaus klassensoziologisch präzise den Standort des Einzigen entweder jenseits von Bourgeoisie und Proletariat oder auf einer der beiden Seiten dieser Unterscheidung zu bestimmen, werfen allerdings die Frage auf, ob nicht das am Basisantagonismus ‚Bourgeoisie vs. Proletariat‘ orientierte klassensoziologische Beobachtungsschema selbst bei der wissenssoziologischen Analyse der Semantik der modernen Gesellschaft an seine Grenzen stößt. Die Beobachtung des Einzigen, der nicht zuletzt deswegen den meisten Marxisten schon instinktiv immer als Feind anmuten mußte, weil er, obwohl ideologiekritisch leicht angreifbar, soziologisch so schwer greifbar war, ist hierfür symptomatisch.

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Stellt man aufgrund dieser Überlegungen in der Analyse des Stirner-rezeptionsgeschichtlichen Diskurses über den Einzigen auf die Beobachtungsperspektive einer operativ-konstruktivistischen, evolutionistischen Wissenssoziologie um, dann lassen sich sowohl in der Individualitätssemantik des Einzigen als auch in der klassensoziologischen Beschreibung der modernen Gesellschaft in der historisch-materialistischen Tradition semantische Reflexionsbemühungen um die exklusionsindividuelle Struktur der modernen, primär funktional differenzierten Gesellschaft erkennen. Dabei bringt die Semantik des Einzigen in ihrem radikalen Individualismus die sozialstrukturelle Exklusionsindividualität augenscheinlich markanter und adäquater zum Ausdruck als die Klassensoziologie. Diese reflektiert zwar einerseits, indem sie die moderne Gesellschaft als bürgerlich-kapitalistische Klassengesellschaft im Gegensatz zur feudalistischen Ständegesellschaft Alteuropas beschreibt, die Umstellung von inklusiver Identitätsbestimmung durch Geburt unter den Bedingungen hierarchischer Stratifikation auf die exklusionsindividuelle Struktur der primär funktional differenzierten Gesellschaft. Und zudem richtet sie dabei ein besonderes Augenmerk auf die Autonomie der kapitalistischen Ökonomie, auf deren Unabhängigkeit von anderen Funktionssystemen und auf deren systemischen Verfügungsanspruch über die aus traditionalen Bindungen gelösten Individuen. Andererseits erfaßt sie durch ihre Zuschreibung von Individuen zu ‚Klassen‘, also zu inklusiv deren Identität bestimmenden sozialen Groß-Entitäten, gerade den spezifisch exklusionsindividuellen Aspekt der modernen Gesellschaft nicht in der angemessenen Radikalität. Hinzu kommt, daß ihre Konzeption der ‚Klassenherrschaft‘ in der dieser theorieintern zugewiesenen zentralen Bedeutung eher der hierarchischen Stratifikation Alteuropas als dem funktionalen Differenzierungsprimat der modernen Gesellschaft entspricht. In dieser Ambivalenz erweist sich die historisch-materialistische Klassensoziologie als typische „transitorische[] Semantik“, die in ihrer Registratur und Reflexion sozialstruktureller Modernisierung zum Teil noch alteuropäischen Vorstellungen verhaftet bleibt.178 Zugleich ergänzte aber die ideologiekritische Begleitung und Kommentierung des Einzigen in der historisch-materialistischen Beobachtungstradition mit der von Marx und Engels vorgegebenen wissenssoziologischen Grundeinstellung, der zufolge Bewußtsein durch soziales Sein bestimmt ist, die Individualitätssemantik um einen Aspekt, der in den radikal individualistischen Interpretationen des Einzigen regelmäßig unsichtbar bleibt. Vor allen anderen leistete sie eine semantische Reflexion der sozialen Bedingtheit des Einzigen, nämlich des Individuums als „ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“.179 Damit schuf die historischmaterialistische Beobachtungstradition die semantische Voraussetzung da178 179

Luhmann (1997a), S. 983, 1055, vgl. S. 891, 1055 ff. Marx (1845), S. 6.

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für, den Einzigen in der Gesamtheit seiner rezeptionsgeschichtlichen Ausdeutungen – wie die Individualitätssemantik generell, inklusive ihrer extremsten antisozialen und solipsistischen Varianten – als Produkt soziokultureller Evolution und semantisches Korrelat moderner sozialstruktureller Exklusionsindividualität erkennbar werden zu lassen. Das Verhältnis zwischen der individualistischen Semantik des Einzigen und der diese als Ideologie kritisierenden klassensoziologischen Semantik ist allerdings in der konstruktivistisch-wissenssoziologischen Rekonstruktion ein anderes als aus Sicht der historisch-materialistischen Tradition. Gegenüber den ideologiekritischen Vorgaben des Historischen Materialismus kehrt sich in konstruktivistisch-wissenssoziologischer Perspektive das Verhältnis von individualistischer und klassensoziologischer Semantik im Hinblick auf ihre jeweilige Adäquität bei der Erfassung der sozialen Realität des modernen Individuums in gewisser Weise um: Was sich in der Semantik des Einzigen artikulierte und bis auf weiteres durchgesetzt hat, war das Individuum der modernen Gesellschaft in seiner Exklusionsindividualität, deren adäquate semantische Registratur und Reflexion trotz aller gegenläufigen Bestrebungen – von bürgerlicher wie marxistischer Seite – klassensoziologische Kategorien wie ‚Bourgeoisie‘ und ‚Proletariat‘ immer weniger zu leisten imstande waren. Im sozialphänomenologisch polymorphen Einzigen und seinen Derivaten hat sich eine Beschreibungsform dieser Exklusionsindividualität gegen die transitorische Semantik von Bourgeoisie und Proletariat (und vergleichbaren Formen sozialer Kollektividentitäten) durchgesetzt. Sein semantischer Siegeszug markiert sowohl den Untergang der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts und ihres moralischen Universums als auch die im 20. Jahrhundert einsetzende Erosion des proletarischen Milieus und der an dessen Organisationsformen und Klassenbewußtsein gebundenen revolutionären Naherwartung.180 In dieser Hinsicht hatten diejenigen Interpreten, die den Einzigen als ‚antibürgerlich‘ fürchteten oder bewunderten, mit ihrer Einschätzung ebenso recht wie diejenigen, die ihn nicht neben sich an der Seite des Proletariats dulden wollten. Aus evolutionstheoretischer Perspektive läßt sich nur rückblickend zeigen, wie es zu dieser individualitätssemantischen Entwicklung vom ‚Bürger/Proletarier‘ zum ‚Einzigen‘ kommen konnte. Aus dieser Perspektive läßt sich aber nicht behaupten, daß es zwangsläufig so kommen mußte, und auch nicht, daß das Ergebnis dieser Entwicklung endgültig ist. Gerade die Einsicht in die soziokulturell-evolutive Bedingtheit und Unwahrscheinlich180 Auch wenn dieser Zusammenhang keiner einfachen Kausallogik folgt, sondern als symptomatischer Ausdruck eines komplexen Zusammenwirkens soziokulturellevolutiver Trends, sozialhistorischer Entwicklungen und politischer Ereignisse aufzufassen ist.

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keit, in das Gewordensein und die Nichtselbstverständlichkeit der gegenwärtig als selbstverständlich geltenden semantischen Situation sensibilisiert hierfür. Allerdings spricht, gesellschaftstheoretisch betrachtet, vieles dafür, die exemplarisch am Einzigen beobachtbare Durchsetzung der modernen Individualitätssemantik und die darin erfolgte Ablösung jener transitorischsemantischen Formen als eine sozialstrukturell begünstigte Tendenz in der soziokulturellen Evolution der modernen Gesellschaft aufzufassen. Damit bleibt aber noch vieles offen. Daß die Semantik des Einzigen jenseits von Proletariat und Bourgeoisie einen effektiv viel größeren Kontingenzspielraum für den Kampf um die Auslegung moderner Individualität bereitete – und letztlich auch für die Koexistenz unvereinbarer Individualidentitätsangebote –, ist im Durchgang durch seine rezeptionsgeschichtlichen Ausdeutungen deutlich geworden. Dieser Kontingenzspielraum konnte kommunikativ genutzt werden, um dem durch die moderne Exklusionsindividualität gesellschaftlich freigesetzten, soziologisch amorphen, psychologisch irreduzibel individuellen und sozial polymorphen Individuum typisierend Gestalt zu verleihen. Durch diese Komplexitätsreduktion wird es semantisch handhabbar. In Figuren wie dem Einzigen erzeugt die moderne Gesellschaft Individualidentitätsangebote, die zum Aufbau von kommunikativen Erwartungsstrukturen dienen und dadurch im sozialen Umgang mit Individuen Orientierung bieten – eine Orientierung, die in der hierarchisch-stratifizierten Gesellschaft Alteuropas noch durch die gesamtgesellschaftliche Differenzierungsform selbst und die durch diese bestimmte, inklusive Sozialidentitätszuweisung gewährleistet wurde. Dieser Orientierungsfunktion entsprechend sind Individualidentitätsangebote auch Medium und Gegenstand symbolischer Kämpfe um die Auslegung und normative Infrastruktur der sozialen Realität, in denen effektiv auch um die gesellschaftliche Verteilung individueller Zugangschancen zu Macht, Wohlstand, Bildung, Wertschätzung, Selbstverwirklichung und anderen Ressourcen gestritten wird. Wenn daher im dargestellten Sinne der Einzige die Semantik von ‚Bourgeois vs. Proletarier‘ als dominantes Muster zur Deutung des modernen Individuums abgelöst hat, so bleibt damit immer noch offen, welche im Einzigen rezeptionsgeschichtlich artikulierten Individualidentitätsangebote gegenwärtig in der modernen Gesellschaft dominieren, in welchen Regionen der Gesellschaft dies der Fall ist – und ob und wie lange es dabei bleibt. Dies sind letztlich empirische Fragen, die, ebenso wie – angesichts der angesprochenen normativen und effektiv politischen Bedeutung von Individualidentitätsangeboten naheliegende – sozialphilosophische Fragestellungen in der vorliegenden Arbeit nicht beantwortet werden können. Wenn es hiermit aber gelungen ist, eine theoretische Anfangsplausibilität und Anschlußmöglichkeiten für weitere Untersuchungen auf diesen Forschungsfeldern geschaffen zu haben, so ist dies erfreulich. Den

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über einen Beitrag zur Historischen Semantik moderner Individualität hinausgehenden Erkenntnisanspruch der vorliegenden Studie sollen abschließend die folgenden Überlegungen zur sozialtheoretischen Bedeutung und zeitdiagnostischen Reichweite ihrer Ergebnisse verdeutlichen. a) Semantische Selbstverständlichkeit und massenmediale Ubiquität Die semantische Selbstverständlichkeit des Einzigen kommt sozialphänomenologisch darin zum Ausdruck, daß der Einzige in gewisser Weise allgegenwärtig scheint. Texte wie die im vorletzten Abschnitt behandelten Mittelmaß und Wahn oder „Tanz ums goldene Selbst“ illustrieren und reflektieren eine solche Ubiquität des Einzigen, indem sie sich auf die Evidenzen empirischer Individuen, deren Einstellungen, Handlungen und Lebensentwürfe beziehen. Damit plausibilisieren sie zugleich den auch in ihrer Beobachtung gewonnenen wissenssoziologischen Befund. Wenn allerdings wissenssoziologisch von der heutigen Ubiquität des Einzigen in der modernen Gesellschaft die Rede ist, dann ist damit zugleich mehr und weniger gemeint als in den genannten und anderen vergleichbaren publizistischen Zeitdiagnosen: mehr insoweit, als diese in der Regel nur einen schmalen Ausschnitt aus dem Spektrum dessen bieten, was wissenssoziologisch vor dem Hintergrund der Stirner-rezeptionsgeschichtlichen Entfaltung von Individualidentitätsangeboten als Gestaltung – oder ‚Gesicht‘ – des Einzigen erkennbar ist;181 weniger insoweit, als sich der wissenssoziologische Befund von der Ubiquität des Einzigen nicht unmittelbar auf das tatsächliche Vorkommen empirischer Individuen beziehen kann, sondern sich darauf beschränkt, eine Aussage über semantische Individualidentitätsangebote und die damit verbundenen sozialphänomenologischen Evidenzen zu treffen, also über Individuen als kommunikative Konstrukte, nicht als psychische Systeme.182 Der Befund 181 Dies läßt sich am Artikel „Tanz ums goldene Selbst“ verdeutlichen, der sich stark auf den Typus eines erfolgs- und leistungsorientierten, selbstbewußt-egoistischen und hedonistischen Selbstverwirklichers konzentriert, dem andere Stirner-rezeptionsgeschichtlich bekannte Aspekte des Einzigen fehlen, etwa die kreativ-kulturkritischen und politisch fundamentaloppositionellen Züge, die ein Jahrzehnt zuvor in Enzensbergers Mittelmaß und Wahn eine Rolle spielten, aber auch etwa die offene Aggressivität des Terroristen und nonkonformistischen Provokateurs usw. Dies zu beobachten, hat allerdings seinerseits zeitdiagnostischen Wert, als Symptom für die je gegenwärtige Dominanz einer bestimmten Variante (oder Gruppe) von Individualidentitätsangeboten. 182 Damit soll nicht gesagt sein, daß es keine Individuen als psychische Systeme oder keinen Zusammenhang zwischen diesen und den sozialen Individualitätskonstrukten bzw. Individualidentitätsangeboten gibt. Auf letzteren wird im folgenden Unterabschnitt kurz einzugehen sein, aber daraus wird auch ersichtlich werden, daß

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von der Ubiquität des Einzigen, an der sich dessen Selbstverständlichgewordensein ablesen läßt, ist also wissenssoziologisch zu spezifizieren. Einerseits meint er den Einzigen in seiner Vielgestaltigkeit, also die heterogene Gesamtheit seiner rezeptionsgeschichtlich entfalteten Interpretationen und die darin exemplarisch artikulierten Individualidentitätsangebote. Andererseits beschränkt er sich darin diagnostisch auf die Ebene der Semantik und der diese artikulierenden gesellschaftlichen Realitätskonstruktion. Einerseits erscheint der Einzige also nach wie vor mal in dieser, mal in jener Gestalt. Es ist gewissermaßen ‚Alles voll mit Einzigen‘:183 im Sinne einer Vielzahl von Individualidentitätsangeboten, die im Kontext der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts geführten Auseinandersetzungen um das moderne Individuum und seine Individualität exemplarisch in den interpretatorischen Bemühungen um den Stirnerschen Einzigen artikuliert wurden – und mittlerweile aufgrund ihres Selbstverständlichgewordenseins regelmäßig ohne jede Referenz auf Stirner oder andere philosophisch-weltanschauliche Stichwortgeber auskommen. Die historisch mit dem Stirnerschen Einzigen verbundenen Individualidentitätsangebote stehen in ihrer Pluralität mittlerweile für sich, sie sind etabliert und prägen das Bild des modernen Individuums. Anderseits ist deshalb, entsprechend der wissenssoziologischen Perspektive, die Ubiquität des Einzigen in der Individualitätssemantik und der diese artikulierenden kommunikativen Thematisierung von Individuen und Individualität zu beobachten – und nicht unmittelbar auf der Straße, in der U-Bahn oder beim Bäcker.184 An den drei Komponenten des Begriffs ‚Individualidentitätsangebot‘, der zur Bezeichnung der im vorliegenden Kontext untersuchten sozialphänomenologischen Typisierungen und theoretischen Interpretationen von Individualität gebildet wurde,185 läßt sich verdeutlichen, welcher Aspekt der modernen Gesellschaft hierbei in den sich aus den Beobachtungen der vorliegenden wissenssoziologischen Studie nur mittelbar auf Entwicklungstendenzen der psychischen Systeme empirischer Individuen schließen läßt. 183 Vgl. Blumenberg (1979), S. 32, 144, 184; Blumenberg (1986), S. 54 f. 184 Allerdings durchaus in der Art, wie ‚Alltag‘ und ‚normale Menschen‘ massenmedial – in letzter Zeit verstärkt in darauf speziell zugeschnittenen Reportage- und Dokumentationsformaten – präsentiert bzw. konstruiert werden. 185 Idealtypisch enthält ein Individualidentitätsangebot einen sozialphänomenologischen Evidenzbereich – etwa den Typus des anarchistischen Attentäters oder den Typus des Bohemiens – und einen es spezifizierenden interpretatorischen Kontext, wodurch die gleichen Evidenzen oder sozialphänomenologischen Typen in unterschiedlichen Individualidentitätsangeboten vorkommen können; beispielsweise als Auswüchse eines individualistischen Zeitgeistes, als klinisch-psychopathologische Fälle, als Verfallserscheinungen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, als Aktivisten oder Propagandisten unterschiedlicher Formen eines normativen Individualismus usw.

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Blick kommt. Es geht um semantische Angebote, die in konkreten Kommunikationssituationen nach Bedarf benutzt werden können (aber nicht müssen), um Individuen (nicht Kollektive) bezüglich ihrer Identität (nicht kontextspezifischen Rollen) zu thematisieren. Der Befund, daß ‚der Einzige überall‘ und ‚alles voll mit Einzigen‘ ist, bezieht sich also auf Konstrukte, derer sich die moderne Gesellschaft zur kommunikativen Bezeichnung und Interpretation von psychischen Systemen bzw. empirischen Individuen bedient, nicht auf diese selbst. In der Verwendung dieser kommunikativen Konstrukte werden zugleich individualitätssemantische Formen aktualisiert, die sich evolutionär zur Deutung, Ausgestaltung, Registratur und Reflexion der sozialstrukturellen Exklusionsindividualität bewährt haben. In diesem Sinne hat sich der Einzige innerhalb der Individualitätssemantik der modernen Gesellschaft etabliert. Er ist eine plausible semantische Struktur, auf die im kommunikativen Umgang mit Individuen zur gesellschaftlichen Erwartungsorientierung ohne Angabe von Gründen zurückgegriffen werden kann, deren Infragestellung dagegen zwar möglich ist, aber nicht ohne Angabe von Gründen auskommt.186 Wer das selbstverständliche Sosein des Individuums in Frage stellt, trägt die Beweislast. Dabei sorgt gerade die Pluralität und Heterogenität des Gesamtspektrums von plausiblen Individualidentitätsangeboten für die Stabilität dieser semantischen Struktur, indem sie Dynamik zuläßt. Sie bietet einen Kontingenzspielraum für die fortdauernde gesellschaftliche Auseinandersetzung um die Variation und Dominanz verschiedener Individualidentitätsangebote. Dadurch präsentiert der Einzige sich immer wieder mit verschiedenen Gesichtern. Beobachten läßt sich die sozialphänomenologische Ubiquität des Einzigen in der skizzierten Pluralität und Dynamik insbesondere in der massenmedialen Realitätskonstruktion187 der modernen Gesellschaft. Aufgrund seiner spezifischen Selektivität liefert das System der Massenmedien nicht nur sozialphänomenologische Evidenzen für Individualidentitätsangebote, sondern wirkt direkt an deren Erzeugung und Reproduktion mit. Seine Programmbereiche „Nachrichten und Berichte“, „Werbung“ und „Unterhaltung“ tragen in unterschiedlicher Weise dazu bei.188 Das Unterhaltungssegment ist mit seinen individuenzentrierten Beobachtungs- und Identifikationsangeboten in programmatischer Weise auf die Bereitstellung individueller Selbstverortungsmöglichkeiten der Rezipienten spezialisiert.189 Der Nachrichtenbereich orientiert sich mit einer starken Personalisierungsten186 187 188 189

Vgl. Luhmann (1997a), S. 546 ff.; Blumenberg (1979), S. 184 f. Vgl. Luhmann (1996b), bes. S. 138 ff., 183 ff.; Luhmann (1997a), S. 1096 ff. Luhmann (1996b), S. 51. Vgl. Luhmann (1996b), S. 89 ff., 114 ff., 201 ff.

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denz an Devianz und Normverstößen.190 Und die ‚latente Funktion‘ von Werbung ist es, Lebensstil- und Selbstdarstellungsempfehlungen zu generieren.191 Hierdurch ist das System der Massenmedien insgesamt zur permanenten sozialphänomenologischen Präsentation von Individualidentitätsangeboten prädisponiert. Dementsprechend sind unter den tagtäglich in Funk, Fernsehen und Printmedien präsentierten Personen auch Einzige en masse: in Gestalt von fiktionalen Figuren, tatsächlichen Individuen oder auch von ‚Prominenten‘, also Personen, die sich vor allem dadurch auszeichnen, daß sie massenmedial als bekannt behandelt werden können, weil man ihre massenmediale Bekanntheit als bekannt voraussetzen kann.192 Die aus den Einzigkeits-Deutungen der Stirner-Rezeptionsgeschichte bekannten Haltungen und Handlungsweisen lassen sich heute, in verschiedenen Abstufungen, Akzentuierungen und Kombinationen, in der massenmedialen Realitätskonstruktion beobachten: Hier finden sich beispielsweise Individuen, die sich als Projekteure ihrer selbst begreifen; die keine höhere Verbindlichkeit als ihren je eigenen Willen akzeptieren; die ihre jeweiligen Selbst- und Lebensentwürfe in bewußter Abgrenzung zur Masse der anderen verstehen und keine Veranlassung sehen, sich dafür vor anderen rechtfertigen zu sollen; die für ihre Grandiosität und ihren Erfolg bewundert werden; die ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Konventionen oder die Interessen anderer ihre selbstgesetzten Ziele verfolgen; die Aufmerksamkeit für ihre Individualität beanspruchen und mitunter in symbolischen und physischen Aggressionen erzwingen; die sich selbst zu verwirklichen suchen; die sich die Sache der anderen zueigen machen und dafür selbstbewußt Verantwortung übernehmen; die sich selbst und andere selbstbewußt als Egoisten verstehen und jegliche Berufung auf höhere Werte oder Zwecke gewohnheitsmäßig unter Motivverdacht stellen; die keine Normen zu akzeptieren vorgeben – usw. Der Einzige ist gleichsam im Zeitalter seiner massenmedialen Reproduzierbarkeit angekommen; schon deshalb bedarf er seines literarischen Schöpfers Stirner nicht mehr. 190

Vgl. Luhmann (1996b), S. 61 ff., 66 ff. Vgl. Luhmann (1996b), S. 89 ff. 192 Bei reiner Prominenz, die sich nicht aus beispielsweise einem politischen Amt oder einer anderen öffentlich relevanten Tätigkeit speist und im Sinne einer mehr oder weniger erfolgreichen Selbstvermarktung gewissermaßen ‚hauptberuflich‘ betrieben wird – „der Begriff der ‚Ich-AG‘ ist da symptomatisch“ (Neckel (2004), S. 9) –, spielt, formtheoretisch gesprochen, der Re-entry der Unterscheidung ‚privat vs. öffentlich‘ auf der Seite der ‚Öffentlichkeit‘, also die öffentliche Inszenierung des ‚Privatlebens‘ eine zentrale Rolle; und dessen – Knappheit erzeugende – Vermarktung in Form beispielsweise von Exklusivrechten für die Berichterstattung von Eheschließungen und Kindsgeburten, aber auch die Raubfotografien von Affären, Drogeneskapaden, Gewichtsproblemen, tödlichen Unfällen usw. Die Figur des bzw. der Prominenten als der ‚öffentlichen Privatperson‘ ist ein später Nachklang der Forderung, das Private als politisch, also als von öffentlichem Belang zu verstehen. 191

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b) Individualidentitätsangebote und psychische Systeme Das Verhältnis zwischen wissenssoziologisch beobachtbaren Individualidentitätsangeboten und psychologisch beobachtbaren empirischen Individuen folgt in systemtheoretischer Perspektive aus dem Verhältnis zwischen der Gesellschaft als dem umfassenden Kommunikationssystem und den psychischen Systemen. Obwohl soziale bzw. Kommunikationssysteme und psychische bzw. Bewußtseinssysteme operativ füreinander nicht erreichbar und autonom sind, sind beide Systemtypen für den Vollzug ihrer Autopoiesis darauf angewiesen, daß der jeweils andere Systemtyp in ihrer Umwelt vorkommt. Kommunikation kommt nur in Gegenwart von Bewußtsein zustande, und psychische Systeme können nicht ohne soziale Systeme bestehen. Mit dieser prinzipiellen gegenseitigen Abhängigkeit stehen beide Systemtypen zueinander in einem Verhältnis der Interpenetration: Psychische Systeme orientieren ihre internen Strukturen an sozialen Systemen, soziale Systeme orientieren ihre internen Strukturen an psychischen Systemen, so daß beide Systemtypen co-evoluieren. Als sinnverarbeitende Systeme sind beide im Medium der Sprache miteinander strukturell gekoppelt. Ihre jeweilige operative Geschlossenheit und der dadurch mögliche Aufbau von Eigenkomplexität bleibt hiervon zwar unberührt; soziale Systeme können in die in ihrer nichtsozialen Umwelt befindlichen psychischen Systeme nicht ‚hineinkommunizieren‘, und diese können in jene nicht ‚hineindenken‘. Aber beide Systemtypen können sich gegenseitig in ihren je eigenen Operationen – Kommunikation bzw. Bewußtsein – und nach Maßgabe ihrer je systemeigenen Unterscheidung von Selbst- und Fremdreferenz – von System und Umwelt aus Sicht des Systems – beobachten und bilden diesbezüglich aufgrund ihrer gegenseitigen Abhängigkeit und Wechselbeziehungen eine besondere Irritabilität füreinander aus.193 Individualidentitätsangebote sind in dieser theoretischen Perspektive erkennbar als semantische Formen und soziale Konstrukte, die in der Gesellschaft angefertigt werden, um kommunikativ auf empirische Individuen und deren psychische Systeme in der Umwelt der Gesellschaft rekurrieren zu können. Ähnlich wie die allgemeine semantische Form ‚Person‘ oder spezifische kommunikative Adressen markieren Individualitätskonstrukte so gleichsam die Schnittstellen zwischen psychischen Systemen und der Gesellschaft, die diese Strukturen im Vollzug ihrer kommunikativen Eigenoperationen und in der fremdreferentiellen Beobachtung von empirischen Individuen anfertigt und nutzt. Die zu den entscheidenden Voraussetzungen von 193 Vgl. hierzu Luhmann (1994b), S. 29 ff., 163 ff., 565 ff.; Luhmann (1996a), S. 286 ff., 367 ff.; Luhmann (1997a), S. 92 ff.; sowie Luhmann (1985); (1987a); (1988); (1989a); (1991b); (1992b); (1997b). Vgl. auch Baraldi/Corsi/Esposito (1997), S. 85 ff., 186 ff.; Schroer (2001), S. 225 ff.; Fuchs (1997a).

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Kommunikation gehörende Existenz von psychischen Systemen in der Umwelt des Gesellschaftssystems wird dadurch auf dessen Innenseite angezeigt. In der Gesellschaft dienen diese Konstrukte, die hier wissenssoziologisch im Aggregatzustand von Individualidentitätsangeboten und Individualitätssemantik untersucht wurden, zum einen als potentielle Zurechnungspunkte von Kommunikation, also als Adresse. Zum anderen informiert sich die Gesellschaft mit ihrer Hilfe über einen für sie relevanten Umweltbereich, nämlich die psychischen Systeme empirischer Individuen. Die psychischen Systeme wiederum können die gesellschaftliche Individualitätssemantik und die in ihr gebildeten Individualidentitätsangebote nutzen, um sich über ihre Identität als Individuen zu informieren und sich bezüglich der gesellschaftlich an sie als Individuen gerichteten Erwartungen zu orientieren. Mit den Individualidentitätsangeboten stellt die Gesellschaft also Strukturen bereit, die es ihr erlauben, die psychischen Systeme in ihrer Umwelt zu thematisieren, und die es den psychischen Systemen ermöglichen, sich in ihren Selbstbeobachtungen an den Erwartungen ihrer sozialen Umwelt auszurichten. Psychische Systeme erfahren in der Beobachtung von Individualidentitätsangeboten, was es heißen kann, ein Individuum zu sein, und sie nutzen diese semantischen Angebote sowohl in positivem wie negativem Anschluß, um ihre eigene Identität zu bestimmen. Die Gesellschaft verwendet Individualidentitätsangebote zur Beobachtung von empirischen Individuen, wobei die darin gewonnenen Erfahrungen wiederum in die Individualidentitätsangebote eingehen, so daß die Gesellschaft sich stetig darin vergewissern kann, was sie von Individuen zu erwarten hat. Wenn sich also in der skizzierten Weise in Individualidentitätsangeboten Erfahrungen und Erwartungen verdichten, an denen sich kommunikative wie psychische Beobachtungen von Individualität orientieren, dann läßt deren wissenssoziologische Beobachtung indirekt auch Rückschlüsse auf Entwicklungstendenzen der empirischen Individuen zu. Die wissenssoziologische Beobachtung von Individualitätssemantik kann hierdurch einen zeitdiagnostischen Zugang öffnen, der den Blick für die psychische Umwelt der Gesellschaft freigibt und damit Anschlußstellen für weitergehende Betrachtungen schafft. Die gesellschaftliche Dominanz bestimmter Individualidentitätsangebote kann dementsprechend in einem ‚registrativ-interpretativen‘ (a), einem ‚reaktiv-reflektorischen‘ (b), einem ‚selektiv-standardisierenden‘ (c) oder einem ‚präskriptiv-produktiven‘ (d) Verhältnis zu Entwicklungstendenzen der charakterlichen und psychischen Dispositionen empirischer Individuen stehen: (a) ‚Registrativ-interpretativ‘ bezeichnet die Annahme, daß durch die in der semantischen Eigenevolution hervorgebrachten Individualidentitätsangebote empirische Individualitätstypen erstmals oder in neuer Weise erfaßt

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werden, die zuvor in gleicher (oder ähnlicher) Quantität vorlagen, aber entweder nicht gesondert zur Kenntnis genommen oder anders gedeutet wurden. (b) ‚Reaktiv-reflektorisch‘ bezeichnet die Annahme, daß die Artikulation neuer semantischer Individualidentitätsangebote eine Zunahme von bestimmten empirischen Individualitäten widerspiegelt, auf deren gesellschaftlichen Deutungs- und Reflexionsbedarf die semantische Entwicklung reagiert. (c) ‚Selektiv-standardisierend‘ bezeichnet die Annahme, daß durch die auch normative Dominanz bestimmter Individualidentitätsangebote im gesellschaftlichen Verständnis von Individualität die diesen entsprechenden Individualitäten beim Zugang zu gesellschaftlichen Macht-, Einfluß- und Prestige-Positionen systematisch begünstigt werden und somit über Selektionsvorteile in der psychisch- und sozial-systemischen Co-Evolution verfügen. (d) ‚Präskriptiv-produktiv‘ bezeichnet die Annahme, daß bestimmte, als normativ vorbildlich oder sozial erfolgversprechend geltende Individualidentitätsangebote als ethische und pädagogische Ideale bewußt oder unbewußt in Sozialisationsprozesse, Selbstentwürfe und individuelle Zielbestimmungen eingehen und dadurch die konkrete Gestaltung, den Habitus, die Dispositionen, Verhaltensmuster und Wertorientierungen von empirischen Individuen prägen. In den Fällen (a) und (b) kommt der wissenssoziologischen Beobachtung von Individualidentitätsangeboten im Hinblick auf empirische Individuen eine diagnostische Bedeutung zu. Man erkennt in ihr nicht nur Aspekte der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung und Individualitätskonstruktion, sondern kann auch Vermutungen über vorherrschende oder auf dem Vormarsch befindliche psychische Typen in der Umwelt der Gesellschaft formulieren, die als Heuristik beispielsweise für empirisch-quantitative, sozialpsychologische und sozialphilosophische Untersuchungen dienlich sind. Weil die Fälle (c) und (d) der Semantik der Individualidentitätsangebote eine aktivere Rolle in der Gestaltung empirischer Individualität zubilligen, ließe sich aus ihnen darüber hinaus normativ die Notwendigkeit kritischer Intervention in die Diskurse ableiten, in denen Individualität sozial konstruiert wird. In einer solchen Perspektive wird der normative Sinn des Kampfes um den Erhalt bewahrenswerter, nur scheinbar selbstverständlicher semantischer Errungenschaften und um die Durchsetzung bestimmter Individualidentitätsangebote ebenso wie gegen die Beharrlichkeit gewisser anderer ersichtlich. Der Kampf um die öffentliche Auslegung des Seins – inklusive des Seinsollens – von Individualität ist der Kampf um die Gestaltung der Moderne auch im Hinblick auf die Dominanz bestimmter psychischer Typen.

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Die empirisch im Gang durch die Stirner-Rezeptionsgeschichte informierte, wissenssoziologisch fundamentierte modernitätstheoretische Reflexion verdeutlicht, in welchem semantischen Rahmen solche Kämpfe stattfinden. Was dabei auf dem Spiel steht, läßt sich mit Blick auf die antisozialen Tendenzen in der Disposition des modernen Individuums in Erinnerung rufen. Die Antisozialität wurde anhand der Struktur und sozialen Phänomenologie des All-Einzigen als Moment eines Eskapismus erkennbar, in dem das moderne Individuum dazu neigt, für die im Verlust seiner vormaligen kosmischen, biologischen, psychischen und sozialen Zentralposition erlittene narzißtische Kränkung Entschädigung zu suchen. Wissenssoziologisch betrachtet, läßt der Kontingenzspielraum zur semantischen Registratur sozialstruktureller Exklusionsindividualität Stirner-interpretationsschematisch all-einzige Individualidentitätsangebote ebenso zu wie jeeinzige. Und in modernitätsdiagnostisch-kränkungstheoretischer Perspektive sind damit eskapistische Individualidentitätsangebote ebenso kompatibel wie realistische. Konkrete historische Konjunkturen und Prädominanzen innerhalb des breiten Spektrums an Individualidentitätsangeboten sind in komplexer und kontingenter Weise in semantische Verwerfungen, diskursive Verschiebungen und symbolische Kämpfe eingebettet, sie unterliegen aber keinem linearen Trend. Insofern kann nicht von einer soziokulturellevolutionär höheren Dignität der sozial reflektierteren Varianten der Je-Einzigkeit gegenüber den antisozialen – und kränkungstheoretisch: regressiven – Formen der All-Einzigkeit ausgegangen werden. Insbesondere kann auch nicht mit einem evolutionären Überwindungsautomatismus gerechnet werden, der zu einem Plausibilitätsverlust der strukturell antisozialen All-Einzigkeit führen würde. An ihrer sozialen Phänomenologie läßt sich ablesen, daß All-Einzigkeit grundsätzlich sowohl in ihren offen kriminellen, terroristischen und psychopathischen als auch in ihren sozial unauffälligeren Varianten in der modernen Gesellschaft vorkommt – und möglicherweise sogar begünstigt wird.194 Die Analyse des Zusammenhanges von All-Einzigkeit, Narzißmus und Charisma macht die Beharrlichkeit all-einziger Individualidentitätsangebote in der Moderne verständlich. Die regressiven und eskapistischen Bedürfnisse, die die Moderne strukturell bedingt, begründen, sozialpsychologisch betrachtet, eine spezifische Attraktivität all-einziger Individualidentitätsangebote gegenüber dem Realismus der Je-Einzigkeit, der, indem er zur Anerkennung der Dezentrierung bzw. Kränkung nötigt, zwar zugleich Kompensationen anbietet, aber dauerhaft durch den kränkungsabweisenden, regres194 Jedenfalls – darin zeigt sich die prinzipielle Kompatibilität – geht die Gesellschaft nicht an ein paar hunderttausend antisozialen Psychopathen und Terroristen und auch nicht an einigen Millionen von weniger auffälligen All-Einzigen zugrunde – die Gesellschaft nicht, allerdings etliche Individuen.

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siven Appeal der konkurrierenden All-Einzigkeit herausgefordert wird. Allerdings bleibt sozial erfolgreiche All-Einzigkeit mit individuell hohen Kosten (im Mißerfolgsfall mit noch höheren) verbunden und ist prinzipiell labil und riskant. Denn das Realitätsdeutungsniveau der modernen Gesellschaft entspricht, alles in allem, dem Realismus der Je-Einzigkeit, so daß auch eine temporär erfolgreiche soziale Stabilisierung von All-Einzigkeit in der Sektenform, die sich prinzipiell ebenso problemlos wie beispielsweise weltanschauliche und religiöse Fundamentalismen oder nach vormodernen Mustern gebildete soziale Systeme in der polykontexturalen Struktur der modernen Gesellschaft parasitär einnisten kann, immer mit einem partiellen Realitätsverlust und sozialer Isolation verbunden ist. Diesem Schicksal entgeht hingegen der – deswegen: – sozial kompatible Eskapismus der Kunst und Literatur, des Spiels und anderer virtueller Welten. Diese bilden die Fluchtpunkte – oder Fluchträume – einer Synthese der beiden aus der modernen Kränkungs- und Ent-Täuschungs-Konstellation konfligierend erwachsenden Ansprüche auf Eskapismus und Realismus.195

195 Auf der Ebene der Interpretationsschematik stößt man dabei auf eine Form, auf die im Verlaufe der vorliegenden Studie bereits an einigen Stellen hingewiesen wurde: als Hypothetische All-Einzigkeit oder Inwendige Je-Einzigkeit kann eine gleichsam im Modus des Als-Ob eingeklammerte All-Einzigkeit bezeichnet werden, deren sozial kompatibler Eskapismus mit dem Realismus der Je-Einzigkeit nicht nur vereinbar ist, sondern die in diesem reflektierten Verhältnisse voraussetzt und implizit artikuliert: Zu denken ist beispielsweise an Superhelden und -schurken und andere ‚übermenschliche‘ Charaktere in der literarischen oder cineastischen Fiktion, in denen unter soziokulturell voraussetzungsreichen Bedingungen – zu denen etwa die Ausdifferenzierung von Funktionssystemen wie der Kunst oder der Massenmedien oder technologische Errungenschaften wie die Computertechnik gehören – narzißtische Identifikationsangebote unterbreitet werden, die auf der Seite des Kommunikationssystems Gesellschaft als ‚nicht real‘ markiert sind und insofern gewissermaßen sozial eingehegt bleiben, denen aber gleichwohl auf der Seite der psychischen Systeme ein Affektwert zukommt, der zu zeitlich begrenzten eskapistischen Entlastungsleistungen führt. Entsprechendes gilt für die passive wie aktive Teilnahme an Spielen. Zu den Voraussetzungen der sozialen Verträglichkeit dieser eskapistischen Entlastungsleistung zählt in besonderer Weise die Unterscheidung zwischen Spiel und Ernst bzw. Fiktion und Realität, als kommunikative Markierung auf der Seite des sozialen Systems und als Bewußtseins-Kompetenz auf der Seite des psychischen Systems. – Auch hier ist zwar ein antisoziales bzw. destruktives Umschlagen auf der Seite der psychischen Systeme möglich, etwa im Falle von Spielsucht oder beim Verlust jener Bewußtseins-Kompetenz; dies ist dann allerdings ein individualpsychopathologisches Problem und kann – in der Regel – nicht dem kommunikativen Konstrukt angelastet werden.

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c) Rück- und Aussichten In der wissenssoziologisch perspektivierten Untersuchung der Stirner-Rezeptionsgeschichte unter dem Aspekt einer exemplarischen individualitätssemantischen Reflexion moderner Exklusionsindividualität verbanden sich drei Erkenntnisansprüche. Zwei davon sind mit dem Durchgang durch das rezeptionsgeschichtliche Material und dessen Analyse und Interpretation im Lichte des Themas dieser Untersuchung, des Einzigen in seiner Vielgesichtigkeit und der Anatomie moderner Individualität, eingelöst. Es sollte, erstens, ein ideen- und ideologiegeschichtlicher Beitrag zur Rezeptionsgeschichte des Klassikers Stirner und zu den von dieser berührten oder sie einbettenden Diskursen über Individualismus, Anarchismus und verwandte Themenfelder geliefert werden, in dem insbesondere die interpretatorische Vielfalt, Heterogenität und Umstrittenheit des Einzigen deutlich wird. Das Ergebnis findet sich, gegliedert nach den analytisch eingeführten Interpretationsschemata ‚All-Einzigkeit vs. Je-Einzigkeit‘, nach Themenfeldern und historischen Kontexten, in den Kapiteln III. bis VIII. der vorliegenden Arbeit. Zugleich sollten damit, zweitens, exemplarische Aspekte der Konstruktionsgeschichte moderner Individualität, der semantischen Struktur, sozialen Phänomenologie und des Gewordenseins des modernen Individuums sichtbar gemacht werden. Die Figur des Einzigen wurde gleichsam als Sonde benutzt, die in die historische Semantik eingeführt wurde, um dadurch einen thematischen Querschnitt durch unterschiedliche Schichten der Individualitätssemantik zu liefern. Dadurch wurde die darin sich jeweils kristallisierende Gestalt des modernen Individuums einerseits in einem möglichst breiten Spektrum ihrer Aspekte in verschiedenen diskursiven Zusammenhängen erkennbar, andererseits wurden gerade aufgrund der Verschiedenheit sowohl der diskursiven und thematischen Kontexte als auch der darin dem Einzigen zugewiesenen Sozialphänomenologie die strukturellen Gemeinsamkeiten dieser Gestalten ersichtlich. Daß sich hierin in exemplarischer Weise etwas über die Anatomie des modernen Individuums – trotz und in dessen sozialem Polymorphismus – erfahren läßt, war der leitende Gedanke dieser Arbeit. Denn wenn in der modernen Gesellschaft das Individuum in seiner Identität qua Exklusionsindividualität auf der Ebene der Sozialstruktur unterdeterminiert – und in diesem Sinne soziologisch amorph – ist, dann ist, wissenssoziologisch betrachtet, einerseits mit einer besonderen Dynamik auf der Ebene der Semantik zu rechnen, auf der die Bemühungen zu beobachten sind, das Problem registrativ und reflexiv in den Griff zu bekommen. Die darauf bezogene gesellschaftliche Problemlösung wurde hier mit dem Begriff der semantischen

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Individualidentitätsangebote bezeichnet. Andererseits kann dann das soziologische Problem, wie das moderne Individuum angesichts seines soziologischen Amorphismus und sozialen Polymorphismus angemessen erfaßt werden kann, durch die wissenssoziologische Beobachtung der Individualitätssemantik und spezifisch der Individualidentitätsangebote gelöst werden, in denen die moderne Gesellschaft sich ihr Individuum konstruiert und sich über es informiert. Eine solche Untersuchung von Individualitätssemantik kann an verschiedenen Gegenständen erfolgen, beispielsweise an bestimmten Autorengruppen, spezifischen Diskursen oder ideologischen Formationen, mit je unterschiedlichen Konsequenzen für die Tiefenschärfe und Breite des hierbei zutage geförderten Spektrums an Individualidentitätsangeboten. Die Vermutung, daß diesbezüglich gerade die Stirner-Rezeptionsgeschichte ein reichhaltiges und fruchtbares Untersuchungsfeld ist, bezog ihre Anfangsplausibilität aus Stirners Bedeutung als philosophischer locus classicus des Individualismus, aus dem symptomatischen Konjunkturverlauf seiner Rezeptionsgeschichte und aus der semantischen Struktur des Einzigen selbst, die diesen zur dankbaren Projektionsfläche für die verschiedensten Individualitätskonstruktionen macht. Diese Vermutung hat sich im Durchgang durch die rezeptionsgeschichtlich entfalteten Interpretationen des Einzigen bewährt. Deren Gesamtheit stellt damit zugleich einen exemplarischen Ausschnitt aus dem Spektrum moderner Individualidentitätsangebote dar. Schließlich wurde, drittens, der Anspruch erhoben, mit der exemplarisch anhand der Stirner-Rezeptionsgeschichte durchgeführten Darstellung und Analyse moderner Individualitätskonstruktion im Kontext historischer Diskurse auch einen darüber hinaus modernitäts- und gegenwartsdiagnostischen Beitrag zu liefern. Dieser Anspruch ist zunächst mit dem Befund verbunden, daß die Individualidentitätsangebote, die rezeptionsgeschichtlich im Einzigen artikuliert wurden, mittlerweile selbstverständlich geworden sind und die Gegenwart des modernen Individuums prägen. Deshalb kann man im Umkehrschluß aus der Analyse der Stirner-rezeptionsgeschichtlichen Gestaltungen des Einzigen auch etwas über das Individuum der Gegenwart und dessen Selbstverständlichgewordensein erfahren. Und dies beschränkt sich nicht auf die Feststellung, daß viele der gegenwärtigen Individualitätsentwürfe weniger originell und innovativ sind, als es den Anschein haben mag, sondern zielt auf eine tiefere Struktur in der Anatomie moderner Individualität. Diesbezüglich verdankt sich der modernitätsdiagnostische Erkenntniswert dieser Sichtweise auf die Stirner-rezeptionsgeschichtlichen Deutungen des Einzigen im Verhältnis zu gegenwärtig geläufigen Individualidentitätsangeboten der im II. Kapitel der vorliegenden Studie eingestellten Perspektive auf die Moderne im Kontext der Kränkungsdiagnose und ihrer aufklärungstheoretischen Reflexion. Die im Einzigen erkennbare Anatomie moderner Individualität erscheint dadurch, wie zunächst systematisch im

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III. Kapitel verdeutlicht wurde, nicht nur als semantische Reflexion sozialstruktureller Exklusionsindividualität, sondern auch als spezifische Auseinandersetzung mit derjenigen Erfahrung von Modernität, die sich in der Semantik des ‚Nihilismus‘, der ‚Entzauberung‘, ‚Dezentrierung‘ und ‚Kränkung‘ verdichtet. Die alternativen Reaktionsweisen auf diese Art der Erfahrung lassen sich demnach individualitätssemantisch in entweder eskapistischen oder realistischen Individualidentitätsangeboten beobachten, und zwar heute wie zur Zeit der Stirner-Renaissance. Aber es ist die anhand der Stirner-Rezeptionsgeschichte herausgearbeitete, interpretationsschematische Unterscheidung von All-Einzigkeit und Je-Einzigkeit, die den Zusammenhang der jeweiligen Individualidentitätsangebote mit der modernen Kränkungserfahrung in Erinnerung ruft. Der Rückblick auf den Einzigen und seine Geschichte macht damit Aspekte am Individuum der modernen Gesellschaft ersichtlich, die heute sonst wohl nicht weiter auffielen. Im Einzigen läßt sich die Verknüpfung zwischen jener Modernitätserfahrung und dem heutigen Individuum der modernen Gesellschaft analysieren. Das mit dieser Arbeit vorgelegte Ergebnis dieser Analyse ist somit insgesamt auch ein Beitrag zum Verständnis des modernen Individuums und seiner Individualität im Sinne einer wissenssoziologischen Aufklärung, die Antwort gibt auf die Fragen, was man vom modernen Individuum erwarten kann und was man hoffen darf – und womit man besser auch rechnen sollte. Diese ist innerhalb der kränkungstheoretisch reflektierten Aufklärungserzählung gewissermaßen im Anmerkungsapparat zu verorten, als Kommentar und weiterführender Exkurs zu den letzten beiden, mit den Namen Freud und Luhmann verknüpften Kränkungen. In der dritten Kränkung wurde der menschliche Narzißmus mit dem psychologischen Befund konfrontiert, daß das Ich in der Bewältigung der widerständigen Realität die Geisel von vorrationalen Triebstrukturen bleibt, daß sein Stolz – die Vernunft – unter dem Vorbehalt eines mächtigen irrationalen, immer auch aggressiven und todessehnsüchtigen Es steht. Was danach bleibt, ist die Hoffnung, daß durch diese Desillusionierung das Ich in dieser Konstellation durch den Zugewinn an Realismus gestärkt werde. Mehr ließ sich nur auf der Basis einer soziologischen Relativierung des psychologischen Befundes erwarten, die alles, was in diesem über die Irrationalität und Destruktivität des Menschen gesagt wurde, nur für die bisherigen Gesellschaftsformationen gelten läßt, nicht aber für eine zukünftige, in der Tradition emanzipatorisch-kritischer Sozialtheorie von Marx bis Marcuse vorausgesagte Gesellschaft jenseits der Entfremdung und des modernen Unbehagens. Dieser sozialutopische Fluchtweg aus der unbehaglichen Moderne war nur vorübergehend geöffnet und wurde in der vierten Kränkung versperrt, die dadurch den Befund und die Konsequenzen der psychologischen Kränkung soziologisch flankierte. Was nach der historisch bewirkten und theoretisch reflektierten Diskreditierung

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sozialutopischer Projekte zur Einhegung des Irrationalismus bleibt, ist der in dieser Soziologischen Aufklärung gewonnene Realismus. Von dessen Durchsetzung läßt sich eine Akzeptanz der Moderne erhoffen, die in ihrem Kontingenzbewußtsein darauf verzichtet, durch ideologisch motivierte soziale Großexperimente das Unbehagen überwinden zu wollen, die dieses effektiv potenzieren – und damit gleichsam das Unglückliche gegen das Schreckliche eintauschen. Die vorliegende Studie zeigt allerdings, indem sie Aspekte der beiden mit dritter und vierter Kränkung bezeichneten theoretischen Perspektiven aufnimmt und analytisch auf die soziale Konstruktion moderner Individualität anwendet, daß die Flucht vor den Kränkungen und dem Unbehagen in der Moderne auf der Ebene der Individualitätssemantik ihre eigene Geschichte hat. Auch und gerade dann, wenn der Sozialutopismus psychologisch und soziologisch in Frage gestellt oder verdrängt wird, findet der Eskapismus seine Zuflucht in der narzißtischen Behaglichkeit grandioser Individualitätskonstrukte. Eskapistische Individualidentitätsangebote stellen in kränkungstheoretischer Sicht gewissermaßen die Alternative zum Sozialutopismus dar. Dieser ist die soziale, jene sind die individuelle Variante, das Heil in der Flucht vor den Zumutungen, Versagungen und Kränkungen der Moderne zu suchen. Aber auch der individualistische Eskapismus bleibt ein semantisches Angebot der Gesellschaft. Und deren Modernität, die das eskapistische Begehren erzeugt und reproduziert, bedingt seine Attraktivität. Beides gilt auch dort, wo ein eskapistisches Individualidentitätsangebot sich explizit mit antimodernistischer Programmatik verbindet, etwa in Gestalt fundamentalistischer Ideologien, und wo ein solches Individualidentitätsangebot aus kränkungstheoretischer Perspektive als regressiv einzustufen ist und offen antisozial auftritt. Dieser Form eskapistischer Individualidentitätsangebote stehen aber, neben realistischen Individualidentitätsangeboten auch solche individualistischen Eskapismen gegenüber, die das in der modernen Gesellschaft erreichte Kränkungsniveau nicht leugnen, sondern seine Akzeptanz voraussetzen und dafür in künstlerisch-spielerischer Weise kompensieren.196 Die eskapistischen Angebote der Kunst und anderer virtueller Welten sind in ihrer Bedeutung zur Stabilisierung des in der Moderne erreichten Niveaus an Realismus kaum zu überschätzen. Sie machen den Kränkungsdruck erträglich und schützen so in gewissem Maße gegen die Verlockungen der Regression und deren antisoziale Konsequenzen: Fiat ars, ne pereat mundus! Die anhaltenden Konjunkturen individualistischer Eskapismen – in kränkungsregressiven wie kränkungskompensatorischen Varianten – lassen je196 Dies wurde auch unter dem Begriff der Hypothetischen All-Einzigkeit oder Inwendigen Je-Einzigkeit thematisiert.

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denfalls vermuten, daß die im Modernisierungsprozeß der letzten Jahrhunderte betriebene Ent-Täuschung und der nach gegenwärtigem Befinden in jüngster Zeit vollzogene Plausibilitätsverlust sozialutopischer Projekte keineswegs einen unumkehrbaren Trend zu mehr aufgeklärter ‚Ich-Herrschaft‘ und soziologisch-realistischem Modernismus – also zu kontingenzbewußter Je-Einzigkeit – verbürgen. So wenig automatisch ein solcher Trend sich in der Moderne vollzieht, so zuverlässig lassen sich dagegen immer wieder Fluchtversuche beobachten, mit mal mehr, mal weniger destruktiven Folgen. Diese Disposition ist der modernen Gesellschaft und ihrem Individuum offenbar eingeschrieben. Zur Aufklärung des modernen Individuums gehört auch, dies zu akzeptieren – und dann das Beste daraus zu machen. Hierzu etwas beizutragen, war ein Ziel dieser Arbeit. In diesem Sinne wollte der Blick in die Gesichter des Einzigen einen Eindruck von der Anatomie moderner Individualität vermitteln: von den Strukturen, in denen das moderne Individuum sich zu sich selbst, zu seinesgleichen und zu den Ansprüchen der Moderne in Beziehung setzt. Und vielleicht wird man ja mit dieser Sichtweise auch dem Autor Stirner besser gerecht als damit, sich im Streit seiner Interpreten um die einzig wahre Deutung des Einzigen im Sinne der präsumtiv eigentlichen Stirnerschen Intention auf diese oder jene Seite zu schlagen. In Gestalt des modernen Individuums hat Stirners Einziger immerhin bereits ein stolzes Alter erreicht. Im Rückblick auf jene alten Debatten um den Einzigen läßt sich dann, statt diese zu erneuern, erkennen – gleichsam Grau in Grau –, wie das moderne Individuum wurde, was es heute ist. Dies jedenfalls war das Anliegen der vorliegenden Erzählung vom Einzigen Stirners, für den die moderne Gesellschaft, ein halbes Jahrhundert nach seiner Geburt, sich so brennend zu interessieren begann, dem sie im Ringen um die Registratur und Reflexion ihres Individuums so viele Gestalten verlieh und den sie sich schließlich, nach kaum einem weiteren Jahrhundert, in dieser Vielgestaltigkeit so gründlich einverleibt hatte, daß sein philosophischer Schöpfer längst vergessen, er aber überall ist. Stirners Verdienst bleibt es, das Stichwort für diesen von seinen Interpreten reflektierten gesellschaftlichen Aneignungsprozeß geliefert zu haben, dessen Resultat der Einzige der Gesellschaft ist. Dieser Einzige wird so bald wohl nicht verschwinden. Zu beobachten bleibt weiterhin, welche Gestalten er annimmt.

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Sachregister absoluter Narzißmus 99, 171, 281 Achttausender 901 68er-Revolte 27, 49, 275, 857, 903– 906, 908, 911–912, 915–916 adaptionistische Stirner-Interpretation 289, 294–295, 303, 312–314, 319, 322, 345, 354, 425, 641 Adressabilität 203, 288 All-Einzigkeit 41, 44, 49–50, 90, 131–134, 136, 139, 141, 144–148, 164, 199, 216, 219, 225, 250, 257– 259, 264, 266, 283–289, 291, 293– 296, 302–303, 313–314, 316, 319, 321–322, 326, 328, 332, 334–335, 342–344, 354, 382, 408, 411, 420, 424, 426, 447, 639, 641, 652, 679, 681–685, 696, 769, 784, 898, 929– 931, 933 Allzuvielen, die 475, 484, 662 Amoklauf 341 Anarchie 356, 360, 362, 369, 371– 373, 378–379, 388, 391, 394, 403– 404, 408–410, 413, 447, 452, 454, 468, 537–538, 540, 568, 572, 630– 631, 677, 688, 690–691, 693, 702, 719, 735, 742, 756, 759, 764, 839, 848 anarchistischer Kommunismus 416, 418, 428, 433, 435, 447, 451–452 anarchistisches Beobachtungsschema 691–692, 759 Antiautoritarismus 275, 411–412, 530, 534, 759–760, 763–766, 805, 809, 821, 837–841, 844, 846–847, 849, 851–854, 856, 907, 911–912 Antibürgerlichkeit 134, 359, 408, 486, 507–508, 521, 526, 580, 582, 664, 680, 687, 714, 767–768, 770–772, 795, 807, 810–811, 854, 865, 920

Antietatismus 405–406, 411, 433, 505, 693, 743 Antiinstitutionalismus 704–705, 707, 742, 800, 845 Antikommunismus 709, 856, 859, 864, 866, 881 antimoralischer Anarchismus 378– 380, 390, 394, 400, 414, 433, 697, 702 Antisemitismus 110, 135, 263, 364, 375, 397, 420–422, 424–425, 468, 516–519, 521, 636–637, 717–719, 769, 776, 781, 811, 813, 819–820, 898 Antisozialität 50, 173, 237, 293, 342– 345, 355–356, 397, 401, 409, 421, 424, 431, 435, 445, 469, 508, 640, 657, 670, 690, 785, 806, 898, 929 archaischer Narzißmus 169, 181, 187– 189, 193–194, 212, 274–275, 369 Aristokratismus 435, 470, 484, 491– 492, 494–495, 526, 528, 534, 570, 584–585, 587–588, 590, 596, 602, 604, 607–609, 611–615, 618, 620, 622, 624–625, 628–629, 632, 640, 653, 655, 662–664, 670, 673, 678, 875, 878, 880 askriptive Stirner-Interpretation 291, 320, 425 Assassinen 391, 621, 635 Ästhetizismus 369, 392–393, 395– 397, 427, 493, 495, 516, 529, 531, 534–535, 909 Atheismus 21, 78, 227, 631, 737 Attentat 25, 46, 48, 294, 331–333, 335–336, 357–361, 363–364, 368, 370, 375, 377, 380–381, 384, 386– 387, 391–392, 396, 400–402, 410, 417–419, 438, 453, 455–457, 535,

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Sachregister

601, 688–690, 754, 811, 890, 897, 912 Attentäter 25, 295, 332–336, 338, 341, 357, 359, 364–365, 369–371, 391–392, 396, 399, 401, 419, 531, 535, 773, 898, 909, 923 Außenseitertum 470, 488, 498, 509– 512, 526–527, 534, 541, 564–565, 653, 667, 673, 678, 754, 888–889, 891 autoritärer Kommunismus 433, 435, 744 Avantgarde 26, 460–461, 470, 474– 475, 484, 490–491, 493, 495, 502– 503, 511–512, 514, 585, 668, 670– 671, 673–674, 678, 728, 744, 761, 830, 834, 856, 907, 912 Begriff von Individualität 37 Beobachtungsschema 289, 292, 311, 315, 353, 434, 510, 563, 655, 691, 712, 759, 848, 916–918 Besessener 20, 22, 38, 331–333, 338, 340, 446, 509, 583, 611, 626, 675, 679, 736, 739–740, 747, 784, 790– 792, 795 Besessenheit 20–21, 39, 224, 310, 340, 414, 507, 513, 570, 587, 609– 610, 615, 675, 703, 726, 738–739, 789, 791, 793, 795, 876, 894, 901 Bier 497 Boheme 26, 49, 390, 392, 396–397, 425, 427, 474, 484–486, 488–491, 493, 495, 498–499, 501, 507–508, 510–511, 515, 524, 526, 548–549, 556, 574, 636, 668, 673, 705, 707, 711–714, 726, 734, 807, 888, 903, 913 Bohemien 19, 38, 396, 426–427, 474– 475, 485, 487–489, 493, 499, 510, 564, 711, 768, 896, 904, 923 Bolschewismus 63, 438–440, 461, 755–757, 759, 762, 767–768, 771, 811–813, 816, 819, 834–835, 872 Bonapartismus 711, 713–714, 759, 870

Böse, das 26, 237, 260, 296, 342, 345–346, 351–352, 354, 529–530, 533, 606, 617, 638, 648, 761, 840 Bourgeois 79, 110, 363, 366, 386, 392, 429, 453, 455, 463, 467, 475, 486, 535, 556, 667, 708, 718, 723, 766, 808, 917, 921 Bürger 61, 364–365, 392, 449, 486, 488–489, 507, 511, 645, 649, 679, 767–769, 772, 808, 819, 888, 893, 903, 910, 913, 917, 920 Bürgerfeind 756, 768, 771 Charismatifikation 215–218, 229, 237, 246, 250, 257, 293, 295 charismatifikatorische Kommunikation 156, 177, 199, 206, 215–223, 228– 229, 231–232, 235–239, 241–246, 248, 250–251, 253–254, 256, 258, 296–297, 299, 301, 336, 342–343, 349, 369, 424, 580, 683 Charismatiker 49, 106, 130, 133, 136, 138, 148, 150–152, 155–158, 160, 163, 165–166, 169, 172, 177, 197– 199, 202, 205–206, 208, 210, 212, 214–215, 217, 219–221, 227–229, 231, 235–242, 245–246, 248–251, 253, 255–256, 258, 278, 283, 296– 297, 301, 335, 342–343, 424 charismatische Kommunikation 138, 199–200, 205–208, 210, 212–216, 218, 220, 222, 238, 245, 254, 278, 301, 366, 424 Chiliasmus 39, 135–136, 224, 226, 410, 636 Conditio moderna 67 Dämonen 68, 91, 155, 157, 174–175, 204, 227, 236, 238, 241, 308, 317– 318, 320, 322–331, 333–334, 336– 341, 345, 378, 523, 526, 823, 901 Dandy 392–393, 397, 425–426, 474, 516, 534, 553, 565, 663 Dekadenz 25, 63, 385, 390–392, 394, 396–397, 405, 425–427, 449, 455– 456, 463–468, 472, 474, 497, 503,

Sachregister 518, 520, 526, 528–529, 534, 536, 539, 548, 559–561, 563–564, 574, 589, 616, 664–665, 669, 761, 764, 767, 808, 816 Dekompositionsresistenz 227 Demokratismus 493–494, 608 Desillusionierung 57–58, 82, 88, 111, 119, 121, 124, 127, 324, 823, 930, 933, 935 Devianz 50, 68, 266, 340, 348, 369, 485, 509–510, 515, 540, 544, 547, 668, 925 Dezentrierung 67, 72, 74, 82, 86, 126, 131, 171, 258, 279, 486, 684, 901, 929, 933 Dezisionismus 799–800 Distinktion 38, 46, 344, 389, 392, 475, 491, 499, 508, 553, 668–669, 674, 747, 870, 886, 888, 890–891 dritte Kränkung 59–61, 64, 81, 83–84, 90, 120, 128, 211, 281, 323, 620, 933–934 Drittes Reich 39, 224–225, 235, 292, 636, 817, 872, 878 Dynamiteur 359, 361, 370–371, 401, 773, 898 Egoismus 18, 20–23, 26, 38–39, 94, 261, 265, 267, 272, 274, 282, 284, 291, 319, 333, 338, 350, 354, 380, 413, 425, 428, 448–449, 471, 475, 479, 481, 492, 494–495, 501, 509, 518, 539, 549–552, 555, 558, 577, 584, 586, 590–591, 607, 609, 614, 621, 623, 625–631, 635–636, 640, 642, 644–648, 651, 675, 677, 702– 703, 708, 710, 712, 722, 725, 737– 741, 743, 764–765, 772, 784, 790– 792, 794–795, 804, 806, 822–824, 842, 846, 858, 864, 870, 891, 895, 899, 901–902, 910 Einwandsimmunisierung 204, 486 11. September 2001 46, 337, 359, 364, 368–369, 535, 599, 882, 897, 900

971

Emanzipation 25, 54, 83, 125, 299, 388, 393, 408, 430, 449, 482, 502, 508, 530, 532, 549–550, 552–553, 555, 593, 728, 730, 745, 748, 770, 826–827, 829–830, 834–835, 837, 841, 849–851, 862, 884, 896, 910, 933 Empörer 480, 530, 764, 809 Empörung 21, 38, 139, 298, 380–381, 388, 675, 677, 680, 704, 758, 764, 778, 793, 795, 808–809, 844, 863– 864, 909–910, 913 Ent-Täuschung 56–58, 85, 91, 119– 120, 123, 174, 324, 823, 930, 935 Entzauberung 43, 91, 106, 114, 119, 121–128, 130, 154, 162–163, 216, 580, 755, 823, 933 Epater le bourgeois 474, 508, 767 erste Kränkung 65, 81, 90, 105, 323, 637 1. Mai 358, 440, 755 Eskapismus 43, 49, 88, 90, 100, 120, 122, 124, 127, 130–131, 133, 136, 154, 165, 198, 209, 274, 423, 486, 684–686, 718, 721, 740, 875, 890, 929–930, 933–934 etatistisches Beobachtungsschema 691, 760 ethischer Anarchismus 478–479, 573, 773 Evidenzbereich 245, 923 Evidenzerzeugung 210, 217, 892 Evolution 18, 31–32, 34, 37, 40, 42, 44–45, 47–48, 52–53, 55–56, 60, 64, 67, 70, 72–76, 82, 89–91, 100, 104, 107, 118, 127, 200–202, 347, 381, 394, 406, 514–515, 550, 566, 588, 905–906, 919–920, 924, 926–929 Ewige Wiederkehr 78–80, 353, 616– 617, 624 Exemplarizität 18, 35, 44, 48, 136, 162, 164, 174, 265, 268, 273, 288, 290, 401, 407, 529, 717, 768, 897, 931 Existentialismus 27, 49, 225, 282, 681, 696, 734, 786, 796–797, 799–

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Sachregister

800, 807, 856–857, 859–864, 873– 879, 901, 907 Exklusion 35, 161, 207, 220, 287, 512–513, 541–543, 599–601 Exklusions-Inklusions-Ordnung 126, 159–161, 172, 210, 212, 219, 288, 565, 593, 598–600, 602, 662, 696 Exklusionsindividualität 35, 37, 44– 45, 71, 127, 130, 211, 288, 337, 485, 510, 512, 514, 565–566, 592–594, 597–598, 602, 604, 919–921, 924, 929, 931, 933 exklusionsindividuelle Sozialstruktur 33, 36–37, 68, 126, 162, 485, 515, 565, 592–594, 598–599, 602, 604, 919 Exklusionsseite 592, 594 Fanatismus 46, 295, 335, 359, 366, 368, 370, 374, 398–400, 402, 407, 419–420, 424, 440, 504, 529, 609, 689–690, 777, 784, 790–791, 794– 795, 802, 884, 886 Faschismus 19, 27, 83, 113, 411, 458, 709, 713, 720, 731, 755–758, 761, 766–768, 771, 781, 786, 802, 838, 854, 857, 859, 862, 864, 866–867, 870–871, 879, 881, 907, 909, 911, 917 Faschismustheorie 870–871, 918 Feindschaft 296, 377, 382, 425, 494, 607, 768, 771, 801, 897 Fiktion 76, 89, 104, 131, 220, 237, 250, 262, 282, 326, 426, 535, 537, 685, 695, 788, 823, 925, 930 fixe Idee 20, 310, 414, 496, 505, 522, 610–611, 620, 626, 703, 789, 791– 793, 884 folie sensationniste 391, 467, 533 Fragment 52, 54–55, 64, 98, 123, 125, 129, 174, 271, 799 Frauenbewegung 287, 519, 549, 551– 557, 562–563, 569, 652, 655, 670– 671, 815 Fundamentalismus 74, 113, 118, 123, 130, 154, 177–178, 210, 249–250,

252, 296, 336, 359, 368, 370, 377, 382, 397, 599, 882, 897, 900, 930, 934 Fundamentalliberalisierung 904–905, 907 funktional differenzierte Gesellschaft 33, 35, 52, 67, 71, 126, 202, 208, 565, 598–600, 602, 604, 919 Geborenwerden 100, 107 Geistesaristokrat 79, 214, 511, 662 Genialität 78, 155, 174–175, 212, 215, 217–218, 220, 222–223, 225, 229, 233, 235, 245, 256, 260, 293, 295–297, 300–301, 303–308, 313, 337, 345, 349, 508, 560, 580, 630, 640–642, 644, 648, 651, 701, 710, 727, 748, 768, 807–808 Genie 19, 26, 79, 106, 133, 159, 162, 174, 181, 197, 212–219, 223, 225, 229–232, 234–236, 256, 271, 285, 293, 295–297, 299–302, 304–306, 308, 312–317, 329, 340, 342–343, 349, 499, 547, 580, 641–645, 651, 785, 808 Geniekult 174, 212, 231, 285, 296 Genietheorie 295, 299, 641, 643 Geschlechterordnung 549, 551–553, 557, 560, 562–563, 565, 567 grandioses Selbstbild 131, 186, 188, 192, 209, 274, 300, 355, 366, 739, 925 Größen-Selbst 175, 178–179, 181– 182, 184–188, 190–193, 195–197, 258, 422 Größenphantasie 79, 87, 91, 100, 104, 116, 118, 140, 175, 193, 197, 217, 219–220, 273, 343, 353, 374, 389, 563, 685 Größenwahn 69, 94–95, 133, 136, 138, 142, 144, 148, 165, 173, 180, 209, 215, 218, 259, 262, 273, 293, 298–300, 321, 343, 400, 490, 523, 567, 621, 639, 811

Sachregister Gut und Böse 81, 84, 302, 339, 346, 470, 481, 531, 533, 561, 606, 609, 611–612, 632, 638, 648, 740 Haschisch 305, 391 Haymarket affair 358 Heilige, das 21–22, 38, 149, 227, 503, 570, 675, 700, 737, 789, 793 Heilung durch Liebe 189 Herde 22, 81, 428, 475, 480, 503, 507, 614, 624 hermetische Realität 161, 165, 181, 209–212, 219, 258, 278, 301, 342– 343, 366, 486 heroischer Ironismus 659 Herostratismus 371, 377, 381, 389, 400, 536, 762, 900 Heteronomie 126, 282, 324, 341, 482, 567, 570, 586, 610, 614, 626, 628, 645, 648, 650, 798, 806 Historischer Materialismus 23, 29, 32–33, 45, 56, 437, 443, 449, 458, 514, 721, 723, 729, 732, 734–735, 737, 827–828, 833–835, 840, 850, 860, 862, 917–918, 920 Homosexualität 118, 512, 515, 519– 521, 541–548, 557–560, 563, 565, 567, 668, 670 Horde 347, 475, 484 humaner Liberalismus 21, 310 Hypnose 109, 146, 167–168, 172, 222, 236, 242, 244, 789 Hypothetische All-Einzigkeit 131, 144, 250, 259, 326, 395, 426, 930, 934 Ich-AG 877, 899–900, 925 Ich-Schwäche 273–274, 635, 847, 894 idealisierende Übertragung 185–186, 188, 190–192, 258 idealisierte Elternimago 178–182, 184–186, 188, 192, 504 Ideen von 1789 37, 71, 224, 517, 566, 592, 594, 596, 603–604, 673, 759, 779, 849, 852, 879

973

Identität eines Individuums 37, 225 Ideologiekritik 29, 52, 59–60, 83, 85, 221, 266, 434–436, 440, 443–444, 451, 456–458, 563, 600–601, 666, 705, 707, 710, 712, 714, 716–717, 719–722, 724–726, 728, 730, 733, 735–737, 739, 742, 750, 752, 764, 770, 775–776, 779, 782, 802, 806– 807, 809–811, 815, 822, 828, 839, 843–844, 846, 850, 853, 856, 859– 860, 865–867, 869, 873, 898, 906, 914–916, 918–920 Idismus 274 Individualanarchismus 26, 134, 143, 289, 404, 427, 429, 431–432, 434– 435, 522, 539, 608, 636, 646, 860, 867, 899 Individualidentitätsangebot 35, 42–50, 69–70, 119, 127, 130–131, 133, 136, 148, 165, 198–199, 211–212, 216, 283, 287–288, 290, 295–296, 302– 303, 322, 325, 337, 340, 344–345, 359, 382, 407–408, 419, 421, 424– 425, 436, 485–486, 553, 565, 581, 594, 597–599, 641, 681, 896, 921– 924, 926–929, 932, 934 Individualismus, absoluter 621 Individualismus, abstrakter 590–593, 596–597, 851 Individualismus, aristokratischer 38, 344, 429, 431, 525, 585, 591, 596, 603, 605, 623–625, 627–629, 662– 666, 670–671, 675, 678, 747 Individualismus, avantgardistischer 555–556, 656, 664, 670–672, 674– 675 Individualismus, bürgerlicher 406, 427–428, 433, 451–452, 456–458, 463–465, 468, 659, 717, 773, 795, 802, 806–809, 826, 860, 864, 866, 886, 898 Individualismus, demokratischer 495, 608, 663 Individualismus, dogmatischer 621 Individualismus, elitaristischer 664, 666, 671, 674–675

974

Sachregister

Individualismus, extremer 266, 372– 375, 380, 394–395, 399–401, 407, 409, 445, 525, 529, 733, 818 Individualismus, extremistischer 295, 328, 334–337, 341, 445 Individualismus, germanischer 589 Individualismus, kritischer 619, 621 Individualismus, nonkonformistischer 529, 548, 574, 651, 664–665, 667, 669, 671–672, 674–675 Individualismus, normativer 502, 605, 625, 652–656, 659–661, 663, 674– 675, 686, 783, 923 Individualismus, partikularistischer 286, 502, 655–656, 659–664, 669– 671, 675, 685 Individualismus, qualitativer 589–591, 593–594, 596–597, 608, 655–656, 660 Individualismus, romanischer 590 Individualismus, souveräner 559, 563, 569 Individualismus, transgressionistischer 533, 661 Individualismus, universalistischer 595, 656, 658–661, 669, 674–675 Individualismus, vulgärer 619, 622, 804 Individualismus-Begriff 652–655 individualistischer Anarchismus 406, 411, 416, 418–419, 426, 432, 435, 478, 536, 539, 608, 624, 720, 772, 790, 842–843, 907 Individualitätssemantik 33, 35–37, 39, 42, 44–45, 48–50, 68, 70, 72, 77, 127–128, 130–131, 133, 164, 176, 216, 266, 274, 340, 484, 542, 564, 592, 594, 596–597, 603, 681, 712, 854, 858, 919–920, 923–924, 927, 931–934 individuelle Identität 37, 127, 225, 334 Inflationierung 38, 377, 580, 675, 889 Inklusion 35–36, 144, 161, 177, 196– 197, 203, 210, 212, 220, 287–288,

512–513, 565, 592–593, 598, 600– 601, 603, 696 Inklusionsformel 287, 603 Inklusionsseite 592, 594, 603 Inkommunikabilität 22, 41, 204, 236, 246, 250, 541, 603, 627, 682–683, 797–798 inkongruente Perspektive 30, 53, 209, 220 innerweltliche Transzendenz 824, 826–830, 832–833, 835, 838–840, 850, 854 Intellektueller 19, 24, 78, 107, 122, 145, 199, 213–214, 222, 389, 396, 401, 432, 485, 498, 501, 510, 514– 518, 541, 601, 707, 711, 714, 720, 729–730, 732, 780, 807, 815–816, 819–820, 826–828, 830–831, 833– 834, 836, 848, 878, 912 Internet 262, 384 Interpretationsschema 35, 41, 44, 50, 90, 131, 199, 225, 264, 283, 286, 302, 326, 329, 342–344, 382, 395, 402, 408, 423, 426, 431, 447, 479, 488, 501, 540, 582, 639, 641, 652, 664, 678–682, 685–687, 697, 701, 747, 749, 783, 898, 929, 931, 933 Inwendige Je-Einzigkeit 131, 144, 259, 326, 395, 427, 930, 934 Ironie 53–54, 56, 60, 144, 234–235, 237, 250, 259, 349, 393, 395, 435, 523, 568 Ironismus 46, 477, 523, 602, 659, 675 Je-Einzigkeit 41, 44, 50, 90, 131– 132, 144, 148, 225, 259, 264, 266, 283–286, 288, 302, 326, 395, 402, 408, 431, 475, 478–479, 482–486, 488, 540, 553, 582, 627, 639, 651– 652, 655–656, 658, 664, 666–667, 669–670, 674, 676, 678–682, 684– 688, 696–697, 701, 703–704, 706, 715–716, 747, 749, 753, 764, 766, 772, 784, 794–797, 799, 802–803, 805, 807, 844, 847, 853, 929–931, 933, 935

Sachregister Junghegelianismus 18–19, 21, 23–24, 27, 39, 45, 55, 67, 310, 449, 456, 458, 524, 530, 577, 728–729, 734, 736, 753, 799, 827, 834, 860 Katalysator-These 24, 735, 862 Klassenbewußtsein 455, 457, 463, 467, 600, 710, 723, 731, 737, 748– 750, 752–753, 832, 868, 918, 920 Klassenkampf 41, 85, 358, 433, 439– 440, 444, 449–450, 454, 456, 686, 702, 709–710, 712, 719, 730, 732– 733, 737–738, 749–750, 810, 816, 848, 850, 866, 871, 907, 912–913, 917 Klassensoziologie 85, 411, 450, 456, 488, 705, 712, 714–715, 721–722, 724, 730, 749, 752, 827, 833, 837, 847, 852, 854, 871–872, 914–916, 918–920 Klassenstandpunkt 444, 453, 462, 705, 721–726, 828, 830, 835, 915 Kleinbürger 19, 451–452, 730, 848, 866, 870–871, 873–874, 876–878, 886, 893, 896, 899, 907–910, 914– 918 Klümpchen Schleim 97 kommunistischer Anarchismus 405, 416, 418, 426, 431, 435, 608, 842 Konservative Revolution 226, 521, 673, 780 Konstrukt 31–32, 37, 42, 57, 71, 87, 181, 200, 203, 211–212, 215–216, 220–221, 301, 315, 351, 564, 680, 725, 808, 818, 922, 924, 926, 930 Kontingenzspielraum 33, 36, 40–41, 44, 55, 201, 408, 510, 565, 597–598, 600, 602, 921, 924, 929 Konventionsbruch 38, 144, 668, 674 Kränkungsgeschichte 71, 77, 85, 87, 90, 121, 126 Kränkungskompensation 72, 81–82, 88, 90, 104, 109, 118, 131, 177, 185, 258, 934 Kränkungstheorie 80, 109, 149, 637, 740, 929, 933–934

975

Krieg Aller gegen Alle 22, 41, 450, 458, 568, 605, 621, 630, 675, 680, 686, 690, 699, 709, 749, 896 Kritische Theorie 60, 202, 456, 659, 723, 820, 822, 824–827, 829–835, 837–840, 846–847, 850, 853–854, 856, 859, 865, 867, 870, 873, 909 kritischer Liberalismus 21 Kunst 46, 76, 88, 90, 93, 96, 102, 104–105, 121, 123, 130–131, 144, 154, 158, 163, 202, 239, 246, 250, 259–260, 326, 392, 471, 475, 489– 490, 493–495, 497, 505, 518, 525, 527, 535–536, 571, 596, 631, 669, 685, 807, 815, 893, 901, 909, 930, 934 L’art pour l’art 249, 493 Latenzbeobachtung 29, 31, 52–53, 70, 85, 209, 220, 445, 710, 724 Lebensphilosophie 225, 785–786, 788, 798, 803, 874 Lebenswelt 92, 707 Lebenszeit 92, 115–116, 125, 127, 205, 224, 228, 235, 304, 324 Leitbildverschiebung 176 libertärer Kommunismus 405, 608, 744 Lisztäffchen 232 logischer Anarchismus 479 Lumpenproletariat 391, 511, 529, 710–715, 807, 852, 916 Malstrom 770, 881 Manchester-Liberalismus 410, 453, 506, 717–719, 744, 747, 816, 864, 898 Märtyrer 228–229, 295, 300, 325, 331–332, 336–337, 340, 343, 353, 359–360, 362, 364, 367, 369–371, 396, 419, 484, 523, 535, 763, 901 Marxismus 25, 49, 85, 227, 359, 394, 407, 427, 433, 435, 437–440, 442– 443, 445, 449, 451, 454, 456–458, 462–463, 465, 468, 608, 653, 710,

976

Sachregister

713, 715, 717, 721–722, 724, 726– 727, 729–730, 733–738, 742–743, 745–746, 750, 753, 764, 773, 786, 802, 816, 820, 828, 830, 834–835, 838, 848, 850, 854, 860, 862–863, 870, 883–884, 886, 907, 914–916, 918 Marxismus-Leninismus 227, 838, 860, 862–863, 866, 871 massenmediale Reproduzierbarkeit 925 Massenmedien 36, 46, 75, 130, 276, 338, 376–377, 381, 535, 542, 890– 893, 896, 899, 901, 922–924, 930 Mediokrität 79, 474–475, 481, 484, 488, 538, 605, 666, 770, 808, 885, 887–891, 894, 904–905, 917, 922 Mittelklasse 847, 852, 854, 868–871, 905, 916–918 Mittelschicht 847, 850–852, 854, 870, 886, 916–917 Mittelständler 19, 27, 292, 458, 563, 852, 856–857, 859, 865–866, 868, 870–871, 873–874, 888, 891 Modephilosoph 25, 390, 480, 574– 575, 582, 896 Modus des Als ob 130, 144, 250, 326, 426, 930 Monotheismus 91, 102, 107, 114, 637 moral insanity 352, 547, 559, 633– 634, 640 Moralfeindschaft 478 Moralkritik 509, 570, 609, 653, 761, 902 Narzißmustheorie 49, 77, 88, 99, 106, 148, 157, 167, 176–179, 184, 247, 274, 276, 486 Narzißt 69, 106, 174, 176, 178, 181– 185, 193, 338, 370, 892, 894 narzißtische Kränkung 57, 65, 67, 71, 85, 87–88, 91–92, 96, 100, 102, 106–107, 109, 114, 116–117, 119, 154, 173, 178, 258, 272, 278, 327, 337, 889, 929

narzißtische Persönlichkeitsstörung 69, 106, 175, 178, 181–185, 193, 217, 247, 276, 338 narzißtische Übertragung 184, 188–194, 323, 342

178, 182–

narzißtischer Typus 172–174, 272 narzißtisches Objekt 98, 168, 178– 191, 193, 196–197, 258, 323, 344 Nationalsozialismus 219, 226, 244, 257, 292, 520, 667, 709, 768–769, 779–781, 795–796, 801–802, 805, 807, 810–813, 815–820, 824, 853, 858, 864–869, 871, 874, 878–881 Neoliberalismus 899

453, 642, 887, 898–

Neuer Mensch 414, 550, 552–553, 580, 730, 732, 749, 769, 819 Neuhumanismus 598, 603–604

36, 592, 594, 597–

Nihilismus 19, 43, 66, 81, 121, 123– 124, 126, 128, 210, 216, 315, 339, 351, 353, 375, 390–391, 412–415, 478–479, 482, 508, 517, 570, 588, 613, 621, 635, 658, 662, 670–671, 678, 682, 788, 803, 809, 824, 861, 873–878, 881, 933 Nivellierung 212, 254, 488, 512, 556, 568, 587, 589, 596, 605, 671–672, 814, 886 Nonkonformität 26, 38, 161, 391, 484–486, 510, 515, 528, 534, 564– 565, 653, 668–670, 678, 747, 886, 888–890, 904, 913 Normalismus 504–506, 508, 510, 528, 548, 556 Normverstoß 340, 344, 382, 925 Objekthunger 189, 192 Offenbarungswahrheit 153, 156, 160, 203, 213–214, 216, 296 Okkultismus 218, 244, 445, 466, 529, 532, 636

Sachregister Papst 157, 396 Paradies 74, 92, 102, 114, 120, 136, 533, 760, 887 Paranoia 26, 46, 95, 135, 188, 209, 259–265, 271–273, 275, 282–283, 285, 287, 291, 293, 298–300, 343, 375, 397, 399, 422, 547, 637, 639, 685, 761, 769, 811, 816, 820, 889, 898 Paranoiker 19, 133, 261–262, 265, 273–274, 283–285, 293, 295–296, 299–301, 303, 309, 313, 337, 343, 366, 639, 641, 898 Peitsche 240–242 Personalismus 421, 425, 797–798, 803 Personalität 37, 288, 584, 592–593, 598, 600, 603–604, 654, 656, 658– 659, 683, 696, 701, 797, 804 Plausibilitätsverlust 929, 935 polemisches Dreieck 382–383 politischer Liberalismus 21, 884 Polykontexturalität 33, 52, 55, 126, 162, 210–211, 219, 258, 264, 930 Pragmatiker 46, 659, 675, 786, 796, 803, 805, 886, 890 Pragmatismus 27, 49, 478, 687, 785– 786, 796, 798, 803, 838, 858 primärer Narzißmus 97–98, 103–105, 117, 179 Proletarier 385, 467, 479, 488, 708, 710, 723, 749, 752, 779, 834, 920– 921 Prominenz 893, 925 Propaganda der Tat 25, 294, 367, 373, 375–377, 380–381, 383, 385, 387–391, 393, 396–398, 400, 403, 410, 412, 414–421, 430, 440, 446, 455, 459, 463, 465, 549, 669, 688, 743, 811, 893, 898, 900 Prophet 19, 49, 122, 133–134, 137, 144–145, 152, 155–160, 162–163, 166, 197, 202, 213–215, 218–219, 222, 228, 241, 243, 245, 255, 293, 295, 300, 340, 342, 423, 468, 475,

977

483, 524–525, 568, 580, 601, 619, 622, 631–632, 769 Prophetie 122, 159–160 Protoplasmatierchen 96–99 Provokateur 46, 396, 426, 890–891, 922 Provokation 23, 218, 259, 392, 395, 397, 486, 489, 508, 548–549, 668, 673–674, 771, 888, 890, 912 psychisches System 38, 42, 57, 61, 67, 69–70, 87, 144, 166, 181, 198, 201, 203, 221, 247, 307, 311, 345, 922, 924, 926–927, 930 psychoanalytische Aufklärung 64, 80, 83–84, 86, 96, 100, 106, 110, 118– 120, 123, 281, 486, 823 Psychopath 19, 26, 46, 69, 147, 174, 293, 295, 301, 303–304, 308, 311– 314, 322, 326–327, 337, 341, 343, 345, 359, 400, 420–421, 530, 564, 568, 632, 639, 641, 657, 660, 689, 755, 769, 929 Psychose 90, 93–94, 100, 109, 173– 177, 179, 181, 183, 258, 261–263, 265–266, 270–273, 275, 281, 287, 295, 299, 302–308, 313, 322, 337– 338, 343, 761, 788–789, 794, 811 Realismus 80, 88–90, 108, 116, 119, 179–180, 258, 264, 380, 432, 450, 528, 631, 684–686, 706, 766, 797, 929–930, 933–934 Rebell 27, 369, 397, 446–447, 498, 530, 606, 668, 760, 808–810, 845, 851, 853–854, 910, 913–915 Rebellion 38, 173, 469, 636, 671, 760, 809, 845, 849, 889, 906–909, 911, 913–916 reflexive Einwandsimmunisierung 85 Regression 75, 88–90, 93, 104, 111, 117, 130–131, 136, 172, 176, 179, 183, 185, 189–190, 193, 272, 313, 394, 486, 636, 934 Regressionsanfälligkeit 103–104, 106, 118, 120, 125, 170, 172, 178, 181

978

Sachregister

Religionskritik 20, 310, 349, 735– 736, 860 Respektabilität 38, 354, 432, 485, 487, 489, 509–510, 512–513, 515, 541, 553, 556, 560, 563–565, 907– 908 Revolte 356, 381, 430, 435, 857, 865, 905, 907, 909, 911, 913–915 Revolution 21, 59, 61–63, 135, 223, 374, 385, 387–388, 401, 405–406, 411, 419–420, 430–431, 436, 438, 440, 442, 447, 452, 455, 460–461, 466, 469, 506, 517–518, 524, 589, 594, 626, 688, 704, 709, 713, 715, 718, 729–732, 736, 749, 756, 764, 810–812, 814, 818, 832, 834, 842, 844, 848–849, 851–852, 863, 875, 882, 884, 907, 911–913, 916 revolutionäres Subjekt 383, 388, 440, 514, 709, 827, 830, 834–835 Romantik 54–56, 58, 66, 70, 121, 123, 128, 224, 247, 493–494, 498, 528–529, 533, 536, 589, 594, 596, 603–604, 742, 761, 773, 803, 813, 876 Satanismus 19, 25, 237, 241, 338, 357, 392, 445, 472, 490, 493, 497, 526–536, 539, 632, 636, 760–761, 809, 903 Schädel 226–227, 232–233 Scharnierthese 24, 734, 861 Scheinfüßchen 97 Schiefheilung 177, 192 Sekte 69, 90, 138–139, 147, 155, 158–163, 165–166, 172, 177, 181, 191, 194, 196–198, 205, 209–212, 215, 218–219, 231, 250, 258, 278, 281, 301, 342, 391, 410, 424, 486, 497, 530, 534, 887, 930 Selbstbeobachtung 30, 70, 72, 108, 119, 208, 276, 322, 335, 352, 885, 927 Selbstexemption 138–139, 264, 283, 285, 366, 395, 685, 739

Selbstmordattentäter 46, 336, 357, 359, 362, 364–365, 371, 419, 901 Selbstverantwortlichkeit 119, 125, 282, 455, 482, 508, 539–540, 610– 611, 617–618, 642, 650–651, 800, 898, 902 Selbstvermarktung 900, 925 Selbstvermarkung 900 Selbstverständlichkeit des Einzigen 28, 44–46, 50–51, 858, 868, 906, 922–923, 932 Selbstverwertung 900 Selbstverwirklichung 37, 46, 334, 340, 385, 395, 428, 434, 465, 483, 503, 512, 539–540, 549, 553, 557, 565–566, 602, 613, 654, 656–660, 663, 665–666, 668, 671–672, 686, 689, 695, 753, 886, 895–896, 903, 906, 913, 921–922 Semantikbeobachtung 34–35, 41, 174, 906 Sexismus 364 Sinndimensionen 24, 38–41, 133, 254, 263, 272, 279, 282–283, 295, 313, 318–319, 324–325, 475, 486, 502– 503, 583, 612, 617, 656, 670, 678, 680, 683–684, 726, 740, 746 Solipsismus 19, 55, 132, 165, 283– 284, 294–295, 301, 311, 313–318, 322, 324, 328, 621, 652, 679, 682, 747, 772, 784–785, 797, 920 Sozialaristokratie 490–491, 495, 507, 574, 585, 663 Sozialdemokratie 357–358, 412, 417, 436, 438–440, 453–454, 457, 459, 464, 467, 491–492, 506, 510, 517, 541, 717, 719–720, 734–736, 743, 745–747, 749–750, 753, 806, 871 sozialdimensionale Asymmetrie 41, 44, 133, 144–145, 147, 199, 257, 316, 333, 342–344, 447, 486, 683 sozialdimensionale Symmetrie 40, 44, 144, 427, 431, 501, 685, 696, 747 sozialer Anarchismus 408, 479, 690, 696, 805 sozialer Liberalismus 21, 506

Sachregister sozialer Polymorphismus 597, 920– 921, 931 Soziologische Aufklärung 52, 54, 56, 61, 67, 87, 129, 730, 745, 933–934 soziologischer Amorphismus 597, 600, 921, 931 Spiegelübertragung 171, 185–188, 190–191, 197, 258 Spiel und Ernst 104, 220, 250, 259, 326, 930 Stalinismus 834, 864, 866–867, 871 Sterblichkeit 90–92, 101–102, 107, 110, 114, 125, 157, 277, 330 Stirn 175, 231–233, 238, 271, 494, 917 Stirner-Nietzsche-Bewegung 470, 549 Stirner-Nietzsche-Diskurs 409, 429, 484, 574, 581, 583, 587, 597, 602, 655, 678, 681, 686, 742, 853 Stirner-Nietzsche-Frage 571, 575, 586, 612, 624, 628, 646 Stirner-Nietzsche-Individualismus 508, 640, 857 Stirner-Wiederentdecker 213, 268, 404, 491, 522, 575–576, 624 Struktur des Einzigen 38, 41, 44, 583, 898, 932 Sturm und Drang 808–809 Subproletariat 705, 918 symbolische Aggression 485–486, 508, 511–512, 528, 536, 539, 548, 668, 808, 903 Symptomatizität 18, 44–45, 120, 266, 268, 290, 356, 452, 580, 687, 882 Tabuverletzung 38, 516, 889–891 Terrorismus 356, 359, 365, 369–370, 372, 374, 377, 381, 384–388, 393, 396, 402, 413–417, 419, 457, 459– 460, 478, 503, 535–536, 669, 697, 805, 810, 845, 890, 898, 900 Terrorist 19, 337, 359, 364, 369–370, 380, 382, 387, 396, 407, 453, 455, 534–536, 652, 816, 890, 897, 899, 922, 929

979

Totalitarismus 19, 27, 49, 58, 214, 461, 580, 687, 709, 755, 758, 763, 767–769, 771, 805, 810, 820–821, 830, 834–836, 838, 852, 857–858, 860, 862–864, 866–867, 872–873, 878–880, 898 Totalitarismuskritik 19, 709, 755–756, 853, 857, 862, 864–865, 867, 880– 881 Totalitarismustheorie 759, 862, 865, 867, 870–871, 873 Transgression 533, 536, 661, 888 transitorische Semantik 33, 71, 920– 921 Transzendenz 43, 114, 126, 529, 533, 827, 832, 834, 838, 855 Traum 29, 68, 70, 85, 89–90, 93, 96, 100, 110, 154–155, 284, 305, 320, 325, 435, 685, 725, 806, 901, 917 Übergeschlechtlichkeit 176, 553, 565, 567 Überlebtwerden 297 Übermensch 19, 25, 76, 78–80, 123, 139, 150, 171, 181, 218, 297, 352– 353, 414, 423, 425, 429, 432, 446– 447, 471, 476, 479–481, 487, 500, 503, 507, 509, 521, 528, 555, 561, 563–564, 567–568, 570, 579–582, 588, 611–612, 614–615, 626, 635, 645, 651, 721, 725, 733, 747, 761, 767, 785, 823, 876, 902 Ubiquität des Einzigen 292, 922–924 Unhold 630, 881 Unikalismus 783–784, 789, 791, 793– 795 Urvater 169–170, 172, 177, 281, 369 Utopie 58–61, 63, 72, 74, 110, 113, 201, 274, 370, 378–379, 411, 448, 450, 452, 482–483, 488–489, 497– 498, 502, 508, 513, 672–673, 680– 681, 686–687, 695–697, 699–700, 706, 715–716, 736, 756, 766, 771– 772, 805, 821, 826, 832, 842, 853, 886, 895, 917

980

Sachregister

Utopismus 56, 58–61, 63, 83, 102, 110, 123–124, 405–406, 443–445, 447–453, 455–456, 458–459, 463– 465, 689, 750, 774, 795, 821, 853, 911 Verbürgerlichung des Einzigen 50, 580, 687, 754, 772, 810, 867 Verein 22, 38, 41, 132, 160, 231, 379–380, 408, 448, 450–451, 458, 470, 482, 484, 488–489, 507, 517, 539, 550, 626, 636, 650–651, 675, 677, 679–682, 686–688, 690–696, 698–701, 703–704, 706, 709, 715, 723, 730, 736, 746, 748–750, 753– 755, 763, 766, 774–775, 777–778, 782, 784, 793, 796, 804–805, 845, 847, 853, 896, 903, 912, 917 Versagung 77, 98, 100–101, 104–105, 107, 111–113, 116, 118, 169, 173, 179–180, 190, 193, 258, 272, 274, 277, 279, 327, 369, 397, 566, 637, 639, 934 Verschwörungstheorie 209, 262 Verzauberung 123, 133, 154, 163, 239 via regia 30, 68 Vielzuvielen, die 609, 615, 662, 664 vierte Kränkung 57–58, 60–61, 64, 70, 87, 933

Virtualität 67, 88, 96, 105, 130–131, 220, 245, 248, 250, 254, 424, 769, 930, 934 Wahrheitstypus 203, 213–214 Waldgänger 796, 880 Weltzeit 92, 228, 235, 324 Widerständigkeit der Realität 31, 55, 77, 88, 98, 100–103, 105, 107, 112, 114, 118, 219, 272, 274, 277, 317, 319, 323, 365, 424, 477, 486, 621, 637, 685, 721, 901, 914, 933 Wiedergänger 93, 169, 281, 465, 762, 884, 900 Wille zur Macht 77, 80, 479, 613, 620–622, 788 Wissenschaftlicher Sozialismus 227, 407, 433, 439, 443–445, 449–450, 456, 459–460, 719, 828, 834, 860 Wissenssoziologie 18, 28–29, 32–33, 35, 38, 44–45, 50, 52–53, 55, 57, 64, 67, 128, 134, 199, 237, 264, 266– 267, 289, 337, 374, 511, 514, 564, 580, 592, 602, 711–712, 721–722, 725, 729, 807, 826, 828, 858, 918– 920 zweite Kränkung 324

60, 73, 76–77, 82,